Die Grenzen der Gemeinsamkeit: Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914 9783666351532, 3525351534, 9783525351536

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Die Grenzen der Gemeinsamkeit: Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860-1914
 9783666351532, 3525351534, 9783525351536

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 172

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Grenzen der Gemeinsamkeit Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914

von

Ulrike von Hirschhausen

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung Festzug der lettischen Sängerchöre vom Rigaschen lettischen Vereinshaus zum Kaiserlichen Garten, 1873. Lithographie: K. Kronvalds

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abruf bar. ISBN 10: 3-525-35153-4 ISBN 13: 978-3-525-35153-6 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: OLD-Media OHG, Neckarsteinach. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Wandel der städtischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der äußere Gestaltwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Demographische Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die große Wanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethnische Verschiebungen und die Markierung von ›Nationalität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von der Handelsstadt zur Industriemetropole . . . . . . . . . . . . 4. Sozialer Wandel zwischen ständischer Ordnung und bürgerlicher Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Berufsstruktur der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ethnische Verteilung von Vermögen . . . . . . . . . . . . .

35 47 47

84 85 94

II. Die Formierung ethnischer Milieus: Lebensläufe, Bildungswege, Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

54 67

1. Stand, Region, Kultur: Die Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom soziokulturellen zum politischen Nationalismus: Die Letten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bandbreite des Reichsbegriffs: Die Russen . . . . . . . . . . . 4. Zwischen Akkulturation und religiöser Behauptung: Die Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die Nationalisierung der politischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Rechtlicher Rahmen und Wandel der politischen Eliten . . . . 2. ›Nationale Interessen‹ oder ›städtisches Gemeinwohl‹? Die Nationalisierung kommunaler Politik . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Alternative zur Nation: Baltischer Liberalismus zwischen 1905 und 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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172 195 5

IV. Die Realisierung der Zivilgesellschaft und ihre Grenzen . . . . . . 1. Die Praxis des Gemeinwohls und ihre Grenzen: Von der Literärisch-praktischen Bürgerverbindung zum Deutschen Verein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vielfalt des Nationalen: Lettische Vereinskultur zwischen bürgerlichem Nationsverständnis und lettisiertem Klassenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Primat der Geselligkeit und seine Schwäche: Der Russische Klub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Weg aus dem Ghetto: Die Rigaer Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands . . . . . . . V.

Die Segmentierung der kulturellen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . .

211

214

227 243 259 273

1. Kulturelle Russifizierung: Staatlicher Anspruch und nationales Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Russifizierung der Schule im Spannungsfeld von Autonomievorstellung, Integrationsversuch und Utilitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Religiöse Praxis zwischen Staatskirche, Landeskirche und Volkskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Nationalisierung der Erinnerung zur Neutralisierung der Zukunft: Rigas 700-Jahr-Feier im Jahr 1901 . . . . . . . . . . 3. Die Deutungsoffenheit des Denkmals: Peter der Große 1910 als Föderalist, als Westler, als Eroberer?. . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Konkurrenz um Verortung: Raumentwürfe zwischen ›Baltischen Provinzen‹ und ›Latvija‹ 1850–1918. . . . . . . . . . .

300

Ausblick und Resümee: Riga im europäischen Vergleich . . . . . . . . .

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Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

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276

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Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Rigas 1867–1913 . . . . . . . . . Tabelle 2: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache (absolut) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 3: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache (prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 4: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache und Nationalität (absolut) . . . . . . . . . . . Tabelle 5: Konfessionelle Zusammensetzung Rigas 1867–1913 (prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 6: Anteile der einzelnen Branchen an den Rigaer Industriebetrieben 1879 und 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 7: Anteile der einzelnen Branchen an Beschäftigtenzahl und Umsatz der Rigaer Industrie 1879 und 1913 . . . . . . Tabelle 8: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den Handels- und Industrieunternehmen Rigas im Jahr 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 9: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den 300 größten Industrieunternehmen Rigas im Jahr 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 10: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den 112 Aktiengesellschaften Rigas im Jahr 1914 . . . Tabelle 11: Berufsstruktur der Bevölkerung Rigas 1867–1913 (prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 12: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den Berufsgruppen in Riga 1881 und 1913 (absolut und prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 13: Ethnische Verteilung von Vermögen in Riga 1878 (absolut und prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 14: Ethnische Verteilung von Vermögen in Riga 1912 (absolut und prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 15: Ethnische Zusammensetzung der Wahlberechtigten in Riga 1878 und 1913 (prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 16: Berufliche Zusammensetzung der Wahlberechtigten in Riga 1878 und 1913 (prozentual) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 17: Ethnische Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung Rigas 1878–1913 (absolut) . . . . . . . . . . . . Tabelle 18: Berufliche Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung Rigas 1878–1913 (prozentual) . . . . . . . . .

48 57 58 61 65 75 76

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80 80 86

90 95 96 169 170 176 177 7

Tabelle 19: Soziale Zusammensetzung der Baltischen Konstitutionellen Partei 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 20: Ausgewählte Vereine des deutschen Milieus Rigas um 1900 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 21: Ausgewählte Vereine des lettischen Milieus Rigas um 1900 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 22: Ausgewählte Vereine des russischen Milieus Rigas um 1900 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 23: Ausgewählte Vereine des jüdischen Milieus Rigas nach 1905 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Stadtplan Rigas aus dem Jahr 1876 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Stadtplan Rigas aus dem Jahr 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Die lettische Keniņš-Schule von K. Pekšens und E. Laube um 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Der Thronfolgerboulevard in Riga um 1900. . . . . . . . . . . Abb. 5: Karikatur eines deutsch akkulturierten Letten um 1879 . . Abb. 6: Robert Büngner, Bürgermeister von Riga, um 1870 . . . . . Abb. 7: George Armitstead, Bürgermeister von Riga, um 1910 . . . Abb. 8: Fridrihs Veinbergs, Redakteur der ›Rīgas Avīze‹ um 1870 Abb. 9: Evgraf Vasil’evič Češichin, Redakteur des ›Rižskij Vestnik‹ um 1870 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10: Die Große Synagoge in Riga um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 11: Das Haus des Lettischen Vereins in Riga um 1900 . . . . . . Abb. 12: Das Denkmal Peter des Großen in Riga 1910 . . . . . . . . . . 8

36 38 41 43 63 104 113 123 140 158 232 330

Vorwort Die vorliegende Studie über das Zusammenleben von Deutschen, Letten, Russen und Juden in Riga wurde im Sommer 2005 als Habilitationsschrift von der Universität Göttingen angenommen. An ihrem Abschluß haben Menschen wie Institutionen und der spiritus loci ihren Anteil. Dank gebührt zunächst Manfred Hildermeier, Göttingen, der den Gang der Arbeit wohlwollend und kritisch verfolgte und in jeder Situation ein hilfsbereiter Ansprechpartner war. Dieter Langewiesche, mein Tübinger Doktorvater vor einigen Jahren, hat diesmal als Zweitgutachter beim Habilitationsverfahren mitgewirkt, wofür ihm einmal mehr mein herzlicher Dank gilt. Jürgen Kocka, Berlin, hat das Projekt begleitend gefördert und die Türen zum Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas geöffnet, dessen Anregungen die Arbeit viel verdankt. Den Herausgebern der Kritischen Studien bin ich für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe zu großem Dank verpflichtet. Den Weg nach Riga hat die Robert-Bosch-Stiftung durch ihr Fachlektorenprogramm mit gebahnt, die Alexander-v.-Humboldt-Stiftung den dortigen Lehr- und Forschungsaufenthalt großzügig weiter gefördert. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Niederschrift ebenso wie die Drucklegung finanziert, wofür ihr besonderer Dank gebührt. Auch den Mitarbeitern der Rigaschen Bibliotheken und Archiven, allen voran Frau Aija Frišenfelde von der Lettischen Nationalbibliothek und Frau Ira Zaneriba vom Lettischen Staatsarchiv bin ich für ihre stete Hilfe bei der Suche entlegener Quellen verpflichtet. Valdis Tēraudkalns und Denis Hanovs haben mich jahrelang kompetent bei der Literaturrecherche unterstützt, wofür ich ihnen herzlich danken will. Die Studie ist in einer Stadt entstanden, in der die Brüche der Geschichte besonders scharf hervortreten. Es sind Freunde gewesen, die mich viele dieser Brüche erst haben verstehen lassen. Ilgvars Misans, meinem »Humboldt-Partner« von der Lettischen Universität danke ich für seine intellektuelle Offenheit in einem von spezifischen Erinnerungen dominierten akademischen Umfeld. Auch Nils Muižnieks, Gregory und Marina Krupnikov und Julia Gladchenko haben ihren Anteil am Entstehen dieser Arbeit. Mit Eugene Gomberg hat mich ein kontinuierlicher Gedankenaustausch über Denkmäler und ihre Stürze und damit über die Vergangenheit der Gegenwart im östlichen Europa verbunden. Sehr viel verdankt diese Studie den Impulsen jener, die Riga zunächst nicht kannten und sein Muster konkur9

rierender Traditionen in einen gesamteuropäischen Kontext stellten: Jörn Leonhard, damals Oxford, und Christoph Conrad, Genf, danke ich für ihre stete Freundschaft, für kollegiale Kritik und für ihre intellektuelle Wachheit, die so manchen Moment wissenschaftlicher Einsamkeit in Riga zu überbrücken half. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, meinem Mann und unseren drei Kindern, für ihre Unterstützung und den fröhlichen Gegenhalt, der sie in dieser Zeit gewesen sind und weiterhin darstellen. Auch meine Eltern haben den Abschluß dieser Studie in einer Zeit, in der die Familie weiter wuchs, tatkräftig unterstützt. Schließlich hat auch der spiritus loci seinen Anteil daran, daß die Jahre des Lebens und Arbeitens in der baltischen Metropole zu einer Erfahrung wurden, deren prägende Wirkung über diese Zeit weit hinausreicht. Hamburg, im Juli 2006

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Ulrike v. Hirschhausen

Den Freunden der Rigaer Jahre Maniem Rīgas Gadu Draugiem ɉɨɫɜɹɳɚɟɬɫɹɞɪɭɡɶɹɦɦɨɢɯɪɢɠɫɤɢɯɥɟɬ To the friends of my Riga years

Einleitung Wie Menschen mit Menschen anderer Sprache und Kultur umgehen, ist ein altes Thema der europäischen Geschichte. Es handelt von den Grenzen wie von den Gemeinsamkeiten, die das Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen prägen und das Ausmaß ihrer Kooperation bestimmen. Besonders virulent ist diese Frage in jenen Räumen Europas, die eine Vielfalt ethnischer Zugehörigkeiten, kultureller Traditionen und religiöser Bindungen aufweisen. Ein solche Vielfalt kennzeichnet in hohem Maße das östliche Mitteleuropa, jenes Gebiet zwischen Elbe und Donau, Dnepr und dem Peipussee, wo nationale Ansprüche und Territorien spannungsvoll zusammenstießen.1 Die vorliegende Studie thematisiert ethnische Vielfalt in einer Stadt dieses historischen Raums. Sie beschreibt die Beziehungen zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden in Riga zwischen 1860 und 1914 und analysiert die Gründe von Konflikt und Kooperation. Sie sucht das Phänomen einer weitgehenden Nationalisierung dieser städtischen Gesellschaft zu erklären und die Reichweite dieses Erklärungsmusters schließlich im europäischen Vergleich zu bestimmen. Sie hat dafür einen Titel gewählt, der die zeitgenössische Erwartung von Gemeinsamkeit mit der gleichzeitigen Erfahrung wachsender Grenzen verbindet und die Spannung dazwischen zum Thema macht. Die Untersuchung hat eine Stadt zum Gegenstand, in der Multiethnizität früh und ausgeprägt das politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben prägte. Bereits die politische Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit klassifizierte die Bevölkerung Rigas in ›Deutsche‹ und ›Undeutsche‹.2 Über Jahrhunderte hinweg dominierte ein deutsches Stadtbürgertum die 1201 vom Bremer Bischof Albert gegründete Handelsstadt, während die autochthone lettische Bevölkerung bäuerlichen und unterbür1 Zur räumlichen Eingrenzung Ostmitteleuropas vgl. Conze, Ostmitteleuropa, S. 1–12; Zernack, S. 31–66. 2 Vgl. Niitemaa; Johansen.

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gerlichen Berufen nachging. Die Hansestadt gehörte zunächst zum Machtbereich des Deutschen Ordens und fiel im 17. Jahrhundert an die Schwedische Krone. Als Peter der Große im Nordischen Krieg Schweden besiegte, wurden Riga und die sogenannten Ostseeprovinzen Livland und Estland 1710 bzw. 1721 Teil des Russischen Reiches. 1795 kam auch Kurland dazu. In den sogenannten ›Kapitulationen‹ gelang es den deutschbaltischen Eliten in Stadt und Land, die tradierte Autonomie ihrer ständischen Herrschaft aufrechtzuerhalten. Mit der Zugehörigkeit zu Rußland verstärkte sich allmählich die Präsenz von Russen in der baltischen Handelsmetropole. Wirtschaftliche Interessen stimulierten seit der Jahrhundertmitte den Zuzug von Juden. Deutsche, die 1867 rund 43% der Gesamtbevölkerung von 100 000 ausmachten, stellten nicht nur zahlenmäßig die größte ethnische Gruppe, sie gaben der Stadt auch ihr kulturelles Gepräge, wie »Meyers Großes Conversationslexikon« 1850 lakonisch konstatierte: »In Riga, meist von Deutschen bewohnt, herrscht viel Reichtum, guter Ton und feine Lebensart.«3 Doch im Zuge von Agrarreformen und beginnender Industrialisierung kam es nach der Jahrhundertmitte zu Massenmigrationen der lettischen Landbevölkerung nach Riga, dessen ethnische Zusammensetzung sich dadurch grundlegend verschob. 1913 war die Stadtbevölkerung auf 500 000 Menschen angewachsen, worunter jetzt 40% Letten waren, während Deutsche nur noch 16% ausmachten. Neben die deutsche Kultur war eine lettische getreten, und zunehmend suchten auch Rigas Russen ihrer Nationalkultur Geltung zu verschaffen. Urbanisierung, Industrialisierung und Nationsbildung bewirkten eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Mobilisierung der städtischen Gesellschaft, die Riga in den Jahrzehnten vor 1914 in eine ethnisch segmentierte Stadt zerfallen ließ. Drei Deutungslinien durchziehen diese Untersuchung. Am Beispiel Rigas sucht die Arbeit erstens das Phänomen der Multiethnizität aus dem langen Schatten nationalzentrierter Modernisierungsparadigmen hervorzuholen und als Charakteristikum des neuzeitlichen Europas begreif bar zu machen.4 Im Gegensatz zur deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hat vor allem die angelsächsische Forschung dem Phänomen der Multiethnizität seit geraumer Zeit erhebliche Aufmerksamkeit entgegengebracht.5 Dafür gibt es gute Gründe. Zum einen hat das Erbe des Kolonialismus hier früher und stärker zur Auseinandersetzung mit ethnischer Differenz und den daraus resultierenden Problemen gezwungen.6 Zum zweiten führte der Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989/91 dazu, die Vielfalt ethnischer Gruppen und 3 Meyers Großes Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände, Bd. 35, 1850, zitiert nach Lenz, Entwicklung Rigas, S. 4. 4 Vgl. Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte, S. 469. 5 Vgl. grundlegend Barth; sowie v.a. Sollors; Eriksen; Smith u. Hutchinson, Ethnicity; den Forschungsstand resümieren: Banks; Heinz. 6 Vgl. Conrad u. Randeria, Eurozentrismus.

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Identitäten in Europa neu zur Kenntnis zu nehmen, zumal ethnische Konflikte sich überaus gewalttätig in der europäischen Nachbarschaft entluden. Drittens fordern die internationalen Migrationsströme, primär aus Entwicklungsländern in die westliche Welt, eine neue Sensibilität für die Probleme und Chancen ethnischer Vielfalt.7 Viertens schließlich, und nicht unbeeinflusst von diesen Entwicklungen, hat die kulturwissenschaftliche Wende die lange gehegte Annahme, daß das Herauf kommen der Moderne religiöse, ethnische oder nationale Bindungen nivelliere und durch soziale Klasse als gesellschaftliches Ordnungskriterium ersetze, in Frage gestellt. Zu deutlich zeigte die Wirklichkeit des letzten Jahrzehnts wie auch ein unverstellter Blick auf die Vergangenheit, daß Klassenzugehörigkeit, obwohl nach wie vor von großer Bedeutung, Ethnizität oder Religion nicht zu eliminieren vermochte. Diese sind vielmehr in ungeahnter Stärke in die Geschichte zurückgekehrt und beanspruchen dort ihren historischen Platz. Multiethnizität als Normalfall, nicht als Sonderfall, ist von der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bei der Beschreibung europäischer Gesellschaften nur vereinzelt zur Kenntnis genommen worden. Der Ansicht, daß mit linear zunehmender Modernisierung ethnische Zugehörigkeit und Staatlichkeit deckungsgleich würden, entsprach der Nationalstaat als dominanter Bezugsrahmen historischer Analyse.8 Entsprechend wurde zumeist davon ausgegangen, daß es sich bei den formalen Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts in der Tat um ethnisch homogene Gesellschaften und Kulturen gehandelt habe.9 Im nationalen Rahmen entsprach dem die Entscheidung, die deutsche Geschichte im wesentlichen als ›kleindeutsche‹ Geschichte zu schreiben und ihren österreichischen Teil gesondert zu behandeln.10 Die Arbeiten James Sheehans, Dieter Langewiesches und Wolfram Siemanns haben dazu beigetragen, diese Gleichsetzung des protestantischen Deutschlands mit der deutschen Nation zu relativieren.11 Die Analyse städtischer Räume dominierte meist das quantitativ orientierte Deutungsmuster der Urbanisierung oder die Frage, welcher bürgerlichen Gruppe die Vorreiterposition im Modernisierungsprozeß zukam 7 Vgl. Bade. 8 Vgl. Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte. Raphael verweist darauf, daß das östliche Mitteleuropa in der führenden Fachzeitschrift ›Geschichte und Gesellschaft‹ zwischen 1975 und 2000 nur mit 0,9%, Rußland/SU nur mit 2,4% aller Aufsätze vertreten waren. 9 Vgl. Reinhard, S. 443, der darauf hin weist, daß von »132 Staaten, die 1971 einer einschlägigen Untersuchung unterworfen wurden, nur 12 (9,1%) zu mehr als 90% aus einem einzigen Volk bestanden. In allen anderen lebten mehr als 10% nationale Minderheiten, die in 39 Fällen (29,5%) sogar mehr als 50% der Bevölkerung ausmachten. Theoretisch gibt es zwar nur Nationalstaaten, praktisch aber fast nur multinationale Staaten.« 10 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte; Wehler; Winkler, Weg nach Westen. 11 Vgl. Sheehan; Siemann, Staatenbund; Langewiesche, Reich, Nation und Staat; ders. u. Schmidt, Föderative Nation.

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– beides zentrale Problemstellungen, die ihre Bedeutung keinesfalls eingebüßt haben, aber die Dimension ethnischer oder religiöser Differenz überwiegend ausblendeten.12 Die Geschichte von Polen und Juden innerhalb deutscher Grenzen geriet so meist zum ›Minderheitenproblem‹,13 wurde nur von Einzelnen als Aufforderung begriffen, historische Narrative von Vielfalt und Differenz zu entwerfen.14 Bei der Analyse anderer europäischer Gesellschaften und Kulturen standen ebenfalls sozioökonomische und ideologische Konflikte im Vordergrund, wogegen ethnische oder religiöse Differenzen eher unterbelichtet blieben.15 Andreas Kappelers ›Russland als Vielvölkerreich‹ hat 1993 ein Signal gesetzt, dem zunehmend auch die deutschsprachige Forschung zur Sowjetunion folgt.16 Auf die Herausforderung von Multiethnizität hat die Historiographie jener Staaten, die auf ausgeprägte Kolonialerfahrungen zurückblicken, früher reagiert. Vom Binnenleben der eigenen Gesellschaft angestoßen, diskutieren amerikanische Intellektuelle das Konzept des ›multiculturalism‹ seit über drei Jahrzehnten.17 Ihren Niederschlag findet diese Offenheit auch in maßgeblichen Anstößen, die Geschichte Ost- und Südosteuropas als Geschichte multiethnischer Koexistenz zu schreiben und sich ebenso den Lebenswelten der imperialen Peripherie zuzuwenden.18 Britische Geschichte feiert den Abschied von David Humes ›Whig-History‹ und wird zunehmend zur Analyse »von vier Nationen und drei Königreichen«, die auch koloniale Austauschprozesse neu reflektiert.19 Ähnlich beginnen Schweizer Historiker die Geschichte ihrer Föderation im Zeichen von ›Multikulturalismus und Ethnizität‹ zu betrachten.20 Indem nationalstaatliche Grenzen für deutsche Historiker jedoch meist auch die Grenzen gesellschaftlicher Erklärungsmuster abgaben, gerieten die vielfältigen transnationalen Verflechtungen seltener in den Blick, die Deutschland mit Europa und der außereuropäischen Welt verbanden. Die Gefahr der Provinzialisierung hat eine Debatte angestoßen, wie die deutschsprachige Geschichtsschreibung auf die Herausforderung der politischen Europäisierung und der wirtschaftlichen 12 Vgl. zur Urbanisierung Reulecke; Zimmermann; ähnlich auch Brower, Russian City. Zur Bürgertumsforschung vgl. Gall, Stadt und Bürgertum; sowie ders., Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung; Lundgreen. 13 Vgl. Hahn und Kunze. 14 Vgl. v.a. die Arbeiten von Volkov. Überzeugend: van Rahden; vgl. auch Walser Smith. 15 Vgl. das grundlegende Werk von Hildermeier, Sowjetunion, sowie Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs. 16 Vgl. Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich; Baberowski, Feind. 17 Vgl. Bronfen; Goldberg; Taylor; Kymlicka. 18 Ein Signal für diese Ausrichtung setzte 1997 Brower u. Lazzerini; vgl. auch Slezkine; Geraci; Suny sowie brilliant für das Osmanische Reich: Mazower. 19 Ellis, S. 351; vgl. auch Asch; Davies. 20 Vgl. Wicker; Studer.

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und kulturellen Globalisierung reagieren könne.21 In einer neuen Aufmerksamkeit für Multiethnizität als ein prägendes Kriterium der europäischen Geschichte könnte ein solcher erweiterter Problemhorizont liegen. Die vorliegende Arbeit dokumentiert am lokalen Beispiel, daß Multiethnizität weder ein nur vormodernes Phänomen ist, welches durch die moderne Staats- und Nationsbildung zum Verschwinden gebracht wurde, noch ein typisches Produkt der Postmoderne darstellt, dessen Konfliktpotential die ›Kriege des 21. Jahrhundert‹ entfache. Vielmehr plädiert die Arbeit dafür, Multiethnizität als europäischen Normalfall, als durchgängiges Strukturmerkmal der meisten europäischen Gesellschaften zur Kenntnis zu nehmen, dessen Dynamik sich gerade in der Moderne spannungsreich entfaltete. Entsprechend sollte es in Zukunft in die historiographische Landkarte Europas eingezeichnet werden. Die Studie will zweitens auf Alternativen zur Annahme einer zwangsläufigen Ausbildung nationaler Identität aufmerksam machen, der die Nationalismusforschung überwiegend anhängt.22 Auch die einflussreichen Interpretationen der letzten Jahrzehnte, die der Forschung den Weg von Erscheinungsformen hin zu Ursachenforschung und Konstruktionsanalysen gewiesen haben, gingen davon aus, daß die Entwicklung moderner Gesellschaften in die Ausbildung nationaler Identitäten münde und ihren Kulminationspunkt zumeist in der Gründung eines Nationalstaats habe.23 Dementsprechend wurde die Bedeutung anderer, nichtnationaler Interpretationsmuster oft übersehen ebenso wie abweichende Staatsformen kaum mehr als gleichberechtigte historische Alternativen betrachtet wurden, sondern als vormoderne Hindernisse zur Ausbildung des Nationalstaats: »Empires and confederations, precisely because they were multi-national, have been regarded as working against the identification of nations and states in a specified territory.«24 Gerade die Frage nach dem Verhältnis von nationalen zu differierenden Loyalitätsmustern erweist sich für die Nationalismusforschung als fruchtbar, und entsprechend kommen aus der Untersuchung lokaler, regionaler und imperialer Kontexte zur Zeit besonders weiterführende Anregungen für die Überprüfung lang gehegter Selbstverständlichkeiten. Für den mitteleuropäischen Raum haben einige Studien der letzten Jahre, bezeichnenderweise oft aus angelsächsischer Feder, auf die Gleichzeitigkeit 21 Vgl. neben der in Geschichte und Gesellschaft seit 2001 geführten Debatte um eine transnationale Gesellschaftsgeschichte auch die online-Diskussion des Forums geschichte. transnational auf http://geschichte-transnational.clio-online.net. 22 Vgl. zum Forschungsstand Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat; Klimo; mit Fokus auf der frühen Neuzeit Stauber. 23 Vgl. Gellner; Anderson; Hobsbawm; Smith, Ethnic Origins of Nation; ders., Nationalism and Modernism. 24 Haupt u.a., Introduction, S. 8.

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von nationalen und regionalen Loyalitäten hingewiesen.25 Tastende Blicke auf Italien und Frankreich scheinen solche Beobachtungen auch für Westeuropa zu erhärten.26 Gerade in sprachlich, ethnisch und kulturell gemischten Gebieten, europäischen ›Zwischenräumen‹ mithin, die oft an den Rändern von Staatsnationen und Großreichen lagen und in denen Nation und Territorium nicht deckungsgleich waren, scheinen sich häufig unterschiedliche Identitätsangebote ausgebildet zu haben. Entsprechend relevant ist die Frage nach alternativen Gemeinschaftsvorstellungen demnach auch für das multiethnische Riga im Nordwesten des Zarenreichs. Welchen Identitätsmustern neigten welche Gruppen hier zu? Und in was für einem Verhältnis standen diese: Überschneidung, Gleichzeitigkeit oder Hegemonie? Neben die Vielfalt der Loyalitätsbezüge tritt die Frage nach deren Deutung. Denn nirgendwo blieb die Interpretation von Region, Nation oder Reich einheitlich, nirgends als stabile Größe verbindlich. Weiterführend erscheint daher die Auslotung der ideologischen Konfliktfelder innerhalb der konkurrierenden Milieus Rigas. Mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen Nationsvorstellungen jeweils unterlegt wurden, hat die Forschung bisher primär für westliche Nationalismen untersucht. So ist für Deutschland gezeigt worden, daß das Konzept der Nation von Sozialdemokraten und Nationalliberalen ebenso unterschiedlich gedeutet wurde wie von Protestanten und Katholiken. In Frankreich rivalisierten vor allem rechte und linke Nationalisten um das Monopol der nationalen Interpretation, und ähnlich scharfe Deutungskämpfe scheinen auch in Großbritannien und Italien von ethnischen Gruppen oder politischen Lagern ausgefochten worden zu sein.27 Am Beispiel des lettischen ›Nation-building‹ kann die vorliegende Studie nachweisen, in welchem Ausmaß auch ostmitteleuropäische Nationalismen ideologisch segmentiert waren.28 Doch nicht nur das Konzept der Nation erschließt sich erst in seiner Pluralität. Der Vergleich der zentralen Loyalitätsbezüge, welche die ethnischen Milieus der Stadt voneinander unterschieden, zeigt ebenso, daß nicht nur die Vorstellung der Nation, sondern auch parallele Bezugsgrößen wie Region und Reich von den Akteuren mit divergenten Bedeutungen gefüllt wurden. Schließlich gewinnt mit der zunehmenden Einsicht, daß es sich bei Nationalkulturen nicht um geschlossene Systeme handelt, daß sie vielmehr im gegenseitigen Austausch erfunden und konstituiert wurden, auch der Vorgang der Aufnahme, Anpassung oder Zurückweisung anderer Kulturen an neu25 Vgl. Applegate, Nation of Provincials; dies., Europe of Regions; Confino; Green; vgl. auch Langewiesche u. Schmidt, Föderative Nation; Möckl. 26 Vgl. Gras. 27 Vgl. die entsprechenden Beiträge von Tombs und Borutta in v. Hirschhausen u. Leonhard, Nationalismen in Europa; sowie auch Klimo. 28 Vgl. den Hinweis auf die ideologische Segmentierung des polnischen Nationalismus bei Porter.

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em Interesse.29 Unter den Stichworten ›Métissage‹ und ›Akkulturation‹ haben Historiker vor allem mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis danach gefragt, welche Bedeutung Transfers und Wechselbeziehungen für die Ausbildung von Gruppenidentitäten haben.30 Bezogen sich diese Forschungspostulate, deren Realisierung noch weitgehend aussteht, bisher primär auf westeuropäische Kulturen und Gesellschaften, so verleiht die multiethnische Struktur des östlichen Europas solchen Fragen hier ihre besondere Relevanz. Doch im Gegensatz zum westlichen Europa, wo kulturelle Grenzen sich mit staatlichen Grenzen überwiegend deckten, stellt sich die Frage nach der Konstituierung nationaler Kulturen durch Aneignung und Abwehr fremder hier meist innerhalb von Reichsgrenzen. Das multiethnische Riga, wo unterschiedliche Kulturen, eine deutsche, eine lettische, eine russische und eine jüdische, aufeinander trafen, legt die Frage nach ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Vermischung besonders nahe. Entgegen der zeitgenössischen Rhetorik vom singulären Charakter der eigenen Kultur intensivierte gerade die unmittelbare Nachbarschaft jenen Effekt, daß das Eigene oft erst in Abgrenzung oder Nachahmung von fremden Mustern entstand, daß Alterität der Rechtfertigung oder Infragestellung von Identität diente.31 Wie sahen solche Prozesse konkret aus und in welchen Phänomenen manifestierten sich Übertragung oder Nachahmung? Indem die vorliegende Studie solchen Akkulturationen und interethnischen Transfers besondere Aufmerksamkeit schenkt, rückt zugleich die Verflochtenheit der konkurrierenden Gruppen und ihrer Kulturen nach vorne, die eine ethnozentrische Historiographie bisher wenig zur Kenntnis genommen hat. Diese Studie verfolgt drittens die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Entwicklungen unter der Bedingung multiethnischer Koexistenz. Das Konzept der Zivilgesellschaft ist heute ebenso durch seine Konjunktur gekennzeichnet wie durch die Kritik, die ihm entgegenschlägt. Bezeichnete der Begriff in der Auf klärung einen utopischen Entwurf menschlichen Zusammenlebens, wurde er seit den 1980er Jahren zum Schlüsselwort antidiktatorischer Kritik in Ostmitteleuropa wie auch in Lateinamerika. Diese Renaissance hat zu seiner kontrovers diskutierten Wiedereinführung in die politikwissenschaftliche, soziologische und historische Forschung geführt.32 Im deutschsprachigen Raum wird unter Zivilgesellschaft jener Bereich gesellschaftlichen Engagements verstanden, der zwischen Staat und Markt liegt und zumeist auch zur Privatsphäre hin abgegrenzt wird. Innerhalb dieses Rahmens bezeich29 Vgl. Paulmann; Lingelbach. 30 Vgl. Espagne u. Werner; Espagne u. Middell; Jordan u. Kortländer. 31 Vgl. Corbey u. Leersen. 32 Vgl. mit der wichtigsten Literatur Hildermeier u.a., Europäische Zivilgesellschaft; Cohen u. Arato; Keane; Bauerkämper.

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net Zivilgesellschaft einen Entwurf menschlichen Zusammenlebens, das in hohem Maße von gesellschaftlicher Selbstorganisation und Gemeinwohlorientierung, von Partizipation und Öffentlichkeit geprägt ist, das Arbeit und Leistung als Kriterien der Verteilung von Wohlstand, Ansehen und Macht voraussetzt, das Vielfalt toleriert und Konflikte gewaltlos zu regeln vermag. Eine Zivilgesellschaft besteht auf der Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten und ist von einer dezentralisierten Marktwirtschaft ebenso wenig zu trennen wie von einem Rechts- und Verfassungsstaat.33 Diesem Modell als analytischer Kategorie wie als normativem Maßstab ist seitens der Historiker viel Zustimmung, aber auch scharfe Kritik entgegengeschlagen.34 Ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Begriff der ›Bürgerlichen Gesellschaft‹ liegt darin, daß die Frage nach zivilgesellschaftlichen Elementen sich nicht auf bürgerliche Gruppen beschränkt und daher auch dort Aufschluß bringen kann, wo solche kaum ausgebildet waren.35 Zumal die Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas gerät so weniger in Gefahr, als Defizitgeschichte geschrieben zu werden, als Geschichte des ewigen zu spät, zu wenig, zu langsam. Sodann konzentriert sich das zivilgesellschaftliche Deutungsmuster im Gegensatz zu den Modernisierungstheorien, dem Paradigma der Sozialgeschichte, auf Dimensionen, die meist jenseits sozioökonomischer Strukturen und Verlaufsprozesse liegen. Es vermeidet dadurch das Problem einer primär quantitativen Erfassung von Wirklichkeit, wie sie lange Zeit das Modell der Urbanisierung gekennzeichnet hat. Entwicklungsblockaden und soziale Krisen lassen sich leichter integrieren, und das Problem einer linearen Fortschrittsteleologie wird reduziert. Nicht zuletzt liegt ein besonderer Vorzug des Konzepts in seiner Eignung als Tertium comparationis jenseits einer nur deutschsprachigen Begrifflichkeit, mithin als Fluchtpunkt des internationalen Vergleichs. Doch der Begriff der Zivilgesellschaft weist ebenso Probleme auf, mit denen sich jede Studie, die ihn anwenden will, auseinanderzusetzen hat. Da ist einmal die Gefahr, daß der Begriff zwischen einer analytischen Untersuchungskategorie und einer gleichsam überhistorischen politischen Norm schwankt. Zivilgesellschaftliches Handeln und zivilgesellschaftliche Werte werden oft in eins gesetzt, obwohl die Empirie häufig zeigt, daß beide keineswegs deckungsgleich sein müssen. Hinzu kommt die Fragwürdigkeit einer scharfen räumlichen Trennung der Zivilgesellschaft von den Bereichen des Marktes und des Staates, die dazu führen kann, zivilgesellschaftliches Handeln in diesen Räumen kaum mehr wahrzunehmen.36 Eklatant zeigt sich 33 Vgl. zur Definition v.a. Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem, S. 26. 34 Vgl. Hann u. Dunn. 35 Vgl. Hildermeier, Privileg der Rückständigkeit. 36 Vgl. Kocka, Nachwort: Zivilgesellschaft, der die scharfe Abtrennung gegenüber Markt und Staat verteidigt gegenüber Keane, der die Ökonomie stärker integrieren will, oder gegen-

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schließlich das Problem einer mangelnden Kontextualisierung und Historisierung daran, daß das weitgehende Fehlen empirischer Studien normative Modellsetzungen und essentialistische Definitionen begünstigt hat.37 Ambivalenzen, Exklusionen, Spannungen, wie beispielsweise das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt, sind unterbelichtet geblieben, was zur Kritik an dieser »Volksgemeinschaft der Gutmenschen« provoziert hat.38 Für eine Geschichte Rigas, die den interethnischen Beziehungen der städtischen Gesellschaft nachspürt, ist die Frage nach zivilgesellschaftlichen Mustern zum einen deshalb weiterführend, weil die Bedingung der Multiethnizität die Spannung zwischen dem Anspruch universalen Gemeinwohls und der Realität partikularer, meist ›nationaler‹ Interessen, besonders deutlich zum Ausdruck brachte. Konnte städtisches Gemeinwohl oder allgemeiner ›common sense‹ dort verbinden, wo ›Nationalität‹ die lokale Gesellschaft immer mehr spaltete? Die multiethnische Ausgangslage hatte zum anderen erhebliche Auswirkungen auf die Selbstorganisation dieser lokalen Gesellschaft. So resümierte Fürst Serafim Mansyrev, der lokale Abgeordnete der russischen Kadetten, 1907 in einer Sitzung des Russischen Clubs: »In Riga, das von Menschen verschiedener Nationalitäten bewohnt wird, hat die umfassende Steigerung des kulturellen Selbstbewußtseins eine ganz spezifische Färbung, und zwar wird sie zu einem Wettbewerb unterschiedlicher Nationalitäten. Eine jede von ihnen wird vor die Schicksalsfrage gestellt, den Entwicklungsgang mitmachen zu können und nicht zurückzubleiben, weil jeder Rückstand dem politischen und allgemein gesellschaftlichen Tode gleichkäme.«39 Stimulierte Multiethnizität einerseits ein erhebliches Engagement der Gesellschaft, standen dem andererseits hohe Barrieren in Gestalt ethnischer Grenzen gegenüber. Gab es vor diesem Hintergrund berufliche, wirtschaftliche oder kulturelle Ziele, welche die ethnische Trennung von Parteien, Vereinen und Festen überwanden? Konnte bloße Geselligkeit Kontakte zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden ermöglichen? Die Frage nach dem Verhältnis von Multiethnizität und Zivilgesellschaft erfordert jedoch einen selektiven Umgang mit dem Konzept. Die vorliegende Arbeit rückt zunächst die Handlungspraxis der städtischen Akteure in den Vordergrund, um die Fixierung auf den Bereich der Zivilgesellschaft durch die Frage nach der Art zivilgesellschaftlichen Handelns zu überwinüber Cohen u. Arato, welche die Familie als konstitutiven Teil zivilgesellschaftlicher Strukturen betrachten. 37 Vgl. die Aufsätze in Bauerkämper, die allerdings nur partiell weiterführend sind. Überzeugend, ohne den Begriff der Zivilgesellschaft zu benutzen: Hoffmann, Politik der Geselligkeit. Vgl. als europäischer Überblick auch: Ders., Geselligkeit und Demokratie. 38 Vgl. Heins. 39 Vortrag des Fürsten Mansyrev im Russischen Klub, gehalten im März 1907, Fonds 3746, Apr. 1, Nr. 36, LVVA, S. 26ff.

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den. Denn eine allzu scharfe Abgrenzung gegenüber den Agenturen von Staat und Wirtschaft birgt die Gefahr, die Vielfalt der möglichen Praktiken aus dem Blick zu verlieren. Zivilgesellschaftliches Handeln muß jedoch auch dort wahrnehmbar werden, wo es im Rathaus oder in der Firma stattfindet. Sodann wird das Konzept der Zivilgesellschaft primär als analytische Kategorie herangezogen, nicht aber als normatives Modell. So geht es dieser Studie nicht darum, ob es sich bei ihrem Gegenstand um eine Zivilgesellschaft gehandelt habe oder nicht, sondern darum, diejenigen Kräfte, die zivilgesellschaftliche Entwicklungen begünstigten, jenen gegenüberzustellen, die sie behinderten, Exklusion gegenüber Inklusion abzuwägen, Chancen und Grenzen des zivilgesellschaftlichen Projekts in einen konkreten Zusammenhang zu stellen. Indem die unterschiedlichen Untersuchungsebenen konsequent auf zivilgesellschaftliche Elemente und Barrieren hin gemustert werden, verfolgt die Arbeit das Ziel einer Historisierung und Kontextualisierung der zivilgesellschaftlichen Praxis. Erst indem den zeitgenössischen Praktikern der Zivilgesellschaft über die Schulter geschaut wird, läßt sich mit ihren heutigen Theoretikern ein Dialog eröffnen, der die Prozesse der Normbildung selbst zum Ausgangspunkt einer definitorischen Schärfung des Konzepts macht. Eine Studie, die das Zusammenleben der ethnischen Gruppen Rigas untersucht, muß den Abschied vom ›methodischen Nationalismus‹ wagen, der die Historiographie Ostmitteleuropas bis heute dominiert. Die Privilegierung der Nationalgeschichte, keineswegs nur ein Phänomen der deutschen Geschichtsschreibung, ging hier so weit, daß innerhalb multiethnischer Reiche und Gesellschaften eine Historiographie entstand, die nicht die Geschichte dieser Gesellschaften, sondern nur die einzelner Nationen als nicht hinterfragbaren Rahmen wählte.40 Auch im baltischen Fall verstärkte die »nationalstaatliche Teilung« nach 1918 nur noch die »nationalhistorische Teilung der Vergangenheit.«41 Die traumatische Erfahrung von sowjetischer Besatzung und Deportation mündete bei lettischen Exilhistorikern nach 1945 in einer Wiederanknüpfung an die Darstellungen der eigenen Vergangenheit als Passionsgeschichte. Innerhalb der lettischen Sowjetrepublik lösten Historiker die nationalen Meistererzählungen der Zwischenkriegszeit durch sozialistische Imperative ab, die dennoch nationalzentriert blieben. Die Wiederbegründung der lettischen Republik im Jahr 1991 hat die nationalgeschichtliche Fixierung zunächst eher verstärkt.42 40 Vgl. Hadler sowie die Beiträge in: Österreichische Osthefte, Bd. 44, 2002, Heft 1/2. Zu den deutschen Meistererzählungen vgl. Jarausch u. Sabrow. 41 Hadler, S. 148. Einschlägig für den baltischen Raum: Mühle, Baltic Lands. Knapp: Plakans, Introduction, in: ders., The Latvians. A short Story; sowie Hackmann, Ethnos oder Region? 42 Vgl. Henning, Nationalbewegung; v. Hirschhausen, Nationalisierung der Geschichte.

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Ebenso eklatant hat sich das ethnozentrische Apriori in der deutschsprachigen Historiographie niedergeschlagen. Im Phänomen der ›Ostforschung‹ verband sich die tradierte Vorstellung von der Kulturträgerschaft der Deutschen im Osten, die demnach auch zentrales Untersuchungsobjekt sein müsse, mit dem demokratisch gewendeten Abwehrkampf gegenüber der Sowjetunion.43 Hinzu trat das Weiterwirken der Erkenntnispostulate, welche die Volksgeschichte der 1920er und 1930er Jahre propagiert hatte.44 Auch in der baltischen Geschichtsschreibung, die bis zu den 1980er Jahren fast ausschließlich von Deutschbalten dominiert wurde, war das Bestreben, »im gedruckten Wort festzuhalten und weiterzugeben, was materiell verloren ging«, besonders deutlich zutage getreten.45 Anregungen, den Problemhorizont über die Rolle der Deutschen hinaus zu spannen, wurden Einzelnen wie Werner Conze oder Hans Rothfels überlassen, und die retrospektive Selbstkritik eines Reinhard Wittram blieb unbeachtet: »Das Dach ist geborsten auch über allen Landesgeschichten, weil es sie nur im offenen Horizont der Universalgeschichte geben kann, das heißt mit der Herausforderung des Vergleichens, der Relativierung, der gemeinschaftlichen Anstrengung und der Geduld.«46 Die akademische Beschäftigung mit der baltischen Geschichte ist im wesentlichen eine Beschäftigung mit den Deutschen in der baltischen Region geblieben.47 Dieser Privilegierung von Nationalgeschichten gilt es eine Perspektive gegenüberzustellen, welche die trennende Praxis der nationalen Sichtweisen überwindet und die ethnischen Gruppen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit, Abhängigkeit und Wechselwirkung betrachtet. In einer interethnischen Verflechtungsgeschichte sieht diese Studie einen methodischen Neuansatz zur Überwindung jenes ethnozentrischen Narrativs, welches die bisherigen Historiographien kennzeichnet. Verflechtungsgeschichte, Entangled history, Shared history oder auch Histoire croisée, ist ein Forschungsansatz der letzten Jahre, der zunächst von den postkolonialen Studien eingefordert wurde, um die wechselseitigen Beziehungen zwischen Europa und der außereuropäischen 43 Vgl. Mühle, Ostforschung; Answeiler; Etzemüller. 44 Vgl. Oberkrome; Haar; Klessmann, Osteuropaforschung; Burleigh; Camphausen; Oberländer, Historische Osteuropaforschung; Garleff, Zwischen Konfrontation und Kompromiß. 45 Zit. nach Mühle, Ostforschung, S. 344. Das einschlägigste Beispiel für die Kontinuität der Deutschtumszentrierung ist Wittram, Baltische Geschichte, die bis heute noch keinen adäquaten Ersatz gefunden hat; vgl. ähnlich v. Rauch, deutschbaltische Geschichtsschreibung, der das Problem der Ostforschung noch gar nicht thematisiert. 46 Wittram, Der Wiederbeginn der baltischen historischen Studien nach 1945. Unveröffentl. Manuskript, hier zitiert nach: v. Pistohlkors, Stellung der Deutschen, S. 108. Vgl. auch Rothfels, Krise des Nationalstaats; Conze, Geschichte des baltischen Deutschtums. 47 Vgl. programmatisch dafür die Reihe »Deutsche Geschichte im Osten Europas«, Bd. 4, Baltische Länder, hg. von v. Pistohlkors; Ausnahmen: v. Pistohlkors u. Ezergailis, Baltische Provinzen; v. Pistohlkors u.a., Bevölkerungsverschiebungen.

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Welt angemessen zu berücksichtigen.48 Zunehmend gewinnt er auch für die Geschichtsschreibung innerhalb Europas an Bedeutung und wurde bevorzugt zwischen Frankreich und Deutschland umzusetzen gesucht.49 Was diese bisher mehr postulierte als praktizierte Verflechtungsgeschichte kennzeichnet, nämlich Austausch- und Transferprozesse zwischen nationalen Gesellschaften oder Kulturen zu untersuchen, muß für Ostmitteleuropa mit seinen multiethnischen Gesellschaften neu definiert werden.50 Hier, wo Nationen und Kulturen weniger durch staatliche Grenzen als durch kulturelle, soziale und ethnische Grenzen voneinander getrennt waren, kann das Programm einer Verflechtungsgeschichte sich nicht auf die Beziehungen zwischen Reichen oder Nationen beschränken, sondern muß ebenso auf die Zusammenhänge innerhalb dieser multiethnischen Gesellschaften zielen. Daher geht es der vorliegenden Studie über das Zusammenleben von Deutschen, Letten, Russen und Juden in Riga vor allem darum, die gegenseitige Berührung und Beeinflussung dieser ethnischen Gruppen herauszuarbeiten, ihrer wechselseitigen Konstituierung nachzugehen, gemeinsame Abhängigkeiten, Loyalitäten oder Feindbilder zu beleuchten, Konflikte wie Kooperationen auf unterschiedlichen Handlungsebenen kenntlich zu machen. Erst wenn die konkurrierenden und kooperierenden ethnischen Gruppen nicht nur individuell und singulär betrachtet werden, nicht mehr nur nebeneinander gestellt, sondern miteinander verbunden werden, läßt sich die zentrale Fragestellung dieser Arbeit, warum Multiethnizität hier eine so weitgehende Nationalisierung der Gesellschaft auslöste, angemessen erkennen und erklären. Eine interethnische Verflechtungsgeschichte tut gut daran, der Rhetorik und den semantischen Strategien ihrer Akteure nachzuspüren, um präzise zwischen der politisch-sozialen Sprache der Zeitgenossen und dem analytischen Vokabular von heute zu unterscheiden. Auch in der baltischen Region brachten grundlegende Strukturwandlungen das überkommene System begrifflicher Ordnung seit der Mitte des 19. Jahrhundert in Bewegung.51 So konstatierten aufmerksame Beobachter der zeitgenössischen Sprache wie der lettische Seminardirektor Johann Zimse: »Soll ich die deutsche Frage beantworten und zwar ohne Rückhalt, so muß ich die Hand in ein Wespennest stecken … Die Begriffsverwirrung und das Parteitreiben ist hier zuweilen sehr groß.«52 Und ähnlich hatte der deutschbaltische Publizist Julius Eckhardt angesichts der 48 Vgl. Anm. 6. Vgl. auch Conrad, Doppelte Marginalisierung; sowie Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. 49 Vgl. Anm. 30. 50 Vgl. dazu vor allem Kocka, Östliches Mitteleuropa. 51 Vgl. zum mitteleuropäischen Kontext: Koselleck, ›Volk‹. 52 Brief Zimses an Bielenstein im Jahr 1872, zitiert nach: Bielenstein, Ein glückliches Leben, S. 402.

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neuartigen Funktion politischer Leitbegriffe als Werkzeuge gesellschaftlicher Mobilisierung 1864 gestehen müssen: »Sprache und Nationalität sind Begriffe, bei denen nicht nur dem Politiker, sondern selbst dem gelehrten Forscher unheimlich zu Mute wird.«53 Das wachsende Verlangen nach politischer Partizipation, sozioökonomischem Fortschritt und kultureller Selbstbestimmung löste auch in den Ostseeprovinzen das Bedürfnis nach einem sprachlichen Arsenal aus, das diese Emanzipationsprozesse angemessen dokumentieren und weiter vorantreiben konnte. Am stärksten machte sich dieser Wunsch im lettischen Milieu bemerkbar, wo die jahrhundertelange Überschneidung von Bauer und Lette sich auch in der semantischen Überlagerung von Nation und Klasse niedergeschlagen hatte: »Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte der Lette sich selber nicht und nannte sich nicht anders als ›Bauer‹, denn so nannten ihn alle, die sich dazumal ihm überlegen wähnten oder es auch tatsächlich waren … Niemand vermochte sich auch nur vorzustellen, Bauer und Lette wären zwei völlig voneinander getrennte Begriffe. Desgleichen sah man keinen Unterschied zwischen ›Herr‹ und ›Deutscher‹, weil ›Deutscher‹ nichts anderes als ›Herr‹ bedeutete. Also waren alle Deutschen Herren und alle Herren – Deutsche. Welches Wort man gebrauchte, war egal. Wie auch hätte der Lette nicht Bauer und der Bauer nicht Lette sein sollen, wo doch alles in ihm diese beiden Begriffe wie Zinn und Blei im Schmelztiegel zusammenschmolz?«54 Doch mit dem Emanzipationsstreben der Letten wurde jetzt der Begriff des ›Volks‹ [tauta] zur Selbstbeschreibung in das zeitgenössische Vokabular eingeführt und begann die vormalige Selbstdefinition als Bauer zu ersetzen. Eindringlich wies der lettische Geograph Ernests Diņsberģis in seiner 1876 erschienenen ›Ethnographie‹ darauf hin, daß »wir … unser Volk das lettische Volk nennen« und äußerte die Hoffnung, daß »die Einwohner Kurlands und Livlands durch die Lehrerversammlungen, Sängervereine, Zeitungen usw. sich wieder vernünftig zu einem Volk, zu ein und denselben Volksgenossen vereinigen.«55 Neben dem immer gebräuchlicheren Begriff des ›Volks‹, der durch Sprache, Kultur und Abstammungsgemeinschaft definiert wurde, gewann auch der Begriff der ›Nationalität‹ [tautiba] an Popularität. Der im Lettischen etymologisch gleiche Wortstamm trug dazu bei, daß beide Begriffe, Volk und Nationalität, sich semantisch kaum unterschieden und abwechselnd gebraucht wurden. Entsprechend konnte die 53 Rigasche Zeitung Nr. 248, 1864, zitiert nach: Wittram, Liberalismus, S. 81. 54 Kaudzīte, Atmiņas, S. 596. Besonders tief hatte sich die jahrhundertelange Überschneidung von Ethnizität und Klasse etymologisch in die estnische Sprache eingegraben, über die Julius Eckhardt in seinen ›Baltischen Provinzen‹ bemerkte: »Die Begriffe ›Herr‹ und ›Deutscher‹ sind in diesem Landes so vollständig identifiziert, daß die Sprache der Esten nur einen Ausdruck für beide (saxa) hat.«, in: Eckhardt, Baltische Provinzen, S. 24. 55 Diņsberģis, S. 3.

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Zeitung ›Rigas Lapa‹ zum Auftakt der ersten allgemeinen Stadtwahlen des Jahres 1878 konstatieren: »Wir können nicht erklären, wie sich die Frage der lettischen Nationalität entwickelt hat, wie das Erwachen des Volkes geschah, aber dass man dieses Erwachen jeden Tag deutlicher spürt, ist offenbar. Die frühere Ansicht, daß man in den Letten nur eine niedrige Bauernschicht sah, ist für alle Zeit verschwunden.«56 Die unübersehbare Tatsache des soziokulturellen Aufstiegs der Letten und die Erfahrung, daß Stand nicht mehr Ausweis von Ethnizität, der Gebildete nicht notwendigerweise mehr ein Deutscher war, führte auch im deutschen Milieu zu einer neuen sprachlichen Einordnung des veränderten Gegenübers: »Wohlstand, Bildung und Selbstbewusstsein der beiden Völkerschaften, die man vor nicht all zu langer Zeit als ›unsere Nationalen‹ zu bezeichnen pflegte, haben so ungeheure Fortschritte gemacht, dass … wir uns eben haben gewöhnen müssen, die Begriffe ›Nationalität‹ und ›nationale Bildung‹ von durchaus neuen Seiten kennen zu lernen. Die überkommene Vorstellung, dass ein Volksthum zu Herrschaftsansprüchen nur berechtigt ist, wenn es zugleich eine selbständige Culturentwicklung darstellt, ist in ihr Gegenteil verwandelt und wenigstens in thesi ist ein auf rein arithmetischen Factoren gegründetes Nationalitätsprincip aufgestellt worden.«57 Die deutsche Bezeichnung der Letten als ›unsere Nationalen‹ hatte einen pejorativen Beiklang gehabt, da damit weder kulturelle Errungenschaften noch politische Macht assoziiert worden war. Doch der soziokulturelle Aufstieg und die zunehmende Politisierung des lettischen Gegenübers führten dazu, daß der Gebrauch des Terminus ›unsere Nationalen‹ seit den 1880er Jahren zurückging und die Deutschen zunehmend die sprachliche Selbsteinschätzung der Letten als ›Volk‹ übernahmen.58 Die begriffliche Neuordnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit konnte nicht ohne Rückwirkung auf die deutsche Selbstbeschreibung bleiben: »Mit jedem Schritt, den das lettische Volk weiter tut, um der Segnungen der modernen Kultur völlig teilhaftig zu werden, wächst seine Wichtigkeit für die deutsche Bevölkerung dieses Landes, deren Zukunft wesentlich durch die künftigen Beziehungen zu unseren Nationalen bedingt sein wird.«59 Auch auf der begrifflichen Ebene wird die Verflochtenheit und gegenseitige Bedingtheit der Gruppenbildung sichtbar, welche ihre ethnozentrische Historiographie retrospektiv nicht mehr erfassen wollte. Bevor der Kampf um Begriffe entbrannte, hatten sich die Angehörigen der deutschbaltischen Oberschicht meist als ›Livländer‹, ›Estländer‹ oder ›Kurländer‹ bezeichnet: »Wir wollen nur Liv- und 56 57 58 59

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Rigas Lapa Nr. 76, 9.11.1877. Rigascher Almanach 1882, S. 6. Vgl. dazu auch Rothfels, Reich, Staat und Nation, S. 16. Rigasche Zeitung Nr. 296, 1861, zitiert nach: Wittram, Liberalismus, S. 82.

Kurländer sein, uns genügt der geographische Begriff, von ethnographischen Vorurteilen haben wir uns stets ferngehalten.«60 Doch die Herausforderung des Nationalen, die der ständisch-regional geprägten Oberschicht von unten wie von oben, durch die Nationsbildung der Letten ebenso wie durch die Russifizierungspolitik der Regierung seit den 1870er Jahren entgegenschlug, stellte die Brauchbarkeit dieser Selbstdefinition in Frage. Integrativer erschien dem deutschen Milieu jetzt eine Vergesellschaftung über ständische und provinziale Schranken hinweg, und seine Akteure griffen zunehmend auf regionale und ethnische Bezüge zurück. Hatte Georg Berkholz 1882 noch konstatiert: »Bedenkt man aber, welche Fortschritte in der Popularität seiner Verwendung dieser neugewonnene Volksname der »Balten« schon bis jetzt gemacht hat, so kann man sich wohl auch der Hoffnung getrösten, es werde noch bald genug den Beigeschmack des nur künstlich gemachten ganz verlieren und wirklich allgemein anwendbar werden«, so hatte sich der Kollektivsingular vom ›baltischen Deutschtum‹ um 1900 bereits fest eingebürgert.61 Während die neuen Begriffe den Deutschen und Letten gleichermaßen zur politischen und kulturellen Mobilisierung dienten, war das Bestreben nach neuer Selbstdeutung im russischen und jüdischen Milieu schwächer ausgeprägt. Gerade im russischen Fall weist die Tatsache, daß die Rigaer Russen sich mit dem in Mode gekommenen Begriff des ›narod‹ [Volk] kaum auseinandersetzten, darauf hin, ein Hauptstadtphänomen wie den russischen Nationalismus nicht unkritisch auf die multiethnische Peripherie des Zarenreichs zu übertragen. Die führenden Journalisten Moskaus und St. Petersburgs hatten sich seit dem polnischen Aufstand von 1863 mit Erfolg darum bemüht, den Terminus des ›Volks‹ ethnisch zu füllen, indem ihm die Verkörperung eines russischen Nationalcharakters in Abgrenzung von Europa zugewiesen wurde. Dennoch wurde in der Regel zwischen ›Volkstum‹ [narodnost‹] und ›Nationalität‹ [nacional’nost] bis zur Jahrhundertwende semantisch kaum unterschieden, blieb der Sprachgebrauch unpräzise und schwankend.62 Im Gegensatz zu den beiden russischen Metropolen konnte in der baltischen Peripherie von einer Bevorzugung des Volksbegriffs keine Rede sein. Hier verwandten gebildete Russen zur Selbstbezeichnung gleichermaßen die Begriffe ›Gesellschaft‹ [obščestvo], ›Nationalität‹, ›Volkstum‹ oder sehr häufig auch einfach ›russische Leute‹ [russkie ljudi]. Zu offensichtlich war die Tatsache, daß »man in Riga zu allen Zeiten viele gebildete Russen antreffen konnte … die sich tüchtig ihren Geschäften widmeten, daß es in Riga jedoch keine einheitliche starke russische Öffentlichkeit gab« 63 – eine 60 61 62 63

Rigasche Zeitung Nr. 132, 1865, zitiert ebd., S. 84. Berkholz, ›baltisch‹, S. 529. Vgl. Renner, Russischer Nationalismus, S. 53ff. Geschichte des Russischen Klubs, Fonds 3746, Apr. 1, Nr. 2, LVVA, S. 16.

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Selbsteinschätzung, die sich bis 1914 nicht wesentlich änderte und die Nachrangigkeit einer begrifflichen Selbstdeutung wie ›Volk‹ in der multiethnischen Peripherie des Zarenreichs belegt. Auch die jüdischen Rigenser hatten wenig Bedarf an einer definitorischen Neubestimmung ihrer Gruppe, da die tragende Bestimmungsgröße der Religion während der zweiten Jahrhunderthälfte stabil blieb. Zunächst hatten sie die offizielle Bezeichnung der ›Rigaschen Hebräergemeinde‹, die ihnen seit deren Gründung 1842 von den Behörden zugewiesen wurde, übernommen.64 Seit den 1870er Jahren bürgerte sich die Bezeichnung ›die jüdische Gemeinde Rigas‹ ein, um die sich auch Zuschreibungen wie ›Rigaer Judenheit‹, ›Ebräer‹, ›die jüdische Bevölkerung Rigas‹ oder ›jüdische Nationalität‹ gruppierten. Erst mit der stärkeren Einwirkung politischer Emanzipationsideen und zionistischer Gedanken gewann seit der Jahrhundertwende die Selbstbezeichnung des ›Volks‹ an Gewicht, in der der religiöse Gehalt zugunsten eines stärker politischen Inhalts zurückgedrängt wurde. So distanzierte sich der Leiter des jüdischen Wahlkomitees, Max Schönfeldt, von den undemokratischen Parteien der Stadt 1906 mit dem Argument: »Das jüdische Volk ist ein demokratisches und muß sich daher mit den fortschrittlichen Parteien vereinigen, welche dem demokratischen Prinzip huldigen.«65 Aus dem Sprachgebrauch der Zeitgenossen wird deutlich, daß primär die Bezeichnungen ›Volkstum‹, ›Volk‹ und ›Nationalität‹, gelegentlich auch ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinde‹ zur jeweiligen Selbstbeschreibung herangezogen wurden, diese Begriffe aber jeder für sich unterschiedliche Bedeutungen aufwiesen und teilweise auch auswechselbar waren. Neben die Tatsache, daß bereits innerhalb des zeitgenössischen Diskurses Terminologie und Semantik von Gemeinschaftsvorstellungen strittig waren, tritt die abweichende Bedeutung, die diese Begriffe heute transportieren. Besonders deutlich zeigt das der Begriff der ›Nationalität‹, welcher zweifach konnotiert ist. Er ist einmal »identisch mit dem Rechtsstatus der Staatsangehörigkeit« und bezeichnet zum anderen »die Zugehörigkeit zu einer Nation. Diese Nation kann die gesamte Bevölkerung umfassen oder nur eine Teilpopulation in einem Staat darstellen.«66 Die Fülle der begrifflichen Fallstricke zwischen zeitgenössischer Bedeutungsvielfalt und abweichendem Gegenwartsgebrauch läßt eine Verwendung der zeitgenössischen Selbstbeschreibungen und vor allem des Begriffs der ›Nationalität‹ für die heutige Analyse wenig fruchtbar erscheinen.67 Historische Teleologien werden damit eher fortgeschrieben als in Frage gestellt, 64 Vgl. Buchholtz, Geschichte der Juden. 65 Rigasche Rundschau 21.3.1906. 66 Holtmann, S. 407. 67 So beispielsweise durch die unkritische Übernahme der zeitgenössischen Terminologie in: Ther u. Sundhaussen, 6ff.

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und zu Recht wurde jüngst darauf hingewiesen, daß die ex-post Perspektive von heute in jeder historischen Interpretation mit der konkreten ex-eventuPerspektive der Zeitgenossen zusammenstoßen muß: »Aus der Konfrontation zwischen vergangener Deutung und Bedeutung einerseits und gegenwärtiger Definition andererseits resultiert eine semantische Fermentierung, also eine Überlagerung von historischen und gegenwärtigen Bedeutungselementen, die den Begriff ebenso facettenreich wie unbestimmt und damit unbrauchbar zur trennscharfen historischen Analyse zu machen scheint.« 68 Um den Unterschied zwischen aktueller Analysekategorie und zeitgebundenem Politikdiskurs nicht zu verdecken, sondern offenzulegen, schlägt diese Arbeit die analytische Kategorie des ethnischen Milieus als Bestimmungsrahmen für die unterschiedlichen Gruppen Rigas vor. Der Milieubegriff erscheint deshalb sinnvoll, da die konkurrierenden Gruppen im Zuge von Politisierung und Nationsbildung in immer stärkere Konkurrenz zueinander traten und sich entsprechend nach innen verdichteten. Diese spezifische Vergesellschaftungsform der industriellen Moderne kann der Milieubegriff für den urbanen Kontext gut erfassen. Milieus definiert diese Studie demnach als hochverdichtete Gruppen, die sich durch spezifische Selbst- und Weltdeutungen nach außen abgrenzen und durch die Umsetzung dieser Deutungskultur in der Lebenswelt innere Kohärenz aufweisen. Eine solche Definition legt stärker als der tendenziell offenere Begriff der Gruppe den Fokus darauf, wie diese Milieus ihre Innen- und Außenräume bildeten und wo demnach die Grenzen der Gemeinsamkeit lagen. Der Milieubegriff bietet sich aber auch deshalb an, weil er menschliche Kollektive nicht aufgrund eines Merkmals, sei es Klasse, Konfession oder Nationalität, beschreibt und von anderen abgrenzt, sondern sie durch eine Vielzahl von Merkmalen zusammengehalten sieht, mithin jener »Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen«, wie Rainer Lepsius seine einflußreiche Interpretation 1966 beschrieben hat.69 Im Gegensatz zur ›Nationalität‹, die eine Gruppe auf ihren ›nationalen‹ Charakter festlegt und damit meist auf die latente Existenz nationalstaatlicher Forderungen, läßt der Begriff des Milieus eine Gleichzeitigkeit verschiedener Bezugsgrößen zu und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Pluralität der historischen Identitätswahl. In der deutschsprachigen Geschichtsschreibung ist der Milieubegriff in den letzten Jahren fast ausschließlich von der Forschung zu Katholizismus und Arbeiterbewegung herangezogen worden.70 Ethnizität als bestimmen68 Leonhard, S. 31. 69 Lepsius, S. 383. 70 Vgl. Loth; Rohe; Tenfelde; Blaschke u. Kuhlemann; den Forschungsstand zur Begriffsverwendung im deutschsprachigen Raum bei Weichlein, S. 11–24. Vgl. in der mittelalterlichen Geschichte die innovative Heranziehung des Konzepts für ein stadtbürgerliches Konstrukt bei Rexroth.

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de Außengrenze geriet dabei nur selten in den Blick.71 Der reichhaltige Quellenbestand, den diese Arbeit auswerten konnte, belegt jedoch, daß im Rigaer Fall Ethnizität zu jener Bezugsgröße wurde, welche die Grenze des Milieus bezeichnete. Die analytische Kategorie eines ethnischen Milieus kann diesem Typus zeitgenössischer Gruppenbildung, der sich in Ostmitteleuropas keineswegs auf Riga beschränkte, daher am ehesten gerecht werden. Für die jüdischen Rigenser erscheint der erweiterte Begriff des ethnokonfessionellen Milieus sinnvoll, da sie stärker als die anderen vor allem durch ihre Religion zusammengehalten wurden. Unter Ethnizität wird heute überwiegend die subjektive Vorstellung einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Abstammung verstanden, die eine Gruppe zusammenhält, und ebenso wie die Nation werden »ethnische Gruppen, auch wenn sie auf nichts anderem als erfundenen Traditionen beruhen sollten, sobald sie sich erst einmal als solche ausgebildet haben, zu realen Größen, zu geschichtswirksamen Faktoren.«72 Abweichend von der bisherigen Forschung, die primär einen soziokulturellen Milieubegriff favorisiert hat, plädiert diese Studie dafür, auch die ethnische Dimension von Milieubildungen zur Kenntnis zu nehmen und mit einem ethnischen Milieubegriff adäquat zu erfassen. Schließlich läßt die multiethnische Struktur Rigas das Konzept ethnischer Milieus auch deshalb sinnvoll erscheinen, weil die aktuelle Definition von Ethnizität die Existenz konkurrierender Gruppen zwingend voraussetzt: »For ethnicity to come about, the groups must have a minimum of contact with each other und they must entertain ideas of each other as being culturally different from themselves. If these conditions are not fulfilled, there is no ethnicity, for ethnicity is essentially an aspect of a relationship, not a property of a group. Only in so far as cultural differences are perceived as being important, and are made socially relevant, do social relationships have an ethnic element.«73 Diese Definition des Begriffs, um die sich primär angloamerikanische Autoren bemühen, begreift Ethnizität vor allem als Ergebnis der Opposition zu anderen Gruppen, weshalb die Formierung, Situativität und Prozessualität der Milieubildung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Für eine interethnische Verflechtungsgeschichte, die diesen Prozessen besondere Aufmerksamkeit zollt, erweist sich ein solcher Ethnizitätsbegriff als fruchtbar. Die Studie baut auf einer ebenso breiten wie dichten Quellengrundlage auf, welche die politische Öffnung der baltischen Länder seit 1989/91 überhaupt erst zugänglich machte. Einsehbar ist dieser Bestand im Historischen Staats71 So beispielsweise in Klessmann, Polnische Bergarbeiter; Herbert. 72 Kohl, Ethnizität, S. 284. Die heutige essentialistische Position bei Connors. 73 Eriksen, S. 12.

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archiv Lettlands, in der Lettonika-Abteilung der lettischen Staatsbibliothek sowie in der Akademischen Misina-Bibliothek in Riga. Vier unterschiedliche Quellengattungen lassen sich unterscheiden. Von wesentlicher Bedeutung ist erstens ein reicher Bestand städtischer Akten und Statistiken. Ihr kontinuierliches Erscheinen während des Untersuchungszeitraums geht vor allem auf die rege Aktivität der 1866 gegründeten ›Statistischen Kommission für die Stadt Riga‹ zurück, die als erste Institution dieser Art innerhalb des Zarenreichs an den westlichen Impuls zur ›Verwissenschaftlichung des Sozialen‹ (Lutz Raphael) anknüpfte. Die Durchführung und Publikation regelmäßiger Volkszählungen sowie die Herausgabe statistischer Jahrbücher zu unterschiedlichsten Aspekten der Bevölkerungsentwicklung ermöglichen die Erfassung der variierenden Außengrenzen der ethnischen Milieus Rigas. Hinzu kommen Daten zu den städtischen Gremien und Ämtern, Schulen und Kirchen, die auch die personellen und institutionellen Veränderungen während der Russifizierungsphase belegen. Publikationen zur städtischen Sozial- und Kulturpolitik, deren Fülle auch ein Ausweis des politischen Legitimationsbedarfs der deutschbaltischen Kommunalpolitiker war, runden diese Quellengruppe ab. Als zweite Quellengattung ist die Vereinsliteratur zu nennen, die Statuten, Sitzungsprotokolle, Mitgliederlisten sowie Reden und Korrespondenzen umfaßt. Aufgrund der erheblichen Selbstorganisation der städtischen Bevölkerung liegt hier ein reichhaltiges, teils ungedrucktes Material vor, dessen Auswertung wesentliche Aspekte der Milieubildung erfassbar macht. Eine dritte Quellengruppe bilden Zeitungen, Zeitschriften und politische Broschüren, die für die Jahrzehnte zwischen 1860 bis 1918 ausgewertet wurden. Da speziell Periodika die städtischen und später reichsweiten Wahlkämpfe mit ausführlichen Informationen und Wertungen begleiteten, stellen sie eine grundlegende Quelle für den Politisierungsprozeß der städtischen Eliten dar. Zeitungen erwiesen sich im lettischen Fall als zentrales Kommunikationsmittel, mit dem die nationalen Intellektuellen ihre Zielvorstellungen einem überwiegend unterbürgerlichen, aber alphabetisierten Publikum vermittelten. Auch die erstmalige Kodifizierung einer lettischen Schriftsprache seit den 1860er Jahren wurde primär von diesem Medium geleistet. Eine vierte Gruppe umfasst schließlich persönliche Quellen, die gerade für den biographischen Zugang unverzichtbar waren. Hierunter fallen autobiographische Aufzeichnungen und Erinnerungen, Briefesammlungen und literarische Erzeugnisse sowie Biographien. Während sich deutsche und lettische Akteure auf der Grundlage dieses Materials trennscharf erfassen ließen, existierten solche Überlieferungen für russische Protagonisten nur vereinzelt, für jüdische kaum mehr. Im russischen Fall liegt das an der vergleichsweise schwachen Selbstorganisation des Milieus, das sich entsprechend dürftig dokumentierte, im jüdischen Fall vor allem an den Folgen des Holocaust in Riga während der Jahre 1944/1945. Trotz dieser Einschrän29

kungen stellt das beschriebene Material einen insgesamt reichen Quellenbestand in deutscher, lettischer und russischer Sprache dar, der zu einer Vielfalt methodischer Zugangswege einlädt. Problematischer ist der Forschungsstand, der die zeitgenössische Nationalisierung bis heute historiographisch fortgeschrieben hat. Da deutschbaltische, lettische, russische und jüdische Historiker im wesentlichen nur die Rolle der eigenen ›Nationalität‹ wahrnahmen und beschrieben, zerfällt die Geschichte der Stadt ebenso wie die der Region noch immer in ›widerstreitende Historiographien‹. Die sowjetlettische Geschichtsschreibung hat in einem 1976 erschienenen Sammelband zu Riga den Klassenkampf in den Vordergrund gestellt, abgeschwächt tat das auch die informative Studie Dzinta Ozolinas über die Rigaer Kommunalpolitik, wobei beide Studien nationalzentriert blieben.74 In lettischer Sprache existieren für den Untersuchungsraum sonst nur allgemeine Arbeiten zur lettischen Geschichte.75 Ähnlich hat die einzige Studie zur Geschichte lettischer Juden deren Geschichte primär als Leidensgeschichte geschrieben und gegensätzliche Fakten weitgehend ausgeklammert.76 In deutscher Sprache sind im 20. Jahrhundert nur zwei schmale, eher populäre Skizzen erschienen, die keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben und sich auf das deutsche Leben in Riga konzentrieren.77 Wurde die Rolle der Deutschen von lettischen oder russischen Historikern überhaupt berücksichtigt, gerann sie zum Feindbild, wie es die Darstellung der ›ostzeijcy‹, der ›Ostseeleute‹ aus der Feder des russischen Historikers Maxim Duchanov in besonderer Schärfe illustriert.78 Einen Ansatz, die ethnischen Gruppen zumindest nebeneinander zu stellen, hat 1983 Edward Thaden unternommen, dessen Sammelband zur ›Russifizierung‹ bis heute ebenso aufschlussreich wie faktengesättigt bleibt.79 Auch eine jüngst erschienene, informative Anthologie, welche Aufsätze Rigaer Historiker in deutscher Sprache publiziert, verfolgt diesen Ansatz, bleibt aber faktographisch und ohne zusammenhängende Deutung.80 Der einzige erfolgreiche Versuch, das wiederkehrende Muster der nationalen Passionsgeschichte zu überwinden, beschäftigt sich wiederum nur mit einer ethnischen Gruppe: In seiner schmalen Studie »The Tsar’s Loyal Germans« hat der kanadische Historiker Anders Henriksson 1983 die These vertreten, daß die positive Erfahrung der Industrialisierung die negativen Auswirkungen der Russifizierung auf die Rigaer Deutschen kompensieren konnte, was deren Nationalisierung 74 75 76 77 78 79 80

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Vgl. Rīga 1860–1917, hg. von Krastiņš; Ozolina. Vgl. v. Hirschhausen, Nationalisierung der Geschichte. Vgl. Bobe. Vgl. Lenz, Entwicklung Rigas; Wittram, Geschichte Rigas. Vgl. Duchanov. Vgl. Thaden, Russification in the Baltic Provinces. Vgl. Oberländer u. Wohlfart.

tendenziell entgegenwirkte.81 Insgesamt spiegelt der fragmentarische sowie national segmentierte Forschungsstand die erheblichen Brüche in der Geschichte der Region, des Landes wie auch der Stadt wider, die ihr multiethnisches Erbe nach dem Trauma der sowjetischen Besatzung nur langsam wieder als Reichtum, weniger als Hypothek wahrzunehmen beginnt. Die Studie untersucht die Beziehungen zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden in Riga zwischen 1860 und 1914. Dieser chronologische Rahmen orientiert sich an den vielfältigen Modernisierungsprozessen der zweiten Jahrhunderthälfte, welche Multiethnizität in diesem Zeitraum zum zentralen Problem des städtischen Lebens werden ließ. Das Verlangen nach politischer Partizipation, sozioökonomischer Emanzipation und kultureller Selbststeuerung, das zunächst von den nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen ausging, doch die Deutschen binnen kurzem in Zugzwang brachte, stimulierte die Entstehung ethnischer Milieus, wo vorher eine ständisch geordnete Gesellschaft dominiert hatte. Zur ethnischen Gruppenbildung trug die Fülle von Vereinsgründungen, die in den 1860er Jahren einsetzte, maßgeblich bei. Die 1877 eingeführte Städteordnung verstärkte diese Mobilisierung noch, indem sie die politische Partizipation über das deutsche Milieu hinaus erweitete. Dadurch eröffnete sich ein politischer Handlungs- und Kommunikationsraum, der erstmals von Deutschen, Letten, Russen und Juden gleichermaßen zur Artikulation politischer Zielvorstellungen genutzt wurde. Der Erste Weltkrieg schließlich setzte die Frontstadt Riga massiven Eingriffen aus, die ihre multiethnische Struktur und industrielle Potenz, ihr kulturelles Leben und ihre staatliche Zugehörigkeit grundlegend veränderten. Ein Großteil der lettischen Bevölkerung floh vor den anrückenden deutschen Truppen ins Innere Russlands, die russische Regierung begann mit einer Deindustrialisierung des städtischen Raums und schränkte das kulturelle und gesellschaftliche Leben der nichtrussischen Gruppen massiv ein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, welcher die multiethnische Industriemetropole des Zarenreichs von der neuen Hauptstadt einer lettischen Republik trennen sollte und sich in der Problemverlagerung vom multiethnischen Konfliktfeld zur Herausforderung nationaler Staatsgründung manifestierte, begründet daher den zeitlichen Abschluß dieser Arbeit. Innerhalb dieses Zeitrahmens wurden Untersuchungsfelder gewählt, welche die Herausbildung ethnischer Milieus sowie ihre wechselseitigen Beziehungen von unterschiedlichen Blickwinkeln her beleuchten. Das erste Kapitel untersucht die demographischen, ethnischen und sozioökonomischen Veränderungen, welche die ständische Stadtgemeinde Riga während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine ethnisierte Klassengesell81 Henriksson, Loyal Germans.

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schaft verwandelten. Besonders interessiert, mittels welcher Kriterien die Zeitgenossen Ethnizität bestimmten und welchem Wandel diese Grenzziehung ausgesetzt war. Werden im sozialgeschichtlichen Zugriff zunächst die Außengrenzen der Milieus deutlich, so trägt seine Verknüpfung mit diskursanalytischen Annäherungen dazu bei, auch den zeitgenössischen Dissens über die Definition von ›Nationalität‹ offenzulegen. Das zweite Kapitel wendet sich der Innenwelt der städtischen Milieus zu. Anhand individueller Lebensläufe werden zentrale Leitvorstellungen und Denkfiguren herausgearbeitet, welche diese Milieus entstehen ließen und zusammenbanden. Gerade die Begrenztheit des historischen Gegenstands – das einzelne Leben – ermöglicht eine weitgehende Ausleuchtung von Motiven und Überzeugungen, Handlungen und Beziehungen, die charakteristisch für das gesamte Milieu sind. Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Selbstzeugnisse ermöglicht es, »Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte« als maßgeblichen Teil der historischen Erzählung zu integrieren, und erweist sich als probates Mittel, die Eindimensionalität der bisherigen Historiographie zu überwinden.82 Das dritte Kapitel untersucht die politische Kultur Rigas. Der Analyse liegt ein »entgrenzter Politikbegriff« (Ute Frevert) zugrunde, der nicht auf den Staat und dessen Personal fixiert ist, dessen Einfluß aber auch nicht marginalisiert.83 Sinnvoll erscheint ein solches Verständnis politischer Kultur deshalb, weil hier einerseits lokale Milieus untersucht werden, deren staatliche Einflußmöglichkeiten begrenzt waren, die sich aber gleichwohl vehement politisch artikulierten, weil es anderseits das genuine Interesse der Untersuchung bezeichnet, welche Vorstellungen von Politik diese politischen Eliten entwickelten, welche Deutungskämpfe das nach sich zog und in welchen Formen und Semantiken Machtbeziehungen abgebildet und hergestellt wurden. Zunächst skizziert die Studie den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sich die politische Kultur der Stadt überhaupt entfalten konnte. Sodann wird am Beispiel exemplarischer Wahlkämpfe der Jahre 1878, 1901 und 1913 gezeigt, wie die Leitvorstellungen der konkurrierenden Gruppen in politisches Handeln umgemünzt wurden und wie die politische Wirklichkeit wiederum auf die jeweiligen Vorstellungen zurückwirkte. Vor dem Hintergrund hochpolitisierter Wahlkämpfe sowie einer fortschrittlichen Kommunalpolitik geht es auch darum, die zivilgesellschaftlichen Elemente dieser politischen Kultur ihren Grenzen gegenüberzustellen. Schließlich verlagert sich der Blick von der Stadt auf Region und Reich, indem gefragt wird, wie das regional konzipierte Ordnungsmodell eines ›baltischen Liberalismus‹ die Probleme multiethnischer Koexistenz auf Reichsebene auszuhandeln suchte. 82 Vgl. Hardtwig, Alltagsgeschichte, S. 21; van Dülmen; eine frühe Anregung bereits bei Nipperdey, anthropologische Dimension. 83 Vgl. Frevert; Rohe, Politische Kultur.

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Das vierte Kapitel wendet sich der überaus vielfältigen Vereinslandschaft Rigas zu und fragt nach der praktischen Umsetzung milieukonstitutiver Leitvorstellungen. Jeweils ein Verein, der als repräsentativ für das deutsche, lettische, russische und jüdische Milieu gelten kann, wird auf Zielsetzung, kulturelle Praktiken und Trägerschaften hin untersucht, wobei den Mechanismen von Inklusion und Exklusion die besondere Aufmerksamkeit gilt. Die erhebliche Selbstorganisation dieser lokalen Gesellschaft lässt die Frage nach dem Verhältnis von Multiethnizität und Zivilgesellschaft besonders aufschlussreich erscheinen. In welchem Maße stimulierte die multiethnische Konkurrenz die Ausbildung eines so differenzierten Assoziationswesens? Wurden die Grenzen der Geselligkeit ethnisch markiert oder konnte Gemeinwohl, Konfession oder Kultur da verbinden, wo Ethnizität getrennt hatte? Das fünfte Kapitel hat jene kulturellen Praktiken zum Gegenstand, mit denen die ethnischen Gruppen ihren Aussagen und Handlungen eine symbolische Bedeutung verleihen wollten, die über die bloße Artikulation von Interessen hinausging. Herausgehobene städtische Inszenierungen wie die 700-Jahr-Feier Rigas 1901 und die Errichtung eines Denkmals für Peter den Großen im Jahr 1913 werden auf die spezifische Sinngebung und Symbolkraft hin untersucht, die ihre Initiatoren damit herstellen wollten. Vor allem interessiert, wie die zeitgenössischen Adressaten diese oft sehr politischen Selbstdeutungen rezipierten, wahrnahmen und beantworteten. Dem Wunsch aller ethnischen Gruppen nach politischer und kultureller Selbstbestimmung trat aber auch der Staat entgegen, der vor allem Kirche und Schule zur Durchsetzung seines pädagogischen und konfessionellen Deutungskanons heranzog. Wie weit reichte die Durchsetzungskraft dieses kulturellen Integrationsversuchs? Und konnte die gemeinsame Erfahrung der ›Russifizierung‹ zwischen Deutschen und Letten vermitteln, eine ›kulturelle Front‹ die ethnischen Gräben möglicherweise überwinden? Die Konkurrenz um politische und kulturelle Selbststeuerung spielte sich auch in räumlichen Dimensionen ab, nämlich im Entwurf konkurrierender kognitiver Karten. Welche Kategorien den ethnischen Milieus jeweils zur Grenzziehung dienten und welche Funktionen diese Raummodelle in Identitätsdiskursen hatten, kann nicht zuletzt die Genese der zentralen Raumbegriffe ›baltische Provinzen‹ und ›Latvija‹ (Lettland) zeigen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterwarf das multiethnische Zusammenleben Rigas enormen Belastungen. Denn jene beiden Mächte, denen sich der Großteil der Bevölkerung jeweils kulturell zugehörig fühlte, nämlich Russland und Deutschland, standen sich an der Front nun als Feinde gegenüber. So stieß der Krieg gegen Deutschland im lettischen Milieu vor allem deshalb auf solchen Enthusiasmus, weil der Feind des russischen Reiches zugleich der Feind des eigenen Volkes war und der Staatenkrieg nun zum Volkskrieg gerann. Im Ausblick der Studie wird zunächst die radikale Politi33

sierung von Ethnizität nachgezeichnet, welche die militärische Gegnerschaft ins zivile Leben hineintrug und jeden Versuch übernationaler Gemeinsamkeit zum Scheitern verurteilte. Ob Multiethnizität als städtisches Strukturmerkmal indes notwendigerweise zu so tiefgreifenden Konflikten führte, wie sie Riga seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichneten, oder ob sich auch friedliche Formen multiethnischer Koexistenz in urbanen Räumen beobachten lassen, tritt erst im Vergleich klarer hervor. Daher wird die Rigaer Entwicklung abschließend mit der zweier anderer multiethnischer Städte Europas, nämlich Prag und Odessa, verglichen. Durch die Verbindung von Mikro- und Makrogeschichte, von Nahaufnahme und Gesamtschau lässt sich die Gültigkeit des Einzelfalls überprüfen und die Reichweite des hier angebotenen Erklärungsmusters bestimmen. Darüber hinaus trägt ein solcher Vergleich zur Differenzierung von Multiethnizität als einem räumlich übergreifendem Phänomen bei, wodurch die europäische Dimension dieser historischen Kategorie empirisch wie analytisch an Gehalt gewinnt. Wie Menschen mit Menschen anderer Sprache und Kultur umgehen, bildete die Ausgangsfrage dieser Arbeit. In Riga stellte die ethnische Vielfalt die Einheit der städtischen Gesellschaft immer wieder in Frage. Zugleich bewirkte die nationale Konkurrenz mit ihren zahlreichen Grenzziehungen eine politische und gesellschaftliche Mobilisierung, die diese ostmitteleuropäische Metropole markant von osteuropäischen Entwicklungsmustern unterscheidet. Indem die vorliegende Studie die Grenzen der Gemeinsamkeit nicht als gegeben hinnimmt, sondern danach fragt, wie sie hergestellt, erfahren und möglicherweise überschritten wurden, können die Gründe dieses europäischen Weges in die Moderne deutlich werden.

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I. Der Wandel der städtischen Bevölkerung

1. Der äußere Gestaltwandel »Aus Petersburg kann man über Pskow nach Riga fahren. In Riga war ich bereits in den Jahren 1878 und 1895. Jedes Mal habe ich ungeheure Fortschritte bemerkt. Die Stadt hat vergleichsweise große Einnahmen und eine gute Selbstverwaltung. Sie ist deshalb wohlgeordnet, das Pflaster ist in ausgezeichnetem Zustand, viele Parks, Squares und Alleen sind vorhanden und ihre neuen Gebäude sind wohl großartiger als die in Petersburg. Das Leben wogt in der Stadt und in den Gasthäusern kann man nur mit Mühe einen Platz bekommen. Ihrem Äußeren nach sieht die Stadt, ungeachtet der Inschriften und Aushängeschilder, gar nicht nach einer russischen Stadt aus, ähnelt vielmehr einer deutschen.«1 Diesen Eindruck, den ein russischer Tourist um die Jahrhundertwende aus Riga mitnahm, teilten die meisten Besucher der Ostseemetropole. Denn obgleich die Stadt seit fast zweihundert Jahren zum russischen Zarenreich gehörte, hatte sich ihr mitteleuropäisches, nichtrussisches Aussehen weitestgehend erhalten. Dazu trug zunächst eine intakte mittelalterliche Innenstadt bei, deren Backsteingotik eher an norddeutsche Hansestädte denn an die Holzfassaden der meisten russischen Großstädte erinnerte: »Durch enge, in altdeutscher Art winklig gewundene Gassen, auf welche zahlreiche Giebelhäuser, mächtige Speicher und Jahrhunderte alte Dome hinabschauen, zieht ein rühriges, lebhaftes Handelstreiben: ein niemals enden wollender Strom hochbeladener Lastwagen wälzt sich dem Ufer der majestätischen, mit zahlreichen Schiffen bedeckten Düna zu.«2 Trat der Besucher aus der verwinkelten Altstadt hinaus, galt es zunächst wohlgepflegte Parkanlagen im sogenannten Anlagenring zu überqueren, um zu den großzügigen Boulevards der angrenzenden Petersburger Vorstadt zu gelangen, die fast einheitlich im zeitgenössischen Jugendstil gestaltet waren. Der Übergang von der traditionellen zur modernen Stadt, den Riga wie die meisten mittel- und westeuropäischen Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief,3 veränderte ihr äußeres Bild erheblich. Ein 1 Düna-Zeitung 10.10.1898. 2 Eckardt, Baltische Provinzen, S. 48f. 3 Vgl. Matzerath, Städtewachstum; Teuteberg; Rausch; Hardtwig u. Tenfelde.

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Stadtplan aus dem Jahr 1876 zeigte noch weite unbebaute Flächen, doch die ersten Eisenbahnlinien waren bereits erkennbar. Fünfundzwanzig Jahre später, auf einem Plan von 1902, sind unbebaute Freiflächen kaum mehr zu sehen, und das Stadtgebiet hatte ganz neue Ausmaße angenommen. In den Jahrzehnten, die zwischen der Anfertigung beider Pläne lagen, hatte die Urbanisierung einen räumlichen Wandel bewirkt, der sich in unterschiedlichen Formen und Entwicklungen niederschlug.

Abb. 1: Stadtplan Rigas aus dem Jahr 1876 (Deubner, Berlin 1876)

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Wandel brachte zunächst der Fall der mittelalterlichen Stadtmauern zu Beginn der 1860er Jahre. Die ehemaligen Festungsgräben wurden in Kanäle umgewandelt, um sie herum entwarf der Direktor der städtischen Gärten, der sein Handwerk in Peter Lennés Potsdamer Gärtneranstalt gelernt hatte, elegante Grünanlagen, die das vormals geschlossene Zentrum zur Umgebung hin öffneten und der Innenstadt ihren parkartigen Reiz gaben.4 Hinter dem Fall des Mauerwerks und der »äußeren Entgrenzung der Stadt«5 lag auch ein Wandel städtischen Selbstverständnisses, den der Rigaer Pastor Johann Friedrich Wittram 1857 in einem Brief an seine Schwester beschrieb: »Russland scheint in seiner Gesamtheit gegenwärtig einer bedeutenden und interessanten Entwicklungsphase entgegen zu gehen … Dasselbe gilt in diesem Augenblicke von unserer Stadt, die … durch die Demolierung der Wälle in eine neue Lebensepoche tritt.« 6 Wandel brachte auch die Bebauung der städtischen Freiflächen, in deren Folge sich das Stadtgebiet schnell in alle Himmelsrichtungen erweiterte. Innerstädtische Baulandreserven wurden von privaten Bauherren und Terraingesellschaften zur Errichtung großer Mietshäuser genutzt, welche die Bodenpreise rasch in die Höhe trieben. Das Rigaer Bauamt hatte zwischen 1880 und 1890 rund 600 Neubauten registriert, doch dieses Volumen explodierte im nächsten Jahrzehnt geradezu. Zwischen 1890 und 1900 wurden mehr als 5 000 Neubauten verzeichnet, eine Tendenz, die auch nach der Jahrhundertwende weiter anhielt.7 Am Stadtrand gelegener Landbesitz, der in städtischer oder ständischer Hand gewesen war, wurde zunehmend verkauft, und seine Bebauung verschob die Stadtgrenze kontinuierlich nach außen. Eine Vorstellung davon, welche Dimension die räumliche Erweiterung der Stadt annahm, kann die veränderte Topographie der Stadt liefern. Anfang der 1870er Jahren hatte Rigas Stadtgebiet eine Fläche von etwa 52 qkm.8 Doch bereits nach wenigen Jahrzehnten entsprach dieser Umfang keineswegs mehr dem tatsächlichen Weichbild der Stadt: »Durch die Neugründung zahlreicher großer Fabriken befördert, fand ein ungemein verstärkter Zustrom von Arbeitskräften nach Riga von außen her statt. Die Bebauung der städtischen Randbezirke erfuhr dadurch einen mächtigen Anstoß und dehnte sich nach fast allen Richtungen hin aus.«9 Formale Grenzen und räumliche Realität fielen zunehmend auseinander, weshalb sich die Stadtverwaltung wiederholt bemühte, die tatsächlichen Stadtgrenzen bei der Reichsregierung anerkennen zu lassen. 1913 4 Vgl. Kanstein. 5 Reulecke, S. 15. 6 Johann Friedrich Wittram an seine Schwester am 25.12.1857, in: Wittram, Drei Generationen, S. 88. 7 v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 47. 8 Vgl. Carlberg, Verwaltung, S. XVI; Rīga 1860–1917, hg. von Krastiņš, S. 9ff. 9 v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 24.

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umfaßte das tatsächliche Weichbild der Stadt eine Fläche von 90 qkm, hatte sich innerhalb von vier Jahrzehnten also nahezu verdoppelt.10

Abb. 2: Stadtplan Rigas aus dem Jahr 1902 (Brockhaus, Leipzig 1902)

In welche Richtung die Stadt sich erweiterte, hing maßgeblich von den zahlreichen neuen Schienenwegen ab, die Riga seit den 1860er Jahren mit den Handelszentren West- und Osteuropas verbanden. Rigas erste Eisenbahnlinie, die von der Stadt und den lokalen Ständen finanziert worden war, verknüpfte die baltische Handelsstadt 1861 mit dem südöstlich gelegenen Dünaburg und von dort mit Warschau und St. Petersburg. Die 1868 gebaute Strecke nach Mitau ermöglichte den Weitertransport nach Kovno wie auch über Königsberg nach Frankfurt oder Berlin. Seit 1871 verfügte Riga über eine direkte Verbin10 Vgl. Rigaer Adreßbuch 1913.

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dung nach Tsaritsin und damit in die Kornkammer Rußlands, das fruchtbare Schwarzmeergebiet. Auch die Reise nach Moskau konnte jetzt direkt unternommen werden. 1889 schließlich wurde die Trasse nach Pleskau fertig gestellt und 1901 erfolgte Rigas Anschluß an die Transsibirische Eisenbahn. Die neuen Eisenbahnlinien, die auf dem Stadtplan von 1902 erkennbar sind, ermöglichten vor allem den Zugang zu neuen Rohstoffen und Märkten und erhöhten damit Rigas Anziehungskraft für gewerbliche und industrielle Ansiedelung. Zugleich beeinflussten sie die Siedlungsstruktur der Stadt in hohem Maße. So wurde die auf dem Plan von 1876 noch gut erkennbare Stadtweide bald von dem neuen Güterbahnhof und einer Rangierstation ausgefüllt, Industrieunternehmen siedelten sich neben den neuen Eisenbahngleisen an und zogen überall den rapiden Bau von Mietskasernen und Häuserblocks nach sich. Die Folgen der Urbanisierung konfrontierten die Rigaer Kommunalpolitiker mit der Notwendigkeit neuer Versorgungseinrichtungen, welche die Anforderungen der wachsenden Bevölkerung an Verkehr, Hygiene und Wohnraum erfüllen konnten und damit auch das soziale Gleichgewicht der veränderten Stadt zu stabilisieren vermochten. Während die Innenstadt bereits seit den 1870er Jahren über dichte Straßenbeleuchtung, sauberes Trinkwasser, Kanalisation und Elektrizität verfügte, und damit über Errungenschaften, die das Gros russischer Städte zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufwies,11 war eine solche Infrastruktur in den übrigen Stadtteilen nur partiell entwickelt. Erst seit der Jahrhundertwende wurde der Ausbau der Kanalisation sowie von Wasser- und Gaswerken vorangetrieben und die Verkehrsanbindung zum anderen Dünaufer zu verbessern gesucht. Jahrzehntelang hatte eine städtische Dampferflotte die Passagiere über die Düna gesetzt, die in hohem Maße witterungsabhängig gewesen war. Erst seit 1896 garantierte eine feste Pontonbrücke eine saisonunabhängige Verbindung zwischen den Stadtteilen.12 Die von Pferden gezogene Verbindungsbahn zum anderen Ufer wich 1900 einem elektrischen Straßenbahnnetz, das bald in fast alle Vororte hin ausgebaut wurde. Die überwiegend von privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten vorangetriebene Stadterweiterung brachte städtebauliche und hygienische Probleme mit sich, die in Riga, wie überall in Europa, eine Diskussion über das verstärkte Eingreifen der öffentlichen Hand anstießen. Bedurfte die ausufernde Baulust nicht einer stärkeren Kontrolle, mußte die öffentliche Hand nicht planender eingreifen, ja kontrollieren, um städtebaulichen Fehlentwicklungen vorzubeugen? Bereits 1879 reagierte die Rigaer Stadtverordnetenversammlung auf solche Bedenken mit der Gründung eines städtischen Bauamts, das umgehend 11 Vgl. Hamm, City in Late Imperial Russia; ders., City in Russian History; Brower, Russian City. Vgl. zur Infrastruktur russischer Städte Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 67–72. 12 Vgl. Becker; Riga und seine Bauten.

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eine offizielle Bauordnung erließ.13 Diese im Zarenreich seltene Maßnahme schrieb für alle Stadtteile vor, wo in Holz und wo in Stein zu bauen sei, und begann mit der räumlichen Trennung von Privatbauten, Gewerbeflächen und Industrieanlagen, um den städtebaulichen Wildwuchs einzudämmen. In die Diskussion über das veränderte Aussehen der Stadt gingen zunehmend auch ästhetische Überlegungen ein und trugen dazu bei, daß in den Straßenvierteln, die den mittelalterlichen Stadtkern umgaben, zwischen 1880 und 1914 ein einzigartig geschlossenes Jugendstilensemble entstand.14 Der europäische Import von Jugendstil und ›nationaler Romantik‹ als dominierenden architektonischen Stilen schuf im Nordwesten des Zarenreichs eine mitteleuropäisch wirkende Metropole, die mit den ›Fassadenstädten‹ russischer Provenienz kaum etwas gemein hatte.15 Die engen Beziehungen deutschbaltischer Architekten nach Deutschland und Österreich förderten die Adaption mitteleuropäischer Stilformen und Bautechniken, wie das 1910 von Henry van de Velde gebaute St. Petri-Pfarrhaus illustrierte. Lettische Architekten orientierten sich bevorzugt an finnischen und schwedischen Strömungen. In bewußter Abgrenzung vom imperialen Klassizismus, den manche russischen Architekten bevorzugten, aber ebenso von der ›deutsch‹ konnotierten neogotischen Architektur griffen sie häufig auf das Vorbild der finnischen ›nationalen Romantik‹ zurück, wie Hermann Gesellius und Eliel Saarinen sie in Helsinki praktizierten. Bedeutende Vertreter der lettischen Architektur wie Eižens Laube oder Konstantin Pekšens sahen darin ein geeignetes Mittel, einen spezifisch nationalen Baustil zu entwickeln. Durch die Verwendung natürlicher Materialien, ethnographischer Dekors und neuer Raumlösungen sollten ihre Gebäude ein eigenes, ›nationales‹ Profil gewinnen und sich von der deutsch oder russisch geprägten Architektur der Umgebung abheben. Besonders deutlich illustrierte die 1905 von Konstantin Pekšens gebaute Keniņš-Schule den Versuch einer solchen ›invention of traditions‹. Durch archaisch anmutende Eingänge sowie die Verwendung regionalen Tuffsteins sollte der Mythos altlettischer Burgen aktualisiert werden.16 Ging die Realisierung einer ›lettischen‹ Architektur, welche die entsprechend gestalteten Wohn- und Geschäftshäuser der Innenstadt demonstrieren sollten, zwar auf nationale Assoziationen zurück, so war dieser Stil doch keineswegs ein genuin lettisches Phänomen. Auch in Riga war die ›nationale Romantik‹ entgegen ihrem Anspruch auf Singularität ein allgemeines Produkt europäischer Architektur kleinerer Nationen, das sich ähnlich in Helsinki oder Oslo, Reval oder Budapest beobachten läßt. Die gleichen Architekten praktizierten in anderen 13 14 15 16

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Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 42. Vgl. Krastiņš, Jugendstil; ders., Riga. Jugendstilmetropole. Brower, Russian City, S. 7. Vgl. Krastiņš, Riga. Jugendstilmetropole, S. 253. Vgl. ders., Jugendstil, S. 126.

Fällen auch eine explizite Abkehr von nationalromantischen Formen, wie das Beispiel des Lettischen Vereins zeigt. Der lettische Architekt Eižens Laube hatte seinen ursprünglichen, von der ›nationalen Romantik‹ geprägten Entwurf für den Neubau des lettischen Vereinshauses im Jahr 1908 neoklassizistisch modifiziert, weshalb sich national konnotierte Schmuckelemente nunmehr auf wenige Fassadendekorationen des lettischen Malers Jānis Rozentāls beschränkten.17 Nationales Selbstverständnis, wie die Rigaer Architektur des Fin de siècle zeigt, konnte mit ganz unterschiedlichen Mitteln symbolisiert werden und ging häufig auch in internationalen Gestaltungspraktiken auf.

Abb. 3: Die lettische Keniņš-Schule von K. Pekšens und E. Laube, um 1905 (Photo: J. Krastiņš)

Der Fall der mittelalterlichen Stadtmauern und die Bebauung freier Flächen, Eisenbahnlinien, eine neue Infrastruktur und die architektonische Gestaltung der werdenden Großstadt veränderten nicht nur die äußere Gestalt Rigas, sondern beeinflußten auch die innere Zusammensetzung der vier Stadtteile. Das Interesse dieser Studie an den wechselseitigen Beziehungen der ethnischen Gruppen legt die Frage nahe, inwieweit die Urbanisierung die Tendenz ethnisch getrennten Wohnens verstärkte oder eher abschwächte. Reisenden, die in den 1870er Jahren durch die Rigaer Innenstadt, die im Norden angrenzende Petersburger Vorstadt oder durch die südöstlich gelegene Moskauer Vorstadt wanderten oder gar die Überfahrt in die jenseits des 17 Vgl. Hackmann, Architektur als Symbol.

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Flusses gelegene Mitauer Vorstadt nicht scheuten, hatte sich der Eindruck ethnisch separierter Wohnviertel aufgedrängt. So stellte ein St. Petersburger Journalist in seinem ausführlichen Reisebericht über das ›Zeitgenössische Riga‹ fest: »Die innere Stadt und die Petersburger Vorstadt … können füglich als deutsche Teile Rigas bezeichnet werden. Die russische Einwohnerschaft … hat sich die Moskauer Vorstadt zur seiner ausschließlichen Domäne erwählt. In der Mitauer Vorstadt concentriert sich das dritte, wichtige Element der rigaschen Einwohnerschaft – die Letten.«18 Inwieweit dieser subjektive Eindruck den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, können die Volkszählungen erschließen, welche das Rigaer Statistische Amt seit 1867 durchführte, zumal die Zähler die ethnische Zusammensetzung der Stadtteile und ihrer Stadtviertel, der sogenannten ›Quartale‹, bis ins Detail festhielten.19 In der Rigaer Innenstadt sowie in den angrenzenden Straßenzügen des Anlagenrings waren nur Steinbauten erlaubt, was bereits auf den bürgerlichen Charakter dieser Geschäfts- und Wohngegend hinweist. Beschränkten sich Besucher auf einen Spaziergang durch die engen Gassen der Altstadt und die großzügigen Boulevards des Anlagenrings, war der Eindruck einer ›deutschen‹ Stadt in den 1870er Jahren allgegenwärtig: »Die Ordnung und Reinlichkeit in der inneren Stadt und der Petersburger Vorstadt läßt nichts zu wünschen übrig. Mephitische Dünste entsendende Partien, wie man sie in St. Petersburg findet, sind in Riga nicht vorhanden. Die Namen der Straßen sind in Riga in deutscher und russischer Sprache an der Straßenecke angeschlagen. Dasselbe gilt von den Schildern derjenigen Läden, deren Inhaber Russen oder Hebräer sind. Die Mehrzahl der Läden ist jedoch in Händen der Deutschen und führt ausschließlich deutsche Schilder. Überhaupt tritt dem Fremden die Herrschaft der deutschen Sprache in Riga überall entgegen. Man braucht auf der Straße nur einen Vorübergehenden … russisch anzureden, die Antwort erfolgt unbedingt in deutscher Sprache!«20 Ganz so homogen, wie es diesem russischen Besucher erschien, war die ethnische Zusammensetzung der Innenstadt nicht, doch dominierten 1867 Deutsche mit 67% diesen Stadtteil in der Tat vor Letten mit 15%, Russen mit 11% und sonstigen ethnischen Gruppen mit 7%.21 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung gewann die Innenstadt zunehmend den Charakter einer City, und die gewerbliche und geschäftliche Nutzung der alten Häuser begann den Wohncharakter zu verdrängen. Eine dichte Straßenbeleuchtung, Kanalisation, sauberes Trinkwasser und Elektrizität gehörten seit den 18 Sovremennaja Riga, S. 325. 19 Vgl. Resultate der Volkszählung 1867; Ergebnisse der Volkszählung 1881; Perepis’ naselenija 1897; Perepis’ naselenija 1913, ebenso als deutsche Fassung: Ergebnisse der Volkszählung 1913. 20 Sovremennaja Riga, S. 330. 21 Vgl. Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 4.

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1870er Jahren zur Normalität, und nach der Jahrhundertwende verfügten zahlreiche Innenstadtbewohner auch über einen Telefonanschluß. Der städtebauliche Unterschied zwischen Rigas eleganter Innenstadt und den Zentren Kievs oder Odessas war aus russischer Sicht frappierend: »Riga ist eine Gouvernementstadt, aber durchweg eine solche, wie wir sie nicht haben: der sogenannte Thronfolgerboulevard stellt eine Reihe eleganter und luxuriös errichteter Bauwerke der modernsten Architektur dar«.22

Abb. 4: Der Thronfolgerboulevard in Riga um 1900 (Postkarte: Štamgute, Rīga)

Mit dem soziokulturellen Aufstieg von Letten und Juden änderte sich die ethnische Zusammensetzung der Innenstadt. Zunehmend begannen erfolgreiche Kaufleute und Industrielle wie der lettische Bauunternehmer Kristaps Bergs oder der jüdische Holzfabrikant Schaje Berlin hier ihren Wohnsitz zu nehmen. Die 1905 eröffnete Synagoge in der Altstadt, wo die Grundstückspreise exorbitant hoch waren, symbolisierte auch den sozioökonomischen Erfolg und den kulturellen Annäherungswillen jener bürgerlichen Juden, welche die Schtetlperspektive hinter sich gelassen hatten.23 Innerhalb zunehmend heterogener Stadtviertel suchten bürgerliche wie unterbürgerliche Gruppen jedoch kleinere und individuell beinflußbare Einheiten wie Haus oder Straße weiterhin zur Aufrechterhaltung jener ethnischen Homogenität zu nutzen, die Arbeitsplatz und Stadtviertel nicht mehr gewährleisteten. So lag dem lettischen Bauunter22 Sovremennaja Riga, S. 321. 23 Vgl. Vestermanis.

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nehmer Kristaps Bergs viel daran, seine zahlreichen Mietshäuser primär an Letten zu vermieten, und ähnlich legte der deutsche Anwalt Alfred Wittram großen Wert darauf, sein neues Stadthaus nur an Deutsche zu vergeben: »Es entstanden fünf Sechs- und fünf Achtzimmerwohnungen, die sofort fast alle an Deutsche vermietet wurden. Entsprechend der Stadtgegend blieb das Haus – ebenso wie das Holzhaus an der Ecke – auch weiterhin … fast nur von Deutschen, oft guten Bekannten und nahen Freunden bewohnt.«24 Ungeachtet solcher Versuche wurde die Innenstadt insgesamt ethnisch deutlich heterogener. 1913 setzte sich ihre Bevölkerung zu je 28% aus Deutschen und Letten, zu je 16% aus Russen und Juden sowie zu 5% aus Polen zusammen.25 Weniger ethnische Zugehörigkeit als vielmehr sozioökonomische Klasse markierte jetzt den Zugang zu Rigas vornehmster Wohngegend. Nördlich der Innenstadt und begrenzt durch die noch unbebaute Stadtweide breitete sich die sogenannte Petersburger Vorstadt aus. 1867, als die Petersburger Vorstadt 27 000 Einwohner umfaßte, hatten Deutsche 43% der Bevölkerung ausgemacht, Letten 31% und Russen 18%.26 Die an die Parkanlagen angrenzenden Straßenzüge vermittelten noch einen wohlhabenden Eindruck, der sich jedoch bald verlor. Mit dem Bau des städtischen Güterbahnhofs auf dem Gebiet der vormaligen Stadtweide siedelten sich immer mehr Unternehmen und produzierende Gewerbe um die nördlichen Bahngleise herum an. Mehr als ein Drittel aller städtischen Industriebetriebe hatte um die Jahrhundertwende in den nördlichen Teilen der Petersburger Vorstadt ihren Sitz, darunter auch die Waggonfabrik Phoenix mit über 3 000 Arbeitern. Mit dem Zuzug lettischer, russischer und polnischer Industriearbeiter bestimmten zunehmend Mietskasernen und hölzerne Häuserblocks das Aussehen dieser Gegend. 1913 setzte sich die Bevölkerung, die mittlerweile 115 000 Einwohner zählte, zu 40% aus Letten, zu 19% aus Deutschen, zu 16% aus Polen und Litauern und zu 15% aus Russen zusammen.27 Lettisch war die häufigste Umgangssprache dieses Stadtteils geworden. Ungleich turbulenter ging es in der Moskauer Vorstadt zu, die sich nach Südosten entlang dem Fluss erstreckte. Hier lag der große Markt, fuhren die Eisenbahnen ab, hier standen die Schlachthäuser, boten Handwerker und Trödler ihre Waren und Dienste feil. Der Großteil der Rigaer Russen lebte in niedrigen Holzhäusern, die lange Zeit das Straßenbild und den Stil dieses Viertels prägten: »Von der russischen Einwohnerschaft hat sich … der 24 Wittram, Drei Generationen, S. 311. 25 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. Die übrigen 7% verteilten sich auf Angehörige kleinerer ethnischer Gruppen. 26 Vgl. Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 4. Die restlichen 8% setzten sich aus Angehörigen übriger ethnischer Gruppen zusammen. 27 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. Die übrigen 10% setzten sich aus Angehörigen anderer ethnischer Gruppen zusammen.

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Nährstand die Moskauer Vorstadt zu seiner ausschließlichen Domaine erwählt … Hier liegen die Hansambaren, in denen ausschließlich Russen arbeiten, hier liegt die Mehrzahl der russischen Kirchen und Bethäuser, hier findet man endlich den für alle russischen Provinzstädte unvermeidlichen Kauf hof. Bevor Riga noch Eisenbahnen hatte … wurde diese Vorstadt von der deutschen Wirtschaft absolut nicht berührt, hier herrschten ausschließlich russische Sitten und Gewohnheiten.«28 Häufiger als der Beobachter aus St. Petersburg es wahrnahm, hatten sich auch Angehörige anderer ethnischer oder konfessioneller Gruppen hier angesiedelt. So registrierte die Volkszählung von 1867 in der Moskauer Vorstadt 39% Russen, 31% Deutsche, 17% Letten und 8% Juden.29 Völlig unerwähnt hatte der St. Petersburger Journalist auch die jüdische Bevölkerung gelassen, die im zweiten und dritten ›Quartal‹ der Moskauer Vorstadt das Zentrum ihrer Wohn- und Arbeitswelten hatte. Hier lagen die jüdischen Schulen, die ›Große Synagoge‹ und das Gros jüdischer Geschäfte, ein »unsichtbares Ghetto«, wie sich Isaiah Berlin an seine Rigaer Kindheit erinnerte.30 Nicht nur für die Rigaer ›Ormelait‹, wie die jüdischen Pauper sich nannten, sondern auch für die russische Altgläubigengemeinde war die Grenze des eigenen Wohnens meist konfessionell bestimmt. 80% der russischen Altgläubigen lebten zusammengeballt im vierten ›Quartier‹ der Moskauer Vorstadt. Ihre Kirchen, ihr Friedhof und die Wohltätigkeitsanstalten des altgläubigen Kaufmanns Grebenčikov drängten sich zwischen Fluß und Eisenbahn zusammen und ermöglichten vorrangig den Kontakt mit den eigenen Glaubensgenossen. In erreichbarer Nähe lag auch die Porzellanfabrik des altgläubigen Industriellen Kuznecov, die um die Jahrhundertwende über 2 000 Arbeiter beschäftigte. Wie sehr die Wahl des Wohnorts für Juden und Altgläubige durch ihre Religion bestimmt war, stach den Volkszählern bei ihren Besuchen besonders ins Auge: »Es müßte sich aber auf diesem Wege constatieren lassen, wie Deutsche, Russen, Juden und Letten räumlich neben- und durcheinander leben bzw. sich gegeneinander abschließen … Die meisten Juden wohnen im dritten, die meisten Letten im vierten und die meisten Russen im fünften Quartal der Moskauer Vorstadt. Diese Gestaltung der Wohnverhältnisse ist keine zufällige, sondern hervorgerufen durch die größere oder geringere Cohäsionskraft der einzelnen nationalen Gruppen. Vor allem sind es die Altgläubigen und die Juden, welche mit besonderer Vorliebe ihre Wohnungen möglichst nahe bei den eigenen Glaubensgenossen wählen … In einzelnen Straßen, wie der Jacobstädtischen, wo das 28 Sovremennaja Riga, S. 325. 29 Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 4. Die übrigen 5% setzten sich aus Angehörigen anderer ethnischer Gruppen zusammen. 30 Berlin, S. 11.

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Judenthum Rigas fast eine Art Ghetto sich gestaltet hat, (werden wir) Angehörige anderer Nationalität nur in geringer Anzahl antreffen.«31 Mit dem Zuzug von Letten und seit den 1890er Jahren auch von Polen und Litauern ging der überwiegend russische Charakter der Moskauer Vorstadt zurück, wenn auch einzelne Viertel bis 1914 eindeutig ethnisch oder konfessionell geprägt blieben. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bestand die Bevölkerung der Moskauer Vorstadt zu 37% aus Letten, zu 26% aus Russen, zu 10% aus Juden und zu 8% aus Deutschen. Angehörige anderer ethnischer Gruppen, meist Polen und Litauer, machten die restlichen 19% aus.32 Die Mitauer Vorstadt, am westlichen Ufer der Düna gelegen, hatte ihr Aussehen von allen Stadtteilen Rigas am meisten verändert.33 Aus einem ländlichen, teils aus Kiefernwäldern bestehenden Areal, das 1867 16 000 Einwohnern aufgewiesen hatte, war 1913 eine veritable Vorstadt mit 114 000 Einwohnern geworden. In den 1860er Jahren, als die in Flussnähe gelegenen Villen und Mietshäuser primär von Deutschen bewohnt gewesen waren, hatten Deutsche hier 42% der Bevölkerung ausgemacht, Letten 34%, Russen 15% und Juden 5%.34 Doch der unübersehbare Wandel von Raumstruktur und Besiedelungsdichte schlug sich in der Mitauer Vorstadt besonders deutlich nieder. Denn der Großteil der Rigaer Textilunternehmen und Maschinenbaufabriken ließ sich hier nieder, wo Bahngleise und Flußnähe den Transport zu Wasser oder Land erheblich erleichterten. Um die neuen Manufakturen und Firmen herum wurden seit den 1880er Jahren hölzerne Mietskasernen hochgezogen, deren Ärmlichkeit sich von den eleganten Boulevards des innerstädtischen Anlagenrings immer mehr abhob. Die mangelhafte Verkehrsanbindung zur Innenstadt verstärkte bei den Bewohnern der Mitauer Vorstadt noch die Erfahrung räumlicher Benachteiligung.35 Erst kurz vor der Jahrhundertwende erleichterte eine saisonunabhängige Brücke die Verbindung zum anderen Ufer; in den Genuß guten Trinkwassers kamen die Bewohner der Mitauer Vorstadt erst 1910. Die preiswerten Grund- und Mietpreise sowie die häufige Nähe der Arbeitsstätte führten dazu, daß immer mehr Zuwanderer sich hier niederließen, wodurch sich auch die ethnische Zusammensetzung entsprechend verschob. 1913 bestand die Bevölkerung der Mitauer Vorstadt zu 51% aus Letten, zu 19% aus Polen, Litauern und Esten, zu 15% aus Deutschen und zu 13% aus Russen.36 31 Rigasche Zeitung 24.3.1883. 32 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. 33 Vgl. Caune. 34 Vgl. Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 4. Die übrigen 4% verteilten sich auf Angehörige anderer ethnischer Gruppen. 35 Vgl. Rigasche Rundschau, 4.10.1897, ähnlich auch Rigensis. 36 Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. Die übrigen 2% waren Juden.

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Um 1900 bot Riga das Bild einer neuen Stadt. Primär der mittelalterliche Stadtkern erinnerte noch an die Ursprünge der siebenhundertjährigen Handelsstadt. Angrenzend erhoben sich elegante Gebäude im zeitgenössischen Jugendstil, an die sich weiter draußen hölzerne Wohnblöcke, monotone Mietskasernen und großflächige Industrieanlagen schlossen. Migration und Urbanisierung hatten auch die ethnische Topographie Rigas in hohem Maße verändert. In den 1860er Jahren waren Rigas bürgerliche Viertel eindeutig deutsch geprägt gewesen, wogegen unterbürgerliche Gegenden von Letten, Russen oder Juden bewohnt wurden. Der soziokulturelle Aufstieg vor allem der Letten und Juden bewirkte jedoch, daß soziale Klasse sich zunehmend von ethnischer Zugehörigkeit löste, wodurch sich auch die Wohnstruktur der multiethnischen Metropole veränderte. Die ethnische Segregation des Wohnens, welche Riga in den 1860er Jahre überwiegend gekennzeichnet hatte, war vor 1914 einer Segregation nach sozialen Kriterien gewichen. Alle vier Stadtteile wiesen um 1900 zunehmend ethnische Vielfalt auf. Noch immer nahmen zwar die meisten Besucher aus der Innenstadt die Überzeugung mit, in einer deutschen Stadt zu sein, doch nur einen Fußmarsch weiter machten sie die Erfahrung eines typisch russischen Kauf hofs, kauften im Nachbarviertel in lettischen Läden, deren Klientel weder Deutsch noch Russisch verstand, und kehrten aus Rigas jüdischen Straßenzügen mit dem Eindruck eines unsichtbaren Ghettos zurück. Diese Überlagerung mittel- und osteuropäischer Wohnwelten, Lebensweisen und Baustile verlieh Riga um 1900 seine eigene Physiognomie.

2. Demographische Entwicklungen a) Die große Wanderung Hinter dem Wandel der äußeren Gestalt standen massive Wanderungsbewegungen, welche die Zahl und Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung zwischen 1860 und 1914 erheblich veränderten. Die stürmische Bevölkerungszunahme wurde vom alteingesessenen deutschen Stadtbürgertum mit Skepsis betrachtet, schien sie doch die eigene Stellung zunehmend zu bedrohen: »Wer Riga etwa 30 Jahre nicht gesehen hat, der wird seinen alten Bekannten gegenüber schon im ersten Gespräch die Äußerung thun, Riga sei ihm fremd geworden … Es sind eben nicht … vorzugsweise die äußerlichen Veränderungen, … die den Eindruck des Fremden hervorrufen, es sind vielmehr in erster Reihe die Menschen, ihr ganzer Habitus, ihr Thun und Treiben … In der Praxis kommt es schließlich darauf hinaus, dass der rohe, 47

ungebildete Flegel sich überall … breit macht, den Gebildeten verdrängt, und jenem rücksichtslosen Ton überall zur Vorherrschaft verhilft, den die Demokratie sonderbarerweise als ein Attribut der Freiheit und Gleichheit ansieht.«37 In der Tat sollte sich durch die Bevölkerungszunahme, deren Dynamik bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ungebremst blieb, der Charakter der alten Handelsstadt erheblich verändern. In der Forschung wird der Zusammenhang zwischen Urbanisierung, Industrialisierung und Bevölkerungswachstum unterschiedlich beurteilt.38 Fallstudien mitteleuropäischer Kommunen ebenso wie Untersuchungen osteuropäischer Städte haben gezeigt, daß sowohl Städte ohne industriellen Charakter Urbanisierungsprozesse erlebten ebenso wie Industrieregionen sich an Standorten ohne städtisches Zentrum herausbildeten.39 Die Prozesse werden daher heute tendenziell als voneinander unabhängig betrachtet, wobei ihr Zusammenwirken in manchen Phasen zur gegenseitigen Verstärkung führen konnte. Eine solche Wechselwirkung trifft in hohem Maße auf Riga zu, dessen Bevölkerung sich während der Industrialisierungsphase auf mehr als eine halbe Million Menschen verfünffachte. Die Ostseemetropole war 1914 nach St. Petersburg, Moskau, Warschau und Odessa die fünftgrößte Stadt des Russischen Zarenreichs.40 Tab. 1: Bevölkerungsentwicklung Rigas 1867–191341 Jahr

Bevölkerung

1867 1881

102.600 169.300

1897 1913

255.900 507.500

37 Rigasche Rundschau 5.9.1898. 38 Vgl. Reulecke, S. 68; Krabbe, S. 70; Matzerath, Verstädterungsprozeß, S. 94; Hildermeier, Sozialer Wandel, 530. 39 Vgl. Matzerath, Urbanisierung, S. 117ff.; Gall, Stadt und Bürgertum, S. 105f.; Roth, S. 50; Hroch, Leading Groups of National Movements, S. 271f. 40 Vgl. Fedor, der aber noch von zu niedrigen Zahlen für Riga ausgeht; sowie Hamm, Introduction, in: ders., City in Late Imperial Russia, S. 3. 41 Quellen für Tabelle 1: Resultate der Volkszählung 1867, Tab. 1; Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 1; Perepis’ naselenija 1897, Tabelle 1; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 1. Die Bevölkerungszahlen sind nur bedingt unmittelbar miteinander vergleichbar, da sich die Zählungen aufgrund von Eingemeindungen und Gebietserweiterungen nicht auf ein identisches Zählungsgebiet beziehen, beziehungsweise dieses sich im Laufe der Jahrzehnte zunehmend vergrößerte, vgl. die Erläuterung dieses Problems bei Carlberg, Verwaltung, S. XXI; v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 10f. Die gerundeten Zahlen erfassen die städtische Bevölkerung ohne das ländlich geprägte, sogenannte Patrimonialgebiet.

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Zunächst stellt sich die Frage, woher sich die rapide Bevölkerungszunahme speiste. In der Urbanisierungsforschung herrscht heute zwar Konsens, daß der Bevölkerungszuwachs europäischer Städte in der zweiten Jahrhunderthälfte primär durch Zuwanderung verursacht wurde. Ein konkreter Vergleich zwischen west- und osteuropäischen Metropolen ist indes kaum unternommen worden. Er erbringt recht unterschiedliche Resultate. Während preußische Städte zur Zeit der Hochindustrialisierung etwa 42% ihres Wachstums dem natürlichen Geburtenüberschuß, 46% den Wanderungsgewinnen und 12% den Eingemeindungen verdankten,42 setzte sich das Wachstum Moskaus nur zu 20% aus Geburtenüberschuß und zu 80% aus Zuwanderung zusammen. Ähnliche Proportionen gelten für St. Petersburg.43 Auch Rigas Bevölkerungswachstum war primär das Resultat von Zuwanderung. Zwischen 1867 und 1913 entfielen etwa 20% des Zuwachses auf natürliche Vermehrung und 80% auf Wanderungsgewinne, also auf den Saldo von Zu- und Abwanderung.44 In absoluten Zahlen bedeutete das, daß sich zwischen 1867 und 1881 jährlich 3 800 Menschen in Riga niederließen und zwischen 1881 und 1897 rund 4 300. Zwischen 1897 und 1913, als die industrielle Produktion florierte wie kaum je zuvor, waren es durchschnittlich etwa 12 600.45 Diese interpolierten Durchschnittswerte werden der Wirklichkeit allerdings nur in Ansätzen gerecht, da die Zuwanderung ungleichmäßiger verlief, als die Interpolation es vermittelt. Sie geben aber einen ungefähren Eindruck der immensen Migrationsströme dieser Jahrzehnte, die das Statistische Amt festzuhalten bemüht war. Woher kamen die Zuwanderer? Die Volkszählungen belegen, daß sich 1881 der größte Teil der Zuwanderer, nämlich rund 60%, aus der Landbevölkerung Livlands und Kurlands zusammensetzte. Etwa 27% kamen aus anderen russischen Gouvernements, oft aus dem angrenzenden Vitebsk, Kovno oder Wilna, 12% aus Deutschland und 1% aus dem übrigen Ausland.46 Seit der Mitte der 1880er Jahre begann der Strom der deutschen Zuwanderer zu versiegen, was primär an den staatlichen Russifizierungsmaßnahmen lag, die das Deutsche als Umgangssprache in Verwaltung, Wirtschaft und den freien Berufen immer mehr zurückdrängten. Dagegen erhöhte sich der Anteil polnischer, litauischer und weißrussischer Migranten, deren Mobilität die neuen Passgesetze und später die Agrarreformen von 1905 ausweiteten. 1913 betrug ihr Anteil am städ42 Vgl. Krabbe, S. 74. 43 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 59; Bater, S. 383ff. 44 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 58. Die Zahl wurde aus den durchschnittlichen Angaben Schrencks zwischen 1867/1881/1897/1912 ermittelt, wobei für 1913 von der tatsächlichen Bevölkerungszahl, die höher ausfiel, als Schrenck noch interpolierte, ausgegangen wurde. 45 v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 55f. 46 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1881, S. 56; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 7; Rīga, hg. von Krastiņš, S. 21; v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 119.

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tischen Wanderungsgewinn 30%, während derjenige der Zuwanderer aus den übrigen russischen Gouvernements bei 16% lag. Neuankömmlinge aus Livland und Kurland machten jedoch immer noch 51% des Wanderungsgewinnes aus, wogegen der Anteil jener, die aus dem übrigen Ausland, darunter vor allem aus Deutschland kamen, auf 3% geschrumpft war.47 Die Tatsache, daß das Gros der Zuwanderer aus Livland und Kurland stammte, trug wesentlich dazu bei, daß sich der Alphabetisierungsgrad der Stadtbevölkerung trotz aller bürgerlichen Ängste vor den »neuen Menschen, die uns in der Hebung des allgemeinen Culturniveaus nicht nur keine Helfer, sondern oft das Gegentheil sind«, nicht wesentlich änderte.48 Denn abweichend vom übrigen Rußland, wo keine allgemeine Schulpflicht herrschte, hatte die baltische Landbevölkerung fast ausnahmslos die ländlichen Volksschulen absolviert, die der deutschbaltische Adel und die Geistlichkeit unterhielt. Im Jahr 1881 waren 75% der Rigaer Einwohner des Lesens und Schreibens kundig; im Jahr 1913, nachdem sich die Stadtbevölkerung mehr als verdoppelt hatte, waren es 86%.49 Von den Analphabeten stammten nur ein Zehntel aus den baltischen Provinzen, wogegen der Rest aus den übrigen russischen Gouvernements kam.50 Riga wich daher, was sein Bildungsniveau anging, auffällig von den großen russischen Metropolen ab. In Moskau beispielsweise konnten 1881 nur 47% der Bevölkerung lesen und schreiben, und 1897 waren es nur geringfügig mehr, nämlich 56%.51 Ausgeprägter noch als in den Städten zeigte sich das Bildungsgefälle zwischen den baltischen und den innerrussischen Provinzen auf dem flachen Land. Während 1907 in den baltischen Ostseeprovinzen 90% der Bevölkerung lesen und schreiben konnten, waren es im europäischen Rußland nur 30%.52 Was den Bildungsstand seiner Bevölkerung anging, entsprach Riga eindeutig mitteleuropäischen Entwicklungsmustern, wie auch die Volkszähler bei ihrer praktischen Arbeit immer wieder erfuhren: »Und in der Tat gehört ein erwachsener Lette, der nicht wenigstens Gedrucktes lesen kann, zu den größten Seltenheiten, wie Schreiber dieses sich auch bei Gelegenheit der beiden letzten Volkszählungen überzeugen konnte.«53 Angesichts der Dynamik des städtischen Wachstums stellt sich vor allem die Frage, welche Motive die Zuwanderer dazu bewogen, die vertraute Landgemeinde zu verlassen und den Weg in die unbekannte Großstadt 47 Wie Anm. 46. 48 Rigasche Rundschau 5.9.1898. 49 Vgl. v. Tobien, Statistisches Jahrbuch, Bd. 1, S. 86; Ergebnisse der Volkszählung 1913. 50 Vgl. Fonds 2791, Apr. 1, Nr. 164, Tabelle 14, LVVA. 51 Vgl. v. Tobien, Statistisches Jahrbuch, Bd. 1, S. 86; v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 282. Vgl. auch Brooks. 52 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 282. 53 Rigasche Rundschau 11.11.1897.

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anzutreten. Auch im Rigaer Fall spielten Push- und Pull-Faktoren, also landabstoßende und stadtanziehende Impulse ineinander. Als Push-Faktor wirkte zunächst der Abschluß der Bauernbefreiung, die in den baltischen Provinzen während der 1860er Jahre von reformorientierten Teilen des Adels durchgesetzt wurde. Zwar waren die Bauern in Kurland, Livland und Estland bereits seit 1816/19 persönlich frei geworden, doch ohne die Möglichkeit des Landerwerbs geblieben. Mit der Chance, Land zu kaufen, bildete sich seit dem Ende der 1860er Jahre eine schmale Gruppe bäuerlicher Eigentümer heraus, der indes eine riesige Gruppe Landloser gegenüberstand, die nun in die Städte drängte, um dort Arbeit zu finden. Hinzu kam, daß rechtliche Abhängigkeit und Fronleistung in neuer Form bis ins 20. Jahrhundert hinein fortdauerten, wie der deutschbaltische Agrarexperte Adolf Agthe noch 1908 feststellte: »Es sei nur erinnert an die lange Arbeitszeit, die Wegebaufronden, die unentgeltliche Abfuhr der Produkte, den unentgeltlichen Scharwerksdienst der Knechtfrauen, das Heranziehen der schulpflichtigen Kinder zum Hüterdienst, das Passsystem, die Prügelstrafe und … das Herabsinken der altersschwachen und erwerbsunfähigen Arbeiter in die Klasse der Lostreiber.«54 Landabstoßend wirkten diese feudalen Residuen auch deshalb, weil es den liberalen Kräften des Adels nicht gelungen war, nach der ökonomischen Emanzipation der Bauern auch deren politische Partizipation durchzusetzen. Nur in Livland war ihnen 1870 eine marginale Mitentscheidung auf der Kirchspielsebene zugestanden worden, deren Halbherzigkeit die allgemeine Unzufriedenheit jedoch eher anstachelte als eindämmte. Die Löhne erlauben hingegen weniger den Rückschluß auf einen landabstoßenden Impuls. In Livland wie in Kurland lagen sie nur geringfügig unter denen ungelernter Industriearbeiter, doch bot die städtische Fabrik eher als die Arbeit auf dem Landgut die Chance auf eine Erhöhung des Verdienstes.55 Schließlich litt auch die baltische Region in der zweiten Jahrhunderthälfte unter Überbevölkerung, wenn auch die Geburtenrate im Vergleich zu innerrussischen Provinzen niedrig ausfiel.56 Zur Landflucht motivierten Lohngefälle und relative Überbevölkerung jedoch allemal. Neben Push-Faktoren waren Pull-Faktoren, stadtanziehende Impulse also, von ebenso großer Bedeutung. Eine zentrale Rolle spielte die Industrialisierung Rigas, die den Wanderwilligen Arbeit und Verdienst verhieß. Bereits 1864 besaß Riga rund 90 Fabriken mit fast 6 000 Arbeitern, vor 54 Agthe, S. 157. 55 Vgl. Berziņš, Latvijas rupniecības strādnieku, S. 34; Benz, Revolution von 1905 in den Ostseeprovinzen, S. 130. Ein Landarbeiter erhielt um 1900 zwischen 220 (Kurland) und 290 Rubel jährlich (Livland), ein städtischer Industriearbeiter etwa 250 Rubel, wobei sich der Lohn hier auf bis zu 380 Rubel erhöhen konnte. 56 Vgl. Plakans, The Latvians. A short Story, S. 87f.

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dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren es um die 400 Fabriken, die rund 90 000 Arbeitern Lohn und Brot boten.57 Ebenso anziehend wirkte die Gewerbefreiheit, die 1866 eingeführt worden war und im bislang streng korporativ organisierten Riga auch dem unzünftigen, meist nichtdeutschen Handwerker die Möglichkeit der Existenzgründung erlaubte. Die Chance des sozioökonomischen Aufstiegs, die mit dem Wachstum von Industrie, Handel und Handwerk verbunden war, erscheint in den lettischen Überlieferungen als wichtigstes Motiv, den Weg in die Stadt zu wagen: »Hunderte von Schiffen sind im Hafen zu sehen, Hunderte von Fabrikschornsteinen hinter den unzähligen Häusern. Ja, Riga ist eine Arbeitsstadt und hat so unsere Großväter bezaubert, als sie in die Stadt kamen, um zu verdienen.«58 Anziehend wirkten aber auch Faktoren, die jenseits sozioökonomischer Überlegungen lagen. Dazu zählte vor allem Rigas wachsende Bedeutung als kulturelles und politisches Zentrum der Letten. Erschwerte die ländliche Struktur den Auf bau politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten, so bot die Stadt mit ihrem immer dichter werdenden Vereinsnetz und den hochpolitisierten Kommunalwahlen eine Fülle an Chancen nationalen Engagements. Im zeitgenössischen Roman ›Rīga‹ des lettischen Autors Augusts Deglavs wurde diese Verheißung zum Leitthema der Darstellung vom Aufstieg des lettischen Bauernjungen gemacht: »Für ihn bedeutete das wenig, Bauer in Ergli zu sein. Ein unstillbarer Drang trieb ihn nach draußen in die Welt … Wenn er in den Zeitungen las, wie sie in Riga aktiv waren, Vereine gründeten, Versammlungen abhielten … Theatervorstellungen organisierten, bei den Stadtwahlen kämpften, und für die Sache des Volkes sorgten – was für eine Weite öffnete sich dann vor seinem geistigen Auge. Wie eng erschien ihm dann sein armseliges Leben in der Landgemeinde … Hier gab es keine gemeinsamen Interessen, und wenn nicht der Jude die wichtigsten Nachrichten herumtrüge, keiner würde wissen, was im Nachbarhaus geschehen ist. Diese enge Luft erstickte ihn fast.«59 Zuwanderung wurde schließlich auch durch die Stadt als Lebensform, als Verheißung von Vergnügen jenseits der sozialen Kontrolle und patriarchalischen Enge des Dorflebens ausgelöst, ein Aspekt, den vor allem die amerikanische Urbanisierungsforschung unter dem anschaulichen Stichwort der »bright lights« thematisiert hat.60 Immer wieder ging auch dieses Zuwanderungsmotiv in die populären Volkslieder der lettischen Volkskultur ein: »Brüder, lasst uns

57 58 59 60

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Vgl. Lenz, Entwicklung Riga, S. 16, S. 63. Vgl. Baltijas Vēstnesis 28.10.1897. Deglavs, Rīga, Teil 2, S. 28. Vgl. Kamphoefner, S. 98.

nach Riga gehen / in Riga ist das Leben schön / in Riga bellen goldne Hunde / und silberne Hähne krähen dazu.« 61 Die Neuankömmlinge kamen, viele blieben, aber einige gingen auch wieder. Typisch für russische Großstädte in der zweiten Häļfte des 19. Jahrhunderts war das saisonale Rückfluten der bäuerlichen Bevölkerung in das Heimatdorf (otchodničestvo), das die Großstadtbevölkerung im Sommer minimierte und die Herausbildung eines stabilen, proletarischen Sozialmilieus verzögerte.62 Dieses Phänomen schien sich in Riga schwächer niedergeschlagen zu haben. Der rapide Anstieg von Einzelhaushalten, den die städtische Statistik verzeichnet, deutet vielmehr darauf hin, daß Riga für den überwiegenden Teil der Zuwanderer zum neuen dauerhaften Lebensmittelpunkt geworden war: »Was das Zusammenleben der Gewerbegehilfen anbetrifft, steht Riga den deutschen Städten näher als Moskau. Es zeigt eine auffallend geringe Zahl Aftermieter, Chambregarnisten und Schlafleute, eine Klasse, die in Moskau sehr vertreten ist, was dort für die Schwierigkeit, ein eigenes Haus zu führen, spricht, und auf eine große, nicht ansässige Bevölkerung hinweist.« 63 Symptomatisch für die meisten europäischen Industriemetropolen der Zeit war auch die Weiterwanderung. Für deutsche Großstädte hat Dieter Langewiesche zwischen 1881 und 1912 eine Abwanderung in Höhe von 80% der Zuwanderer berechnet.64 Dieses Kennzeichen hoher Mobilität traf auf Riga jedoch nur beschränkt zu. Die industrielle Bedeutung der Großstadt inmitten einer agrarisch geprägten Region war konkurrenzlos; ebenso hielt die Sprachbarriere vom Überschreiten der Provinzgrenzen ab, zumal die lettischen Migranten nur selten Russisch sprachen.65 Genaue Belege über Bleiben oder Weiterwandern können nur Mobilitätsziffern geben, welche die Summe von Zuzug und Weggang berechnen. Das Fehlen entsprechender Melderegister, wie der städtische Chefstatistiker Burckhard v. Schrenck bedauernd feststellte, verhinderte jedoch den statistischen Nachweis, wie viele der Zuwanderer blieben und wie viele wieder gingen.66 Qualitative Quellen wie Deglavs bedeutender Roman ›Rīga‹ deuten jedoch darauf hin, daß Riga für den überwiegenden Teil der lettischen Zuwanderer zu jenem Ort wurde, an dem es galt, das eigene Leben dauerhaft neu zu gestalten.

61 Germanis, Latviešu tautas piedzivojumi, S. 102. 62 Vgl. Hildermeier, Sozialer Wandel, S. 553. 63 v. Tobien, Statistisches Jahrbuch, Bd. 1, S. 102f. 64 Vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 5. 65 Vgl. Corrsin, S. 28, der auf die Sprachbarriere nach Estland hinweist, die den Migrationsfluß ebenfalls in beide Richtungen hemmte. 66 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 12.

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b) Ethnische Verschiebungen und die Markierung von ›Nationalität‹ Die Zuwanderung veränderte zunächst die Größe der Stadt. Einschneidender noch wirkte sich die Verschiebung der ethnischen Bevölkerungsanteile aus, die damit verbunden war. Gerade Reisenden, welche die Ostseemetropole in regelmäßigen Abständen besuchten, stach der Wandel der deutsch geprägten Handelsstadt zur multiethnischen Industriemetropole ins Auge. So stellte Rudolf Virchow, der berühmte Mediziner und liberale Reichstagsabgeordnete, bei seinem Aufenthalt 1896 fest: »Die Stadt Riga hat seit dem Jahre 1877, wo ich sie kennenlernte, ihren Charakter stark verändert. Sie hat nicht gerade aufgehört, eine Handelsstadt zu sein, obwohl die Veränderungen in dem Getreidehandel ihr großen Abbruch gethan haben, aber sie hat mehr und mehr die Eigenschaften einer Fabrikstadt angenommen. Als solche hat sie, namentlich in ihren Außenbezirken, sich immer weiter ausgedehnt und die Bevölkerung hat zugenommen. Auch aber diese Zunahme hat viel dazu beigetragen, ihr Wesen zu verändern. Denn es ist vorzugsweise die Arbeiterbevölkerung, die sich vermehrt, und diese setzt sich zu einem kleineren Theile aus Russen, zum größeren aus Letten zusammen … Die Lettisierung hat Fortschritte gemacht und die deutsche Bevölkerung wird mehr und mehr zurückgedrängt, namentlich seitdem die russische Sprache in hohe und niedere Schulen auch in das öffentliche Leben eingeführt worden ist.«67 Dem Wandel der ethnischen Zusammensetzung Rigas verleihen persönliche Erinnerungen einen subjektiven Ausdruck. Von den Volkszählungen, die das Statistische Amt der Stadt regelmäßig durchführte, wurden sie indes in einer Genauigkeit erfasst, die Aufschlüsse weit über die bloße Feststellung ethnischer Zugehörigkeit hinaus erlaubt. Abweichend von innerrussischen Metropolen, die kaum lokale Volkszählungen durchführten, ermöglicht es das für Riga vorliegende Quellenfundament, auch der Frage nachzugehen, wie das Kriterium der ›Nationalität‹ jeweils definiert wurde und in welcher Form dieser zeitgenössische Diskurs wiederum die statistischen Erfassungsmomente beeinflusste. Neben eindeutigen ethnischen Selbstzuschreibungen geraten auch die kulturellen Mischformen und Übergänge zwischen den ethnischen Gruppen in den Blick, die typisch für viele europäische Regionen sind, in denen mehrere Nationalkulturen aufeinanderstoßen.68 Die städtischen Volkszählungen von 1867 und 1881 waren Teil der provinzialen Zählungen, welche die deutschbaltische Verwaltung während 67 v. Virchow, S. 480. 68 Vgl. Müller, sowie grundsätzlicher und nicht auf Europa beschränkt: Osterhammel, Kulturelle Grenzen.

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der zweiten Jahrhunderthälfte in eigener Initiative durchführte. Die Zählung von 1897 war dagegen ein staatliches Projekt, dessen Publikation vergleichsweise lange auf sich warten ließ.69 Nachdem eine weitere reichsweite Zählung immer wieder verschoben worden war, entschlossen sich die Rigaer Kommunalpolitiker, die dringend benötigte Zählung im Jahr 1913 in lokaler Eigenregie durchzuführen. Das Hauptmotiv der provinzialen wie der städtischen Zählungen lag in der Notwendigkeit eines statistischen Datenbestands, auf dessen Grundlage die neuen kommunalen Aufgaben, welche aus der rapide gewachsenen Bevölkerung erwuchsen, geschätzt und geplant werden konnten: »Ferner waren gewaltige städtische Unternehmen und Massnahmen auf vielen Gebieten der städtischen Wohlfahrtspflege im Laufe des letzten Jahrzehnts teils eingeleitet, teils schon durchgeführt, deren Fortführung … eine gründliche Kenntnis der Verteilung der Bevölkerung nach möglichst kleinen territorialen Einheiten erforderlich machte.«70 Weniger wissenschaftliche Interessen als sozialreformerische Motive wurden in Riga zur treibenden Kraft hinter den lokalen Volkszählungen. Angesichts des organisatorischen Aufwands, den jede der städtischen Zählungen von 1867, 1881 und 1913 erforderte, bemühte sich das Statistische Komitee, die Bevölkerung in hohem Maße zur Mitarbeit heranzuziehen. Die Hoffnung, daß die Zählung selbst »in einer Zeit mancher Bedrängnis, wo der Wellenschlag nationaler Leidenschaft die Errungenschaft einer Jahrhunderte alten Cultur zu untergraben bemüht ist … zu einem Werk des Friedens« würde, trog die deutschbaltischen Eliten freilich.71 Die erfolgreiche Beteiligung breiter bürgerlicher Gruppen an den Zählungen verweist jedoch auf die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die hier aktiviert werden konnten. Bereits 1867 war »die ganze Zählungsoperation … ausschließlich Freiwilligen anvertraut worden«.72 Zwar schienen Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten und ethnischer Gruppen herangezogen worden zu sein, doch dominierten 1867 noch »die besonders zahlreich vertretenen gelehrten Stände (Advokaten, Lehrer, Prediger, Aerzte, Beamte) und der Handwerkerstand, welcher … namentlich in bereitwilligster Weise die schwierigsten und beschwerlichsten Bezirke zu zählen übernahm.«73 Aufgrund der wachsenden Bevölkerung wurden für die Zählungen der nächsten Jahrzehnte immer mehr Zähler erforderlich. Doch auch 1913, als Rigas Bevölkerung die halbe Million überschritten hatte, stellte die Motivierung geeigneter Freiwilliger für die undankbare Aufgabe kein Problem 69 70 71 72 73

Die Ergebnisse erschienen erst 1905, vgl. Nationalitäten des Russischen Reiches 1897. Ergebnisse der Volkszählung 1913, Einleitung, S. 7. Rigaer Zeitung 19.8.1881. Resultate der Volkszählung 1867, Vorwort, S. III. Ebd.

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dar: »Die Statistische Kommission war daher entschlossen, nach Möglichkeit ausschließlich ehrenamtliche Kräfte als Rayonvorsteher und Zähler zu benutzen. Es konnte nun mit Befriedigung festgestellt werden, dass es gelungen war, die erforderliche Anzahl von 164 Rayonvorstehern und 3 130 Zählern ehrenamtlich zu gewinnen. Diese weitgehende aktive Beteiligung an der Volkszählung war ein hocherfreulicher Beweis für den in Riga herrschenden gesunden Bürgersinn.«74 Dabei läßt sich aus den Quellen keine Bevorzugung oder Vernachlässigung einer ethnischen Gruppe bei der Anwerbung der Zähler herauslesen, vielmehr lag es im Interesse der deutschbaltischen Verwaltung, durch entsprechende Ausgewogenheit den Vorwurf der Parteilichkeit entkräften zu können: »Was nun aber den zweiten Vorwurf in Betreff der Thatsache anlangt, dass viele Letten gegen ihren Willen als Deutsche verzeichnet wurden, so entbehrt derselbe aller und jeder Begründung. Bei der sehr häufig wiederholten Instruierung der aus Russen, Letten, Deutschen, Ebräern u.s.w. zusammengesetzten Zähler ist stets mit dem grössten Nachdruck hervorgehoben worden, einem jeden Einwohner in den die Nationalität betreffenden Rubriken seiner eigenen Angabe gemäss einzutragen, und es ist uns bis jetzt kein einziger Fall bekannt geworden, dass irgend ein Zähler in dieser oder in irgend einer andern Beziehung pflichtwidrig gehandelt hat.«75 Die erfolgreiche Durchführung regelmäßiger Volkszählungen, die einen ungewöhnlich dichten sozialwissenschaftlichen Datenbestand erbrachten, wie er sich für osteuropäische Städte sonst kaum finden lässt, ist mithin auf eine aktive kommunale Selbstverwaltung sowie auf das ausgeprägte Engagement bürgerlicher Kreise zugunsten des städtischen Gemeinwohls zurückzuführen. Institutionelle und personelle Ressourcen, auf die Riga nicht zuletzt dank seiner langen Tradition ständischer Selbstverwaltung zurückgreifen konnte, wiesen ein zivilgesellschaftliches Potential auf, das im Nordwesten des Zarenreichs umfangreiche sozialwissenschaftliche Erhebungen möglich machte, die sich durchweg mit den westeuropäischen Anfängen der ›Verwissenschaftlichung des Sozialen‹ vergleichen lassen.76 Neben der Zunahme der Gesamtbevölkerung stellten die Zählungen auch die Anteile der jeweiligen ethnischen Gruppen daran fest. Alle vier Volkszählungen nahmen diese Klassifizierung zunächst auf der Basis der Sprache vor.

74 Ergebnisse der Volkszählung 1913, Einleitung, S. 12. 75 Resultate der Volkszählung 1867, Beilage II. An die Redaktion der Moskauischen Zeitung, S. XXII. 76 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen.

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Tab. 2: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache (absolut)77 Jahr 1867 1881 1897 1913

Deutsche

Letten

43.980 24.199 66.775 49.974 65.332 106.541 80.823 205.204

Russen

Juden

25.772 31.976 43.338 110.620

5.254 14.222 16.521 21.771

Polen o. Ang. 3.197 12.869 36.868

Sonstige

insgesamt

3.385 3.176 11.278 52.190

102.590 169.320 255.879 507.476

Die absoluten Zahlen zeigen, daß die deutsche Zuwanderung vom flachen Land und aus dem Deutschen Reich zunächst noch zunahm und erst mit dem Beginn der Russifizierungsperiode versiegte. Denn ein nicht unerheblicher Teil des ›deutschen‹ Volumens von 1913 entfiel auf deutsch akkulturierte Letten und Juden, wie noch gezeigt wird. Den Löwenanteil der Zuwanderer machten lettische Migranten vom Lande aus, welche die lettische Bevölkerung Rigas mehr als verachtfachten. Die russischsprachige Gruppe wuchs zwischen 1867 und 1897 nur langsam, vergrößerte sich dagegen zwischen 1897 und 1913 um mehr als das Doppelte, worunter zahlreiche Weißrussen und Ukrainer waren. Die starke jüdische Zuwanderung war zunächst durch die Wohn- und Handelsfreiheit motiviert, die Juden in Riga, das außerhalb des jüdischen Ansiedlungsrayons lag, genießen konnten. Mit den reichsweiten Restriktionen seit Mitte der 1880er Jahre und zahlreichen Ausweisungen stagnierte dieser Strom. Polen waren 1867 noch gar nicht einzeln erfasst worden, doch seit den 1880er Jahren nahm ihre Zuwanderung ebenso wie die der Litauer deutlich zu und ging 1881 erstmals auch in die Statistik ein. Tabelle 3 verdeutlicht, wie sich die Anteile der ethnischen Gruppen im Laufe eines halben Jahrhunderts prozentual veränderten. 77 Quellen: Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 4; Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 4; Perepis’ naselenija 1897, Tabelle 13; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. Die ethnische Zusammensetzung wurde zunächst auf der Basis des Kriteriums ›Umgangssprache‹ berechnet. Zwar berücksichtigte dieses Kriterium diverse Akkulturationsprozesse noch nicht, die im folgenden ausführlich thematisiert werden. Es ist jedoch das einzige Kriterium, das alle vier Volkszählungen gleichermaßen als Erfassungsmerkmal heranzogen und erlaubt daher eine Vergleichbarkeit der Zahlen. ›Deutsche‹ sind hier tendenziell überrepräsentiert, da auch Letten und Juden, die zuhause Deutsch sprachen, zu dieser Gruppe gezählt wurden, vgl. Resultate der Volkszählung 1867, Vorwort, S. VIII: »Die Differenz in der Gliederung der Bevölkerung nach ihrer Nationalität findet dagegen vorherrschend darin ihre Begründung, dass Juden sich sehr häufig als Deutsche, Russen oder Polen hatten aufnehmen lassen, bei der Verarbeitung dagegen alle Personen mosaischen Glaubens zu den Juden gerechnet wurden.« Die 52 190 Sonstigen des Jahres 1913 differenziert die Volkszählung in 6 799 Esten, 26 962 Litauer und 18 929 Sprecher anderer Sprachen.

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Tab. 3: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache (prozentual)78 Jahr 1867 1881 1897 1913

Deutsche 42,9 39,4 25,5 15,9

Letten 23,6 29,5 41,7 40,4

Russen 25,1 18,9 16,9 21,8

Juden 5,1 8,4 6,5 4,3

Polen — 1,9 5,0 7,2

Sonstige 3,3 1,9 4,4 10,4

Die prozentuale Darstellung macht noch deutlicher, daß die deutsche Bevölkerungsgruppe, obwohl sie zahlenmäßig keineswegs schrumpfte, sich vielmehr fast verdoppelte, durch die massive übrige Zuwanderung ihre prozentuale Vormachtstellung einbüßte. Die Letten hingegen konnten ihren prozentualen Anteil an der Stadtbevölkerung fast verdoppeln, wogegen die Juden sich zwar in absoluten Zahlen vervierfacht hatten, doch 1913 einen kleineren Prozentsatz an der Bevölkerung aufwiesen als 1867. Als Erfassungskriterium ethnischer Zugehörigkeit war von allen Volkszählungen zunächst die jeweilige Umgangssprache verwandt worden. Doch unter den Zeitgenossen herrschte keineswegs Einigkeit darüber, was genau die Definitionskriterien der vielumstrittenen ›Nationalität‹ ausmachte: »Und dennoch giebt es kaum einen Begriff, der im Allgemeinen so wenig klar erfasst wäre, wie ›die Nationalität‹, welche bald auf Staatszugehörigkeit, bald auf Stammesverwandtschaft und nur ausnahmsweise, ihrem Wesen entsprechend, auf gleiche Culturentwicklung zurückgeführt wird … Aber wie dem auch sei: jedenfalls herrscht im Allgemeinen in Beziehung auf den Nationalitätsbegriff ein heilloser Wirrwarr.«79 Gerade im Vorfeld der Volkszählungen, von denen jede ethnische Gruppe sich eine Stärkung der eigenen Position erhoffte, nahm die Kontroverse regelmäßig an Heftigkeit zu. Zwei unterschiedliche Definitionsvorschläge, hinter denen spezifische Erfahrungen und Interessen standen, bestimmten die Debatte. Im deutschen Milieu herrschte die Ansicht vor, daß ›Nationalität‹ am ehesten an der Umgangssprache in der eigenen Familie ablesbar, mithin ein Ausdruck der ›Cultursphäre‹ sei: »Weil die Jedem Übliche Sprache das Mittel seiner Bildung ist, weil die Sprache ihm die Geistesauffassungen und Rechtsanschauungen sei78 Quellen für Tab. 3 siehe Anm. 77. Polen und ›Sonstige‹, worunter primär Esten und Litauer waren, die bisher tabellarisch berücksichtigt wurden, werden im folgenden nicht mehr im Einzelnen thematisiert. Obwohl Polen wie auch Litauer seit den 1890er Jahren in quantitativer Hinsicht eine recht große Gruppe darstellten, spielten sie im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt, anders als die Juden, keine tragende Rolle und nahmen auch an den Deutungskämpfen der rivalisierenden Milieus kaum Anteil. Vgl. Jēkabsons, sowie die Aufsätze in Oberländer u. Wohlfart. 79 Rußlands Nationalitätsprinzip, S. 53.

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ner Zeit in der Form ihres Volkes mittheilt und mithin auch bei ihm diese Auffassungen … erweckt, deshalb muß die Sprache als massgebendes Merkmal der Nationalität gelten.«80 Seinen Grund hatte diese Auffassung einmal darin, daß das deutschbaltische Bürgertum jeden durch Zahl begründeten politischen Anspruch ablehnte und einen solchen nur auf der Basis kultureller Entwicklung akzeptieren wollte: »Die Cultur findet aber ihren Ausdruck im Rechtsleben, in der Religion, in Kunst und Wissenschaft, sowie in Sitte und Sprache des Volkes, welches mithin den Ehrennamen einer Nation und die Zuerkennung einer eigenen Nationalität erst beanspruchen kann, nachdem jene Culturgüter in ihm bereits Wurzeln geschlagen … haben.«81 Zum anderen stellte die Integration sozial aufgestiegener Letten ins deutsche Milieu den häufigsten Akkulturationstypus in der baltischen Region dar. Andere Erfassungskriterien als die der Sprache oder Kultur hätte diese Gruppe überwiegend der als ›deutsch‹ erfaßten Bevölkerung entzogen. Wandte man zur statistischen Erfassung von ›Nationalität‹ dagegen das Kriterium der Sprache an, verstärkte sie deren Gewicht. Die Letten argumentierten hingegen, daß ›Nationalität‹ primär eine Sache der jeweiligen ›Abstammung‹ wäre, die der Einzelne subjektiv zu bestimmen imstande sei: »Nach welchen Merkmalen soll bei der bevorstehenden Volkszählung die Nationalität bestimmt werden? Dieser Frage widmet die Rigas Lapa einen besonderen Artikel, in welchem sie sich dahin ausspricht, dass die Familiensprache ein unzureichendes Kriterium der Nationalität sei … Daher schlägt das lettische Blatt vor, es jedem Einzelnen anheimzugeben, seine Nationalität nach eigenem Ermessen zu bestimmen, denn ob er Russe, Deutscher, Lette oder Jude sei, würde Jeder doch fraglos zu sagen wissen.«82 Auch hinter dieser Entscheidung, wie ›Nationalität‹ zu bestimmen sei, standen spezifische Erfahrungen und Interessen. Zunächst konnte ›Abstammung‹ als Erfassungskriterium das quantitative Gewicht der Letten am ehesten berücksichtigen, wogegen ein kulturell definierter Nationalitätsbegriff der primär unterbürgerlichen Gruppe, die um 1860 noch keine Schriftsprache besaß, kaum Legitimationsargumente verschafft hätte. Die von Deutschen und Letten gleichermaßen vorgenommene Klassifizierung ihrer jeweiligen Defi80 Resultate der Volkszählung 1867, Vorwort von Friedrich v. Jung-Stilling, S. XXII. Vgl. auch Russlands Nationalitätsprinzip, S. 54: »Hierzu ist allerdings unvermeidlich, vor Allem die Nationalität als das, was sie in der That allein ist, d.h. als Culturbegriff mit einigen Worten klar zu stellen.« (Hervorhebung i.O.) Vgl. auch Zeitung für Stadt und Land 21.8.1883; »Unter allen Kennzeichen des vielumstrittenen Begriffs der »Nationalität« ist anerkannterweise das äußerlich am leichtesten erkennbare, das in politisch-praktischer Hinsicht wichtigste und darum für das … bürgerliche Leben überhaupt in erster Linie maßgebende – die Sprache.« 81 Russlands Nationalitätsprinzip, S. 55. 82 Rigasche Zeitung 24.5.1880.

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nitionen mittels ›objektiver‹ oder ›subjektiver‹ Faktoren, die hier vermeintlich aufeinander prallten,83 war indes selbst eine Fiktion, da beide Deutungen subjektive Konstruktionsakte darstellten, die nicht zuletzt handfesten politischen Interessen dienten. Die deutschbaltischen Eliten setzten sich 1867 mit dem Rückgriff auf die Umgangssprache als »maßgebendem Merkmal der Nationalität« gegen lettische und russische Sichtweisen durch.84 Doch mit dem unübersehbaren soziokulturellen Aufstieg der Letten wandelte sich die Situation dahingehend, daß die Notwendigkeit beider Erfassungskriterien erkannt wurde. In der Volkszählung von 1881 wie auch in der von 1913 berücksichtigten die deutschbaltischen Statistiker sowohl die Sprache als auch das Kriterium der ›Nationalität‹ – begriffen als subjektiver Abstammungsglaube – als gleichberechtigten Ausweis ethnischer Zugehörigkeit: »Eine vielumstrittene Position bildet die Frage nach der Nationalität … Bei Ausarbeitung des baltischen Zählungsplans nun hat man sich der Überzeugung nicht verschließen können, dass weder Abstammung noch Staatszugehörigkeit noch Sprache als untrügliches Merkmal der Nationalität gelten könne und hat daher einen Weg eingeschlagen, der unseres Wissens bisher noch nirgend und nie bei einer Volkszählung betreten worden ist. Als Erläuterung zur Frage ›Nationalität‹ ist nämlich hinzugefügt worden: ›In dieser Rubrik wird der Name derjenigen Nationalität, zu welcher sich die Person nach ihrer eigenen Aussage rechnet … hingeschrieben.‹«85 Durch die Möglichkeit, ethnische Zugehörigkeit mehrfach auszudrücken, welche die deutschbaltischen Statistiker der Bevölkerung anboten, lassen sich jene interethnischen Akkulturationsprozesse auch quantitativ belegen, die in den meisten multiethnischen Landschaften Europas nur in qualitativen Quellen zum Ausdruck gelangen. Die darin liegende Verflechtung der unterschiedlichen ethnischen Gruppen, welche deren nationalzentrierte Historiographie retrospektiv kaum mehr wahrnehmen wollte,86 wurde von den Zeitgenossen klar benannt: »In den Unterschieden zwischen den Antworten auf die Fragen nach der üblichen Sprache und der Nationalität ist ein Maßstab für die Anziehungsfähigkeit, welche die beiden in diesen Ländern 83 Vgl. Rigasche Zeitung 19.3.1883: »Denn wo auf engem Gebiet wie in den Ostseeprovinzen eine vielsprachige Bevölkerung sich zusammendrängt, wo … das einzelne Individuum, unabhängig von seiner üblichen Sprache, sich häufig ganz anderen nationalen Kreisen zugezählt wissen will, da ist die Sprache allein als Kriterium … nicht ausreichend. An Stelle der statistischen Fixierung objektiver Thatsachen trat die subjective Entschließung der Individuen, wodurch ein Princip in die Volkszählung eingeführt wurde, welches … noch nie bei früheren Zählungen zur Anwendung gelangt ist.« 84 Resultate der Volkszählung 1867, Vorwort von Friedrich v. Jung-Stilling, S. XXII. 85 Rigaer Zeitung 26.9.1881. 86 Vgl. Lenz, Umvolkungsvorgänge; ders., Volkstumswechsel; v. Dorneth, Die Letten unter den Deutschen. In der repräsentativsten lettischen Nationalgeschichte, Latvija 19. gadsimtā, werden solche Prozesse nicht thematisiert, vgl. S. 47–71.

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concurrierenden Cultursphären, die deutsche und russische, im Wettkampf um die eingeborene Bevölkerung auf letztere ausüben konnten.«87 Ein Vergleich der Ergebnisse von 1881 und 1913, den einzigen Volkszählungen, welche die Bevölkerung sowohl nach ihrer Umgangssprache als auch nach ihrer Nationalität befragten, ergibt folgendes Bild: Tab. 4: Ethnische Zusammensetzung Rigas 1867–1913 nach Umgangssprache und Nationalität (absolut)88 Jahr

Deutsche Letten Sprache Nation Sprache Nation 49.974 55.665

Russen Juden Sonstige Sprache Nation Sprache Nation Sprache Nation

1881

66.775 52.787

31.976 32.094 14.222 19.082

6.373

9.692

1913

80.823 68.775 205.204 210.030 110.620 98.959 21.771 33.591 89.558 96.621

Der häufigste Akkulturationsprozeß, wie Tabelle 4 zeigt, war die kulturelle Integration ins deutsche Milieu, dessen sprachliche Grenzen deshalb viel weiter als seine ethnischen reichten. Bei der Frage, aus welchen Gruppen die Integrationswilligen stammten, lassen sich vor allem zwei Übergangstypen unterscheiden. Am häufigsten, von der zeitgenössischen Literatur unter dem derogativen Terminus der ›Germanisierung‹ aber auch am breitesten thematisiert, war die kulturelle Integration sozial aufgestiegener Letten ins deutsche Milieu. Von den Befragten, die 1881 als Umgangssprache Deutsch angegeben hatten, nannten rund 14 500 eine davon differierende ›Nationalität‹. 5 700 dieser Personen hatten auf die Frage nach ihrer ›Nationalität‹ mit Lettisch geantwortet.89 Die soziokulturellen Umstände solcher Akkulturationen beschrieb Julius Eckhardt, der scharfe Beobachter der baltischen Lebenswelt, folgendermaßen: »Mit Genauigkeit festzustellen, wer der deutschen, wer der lettisch-estnischen Bevölkerung angehört, hat noch Niemand unternommen, und wird kaum jemandem gelingen, denn jährlich nimmt die Zahl derer zu, die aus dem unterworfenen in den herrschenden Stamm übergehen. Der Schulmeister, der in einem der Seminare Livoder Kurlands seine Bildung empfangen hat, der jüngere Sohn des behäbigen Bauernwirths, der in die Stadt gezogen ist, um ein Handwerk zu lernen …, der talentvolle Bauerknabe, dem die Gunst des Gutsherren oder die Freundschaft des benachbarten Pastors eine gelehrte Lauf bahn erschlossen … die Knechtstochter endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert … sie alle ändern mit dem Beruf zugleich die Na87 Die Russen in Liv-, Est- und Kurland, S. 27. 88 Quellen: Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 18; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5. Die Differenz bei den ›Sonstigen‹ bezieht sich auf unterschiedliche Aussagen zwischen Sprache und Nationalität, die 1881 3.319 Personen, 1913 7.063 Personen machten. 89 Die Russen in Liv-, Est- und Kurland, S. 49.

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tionalität und werden binnen Jahr und Tag zu Deutschen … Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche in den drei Provinzen lettischen oder estnischen Ursprungs sind, und welche Letten und Esten bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein unmögliches und – wie uns scheint – überflüssiges Unternehmen.«90

Als Eckhardt das schrieb, war der lettisch-deutsche Akkulturationsprozeß noch wenig umstritten, vergleichsweise häufig und galt als allgemein übliche Folge sozialen Aufstiegs.91 Die gemeinsame evangelische Konfession trug wesentlich dazu bei, den Übergang zu erleichtern. Die Häufigkeit des Phänomens und seine Deutung veränderten sich jedoch mit der Ausbildung einer lettischen Nationalbewegung, deren bedeutendster Protagonist, Krisjanis Valdemars, seine Karriere mit einem Türschild im Dorpater Studentenheim ›Hier wohnt ein Lette‹ begonnen hatte.92 Dieser Gruppe war die ›Germanisierung‹ bürgerlicher Letten ein Dorn im Auge, da ihnen daran lag, eine eigenständige lettische Kultur zu entwickeln. In ihrem vielgelesenen Roman ›Die Zeiten der Landvermesser‹ (›Mernieku Laiki‹) zeichnen die lettischen Nationaldichter Reinis und Matīss Kaudzīte das Bild des lettischen Emporkömmlings nach, der den deutschen Bürger in Aussehen und Habitus nachzuahmen sucht. Eine Karikatur aus diesem ersten lettischsprachigen Roman illustriert, wie die zunächst als üblich wahrgenommene Folge sozialen Aufstiegs zunehmend als negative Überschreitung ethnischer Grenzen empfunden wurde. Mit der allmählichen Ausbildung einer lettischen Kultur und eines lettischen Bürgertums ging die Häufigkeit solcher Akkulturationen zurück, obwohl sie im lettischen Identitätsdiskurs noch immer einen empfindlichen Punkt berührten: »In den baltischen Provinzen halten sich die höheren Stände fast durchweg und die mittleren zum Theil zum Deutschthum. Darnach pflegte dann der wohlhabendere oder gebildetere Lette … sich einer deutschen Vereinigung anzuschließen, welche ihn sofort germanisierte. Die Macht der deutschen Gesellschaft zu germanisieren wird auch durch die in Aussicht stehenden Reformen nicht aufgehoben werden … In Anbetracht dessen wäre es seitens der Letten die größte Unbedachtsamkeit, den Kampf 90 Eckhardt, Baltische Provinzen, S. 23f. 91 Vgl. auch v. Mensenkampff, S. 121f. 92 Vgl. Lindemuth, lettische Volkstumskämpfer. Die erste Generation lettischer Nationalisten, die gegen interethnische Übergänge und Mischformen polemisierten, darunter auch Kronvalds, war fast ausnahmslos mit deutschen Frauen verheiratet. Eine Auswertung der Eheschließungen der wichtigsten nationalen Akteure die eine Studie über weibliche Lebenswelten jüngst zusammengestellt hatte, weist nach, daß der Großteil dieser Männer deutsche Frauen geheiratet hatte und zuhause deutsch sprach. Vgl. Zelče, Nezināmā, S. 50–53. Ein primäres Motiv für diese deutsch-lettischen Ehen bürgerlichen Zuschnitts scheint in der vergleichsweise guten Schulbildung der deutschbaltischen Frauen gelegen zu haben, die diese meist akademisch gebildeten Letten mehr anzog als die zunächst noch rudimentäre Volksschulbildung der meisten Lettinnen.

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gegen das Deutschthum aufzugeben.«93 Zwar liegen für 1913 keine detaillierten Berechnungen vor, doch läßt sich davon ausgehen, daß zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der 12 000 deutsch akkulturierten Personen, welche die Statistik festhielt, lettischer Herkunft war. Damit entsprach die Zahl der lettisch-deutschen Akkulturationen im Jahr 1913 in etwa der von 1881, obgleich sich im selben Zeitraum der lettische Anteil an der Gesamtbevölkerung fast verdoppelt hatte. Parallel zur nachlassenden Anziehungskraft dieses Akkulturationstypus kam es am klein- und unterbürgerlichen Rand des deutschen Milieus jetzt auch zum umgekehrten Phänomen, nämlich zur soziokulturellen Integration von Deutschen ins lettische Milieu.

Abb. 5: Karikatur eines deutsch akkulturierten Letten von E. Brencēns (abgedruckt erstmals in Reinis und Matiss Kaudzīte, Mernieku Laiki, 1879)

Der andere, ähnlich häufige Akkulturationsprozeß war die Aufnahme von Juden in den deutschen Kulturkreis. 1881 waren von den 14 500 Personen, »welche ihrer Nationalität nach anderen Volksstämmen angehörten, sich jedoch als Deutschredende zur deutschen Cultursphäre bekannt haben«, rund 93 Baltijas Vēstnesis 17.9.1886.

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4 800 Juden gewesen.94 Die wenigen Überlieferungen Rigaer Juden belegen, daß gerade für die aus Kur- und Livland zugewanderten, beruflich erfolgreichen Juden die Annahme des Deutschen statt des Jiddischen oder Russischen als familiäre Umgangssprache und die allmähliche Integration in den deutschen Kulturkreis üblich war. Max Michelson, dessen Großvater um die Jahrhundertwende ein erfolgreicher Rigaer Holzindustrieller war, hielt die kulturelle Prägung seiner Großeltern in seinen Erinnerungen fest: »Like many Jews of Courland, my grandmother was influenced by German culture and was very outspoken in her admiration of everything German … Cultural alignment with Germany (as opposed to Russia) was typical of the Jews who were connected through service to the Baltic German gentry, often going back several generations. For Emma, as for many Jews, Germany represented emancipation – a window on Western culture and the modern world … Although my mother came from a Russian-speaking family and my father and grandmother were both fluent in Russian, at home we spoke German … Until the twentieth century Latvian was the language of peasants, not used by educated people. This attitude continued in Jewish circles even after 1918, when Latvia became an independent state.«95

Im Gegensatz zu den deutsch akkulturierten Letten, die von den Deutschen bald als Teil der Ihrigen wahrgenommen wurden, beschränkte sich die Akkommodation deutsch-sprechender Juden auf die gemeinsame Kultur, erstreckte sich jedoch nicht auf das Milieu und dessen personelles Rückgrat, die Vereinskultur. Der Grund dafür war vor allem die unterschiedliche Religion, die von beiden Seiten als nicht überbrückbare Barriere einer weitergehenden Integration wahrgenommen wurde: »Da speciell die Juden an ihrer besonderen Confession, an der sie viel zäher festhalten als an ihrer jüdischen Sprache, einen national unterscheidenden Besitz haben, welche eine völlige Verschmelzung mit jeder anderen Nationalität verhindert, so kann ihr eventueller Übergang zu einer anderen Cultursphäre nur ein äußerlicher sein.«96 Bikonfessionelle Ehen gab es kaum, Taufen praktisch gar nicht. Kulturelle Überlappungen erfuhren im jüdischen Falle durch konfessionelle Festlegungen eine stabile Begrenzung und wuchsen sich nicht, wie es im lettischdeutschen Fall häufig vorkam, zu tatsächlicher Assimilation aus. Seltener kam der Fall vor, daß Russen sich ins deutsche Milieu akkulturierten. Von den 32 094 Personen, die 1881 als ›Nationalität‹ die russische angaben, hatten 31 976 das Russische auch als ihre Umgangssprache angegeben.97 Die wenigen Fälle einer deutschen Akkulturation wurden von der rechtsnationalistischen russischen Presse zwar besonders häufig thema94 95 96 97

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Die Russen in Liv-, Est- und Kurland, S. 49. Michelson, S. 11. Zeitung für Stadt und Land 21.8.1883. Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 18.

tisiert, blieben aber in der Realität ein marginales Phänomen mit abnehmender Tendenz. Nicht zuletzt stand auch hier die konfessionelle Verschiedenheit tiefergehender Akkulturation im Wege. Vergleichsweise üblich war dagegen die Akkulturation von Engländern ins deutschbaltische Milieu. Quantitativ war dieses Phänomen völlig randständig, da es sich ausschließlich um bürgerliche, meist wohlsituierte Männer handelte, die aufgrund ihrer Handelsinteressen oder ihrer technisch-industriellen Qualifikation nach Riga gekommen waren und dort problemlos Eingang in das gesellschaftliche Leben des deutschbaltischen Bürgertums fanden. Zum Kern des deutschen Milieus avancierten beispielsweise die Söhne und Enkel des 1812 nach Riga eingewanderten Engländers George Armitstead, der hier im Flachshandel ein Vermögen erwirtschaftet und in eine deutschbaltische Patrizierfamilie eingeheiratet hatte: »Die anderen Brüder, darunter E. Armitsteads Vater, blieben in Riga. Es waren imposante Erscheinungen, die jedermann in der auf blühenden Handelsstadt kannte. Hatte die ältere Generation noch ein mehr oder weniger englisches Gepräge, so verschmolz die jüngere – trotz britischer Bürgerschaft – vollkommen mit dem Deutschthum. Dieser bei Eingländern höchst seltene Verdeutschungsprozeß ist sehr bezeichnend für die … kulturelle Anziehungskraft des Baltentums, in dem Menschen aller Nationalitäten – auch Russen – aufgingen.«98 Waren englisch-deutsche Akkulturationsprozesse von der Zahl her auch gering, spielten sie doch in kultureller Hinsicht eine nicht unerhebliche Rolle, da technische Errungenschaften und soziale Reformen Englands auf diesem Wege ins deutsche Stadtbürgertum hineinwirkten und nicht zuletzt auch dessen liberale Bewegung nach 1900 beeinflussen sollten. Die ethnischen Verschiebungen blieben nicht ohne Auswirkung auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung, welche Tabelle 5 zeigt: Tab. 5:

Konfessionelle Zusammensetzung Rigas 1867–1913 (prozentual)99

Jahr

Protestanten

Orthodoxe

Katholiken

Juden

Sonstige

1867 1881

62,5 62,9

26,0 17,6

6,2 6,0

5,1 11,9

0,2 1,6

1897 1913

62,6 51,3

17,3 21,2

10,0 19,6

8,5 7,0

1,6 0,9

Die Veränderung der konfessionellen Anteile war in erster Linie eine Folge der Zuwanderung. Während die Migranten der 1860er, 1870er und 1880er Jahre primär lettische Protestanten aus Kur- und Livland waren, wanderten 98 v. Mensenkampff, S. 265f. 99 Quelle für Tabelle 6: Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 16.

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seit den 1890er Jahren zunehmend katholische Polen und Litauer zu. Die Gruppe der Orthodoxen, welche die lokalen Russen sowie Zuwanderer aus den weißrussischen, ukrainischen und sonstigen innerrussischen Provinzen umfaßte, ging zwar prozentual zurück, verdoppelte sich zwischen 1867 und 1913 aber in absoluten Zahlen. Der zunächst erhebliche Zustrom von Juden rührte primär aus der Erleichterung der Zuzugsmöglichkeiten her. Als sie unter Alexander III. wieder erschwert wurden, ging die jüdische Zuwanderung entsprechend zurück. Insgesamt verdeutlichen die Zahlen, daß die große Wanderung die Dominanz der protestantischen Mehrheitskonfession verminderte und einer stärkeren religiösen Vielfalt Platz machte. Auch in konfessioneller Hinsicht traten jedoch Abweichungen auf, die der Vorstellung religiöser Einheitlichkeit und damit auch dem Bild geschlossener religiöser Gruppen widersprechen. Am signifikantesten war in Riga die innerkonfessionelle Spaltung der Orthodoxen in Rechtgläubige und Altgläubige, sogenannte Raskolniken.100 1867 hatten sich von rund 27 000 Orthodoxen 7 600 zum ›Alten Glauben‹ bekannt, 1913 taten dies von 105 000 Orthodoxen rund 16 000.101 Prozentual reduzierte sich der Anteil der Altgläubigen an der gewachsenen Gruppe der Orthodoxen damit von 28% (1867) auf 15% (1913). Die Existenz einer solchen großen Gruppe Altgläubiger im lutherisch geprägten Riga war ein Resultat des unterschiedlichen Umgangs mit religiösen Minderheiten innerhalb des russischen Vielvölkerreichs. Nach der Spaltung der orthodoxen Kirche in der Mitte des 17. Jahrhunderts sah sich jene Minderheit, die den von Nikon postulierten ›Neuen Glauben‹ ablehnte und am alten Ritus festhielt, massiver Repression ausgesetzt. Ein Teil floh in die Ostseeprovinzen, die damals unter schwedischer Herrschaft standen und deren Verwaltungseliten in religiösen Dingen tolerant waren. Auch nach der Eroberung durch den russischen Zaren führte die religiöse Autonomie, die dem Rigaer Magistrat zugestanden worden war, zur kontinuierlichen Duldung der Altgläubigen. Die Gründung eigener Schulen, die ihnen im übrigen Rußland verwehrt war, wurde ihnen hier zugestanden. Doch der Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts, der in der orthodoxen Kirche ebenso auftrat wie in der evangelischen und katholischen, verschlechterte das Verhältnis der Altgläubigen zum orthodoxen Klerus wie auch zur russischen Gesellschaft Rigas. Die Tatsache, daß altgläubige Schulen jetzt geschlossen werden mussten, verstärkte die gesellschaftliche und kulturelle Absonderung noch weiter: »Durch stete gewaltsame Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Gemeinde, ganz besonders aber durch gewaltsame Salbungen unter den jüngeren Gliedern derselben, hatte 100 Vgl. Hildermeier, Alter Glaube. 101 Vgl. Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 104; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 5.

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die griechische orthodoxe Geistlichkeit es dahin gebracht, dass die Sectierer Alles, was den russischen Namen trug und von der Regierung herstammte, mit feindseligem Misstrauen ansahen, und nur zu den deutschen Behörden und Autoritäten Vertrauen zeigten.«102 Erst durch die Nationalisierungsbestrebungen des russischen Milieus wurden die konfessionellen Schranken zwischen Altgläubigen und Rechtgläubigen gegen Ende des 19. Jahrhunderts niedriger. Ihre trennende Wirkung verloren sie vor 1914 jedoch nicht. Die ethnische Zusammensetzung Rigas, die sich auf der Grundlage detaillierter Volkszählungen genau erfassen ließ, verdeutlicht über das singuläre Beispiel hinaus allgemeine demographische Tendenzen in multiethnischen und multikulturellen Räumen Europas. Ebenso wie sich erhebliche Teile der Bevölkerung Rigas eindeutig definierten ethnischen Einheiten zuordneten, gab es daneben Gruppen, deren Vertreter das nicht taten, sondern Mischformen bevorzugten und ihre ethnische Zugehörigkeit multipel ausdrückten. Ob die Umgangssprache innerhalb der Familie oder der subjektive Abstammungsglaube die jeweilige ›Nationalität‹ markiere, blieb unter den Zeitgenossen umstritten und war nicht zuletzt eine Frage unterschiedlicher Erfahrungen, Interessen und Erwartungen. Die definitorische Mehrdeutigkeit des Nationalitätsbegriffs, die das Rigaer Beispiel dokumentiert, weist auf den variablen Charakter dieser Zuschreibung hin und auf ihre zeitliche und räumliche Gebundenheit an den jeweiligen historischen Kontext. Der Druck der Nationalisierungsprozesse, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten, veränderte die tendenziell von ethnischer und kultureller Vielfalt und Unschärfe geprägte Ausgangslage und ließ die vormals recht durchlässigen Grenzen zwischen den ethnischen Gruppen fester werden. Kulturelle Mischformen und multiple Identitäten verschwanden zwar nicht, verloren aber an Häufigkeit. Vor allem wurden sie von den Zeitgenossen neu gedeutet. War die lettische Akkulturation ins deutsche Stadtbürgertum vor 1860 als eine normale Folge sozialen Aufstiegs betrachtet worden, so galt sie danach zunehmend als Überschreitung ethnischer Grenzen und wurde als ›Verrat am Volkstum‹ negativ gewertet. Was begann, war die Formierung ethnischer Milieus.

3. Von der Handelsstadt zur Industriemetropole Hatten die Zeitgenossen die geschäftige, aber traditionell geprägte Handelsstadt zu Beginn der 1860er Jahre noch als Teil eines ›livländischen Stillebens‹ begriffen,103 erschien sie ihnen vier Jahrzehnte später als Inbegriff einer mo102 Eckhardt, Geschichte der russischen Altgläubigen, S. 239. Vgl. auch Manning. 103 Vgl. Eckhardt, Baltische Provinzen, S. 398.

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dernen Industriemetropole: »Die neueste Gesetzgebung und die gesamte capitalistische Tendenz unseres modernen Wirtschaftslebens … begünstigen unbestreitbar die Großindustrie zum Nachtheile des Landbaus. Wohl ein Jeder, der sich in Riga umgethan hat, wird willig bestätigen, dass sich unsere Handelsstadt seit den letzten Jahren mehr und mehr in eine Industriestadt verwandelt. Uns ist diese Thatsache mit ihren Folgeerscheinungen neu und fremd … in Westeuropa dagegen sind solche Wandlungen bereits längst bekannt und befremden daher dort Niemand.«104 In den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts hatte der traditionelle Handel mit Flachs, Holz, Leinsaat und Getreide die lokale Wirtschaft dominiert. In den Jahrzehnten vor 1914 war dagegen die Produktion moderner Maschinen und chemischer Güter zum Wachstums- und Beschäftigungsmotor der Halbmillionenstadt geworden. Der Erfolg der städtischen Industrialisierung zeigte sich darin, daß Riga am Anfang des 20. Jahrhunderts zur umsatzstärksten Hafenstadt des gesamten Zarenreichs, weit vor St. Petersburg und Odessa, geworden war.105 Die ungewöhnlich erfolgreiche Industrialisierung der Stadt innerhalb weniger Jahrzehnte wirft Fragen auf, welche die besonderen Erkenntnisinteressen dieser Studie mit allgemeinen Tendenzen der neueren Wirtschaftsgeschichte verknüpfen. Denn die Forschung hat sich von der Konzentration auf Staaten und nationale Volkswirtschaften seit einiger Zeit gelöst und schenkt der regionalen und lokalen Differenzierung von Wachstumsprozessen verstärkte Aufmerksamkeit.106 Ebenso suchen Historiker gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen und Begleiterscheinungen zunehmend in wirtschaftshistorische Fragestellungen zu integrieren, wenn solche Versuche auch erst in den Anfängen stecken. Vor diesem Hintergrund interessiert einmal, welche Faktoren die Industrialisierung in Riga vorantrieben, wobei die Aufmerksamkeit vor allem dem Zusammenspiel unterschiedlicher Ursachen und Triebkräfte gilt. Sodann wird herausgearbeitet, welche Leitindustrien die wirtschaftliche Modernisierung vorantrieben und welche Rolle Handel, Handwerk und Banken dabei zukam. Das besondere Interesse dieser Studie an den Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen legt es schließlich nahe, dem jeweiligen Anteil dieser Gruppen am industriellen Wachstum nachzugehen. Wer investierte, wer profitierte und wer tat das weniger? Und welche Auswirkungen hatte der jeweilige Anteil an der industriellen Prosperität auf das Verhältnis zum Staat, der die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns zunehmend zu bestimmen suchte? 104 Rigasche Rundschau 7.2.1898. 105 Vgl. v. Gernet, S. 16. 106 Der wegweisende Impuls dazu ging von Pollards Aufsatz ›Industrialization and the European Economy‹ aus; vgl. zum Forschungsstand Hahn, S. 98ff.

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Der Wandel zur Industriemetropole wurde maßgeblich durch den Bau zahlreicher Eisenbahnstrecken stimuliert. Die treibende Kraft hinter diesen Projekten, die zunächst von der Stadt und den Ständen finanziert wurden, war das 1816 gegründete Rigaer Börsenkomitee, das die Aufgaben einer Industrie- und Handelskammer wahrnahm. Zu seinen Mitgliedern zählten auch zahlreiche englische Ingenieure und Kaufleute, welche die industrielle Entwicklung in Westeuropa mit Interesse verfolgten und auf ihre Übertragung in den Nordosten Europas zu prüfen begannen: »Das Börsencomité steht von da ab an der Spitze der Fortschrittsbestrebungen, welche, von der baltischen Metropole aus, die Errungenschaften westeuropäischer Kultur auf den vaterländischen Boden zu verpflanzen trachteten.«107 Bereits in den 1850er Jahren hatte das Börsenkomitee eine private Aktiengesellschaft mit dem Bau einer Linie ins südöstliche Dünaburg beauftragt, welche Riga 1861 über Dünaburg mit Warschau und St. Petersburg verband.108 1868 wurde eine Bahnlinie nach Mitau fertiggestellt, die die Verbindung zu den südwestlichen Gouvernements des Zarenreichs ermöglichte. Beide Projekte waren in enger Zusammenarbeit mit englischen Ingenieuren und Kapitalgebern durchgeführt worden, die dadurch zunehmend im deutschbaltischen Milieu Aufnahme fanden. Hatte der Staat zunächst als Bedenkenträger agiert, begann er den Strekkenausbau seit den 1870er Jahren zu unterstützen. 1871 wurde eine Linie nach Tsaritsin im Wolgagebiet eröffnet, 1889 eine Strecke nach Pleskau mit direktem Anschluß nach Moskau fertiggestellt, und 1901 erfolgte der Anschluß an die Transsibirische Eisenbahn. Die Fülle neuer Schienenwege eröffnete Riga den Zugang zu bisher ungenutzten Rohstoffen und Absatzmärkten, von denen Industrie und Handel in höchstem Maße profitierten: »Die Eisenbahn … erweiterte den Blick und führte denselben über die engen Grenzen des bisherigen Gesichtskreises weit hinaus – sie durchbrach die Scheidewand, die das Ostseegebiet von dem weiten Reiche trennte und führte Riga dem Weltverkehr zu. Sie inaugurierte eine neue Zeit, dem ganzen Reiche zum Gewinn, und bald schloß sich ein Schienenweg dem anderen an, jeder schob die Grenzen des Rigaer Handelsgebiets weiter vor und heute tauschen Ostsee, Wolga und das schwarze Meer im Wechselverkehr ihre Schätze aus.«109 Außer einem gut ausgebauten Eisenbahnnetz verfügte die Stadt über eine Fülle geeigneter Arbeitskräfte. Die Zuwanderung der lettischen Landbevölkerung versorgte Riga seit den 1860er Jahren mit einem reichen Angebot meist gut ausgebildeter Arbeiter, die wenig saisonalen Wanderungen unter107 Hermann v. Stein, Das Rigaer Börsen-Comitee in den Jahren 1816–1866, Riga 1866, zitiert nach Stieda, Livländisches Bankwesen, S. 8. 108 Vgl. Riga-Dünaburger Eisenbahn. 109 Ebd., S. 24.

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worfen waren. Die Güte der lettischen Industriearbeiterschaft pries nicht nur das französische Bankhaus Credit Lyonnais als »himmelweit überlegen, was Ausbildung und Zähigkeit angeht, im Vergleich zu ihrem russischen Gegenstück«.110 Auch der deutsche Konsul in Riga berichtete nach Berlin, daß »die meisten von den in der Textilindustrie beschäftigten Arbeitern Letten sind, die als fleißig und strebsam gelten und in den Gemeinde- und Kirchenschulen eine nicht unerhebliche Elementarbildung erhalten haben. Besonders die lang bestehenden Betriebe haben sich einen Stamm von geschickten einheimischen Arbeitern bis hin zum Werkmeister herauf erzogen.«111 Neben einer protestantisch geprägten und überwiegend alphabetisierten lettischen Arbeiterschaft bildete sich eine marktwirtschaftlich denkende Unternehmer- und Managerschicht heraus, die primär aus Deutschen bestand. Ihre Formierung und politische Ausrichtung ist von der Forschung, die sich auf die deutschbaltische Intelligenz und den Adel konzentriert hat, bisher kaum zur Kenntnis genommen worden.112 Denn ähnlich wie das für das mitteleuropäische Stadtbürgertum beobachtet wurde, verhinderten ständische Überhänge im politischen und gesellschaftlichen Raum auch in Riga keineswegs die Adaption bürgerlicher Leitbilder im ökonomischen Bereich.113 Die städtischen Firmenregister belegen vielmehr, in welchem Ausmaß gerade die Söhne der alteingesessenen deutschen Kaufmannschaft dazu übergingen, eigene Industrieunternehmen zu gründen, in Aktiengesellschaften zu investieren oder als Manager großer Firmen tätig zu werden. So gründete Alexander Ruhtenberg, ein Kaufmann der Ersten Gilde und damit jener ständischen Korporation, deren Mitglieder den Kern des älteren Stadtbürgertums ausgemacht hatten, 1889 die Ruhtenberg AG, welche mit der Verarbeitung von Schwefelsäure und Sulphat Millionen umsetzte.114 Männer, die zur Elite der Stadt zählten, wie Hartwig Baron Bistram und Robert Erhardt, der spätere Dumaabgeordnete der Baltischen Konstitutionellen Partei, begegneten sich im Direktorium der Maschinenfabrik Atlas, die ihre Produkte im ganzen Zarenreich vertrieb.115 Auch unter den Geschäftsführern der 1870 gegründeten Richard Pohle AG, die Dampfmaschinen und Dampf kessel her110 Zitiert nach Henriksson, Loyal Germans, S. 72. 111 Bericht des deutschen Consulats Riga, abgedruckt in Düna-Zeitung 15.8.1902. 112 Nur die Studie Henrikssons, Loyal Germans, weist erstmals auf die Herausbildung des deutschen Wirtschaftsbürgertums hin. Wittram, Baltische Geschichte, und v. Pistohlkors, Baltische Länder, gehen darauf kaum ein. 113 Exemplarisch für den lokalen Fall: Hernmarck; entsprechende Belege für Mitteleuropa v.a. bei: Gall, Stadt und Bürgertum im Übergang; ders., Bürgerliche Gesellschaft; vgl. auch Kocka, Bürgertum. 114 Vgl. Führer durch das industrielle Riga, S. 68; Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 262. 115 Vgl. Führer durch das industrielle Riga, S. 47; Henriksson, Loyal Germans, S. 117.

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stellte, waren Mitglieder der alten Elite ebenso vertreten wie Angehörige des neuen Mittelstands.116 Die Herausbildung einer dynamischen Unternehmerschicht, die sich im übrigen Zarenreich tendenziell erst in den 1890er Jahren beobachten läßt,117 ging in Riga maßgeblich auf das Vorhandensein eines selbstbewußten Stadtbürgertums zurück, das weitgehende Autonomie und Selbstverwaltung gewohnt war und diese Tradition selbstverantwortlichen Handelns auf den dynamischen wirtschaftlichen Sektor übertrug. Ein kontinuierlicher Kultur- und Wissenstransfer mit Deutschland und England, deren industrielle Technologien, Produkte und Organisationsformen die deutschbaltischen Manager beobachteten und nachzuahmen suchten, trug dazu bei, Riga vor allem für deutsche und englische Investoren besonders attraktiv zu machen. Diese Wechselwirkung, die ein spezifisches Merkmal des Rigaer Industrialisierungsprozesses darstellte, stach dem reichsdeutschen Konsul Ohnesseit bei der lokalen Textilindustrie besonders ins Auge: »Die gewaltige Zollmauer, die die Erzeugnisse der ausländischen Textilindustrie vom Eindringen nach Rußland zurückhält … hat seitdem mehr und mehr ausländische, insbesondere deutsche und englische Industrielle veranlaßt, in Livland und Kurland eigene Fabriken zu gründen. Es stellt sich die Textilindustrie … als eine Verpflanzung der deutschen und englischen Industrie auf russischem Boden dar, um über die Zollmauer hinwegzukommen. Die Gründer, das Grundkapital, die Abtheilungsvorstände, die Maschinen, entstammen überwiegend dem Ausland. An den ausländischen Kern haben sich im Laufe der Zeit auch einheimische Industrielle germanischer Herkunft und einheimische Capitalien ankrystallisiert. Sämtliche Anlagen sind nach englischem System eingerichtet. Die gegenwärtigen Leiter der Betriebe besitzen durchweg eine … vorzügliche Fachbildung, widmen ihre ganze Kraft dem Unternehmen, verfolgen aufmerksam alle Neuerungen in Westeuropa. Die kaufmännischen Leiter insbesondere studieren eifrig den russischen Markt und suchen sich seinen Anforderungen anzupassen.«118

Das deutschbaltische Wirtschaftsbürgertum hatte auch die Gründung einer akademischen Institution vorangetrieben, die genau jene Fachkenntnisse vermittelte, die für den Erfolg der städtischen Industrie unverzichtbar waren. Bei der Gründung des ›Baltischen Polytechnikums‹ im Jahr 1861, das zu den ersten Technischen Hochschulen Russlands gehörte, waren wiederum westliche Vorbilder und Verbindungen ausschlaggebend gewesen. Der englische Vorsteher des Börsenkomitees, James Maurice Cummings, der die Gründung der neuen Hochschule vorantrieb, bemühte sich um einen engen Erfahrungsaustausch mit deutschen Hochschulen.119 Mit dem Balti116 Vgl. Führer durch das industrielle Riga, S. 65; Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 174. 117 Vgl. Bater, S. 213ff. 118 Bericht des deutschen Consulats Riga, abgedruckt in: Düna-Zeitung 15.8.1902. 119 Vgl. Hernmarck, S. 58 f.

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schen Polytechnikum verfügte Riga über eine bald reichsweit bekannte und frequentierte Ausbildungsstätte, die der Stadt jene Ingenieure und Physiker, Maschinenbauer und Chemiker vermittelte, welche die rasch expandierenden neuen Industrien dringend benötigten. So war es dem späteren Nobelpreisträger für Chemie, Wilhelm Ostwald, einem deutsch akkulturierten Letten, zu verdanken, daß die von ihm geleitete Chemische Abteilung zu einer der modernsten Lehr- und Forschungsstätten des gesamten Zarenreichs avancierte, deren Absolventen von den lokalen Unternehmen bevorzugt rekrutiert wurden.120 Auf die Existenz einer risikobereiten, leistungs- und finanzstarken Unternehmerschicht ging auch die Bereitstellung ausreichenden Kapitals zurück. Die Ortskenntnisse des deutschbaltischen Wirtschaftsbürgertums und seine europaweiten Geschäftsverbindungen begünstigten die Bereitschaft ausländischer Investoren, in die entstehende Industrie Rigas zu investieren. Aber auch die deutschbaltischen Eliten waren daran interessiert, ihr Vermögen in den neuen Wachstumsbranchen anzulegen. Notwendig wurde der Auf bau eines effektiven Bankwesens, das den Zufluß und die Verfügbarkeit flüssigen Kapitals gewährleistete. Ebenso wie der Eisenbahnbau und die Gründung des Polytechnikums ging auch die Initiative zur Eröffnung der Börsenbank, Rigas erster kommerzieller Bank, vom städtischen Börsenkomitee aus: »Der Wunsch, ihren Geschäftskreis nicht auf unsere Stadt und Kaufmannschaft allein beschränkt, sondern auf das gesamte beteilbare Publicum unserer Provinzen ausgedehnt zu sehen«, motivierte die deutsche Wirtschaftselite dazu, »ein Kreditinstitut zu schaffen, das auf liberaler Grundlage und mit einer Verwaltung nach rein kommerziellen Prinzipien die volle Befähigung habe, im allgemeinen Interesse des Handels und der Produktion festliegendes Kapital zu mobilisieren und den Kreditumlauf zu erleichtern.«121 Der 1864 gegründeten Börsenbank folgte 1871 die Rigaer Kommerzbank, deren Aktionärskreis neben zahlreichen lokalen Engländern, wie den Unternehmern John und Alfred Armitstead, auch deutschbaltische Bankiers sowie das Hamburger Bankhaus Berenberg & Goßler und das Moskauer Handlungshaus Wogau & Co umfaßte.122 In den nächsten Jahren wurden weitere Privatbanken und Sparkassen gegründet, wogegen staatliche Institutionen im baltischen Kreditwesen eine Randerscheinung blieben: »Im Gegensatz zum gesamtrussischen Bankwesen, welches sich anfangs ausgesprochen staatlich entwickelte, nahm also das Bankwesen Livlands andere Wege: das kommunale und ständische Moment und dann die genossenschaftliche und rein private Initiative geben ihm seine Signatur. Auch heute ist der staat120 Vgl. Ostwald. 121 Vgl. Stieda, Livländisches Bankwesen, S. 188f. 122 Vgl. ebd., S. 323.

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liche Einschlag ein relativ nicht sehr großer: ganz Livland mit seinem regen Geld- und Kreditverkehrt hat nur eine Reichsbankabteilung.«123 Besonders augenfällig an dem differenzierten Kreditwesen der Stadt war seine ethnische Segmentierung. Während deutschbaltische Unternehmer ihre Bankgeschäfte ausschließlich mit einer der drei deutschen Banken abwickelten, gruppierten sich russische Geschäftsleute um die 1869 gegründete »Dritte Gesellschaft gegenseitigen Kredits … deren Mitglieder fast ausschließlich, die Direktoren sämtlich der russischen Nationalität angehören.«124 Den Bedarf an Kleinkrediten, welche die Letten zur Gründung von Handwerk und Gewerbe benötigten, wurde dagegen von einer Fülle rasch entstehender lettischer Kreditkassen gedeckt, deren nationale Motivation eine zeitgenössische Bankenstudie besonders hervorhob: »Unseres Erachtens nach werden gerade die mehr oder weniger von nationalen Momenten ins Leben gerufenen Gesellschaften in der nächsten Zeit ein Periode des Aufschwungs zu verzeichnen haben – die nationalen Momente spielen in Livland infolge der Konkurrenz dreier Nationalitäten auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine hervorragende Rolle – doch allmählich werden sie wohl von einer größeren Konzentrationsbewegung größtenteils absorbiert werden.«125 Auch jüdische Industrielle und Kaufleute verfügten über ein bevorzugtes Kreditinstitut, die Nordische Gesellschaft gegenseitigen Kredits, in dessen Management und Aufsichtsrat fast ausschließlich Mitglieder des jüdischen Bürgertums wie der Anwalt Paul Mintz und die Holzindustriellen Leib Berlin und E. Schalit saßen.126 Abweichend von der im übrigen Rußland und im Deutschen Reich typischen Bankenkonzentration bewirkte die zunehmende Nationalisierung von Stadt und Region in den baltischen Provinzen eher eine Ausdifferenzierung des Bankgewerbes. Zwar waren die Bedürfnisse weitgehend identisch, doch wollten sie zunehmend getrennt befriedigt werden. Ein weiterer Faktor, der die Entwicklung Rigas zur Industriemetropole maßgeblich begünstigte, war die staatliche Wirtschaftspolitik. Seit dem Beginn der 1880er Jahre schwenkte die russische Regierung, ähnlich wie die meisten westlichen Industrienationen, auf eine protektionistische Wirtschafts- und Zollpolitik ein, die durch hohe Zölle und Begünstigung der eigenen Industrie das nationale Wachstum anzukurbeln hoffte.127 Die hohen Einfuhrzölle, die unter dem neuen Finanzminister Sergei Graf Witte eingeführt wurden, hatten zum einen zur Folge, daß ausländische Firmen in Rußland eigene Niederlassungen gründeten, um das riesige Reich als Absatzmarkt nicht zu verlieren. 123 124 125 126 127

Ebd., S. 481. Ebd., S. 390. Ebd., S. 401. Vgl. Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 183. Vgl. Gatrell.

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Aufgrund seiner günstigen Ausgangsbedingungen wurde Riga dabei zu einem favorisierten Standort. Zum anderen wuchsen die russischen Absatzmärkte durch die forcierte Industrialisierung so sehr, daß der Großteil der in Riga hergestellten Fertigprodukte zunehmend im Inneren des Reichs abgesetzt wurde. Immer häufiger trat dabei der Staat als Nachfrager in Erscheinung. Sein rapide wachsender Bedarf an Eisenbahnschienen und Waggons beispielsweise wurde primär von Rigaer Firmen gedeckt. Die russische Reichsregierung trieb aber auch die Erschließung von Rohstoffen voran, weshalb große Teile des früher teuer importierten Rohmaterials wie Eisen, Stahl oder Kohle jetzt preisgünstiger und praktischer aus dem Reichsinneren in die nordwestliche Peripherie geliefert werden konnten. Schließlich war auch die neue Währungspolitik des Finanzministers Witte für die Rigaer Wirtschaft vorteilhaft. Von besonderem Nutzen für den ausländischen Absatz erwies sich der 1897 erfolgende Übergang vom Papierrubel zur Goldwährung, welche den unberechenbaren Schwankungen der russischen Valuta ein Ende machte. Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Ursachen, Triebkräfte und Rahmenbedingungen – ein gut erschlossenes Eisenbahnnetz, eine qualifizierte Arbeiterschaft und eine innovative, westlich orientierte Unternehmerschicht, eine exzellente Ausbildungsstätte, das notwendige Kapital und eine industriefreundliche staatliche Politik – trieben den Funktionswandel Rigas vom traditionellen Handelsplatz zum produzierenden Industriezentrum maßgeblich voran. Auch die Zeitgenossen waren sich durchaus bewusst, daß entscheidende Impulse für die Entwicklung und Wechselwirkung dieser stimulierenden Faktoren von der multiethnischen Struktur der Stadt ausgingen: »Gerade unsere Stadt Riga erwies sich als ein vorzüglich geeigneter Platz für solche Filialen (namentlich deutscher … Stammfabriken), da der billige Seetransport der zur Fabrikation nötigen ausländischen Materialien und die teils auf gleichem Weg nach dem Süden Rußlands gehenden Waren Vorteile boten, zu welchem noch die bequeme Beschäftigung inländischer, deutschsprechender Arbeiter kam; auch fanden sich in Riga mehrfache ›Kapitalisten‹, welche sich gern an den neuen Rigaer Fabriken betheiligten; auch konnte die hiesige technische Hochschule den Bedarf an Ingenieuren decken. Auf diese Weise ist hier seit dem Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine blühende Industrie entstanden und stetig gewachsen, welche es durch Fleiß und Umsicht und durch Lieferung von Fabrikaten erster Güte gelungen ist, mit ihren Erzeugnissen immer weitere Gebiete Rußlands zu ihrem Absatzmarkt zu gewinnen.«128

Wie überall in Europa übernahmen auch in Riga einzelne Branchen Leitfunktionen, von denen die Gesamtwirtschaft binnen kurzem maßgeblich bestimmt wurde. Die Kennzeichen solcher Führungssektoren bestanden nicht nur darin, daß sie meist grundlegende technische Innovationen auf128 Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft 3, S. 32.

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wiesen, neue Produktionsformen schufen und eine hohe Produktivität verzeichneten. Sie kurbelten darüber hinaus auch die Nachfrage von anderen Gütern an, so daß andere Bereiche der Wirtschaft von ihrem Leistungsangebot ebenfalls profitierten und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich verbesserten.129 War das in England die Baumwollindustrie gewesen und in Deutschland die Eisen- und später die Elektroindustrie, der Maschinenbau und der Steinkohleabbau, so stellte im agrarisch geprägten Rußland die Rohstoffgewinnung und -verarbeitung von Baumwolle, Eisen und Stahl einen solchen Leitsektor dar.130 In Riga dagegen avancierten Industrien zu Leitbranchen, die auf hochwertigen Verarbeitungstechniken basierten und für das Zarenreich eher untypisch waren. Der lokale Industrialisierungsprozeß erschließt sich dank einer dichten Quellenlage, die zum einen auf die jährliche Handelsstatistik zurückgeht, welche seit 1866 im Auftrag des Rigaer Börsenkomitees erstellt wurde. Zum anderen sind detaillierte Verzeichnisse und Beschreibungen der lokalen Gewerbe- und Industrieunternehmen erhalten, die meist aus Anlaß der wiederkehrenden Gewerbeausstellungen entstanden.131 Diese Daten erlauben es, die städtische Industrie zunächst nach Branchen zu differenzieren. Der Vergleich zweier Eckdaten, der Jahre 1879 und 1913, verdeutlicht, wie sich die Anteile der Branchen in diesem Zeitraum verschoben. Tab. 6: Anteile der einzelnen Branchen an den Rigaer Industriebetrieben 1879 und 1913132 Branche Textilindustrie Holz/Papier Maschinenbau/Metallverarbeitung Chemische Industrie Nahrungs-/Genußmittel Steine/Erden

1879 21,4 21,4 13,1 7,6 31,7 4,8

1913 8,8 25,5 30,0 12,3 16,4 7,0

Während die eher traditionellen Branchen wie Textilindustrie und Konsumgüter erheblich an Gewicht verloren, verdoppelte sich die Zahl der Unternehmen vor allem in den ›neuen‹ Industrien, im Maschinenbau, in der 129 Vgl. Hahn, S. 108f. 130 Vgl. Gatrell. 131 Vgl. Ergebnisse der Rigaer Handelsstatistik 1866–1885, 1888–1895, 1896–1914; Ergebnisse der Rigaer Gewerbezählung 1884; Firmenregister der Stadt Riga 1880–1914; Führer durch das industrielle Riga; Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas. 132 Quellen s. Anm. 131 sowie v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 134ff.; Rīga, hg. von Krastiņš. S. 43, 158. Als Berechnungsgrundlage dient die Gesamtzahl aller industriellen Betriebe.

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Metallverarbeitung und in der Chemischen Industrie. Außer dem Anteil der jeweiligen Branchen an den städtischen Unternehmen können auch die entsprechenden Anteile am städtischen Gesamtumsatz den Wandel der industriellen Schwerpunkte belegen. Tab. 7: Anteile der einzelnen Branchen an Beschäftigtenzahl und Umsatz der Rigaer Industrie 1879 und 1913133

Branche

Anteil der Beschäftigten 1879 1913

Anteil am Gesamtumsatz 1879 1913

Textilindustrie Holz/Papier

20,1 27,4

13,6 13,5

17,0 29,2

12,0 11,3

Maschinenbau/Metallverarbeitung

18,4

34,1

16,7

24,8

3,0

23,9

5,4

39,2

19,0 12,1

7,2 7,7

26,7 5,0

8,9 3,8

Chemische Industrie Nahrungs-/Genußmittel Steine/Erden

Ins Auge fällt zunächst das rapide Wachstum der chemischen Industrie. Innerhalb von 34 Jahren versiebenfachte sie ihren Anteil am städtischen Gesamtumsatz; ähnlich stark stieg die Beschäftigtenzahl. Eine zweite Wachstumsbranche war der Maschinenbau. Dieser Industriezweig erhöhte seinen Anteil am Gesamtumsatz um die Hälfte, während die Beschäftigtenzahl sich verdoppelte. Die Umsatzanteile der neuen Leitbranchen illustrieren, in welchem Maße Maschinenbau und Chemie die eher herkömmlichen Industrien wie Textil- und Holzverarbeitung zurückdrängten. Warum diese neuen Industriezweige in Riga so erfolgreich waren und Leitfunktionen ausübten, die ihnen im übrigen Zarenreich nicht zukamen, kann der Blick auf konkrete Unternehmen erklären. Ein Flaggschiff des Rigaer Maschinenbaus war die 1869 gegründete Russisch-Baltische Waggonfabrik, die im Zuge der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie nach Dünaburg gegründet wurde.134 Zunächst war das Kölner Unternehmen van den Zypen & Charlier von der regionalen Eisenbahngesellschaft mit der Lieferung einer großen Anzahl von Waggons beauftragt worden, doch deren Besitzer entschlossen sich, die Fertigung in Riga selbst zu betreiben und gründeten zu diesem Zweck ein lokales Werk. Waren die notwendigen Zulieferteile zunächst von der deutschen Stammfabrik geliefert worden, erlaubte die Qualität der Rigaer Produktion bald die loka133 Quellen s. Anm. 131 und 132. 134 Vgl. Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft 3, S. 49ff.

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le Herstellung und hauseigene Montage aller Waggonteile. Seit der Mitte der 1870er Jahre drehte sich das Verhältnis dergestalt um, daß die Rigaer Tochterfabrik Zulieferteile preiswert nach Köln lieferte und selbst mit dem Bau von Personenzugwagen begann. Der Ausbau des lokalen Waggonbaus hatte eine rege Nachfrage nach Gütern anderer Branchen, vor allem der Metallverarbeitung, zur Folge. Leitung und Management der rasch expandierenden Russisch-Baltischen Waggonfabrik lag in deutschbaltischen Händen, während das Kapital zunächst aus dem Deutschen Reich kam. 1894 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren Hauptaktionäre Rigaer Deutsche, der lokale jüdische Industrielle Schaje Berlin sowie russische Investoren aus St. Petersburg waren.135 Die staatliche Nachfrage wirkte sich auf die Produktion der Russisch-Baltischen Waggonfabrik besonders günstig aus, und allein im Geschäftsjahr 1897/98 wurden 5 000 Eisenbahnwaggons an die russische Staatsbahn geliefert. Die Güte der Produkte brachte dem Unternehmen auf der Mailänder Weltausstellung im Jahr 1906 einen Grand Prix ein, worauf ihm auch die Italienische Staatsbahn die Lieferung von 360 Personenzugwagen übertrug. Während der Aktienwert sich verdreifacht hatte, beschäftigte das Unternehmen um die Jahrhundertwende rund 4 500 Arbeiter und stellte »in Quantität wie in Qualität die bedeutendste Waggonfabrik Rußlands dar.«136 Zur zweiten Leitbranche neben dem Maschinenbau avancierte in Riga die Chemische Industrie. Das Beispiel der Russisch-französischen Gummiwerke Provodnik dokumentiert, weshalb die spezifischen Rahmenbedingungen der Stadt gerade diese Branche, die im übrigen Zarenreich keine nennenswerte Rolle spielte, besonders begünstigten. Das Unternehmen war 1888 als Aktiengesellschaft gegründet worden, deren Anteile zu 60% von französischen Investoren und zu 40% von russischen gehalten wurden, darunter auch einigen Rigaer Deutschen.137 Provodnik stellte zunächst Gummigaloschen her, die bevorzugt nach Westeuropa geliefert wurden und geringen Ausfuhrzöllen unterlagen. Die Firma, welche mit einer Produktion von 500 Paar Galoschen pro Tag begonnen hatte, wuchs nach der Jahrhundertwende rapide und erreichte 1913 einen Ausstoß von 40 000 Paar am Tag. Neben die Galoschenfabrikation traten zunehmend neue Artikel wie Gummischläuche und Gummireifen sowie hochwertige Artikel für den ärztlichen Bedarf. Bald weitete sich die Produktion auch auf Asbest- und Linoleumwaren aus, die ebenfalls primär in Westeuropa abgesetzt wurden. Den Leitcharakter der Chemischen Industrie verdeutlicht wiederum die Tatsache, daß für die Produktion der unterschiedlichen Artikel zahlreiche 135 Vgl. Henriksson, Loyal Germans, S. 122; Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 180. 136 Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft 3, S. 50. 137 Für die folgenden Details s. Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft 2, S. 41ff.; Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 175.

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Zulieferungen notwendig wurden, die den Bau neuer Industrieanlagen wie einer Kartonnage-Fabrik, einer elektrotechnischen Anstalt und mehrerer Färbereien nach sich zogen.138 Neben dem ausreichenden Angebot qualifizierter Facharbeiter, die für die Produktion notwendig waren, begünstigte die Nähe einer guten Hochschule den großen Erfolg von Provodnik. In den zahlreichen Laboratorien, welche die Firma auf ihrem Gelände errichtete, arbeiteten primär Absolventen des Polytechnikums, die mit den neuesten chemischen Entwicklungen genau vertraut waren. Im Management des Unternehmens dominierten nach der Jahrhundertwende Angehörige des deutschbaltischen Wirtschaftsbürgertums. Die vielfältige Produktpalette der Firma, die innerhalb des Zarenreichs wenig Konkurrenz hatte, erweiterte sich zunehmend, was der Aktiengesellschaft im Jahr 1911 zu einem Jahresumsatz von rund 35 Millionen Rubel verhalf. Die Beschäftigtenzahl betrug zu diesem Zeitpunkt 6 000 Arbeiter. Die Leitbranchen Maschinenbau und Chemie stimulierten die lokale Industrialisierung in besonderem Maße, doch vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung profitierten auch Handwerk, Gewerbe und Handel. Dem Handwerk kam zugute, daß Riga mehr und mehr zu einem Konsumptionsraum wurde, in dem neue, unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt werden wollten. Zwar büßten die traditionellen Gilden und Zünfte, angestoßen durch die 1866 eingeführte Gewerbefreiheit, zunehmend Mitglieder ein und einige traditionelle Berufsarten, wie Hufschmiede und Seilmacher, verloren rasch an Boden. Doch mit dem rapiden Wachstum der Stadt und dem zunehmenden Wohlstand ihrer Gesellschaft eröffnete sich vor allem im Bauwesen, im Lebensmittel- und Konsumbereich eine Vielfalt neuer Chancen für Handwerker und Gewerbetreibende. Auch der Handel profitierte von der wirtschaftlichen Modernisierung. Vor allem war es das gut ausgebaute Schienennetz, das die Grundlagen des Rigaschen Handels erheblich veränderte. In den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts hatte der Export preiswerter, schiff barer Produkte wie Getreide und Flachs, Hanf und Leinsaat den Löwenanteil des Ost-West-Handels ausgemacht. Durch die Eisenbahnanbindung verlagerte sich der Handel zunächst von See und Fluß auf die Bahn und ermöglichte jetzt den Transport hochwertiger Agrarprodukte wie Butter, Eier, Wild und Felle, die überwiegend aus dem Schwarzmeergebiet kamen und von Riga in den Westen geliefert wurden. Mehr noch stimulierte die zunehmende Bedeutung Rigas als Industriestadt den Handel, da die Nachfrage nach Produktionsmitteln primär aus Westeuropa gedeckt wurde und deren Import entsprechend anschob: »Immer deutlicher tritt die markante Thatsache zu Tage, dass Riga den Charakter eines Importhafens anzunehmen beginnt, während es bisher stets der Ausfuhr in erster Linie gedient hat. Diese Erscheinung ist eine Fol138 Vgl. Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft 2, S. 44.

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ge des Emporblühens Rigas als Industriestadt, deren Bedarf an ausländischen Halbfabrikaten beständig wächst.«139 Zwar florierte auch der Transithandel mit hochwertigen Agrarprodukten, doch die enorme Steigerung des Handelsumsatzes ging primär auf den rapide wachsenden Import von Produktionsmitteln zurück. Der Gesamtumsatz von Import und Export hatte Anfang der 1870er Jahre 60 Millionen Rubel betragen, womit Riga an dritter Stelle innerhalb des Reiches stand. 1913 lag er bei 410 Millionen Rubel, was die Ostseemetropole, weit vor St. Petersburg (332 Mill.) und Odessa (153 Mill.), zur umsatzstärksten Hafenstadt des gesamten Zarenreichs machte.140 Das besondere Interesse dieser Studie an den Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen legt es nahe, deren unterschiedlichem Anteil an der lokalen Industrialisierung nachzugehen. Einen ersten Hinweis darauf liefert das Rigaer Firmenregister des Jahres 1880, das sämtliche kommerziellen Unternehmen aus Handel und Industrie erfaßte, die zu einer der beiden Gilden gehörte, eine Mitgliedschaft, die bis 1878 obligatorisch war. Für fast jedes dieser 860 Unternehmen ließ sich die ethnische Zugehörigkeit der Inhaber aufschlüsseln. Tab. 8: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den Handelsund Industrieunternehmen Rigas im Jahr 1880141 Ethnische Zugehörigkeit der Inhaber

Prozentualer Anteil im Jahr 1880

Deutsche Letten

60,4 6,0

Russen Juden Sonstige/Auswärtige

16,7 13,9 3,0

Vergleichbare Daten, die Handel und Industrie gleichermaßen berücksichtigen, existieren für das 20. Jahrhundert nicht. Nur für die Industrie läßt sich die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit der Firmeninhaber weiter verfolgen. Der anläßlich der Baltischen Industrie- und Gewerbeausstellung des Jahres 1901 publizierte Führer durch das industrielle Riga liefert eine Kurzbeschreibung der 300 wichtigsten Industrieunternehmen der Stadt. Auch für diese Firmen konnte die ethnische Zugehörigkeit ihres Eigentümers ermittelt werden. 139 Rigaer Handelsstatistik für die Jahre 1896–1914, S. 80. 140 Vgl. v. Gernet, S. 15. 141 Quelle: Firmenregister der Stadt Riga 1880. Zu diesem Zeitpunkt war die obligatorische Gildenmitgliedschaft von Industriebetrieben erst zwei Jahre aufgehoben, weswegen alle wesentlichen Unternehmen von dieser Kategorisierung noch erfaßt werden.

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Tab. 9: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den 300 größten Industrieunternehmen Rigas im Jahr 1900142 Ethnische Zugehörigkeit der Inhaber

Prozentualer Anteil im Jahr 1900

Deutsche Letten Russen Juden Sonstige/Auswärtige

71,5 6,0 5,3 8,1 9,1

Ins Auge fällt zunächst die Dominanz deutschbaltischer Unternehmer in der Industrie, wogegen Letten und Russen im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil weit unterrepräsentiert waren. Für 1914 sind wiederum keine exakt vergleichbaren Quellen überliefert, doch das Firmenregister des Jahres 1914 enthält eine Übersicht über sämtliche 112 Aktiengesellschaften, die Riga in diesem Jahr aufwies. Darunter fielen nicht nur Industriebetriebe, sondern auch Versicherungen, Verkehrsbetriebe, Versorger oder Produzenten von Konsumgütern. Für diese Unternehmen ließ sich die ethnische Zugehörigkeit der Hauptaktionäre ebenfalls rekonstruieren, was den Eindruck deutscher Dominanz in der Industrie in gewissem Maße modifiziert. Tab. 10: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den 112 Aktiengesellschaften Rigas im Jahr 1914143 Ethnische Zugehörigkeit der Großaktionäre

Prozentualer Anteil im Jahr 1914

Deutsche Letten

38,4 1,0

Russen Juden Sonstige/Auswärtige

2,0 3,6 55,0

Zwar waren fast 40% der städtischen Aktiengesellschaften in deutschbaltischen Händen, doch größer noch war der Anteil jener, die sich im Besitz auswärtiger Investoren, meist aus St. Petersburg, Moskau oder aus dem Deutschen Reich, befanden. Diese Entwicklung hatte erst um die Jahrhundertwende eingesetzt, als die Standortqualität Rigas immer mehr auswärtige Investoren und Aktionäre aus dem Zarenreich und dem Ausland angezogen hatte. Die Daten für 1880, 1901 und 1914 erfassen zwar unterschiedliche Bereiche der 142 Quelle: Führer durch das industrielle Riga. 143 Quelle: Firmenregister der Stadt Riga 1914, S. 166–181.

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städtischen Wirtschaft und berücksichtigen kleine und mittelständische Unternehmen kaum. Dennoch vermitteln sie einen Anhaltspunkt, in welchem Maße die ethnischen Gruppen von der städtischen Industrialisierung profitierten. Der Industrialisierungsprozeß begünstigte vor allem Rigas Deutsche. Primär sie waren es, die den Großteil der neuen Unternehmen, vor allem jene der Wachstumsbranchen Maschinenbau und Chemie, gegründet hatten. Aufgrund ihrer guten Ausbildung und Orientierung an westlichen Vorbildern, ihren persönlichen Kontakten nach Westeuropa und nicht zuletzt aufgrund ihres Kapitals stellten sie den Großteil des Managements, der Aktionäre und damit auch der Inhaber und profitierten entsprechend von Dividenden und Angestelltengehältern. Symptomatisch für die Dominanz des deutschbaltischen Wirtschaftsbürgertums in der Industrie war auch die Tatsache, daß im mitgliederstarken Fabrikantenverein bis 1914 nicht die Reichssprache, das Russische, sondern das Deutsche als Geschäftssprache diente.144 Die positive Erfahrung der Industrialisierung in großen Teilen des deutschen Milieus blieb nicht ohne Wirkung auf seine Einstellung zum Staat und trug in vielen Fällen dazu bei, die traditionelle Loyalität zu Reich und Zar neu zu festigen. Denn dieselbe Regierung, deren kulturelle Russifizierungsmaßnahmen das deutsche Stadtbürgertum so erbittern sollte, verfolgte im wirtschaftlichen Bereich eine Politik, von der es im höchstem Maße profitierte. Gerade die deutschen Wirtschaftseliten waren sich der Tatsache wohl bewußt, daß ihr materieller Erfolg nicht zuletzt der staatlichen Wirtschaftsund Industriepolitik zuzuschreiben war: »Die Entwicklung der Industrie eines Landes ist wesentlich abhängig von staatlichen Gesetzen und Maßnahmen … Man denke nur an das mittlerweile systematisch durchgeführte Schutzzollsystem, an die Handelsverträge, an die Valutareform, an die Erleichterung der Gründung von Aktiengesellschaften, an die Arbeiterschutzgesetzgebung, an die Reform der Handels- und Gewerbesteuer … und man wird unschwer erkennen, daß Physiognomie und Charakter der Industrie sich gewaltig verändert … haben seit 1883. All diese Gesetze und Maßnahmen sind von der Staatsregierung unter der Ägide des Finanzministers Witte zielbewußt erlassen und getroffen worden, um das Capital in Fluß zu bringen und in Rußland selbst der ausländischen Produktion Concurrenz zu bieten.«145 Vom städtischen Wirtschaftswachstum profitierten ebenso die Letten. Ihr ökonomischer Aufstieg spielte sich vor allem im Handel und Handwerk ab. Eine sowjetlettische Studie hat berechnet, daß 1880 nur 6% der Rigaer Han144 Vgl. die Akten der Fabrik in Fonds 2765, LVVA. 145 Rigasche Rundschau 13.6.1901. Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung auch Rigasches Tageblatt 30.1.1900 sowie Blanckenhagen, Einleitung, S. 6: »Die unermeßlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die das Riesenreich bot, ließen gerade im letzten Friedensjahrzehnt auch positive Aspekte im Verhältnis zu Rußland hervortreten und bewirkten namentlich in den gewerblichen Kreisen eine verstärkte Umorientierung nach Osten.«

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delsbetriebe in lettischen Händen war, wogegen es 1913 bereits 42% waren.146 Dabei handelte es sich überwiegend um kleinere, gelegentlich mittelständische Unternehmen, die primär lokale Geschäfte tätigten. Zunehmend dominierten die Letten die Lebensmittelbranche und den Kolonialwarenhandel, beides Bereiche, die vergleichsweise wenig Kapital benötigten. Die lettische Zuwanderung vom Lande unterstützte diesen Trend, weil die Letten im Gegensatz zu den übrigen ethnischen Gruppen ihre Konsumbedürfnisse fast ausschließlich in lettischen Geschäften befriedigten. Zugleich zog der sprunghafte Bevölkerungsanstieg einen Bauboom nach sich, von dem ebenfalls primär lettische Handwerker profitierten, da sie preiswerter und oft flexibler arbeiteten als die meist noch zünftig gebundenen deutschen Handwerker. In der Industrie waren die Letten dagegen fast ausschließlich als unselbständige Arbeiter tätig, kaum aber als Angestellte oder Eigentümer. Ein mittelständisches Unternehmen wie das Sägewerk August Dombrowskys, das um die Jahrhundertwende 300 Arbeiter beschäftigte, blieb die Ausnahme.147 Die Abwesenheit lettischer Industrieunternehmer ging vor allem auf das Fehlen von Kapital, technischer Ausbildung und entsprechenden Verbindungen in die Industriezentren West- oder Osteuropas zurück. Nicht zuletzt wirkte die herkömmliche Verwurzelung in der Landwirtschaft, wo Grundbesitz und Selbständigkeit auch erst seit kurzem möglich geworden waren, der notwendigen Risikofreude und dem Unternehmergeist entgegen, wie selbstkritische Beobachter immer wieder konstatierten: »Warum sind die Letten bei der Fabrikgründung so passiv? Die erste Antwort lautet: Wir haben wenig Geld. Die zweite: Wir haben wenig Spezialisten in den einzelnen Branchen. Wir sind Anfänger in der Industrie, weil unsere Väter Ackermänner waren. Aber unsere Kapitalisten ziehen es vor, ihr Geld in den Banken mit kleinen, aber sicheren Zinsen anzulegen als es in die Industrie zu investieren. Diese Angst führt dazu, daß die Produktivität in diesem Bereich nicht gefördert wird.«148 Auch Rigas Russen profitierten vom allgemeinen Aufschwung, doch in weit geringerem Maße als Deutsche und Letten. Einige Handelsfirmen und vereinzelte Industrieunternehmen befanden sich in den Händen von Russen, darunter die 1846 gegründete und florierende Porzellanmanufaktur der Altgläubigenfamilie Kuznecov mit 2 000 Arbeitern, die 1852 gegründete Tabakfirma der Brüder Andrej und Grigori Ivanovič Gusev mit 100 Arbeitern oder die Chemischen Werke des Kaufmanns Erster Gilde, Wjateslav Jeftanovič, die 250 Arbeiter zählte.149 Das Gros der russischen Bevölkerung blieb in der 146 147 148 149

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Vgl. Ronis, Latviešu Buržuāžijas šķiriskās organizācijas. Vgl. Führer durch das industrielle Riga, S. 57. Baltijas Vēstnesis 4.8.1898. Vgl. Führer durch das industrielle Riga, S. 54ff.

Industrie und im Dienstleistungsbereich indes abhängig beschäftigt. Im Vergleich zu den übrigen Gruppen profitierten die Russen von der Industrialisierung nur geringfügig. Das gab vor allem dem rechtsnationalistischen Flügel des Milieus immer wieder Anlaß, Szenarien der Bedrohung durch die ›Fremdstämmigen‹ zu entwickeln und nach staatlichen Eingriffen zu verlangen, um die russische Stellung in der baltischen Peripherie zu stabilisieren. Im Gegensatz zu den Russen waren die Rigaer Juden am Industrialisierungsprozeß aktiv beteiligt. Entsprechend groß war auch ihr Anteil an der wirtschaftlichen Prosperität der Stadt. Vor allem die Holz und Textilbranche wies zahlreiche jüdische Unternehmer auf; aber auch chemische Fabriken wie die Anilinfarbenfabrik der Familie Meisel150 waren von jüdischen Wirtschaftsbürgern gegründet worden. Neben diesen industriellen Schwerpunkten traten die Juden in Riga, wie überall in Ostmitteleuropa, vor allem im Textilhandel und im Reparaturgewerbe hervor. Im Vergleich profitierten alle ethnischen Gruppen von der massiven Industrialisierung der Stadt, doch Deutsche, Letten und Juden in weitaus höherem Maße als Russen. Der Erfolg der Letten spielte sich weniger in der Industrie als vielmehr in Handel und Handwerk ab, Bereiche, die hier tabellarisch nicht erfaßt werden konnten, doch im folgenden Kapitel Berücksichtigung finden.151 Zwischen den wirtschaftlichen Protagonisten bestanden zwar Geschäftsverbindungen, doch wirkte die Nationalisierung der städtischen Gesellschaft übernationalen Kooperationen oder Firmengründungen entgegen. Allenfalls in den Aufsichtsräten der großen Aktiengesellschaften saßen deutsche, russische und jüdische Industrielle gelegentlich gemeinsam. Zugleich lag aber gerade in der multiethnischen Struktur der Stadt eine wesentliche Ursache für ihren wirtschaftlichen Erfolg. Zum einen erleichterte die kulturelle Orientierung des deutschbaltischen Stadtbürgertums die Adaption westlicher Technologien und Organisationsformen; sein sozioökonomischer Status ermöglichte die Beschaffung von Kapital und Geschäftsverbindungen, und die Tradition ständischer Autonomie förderte Unternehmergeist und Risikofreude. Zum anderen war der Erfolg der Rigaer Industrie ebenso der gut ausgebildeten lettischen Arbeiterschaft zuzuschreiben, die den steigenden Bedarf an angemessenen Arbeitskräften befriedigen konnte. Lag in der geographischen Lage Rigas eine weitere vorteilhafte Ausgangsbedingung, so profitierte die Industrie schließlich auch von der protektionistischen Wirtschaftspolitik, die der Staat seit den 1880er Jahren verfolgte. Das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Triebkräfte und Rahmenbedingungen begünstigte die Industrialisierung der Stadt und war maßgeblich für den wirtschaftlichen Erfolg Rigas innerhalb des Zarenreichs verantwortlich. 150 Vgl. ebd., S. 62. 151 Vgl. Kapitel II. 4.a.

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4. Sozialer Wandel zwischen ständischer Ordnung und bürgerlicher Klassengesellschaft Urbanisierung und Industrialisierung veränderten vor allem die soziale Struktur der Bevölkerung Rigas. Mit Erstaunen mußte das alteingesessene Stadtbürgertum registrieren, daß bürgerlicher Habitus sich keineswegs mehr auf die Mitglieder einer kleinen, vertrauten Gruppe beschränkte: »Wo in aller Welt kommen an Sonn- und Festtagen alle die geputzten Leute her? Wer am Abend des Pfingstsonntags den Park besuchte, dem war’s, als ob er in einer fremden Stadt sei. Wo haben nur bis dahin alle diese behäbig und fröhlich aussehenden Leute ihre Abende zugebracht? Und wie groß, wie überraschend groß ist in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung Rigas geworden, die man die bürgerliche zu nennen pflegt!«152 Reaktionen wie diese, meist aus dem deutschen, oft auch aus dem russischen Milieu, rührten nicht zuletzt daher, daß die städtische Gesellschaft Rigas bis zur Mitte der 1860er Jahre von ständischen Kriterien dominiert war. Die Tätigkeit des Vaters und die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand hatten Lebenschancen und Lebensweg des Einzelnen maßgeblich bestimmt. Soziale und berufliche Mobilität war zwar prinzipiell möglich, jedoch eher begrenzt gewesen, und bis 1866 konnte ein Gewerbe überhaupt nur betreiben, wer Mitglied der Zünfte oder Gilden war und dadurch das Bürgerrecht besaß. Die Besonderheit der ständisch-sozialen Differenzierung lag indes darin, daß sie hier zugleich eine ethnische war und nicht nur den Handwerker vom Arbeiter, sondern zugleich den Deutschen vom Letten und meist auch vom Juden und Russen schied. Als umso abrupter wurde der Wandel der städtischen Sozialstruktur wahrgenommen, den die Industrialisierung und die ungewohnte soziokulturelle Mobilität der nichtdeutschen Bevölkerung seit den 1860er Jahren auslösten. Nicht mehr die kollektive Standeszugehörigkeit, sondern Einkommen und individuelle Leistung begannen Lebenschancen und Lebensführung zu prägen; gesellschaftlicher Aufstieg war nicht mehr die Ausnahme, sondern »Programm und zunehmende Realität.«153 Werner Conze hat für diesen spezifischen Übergangsprozeß, der in der baltischen Region später als in Mitteleuropa in Gang kam, das Sprachbild vom »Hineinragen ständisch gebundener Sozialstruktur in die Bewegung des letzten Jahrhunderts« gefunden und als »bedeutsamen Forschungsgegenstand« einer europäischen Sozialgeschichte charakterisiert.154 152 Rigasche Zeitung 7.6.1878. 153 Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, S. 58. 154 Conze, Geschichte des baltischen Deutschtums; vgl. auch v. Pistohlkors, Das »Hineinragen« ständischer Strukturen in die sich modernisierende baltische Region. Die gescheiterte ständische Justizreform in den 1860er Jahren (erstmals 1992), wiederabgedruckt in: ders., Autonomie, S. 43–54.

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Dieses Kapitel untersucht den Wandel der städtischen Sozialstruktur Rigas. Es fragt, inwieweit sich die sozialen Grenzen von den ethnischen lösten und in welchem Maße die ethnisch überformte Ständeordnung jetzt einer bürgerlichen Klassengesellschaft wich, in der ständische und ethnische Zugehörigkeit keinen gravierenden Einfluß mehr auf die Verteilung von Berufschancen und Vermögen ausübten. Dazu wird erstens analysiert, wie sich die Berufsstruktur der Gesellschaft zwischen 1860 und 1914 wandelte und wie sich die Anteile von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den einzelnen Berufsgruppen veränderten. In diesem Zusammenhang interessiert ebenso, welchen Anteil an Bürgertum Riga aufwies, jene soziale Gruppe mithin, welche die Kommunalpolitik bestimmte, das Vereinswesen trug und die kulturelle Praxis der Milieus maßgeblich gestaltete. Zweitens wird untersucht, ob sich die veränderten Anteile der ethnischen Gruppen an den Berufsgruppen auch in einer entsprechenden Neuverteilung von Vermögen niederschlugen. Der Vergleich von Berufsstruktur und Vermögensschichtung kann drittens schließlich Aufschluß darüber liefern, inwieweit das Herauf kommen der industriellen Moderne die herkömmliche Überschneidung von sozialen und ethnischen Grenzen auflösen konnte und in welchem Spannungsverhältnis Residuen der ständischen Ordnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Elementen der neuen bürgerlichen Klassengesellschaft standen.

a) Die Berufsstruktur der Bevölkerung Die vier Volkszählungen, welche vom Statistischen Amt der Stadt Riga sowie 1897 von der Reichsregierung durchgeführt wurden, erfaßten auch die berufliche Tätigkeit des Einzelnen und ermöglichen einen ersten Eindruck, wie sich die Berufsstruktur der Bevölkerung zwischen 1867 und 1913 entwickelte. Während die Resultate der ersten drei Zählungen gedruckt vorliegen, wurden die Angaben zu den beruflichen und sozialen Verhältnissen, welche die Zählung von 1913 festhielt, aufgrund des Kriegsausbruchs nie mehr veröffentlicht. Sie fanden sich jedoch in Gestalt dutzender handschriftlicher Tabellen im Lettischen Staatsarchiv und erlauben somit, den Wandel der städtischen Berufsstruktur Rigas über fast ein halbes Jahrhundert hinweg nachzuzeichnen.155

155 Auch die sowjetlettische Studie Rīga, hg. von Krastiņš, S. 26f., Tab. 7, hat dieses Material ausgewertet, indes auch in ideologischer Absicht. So wurden sämtliche Handwerker hier der Kategorie der Industriearbeiter zugeschlagen, was das tatsächliche Ausmaß proletarischer Klassenbildung stark überzeichnet. Nicht zuletzt hat die Tatsache, daß ein Teil der relevanten Quellen nur handschriftlich vorliegt und schwer zugänglich ist, eine Überprüfung der von Krastiņš publizierten Ergebnisse bisher verhindert. Corssin übernimmt nur Krastiņš‹ Darstellung.

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Tab. 11: Berufsstruktur der Bevölkerung Rigas 1867–1913156 (prozentual) 1867

1881

1897

1913

1,1 1,4 6,0 4,0

1,3 1,3 6,2 10,7

1,6 1,6 7,2 12,4

2,0 2,0 12,4 20,6

Handwerk Dienstleistung/Lohnarbeit Landwirtschaft

8,8 19,3 1,4

12,6 10,4 0,4

6,2 11,7 1,9

10,1 3,8 0,6

Militär ohne Berufsangabe Angehörige

4,9 8,2 44,9

4,2 0,7 52,2

3,3 6,5 47,6

2,1 4,5 41,9

Beamte Freie Intelligenz Handel und Gewerbe Industrie

Die Berufsstruktur der städtischen Gesellschaft illustriert in aller Deutlichkeit, wie die Industrie zum dominierenden Beschäftigungssektor aufstieg. Hatte 1867 nur jeder fünfundzwanzigste Einwohner in industriellen Betrieben gearbeitet, fand 1913 jeder fünfte dort Beschäftigung. Ebenso profitierten Handel und Handwerk vom wirtschaftlichen Wachstum und beschäftigten immer mehr Menschen. Die prozentualen Schwankungen des Handwerks zwischen 1867 und 1881 gehen vor allem auf die Auf hebung des Zunftzwangs im Jahr 1866 zurück, welche die Zahl der Handwerker sprunghaft ansteigen ließ, was sich jedoch bald wieder normalisierte. Die Zahl der Dienstboten und Tagelöhner nahm dagegen rapide ab. Hatte 1867 noch jeder Fünfte so sein Geld verdient, war es 1913 nicht einmal jeder Fünfundzwanzigste. Viel attraktiver war für die meisten die Arbeit in der Industrie geworden und für manche auch das Wagnis der Selbständigkeit im 156 Quellen: Resultate der Volkszählung 1867, Tabelle 1,7; Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 5,6; Perepsis’ naselenija 1897; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 76; Fonds 2791, Apr. 1, LVVA. Zu quellenimmanenten Problemen der Auswertung: Unter der Kategorie Dienstleistung firmierten in der Zählung von 1867 auch alle Tagelöhner, die zum Teil eher zur wachsenden Industrie gehörten und den hohen Prozentsatz von 19,3 Prozent wohl begünstigend verzerren. Die Zählung von 1881 unterschied dagegen zwischen Industrie und »Arbeitern ohne Angabe des speciellen Zweigs der Produktion materieller Güter.« Da Tagelöhner im Dienstleistungssektor andererseits gesondert erfaßt wurden, erschien es gerechtfertigt, diese Arbeiter hier unter Industrie zu subsummieren. Der sprunghafte Anstieg des Handwerks in der Zählung von 1881 ist primär auf die Auf hebung des Zunftzwangs 1866 zurückzuführen. Die allrussische Volkszählung von 1897 unterschied ebenfalls nicht zwischen Dienstboten (djatelnost) und Tagelöhnern (podensik). Deshalb firmieren diverse Personen, die eher zum Handel oder zur Industrie zu zählen wären, hier unter der Kategorie »Lohnarbeit wechselnder Art«, was deren Anteil ebenfalls künstlich nach oben schrauben mag. Das bestätigt auch v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 119.

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Handwerk, Gewerbe oder Handel. Auch der Anteil jener, die in besonders qualifizierten Berufen wie der freien oder beamteten Intelligenz tätig waren, erhöhte sich kontinuierlich, wenn er mit der Beschäftigungszunahme in Industrie oder Handel auch nicht vergleichbar war. Verdeutlicht die Berufsstruktur zunächst die großen allgemeinen Beschäftigungstrends, die der Wandel von der Handelsstadt zur Industriemetropole auslöste, erlaubt sie noch keine differenzierte Aussage über den Anteil, den ›bürgerliche‹ Gruppen an der Gesamtbevölkerung ausmachten. Daß dieser Anteil sich rapide vergrößerte und bürgerlicher Habitus nicht mehr das Privileg weniger ausmachte, war nicht zu übersehen und löste vor allem im traditionellen deutschen Stadtbürgertum immer wieder Berührungsängste aus: »Wer indessen die Straßen beider Städte durchwandert, wird in Riga noch viel weniger als in Petersburg … Menschen antreffen, an denen der bäuerliche Typus schon äußerlich erkennbar ist, denn Abertausende dieser ursprünglichen Bauern haben sich in richtige Städter verwandelt und zwar auffallend schnell, sodaß nicht wenige besonders talentvolle Verwandlungskünstler nur bei sehr scharfer Beobachtung als nicht zur guten Gesellschaft gehörig erkannt werden können.«157 Angesichts der Erfahrungen unterschiedlicher, breit angelegter Bürgertumsprojekte empfiehlt sich in der Frage des Bürgeranteils eine Kombination unterschiedlicher Zugangswege, wenn auch solche heterogenen Merkmale immer nur einen rudimentären Teilzugriff auf die vergangene Lebenswelt erlauben.158 Weder Klasse noch Kultur allein können als Ausweis bürgerlicher Existenz dienen, zumal der Beruf, wie früher der Stand, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zentraler Weichensteller individueller Lebenschancen blieb.159 In der Forschung hat daher die Kategorie der wirtschaftlichen Selbständigkeit bei aller Heterogenität als wichtiges Erkennungsmerkmal bürgerlicher Gruppen an Bedeutung gewonnen. Es erscheint sinnvoll, dieses Kriterium auch auf Riga anzuwenden, zumal die verfügbaren Quellen es berücksichtigen. Sowohl die Zählung von 1881 als auch die von 1913 differenzierte die Erwerbsbevölkerung nach Selbständigkeit und Unselbständigkeit. Angestellte ließen sich retrospektiv ebenfalls rekonstruieren. Ein quellenimmanentes Problem der Auswertung, das bereits die zeitgenössischen Statistiker thematisierten, liegt darin, daß unter Selbständigen in beiden Zählungen auch Gruppen wie Kleinhändler, Trödler oder Fuhrleute firmieren, die zwar wirtschaftlich selbständig waren, deren Einkommen und Lebensführung aber keinesfalls als bürgerlich gelten 157 Rigasche Rundschau 5.9.1898. 158 Vgl. Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert; ders., Bürger und Bürgerlichkeit; Gall, Stadt und Bürgertum; ders., Stadt und Bürgertum im Übergang. 159 Vgl. dazu Hettling, S. 24f.

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konnte. Ungeachtet dieser von den Quellen vorgegebenen Einschränkungen ließ sich für das Jahr 1881 zunächst die Zahl von 10 786 Selbständigen ermitteln, was einem Anteil von 6,4% an der Gesamtbevölkerung entspricht.160 Als Angestellte, die meist unter ›Bureaupersonal‹ firmierten, ließen sich 1881 nur 265 Personen identifizieren, das entsprach 0,2% der Gesamtbevölkerung. 1913 hatte sich diese Situation erheblich verändert. Als Selbständige konnten jetzt 46 001 Personen ermittelt werden, das entsprach 9,1% der Gesamtbevölkerung, während die Zahl der Angestellten auf 21 768 Personen und damit auf 4,3% der Gesamtbevölkerung hochgeschnellt war.161 Veranschlagt man die erläuterten Einschränkungen, die sich aus den unscharfen Erfassungskriterien ergeben, mit einem Unsicherheitsfaktor von etwa 25%, läßt sich der Bürgeranteil in Riga 1913 zunächst auf etwa 10% schätzen, worin gehobenes Bürgertum wie Kleinbürgertum berücksichtigt sind. Andere Zugangswege unterstreichen indes die Notwendigkeit, diese Schätzung nach unten zu korrigieren. Zum einen bietet sich das Definitionskriterium des Standes an, der in Riga länger als in mitteleuropäischen und stärker als in osteuropäischen Städten eine wirkliche Differenzierungslinie darstellte, die nicht nur die soziale und berufliche Stellung, sondern auch die kulturelle Dimension der Lebensführung einschloß. Eine zeitgenössische Studie aus dem Jahr 1908 hat die Stadtbevölkerung auf ihre ständische Zugehörigkeit hin untersucht. Die Zahl jener Einwohner, welche sich auf dieser Grundlage »zum Bürgertum im weiteren Sinne« rechnen ließen, schätzte der Autor Eugen Blumenbach, Sekretär der Rigaschen Steuerverwaltung, auf rund 27 000 Menschen, was etwa 6% der damaligen Gesamtbevölkerung entsprochen hätte.162 Obwohl die ständische Zugehörigkeit ihre Funktion, dem Einzelnen seinen sozialen Ort zuzuweisen, noch nicht ganz verloren hatte, spiegelte eine solche berufsständische Klassifizierung die soziale Realität zu diesem Zeitpunkt kaum mehr adäquat wider, da neue Berufe, wie beispielsweise der des Angestellten, davon nicht mehr erfaßt werden konnten.163 Eine Schätzung des Bürgeranteils auf der Grundlage ständischer Zugehörigkeit, wie sie noch 1908 und bezeichnenderweise von einem Verfechter ständischer Ordnung versucht wurde, liefert zwar wertvolle Anhaltspunkte, muß aber eine aus dem ständischen Korsett längst hinausgewachsene Gesellschaft in ihrem Bürgeranteil unterschätzen. Ein dritter Zugangsweg zur Bestimmung bürgerlicher Gruppen greift auf das Definitionskriterium der sozialen Klasse zurück. Die Höhe des Ein160 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 6. Angehörige sind hier und in allen weiteren Angaben zum Bürgeranteil nicht berücksichtigt. 161 Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 82, Fonds 2791, Apr. 1, LVVA. 162 Vgl. Blumenbach, ständische Stadtgemeinde, S. 190. 163 Vgl. zum Problem ständischer Definition im Zarenreichs auch Hildermeier, Sozialer Wandel, S. 535.

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kommens, das eine bürgerliche Lebensführung überhaupt erst ermöglichte, stellt zwar kein ausschlaggebendes, wohl aber ein notwendiges Kriterium für Bürgerlichkeit dar.164 Da im Zarenreich keine Einkommensteuer existierte, ist die Quellenlage für einen solchen Zugriff vergleichsweise dünn. Der Direktor der Statistischen Amts, Burchard v. Schrenck, arbeitete jedoch kurz nach der Revolution von 1905 ein Memorandum über die dringende Notwendigkeit einer progressiven Einkommensteuer aus, ohne deren Grundlage die russischen Städte den gewachsenen sozialen Herausforderungen kaum begegnen könnten.165 In dieser Schrift veranschlagte er die mögliche Zahl der Steuerzahler mit einem Einkommen von über 550 Rubel auf etwa 14 500 Personen.166 Das entsprach im Jahr 1906 etwa 4% der Gesamtbevölkerung. Ein kurzer Blick auf die Einkommen bürgerlich zu nennender Berufe zeigt jedoch, daß ein Jahresgehalt von 550 Rubel noch kaum eine bürgerliche Lebensführung mit dem entsprechenden Bildungsangebot und häuslicher Repräsentation ermöglichte. Während der kleine Angestellte, beispielsweise ein Handlungsgehilfe, um 1905 etwa 600 Rubel verdiente, kam man als Oberlehrer an einem der städtischen Gymnasien, als Stadtbibliothekar oder als Prediger auf etwa 1000 Rubel pro Jahr.167 Soviel Geld konnte aber auch der qualifizierte Handwerker zu diesem Zeitpunkt verdienen, eine Folge der Modernisierung, die zunehmend auch zum Gegenstand bürgerlicher Kritik wurde: »Wenn wir dagegen die Gehälter der Staatsbeamten, der Bankbeamten, der Kommis betrachten, so finden wir, daß mancher von ihnen das Jahreseinkommen des Maurers nicht erreicht. Selbst in gelehrten Berufen beträgt das Anfangsgehalt kaum mehr als 75 Rubel im Monat, höchstens 100.«168 Geht man vor diesem Hintergrund davon aus, daß ein Jahreseinkommen von etwa 800 Rubel das absolute Minimum für eine (klein)bürgerliche Existenz darstellte, wird die von Schrenck geschätzte Zahl der Einwohner, die dieses Kriterium erfüllten, noch kleiner. In jedem Fall fordert die Schätzung des Bürgeranteils auf der Basis ökonomischer Mittel, ähnlich wie jene auf der Grundlage ständischer Zugehörigkeit, dazu auf, Annahmen, auf die das Kriterium wirtschaftlicher Selbständigkeit verweist, weiter nach unten zu korrigieren. Trotz aller Einschränkungen, die sich aus den Definitionsproblemen des Gegenstands wie auch aus der Unterschiedlichkeit der Zugangswege ergeben, lässt sich annehmen,

164 Vgl. Hettling, S. 21ff.; Pierenkemper. 165 v. Schrenck, Communal-Einkommenssteuer. 166 Ebd., S. IX. 167 Vgl. Düna-Zeitung 6.10.1906; Carlberg, Verwaltung, S. 5, 116; Rigasche Rundschau 11.6.1913. 168 Rigasche Zeitung 30.10.1913.

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daß der Bürgeranteil in Riga um 1900 – ähnlich wie in deutschen Städten – zwischen 6 und 8 Prozent lag.169 Die Rigidität der Ständeordnung, welche die städtische Gesellschaft bis Mitte des 19. Jahrhunderts prägte, hatte sich vor allem daran festgemacht, daß soziale und ethnische Grenzen sich weitgehend deckten und dadurch noch schwerer zu überwinden waren. Inwieweit der Wandel der Berufsstruktur diese Überlappung aufzulösen vermochte und die soziale Stellung des Einzelnen zunehmend unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit machte, darüber können zunächst die Anteile von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den einzelnen Berufsgruppen Aufschluß geben. Wiederum ermöglichen die detaillierten Fragen der zeitgenössischen Zählungen es, die städtischen Berufsgruppen für die Eckdaten 1881 und 1913 nach ethnischer Zugehörigkeit zu differenzieren. Tab. 12: Der Anteil von Deutschen, Letten, Russen und Juden an den Berufsgruppen in Riga 1881 und 1913 (absolut und prozentual)170 Deutsche Letten Russen Juden Sonstige 1881 1913 1881 1913 1881 1913 1881 1913 1881 1913 Beamte/freie 2.722 4.229 294 3.832 779 2.084 71 1.043 329 3.895 65% 28% 7% 25% 18% 14% 2% 7% 8% 26% Intelligenz Handel/ 5.353 8.555 2.004 20.925 2.012 10.170 898 5.960 344 8.087 50% 16% 19% 39% 19% 19% 8% 11% 4% 15% Gewerbe 2.016 11.346 9.224 34.436 5.844 22.955 258 2.341 860 24.471 Industrie 11%

Handwerk Dienstleistung

12%

32%

24%

1%

2%

5%

26%

3.541 23.699 2.647

7.916

3.404

3.725

555

5.914

17%

12%

17%

16%

8%

3%

13%

4.898 2.404 8.223 15.674 2.613

7.862

740

192

1.178

5.927

28%

25%

4%

1%

7%

18%

11.209 5.689 52%

12% 7%

51%

46%

36%

50% 49%

15%

Ein erster Blick auf die prozentualen Anteile der Deutschen suggeriert zunächst erhebliche Einbußen in fast allen Berufsgruppen. Dieser Eindruck ist jedoch primär auf das starke Wachstum der übrigen ethnischen Gruppen zu169 Diese Angabe bezieht sich wiederum auf den Bürgeranteil ohne Angehörige. Vgl. die Übersicht der Bürgeranteile in einigen deutschen Städten bei Reuter, S. 78f. Hettling, S. 39ff., errechnet für Breslau im Jahr 1906 einen Durchschnittswert von 40% (inkl. Angehörige); Roth, S. 75, kommt für Frankfurt im Jahr 1905 auf ein Ergebnis von 42%, das bis 1910 noch auf 59,7% (inkl. Angehörige) ansteigt. 170 Quellen: Ergebnisse der Volkszählung 1881, Tabelle 5; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 89T, Fonds 2791, Apr. 1, LVVA. Die Volkszählung von 1913 unterschied nicht zwischen freier Intelligenz und Beamten. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden die vorhandenen Zahlen für 1881 daher entsprechend zusammengefasst.

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rückzuführen, denn in absoluten Zahlen vergrößerte sich die Zahl deutscher Erwerbstätiger vor allem in den qualifizierten und gut bezahlten Berufen. Im Staatsdienst lösten die Russifizierungsmaßnahmen tatsächlich einen Rückgang der deutschen Beamten aus, wogegen ihre Präsenz in der freien Intelligenz zunahm.171 Auch im Handel konnten Deutsche ihre Präsenz ausbauen, wogegen die Aufhebung der Zunftschranken die deutsche Stellung im Handwerk erheblich schwächte. Prozentual verringerte sie sich sogar von 52% auf 12%. Das führte nach der Jahrhundertwende im konservativen Flügel des deutschen Milieus zu einer Art ›Mittelstandsideologie‹, deren Vertreter für eine Rückkehr zu ›praktischen Berufen‹ votierten.172 Entgegen der Rhetorik vom »argen Niedergang des deutschen Handwerks« profitierten viele deutsche Handwerker vom Aufschwung der Industrie,173 fanden dort Anstellung als Facharbeiter oder widmeten sich der Produktion von Luxusgütern, deren Nachfrage zügig stieg.174 Tabelle 12 belegt wiederum die starke Präsenz der Deutschen in der Industrie. Obwohl ihre Bevölkerungszahl stagnierte, wuchs ihr Anteil hier von 2 016 auf 11 346 Beschäftigte, worunter der überwiegende Teil als Unternehmer, als Angestellter oder in leitender Stellung tätig war. Spezialisierung und Qualifizierung kennzeichneten mithin die Reaktion der deutschen Erwerbsbevölkerung auf die Erfahrung der industriellen Moderne. Die Letten vergrößerten ihre Anteile in allen Berufsgruppen um ein Vielfaches, was zunächst eine Konsequenz ihrer massiven Zuwanderung war. Besonders dynamisch verlief ihr Aufstieg in Berufe, die eine akademische Qualifikation verlangten. Waren sie 1881 in der freien und beamteten Intelligenz mit nur 294 Personen vertreten gewesen, rangierten sie 1913 dort mit 3 832 Personen, darunter vor allem Angehörige der freien Berufe. Bewundernd erkannte ein guter Kenner der lokalen Szene, der russische Friedensrichter Vassilij Češihin, diesen sozialen Aufstieg an: »Noch vor kurzem waren die Worte Bauer und Lette Synonyme. Heutzutage gibt es mehr als Tausend Letten, die über eine hohe Bildung verfügen. In Rußland nehmen sie den ersten Platz unter den gebildeten Völkern ein. Letten, die Ärzte, Anwälte, Lehrer, Professoren und Beamte sind, stellen eine Realität dar. Die Gebildeten nützen ihre Kräfte oft für die Ausbildung der anderen. Ihre Sprache haben sie so gut entwickelt, daß sie jetzt für abstrakte Begriffe brauchbar 171 Von einem Rückgang deutscher Akademiker, den die auf die Emigration weniger prominenter Literati fokussierte deutschbaltische Geschichtsschreibung suggeriert hat, kann daher nicht gesprochen werden, vgl. Wittram, Baltische Geschichte, S. 246ff.; Schlau, S. 80. Vgl. auch Lenz, Literatenstand, S. 40: »Die wenigen Jahre bis 1914 waren, obwohl es auch nicht an Rückschlägen fehlte, für das baltische Deutschtum eine Zeit des Auf baus. Es herrschte ein ausgesprochener Optimismus, der durchaus berechtigt war, da es überall vorwärts ging.« 172 Vgl. Raeder. 173 Seraphim, Arbeit, S. 90. 174 Vgl. Raeder, S. 307; Henriksson, Loyal Germans, S. 79, 117ff.

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ist.«175 Der Handwerksbereich, bis zur Jahrhundertmitte von Deutschen geprägt, wurde um nach der Jahrhundertwende eindeutig von Letten dominiert. Auch ihre Präsenz in Handel und Gewerbe stieg massiv. Ihr prozentualer Rückgang in der Industrie stellte sich in absoluten Zahlen als Zuwachs von rund 9 224 (1881) auf 34 436 Beschäftigte (1913) dar, der sich primär auf lohnabhängige Arbeiter bezog. Der Mangel an lettischen Unternehmern und Industriellen blieb indes ein stetes Ärgernis der nationalen Presse: »Die Beteiligung der Letten in der Industrie und im Handwerk ist spürbar. Leider sieht die Situation der Letten in der Großindustrie anders aus. Täglich kann man beobachten, wie neue Fabriken entstehen, aber fast alle ihre Herren sind Ausländer und keine Letten.«176 Insgesamt weist die neuartige Präsenz der Letten in qualifizierten Berufsgruppen, die vormals von Deutschen dominiert waren, auf eine breit angelegte soziale Aufwärtsmobilität hin, welche die starren Grenzen der ethnisch-sozialen Ständeordnung durchbrach. Die Beschäftigungsstruktur der Russen änderte sich trotz der erheblichen Zuwanderung kaum. In absoluten Zahlen vergrößerte sich ihre Anzahl unter den Beamten und Mitgliedern freier Berufe zwischen 1881 und 1913 von 779 auf 2 012. Die meisten dieser Beamten und Architekten, Lehrer, Priester oder Journalisten waren aus dem Inneren Rußland gekommen und begegneten der »deutschen Zitadelle« und ihrer Gesellschaft mit großer Zurückhaltung.177 Während Russen in der Industrie primär lohnabhängige Arbeiter stellten und im Handwerk meist Kleingewerbler, waren sie im Handel sowohl als Kleinhändler und Trödler wie auch als Großkaufleute mit florierenden Unternehmen vertreten. Soziale Mobilität lässt sich in der russische Bevölkerungsgruppe kaum feststellen, ihre Anteile an den Berufsgruppen vermitteln vielmehr eher den Eindruck sozialer Immobilität, was die bürgerliche Selbstkritik an der eigenen »Unbeweglichkeit und Indifferenz« zu bestätigen scheint.178 Erhebliche soziale Mobilität dokumentieren dagegen die jüdischen Anteile an den einzelnen Berufsgruppen. Besonders eklatant war ihr Aufstieg in die Berufe der freien Intelligenz, in denen sie 1881 nur 71 Vertreter, 1913 dagegen 1 043 hatten. Ebenso vergrößerte sich ihre Präsenz in Handel und Gewerbe, worunter allerdings ein großer Teil als Kleinhändler, Reparaturdienstleister und Trödler in der Moskauer Vorstadt eher ärmlich sein Leben fristete. Innerhalb der Industrie spielten Juden als Unternehmer vor allem in der Holz- und Textilsparte wie auch in der florierenden Chemie eine immer gewichtigere Rolle. Als vorherrschende Tendenz lässt sich daher eine Konzentration der Rigaer Juden auf selbständige und qualifizierte Berufe beobachten. 175 Češichin, Sredi Latišej, S. 23. 176 Baltijas Vēstnesis 11.9.1901. »Ausländer« war ein Topos, den die nationale Presse auch auf die hiesigen Deutschen bezog. 177 So ein russischer Beobachter im Rigaer Tageblatt 20.2.1902. 178 Rižskij Vestnik 12.6.1881.

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Die Trends, auf welche die veränderten ethnischen Anteile an den Berufsgruppen hinweisen, werden von der Differenzierung der Berufsstellung nach Ethnizität noch unterstrichen. Sowohl die Zählung von 1881 als auch die von 1913 klassifizierte die Erwerbsbevölkerung nach Selbständigen und Unselbständigen. Für Angestellte, die sich nur retrospektiv ermitteln ließen, war das nur für 1913 möglich. Die Rigaer Statistiker hielten zugleich die ethnische Zugehörigkeit dieser beiden Gruppen fest,179 was folgenden Aufschluß erlaubt: 1881 hatten Deutsche den Anteil der Selbstäņdigen an der Rigaer Bevölkerung mit 52% noch maßgeblich dominiert. 1913 waren sie mit 24% im Vergleich zu ihrem gesunkenen Bevölkerungsanteil immer noch gut vertreten. Der deutsche Anteil an den Angestellten machte 1913 sogar 37% aus. Letten hatten 1881 nur 11% aller Selbständigen gestellt. Umso mehr akzentuiert der Anteil von 38% im Jahr 1913 die Aufwärtsmobilität dieser ethnischen Gruppe. Auch im Angestelltenbereich erreichten sie 1913 einen Anteil von 25%. Der prozentuale Anteil der Russen unter den Selbständigen blieb mit 14% (1881) beziehungsweise 13% (1913) vergleichsweise konstant. Eine ähnliche Konstanz weist auch der jüdischen Anteil von 13% (1881) beziehungsweise 12% (1913) auf. Unter den Angestellten rangierten Russen 1913 mit 17%, Juden mit 6%. Selbständigkeit als Indiz beruflicher Chancenvielfalt und eines bürgerlichen Einkommens lässt sich für die russischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen jedoch nur mit erheblichen Einschränkungen annehmen, da gerade in diesen Gruppen erhebliche Teile sogenannter Selbständiger als Kleinhändler, Fuhrleute oder Trödler tätig waren. Für die Juden kam hinzu, daß wirtschaftliche Selbständigkeit, mochte sie auch noch so bescheiden sein, tendenziell vor Antisemitismus im Arbeitsalltag schützte und auch den bürgerlichen Wertvorstellungen der vielen deutsch akkulturierten Juden Rigas in besonderem Maße entgegenkam. Der Wandel der Berufsstruktur beruhte also nicht nur auf beruflichem Wechsel von einer Profession in die andere, von einem Arbeitstyp in den anderen. Vielmehr war er von einer erheblichen sozialen Mobilität begleitet, deren ethnische Dimension hier besonders interessiert. Auf der Grundlage eines dichten Quellenfundus ließ sich belegen, daß die herkömmliche Dominanz der Deutschen in qualifizierten Berufsgruppen allmählich einer ethnisch ausgewogeneren Verteilung beruflicher Chancen zwischen Deutschen, Letten, Russen und Juden wich. Neben Deutschen besetzten vor allem Letten, aber auch Juden zunehmend die qualifizierten und einträglichen Berufsfelder. Ihre Stellung innerhalb dieser Felder verbesserte sich 179 Quellen: Ergebnisse der Volkszählung 1881; Tabelle 6; Ergebnisse der Volkszählung 1913, Tabelle 82, 89 I., II, Fonds 2791, Apr. 1, LVVA. Höhere Beamte, die nicht eigenverantwortlich wirtschafteten, wurden in beiden Zählungen unter Selbständigen erfasst, ein Vorgehen, dem die Darstellung hier folgt. Die folgenden Prozentzahlen wurden gerundet.

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ebenfalls erheblich. Die herkömmliche Überschneidung von sozialen und ethnischen Grenzen löste sich nicht völlig auf, verlor jedoch beträchtlich an Gültigkeit. Ethnizität vermochte um 1900 kaum mehr die berufliche Zukunft und soziale Stellung des Einzelnen zu bestimmen. Die erhebliche soziale Mobilität, welche die industrielle Moderne auslöste, belegt schließlich auch ein erheblich gestiegener Bürgeranteil, der um die Jahrhundertwende in Riga etwa zwischen 6 und 8 Prozent lag.180

b) Die ethnische Verteilung von Vermögen Die Aufschlüsselung der Berufsgruppen nach ihrer ethnischen Zusammensetzung liefert wichtige Hinweise auf den Wandel der städtischen Sozialstruktur. Außer den sozialen Aspekten lassen sich auch kulturelle Dimensionen wie Ansehen und Qualifikationsgrad eines Berufs dadurch erfassen. Ebenso kann das Maß individuellen Gestaltungsspielraums durch die Frage nach der Berufsstellung einbezogen werden. Die Dimension der Klasse blieb jedoch bisher unberücksichtigt. Aussagefähige Belege, ob der soziale Wandel, den die Berufsstruktur dokumentiert, auch einen vergleichbaren Wandel des ökonomischen Status der ethnischen Gruppen nach sich zog, kann eine Analyse der städtischen Vermögensschichtung liefern. Denn auch im korporativ geprägten Riga mussten die Zeitgenossen feststellen, daß es immer weniger der Berufsstand und immer mehr der Besitz und das Vermögen waren, welche die Handlungschancen des Einzelnen bestimmten: »Die über einen sehr umfangreichen Immobilienbesitz verfügende glückliche Minderheit gewinnt zusehends an Einfluß auf die Communalwahlen. Die Machtstellung des Capitals tritt auch in dieser Beziehung augenscheinlich zu Tage.«181 Der Vergleich zwischen Berufsstruktur und Vermögensschichtung kann schließlich eine differenzierte Antwort auf die Leitfrage dieses Kapitels ermöglichen, inwieweit Urbanisierung und Industrialisierung einen sozialen Strukturwandel bewirkten, der die herkömmliche Überschneidung von ethnischen und sozialen Grenzen auflösen konnte. In welchem Maße wich die ethnisch überformte Ständeordnung einer bürgerlichen Klassengesellschaft, in der die sozioökonomische Stellung des Einzelnen weitgehend unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit war? Eine Analyse der Vermögensschichtung, welche dem Anteil der ethnischen Gruppen besondere Aufmerksamkeit zollt, wird vor allem dann aussagekräftig, wenn sie einen längeren Zeitraum berücksichtigt und daher Entwicklung und Wandel erkennbar werden läßt. Die Quellen, die dafür zur Verfügung 180 In dieser Zahl sind Angehörige nicht berücksichtigt. 181 Rigasche Zeitung 3.3.1886

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stehen, sind im Falle Rigas jedoch nicht völlig kongruent. Für das Jahr 1878 wurde eine Wählerliste herangezogen, die alle städtischen Hausbesitzer umfaßte. Da eine Sonderregelung in den Ostseeprovinzen auch den sogenannten ›Literaten‹, also der freien und beamteten Intelligenz, das Wahlrecht gab, ist diese Gruppe, die meist auch über Hausbesitz verfügte, hier ebenfalls berücksichtigt. Die Einteilung in drei Wählerklassen erlaubte zunächst die Klassifizierung der Hausbesitzer nach ihrem Steuerauf kommen. Mit Hilfe des zeitgenössischen Steuersatzes ließ sich sodann der Wert der besteuerten Immobilien rekonstruieren, so daß Vermögen hier primär in Gestalt von Grundbesitz ausgedrückt wird. Für diese Gruppe von 5 213 Personen konnte ihre ethnische Zugehörigkeit rekonstruiert werden, wenn auch ethnokulturelle Überschneidungen und Mischformen die eindeutige Zuschreibung gelegentlich erschwerten.182 Tabelle 13 zeigt, wie Vermögen ab einer Höhe von 500 Rubeln unter den ethnischen Gruppen Rigas im Jahr 1878 verteilt war. Tab. 13: Ethnische Verteilung von Vermögen in Riga 1878 (absolut und prozentual)183 im Besitz von Vermögenswert in Rubel über 38.000 10.000 bis 38.000 500 bis 10.000

Vermögensanzahl

Deutschen

Letten

Russen

Juden

173

140

8

24

1

100%

80%

5%

14%

1%

704

453

109

131

11

100%

64%

15%

19%

2%

4.336

2.353

1.111

792

80

100%

54%

26%

18%

2%

Die nach Ethnizität differenzierte Vermögensschichtung zeigt zunächst, welche starke ökonomische Stellung die Rigaer Deutschen gegenüber ihren lettischen, russischen und jüdischen Mitbewohnern einnahmen. Die Dominanz der Deutschen, deren Anteil an der Bevölkerung 1878 rund 30% ausmachte, war vor allem bei den größeren Vermögen von 38 000 Rubel ab aufwärts mit 80% sehr ausgeprägt. Bei den mittleren Vermögen ging sie mit 64% geringfügig zurück. Auch unter den Besitzern kleiner Vermögen waren Deutsche mit 54% noch immer überdurchschnittlich gut vertreten. Letten, die 1878 ebenfalls rund 30% der Bevölkerung ausmachten, blieben unter den großen Vermögensbesitzern völlig 182 Geringfügige Abweichungen sind daher nicht auszuschließen, vgl. zu dieser Problematik auch die Angaben bei Wittram, Meinungskämpfe, S. 109; Ozolina, S. 46. 183 Quellen: Wählerliste 1878, Riga 1877; Hollander, Städteordnung, v.a. S. 531–568, Carlberg, Verwaltung, S. 361ff. Angehörige anderer ethnischer Gruppen ließen sich aus der Wählerliste von 1878 nicht identifizieren.

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marginal. Sie stellten 15% der mittleren und bereits 25% der kleinen Vermögensbesitzer. Russen, deren Bevölkerungsanteil 1878 rund 20% betrug, besaßen 14% der größeren Vermögen, 18% der mittleren und 18% der kleineren. Juden, die 1878 rund 11% der Stadtbevölkerung stellten, waren zu diesem Zeitpunkt in keiner der drei Gruppen nennenswert repräsentiert. Vor dem Hintergrund der massiven Dominanz der Deutschen in allen drei Vermögensgruppen erscheint der Wandel, den die Daten für 1912 belegen, besonders frappant. Die herangezogenen Zahlen basieren auf einer Klassifikation aller städtischen Hausbesitzer nach ethnischer Zugehörigkeit und Wert ihres Eigentums, die von der Statistischen Kommission angefertigt worden war. Diese im Russischen Staatsarchiv lagernde Quelle ist 1978 von der sowjetlettischen Studie Dzinta Ozolinas erstmals publiziert worden, wobei die Besitzer großer Vermögen nicht gesondert ausgewiesen wurden.184 Auf der Grundlage der Wählerliste von 1913 ließ sich jedoch auch diese Gruppe retrospektiv erfassen und ethnisch differenzieren. Nur der jüdische Anteil unter den Besitzern großer Vermögen war anhand dieser Quelle nicht ermittelbar, da Juden seit 1892 vom kommunalen Wahlrecht ausgeschlossen waren. Die in Tabelle 14 angegebene Zahl von 294 jüdischen Vermögensbesitzern bezieht sich daher auf beide oberen Vermögensgruppen. Tab. 14: Ethnische Verteilung von Vermögen in Riga 1912185 (absolut und prozentual) im Besitz von Vermögenswert in Rubel über 38.000 10.000 bis 38.000 500 bis 10.000

Vermögensanzahl 548 100%

Deutschen

Letten

Russen

330

139

64

60%

25%

12%

Juden o.A.

Sonstigen 15 3%

2.281

759

906

215

294

100%

33%

40%

9%

13%

5%

2.367

619

1.187

278

101

182

100%

26%

50%

12%

4%

8%

107

Die ethnische Differenzierung von 5 196 Vermögensbesitzern im Jahr 1912 belegt, wie sich die ökonomische Stellung der einzelnen Gruppen gewandelt hatte. Insgesamt war die Zahl größerer und mittlerer Vermögen zwischen 1878 und 1912 rapide gewachsen, wogegen kleinere Vermögen, die 1878 noch einen breiten Sockel gebildet hatten, jetzt weniger breit gestreut waren. Das unterscheidet den Rigaer Fall von den meisten westeuropäischen Gesellschaften, wo nicht die Zahl großer Vermögen stieg, sondern immer weniger Be184 Vgl. Ozolina, S. 95, Tabelle 7. 185 Quellen: Wählerliste 1913; Fonds 1288, op. 25, d. 36, ll. 427, 428, RGIA, publiziert in: Ozolina, S. 95, Tabelle 7. Die Prozentzahlen wurden gerundet.

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sitzer immer größere Vermögen akkumulierten.186 Doch die neuen materiellen Gräben, welche die bürgerliche Klassengesellschaft aufriß, blieben auch in Riga nicht unbemerkt: »Der Mittelstand, welcher ehedem die Kluft zwischen Reichthum und Armuth ausfüllte, geräth mehr und mehr in Verfall und die socialen Contraste treten in immer grellerer Beleuchtung hervor. In all diesen Fällen vermindert sich der Fond an Existenzbehaglichkeit, an Zufriedenheit und Neigung zur Erhaltung der bestehenden Socialorganisation.«187 Im obersten Vermögenssegment von 38 000 Rubel ab aufwärts hatten die Deutschen ihre angestammte Stellung noch ausbauen können. Zwar machten sie nur noch 13% der Bevölkerung aus, dominierten aber als Unternehmer und Investoren die florierende Industrie und stellten 60% der großen Vermögensbesitzer. Im mittleren Segment hatte sich die Zahl deutscher Vermögen faktisch ebenfalls vergrößert. Prozentual machte ihr Anteil hingegen nur noch 33% aus, wogegen er 1878 noch bei 64% gelegen hatte. Erhebliche Einbußen mußten Deutsche in den unteren Vermögensgruppen hinnehmen, wo ihre Zahl sich erheblich verminderte und sie nur noch einen Anteil von 26% stellten. Vor allem der Rückgang selbständiger Handwerkerexistenzen, der nicht nur ein Topos des konservativen deutschen Flügels war, scheint dafür verantwortlich gewesen zu sein. Von der vormaligen deutschen Dominanz unter den städtischen Vermögensbesitzern läßt sich 1912 nicht mehr sprechen. Doch noch immer war die ökonomische Stellung der Deutschen überdurchschnittlich gut und ihre Präsenz an der Spitze der Vermögenspyramide unübersehbar. Der Wandel der Berufsstruktur hatte sich bei den Letten in einem erheblichen Anstieg von Vermögensbesitzern niedergeschlagen. Zwar waren sie im obersten Segment nur mit 25% vertreten, doch die Zahl solcher Besitzer war von 8 (1878) auf 139 (1912) angestiegen. Ihre Anteile unter den Besitzern mittlerer Vermögen entsprachen mit 40% genau ihrem Bevölkerungsanteil. Vor allem unter den Besitzern kleinerer Vermögen, also jenen zwischen 500 und 10 000 Rubeln, waren Letten mit einem Anteil von 50% überdurchschnittlich gut vertreten, wie auch die Vertreter anderer ethnischer Gruppen konzedieren mussten: »Vor zwanzig Jahren haben die Letten ihre Gedanken kaum äußern können und orientierten sich an den Deutschen. Heute äußern sie sich ganz deutlich und streben Führungspositionen an. Sie haben eine Intelligenz, und man beobachtet eine immense Kapitalzunahme bei ihnen. Die Zahl lettischer Kaufleute und Hausbesitzer hat massiv zugenommen. Die Letten verfügen über gut organisierte Vereine … sie nennen Zeitungen ihr eigen, die mehr Leser als alle anderen Zeitungen haben. Kurz, sie sind eine bedeutende wirtschaftliche und soziale Macht.«188 186 Vgl. Kaelble, Industrialisierung und soziale Ungleichheit, S. 50. 187 Zeitung für Stadt und Land 30.8.1881. 188 Baltijas Vēstnesis 13.2.1901.

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Verschlechtert hatte sich dagegen die ökonomische Stellung der russischen Bevölkerungsgruppe. Zwar verzeichnete auch sie 1913 mehr Besitzer größerer Vermögen, doch sowohl im mittleren als auch am unteren Feld der Vermögen war ihre Zahl nicht nur prozentual, sondern auch absolut zurückgegangen: 1878 hatten sich noch 792 kleinere Vermögen in den Händen von Russen befunden. 1912 waren es nur noch 278. Die Veränderung der russischen Vermögensstruktur unterstreicht, daß die wenigen Russen, die als Industrieunternehmer tätig waren, sich an der Vermögensspitze zwar behaupteten, die große Mehrheit ihren ökonomischen Status im Vergleich zu Deutschen, Letten und Juden jedoch kaum verbesserte. Vom Übergang zur industriellen Moderne und ihrer bürgerlichen Leistungsgesellschaft profitierten nur wenige, wogegen die Majorität ökonomisch stagnierte. Einen ähnlichen ökonomischen Aufstieg wie den der Letten läßt sich bei den Rigaer Juden beobachten. Vor allem in den oberen Vermögensgruppen von 10 000 Rubeln ab aufwärts, in denen sie 1878 12 Personen gestellt hatten, waren sie jetzt mit 294 Personen, das entsprach 13%, vertreten und damit weit über ihrem Bevölkerungsanteil von 6,6%. Diese Veränderung ging zum Großteil auf die vielen jüdischen Unternehmer und Industriellen zurück, welche die Rigaer Gesellschaft vor 1914 aufwies, aber auch auf eine Reihe erfolgreicher Ärzte, Anwälte und Architekten, die vom Wachstum der Stadt profitierten. Unter den Besitzern kleinerer Vermögen hatte sich ihr Anteil nicht wesentlich vergrößert, was aber auch damit zusammenhängen mag, daß Vermögen hier nur in der Form von Grundbesitz, nicht aber von Geschäftsanteilen oder Barvermögen erfasst wurde, was gerade im jüdischen Fall oft die bevorzugte Art der Vermögensform darstellte. Insgesamt entsprach der gewandelte Anteil der ethnischen Gruppen an der Vermögensschichtung weitgehend ihrem veränderten Anteil an der Berufsstruktur. Er vermag letzteren aber noch zu differenzieren. Hatte die ethnisch überformte Ständeordnung Rigas die Deutschen, was Beruf und Einkommen anging, in hohem Maße begünstigt, so konfrontierte die industrielle Moderne sie mit Herausforderungen, die jenseits von korporativen und ethnischen Schutzräumen lagen. Ihr Erfolg bei der Gründung industrieller Unternehmen macht jedoch deutlich, in wie starkem Maße diese alte ständische Elite sich auch in der neuen bürgerlichen Berufswelt, die hohe Flexibilität und Leistungsbereitschaft verlangte, zu behaupten vermochte.189 Entsprechend hoch blieb der Anteil von Deutschen an den großen Vermögen, der ihre politische Macht auf der kommunalen Ebene zu sichern half, als ihre demographische Stellung längst marginal geworden war.

189 Vgl. für den mitteleuropäischen Kontext auch Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, S. 36.

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Während der Anteil deutscher Vermögen an der städtischen Vermögensschichtung unten schmal war und sich nach oben vergrößerte, ruhte der lettische Anteil auf einem breiten Sockel und verkleinerte sich nach oben. Der Abbau der ständischen Ordnung und das Herauf kommen der bürgerlichen Gesellschaft, in der nicht mehr kollektive Standeszugehörigkeit, sondern individuelle Leistung und ökonomische Mittel zunehmend die Lebenschancen der Menschen bestimmten, hatte Rahmenbedingungen geschaffen, die den Letten den Aufstieg in qualifizierte Berufe und die Verbesserung ihres ökonomischen Status erheblich erleichterten. Letten waren vor 1914 in allen Berufs- und Einkommensschichten vertreten, was nicht zuletzt ihren wachsenden Anspruch auf der kommunalpolitischen Bühne begründete. Mithin trug der soziale Strukturwandel, den die Veränderung von Berufsstruktur und Vermögensschichtung dokumentiert, in erheblichem Maße dazu bei, daß sozioökonomischer Status sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Kriterium der Ethnizität weitgehend löste. Ethnische und soziale Grenzen waren vor 1914 nicht mehr deckungsgleich, wenngleich das Phänomen ihrer Überschneidung seine Gültigkeit nicht ganz eingebüßt hatte. Die mobilitätsfreundliche bürgerliche Klassengesellschaft, die sich als Folge von Zuwanderung und Urbanisierung, Industrialisierung und sozialem Wandel in Riga herausgebildet hatte, blieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs von ständischen Elementen dieser Art durchsetzt. Die Konfliktanfälligkeit ihrer politischen Kultur sollte das erheblich erhöhen.

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II. Die Formierung ethnischer Milieus: Lebensläufe, Bildungswege, Deutungsmuster

Die Grenzen des öffentlichen und privaten Umgangs waren in Riga zunächst ständisch definiert worden. Wer die ständische Zugehörigkeit wechselte, wie es manche Letten während des 19. Jahrhunderts taten, wechselte damit meist auch sein ethnisches Selbstverständnis und bestimmte seinen Umgang neu. Bis zur Mitte des Jahrhunderts war das eine übliche Folge sozialen Aufstiegs gewesen, waren die Grenzen zwischen den Gruppen zwar ausgeprägt, aber durchaus überschreitbar gewesen. Die Politisierung seit den 1860er Jahren führte indes dazu, daß Ethnizität eine neue Bedeutung annahm, welche die vormalige Bezeichnung sozialer Zugehörigkeit allmählich verlor. Vielmehr verknüpften Letten und Russen mit der Vorstellung ethnischer Zugehörigkeit jetzt zunehmend konkrete Partizipationsforderungen politischer, sozioökonomischer und kultureller Art. Nicht mehr als Bauer oder Bürger, sondern als Lette oder Russe wurden Denkfiguren artikuliert, die sich primär gegen die dominierende deutschbaltische Oberschicht richteten. Diese sah sich dadurch ebenfalls gezwungen, ihr Selbstverständnis neu zu artikulieren. Als Folge der allgemeinen Politisierung von Ethnizität formierten sich Milieus, denen spezifische Deutungsmuster inneren Zusammenhalt und Abgrenzung nach außen boten und deren Grenzen nun schwerer zu überwinden waren. Die Formierung dieser Milieus, welche Riga in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine besondere Signatur gaben, sucht dieses Kapitel anhand ausgewählter Persönlichkeiten nachzuzeichnen. Können einzelne historische Personen im eigentlichen Sinne auch nie repräsentativ für allgemeine Entwicklungen sein, gilt es also, das gewählte Beispiel nicht zu überfordern, so ermöglicht die Betrachtung individueller Lebensläufe doch gleichwohl die »lebensweltliche Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem, die das eigentliche Element aller Geschichtsschreibung ausmacht.«1 Auch das neuere Interesse der Forschung an »Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte« läßt es fruchtbar erscheinen, den ethnischen Milieus der Stadt anhand besonders markanter Vertreter nachzuspüren.2 In den Biographien der hier ausgewählten Akteure werden individuelle Entscheidungen ebenso deutlich wie allgemeine Leit1 Gall, Bürgertum in Deutschland, S. 21. 2 Hardtwig, Alltagsgeschichte, S. 21.

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vorstellungen an Kontur gewinnen, welche das jeweilige Milieu konstituierten und zusammenhielten. Eine dichte Beschreibung ihrer Lebenswelten versteht sich auch als Alternative zum Problem vieler Lokalstudien des Zarenreichs, in denen die Beschreibung von Bürgerlichkeit ohne den Bürger auskommt, seine Konturen kaum erkennbar sind.3 In konkreten Lebensläufen treten schließlich auch die Träger zivilgesellschaftlicher Entwicklungen auf, die eine auf Strukturen und Modelle fixierte Zivilgesellschaftsforschung bisher weniger berücksichtigt hat. Anhand von vier übergreifenden Fragen, nämlich nach Herkunft und familiärem Umfeld, nach Ausbildung und Sozialisationsinstanzen, nach Berufsweg und schließlich nach außerberuflichem Engagement politischer, religiöser und sozialer Art, wird untersucht, wie milieuspezifische Deutungen angeeignet und in Handlungen umgesetzt wurden und wie eine veränderte Wirklichkeit solche Erklärungsmuster wiederum überformte. Denn gerade im Wandel und in der Neuinterpretation zentraler Deutungsmuster liegt ein Schlüssel zum Verständnis der wechselnden Allianzen im politischen Raum. Wurden bislang die äußeren Konturen der ethnischen Milieus betrachtet, wendet sich der Blick nun nach innen, um deren Innenwelten mit ihren spezifischen Verhaltensweisen, Denkfiguren und politischen Orientierungen auszuleuchten.

1. Stand, Region, Kultur: Die Deutschen Ein Vertreter des deutschen Milieus, dessen persönlicher Lebensweg in hohem Maße allgemeinverbindliche Denkfiguren erkennen lässt, war Robert Büngner (1815–1892), Rigas amtierender Bürgermeister in den Jahren von 1872 bis 1885. Büngner war der »Abkömmling eines alten Rigaschen großgildischen Geschlechts,«4 wie ein zeitgenössischer Beobachter festhielt, und bereits sein Vater, Peter Raphael Büngner, Inhaber eines Handelshauses, hatte jahrelang das Bürgermeisteramt ausgeübt. 1834 begann Büngner mit dem Studium der Jurisprudenz an der Universität Dorpat und erlebte die prägende Sozialisationsinstanz der deutschbaltischen Intelligenz in einer besonders anregenden Phase. Der berühmte Rechtsgelehrte Friedrich Georg v. Bunge, Verfasser des baltischen Provinzialrechts, lehrte hier ebenso wie der Begründer der historischen Rechtssschule in Rußland, Gustav v. Ewers, während die Mitglieder der Theologischen Fakultät in diesen Jahren mit der Ausformulierung ihres lutherischen Konfessionalismus begannen. Was der Dorpater 3 Vgl. Hildermeier, Wie weit kam die Zivilgesellschaft?, S. 122. 4 Robert Büngner, in: Rigascher Almanach 1900, S. 89.

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Historiker Carl Schirren Jahre später breitenwirksam zu vermitteln vermochte, war bereits zu Büngners Studienzeit geistiges Gemeingut von Studentenund Professorenschaft: die Vorstellung von einer ›baltischen Autonomie‹. Die Ostseeprovinzen wurden von der deutschbaltischen Intelligenz kaum als russische Gouvernements betrachtet, sondern als eine politisch weitgehend unabhängige Region innerhalb des Reichs, welche die Tradition des spätmittelalterlichen livländischen ›Landesstaats‹ bis ins 19. Jahrhundert fortführte. Tagtäglich vermittelt wurde diese Denkfigur nicht nur vom Katheder, sondern auch in den Dorpater Korporationen. Büngner war der ›Fraternitas Rigensis‹ beigetreten, in der lokaler Patriotismus mit regionaler Loyalität und dynastischer Treue eine milieuspezifische Verbindung einging. Die Rolle, die der universitäre Alltag Dorpats für die geistige Prägung der deutschbaltischen Intelligenz spielte, hat Büngners Freund und späterer Ratskollege Eduard Hollander folgendermaßen beschrieben: »Wenn ich nun auch hier wieder mir die Frage vorlege, was ich der alma mater Dorpatensis zu danken habe, so kann ich nur sagen: Alles … Sie hat mich wenigstens so weit für den Dienst der Vaterstadt ausgerüstet, daß ich mit warmem Patriotismus in denselben eintrat, fest entschlossen, ihre Rechte zu vertreten, so weit meine schwachen Kräfte reichen.«5 Die Leitvorstellung von ›baltischer Autonomie‹ ließ sich jedoch nur durch eine parteiliche und zeitgebundene Inanspruchnahme der Vergangenheit aufrechterhalten. Zum Kanon politischen Denkens geriet die Vorstellung, daß es sich bei den Kapitulationsurkunden von 1710, welche die Eingliederung Estlands, Livlands und Kurlands ins russische Reich geregelt hatten, um einen gleichberechtigten ›Vertrag‹ zwischen den baltischen Ständen und dem russischen Zaren gehandelt habe. Von ihm abzuweichen, davon waren die Vertreter des deutschen Stadtbürgertums überzeugt, kam auch 150 Jahre später noch einem ›Rechtsbruch‹ gleich. Büngner, dem diese Leitvorstellung vor allem in Dorpat vermittelt wurde, sollte sie in besonders ausgeprägtem Maße zum Fluchtpunkt seines Handelns machen: »Es ist am Platze, in dieser Zeit daran zu erinnern, dass die geschichtliche Forschung in unserem Lande nicht nur … ein Luxus der reinen Wissenschaft ist. Für uns ist die Erforschung unserer Vergangenheit, die Ergründung dessen, was wir gewesen und geworden sind, noch von ganz anderer, hochpraktischer Bedeutung. So viel wird in unseren Tagen angefochten, bestritten und alles, was Privilegien heißt, will man austilgen und vernichten … Bei uns ist der Geschichte die höchste Aufgabe gestellt: uns selbst zu verstehen und unser Wesen zu begreifen.« 6 5 Aus den Jugendjahren Eduard Hollanders mitgeteilt von Bernhard Hollander, in: Rigascher Almanch 1903, S. 187. 6 Festrede, in: Jubelfeier der Gesellschaft für Geschichte, S. 38.

103

Als Robert Büngner nach Abschluß seines Studiums nach Riga zurückkehrte, wurde er zunächst Advokat am Rigaschen Rat, in dessen Händen damals die Rechtssprechung wie auch die Verwaltung lagen. Über Jahre hinweg verbrachte er einen erheblichen Teil seiner freien Zeit mit der Ausarbeitung einer Verfassungsreform, die Judikative und Exekutive trennte, die ständische Grundlage der politischen Ordnung jedoch beibehielt: »Die desfalls erforderlichen Arbeiten wurden einer Commission unter dem Präsidio des derzeitigen Generalgouverneuers Fürsten Bagration … übertragen … Mehrere Monate hindurch hielt diese Commission in Petersburg täglich vielstündige Sitzungen ab, so daß diesen Gliedern … keine Muße zur Erholung blieb. Es war ein ziemlich harter Kampf, in den man mit den Regierungs-Autoritäten gerieth, um das provinzielle Recht, wenn auch einigermaßen nach modernen Rechtsauffassungen umgestaltet, aufrecht zu erhalten.«7 1869 war Büngner Mitglied des Rigaer Rats geworden, 1872 wurde er zum Bürgermeister der Stadt gewählt.

Abb. 6: Robert Büngner, Bürgermeister von Riga, um 1870 (Stahlstich von A. und Th. Weger)

7 Büngners Bericht, zitiert in: Rigascher Almanach 1900, S. 92. Vgl. auch ebd.: »Die Zeit zu diesen, mühsame Vorstudien erheischenden Arbeiten konnte ich nur durch jahrelange Aufopferung eines großen Theils der nächtlichen Ruhe gewinnen.«

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Umso härter traf ihn die Einführung der neuen Städteordnung im Jahr 1877, die seinen eigenen Reformvorstellungen grundlegend widersprach. Denn obgleich er die Reformbedürftigkeit der mittelalterlichen Stadtverfassung erkannte, blieb er ein vehementer Verfechter einer ständisch geordneten Gesellschaft. Auch diese Leitvorstellung teilte er mit dem Gros seiner deutschen Zeitgenossen, denn nur so ließ sich zugleich die Vorherrschaft der Deutschen in den Ostseeprovinzen politisch und historisch legitimieren. Entsprechend skeptisch kommentierte er den Beginn der ersten nichtständischen Wahlkämpfe gegenüber einem Freund: »Im Übrigen rufe ich Dir heute auch wieder das Horazische Odenwort zu: ›Beatus ille qui procul a negotiis‹. Wir sind jetzt mitten in den Wahlen der III. Classe. Ob die deutsche Partei oder die … lettisch-russische Partei aus den Urnen als Siegerin hervorgehen wird, scheint durchaus zweifelhaft … Die Wahlangelegenheit beschäftigt und beunruhigt hier so sehr Alle und Jede, Mann und Weib, Groß und Klein, dass die große Politik von unserer Kirchthurm-Politik vollständig in den Hintergrund gedrängt wird.«8 Besonders deutlich trat das Ausmaß, in dem Büngner die Denkfigur ›ständischer Herrschaft‹ sowie einen selektiven Vergangenheitsbezug verinnerlicht hatte, in der ersten Rede zutage, mit der er im März 1878 die neu gewählten Stadtverordneten im Rigaer Rathaus begrüßte: »Der Boden, auf welchem ich Sie, meine Herren, zum Beginn unserer gemeinschaftlichen Wirksamkeit versammelt sehe, ist nicht nur ein althistorischer, er ist auch ein ehrwürdiges Denkmal desjenigen korporativen Systems, von welchem unser Gemeinwesen bis hiezu nach allen Richtungen hin vollständig durchdrungen war und in welchem, sozusagen, das Alpha und Omega unseres Stadtbürgertums ganz eigentlich sich verkörperte.«9 Büngners jahrzehntelanges Engagement für eine Reform der städtischen Verfassung weist bereits auf die Bedeutung hin, die der Gemeinwohlorientierung innerhalb des deutschen Stadtbürgertums zukam. Wollte man hier etwas werden, war es mit kommerziellen Geschäften oder privater Geselligkeit nicht getan. Büngner selbst war nicht nur Mitglied der Commission für die Städtereform, er war zugleich Mitbegründer der Petri-Kirchenschule für arme Gemeindekinder, Präsident des Blindenvereins und des städtischen Konsistoriums, saß im Aufsichtsrat des Polytechnikums und hatte den Rigaer Advokatenverein gegründet, als dessen Vorsitzender er wiederholt amtierte. All diese unbezahlte Tätigkeit, die in ähnlicher Form fast alle Lebensläufe der deutschbaltischen Elite kennzeichnet, entsprang einer weiteren zentralen Denkfigur des deutschen Milieus, der Verpflichtung zu ›städtischem Gemeinwohl‹.10 Die in einer ständischen Verfassungen wurzelnde lokale Selbst8 Ebd., S, 93. 9 Ebd., S. 94; vgl. auch den Nekrolog in: BM, Bd. 35, 1893, S. 154–159. 10 Vgl. zur Thematik des Gemeinwohls Münkler u. Blühm.

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verwaltung hatte im deutschbaltischen Stadtbürgertum die frühe Ausbildung und Tradierung einer Gemeinwohlorientierung bewirkt, wie sie im übrigen Zarenreich, dem korporative Traditionen fehlten, so nicht existierte. Ständische Traditionen schienen zivilgesellschaftliches Handeln, wie Büngner und seine Mitstreiter es in unzähligen Vereinen, Kommissionen und Ämtern zum Wohl der Stadt praktizierten, im Rigaer Fall erheblich begünstigt zu haben. Nicht zuletzt illustriert Büngners Lebenslauf, wie sehr er sich, wie alle Vertreter seiner Generation, der Denkfigur ›deutscher Kultur‹ als zentraler Prägekraft der Ostseeprovinzen verpflichtet fühlte. Einer seiner Freunde formulierte den Dreiklang aus ›deutscher Kultur‹, ›baltischer Autonomie‹ und ›Gemeinwohl‹, der für Büngners Generation repräsentativ war, besonders einprägsam: »Livland aber, dessen Gesamtbildung – mit Einschluß der Cultur unserer Esten und Letten – auf rein germanischer, protestantischer, humaner Bildung fußend, jetzt trefflich gedeiht, kann nur auf diesem natürlichen Boden ohne Verkrüppelung fortwachsen – Livland kann von seiner germanischen Bildungswurzel nicht künstlich abgetrennt werden. Jenen Widersachern, der von Herder so hoch gepriesenen baltischen Selbstverwaltung und des aus ihr erwachsenen Gemeinsinns, welchen sie für Separatismus ausrufen, geht der Nerv ab für die Zwecke der humanen Bildung, ihnen entgeht, dass dieses organische Wesen vielmehr geeignet ist, durch Erwekkung von Bildung und Bewusstsein auch die Reichsbevölkerung zu Selbstverwaltung und jeglicher anderen Selbstthätigkeit heranzubilden.«11 Büngners Festhalten an der Leitvorstellung von ›deutscher Kultur‹ und ›baltischer Autonomie‹ sollte seiner politischen Karriere jedoch ein plötzliches Ende setzen. Die Einführung des Russischen als offizieller Amtssprache im Jahr 1885 machte ihn, der wie die meisten Deutschen seiner Generation kein Russisch sprach, in den Augen der Reichsregierung als Bürgermeister untragbar. Zwischen Büngner und dem livländischen Gouverneur Zinov’ev entspann sich eine dramatische Auseinandersetzung, die den Grundsatzkonflikt zwischen den Zielvorstellungen regionaler Autonomie einerseits und reichsweiter Integration andererseits unterstrich. Als Büngner sich unter Bezug auf die Kapitulationen von 1710 weigerte, Anweisungen in russischer Sprache zur Kenntnis zu nehmen und solche öffentlich als ›Rechtsbruch‹ geißelte, war des neuen Zaren Geduld erschöpft. Auf persönliches Geheiß Alexander III. mußte Büngner 1885 sein Amt niederlegen. Geschwächt von den Auseinandersetzungen mit jener Regierung, deren oberstem Repräsentanten er den Treueeid geschworen hatte, und enttäuscht von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen um die Reform der Städteordnung schien Büngner in seinen letzten Lebensjahren von Depressionen heimgesucht worden zu sein, bevor er 1892 in Riga starb. 11 Sivers, S. 54.

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Die Orientierung an der Vergangenheit, freilich einer selektiv erinnerten, welche das Gros dieser Generation zur Grundlage ihres Handelns machte, trat besonders deutlich bei Johann Christoph Schwartz (1856–1915) zutage. Obwohl Schwartz vom Alter her bereits der folgenden Generation angehörte, war er von seinen Leitvorstellungen noch ganz ein Vertreter der Generation Büngners. Auch Schwartz entstammte einer Familie, die ihre Rigaschen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückverfolgen konnte. Wie Büngner hatte er die Dorpater Universität gewählt, um Rechtswissenschaften zu studieren und wurde dort Mitglied der Fraternitas Rigensis. Einen prägenden Eindruck hinterließen bei ihm Carl Schirrens Vorlesungen über die livländische Geschichte, deren parteiliche Deutung Schwartz unhinterfragt übernahm. Schirrens Geschichtsbild bildete vergangene Wirklichkeit nur ganz ausschnittweise ab und blendete die Rolle des russischen Reichs sowie der lettischen und estnischen Bevölkerung fast gänzlich aus. Die Quellen dieser Deutung konzentrierten sich daher meist auf die Kapitulationsurkunden von 1710 sowie jene Vereinbarungen, welche die damals fixierte Autonomie der deutschen Stände bestätigten oder ausbauten. Besonders suggestiv war diese selektive Erinnerung in die sprachlich brilliante ›Livländische Antwort‹ eingeflossen,12 mit der Carl Schirren 1869 auf Jurij Samarins Kritik dieser ständischen Autonomie reagierte – ein zeitgenössischer Bestseller, den Schwartz wie alle seine Kommilitonen mit Begeisterung las und der maßgeblich dazu beitrug, aus einer ständisch differenzierten Gesellschaft zunehmend ein deutsches Milieu mit neuem Zusammengehörigkeitsgefühl zu formen: »Haben Sie schon den Anti-Samarin gelesen? Das ist ein Buch. Ich habe noch von keinem anderen eine so unmittelbare und allgemeine Wirkung erlebt. Alle unsere provinzialpolitischen Meinungsverschiedenheiten haben sich mit einem Schlage in die von Schirren entwickelte Anschauungsweise aufgelöst und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht fortan auch die offizielle Sprache der Landesvertretung denselben Grundton annähme.«13 Nach Abschluß seines Studiums promovierte Schwartz in Leipzig über ›Die Form des Kriminalprozesses in Livland nach Gesetz und Praxis der schwedischen Periode‹ und wählte damit ein Thema, das sich ebenfalls im Sinne ›baltischer Autonomie‹ interpretieren ließ. Nach Riga zurückgekehrt, war er zunächst als Notar und Ratsadvokat tätig, bevor er 1881 selbst in den noch bestehenden Rat berufen wurde. Zwar waren dessen Rechte zwischenzeitlich auf die Rechtssprechung reduziert worden, doch Schwartz bemühte sich, die Kompetenzen des städtischen Gremiums gegenüber der Reichsregierung in Gutachten und Memoranden zu erhalten. Die Argumente, mit denen er die lokale Selbstverwaltung weitgehend frei von staat12 Schirren, Livländische Antwort. 13 Georg Berkholz an Editha v. Rahden am 29.5.1869, in: Eggers, Baltische Briefe, S. 165.

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licher Kontrolle zu erhalten suchte, sollten jedoch in einer Zeit verstärkter Unifizierungsbemühungen in St. Petersburg ungehört verhallen. Außer seiner beruflichen Arbeit als Jurist und Ratsmitglied widmete sich Schwartz zahlreichen Ehrenämtern, war federführend im Gewerbeverein und saß dem städtischen Schulkollegium vor. Welche Bedeutung er diesem Engagement zumaß, geht aus einer Grabrede hervor, die er einem Freund hielt: »Ich weiß es wohl, daß mancher mit Geringschätzung auf solche Vereinstätigkeit herabsieht, wenn er sie vergleicht mit der kommunalen Arbeit, wie sie in den verfassungsmäßigen Organen … geübt wird. Allein mit Unrecht geschieht das … Unsere großen Vereinsverbände … nehmen so manche überschüssige Arbeitskraft auf zum Segen für die Kommune, denn nicht nur schult die freiwillige Arbeit in den Vereinen den einzelnen zur Arbeit überhaupt, sondern es stehen den Vereinen auch positive Aufgaben zur Seite: die kommunale Selbstverwaltung erschöpft sich nicht in den verfassungsmäßigen Organen, in vielen Beziehungen muß die freiwillige Arbeit der Bürger ergänzend hinzutreten.«14 Gerade Schwartz’ Biographie weist jedoch auch auf die Grenzen hin, die dem hier praktizierten ›Gemeinwohl‹ durch das gleichzeitige Festhalten an ›baltischer Autonomie‹ und ›ständischer Herrschaft‹ erwuchsen. So sehr das ehrenamtliche Engagement in ungezählten Wohlfahrts- und Berufsvereinen auch Ausdruck zivilgesellschaftlicher Werte wie Selbstorganisation und Gemeinsinn war, so widersprach die bewußte Exklusion nichtdeutscher Akteure gleichzeitig den zivilgesellschaftlichen Kriterien von Partizipation und gegenseitiger Anerkennung. Denn galt das Engagement, wie Schwartz und seine Mitstreiter es praktizierten, zwar vorrangig Angehörigen anderer ethnischer Gruppen, wurden diese doch nur als Objekte der Fürsorge wahrgenommen. Als gleichberechtigte Partner der karitativen Arbeit blieben sie in der deutschen Vereinslandschaft ausgeschlossen. Schwartz’ Festhalten an der selektiv erinnerten Vergangenheit gab schließlich auch die Grundlage seiner Verteidigung ›deutscher Kultur‹ als zentraler Prägekraft der Ostseeprovinzen ab – eine Vorstellung, die zur Formierung eines deutschen Milieus ebenso beitrug wie sie es von Letten und Russen abgrenzte, deren Fixierung auf ›lettische‹ bzw. ›russische Kultur‹ jedoch dem gleichen ethnozentrischen Muster entsprach. Die Russifizierungsmaßnahmen der Regierung brachten Schwartz kurz nach seiner Ernennung zum Ratsherr in einen folgenschweren Konflikt mit der russischen Verwaltung. Mitte der 1880er Jahre wurde mit der Einführung der russischen Unterrichtssprache in den städtischen Schulen begonnen, wo bisher überwiegend in Deutsch unterrichtet worden war. Schwartz, der die städtische Schulpolitik als Vorsitzender des Schulkollegiums maßgeblich bestimmt hatte, traf das besonders hart, wurden doch seine Vorstellungen von ›baltischer Auto14 Schwartz, zitiert nach Buchholtz, Geschichte der Familie Schwartz, S. 463.

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nomie‹ und ›deutscher Kultur‹ durch den Primat ›russischer Kultur‹ zunehmend zur Fiktion. Umso mehr provozierten ihn diese Maßnahmen dazu, alternative kulturelle Prägungen als ›kulturellen Niedergang‹ zu diffamieren: »Wenn es nur ungestraft möglich wäre, wie ein Kleid die eine Nationalität abzustreifen und eine andere oder gar eine culturell niedrigere anzunehmen! … Wenn der Preis nicht in der geistigen und sittlichen Verwahrlosung unserer Kinder … bestände! Unsere Stärke liegt nur in unserem Recht, in der klaren Erkenntnis, was uns bedroht, in dem geschärften Pflichtbewusstsein, dass wir uns und unsere Kinder vor culturellem Niedergang … zu bewahren haben. Und wenn uns Pflichtencollisionen zu verwirren drohen, so werden wir sicher am wenigsten irre gehen, wenn wir uns von unserem natürlichen Gefühl leiten lassen, von der Liebe zur baltischen Heimat, die eins ist mit unserer Cultur, mit unserer Sprache und unserem Glauben.«15 Schwartz hatte die Maßnahmen der russischen Bürokratie bereits früher mit historischen Argumenten zu entkräften gesucht, doch jetzt ging er erstmals so weit, auch zivilen Widerstand in der Gegenwart zu fordern. Denn der staatliche Anspruch habe seine Grenze im regionalen und lokalen Recht, über die eigenen Mittel selbst zu bestimmen. Gelte es zwar, die Kenntnis der Reichssprache durch vermehrten Unterricht zu fördern, sei ziviler Widerstand gegen ihre Einführung als ausschließliche Unterrichtssprache ein Gebot richtig verstandenen Staatsbürgertums: »Diesem Verbot soll gehorcht werden; es gebietet uns aber nicht, die russischen Schulen selbst einzurichten oder zu unterhalten … Und gerade so wird man seine staatsbürgerliche Pflicht erfüllen. Denn die Selbsterhaltung, die Erhaltung desjenigen Wesens, welches uns als Untertanen überhaupt erst leistungsfähig macht, gehört doch wohl in eminentem Sinne zur Untertanenpflicht, und ein Gesetz, welches uns gebietet, selbst die Axt an die Wurzeln unseres Daseins zu legen, ein solches Gesetz gibt es nicht. Es gilt auch hier das widerholt zitierte Wort, welches in der Tat treffend den Weg bezeichnet, den wir auch im jetzigen Konflikt einzuhalten haben, das gute Wort: »›Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen!‹«16 Neben die administrativen und kulturellen Integrationsbestrebungen der russischen Regierung traten mit der Justizreform von 1889 auch rechtliche Reformen. Die Auflösung des städtischen Rats und die Einführung russischer Gerichte gefährdeten schließlich auch Schwartz’ berufliche Existenz als Ratsherr, Anwalt und Notar und festigten in ihm den Entschluß zur Auswanderung ins Deutsche Reich – ein Schritt, den nur wenige, besonders konservative Vertreter des Milieus mit ihm und vor ihm taten. 1890 verließ Schwartz mit seiner Familie Riga und ging nach Berlin, wo er das Studium des deutschen 15 Aus der Schwartzschen Denkschrift von 1887, zitiert nach Buchholtz, Deutsch-protestantische Kämpfe, S. 405. 16 Ebd., S. 479.

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Rechts nachholte und 1898 Privatdozent wurde. Seit 1903 war er als Professor für Zivilrecht in Halle tätig; 1910 emeritiert, starb er 1915 in Berlin. Mit der Auswanderung Johann Christoph Schwartz’ hatte der Vertreter einer Generation Riga verlassen, welche die Zentralisierungsbemühungen des Staates kompromißlos ablehnte und die darin enthaltenen Modernisierungselemente weder wahrnehmen konnte noch wollte. Doch die politischen Reformen, die wirtschaftliche Dynamik und der gesellschaftliche Wandel, der im lokalen Bereich ebenso unübersehbar war wie in Region und Reich, bewirkte bei Teilen jener Generation, die um die Jahrhundertmitte geboren war, eine Veränderung und Neuinterpretation jener Orientierungsmuster, die von ihren Vätern noch kompromisslos verteidigt worden waren. Wie historischer Wandel milieuspezifische Leitvorstellungen überformen kann und diese wiederum auf die Realität zurückwirken, zeigen die Lebensläufe jener Männer, die seit der Mitte der 90er Jahre die kommunale Politik der Stadt gestalteten. Besonders repräsentativ für den reformorientierten, liberalen Flügel, der innerhalb der politischen Elite jetzt an Einfluß gewann, war der deutschenglische Industrielle und spätere Bürgermeister George Armitstead (1847– 1912). Auch die Familie Armitsteads’, dessen Großvater zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus England nach Riga eingewandert war, gehörte seit langem zum Kern des deutschen Stadtbürgertums. Während sein Großvater durch Handel ein Vermögen verdient und in eine der ersten deutschen Familien der Stadt eingeheiratet hatte, investierte sein Vater bereits gewinnbringend in den Eisenbahnbau. Im großbürgerlichen Umfeld der Familie wurde Englisch ebenso wie Deutsch gesprochen und zahlreiche Reisen nach Westeuropa erweiterten die Perspektive der Heranwachsenden über den baltischen Horizont hinaus. Die Heirat aller fünf Söhne, darunter auch George Armitstead, mit deutschbaltischen Frauen stabilisierte gleichzeitig die feste Einbindung in das deutsche Milieu. George Armitstead besuchte zunächst das Rigaer Polytechnikum, wo er Ingenieurwissenschaften studierte und Mitbegründer der ›Fraternitas Baltica‹ wurde. Studienaufenthalte in Oxford und Zürich schlossen sich an. Zunächst arbeitete er mehrere Jahre als Ingenieur für große Eisenbahnprojekte im Inneren Russlands, wo er auch die russische Sprache fließend erlernte. 1880 nach Riga zurückgekehrt, leitete er anfänglich eine Knochenmehlfabrik und wurde später Manager und Miteigentümer der florierenden Baltischen Zellulosefabrik. Zeitweise übernahm er die Leitung der Dünaburger Eisenbahngesellschaft. Ebenso wie Armitstead durch seine Ausbildung zum Ingenieur von der milieutypischen Studienwahl der Jurisprudenz, Medizin oder Theologie abwich, entsprach auch seine Berufserfahrung in zwei der modernsten Branchen der Zeit, Chemie und Eisenbahnbau, nicht dem üblichen Berufsprofil des Rigaer Stadtbürgertums. Ebenso sollte seine mehrjährige Berufspraxis im Inneren des Zarenreichs ihre Wirkung auf seine politische Orientierung nicht verfehlen. 110

Denn eine Denkfigur wie ›baltische Autonomie‹ gab für Armitstead keine handlungsleitende Perspektive mehr ab. Die neue Wirtschaftselite, für die er stand, profitierte vielmehr in hohem Maße von der Zollpolitik und dem Eisenbahnbau, welche die russische Regierung betrieb. Auch deren rechtliche Reformen kamen dieser Gruppe eher entgegen. Ihre Erfahrung in der Industrie, die Wettbewerbsbereitschaft und Mobilität verlangte, sowie häufige Berufsjahre im Inneren Rußlands hatten ihren Vertretern einen neuen Blick auf das lokale Aufgabenfeld erschlossen, der sich scharf von der Generation jener abhob, »die zum Teil in den Traditionen des Rats aufgewachsen, sich nur schwer daran gewöhnen konnten, daß es eine Autonomie für die neue Verwaltung nicht gab.«17 Auch ›ständische Herrschaft‹ konnte auf Armitstead, dessen eigener Beruf sich ständischen Kriterien bereits entzog, nur wenig Wirkung ausüben. Wirtschaftlich erfolgreich und materiell gesichert, gaben die politischen Reformen der Regierung gerade erfolgreichen Unternehmern wie ihm alle politischen Rechte, welche die kommunale Ebene bot. Denn die Revision der Städteordnung von 1892 hatte entgegen ihrer konservativen Intention in Riga zur Folge, daß die konservativen ›Literaten‹ ihr Wahlrecht verloren, wogegen das liberale Wirtschaftsbürgertum zur ausschlaggebenden politischen Kraft wurde. Lehnten auch nicht alle Akteure dieser neuen Elite ständische Denkfiguren so dezidiert ab wie Armitstead, prägte seine engsten Mitarbeiter im Rigaer Rathaus doch der gleiche neue Blick auf die multiethnische Gesellschaft: »Die Stadt gehört nicht uns Deutschen allein, sondern allen drei in derselben lebenden Nationen … Für den ersehnten nationalen Frieden ist es jedenfalls durchaus notwendig, die Frage, wer dem Anderen Unrecht getan, wer dem Anderen Dank schuldet, und wer dem Anderen geistig überlegen ist, vollständig beiseite zu lassen. Nur ein rein fachliches Vorgehen auf der Basis gegenseitiger Anerkennung kann zum Frieden führen.«18 Auch als gesellschaftlicher Ordnungsentwurf konnte ›Stand‹ dem weitgereisten und vorurteilsfreien Armitstead kaum mehr Anknüpfungspunkte bieten. Vielmehr schien ihm, zumindest den unkritischen Erinnerungen seiner Enkelin zufolge, eher daran gelegen, die ständischen und ethnischen Gräben, welche die städtische Gesellschaft durchzogen, zu überbrücken: »It was this mixture of blood in his veins as well as his very varied scholastic upbringing, which helped to make my grandfather a man, who was able, not only to see all sides of a question, but also to get on with all sorts of men. He … realised as no few of his Baltic colleagues seemed able to do, that the Latvian people with strong nationalistic feelings, well educated … could no longer be kept down … it was at his dinnertable, that Latvian guests first mixed freely with his Baltic friends, something which had never been done before.«19 17 Carlberg, Armitstead als Sozialpolitiker, S. 32. 18 Leserbrief Nicolai v.Carlbergs, Dünazeitung 24.3.1905. 19 Radcliffe, S. 113.

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Armitsteads Lebenslauf zeigt, wie sich tradierte Orientierungsmaßstäbe in seiner Generation, die im kommunalen Raum jetzt den Ton angab, zunehmend abschwächten. Zugleich begannen ihre Vertreter die Denkfigur ›städtischen Gemeinwohls‹ neu zu interpretieren. Auch Armitstead hatte sich neben seiner beruflichen Tätigkeit in breitem Maße ehrenamtlich engagiert. Im öffentlichen Leben der Stadt war er erstmals 1883 als Vorsitzender der Ersten Baltischen Gewerbe- und Industrieausstellung hervorgetreten sowie 1899 als Leiter der Baltischen Landwirtschaftlichen Zentralausstellung – spezifischen Errungenschaften der Moderne mithin, die ein hohes Maß an Wettbewerbsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit erforderten.20 Er war Mitglied der ›Kurländischen‹ ebenso wie der ›Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät‹, des Rigaer Börsenkomitees und wiederholt Vorsitzender des Technischen Vereins. 1907 gründete er die Gesellschaft für kommunale Sozialpolitik, die ein breites, ethnisch heterogenes Publikum anzog: »Was in anderen Großstädten, besonders in den westeuropäischen, an sozialpolitischen Einrichtungen geschaffen worden, wird hier in Vorträgen und lebendiger Diskussion besprochen und auf seine Verwertbarkeit für unsere andersartigen Verhältnisse geprüft … Die Gründung dieses Vereins enthält – und darin ist sie prinzipiell bedeutsam – eine weitgehende Aufforderung an die Gesellschaft zur Mitarbeit an den großen Aufgaben städtischer Sozialpolitik.«21 War die Gemeinwohlorientierung des deutschen Milieus bisher von ständisch-patriarchalischen Traditionen geprägt gewesen, deuteten Armitstead und seine Mitarbeiter sie jetzt zugunsten einer kommunalen Sozialpolitik um, die dem vormaligen Gabenempfänger einen Rechtsanspruch gab. Armitsteads Kenntnis westeuropäischer Verwaltungspraxis und sein ausgeprägtes Interesse an moderner Sozialpolitik trug wesentlich zu dem Rigaschen Munizipalsozialismus des frühen 20. Jahrhunderts bei, den das folgende Kapitel thematisiert.22 Armitsteads Engagement für lettischsprachige Volksschulen, welche die Stadt seit 1905 auf baute sowie für den Bau eines lettischen und russischen Theaters zeigt schließlich, wie er mit der milieuspezifischen Fixierung auf ›deutsche Kultur‹ umging, die für den gleichaltrigen Schwartz noch unhinterfragbar war. Auch Armitstead galt ›deutsche Kultur‹ als wichtiges, zu erhaltendes Gut, zumal sich nach 1905 gerade jene Stimmen mehrten, die für eine Föderalisierung und Dezentralisierung des russischen Reichs eintraten. Mitbedingt durch seine deutsch-englische Herkunft ging ihm indes die ethnozentrische Verengung der Perspektive auf ausschließlich diese eine Kultur ab, die das Gros des deutschen Milieus prägte. Seine Mitarbeit in der Baltischen 20 Vgl. Armitstead u. v. Tobien. 21 Stadthaupt George Armitstead, in: Rigascher Almanach 1910, Riga 1909, S. 102. 22 Vgl. v.a. Carlberg, Armitstead als Sozialpolitiker.

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Konstitutionellen Partei wie auch seine Errungenschaften als Bürgermeister belegen, daß es ihm eher darum ging, unterschiedliche kulturelle Prägungen als gleichberechtigt zu akzeptieren und ihnen entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten schulischer, kirchlicher oder kultureller Art zu ermöglichen. Nur so ließ sich letztlich auch die deutsche Vormacht innerhalb der multiethnischen Gesellschaft Rigas erhalten, wie Armitstead nüchtern erkannte. Mit einer solchen Politik der Anerkennung gelang es ihm, erstmals eine politische Allianz mit den liberalen Russen anzuknüpfen, die für Männer wie Büngner und Schwartz noch kaum vorstellbar gewesen wäre.

Abb. 7: George Armitstead, Bürgermeister von Riga, um 1910 (Stahlstich im Rigaschen Almanach 1910)

Trotz seines Reformeifers und eines jeder Doktrin abgeneigten Pragmatismus sah Armitstead seine Tätigkeit durchaus als Fortsetzung der früheren lokalen Selbstverwaltung, ohne deren Grundlage die kommunale Sozialpolitik seiner Zeit nicht möglich gewesen wäre.23 Auch seine eigene Person stellte er bewußt in die Kontinuität mit der Geschichte, der er aber kein Monopol mehr zur Beurteilung der Gegenwart zumaß. Wie sich Verständnis 23 Ebd., S. 45: »In den 11 Jahren unserer gemeinsamen Arbeit im Stadthause habe ich ihn nie eine sogenannte Doktrin bekennen gehört, wohl aber ist mir ein Ausspruch von ihm bekannt, der ihn besser charakterisiert, als ein Vortrag dieses vermag: ›Ich bin für jeden vernünftigen Reformgedanken zu haben.‹«

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für Tradition mit Offenheit für die Zukunft in seiner Person verband, verdeutlicht eine Anekdote, die den vielbeschäftigten Unternehmer und Beamten, der kaum eigene Aufzeichnungen hinterließ, selbst zu Worte kommen läßt: »Unter Armitsteads Führung wurde die Verwaltung Rigas für die baltischen Provinzen ebenso wie für das ganze Russische Reich in vieler Hinsicht vorbildlich. Der gewachsenen Überlieferung … entsprach es, daß für reine Repräsentation wenig ausgeworfen wurde … und das Stadthaupt täglich mit der Straßenbahn ins Amt fuhr. Der Personaletat war, verglichen mit den Verhältnissen entsprechender russischer Großstädte, erstaunlich bescheiden. Dies veranlasste den Zaren Nikolaus II., der im Jahre 1910 Riga besuchte, zu der lächelnden Bemerkung, Riga müsse ja wohl auf diese Weise viel Geld erspart haben und man könnte die Stadt daher ›ein wenig zu Gunsten der russischen Städte expropriieren.‹ Darauf Armitstead: ›Majestät, dann müssen Sie aber auch Milieu und Geist unserer Stadt mit expropriieren.‹«24 Zwei Jahre später starb Armitstead in Riga. War George Armitstead noch durchaus repräsentativ für den liberalen Flügel des deutschen Milieus gewesen, schieden sich an Paul Schiemann (1876–1944) die Geister.25 Der linksliberale Journalist, der wesentlich dazu beitrug, die ›Rigasche Rundschau‹ im Jahrzehnt vor 1914 zur meistgelesenen deutschsprachigen Zeitung Rußlands zu machen, galt dem Gros des deutschen Milieus als Außenseiter, politisch wie gesellschaftlich, bevor er nach dem Ersten Weltkrieg zum unbestrittenen Führer der deutschen Fraktion im Lettländischen Parlament wurde. Doch gerade das Abweichende seiner Biographie erlaubt den Rückschluß auf jene Vorstellungen und Handlungsmaßstäbe, die konstitutiv für das deutsche Milieu der Zeit wurden. Reinhard Wittram hat Schiemann, der im Riga der 1930er Jahre sein erklärter Gegner war, rückblickend mit folgenden Worten charakterisiert: »Überzeugter Demokrat aus alter Familie … Freigeist mit starken landsmannschaftlichen Bindungen, nationaler Patriot mit vornehmem Solidaritätsempfinden, scharfer und konsequenter Gegner des Nationalsozialismus, moderner Ideenpolitiker und zugleich Erbe einer sehr alten landständischen und landes-

24 George Armitstead. An der Schwelle einer neuen Zeit, in: Baltische Köpfe, S. 22. 25 Schiemanns Nachlaß befindet sich ungeordnet in einem Karton in der Baltijas Centralais Biblioteka, Riga; dort fehlt leider der von Michael Garleff noch 1976 genannte erste Teil der Erinnerungen, welcher Schule und Studium umfaßte, vgl. Garleff, Deutschbaltische Politik, S. 56. Am wichtigsten aus Paul Schiemanns eigener Feder seine Autobiographie: Zwischen zwei Zeitaltern; seine wesentlichsten Zeitungsartikel in: Schiemann, Leitartikel; Schiemann, Ein europäisches Problem. Es existieren einige kleinere biographische Artikel und Essays, die sich im wesentlichen wiederholen, z.B. Garleff, Paul Schiemann, in: Deutschbaltische Politik, S. 55–64; Hiden, A Voice from Latvia’s Past. Derselbe Autor hat jüngst eine Biographie Schiemanns vorgelegt, vgl. Hiden, Defender of Minorities.

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politischen Tradition, gehörte Schiemann zu den interessantesten Gestalten des im Massenzeitalter rasch sich wandelnden alten Europa.«26 Paul Schiemann entstammte einer um 1750 nach Reval eingewanderten deutschbaltischen Familie, die zahlreiche bekannte Juristen hervorgebracht hatte. Während sein Vater, ein renommierter Advokat in Mitau, ein Vertreter jenes ständischen Liberalismus gewesen war, der in den 1860er Jahren die Rechte des Adels zu beschneiden suchte, war sein Onkel, Theodor Schiemann, ein ausgeprägter Repräsentant zunächst des baltischen, später des reichsdeutschen Konservativismus.27 Als Freund Wilhelm II. und Begründer des Berliner Lehrstuhls für Osteuropageschichte verstrickte sich Theodor Schiemann während des Ersten Weltkriegs in erbitterte politische Auseinandersetzungen mit seinem liberal orientierten Neffen Paul, die schließlich zum persönlichen Bruch führten.28 Schiemanns Herkunft aus dem materiell gesicherten und von deutscher Kultur geprägten Bildungsbürgertum führte dazu, daß sein Vater sich zu Beginn der 1890er Jahre dazu entschloß, seine Söhne zur Erziehung nach Deutschland zu schicken, um der russifizierten Schule zu entgehen. Der Besuch eines deutschen Gymnasiums in Elberfeld seit 1893 hatte indes zur Folge, daß Schiemann hier mit den Ideen Friedrich Naumanns vertraut wurde, die seine politische Einstellung Zeit seines Lebens prägen sollten. Schiemann, nach wie vor russischer Staatsangehöriger, leistete seinen Militärdienst im Kaukasus ab, wo er auch die Reichssprache erlernte, und ging dann wieder nach Deutschland, wo er in Berlin, Marburg und Bonn Jura studierte und 1902 in Greifswald promoviert wurde. Nach einem kurzen Aufenthalt als Theaterrezensent in Reval kam er 1907 nach Riga, um hier für die liberale ›Rigasche Rundschau‹ als Kulturkritiker zu arbeiten. Die »politisch geladene Atmosphäre«, in die Schiemann hier eintauchte,29 beschrieb er selbst als verantwortlich dafür, daß sich seine politischen Ansichten schnell festigten. Zunächst setzte der junge Journalist sich für den Abbau ständischer Herrschaftsresiduen ein, die ihm gerade nach den Erfahrungen der Revolution von 1905 überaus notwendig erschien. Mit seiner kritischen Berichterstattung über die Beratungen des ›Baltischen Conseils‹, in dem Deutsche und Letten in den Jahren 1905/06 über eine neue Landesverfassung verhandelten, machte er sich bei der konservativen Mehrheit des deutschen Milieus keine Freunde. Denn dem Vorstoß des deutschbaltischen Adels, dem Großgrundbesitz mehr Stimmen zu gewähren, setzte Schiemann entschiedene Kritik entgegen und verteidigte eine gleichmäßige Machtverteilung zwischen deutschem Großgrund- und lettischem Kleingrundbesitz. 26 27 28 29

Zitiert nach Garleff, Deutschbaltische Politik, S. 64. Vgl. Meyer, Theodor Schiemann. Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 159ff. Ebd., S. 83.

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Auf regionaler wie auf nationaler Ebene vertrat Paul Schiemann die Wahlrechtsvorstellungen des europäischen Liberalismus, die auf Steuerleistung, nicht auf Kopfzahl basierten. Seine Überzeugung, nicht ein demokratisches Massenwahlrecht, sondern nur ein an Besitz- und Bildung gekoppeltes Honoratiorenwahlrecht könne den gerade entstehenden russischen Verfassungsstaat stabilisieren, grenzte ihn zugleich scharf von den demokratischen Vorstellungen der meisten lettischen und russischen Parteien ab: »Ich habe gerade in den ersten Jahren meiner Rigaer Tätigkeit sehr scharf den Gegensatz zwischen liberaler und demokratischer Weltanschauung empfunden und immer wieder in Zeitungsartikeln herauszuarbeiten gesucht. Während die Demokratie im Glauben an die Weisheit der Masse streng auf dem Boden des vierschwänzigen Wahlrechts stand, meinte ich, dass der Liberalismus dazu berufen sei, ein Wahlsystem zu finden, das wirklich die Besten des Landes, die starken Persönlichkeiten, zur Vertretung heranzog.«30 Die Abgrenzung gegenüber demokratisch legitimierten Partizipationsvorstellungen bedeutete für Schiemann zugleich auch die Ablehnung jeglicher Form von Nationalismus, eine Haltung, die zum Leitthema seines Lebens werden sollte: »Der Kampf gegen den Nationalismus ist, solange ich journalistisch tätig war, der Hauptinhalt meiner politischen Tätigkeit gewesen. In einer Zeit, in der der Nationalismus sich in rapidem Auftrieb zur herrschenden Stömung im europäischen Kontinent entwickelte, keine dankbare Aufgabe … Und meine Angriffe richteten sich gleichermaßen gegen den Nationalismus der Russen, der Letten, der Deutschbalten und der Reichsdeutschen.«31 Vor allem die Baltische Konstitutionelle Partei, zu deren Sprachrohr die ›Rigasche Rundschau‹ wurde, suchte Schiemann zum Forum und Multiplikator solcher Ideen zu machen. Nicht im Vorrang einer bestimmten ›Nationalität‹, wie groß deren Zahl auch sei, sondern in der politischen und kulturellen Gleichberechtigung der ›Nationalitäten‹ sah Schiemann die einzige Lösung der Probleme, die aus dem multiethnischen Zusammenleben erwuchsen: »Das Gründungsprinzip der BKP ist das der nationalen Toleranz. Sie stellt es sich zur Aufgabe, in immer weiteren Kreisen dem Gedanken Geltung zu verschaffen, daß jeder Staatsbürger des russischen Reiches einen Anspruch auf die Achtung seiner nationalen Eigenart genieße. In solchem Sinne haben wir die muttersprachliche Schule, die Glaubensfreiheit, die Sprachenfreiheit auf unser Papier geschrieben. Daß wir den Letten, den Polen und Juden dasselbe gönnen, was wir für uns verlangen, erscheint uns nicht nur gerecht, sondern auch logisch und politisch als der einzig vertretbare Gesichtspunkt.«32

30 Ebd., S. 87. 31 Ebd., S. 99. 32 Rigasche Rundschau Nr. 113, 1911. Vgl. auch Rigasche Rundschau Nr. 28, 1913.

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Entsprach diesem Leitprinzip auf regionaler Ebene das Ziel kultureller Autonomie, ließ es sich auf Reichsebene nur in einem dezentralisierten, föderalisierten Rußland umsetzten. In seinem Vertrauen auf die Gestaltungschancen des konstitutionalisierten Reichs distanzierte sich Schiemann zugleich von der personalen Treue zum Zaren, in der die Generation Büngners und Schwartz’ noch die Garantie partikularer Eigenständigkeit erblickt hatten: »Erst in dem Augenblicke, als dem russischen Untertan die Staatsbürgerrechte verliehen wurden, war der Boden geschaffen für eine neue Treue, eine Reichstreue, die mit den Rechten auch Pflichten übernahm und die das Prinzip der Gleichberechtigung aller Bürger zu seiner logischen Konsequenz der gleichen Teilnahme an allen Geschicken des Reiches anbahnte. Die Voraussetzung einer derartigen neuen Auffassung unserer staatsrechtlichen Stellung und unserer politischen Aufgaben war natürlich die Erkenntnis der neu gewiesenen konstitutionellen Bahn.«33 Mit seinem Plädoyer für einen Abbau ständischer Herrschaft, für eine Gleichberechtigung nationaler Kulturen statt des vormaligen Primats ›deutscher Kultur‹ sowie mit seiner Neudeutung ›baltischer Autonomie‹ zugunsten kultureller Autonomie für alle ethnischen Gruppen der Region stand Schiemann in den ersten Jahren seiner publizistischen Tätigkeit weitgehend mit dem Rücken zur Wand. Dazu trug sein kontinuierlicher Angriff auf den selektiven Vergangenheitsbezug des deutschen Milieus bei, dessen Beharrungskraft auch im frühen 20. Jahrhundert erheblich war: »Daß eine Gemeinsamkeit der Interessen zwischen den Deutschen und Letten bestand und mit der Zeit erkannt werden müßte, erschien mir immer klarer. Daß wir nur deshalb ein Recht haben sollten, Deutsche zu sein und zu bleiben, weil vor zwei Jahrhunderten … ein entsprechender Vertrag unterzeichnet worden war, wie da die Konservativen meinten, erschien mir völlig unhaltbar.«34 Auch Schiemanns unkonventionelles Privatleben trug dazu bei, ihn trotz seiner Herkunft und zunehmenden politischen Bedeutung zunächst aus der guten Gesellschaft Rigas auszuschließen. Der Versuch, Mitglied des exklusiven deutschen Gesellschaftsclubs ›Musse‹ zu werden, schlug blamabel fehl. Denn wichtiger noch als Herkunft und Vertrautheit mit der deutschen Kultur, über die Schiemann verfügte, war hier die konservative Grundeinstellung, die ihm fehlte: »Dem Brauche entsprechend hatte ich mich nach meiner Ankunft in Riga in der »Musse«, dem Club der guten deutschen Gesellschaft, zur Aufnahme gemeldet. Man wurde dort zunächst als temporäres Mitglied eingeschrieben und erst bei Eintreten einer Vakanz erfolgte ein Kugelballotement der am betreffenden Gesellschaftsabend anwesenden Mitglieder. In aller Stille wurden die Vorbereitungen getroffen, und an ei33 Rigasche Rundschau Nr. 148, 1913. 34 Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 88.

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nem Donnerstagabend erschien plötzlich ein ganzes Aufgebot meiner Gegner, die Mann für Mann schwarze Kugeln gegen mich abgaben … An der Tatsache einer offiziellen Verfemung war nicht zu zweifeln.«35 Trotz Schiemanns öffentlichem Eintreten für Gleichberechtigung und Annäherung der ethnischen Gruppen erlaubte die voranschreitende Nationalisierung der städtischen Lebenswelt ihm nur wenig Möglichkeiten zu übernationalem Austausch: »Eine unerlässliche Aufgabe baltischer Politik war es natürlich, eine Verständigung mit den übrigen Nationalitäten des Landes, vor allem mit den Letten anzubahnen. Das war keine leichte Aufgabe. Gesellschaftliche Beziehungen bestanden weder mit den lettischen noch mit den russischen und jüdischen Kreisen. Wirtschaftliche Beziehungen in Handel und Industrie gab es vor allem mit russischen und jüdischen Firmen, deren Vertreter sich … der deutschen Führung anschlossen, ohne dass dadurch persönliche Bindungen entstanden wären.«36 Auch der Liberale Club, ein Versuch, aufgrund politischer Gemeinsamkeiten ethnische Gräben zu überwinden, war wenig erfolgreich, wie Schiemanns Erinnerungen belegen. Am ehesten kam es noch zu Austausch und Verständigung mit den liberalen Russen, deren journalistischer Vertreter, Leonid Vitvickij, gemeinsam mit Paul Schiemann 1909 und 1910 einen baltischen Journalistenkongreß organisierte: »Schon im Gegensatz zu dieser reaktionären Einstellung des ›Rishski Westnik‹ war die liberale Zeitung ›Rishskaja Mysl‹ mit ihrem Chefredakteur Vitvitzky allen Verständigungsbemühungen wesentlich zugänglicher. Ja, man darf sagen, dass von dieser Seite in recht verstandenem nationalrussischen Interesse eine selbständige Verständigungsinitiative ausging.«37 Den Krieg erlebte Schiemann als russischer Offizier großenteils an der Front. Im Sommer 1918 flüchtete er nach Berlin, wo er sich dem Kreis um Hans Delbrück, Friedrich Meinecke und Max und Alfred Weber anschloß. Sein energisches Eintreten für eine Revision der deutschen Ostpolitik und eine selbständige Staatenbildung Estlands und Lettlands brachte ihn in scharfe Konflikte mit der deutschen Besatzungsverwaltung und deren Berliner Verbindungsleuten, die, so Schiemann, »der Welt den urdeutschen Charakter der baltischen Provinzen vorzutäuschen suchten.«38 Ein Zerwürfnis mit seinem Onkel Theodor Schiemann, der die Wiedereröffnung der ›deutschen Universität‹ Dorpat 1918 als Kurator vornahm, war eine persönliche Folge dieser divergierenden politischen Vorstellungen. Nach dem Ende des Krieges und der Gründung der Lettischen Republik übernahm Schiemann die politische Führung der deutschen Minderheit in 35 36 37 38

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Ebd., S. 116. Ebd., S. 103f. Ebd., S. 107. Rigasche Rundschau 21.7.1919.

Lettland, hatte als Chefredakteur der ›Rigaschen Rundschau‹ ein einflußreiches publizistisches Amt inne und wurde schließlich Mitbegründer des Europäischen Nationalitätenkongresses, der zwischen 1925 und 1938 in Genf tagte.39 Das Zusammenwirken von politischer und publizistischer Tätigkeit ließ ihn in den 1930er Jahren ein Modell des ›anationalen Staates‹ entwikkeln, den er als notwendige Grundlage einer gesamteuropäischen Ordnung betrachtete.40 Bereits vor 1933 hatte sich Schiemann von den Nationalsozialisten distanziert, deren Einfluß auf die deutschen Minderheiten Estlands und Lettlands immer stärker wurde. Diese Position sollte ihn innerhalb des deutschen Milieus zunehmend isolieren und kurz nach der Machtergreifung verlor Schiemann im Zuge der Gleichschaltung alle seine Posten in Lettland. Die sowjetische und kurze Zeit später die deutsche Okkupation erlebte er schwerkrank noch in Riga, wo er 1944 starb. Seine Erinnerungen diktierte er während der nationalsozialistischen Besatzung Rigas einer jungen Jüdin, die er und seine Frau in ihrem Hause versteckt hielten.41 Die Lebensläufe dieser so unterschiedlichen deutschen Akteure machen über individuelle Schicksale hinaus exemplarische Bildungswege, Sozialisationsräume und Deutungsmuster kenntlich, die in Riga zur Ausbildung eines deutschen Milieus führten. Für die Majorität derer, welche die kommunale Politik der Stadt bis zur Mitte der 1890er Jahre bestimmten, war die Herkunft aus einer renommierten Rigaer Familie typisch, obwohl das Milieu auch leistungsbereiten Newcomern offen stand, sofern sie sich die milieuspezifischen Leitvorstellungen aneigneten. Das Studium an der Dorpater Universität und der Beitritt zu einer Verbindung trug wesentlich zur Vermittlung der Denkfiguren ›baltischer Autonomie‹ und ›deutscher Kultur‹ bei, die ein selektiver Vergangenheitsbezug abzusichern half. Die häufige berufliche Tätigkeit in ständischen Institutionen und deren Umfeld legte es nahe, die Vorstellung ›ständischer Herrschaft‹ zur Leitlinie eigenen Handelns zu machen. Geradezu eine Eintrittsbedingung für das Milieu war schließlich die Ausübung ehrenamtlichen Engagements zum Besten der Stadt. Politische Reformen, industrielle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel bewirkten jedoch seit den 1890er Jahren eine Veränderung dieses Profils. Immer weniger repräsentativ für die deutsche Elite wurde der akademisch geprägte Patrizier mit starkem Vergangenheitsbezug und regional begrenzter Perspektive, immer häufiger der selbständige und zukunftsorientierte Wirtschaftsbürger, der oft im Reichsinneren gearbeitet hatte, Russisch sprach und mehr als nur die Person des Zaren mit dem Reich verband. Die Juristische Fakultät Dorpats war nicht mehr die Institution, wo zentrale Leitvorstellungen 39 Vgl. Bamberger-Stemmann. 40 Vgl. v.a. Schiemann, Volksgemeinschaft und Staatsgemeinschaft; vgl. auch Doerr. 41 Vgl. die Einleitung von Helmut Kause in: Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 9ff.

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eingeübt wurden, vielmehr kennzeichnete ein neuer Pluralismus technischer, wirtschaftlicher und juristischer Ausbildung jetzt die Karrieremuster der neuen Elite. Hatte für die Generation Büngners und Schwartz‹ die russische Bürokratie das primäre Feindbild abgegeben, profitierten die neuen Männer wie George Armitstead meist von der Zoll- und Wirtschaftspolitik des Reiches und hatten nach dem Abebben der schärfsten Russifizierungsmaßnahmen wenig Grund mehr für Feindseligkeit gegenüber der Regierung, zumal sie auch in politischer Hinsicht bevorzugt wurden: Die Städteordnung von 1892 stärkte die Position des Wirtschaftsbürgertums, wogegen unbemittelte Akademiker von der politischen Partizipation ausgeschlossen wurden. Schließlich führte auch die Konstitutionalisierung Russlands zu einem neuen Loyalitätsbezug dieser Elite, der die Oppositionshaltung der vorigen Generation ablöste und in der Baltischen Konstitutionellen Partei seinen personellen Kern fand. Denkfiguren, die das Milieu konstituiert hatten, wie ›ständische Herrschaft‹ und ›baltische Autonomie‹ schwächten sich weniger am breiten Rand, wohl aber in seinem Kern zunehmend ab. Deshalb verlor auch die Strategie, diesen Ordnungsentwürfen durch die Beschwörung historischer Kontinuität Geltung in der Gegenwart zu verschaffen, an Boden. Dem vormaligen Primat ›deutscher Kultur‹ stellten Liberale wie Armitstead und Schiemann jetzt den Gedanken einer Gleichberechtigung der nationalen Kulturen entgegen. Die Orientierung an einem ›städtischen Gemeinwohl‹ blieb bestehen. Von der neuen Generation wurde es jedoch in eine kommunale Sozialpolitik umgedeutet, die das frühere Prinzip ständisch-patriarchalischer Wohltätigkeit ablöste und ein zivilgesellschaftliches Potential aufwies, das erstmals auch eine politische Allianz mit der russischen Elite ermöglichte.

2. Vom soziokulturellen zum politischen Nationalismus: Die Letten Spezifische Leitvorstellungen, die in den Lebensläufen ausgewählter Akteure an Gestalt gewinnen, banden auch das lettische Milieu zusammen. Da Riga im späten 19. Jahrhundert zum Zentrum der lettischen Nationsbildung wurde, handelt es sich bei den städtischen Akteuren zugleich um die Führer der Nationalbewegung, deren inhaltliche Ausrichtung daher Teil der Untersuchung ist. Während das deutsche Milieu, das auch in sozialer Hinsicht recht homogen war, bis 1914 eine erhebliche politische Geschlossenheit aufwies, kam es im lettischen Milieu zu einer scharfen Segmentierung in zwei ideologisch konkurrierende Flügel, die auf die Deutungsoffenheit und Pluralität des nationalen Konzepts hinweist. 120

Im Lebenslauf Fricis Veinbergs (1844–1924) tritt diese Ambivalenz deutlich zutage, wurde der Vertreter eines bürgerlichen Nationsverständnisses doch im Laufe seines Lebens zum erbitterten Gegner jenes lettisierten Klassenbegriffs, den die nächste Generation lettischer Nationalisten entwickelte. Veinbergs wurde 1844 als Sohn eines kurländischen Dorfschullehrers geboren und besuchte das deutsche Gymnasium in Mitau, der Gouvernementhauptstadt Kurlands. Mehrere Jahre war er als Privatlehrer in einem deutschbaltischen Adelshaus tätig, dessen ständische Denkweise er dort aus nächster Nähe kennenlernte. Die Protektion eines hohen russischen Beamten ermöglichte ihm das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Moskau, wo er mit der nationalistischen Programmatik der russischen Journalisten Michail Katkov und Ivan Aksakov vertraut wurde. Deren Kritik am deutschbaltischen Sonderstatus bestätigte Veinbergs Erfahrungen nur noch und trug zur Ausbildung eines deutschen Feindbilds wesentlich bei. 1869 ließ er sich als Anwalt in Riga nieder und begann als Redakteur für die entstehende lettische Presse zu arbeiten. Die journalistische Tätigkeit sollte zu Veinbergs beruflichem Schwerpunkt werden, die Zeitung für ihn jenes Medium, durch das er einem wachsenden Publikum zentrale Denkfiguren des lettischen Nationalismus vermittelte. Auf eigene Kosten gründete er zunächst die kurzlebige ›Baltische Zeitung‹, ein eher farbloses Nachrichtenblatt, noch in deutscher Sprache, das aber bereits erste Vorstellungen der lettischen Nationalisten skizzierte. In der 1877 von ihm gegründeten ›Rīgas Lapa‹ (Rigaer Tageblatt), der ersten lettischsprachigen Tageszeitung, vor allem aber im populären ›Baltijas Vēstnesis‹ (Baltischer Bote) sollte Veinbergs die wesentlichen Leitideen der lettischen Nationalbewegung ausarbeiten und argumentativ begründen. 1902, als er zunehmend an den rechten Rand des Milieus rückte und mit dem demokratisch orientierten Chefredakteur des ›Baltijas Vēstnesis‹, Arveds Bergs, in Konflikte geriet, gründete er die nationalkonservative ›Rīgas Avīze‹ (Rigaer Zeitung), die sich bis in den Ersten Weltkrieg hinein hielt. Die beiden zentralen Denkfiguren des lettischen Nationalismus, die Veinbergs durch seine publizistische Tätigkeit zu popularisieren suchte, bestanden in der Notwendigkeit der sozioökonomischen Emanzipation und der Entwicklung einer ›nationalen Kultur.‹ Daher rief er in einer programmatischen Schrift von 1878, die den lettischen Wählern den ungewohnten Gang zur Urne erleichtern sollte, dazu auf, »man soll uns in den Wahlen nicht als Bauern, sondern als Bürger erkennen!«42 Die Vermittlung dieser Vorstellung einer ›Gesellschaft mittlerer Existenzen‹ (Lothar Gall), mit der Veinbergs zunächst ganz in der Tradition des mitteleuropäischen Liberalismus stand, betrieb er vor allem im ›Baltijas Vēstnesis.‹ Zwar beanspruchte das Blatt theoretisch, die Interessen aller Schichten zu vertreten, doch in der Praxis bemühte 42 Veinbergs, Par Jauniem Pilsētas Likumiem, S. 46.

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es sich vor allem um die Formierung einer bürgerlichen Gesellschaft: »Baltijas Vēstnesis kümmert sich darum, daß unter den Letten eine Schicht von Kaufleuten, Gewerbetreibenden, Handwerkern und Fabrikbesitzern entsteht.«43 Mit Berichten über europäische Politik, Börsennachrichten, Wahlkampfagitationen und bürgerliche Kultur sprach das Blatt ein schmales Publikum an, das sich jedoch im Zuge der städtischen Modernisierung zügig vergrößerte. Hatte die Zeitung 1869 mit einer Auflage von 1 000 Exemplaren begonnen, umfasste sie 1895 bereits 9 000 Exemplare.44 Beide Leitvorstellungen von sozioökonomischer Emanzipation und ›nationaler Kultur‹ besaßen eine explizit antideutsche Spitze, suchten sie doch die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der Deutschen in Stadt und Region zu überkommen und »die Befreiung der Letten vom deutschen Einfluß« zu erreichen.45 Auch das ständische Bewußtsein des deutschbaltischen Bürgertums forderte zur Vorstellung von der deutschbaltischen Oberschicht als Erzfeind des lettischen Volkes mit heraus.46 In den Schriften Veinbergs, der unter der ständischen Zurücksetzung besonders litt, spielte diese Denkfigur eine ausgeprägte Rolle: »Das nationale Selbstbewußtsein entsteht im Kampf eines Volkes gegen andere Völker.«47 Abgestützt durch eine spezifische Vergangenheitsdeutung kennzeichnete das täglich erfahrbare Feindbild von den Deutschen alle Protagonisten der Nationalbewegung, hielt das Milieu zusammen und grenzte es nach außen ab. Zum deutschen Feind gesellte sich der russische Freund. Für die Generation Veinbergs war diese Schlußfolgerung nur folgerichtig, denn die Reformen der Regierung, die Städteordnung, die Polizei- und Justizreform sowie partiell auch die schulische Russifizierung beseitigten in der Tat die deutsche Vorherrschaft und schufen politische, soziale und kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten, die zunehmend unabhängig von Ethnizität waren. Ebenso erhoffte man sich die Einführung der Zemstvo, welche die Letten erstmals an der lokalen Selbstverwaltung auf dem flachen Land beteiligt hätte. Daß es der Regierung zwar um Zentralisierung und Unifizierung ging, daß sie aber keinerlei Interesse an einer Stärkung nationaler Kräfte, seien sie deutsch oder lettisch, haben konnte, realisierten die Akteure der Nationalbewegung erst später.48 Veinbergs prorussische Orientierung drückte sich zunächst in seiner Teilnahme an der Revisionskommission des russischen Senators Manasein 1881/82 aus 43 Baltijas Vēstnesis, 29.10.1893. 44 Vgl. Purins, S. 9, LAB. 45 Veinbergs, Politische Gedanken aus Lettland, S. 104. 46 In seiner Schrift ›Politische Gedanken aus Lettland‹ kritisierte Veinbergs vor allem die »größten socialen Übel, die einer übermäßigen Ungleichheit in der Vertheilung von Ehre entspringen«, S. 85. 47 Veinbergs, Niedra versus Veinbergs, S. 6. 48 Vgl. Plakans, The Latvians. A short Story, S. 101. Vgl. auch Lazda.

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und setzte sich in seiner Beratertätigkeit für den neuen Gouverneur Zinov’ev fort.49 So fest war seine Überzeugung, nur mit russischer Hilfe sei der deutsche Feind zurückzudrängen, daß ihn auch die kulturellen Russifizierungsmaßnahmen, denen die lettischsprachige Volksschule zum Opfer fiel, nicht von seiner Überzeugung einer lettisch-russischen Freundschaft abbrachten. Was Krišjanis Valdemars, der in Moskau lebende Führer der lettischen Nationalbewegung, postuliert hatte, wurde für Veinbergs Generation zur handlungsleitenden Maxime: »Glauben Sie wirklich, es wäre besser für die Letten, germanisiert zu werden, und in der Sklaverei zu verbleiben, als russifiziert zu werden und dadurch die Freiheit zu erlangen?«50

Abb. 8: Fricis Veinbergs, Redakteur der ›Rīgas Avīze‹, um 1870 (Stahlstich von I. R. Tilbergs)

Auch außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit suchte Veinbergs nach Wegen, seine Leitvorstellungen umzusetzen. Als Gründer und langjähriger Vorsitzender des Lettischen Hausbesitzervereins bemühte er sich, durch Kleinkredite, Hilfskassen und gemeinsame Interessenvertretung Immobilienbesitz zu schaffen, der auch für die politische Teilhabe auf kommunaler Ebene ausschlaggebend war. Als Mitglied des Lettischen Vereins organisierte er die Sängerfeste, deren symbolische Praxis die ungewohnte Vorstellung ei49 Vgl. Valdemars, Sarakste, S. 522. 50 Zandbergs, S. 147f.

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ner ›lettischen Nation‹ erfolgreich vermitteln konnte. Und als langjähriger Stadtverordneter und wichtigster Oppositionsführer in der Rigaer Duma trug er wesentlich zur Nationalisierung der politischen Kultur bei, indem er kommunale Probleme immer auch als nationale Angelegenheiten auffaßte und behandelte: »Durch eine lebhafte Beteiligung an den Wahlen wird man nicht nur für sich selbst und für seine Stadt Gutes erzielen, sondern auch dem ganzen lettischen Volke eine Wohltat erweisen.«51 Veinbergs bürgerlichem Nationskonzept erwuchs jedoch bald Konkurrenz innerhalb des lettischen Milieus. Denn dem demokratisch und partiell sozialistisch orientierten Flügel, der sich seit den 1880er Jahren formierte, schwebte eine Ordnung vor, die nicht den Bürger, sondern den Arbeiter in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellte, die nicht in Besitz und Bildung, sondern in politischer, rechtlicher und sozialer Gleichheit das Rezept einer besseren Zukunft sah. Der ideologische Angriff, dem Veinbergs sich zunehmend ausgesetzt sah, bewirkte bei ihm eine zunehmend rechtsnationale Orientierung, die mit scharfem Antisemitismus und Antisozialismus einher ging. Als das Oktobermanifest von 1905 zunächst das allgemeine und gleiche Wahlrecht proklamierte, wandte sich Veinbergs explizit dagegen und erneuerte sein Plädoyer für jenes Klassenwahlrecht, das Stolypin bereits 1906 oktroyieren sollte: »Man darf aber das Wahlrecht nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nation verwechseln, denn das Wahlrecht ist für uns etwas Neues, wogegen die Letten schon vor 1000 Jahren über das Selbstbestimmungsrecht verfügten. Das allgemeine Wahlrecht kann nur dazu führen, daß eine sozialdemokratische oder sogar plutokratische Regierung entsteht.«52 Sein immer engeres Nationsverständnis, das Sozialdemokraten und Juden, zunehmend aber auch Bauern und Frauen von der gedachten Gemeinschaft ausschloß, verwies Veinbergs seit der Jahrhundertwende an den rechten Rand des Milieus. Doch weiterhin konnte er in den städtischen Wahlen Teile des lettischen Elektorats für sich einnehmen ebenso wie seine Zeitung ›Rīgas Avīze‹ eine beträchtliche Auflage verbuchte. Veinbergs konservative, erhebliche Gruppen der Bevölkerung ausgrenzende Deutung der lettischen Nation blieb auch im frühen 20. Jahrhundert eine wesentliche Strömung des lettischen ›Nation-building‹. 1924 starb Veinbergs, der bis zuletzt als politischer Journalist arbeitete, in Riga. Das bürgerliche Nationsverständnis der ersten Generation vertrat auch Alexanders Vēbers (1848–1910), ein ähnlich zentraler Exponent des lettischen Milieus. Der 1848 in Kurland geborene Vēbers war der Sohn eines deutschen Landvermessers und hatte sich aus Mangel an deutschen Spielgefährten bereits als Schüler primär in lettischen Kreisen bewegt. Seine deutsche Her51 Veinbergs, Par Jauniem Pilsētas Likumiem, S. 20. 52 Rīgas Avīze 1.5.1910.

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kunft sollte ihm, der sich bald ganz ins lettische Milieu akkulturierte, in seiner Karriere jedoch nicht hinderlich sein. Im Mitauer Stadtgymnasium traf er auf zahlreiche lettische Mitschüler, die ihn mit den Schriften der baltischen Auf klärungsliteratur, vor allem Garlieb Merkels, vertraut machten. In Dorpat, wo Vēbers zunächst mit dem Studium der Geschichte begann und der lettischen Burschenschaft Lettonija beitrat, wurde er mit Atis Kronvalds bekannt, einem frühen, einflußreichen lettischen Nationalisten, der ihn weiter für die lettische Sache zu begeistern verstand, wie seine autobiographischen Aufzeichnungen belegen: »Die damals ungerechten und über das vernünftige Maß hinausgehenden Angriffe auf das Deutschtum machten auch in anderer Weise Eindruck auf den Verfasser dieser Zeilen. In seinen Jugendjahren war er, obgleich deutscher Abstammung, der lettischen Bewegung beigetreten, weil es ihm als ein hohes Ziel der Wirksamkeit erschien, für einen damals zum Teil unterdrückten, zum Teil verachteten Volksstamm einzutreten, und weil er glaubte, durch eine solche Wirksamkeit das Unrecht zu mindern, das von deutscher Seite demselben etwa zugefügt worden.«53 Bald wechselte Vēbers an die St. Petersburger Universität, wo er das Studium der Rechtswissenschaft aufnahm und abschloß. 1870 ließ er sich als Anwalt in Riga nieder und erwarb durch die Verteidigung zahlreicher Letten, die noch kaum eigene Anwälte hatten, erheblichen Wohlstand. Die Einführung der neuen Städteordnung lieferte ihm, ebenso wie Veinbergs, den Anlaß, eine neue Zeitung herauszugeben, nämlich die zweimal wöchentlich erscheinende ›Balss‹ (Stimme), deren eingängig formulierte nationale Parolen städtische wie ländliche Leser gleichermaßen anzogen und die bald eine Auflage von 6 000 Exemplaren erreichte.54 Auch Vēbers postulierte in seinen Leitartikeln sozioökonomische Emanzipation und ›nationale Kultur‹ als maßgebliche Schritte zur Ausbildung einer lettischen Nation.55 Die deutschbaltische Vereinsseligkeit vor Augen erschien auch ihm der Auf bau eines lettischen Vereinsnetzes als geeigneter Weg dorthin: »Im Vergleich zu anderen Völkern weisen wir Letten noch eine zu geringe Geschlossenheit und Einheitlichkeit auf. Wir haben noch zu wenig Vereine, die dafür sorgen, daß die Letten sich zusammenschließen. Es mangelt noch an Landwirtschafts-, Handwerker- und Handelsvereinen. Ohne solche werden wir keinen realen materiellen Zuwachs erreichen und ohne diesen werden wir nie ein reiches und aufgeklärtes Volk werden: Wohlstand und Bildung sind keine Feinde, sondern unsere besten Freunde.«56 Vēbers 53 Aus Vēbers autobiographischen Aufzeichnungen zitiert nach: v. Pistohlkors, Das Urteil Alexander Waebers, S. 243. 54 Vgl. Valdemars, Sarakste, S. 466. 55 Vgl. Rede Vēbers in Baltijas Vēstnesis 1.3.1878. 56 Baltijas Vēstnesis 3.5.1872.

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engagierte sich ehrenamtlich in der ersten lettischen Schiffahrtsgesellschaft Ausma, stand der Mitauer Lettischen Gesellschaft vor, war Vizepräses des Rigaer Lettischen Wohltätigkeitsvereins sowie der langjährige Vorsitzender der Wissenschaftskommission des Lettischen Vereins. Anders als im deutschen Assoziationswesen, dessen Vertreter sich überwiegend karitativen Zwekken widmeten, ging es in den lettischen Vereinen primär um die Förderung der eigenen lettischen Interessen. Förderung tat vor allem der bisher nur in mündlichen Idiomen existierenden lettischen Sprache not. Als Vorsitzender der Wissenschaftskommission des Lettischen Vereins bemühte sich Vēbers um die Kodifizierung einer einheitlichen Rechtschreibung. Während Vertreter der russischen Verwaltung mit einer Kyrillisierung des Lettischen liebäugelten, favorisierten Letten wie Deutsche das lateinische Alphabet. Vēbers arbeitete sich so in den Gegenstand ein, daß er eine eigene Orthographie entwickelte, die vor der späteren Kodifizierung durch den Sprachforscher Milenbahs partiell benützt wurde.57 Sein Engagement für die Ausbildung einer lettischen Kultur verband Vēbers, der sich bis 1905 ganz als Lette fühlte und auch so anerkannt wurde, problemlos mit einer entschieden prorussischen Orientierung. Im Gegensatz zum konservativen Veinbergs, der eher für die Reform des bestehenden Landtags, ein Organ des deutschbaltischen Adels, plädierte, sprach sich der liberale Vēbers für die Einführung der russischen Zemstvo aus: »Wir haben seit jeher der Einführung der Zemstvo das Wort geredet, in der Erkenntnis, dass alle Versuche, den Landtag zu reformieren, zu spät für unsere Bedürfnisse kommen und daher ihr Ziel verfehlen würden. Es ist sehr zweifelhaft, ob unsere Landtage, in denen die Konservativen die Mehrheit haben, jene Reformen befürworten, die unseren Bauern notthun.«58 Vēbers Interesse an Ethnographie, Geschichte und Literatur machten ihn schließlich zum maßgeblichen Vermittler jener selektiven Erinnerung, derer das lettische Milieu ebenso bedurfte wie das deutsche. Dabei griffen die nationalen Aktivisten auf die 1797 publizierte Schrift des baltischen Auf klärers Garlieb Helwig Merkel »Die Letten« zurück, eine glänzend geschriebene Anklage der livländischen Fronwirtschaft, in der die ökonomische, soziale und kulturelle Bedrückung der lettischen Leibeigenen durch den deutschbaltischen Adel gegeißelt wurde.59 Es war vor allem Merkels Geschichtsdeutung, die seine Schrift zu einem kanonischen Text des lettischen Nationalismus werden ließ, wie sie vergleichbar der deutschbaltische Regionalismus durch Schirrens »Livländische Antwort« und der russische Zentralismus durch Samarins »Okrainy Rossii« erhalten hatten. Nicht nur, daß Merkels Angriff auf 57 Vgl. Anderson. 58 Zitiert nach: Švabe, S. 523. 59 Vgl. Merkel, Die Letten, sowie Heeg.

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die deutschbaltische Oberschicht jenes Feindbild präzise benannt hatte, dessen die entstehende Nation bedurfte, er war es auch, der erstmals das Konstrukt festschrieb, die Letten seien vor Ankunft der Deutschen eine nahezu selbständige Nation gewesen: »Die Letten hörten zwar nicht auf, für sich bestehende Nationen zu seyn, aber durch bis itzt unabänderliche Gesetze in den untersten Stand gezwängt, sind sie viele Jahrhunderte hindurch … bis an die Gränze des Viehs hinabgedrückt.«60 Auf Merkels Mythos zurückgreifend, konstruierten Vēbers und seine Mitstreiter eine dichotomische Sicht der eigenen Vergangenheit als eine helle Zeit vor der deutschen Kolonisierung sowie eine dunkle, 600jährige Zeit der Sklaverei, in der »die Letten aus der Geschichte wie verschwunden waren, bis Merkel sie aus der Vergessenheit herausgeholt hat und die Welt an ihre Existenz erinnerte. Erst im 19. Jahrhundert kehrten die Letten allmählich in die Geschichte zurück.«61 Durch die Vorstellung, daß die Nation und ihre Geschichte in der Vergangenheit auseinandergefallen seien, ließ sich das gegenwärtige ›Erwachen‹ als Bruch mit dieser Vergangenheit interpretieren und als Wiederanknüpfung an die vermeintliche mittelalterliche Existenz einer lettischen Nation. Dieses selektive Gedächtnis avancierte zu einem zentralen Bestandteil der lettischen Nationsbildung und sollte in allen Identitätsdiskursen in hohem Maße mobilisierend wirken: »In der Geschichte der Letten sind nur zwei Jahrhunderte von Bedeutung: das 13. Jahrhundert, als das lettische Volk seine Freiheit verlor und in einen langen geistigen Schlaf fiel, und das 19. Jahrhundert, in dem die Letten endlich aus diesem Schlaf erwachten.«62 Mit dieser Erinnerungsstrategie dokumentierte auch das lettische Milieu, wie die jeweilige Interpretation der Vergangenheit vom Bezugsrahmen und den Anforderungen der Gegenwart geformt wurde. Konzipierte das deutsche Milieu seine Rolle als Fortführung der eigenen Geschichte, gingen die lettischen Nationalisten den umgekehrten Weg: Sie deuteten ihre Rolle in der Gegenwart als Bruch mit der eigenen Geschichte, soweit das auch die Geschichte der Deutschen war, und knüpften an eine erfundene Geschichte an, welche die Letten vor Ankunft der deutschen Kreuzfahrer als bereits existierende Nation zeichnete. Der Bezug auf eine Vergangenheit, die im lettischen Fall als »prinzipielle Nichtidentität der … Nation mit der eigenen Geschichte« konstruiert wurde,63 konnte also ebenso einen wie die Erfindung einer Tradition, mit der sich das deutsche Milieu in die Kontinuität mit der erinnerten Geschichte stellte. Beide Strategien, Identität aus geschichtlicher ›Kontinuität‹ oder aus dem ›Bruch‹ mit der Geschich60 61 62 63

Merkel, Die Letten, S. 14. Baltijas Vēstnesis 23.6.1901. Baltijas Vēstnesis 3.1.1900. Suter, S. 79.

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te zu schöpfen, sollten sich auch in den lokalen Wahlkämpfen als überaus zugkräftige Sammlungsparole erweisen. Die Generation Veinbergs’ und Vēbers’ war noch vom europäischen Liberalismus und Nationalismus der Jahrhundertmitte geprägt. In Gestalt junger Intellektueller, die jetzt Sozialismus und Marxismus als ideologisches Gepäck mitbrachten, erwuchs ihnen seit den 1890er Jahren jedoch eine Konkurrenz auf dem kommunalen Schauplatz, der sie vergleichsweise hilflos gegenüberstanden. Gerade Vēbers, der die Vorstellung von einer lettischen Nation durch phantasievolle Geschichtskonstrukte zu stabilisieren versucht hatte, traf es empfindlich, wenn jüngere Protagonisten der Bewegung ihn jetzt mit der Dekonstruktion solcher Bilder konfrontierten. Entsprechend harsch fiel sein Urteil über die lettische Sozialdemokratie in der Revolution von 1905 aus: »Billig muß man fragen, wie die Social-Demokratie … dennoch so schnell zu solchem Einfluß gelangte? … Sie hat die in lettischen Kreisen gegen die Deutschen bestehende Animosität und besonders die im Volke fortlebende Ansicht ausgenutzt, dass die Deutschen an allem festhielten, was an Knechtschaft erinnere. Gegenüber den Lehren und Hoffnungen der nationalen Bewegung, dass die Letten durch Fleiß, Sparsamkeit und Umsicht das ihnen einst abgenommene Land wieder erobern … hielt die Social-Demokratie den Einwand entgegen, dass solche Lehren nur von Kapitalisten oder von solchen kommen können, die in kapitalistischer Denkungsweise aufgewachsen seien.« 64 Traumatisiert durch die Wirren der Revolution, der auch sein Eigentum zum Opfer fiel, floh Vēbers schließlich nach Deutschland, wo er 1910 starb. Die Denkfiguren sozioökonomischer Emanzipation und ›nationaler Kultur‹, deren antideutsche Spitze durch eine selektive Erinnerungsstrategie zusätzlich legitimiert wurde, markierten das bürgerliche Nationsverständnis der ersten Generation lettischer Protagonisten und waren zugleich konstitutiv für das Milieu dieser Zeit. Die Entfaltung einer bürgerlichen Klassengesellschaft, wie sie im industrialisierten Riga immer sichtbarer wurde, stellte die Vorstellung der Nation als einer ›klassenlosen Bürgergesellschaft‹ jedoch zunehmend in Frage. Migration und Industrialisierung führten zur Herausbildung eines lettischen Proletariats, für deren Probleme die bürgerliche Elite im Letttischen Verein keine Lösung bereit hielt. Riefen ihre Vertreter in den städtischen Wahlkämpfen zum Grundstückskauf unter nationalen Vorzeichen auf, blieb ein solches Programm für die Fabrikarbeiter der Vorstädte gänzlich irrelevant. Bemühten sie sich, die Nationsvorstellung durch Mythen und Volksliedersammlungen zu füllen, wirkte das auf die junge Generation marxistischer Akademiker, welche jetzt die Führung der 64 Aus Vēbers autobiographischen Aufzeichnungen, zit. nach v. Pistohlkors, Das Urteil Alexander Waebers, S. 241.

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Fabrikarbeiterschaft übernahmen, zunehmend lächerlich. Besonders deutlich faßte der Sozialdemokrat Janis Asars im Jahr 1904 die Kritik zusammen, welche sich aus den Reihen der linken Intelligenz gegen die Deutungsdiktatur des bürgerlichen Flügels richtete: »Der bürgerliche Nationalismus hat nicht das gebracht, was man von ihm erwartete … Statt das Volk zu vereinigen, hat man das Volk gespalten … Das Verdienst des bürgerlichen Nationalismus lag darin, die aktuellen Fragen der Nation in die Öffentlichkeit zu bringen … Doch in den 1880er Jahren hat die Nationalbewegung sich im Bürgertum verloren. Als Valdemars 1891 gestorben war, stand das Bürgertum zwar an seinem Sarg, aber gleichzeitig auch weit entfernt von seinen Überzeugungen. Nachdem das wirtschaftliche Programm des Bürgertums langsam Gestalt angenommen hatte, blieben nur noch … nationale Phrasen und Mythen, die lettische Sprache und Geschichte übrig. Als die nationale Idee in den 1880er Jahren wirklich populär wurde, war sie in den leitenden Kreisen der Gesellschaft nurmehr zur Zweckideologie des Bürgertums herabgesunken.« 65

Provoziert von der Konzentration der älteren Generation auf Besitz und Bildung begannen Intellektuelle wie Asars alternative Ordnungskonzepte zu formulieren, die den Anforderungen der neuen Realität eher zu entsprechen schienen. Ordnungsmodelle und Feindbilder, die bisher konstitutiv gewesen waren, wurden neu interpretiert, zurückgewiesen oder schwächten sich ab. Damit ging eine ideologische Spaltung des Milieus in zwei Lager einher, deren Vertreter konkurrierende Nationsdeutungen anboten, die Abgrenzung gegenüber den anderen ethnischen Milieus jedoch beibehielten. In den Lebensläufen Vilis Olavs, der dem neokonservativen Lager zuzurechnen ist, sowie des bedeutenden lettischen Politikers Mikelis Valters, vor 1918 ein überzeugter Sozialist, gewinnen beide Ausrichtungen an konkreter Gestalt. Der 1867 geborene Vilis Olavs stand zunächst in der Tradition eines bürgerlichen Nationsverständnisses, wie Vēbers und Veinbergs es vertraten. Olavs war der Sohn eines lettischen Kleingrundbesitzers und besuchte das damals noch deutschsprachige Gymnasium in Mitau. Nach dem Studium der Theologie in Dorpat arbeitete er zunächst als Hilfspfarrer in Riga, erhielt aber keine feste Pfarrstelle, wohl aufgrund seines nationalen Engagements. Auf dem Rigaer Polytechnikum absolvierte er ein zweites Studium der Nationalökonomie und gründete 1904 eine florierende Kommerzschule für Mädchen in Riga. Parallel arbeitete er als Redakteur der ›Balss‹ und trat damit in die Fußstapfen seines geistigen Ziehvaters Vēbers. Auch außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit widmete er sich der Förderung nationaler Interessen. Als Vorsitzender der Wissenschaftskommission des Lettischen Vereins war er Teil des konservativen Flügels, begann deren offensichtliche Probleme aber bald zu kritisieren. Dem Lettischen Bildungsverein stand er als Präses vor, organi65 Asars, LNB.

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sierte die lettische Beschickung der gesamtrussischen ethnographischen Ausstellung, die 1898 in Riga stattfand und wurde im Ersten Weltkrieg der Leiter des Lettischen Flüchtlingskomitees, dem eine zentrale Rolle für die lettische Nationsbildung im Krieg zukam. 1917 starb er in Finnland. Olavs setzte sich in all seiner Aktivität vor allem mit dem Verlust an Glaubwürdigkeit auseinander, der die bürgerliche Mitte zunehmend kennzeichnete, und suchte deren Konzentration auf Bildung und Wohlstand mit den sozialen Problemen seiner Zeit in Einklang zu bringen. Zunächst bemühte er sich, die verkrusteten Strukturen des Lettischen Vereins durch den Vorschlag regelmäßiger Ämterrotation aufzubrechen – ein Erneuerungsvorschlag, der ohne Echo blieb, wie Olavs selbst beklagte: »Bisher ist die herrschende Schicht innerhalb des Lettentums konservativ gesinnt – die sogenannte ›alte Strömung‹. Sie hat ohne Zweifel eine wichtige Rolle bei der Erweckung nationalen Bewußtseins gespielt. Doch nun bleibt sie in ihren Ansichten von damals verrannt und ist nicht imstande, die Jungen mit frischem Enthusiasmus für sich zu gewinnen. Im Gegenteil, sie verhält sich ungerecht gegenüber der neuen Generation, brüstet sich mit ihren Errungenschaften und bestreitet den Nachfolgern ihre Bemühungen.« 66 Zum anderen suchte er den bourgeoisen Habitus des Lettischen Vereins, dessen Trägerschaft primär aus lettischen Wirtschaftsbürgern bestand, durch die Integration kleinbürgerlicher Sozialkreise zu öffnen: »Zu Vilis Olavs Verdienst … gehört es, das demokratische Banner Kristian Valdemars wieder aufrichten zu wollen und dahinter jene Volksschichten zu vereinen, die sich von der monolithischen lettischen Gesellschaft der 80er und 90er Jahre getrennt hatten: Kleingrundbesitzer, Handwerksmeister, Landarbeiter, aber auch die Intelligenz.« 67 Der nationalkonservativen Ausgrenzung der Latgaler, einer lettischen Bevölkerungsgruppe, die in der östlichen Provinz Vitebsk lebte, katholisch war und bäuerlich geprägt, setzte er ein Plädoyer für deren Integration in die nationale Gemeinschaft entgegen.68 Obwohl Olavs Nationsverständnis in sozialer Hinsicht integrativer war als das von Veinbergs, blieb es in konfessioneller Hinsicht exklusiv. Juden gehörten auch für ihn nicht zur nationalen Gemeinschaft: »Die Juden selbst sind für die Erbitterung der Massen ihnen gegenüber verantwortlich. Sie sind nicht nur fordernd, aufdringlich und unehrlich, sondern eben auch grausam und blutrünstig. Dieses Element hat hier keinen Platz und Letten sollten sich jeder Zusammenarbeit mit ihnen enthalten.« 69 66 Krusa, Latvijas Namdaris , S. 52. 67 Līgotņu Jēkabs, Vilis Olavs savā dzīve und darbā [Vilis Olavs, sein Leben und Werk], in: Olavs, Kopoti Raksti, 1. Bd, S. 94. 68 Krusa, Latvijas Namdaris, S. 52ff. 69 Olavs, Kopoti Raksti, 4. Bd, S. 239.

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Auch die Mythenarbeit der ersten Generation des lettischen ›Nation-building‹ stellte Olavs zunehmend in Frage. Hatte er sich anfänglich daran noch beteiligt,70 realisierte er bald, daß die selektive Erinnerungsstrategien seiner Generation kaum mehr Anknüpfungspunkte in der Gegenwart bieten konnte und reagierte mit der Dekonstruktion solcher Bilder: »Was die Geschichte nicht konnte, mußte die Mythologie machen. Deshalb handelten die ersten nationalen Führer so gerne von uralten Göttern und der höheren Entwicklung der Letten in der Zeit der Freiheit. Aber diejenigen, die im Zeitalter der Dampfmaschinen leben, kann das Altertum nicht mehr inspirieren.«71 Mit der abnehmenden Integrationskraft eines selektiven Gedächtnisses ging eine neue Beurteilung von Freund und Feind einher. Das Feindbild von den Deutschen schwächte sich partiell ab, zumal auch im deutschen Milieu ein liberaler Flügel erkennbar wurde. Und während die vorige Generation lettischer Akteure noch jede Zusammenarbeit mit den Deutschen abgelehnt hatte, stand Olavs einer solchen Option offener gegenüber: »Man sollte ernstlich über die deutsch-lettische Zusammenarbeit nachdenken. Wir sind Kinder eines Landes und haben gemeinsam 700 Jahre dort gelebt. Friede und Kooperation mit den Deutschen können Bildung und Wirtschaft fördern.«72 Vor allem aber wandelte sich die Beurteilung des russischen Staates im Denken dieser Generation. Während der sozialistische Flügel des Milieus in ihm zunehmend den Klassenfeind sah, hatte er sich für Konservative wie Olavs vor allem mit seiner Kulturpolitik diskreditiert: »Beamte stellen den größten Teil der baltischen Russen dar. Sie zeigen kein Interesse für unsere lokalen Belange im Vergleich zu jenen, die hier dauerhaft ihren Wohnsitz haben. Daher kann man es den Letten nicht verdenken, wenn sie die Zusammenarbeit mit den Russen ablehnen.«73 Olavs Umgang mit jenen Leitprinzipien, die für die vorige Generation konstitutiv waren, belegt, daß es ihm und seinen konservativen Mitstreitern um eine Reform der Nationalbewegung von innen ging. Die Vorstellung der Nation als einer männlichen Gemeinschaft von Besitz und Bildung wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber vor dem veränderten Hintergrund der Epoche neu zu deuten gesucht: »Als Vilis Olavs der ›alten Strömung‹ den Kampf ansagte, geschah dies nicht, weil er eine neue Bewegung anstrebte, sondern vielmehr, weil die alte Bewegung nicht stark und wahrhaftig genug war.«74 Mit seiner Hoffnung auf einen erneuerten bürgerlichen 70 Vor allem in seiner Schrift ›Lettische Geschichte bis zum Ende des 12. Jahrhunderts‹, in: Ders., Kopoti Raksti, 2. Bd. 71 Olavs, Gurdenums tautiskos centeenos [Müdigkeit in den nationalen Bestrebungen], in: Ders., Kopoti Raksti, 4. Bd., S. 109. 72 Ebd., S. 123. 73 Ebd., S. 124. 74 Arveds Bergs, Viļa Olava piemiņai [Zur Erinnerung an Vilis Olavs], in: Olavs, Nekrologe, S. 5.

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Nationalismus sollte Olavs vor 1914 jedoch kein großes Echo beschieden sein – zu schwach blieben die Konturen seiner Reform, zu abschreckend die Deutungsdiktatur des Lettischen Vereins, zu überzeugend aber auch die Argumente seiner demokratischen Gegner innerhalb des Milieus. Zu letzteren gehörte vor allem Mikelis Valters (1874–1968), ein besonders markanter Vertreter der neuen Generation der lettischen Nationalbewegung. Valters stammte aus einer Libauer Arbeiterfamilie und hatte sich bereits als Schüler den dort aktiven Sozialdemokraten angeschlossen. Aufgrund dieser Tätigkeit mußte er einen einjährigen Gefängnisaufenthalt absitzen und emigrierte anschließend in die Schweiz, wo er an der Züricher Hochschule Jura studierte. Dort gründete er 1903 den Verband lettischer Sozialdemokraten, der von den russischen Sozialrevolutionären finanziell unterstützt wurde und 1905 etwa 5 000 Mitglieder aufwies. Parallel gab er die illegalen Blätter ›Der Proletarier‹ und ›Vorwärts‹ heraus, welche eine nationale Alternative zum kosmopolitischen Denken der lettischen Marxisten wie zum undemokratischen Nationsverständnis des konservativen Flügels formulierten und zur Grundlage aller nationalen Diskurse zwischen 1905 und 1918 werden sollten. In Riga hielt sich Valters nur temporär auf, doch wurde er gleichwohl eine der prägenden Figuren des dortigen Milieus. Auch Valters war von der unpolitischen und exklusiven Nationsdeutung des konservativen Flügels in hohem Maße enttäuscht: »Die in den 90er Jahren entstandene Situation des sich in aufsteigender kapitalistischer Entwicklung befindenden Landes schuf natürlich eine viel verwickeltere Ideenpsychologie. In den schlichten Auffassungen der nationalen Führer der ersten Erwachungszeit konnten nicht mehr Formeln und Begriffe für die neue Zeit gewonnen werden, und es galt, zur politischen Wiederbelebung der nationalen Bewegung den Erscheinungen der Zeit Rechnung zu tragen. Das hieß, aus der mit sozialen Problemen durchsetzten Wirklichkeit neue Kräfte dadurch zu gewinnen, dass der nationale Gedanke in nähere Verbindung mit den sozialen Problemen gebracht wurde.«75 Entsprechend plädierte er für eine Demokratisierung der nationalen Forderungen wie für deren Politisierung über den lokalen Wirkungskreis hinaus. Allgemeines gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, Acht-Stundentag für Arbeiter sowie Presseund Versammlungsfreiheit zählten zu den Kernforderungen seiner Partei, welche die besitzbürgerlichen Reformvorstellungen des Lettischen Vereins weit hinter sich ließen. Dem Postulat des Klassenkampfs, zu dem die marxistisch orientierte Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei aufrief, stellte Valters indes die rechtliche Absicherung von Arbeiterrechten entgegen sowie die Integration der bäuerlichen Bevölkerung in die Nation, eine vom

75 Valters, Lettland, S. 314f. Vgl. auch ders., Par valsti, S. 31f.

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bürgerlichen Milieu, aber auch von den Sozialisten vernachlässigte Gruppe, die immerhin rund 60% der lettischen Bevölkerung ausmachte.76 Ebenso großen Einfluß wie mit der Forderung nach einer Demokratisierung der Gesellschaft, die auch das Gros der lettischen Parteien vertrat, sollte Valters mit seinem Vorschlag politischer Eigenständigkeit beschieden sein. Als einzige der 1905 gegründeten Parteien ging Valters über die Vorstellung von partikularer Autonomie und Selbstverwaltung innerhalb des Zarenreichs hinaus und propagierte die Idee einer von Rußland unabhängigen lettischen Republik: »Wir wollen vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung Rußlands nicht nur Autonomie, sondern politische Herrschaft mit staatlichem Charakter.«77 Mit der Politisierung und Demokratisierung nationaler Vorstellungen ging eine Veränderung von Feindbildern einher, wie sie ähnlich auch den konservativen Flügel des lettischen Milieus kennzeichnete. War für die ältere Generation die Auseinandersetzung mit den Deutschen das zentrale Thema gewesen, wurde es für die Generation Valters und Olavs das Verhältnis zu Rußland. Valters, der sehr negative Erinnerungen mit der Russifizierung seiner Schule verband, galt das autokratische Zarenreich als zentrales Hindernis einer lettischen Autonomie: »Der Kampf gegen den Zentralismus der russischen Behörden zwang zu kulturellen Selbstverwaltungsforderungen und es war nur eine Selbstverständlichkeit, daß, einmal der Kampf gegen das zentralistische System aufgenommen, die Forderungen der niedrigeren Selbstverwaltung zu Fragen höherer staatsrechtlicher Natur führen mussten.«78 Die veränderte Frontstellung öffnete seinen Blick auch für neue Koalitionen. Auf der Basis politischer Gemeinsamkeiten, sei es Wahlrecht oder Selbstverwaltung, Territorium oder verbriefte Sozialrechte, hielt er auch eine Zusammenarbeit mit den Deutschen für denkbar, »denn wir müssen uns dann nicht als Deutsche oder Letten verständigen, sondern als diejenigen, die alle Anhänger einer Selbstverwaltung sind.«79 Für selektive Erinnerungsstrategien war in solch einer Argumentation kaum mehr Platz. Nachdem Valters Vorstellungen einer unabhängigen lettischen Republik 1918 realisiert worden waren, wurde er zum ersten Innenminister des neuen Lettlands. Die nächsten Jahre war der weltgewandte und vielsprachige Valters als Botschafter in Rom, Paris und Warschau tätig. Nachdem die Sowjetruppen Lettland 1940 besetzt hatten, ging er ins Genfer Exil, wo er 1968 starb. In den Lebensläufen dieser lettischen Akteure gewann vor allem der Deutungswandel an Kontur, den die Vorstellung von der Nation durchlief. Für die erste Generation bildeten sozioökonomische Emanzipation und der Auf76 77 78 79

Vgl. Plakans, The Latvians. A short Story, S. 108. Valters, Latvijas autonomija, S. 2. Valters, Lettland, S. 315. Valters, Mūsu tautības jautājums, S. 71.

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bau einer lettischen Kultur die zentralen Wegmarken der Nationsbildung. Ein starkes deutsches Feindbild, dem eine selektive Erinnerung die notwendige Legitimation gab, trug wesentlich zur Bildung des Milieus bei und grenzte es nach außen ab. Seine maßgeblichen Vertreter kamen aus bäuerlichen, manchmal kleinbürgerlichen Verhältnissen, hatten meist ein deutsches Gymnasium besucht, ihr Studium jedoch nicht in Dorpat, sondern an einer innerrussischen Universität absolviert, wo sie mit den Ideen des russischen Nationalismus in enge Berührung kamen. Sie waren überwiegend in freien Berufen tätig, meist als Anwälte oder Journalisten, gelegentlich als Lehrer, und engagierten sich auch außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit für die politischen Interessen der entstehenden Nation. Verein, Zeitung und Fest als zentrale Foren und Medien des lettischen ›Nation-building‹ waren nicht zuletzt Reaktionen auf das deutschbaltische ›Region-building‹ der 1860er und 1870er Jahre und belegen, wie das multiethnische Zusammenleben den Effekt verstärkte, daß vermeintlich ›Eigenes‹ letztlich in Nachahmung fremder Muster entstand. Ein vergleichbares Phänomen kennzeichnete die Erinnerungsstrategien des deutschen und des lettischen Milieus, die entweder einen ›Bruch‹ oder eine ›Kontinuität‹ mit der selektiv erinnerten Vergangenheit konstruierten. Mit gegensätzlichem Inhalt gefüllt, blieb das Muster dasselbe. Auch im lettischen Fall bewirkte der historische Wandel, daß milieukonstitutive Denkfiguren neu interpretiert wurden, Feindbilder sich wandelten. Auf die Probleme der industriellen Klassengesellschaft, die sich in Riga zunehmend ausbildete, hatten die Vertreter eines bürgerlichen Nationsverständnisses, das auf Besitz und Bildung konzentriert blieb, keine angemessenen Antworten mehr bereit. Das lettische Milieu spaltete sich seit den 1880er Jahren in zwei konkurrierende Lager, behielt die ethnische Abgrenzung zu den übrigen Milieus aber bei. Während der eine Flügel an das bürgerliche und weitgehend unpolitische Nationsverständnis der ersten Generation anknüpfte, dieses jedoch von innen reformieren und sozial erweitern wollte, wandte sich der andere Flügel davon ab und plädierte für eine vollständige Demokratisierung der Gesellschaft, die Bauern und Arbeitern einen gleichberechtigten Platz in der Nation ermöglichte. Damit einher gingen unterschiedliche Varianten der Politisierung, die von kultureller Autonomie über weitgehende Selbstverwaltung bis hin zur Ausnahmeposition einer unabhängigen Republik nach 1905 reichten. Entsprechend schwächte sich das Feindbild von den Deutschen auf dem linken Flügel des Milieus etwas ab, wogegen der russische Staat zum zentralen Gegner dieses politisierten Nationalismus aufrückte. Auf den selektiven Vergangenheitsbezug, mit dem die erste Generation lettischer Nationalisten ihre Feindbilder legitimiert hatten, reagierte die nächste Generation zunehmend mit der Dekonstruktion solcher Bilder. Die ideologische Segmentierung des lettischen Nationalismus ist bisher als Antagonismus bürgerlicher und sozialistischer Kräfte beschrieben und erklärt 134

worden. Das rührt vor allem von den jeweiligen Bezugsrahmen der lettischen Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts her, die je nach politischem System einen sozialistischen oder einen nationalbürgerlichen Rahmen aufwiesen. Gerade nach 1990 wurde die Vorstellung eines solchen Antagonismus von der nationalzentrierten Geschichtsschreibung des wiedergegründeten Lettlands erneuert.80 Das hier beobachtete Phänomen der ideologischen Segmentierung sollte jedoch eher als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Nationsdeutungen verstanden werden, zumal der nationale Charakter der lettischen Sozialdemokratie gerade in der Revolution von 1905 besonders hervortrat.81 Der lettische Fall betont somit auch für die Nationalbewegungen Ostmitteleuropas die polyvalente Aneignung des Nationalen, wie sie bisher überwiegend für Mittel- und Westeuropa herausgearbeitet wurde.82 Nationalismus führte hier keineswegs zu ideologischer Einheitlichkeit, mobilisierend wirkte vielmehr der Dissens um die Definition der Nation.

3. Die Bandbreite des Reichsbegriffs: Die Russen Tiefe Gräben durchzogen die russische Bevölkerung Rigas, die ein zeitgenössischer Beobachter anschaulich beschrieb: »Vor 1862 traf man in Riga zahlreiche Russen an, die mehrheitlich dem Kaufmannstand angehörten. Sie widmeten sich ihren eigenen Angelegenheiten, doch ein öffentliches russisches Leben existierte hier nicht. Die zahlreichen Mitglieder der russischen Gesellschaft waren durch ihr Glaubensbekenntnis, ihren Beruf, ihre Erziehung und ihre politische Anschauung voneinander getrennt; sie waren unter der fremdstämmigen Bevölkerung ganz zerstreut und verloren. Kaufleute gingen Kommis aus dem Wege, Altgläubige blickten mit Mißtrauen auf Rechtgläubige, Beamte wußten kaum etwas über die Anwesenheit anderer Russen in Riga, und die Spitze der russischen Bevölkerung hielt gehörigen Abstand von jeglichem öffentlichem Leben.«83 Erst der staatliche und gesellschaftliche Reformschub, den Rußland seit den 1860er Jahren erlebte, sowie die wachsende Nationalisierung der städtischen Umgebung führten dazu, daß sich soziale und konfessionelle Barrieren abschwächten und allmählich ein russisches Milieu entstand, das seine Grenzen nun vor allem ethnisch bestimmte. Doch trotz der Bemühungen einzelner Akteure blieb dieses Milieu bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs schwach integriert. Es besaß wenige 80 81 82 83

Vgl. Latvija 19. gadsimtā, S. 423ff.; 474ff. Vgl. dazu Kap. III. 2. Vgl. für die polnische Nationalbewegung jetzt Porter. Aus der Geschichte des Russischen Vereins, Fonds 3746, apr. 1, Akte 2, S. 16, LVVA.

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wirkliche Köpfe, wies eine geringe Zahl an Vereinen auf und konnte in der kommunalen Politik nur aufgrund seiner strategischen Position zwischen Deutschen und Letten Einfluß ausüben. Entsprechend spärlich ist die Überlieferung russischer Protagonisten, die selten zur Feder griffen und auch nicht über ein so breitgefächertes Zeitungsspektrum wie Deutsche und Letten verfügten. Bereits den Zeitgenossen bot diese Situation Anlaß zur Selbstkritik: »Die russische Gesellschaft Rigas prägt ein großes Schweigen.«84 Die Quellenlage hat seine Spuren auch in der Literatur hinterlassen, die wenig Weiterführendes zur Rolle der Russen in den Ostseeprovinzen des Zarenreichs vorzuweisen hat.85 Dennoch ließen sich bisher unberücksichtigte Erinnerungen und Aufzeichnungen heranziehen, so daß die zentralen Denkfiguren und Handlungsmodi des russischen Milieus auch in den knapp konturierten Lebensläufen der hier ausgewählten Akteure erkennbar werden. Ein typischer Vertreter der russischen Elite war Ignatij Alekseevič Šutov. Der in den 1830er Jahren geborene Šutov hinterließ selbst keine Aufzeichnungen, doch die Erinnerungen seines Vaters, eines bekannten Großkaufmanns, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts publiziert und geben Aufschluß über Herkunft und Prägung der Familie Šutov.86 Bereits unter Katharina II. waren Vorfahren der Familie nach Riga gekommen und hatten sich hier zunächst als Geldwechsler niedergelassen. Šutovs Vater, der mit Stoffen, Eisen und Speck handelte und dadurch zu erheblichem Wohlstand gekommen war, schildert rückblickend die Zurücksetzung, der die russischen Händler in der ersten Jahrhunderthälfte in Riga ausgesetzt waren: »Die alten Zeiten waren für uns sehr hart; damals Handel zu treiben, war nicht das gleiche wie heute … Pro Jahr durften wir nur ein bestimmtes Kontingent an Waren verkaufen, mehr aber auf keinen Fall – scher Dich mit Deinem Handel zum Teufel, hieß es sonst, aber vergiß ja nicht, für Dein Papier zu bezahlen! Hätte damals ein Handwerker versucht, seinen Beruf auszüben, ohne bei der entsprechenden Zunft eingetragen zu sein … – oh versuch‹ es lieber gar nicht, armer Mensch, wenn Du dir nicht den Bankrott selber herbeiwünschst! Hätte ein russischer Bäcker gewagt, zu Ostern Kulitsch für den Verkauf zu backen, wäre er umgehend bestraft worden, der Kulitsch aber in den Wogen der Düna verschwunden. Ja, das waren harte Zeiten für uns russische Händler!«87 84 Rižskij Vestnik 20.12.1905. 85 Eine Zusammenfassung geben Apine u. Volkovs, Slāvi Latvijā. Volkovs, Krievi Latvijā, behandelt die Vorkriegszeit nur auf wenigen Seiten. Ausführlicher ist sein belletristischer Essay ›Das Riga der Russen‹ in Oberländer u. Wohlfart. Žuravlev bietet rudimentäre belletristische Skizzen; das unregelmäßig erscheinende Baltijskij Archiv [Baltisches Archiv] veröffentlicht gelegentlich kleine Miszellen. 86 Abgedruckt in: Rižskij Vestnik 15.9.1907, 22.9.1907, 27.9.1907, 3.10.1907,17.10.1907, 17.11.1907. 87 Pervyj Memuarist Rižskago Vestnika [Der erste Memoirenschreiber des Rigaer Boten], in: Žuravlev, S. 75.

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Nicht nur in wirtschaftlicher, auch in politischer Hinsicht fühlte Šutovs Vater sich als ›Undeutscher‹ deklassiert: »Noch vor 50 Jahren gab es zahlreiche russische Händler, weil es sehr profitabel war, in Riga eine Firma zu gründen. Daher ließen sich viele von uns als Bürger der Stadt anschreiben. Zwar wurden wir als Bürger registriert, bezahlten Steuern wie alle anderen Bürger auch, waren aber weit entfernt von den bürgerlichen Rechten der Rigaer Einwohner. Der Zugang zur Großen Gilde war uns verboten und daher konnten wir auch nicht in die Stadtämter gewählt werden. Was für Bürger sind wir daher überhaupt noch? Unser Bruder war nur geduldet, weil die Stadt sein Geld brauchte und sonst gar nichts. Doch der Zugang zur Stadt blieb uns verschlossen!«88 Wo der junge Ignatij Alekseevič Šutov sein Jurastudium absolvierte, lassen die Quellen im dunkeln, doch es ist anzunehmen, daß er in St. Petersburg oder an der Moskauer Universität studierte, bevor er sich als Rechtsanwalt und Kaufmann in Riga niederließ. In den 1880er Jahren kaufte der wohlhabende Šutov die einzige russischsprachige Zeitung Rigas, den 1869 gegründeten ›Rižskij Vestnik‹, dessen politische Ausrichtung er maßgeblich bestimmen sollte. Auch außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit bemühte sich Šutov, die fragmentierte russische Elite seiner Heimatstadt zusammenzuführen. Von 1878 bis 1901 war er als Stadtverordneter tätig und der anerkannte Führer des russischen Elektorats. Er beteiligte sich an der Finanzierung des Russischen Klubs, hatte die lokale russische Bank, die Zweite Gesellschaft gegenseitigen Kredits, ins Leben gerufen und amtierte jahrelang als Vorsitzender des Nikolaitischen Hilfsvereins für Kaufleute. Seine Frau war Präsidentin des Grebenčikovschen Vereins, einer der größten russischen Wohlfahrtsvereine der Stadt. Im Gegensatz zu jenen russischen Kaufleuten, die sich aus Mangel an eigenen Klubs den deutschen Vereinen anschlossen und oft auch zu Hause die deutsche Sprache benutzten, hielt Šutov strikten Abstand zur deutschen Gesellschaft und setzte auch darin die Gepflogenheiten seines Vaters fort: »Der Leser … wird mich bestimmt fragen, ob es irgendwelche Kontakte zur den deutschen Kaufleuten gab, denn ich spreche ja nur von den russischen. War diese Gruppe denn so anders? Ja, das war sie sicherlich, denn fast nichts hatten die russischen Kaufleute mit den deutschen zu tun. Nichts außer dem kommerziellen Interesse verband uns … Nicht nur unsere Sprache, unser Lebenstil, unsere Ansichten und unsere Taten trennten uns, auch der Glaube schied uns von den Deutschen.«89 Es waren vor allem Zeitung, Verein und Wahlkämpfe, die Šutov als geeignete Foren heranzog, um der entstehenden russischen Öffentlichkeit spezifische Orientierungsmuster zu vermitteln, die nach innen integrieren, 88 Rižskij Vestnik 3.10.1907. 89 Ebd.

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nach außen abgrenzen konnten. Ebenso wie die Vertreter des lettischen Nationalismus war auch er während seines Studiums mit den Vorstellungen des russischen Nationalismus in Berührung gekommen, die alles das zu bestätigen schienen, was seine Familie und er im Rigaer Alltag erfuhren: die Abhängigkeit der russischen ›Nation‹ von ›fremden‹ Eliten, die Bedeutungslosigkeit der russischen Sprache in der baltischen Peripherie, die Ausschließung von städtischen Ämtern und der stolze Regionalismus einer nichtrussischen Elite, der auf die Verfechter eines russischen Einheitsstaats wie eine Ohrfeige wirkte. Mehr als durch die Topoi der russischen Publizisten, welche die baltische Region meist nicht aus eigener Erfahrung kannten, fühlten Šutov und seine Freunde sich durch die 1868 erschienene Schrift »Okrainy Rossii« (Grenzmarken Rußlands) verstanden, mit der der russische Publizist und Landeskenner Jurij Samarin der ständischen Autonomie der Ostseeprovinzen den Kampf angesagt hatte.90 Samarin hatte seine kenntnisreiche Kritik der politischen, ständischen und kulturellen Sonderentwicklung der baltischen Provinzen mit dem Vorwurf eines deutschbaltischen Separatismus verbunden: »Die mittelalterlichen Scheidewände, die einstmals die Stände und Corporationen trennten, fallen, und aus den ehemals getrennten Theilen der alten Gesellschaft fügt sich ein neuer Organismus – die politische Nationalität, zusammen.«91 Auch wenn dieser Verdacht unbegründet war, lieferte sein Text die geeignete Vorlage, auf die Šutov und seine Freunde sich bei ihrem Kampf für russische Interessen in der Region nun berufen konnten. Obwohl Samarins mitreißend geschriebenes Buch bereits kurz nach Erscheinen verboten wurde, war seine Wirkung auf die entstehende nationale Öffentlichkeit gewaltig. Vor allem für die in den Ostseeprovinzen lebenden Russen wurde Samarins Schrift zu einem kanonischen Text, der in seiner kompromißlosen Einordnung von Gut und Böse, Recht und Unrecht ebenso integrativ wirkte wie Merkels »Letten« und Schirrens »Livländische Antwort« dies jeweils waren. Zur zentralen Denkfigur des entstehenden Milieus avancierte die von Samarin geforderte politische und kulturelle ›Integration in das Reich‹. Denn für die russischen Eliten der Peripherie war zunächst nicht die ethnische und politische Heterogenität des Reichs das Problem, sondern die unzulängliche Integration heterogener Elemente in den russischen Staat. Eklatant bestätigte Samarins Schrift den Ausschluß vom politischen Leben, der zur Alltagserfahrung der Rigaer Russen gehörte: »Die Kaufleute und simplen Bürger spielten allerdings eine Aschenbrödelrolle und durften an den Communalangelegenheiten keinen Antheil nehmen.«92 Zwar veränderte die 90 Vgl. Samarin, Okrainy Rossii; als Übersetzung s. Samarin, Grenzmarken Russlands. 91 Samarin, Okrainy Rossii, S. 143. 92 Samarin, Grenzmarken Rußlands, S. 92.

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Städteordnung von 1877 diese Situation, doch die Dominanz der deutschen Sprache stand der Durchsetzung einer kulturellen ›Integration ins Reich‹ weiter entgegen. Die Revisionsreise des russischen Senators Manasein im Jahr 1882 nahm Šutov zum Anlaß, dem Senator einen Brief zu übergeben, in dem er die offizielle Einführung der russischen Unterrichtssprache in den baltischen Provinzen forderte.93 Im Rahmen der anlaufenden Russifizierung sollte diese Bitte Šutovs bald erfüllt werden und mit dazu beitragen, aus der politisch, ständisch und konfessionell zerklüfteten russischen Bevölkerung ein zunehmend ethnisch bestimmtes Milieu zu formen. Hielt dessen Organisationsgrad bis zum Tode Šutov kurz vor dem Ersten Weltkrieg zwar keinen Vergleich mit dem deutschen oder lettischen aus, so ließ sich durch die äußere Abgrenzung doch eine gewisse Kohäsion nach innen erreichen, die das Ziel von Šutovs lokalem Engagement gewesen war. Politische und kulturelle ›Integration ins Reich‹ war eine Leitvorstellung, die zu vermitteln sich auch Evgraf Vasil’evič Češichin zur Aufgabe machte.94 Anders als der wohlhabende Šutov stammte der 1824 geborene Češichin aus einer mittellosen Offiziersfamilie, die ihren Wohnsitz kontinuierlich wechseln mußte. Nach dem Abschluß eines deutschsprachigen Gymnasiums in Dünaburg, wo sein Vater stationiert war, studierte Češichin in Moskau Mathematik und arbeitete anschließend als ziviler Armeeangehöriger. 1869 wurde er nach Riga entsandt, wo er bald die Redaktion des gerade gegründeten ›Rižskij Vestnik‹ übernahm. Češichins Ankunft in Riga fiel in eine Zeit, in der die politische und kulturelle Dominanz des deutschbaltischen Stadtbürgertums noch weitgehend unangetastet war und den Widerstandsgeist des slavophilen Intellektuellen weckte: »Dieses Stück Land hat ohne Zweifel etwas sehr Anziehendes an sich, jedoch etwas, das auch Oblomow, hätte er in Riga gelebt, dazu gezwungen hätte, aufzuspringen und zu rufen: ›Laßt uns aufstehen und handeln!‹«95 Um so mehr Wert legte Češichin darauf, die lokale Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer stärkeren Integration ins Reich zu überzeugen. Dabei vertrat er zunächst die Ansicht, daß eine freiwillige ›Russifizierung‹ das erfolgversprechendere Mittel sei, die Bindung der nichtrussischen Gruppen an das Reich zu stärken. Weniger staatliche Anordnungen von oben als vielmehr eine gesellschaftliche Mobilisierung von unten sei imstande, die Vorzüge der russischen Kultur deutlich zu machen.96 Hinter dieser Ansicht 93 Vgl. den Brief Ignatij Šutovs an Manasein vom 28.12.1882, abgedruckt in: Rižskij Vestnik 18.10.1907. 94 Vgl. zu seiner Person v.a. Češichin, Evgraf Vasil’evič Češichin. Materialy; Pamjatu Češichina. 95 Pamjatu Češichina, S. 12. 96 Vgl. seinen Artikel ›Obrušenie ili Obruševanie?‹ in: Rižskij Vestnik 5.1.1876: »Was soll man tun? Man muß die russische Kultur heranziehen. Wir sind keine Bettler, sondern brin-

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stand ein zentralistisches Reichsverständnis, nicht aber die Idee eines homogenen Nationalstaats, der im letzten Jahrhundertdrittel auch im Zarenreich an Attraktivität gewann. Denn die tägliche Erfahrung mit der multiethnischen Umwelt, in der nicht etwa Russen, sondern eine nichtrussische Elite den Ton angab, überzeugte auch Češichin davon, daß eine vollständige Akkulturation zumal der Deutschen unrealistisch war: »Sie können Deutsch in ihren Familien, Vereinen und in ihren privaten Schulen sprechen, aber sie dürfen sich nicht gegen die russische Sprache in Gericht und Verwaltung wehren. Daß sie Russen werden, fordert niemand von ihnen. Doch sie müssen gute russische Untertanen werden und nicht partikulare Sonderbestrebungen verfolgen.«97

Abb. 9: Evgraf Vasil’evič Češichin, Redakteur des ›Rižskij Vestnik‹, um 1870 (Pamjati E. V. Češichina, Riga)

gen all das mit, was den Namen russischer Intelligenz, Wissenschaft, Kultur und Kunst trägt. Hier in Riga sind diese Werte fremd, da keiner sie kennt. Die lettische Intelligenz muß sie kennenlernen, um die russische Kultur zu akzeptieren. Geben Sie uns russische Buchhandlungen und Bibliotheken, abonnieren Sie Zeitungen, unterstützen Sie die russischen Schulen, studieren Sie den Alltag der örtlichen (lettischen) Bevölkerung, dieses ehrlichen, tüchtigen und begabten Volkes, das voller Treue zu den staatlichen Interessen Rußlands steht.« 97 Rižskij Vestnik 4.3.1888.

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Auch außerhalb seines Berufes suchte Češichin die fragmentierte russische Öffentlichkeit Rigas zu stabilisieren. Er bemühte sich mit Erfolg um die Eröffnung zweier russischsprachiger Gymnasien, hielt öffentliche Vorlesungen über die Geschichte der Region und gründete 1874 den Russischen Literaturverein.98 Doch weder florierte seine Zeitung, noch gelang zunächst eine festere Organisation der russischen Bevölkerungsgruppe. Der ›Rižskij Vestnik‹ hatte in den 1870er Jahren nie mehr als 150 Abonnenten und musste seit 1882 mit einem jährlichen Zuschuß von 5 000 Rubel vom Innenministerium unterstützt werden, um überhaupt überleben zu können. Auch Češichins Gedanke einer freiwilligen Russifizierung zeitigte keinerlei Erfolge im gegnerischen Lager. Resigniert schrieb er 1873 an Jurij Samarin: »Wir kämpfen für die russische Sprache, soviel wir können. Bei jeder Gelegenheit predigen wir die … Einheitlichkeit russischer Institutionen, doch überall, wo es nur möglich ist, stoßen wir auf Widerstand. Wir versuchen die Unsrigen zu ermuntern, aber ist es nicht alles umsonst? … All unsere Bemühungen haben zu nichts geführt und die Situation hier ist genauso schlimm wie in den 1840er Jahren, als Sie das Baltikum verlassen haben … Vielleicht sogar noch schlimmer, denn unsere deutschen ›Freunde‹ sind in höchstem Maße erzürnt, gewonnen haben wir jedoch nichts.«99 Die Enttäuschung über die mangelnde kulturelle Integration der nichtrussischen Bevölkerungsgruppen führte bei Češichin ähnlich wie bei Šutov dazu, daß sich die Vorstellung einer ›Benachteiligung der Nation im eigenen Staat‹ verstärkte. Die Konstruktion der Deutschen als Erzfeind erfuhr in seiner Zeitung eine solche Zuspitzung daß sogar die St. Petersburger Oberpreßverwaltung sich zum Tadel bemüßigt fühlte: »Die in Riga erscheinende russische Zeitung Rishki Westnik erregt besondere Aufmerksamkeit dadurch, daß sie sehr unpassende, in höhnischem und feindseligem Tone abgefaßte Artikel gegen die russischen Unterthanen deutscher Herkunft in den baltischen Provinzen bringt. Derartige, jedenfalls durchaus unschickliche Spöttereien über locale Sitten und Gebräuche … können nicht nur nicht zu der wünschenswerthen Annäherung der baltischen Bewohner an die übrigen Theile des Reiches beitragen, sondern müssen im Gegentheil die baltische Intelligenz dem russischen Volke entfremden.«100 Češichins Enttäuschung über das Fehlschlagen seiner Erwartung führte dazu, daß er sich zunehmend aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurückzog. Er begann, eine Geschichte der Region zu schreiben, die eine akti98 Vgl. Češichin, Russkij literaturnyj kružok. 99 Brief Češichins an J. Samarin am 24.2.1873, in: Češichin, Evgraf Vasil’evič Češichin. Materialy, S. 557. 100 Oberpreßverwaltung, Erlaß vom 1.3.1873, zitiert nach: Buchholtz, Deutsch-protestantische Kämpfe, S. 379.

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ve Russifizierung in der Gegenwart zu legitimieren suchte.101 In seiner 1884 erschienenen dreibändigen »Geschichte Livlands« griff er auf die Schriften Samarins und des russischen Historikers Pogodins zurück, die eine enge Verbindung Rußlands mit der baltischen Region vor Ankunft der deutschen Kreuzfahrer konstruiert hatten. Die Tributpflichtigkeit vereinzelter Städte gegenüber russischen Fürsten wurde zur Abhängigkeit der ganzen Region stilisiert, die Prägung durch die russische Kultur überzeichnet. Bereits im Mittelalter seien die lettischen und estnischen Stämme dem orthodoxen Glauben zugeneigt gewesen, bevor die deutschen Ordensritter sie mit Feuer und Schwert missionierten. Die Herrschaft des deutschen Ordens schließlich wurde als ununterbrochene Phase von Kriegen und Aufständen geschildert, denen erst der Anschluß an das Zarenreich ein Ende gesetzt habe. Trug diese Interpretation einerseits dazu bei, das Feindbild von den Deutschen zu festigen, stützte es andererseits die Vorstellung der Letten als historischem Freund.102 Denn die Konstruktion einer ethnischen, linguistischen und historischen Verwandtschaft zwischen slawischen und baltischen Stämmen, die manchen historischen Gehalt aufwies, diente vor allem dem Zweck, die Allianz in der Gegenwart durch vermeintliche Gemeinsamkeiten der Vergangenheit zu stabilisieren. Obgleich Češichin sich in seinen historischen Werken intensiv um die Konstruktion eines seit jeher ›russischen Ostseeraums‹ bemühte, blieb die Integrationskraft dieses Mythos innerhalb des lokalen russischen Milieus schwach.103 Auch in den Wahlkämpfen wurden historische Deutungen von den Russen kaum je als Parole herangezogen. Das Bewußtsein, trotz der lokalen Benachtheiligung doch Mitglied der herrschenden Staatsnation zu sein, schien im russischen Milieu zu einem schwächeren Bedarf an Geschichtskonstruktionen und Mythenbildung geführt zu haben als das bei Letten und Deutschen der Fall war. Enttäuscht vom Fehlschlagen seiner Hoffnungen und von der fehlenden Rezeption seiner Bücher starb Češichin 1888 in Riga. Die Generation Češichins und Šutovs war sich in ihren Zielen – Abbau ständischer Vorrechte, Einführung der Zemstvo, Russisch als Sprache von Verwaltung, Gericht und Schule – relativ einig gewesen. Das hatte sich auch im Russischen Klub niedergeschlagen, der seit seiner Gründung 1864 101 Češichin, Istorija Livonii; ders., Kratkaja istorija pribaltijskago kraja. 102 Vgl. zur lettisch-russischen Allianz auch Samarins Kommentar über die lettische Zeitung ›Peterburgas Avīze‹: »In politischer Hinsicht war die Tendenz der Zeitung für Russland nicht allein nicht schädlich, sondern sie fiel im Gegentheil so augenscheinlich mit seinen richtig verstandenen Interessen zusammen … Im Gegensatz zu den separatistischen Tendenzen der baltisch-deutschen Presse predigten diese unsere unerwartet wie vom Himmel gefallenen Verbündeten dem lettischen Volk, dass seine ganze Zukunft von einem möglichst engen Anschluß an Russland abhänge«, Samarin, Grenzmarken Rußlands, S. 109. 103 Ähnlich die historische Deutung in der Lokalstudie von Pseničnikov.

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der unbestrittene Mittelpunkt der russischen Gesellschaft gewesen war und dessen Aktivität die Milieubildung maßgeblich vorangetrieben hatte. Doch mit der Durchsetzung jener Reformen, welche die ständische Ordnung im städtischen Raum beseitigten, entfiel die gemeinsame Front, begann das Feindbild zu bröckeln. Zugleich kamen neue Beamte und Anwälte, Lehrer und Priester aus dem Reichsinneren nach Riga, um die beruflichen Chancen zu nutzen, welche die Russifizierung von Verwaltung und Schule eröffnete. Die Neuankömmlinge brachten überwiegend die nationalistischen Anschauungen der russischen Presse mit und hatten an den lokalen Belangen und an der Zusammenarbeit mit den nichtrussischen Gruppen wenig Interesse. Stärker waren bei ihnen auch die Feindbilder vom ›separatistischen Deutschen‹ und später vom ›revolutionären Letten‹ ausgeprägt, als dies beim Gros der örtlichen russischen Gesellschaft der Fall war. Am Rande des Milieus formierte sich ein kleiner, rechtsnationalistischer Flügel, der überwiegend aus entsandten Beamten und neu hinzugezogener freier Intelligenz bestand und im ›Rižskij Vestnik‹ sein adäquates Sprachrohr fand. Dominiert wurde das Milieu jedoch zunehmend vom örtlichen Wirtschaftsbürgertum, das nach dem Abbau ständischer Vorrechte in den Deutschen keinen gravierenden Gegner mehr zu erblicken vermochte und aus Ortskenntnis und langjähriger Erfahrung des multiethnischen Alltags für eine Zusammenarbeit mit den gemäßigten Führern der übrigen Gruppen eintrat. Wie unterschiedlich das Deutungsmuster einer ›Integration in das Reich‹ von jener Generation interpretiert wurde, die seit den 1890er Jahren das russische Milieu prägten, läßt sich wiederum am Beispiel konkreter Lebensläufe zeigen. Den rechtskonservativen Rand des Milieus vertrat vor allem der Chefredakteur des ›Rižskij Vestnik‹, Ivan Vysockij, wogegen Leonid Vitvickij, der Herausgeber der ›Rižskaja Mysl’‹, und der Industrielle Ivan Gusev die liberale Mehrheit des Milieus verkörperten. Über Ivan Vysockijs Herkunft und Ausbildung liefern die Quellen keine präzisen Anhaltspunkte, doch stammte er nicht aus Riga, sondern kam in den 1890er Jahren nach seinem Studium an einer innerrussischen Universität in die baltische Metropole. Dort arbeitete Vysockij als Mitarbeiter des ›Rižskij Vestnik‹ und übernahm nach der Entlassung Vitvickijs 1903 dessen Position als Chefredakteur. Als das Oktobermanifest die Gründung politischer Parteien erlaubte, trat Vysockij zunächst den Oktobristen bei, geriet aber zunehmend in Konflikt mit deren liberalen Vertretern und schloß sich der Union des russischen Volkes an, die sich aus rechtskonservativen Nationalisten zusammensetzte und einem rigiden Antisemitismus das Wort predigte.104 Als Autor trat er vor allem durch historische Studien zur Geschichte der baltischen Region hervor, die von einer ähnlich ethnozentri104 Vgl. Hagen, politische Öffentlichkeit; Löwe.

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schen Sicht auf die Vergangenheit geprägt waren wie das Gros der entsprechenden deutschen und lettischen Publikationen.105 Seine immer radikalere Position führte schließlich zum Konflikt mit den führenden Protagonisten des russischen Milieus, die 1913 seine Entlassung als Redakteur des ›Rižskij Vestnik‹ durchsetzten. Für Vysockij hatten die politischen und kulturellen Reformen der Regierung nicht den gewünschten Erfolg gebracht, spielten doch immer noch Deutsche und zunehmend auch Letten in der lokalen Politik und Wirtschaft die dominierende Rolle. ›Integration in das Reich‹ war eine Vorstellung, die es vor diesem Hintergrund neu zu interpretieren galt, nämlich als ›Vorrang der russischen Nation vor den anderen Nationalitäten‹. Entsprechend formulierte er im ›Rižskij Vestnik‹: »In Rußland kann es nicht zwei oder mehr gleichwertige Kulturen geben, die russische Kultur muß, wie der Staatsgedanke, im ganzen russischen Reich größere Rechte besitzen und vor ihren Forderungen müssen die deutschen, lettischen und übrigen kulturellen Sonderbestrebungen zurücktreten.«106 Die ›nationale Schule‹, an der nur ethnische Russen unterrichten dürften, galt Vysockij als geeignete Institution, die Lage der Russen in den Grenzregionen zu verbessern. In ähnliche Richtung zielte sein Vorschlag, daß Russen in allen baltischen Städten mit mehr als 10% russischer Bevölkerung mindestens 25% der Stadtverordneten stellen müßten. Auf nationaler Ebene sprach er sich für die Einführung jener nationalen Wahlkurien aus, die der russische Ministerpräsident Stolypin in den polnischen Provinzen noch kurz vor dem Krieg durchgesetzt hatte.107 Vysockijs immer enger werdendes Nationsverständnis war primär durch Feindbilder definiert. Feinde stellten einmal die Juden dar. Hatten wirtschaftlich und religiös motivierte Stereotype bereits seit den 1880er Jahren den ›Rižskij Vestnik‹ gekennzeichnet, trat in Vysockijs Artikeln ein rassisch motivierter Antisemitismus hinzu. Besonders deutlich schlug sich das in der Kommentierung des Beilis-Prozesses von 1912 nieder, als Vysockij trotz der erwiesenen Unschuld des Angeklagten am Ritualmord als Signum jüdischer Bräuche festhielt. Aber auch gegenüber den Letten bezog er jetzt Front. Gemäßigte Slavophile wie Samarin hatten den soziokulturellen Aufstieg der Letten noch begrüßt, da sie als Verbündete im Kampf gegen die Deutschen galten.108 Doch ihre sichtbare Formierung zur ›Nation‹, deren Vertreter seit der Jahrhundertwende auch Ideen einer lettischen Selbstverwaltung artikulierten, führte dazu, daß Vysockij in ihnen jetzt eine Bedrohung der russi105 Vgl. Vysockij. 106 Rižskij Vestnik 13.7.1910 107 Vgl. Asher, Stolypin, S. 327ff. 108 Vgl. Samarin, Grenzmarken Rußlands, S. 110, der sich in seiner Analyse für die »friedliche Emanzipation der Letten im Bereich des Gedankens und der Worte« stark gemacht hatte.

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schen ›Nation‹ erblickte. Was der lettische Protagonist Krišjanis Valdemars in der Moskauer Intellektuellenszene beobachtet hatte, traf ebenso auf den nationalistischen Rand der russischen Gesellschaft Rigas zu: »Vermeiden Sie den Ausdruck ›das ganze estnische (lettische) Volk‹ zu gebrauchen – das klingt dem Russen heute ebenso anstößig wie es unlängst den baltischen Deutschen klang, die dann von ›Volkssplittern‹ faselten.«109 Der größte Feind der russischen ›Nation‹ blieben in den Ostseeprovinzen jedoch die baltischen Deutschen. Ihre kulturelle und wirtschaftliche Überlegenheit stand im krassen Gegensatz zu Vysockijs Vorstellungen, wer hier den Ton anzugeben habe. Sogar dem baltischen Gouverneur Möller-Sakomelsky, der trotz seines Namens wenig prodeutsche Symphatien besaß, war dieses spezifische Ressentiment aufgefallen, das er in einem Brief aus dem Jahr 1908 treffend beschrieb: »Derart ungeschickte … Leute finden keine Aufnahme in der örtlichen deutschen Gesellschaft; daher empfinden sie Gefühle des Neides und persönliche Kränkungen, sie erklären ihre Feindschaft gegen die Deutschen mit der Bevorzugung dieser letzteren, durch die angeblich die russische Staatlichkeit leide. Derartige Unglücksraben hegen auch einen Groll gegen die örtlichen Regierungsvertreter, die ihrer Auffassung nach die Deutschen und andere Fremdvölkische vorziehen, weil die Angehörigen dieser Völker angeblich zu den verschiedensten Ämtern ernannt werden. Um ihr Gekränktsein zu überwinden, stürzen sie sich als Korrespondenten auf die Zeitungen … Die Bemerkung ›in den Grenzländern sind die Russen nicht die Wirte‹ überrascht durch ihre Naivität. In den Grenzländern … können die Russen nicht die Wirte, nicht die Herren sein … Das ist eine Erscheinung, die in allen Grenzgebieten sich wiederholt.«110

Vysockij, dessen Todesdaten die Quellen im Dunklen lassen, artikulierte indes nur die Meinung einer schmalen Gruppe. Daher kam auch die Auflage seines Blattes über 400 Exemplare nicht hinaus.111 Ganz anders ging die Mehrheit des Milieus mit der Zielvorstellung einer ›Integration in das Reich‹ um, wie das Beispiel Leonid Nikolaevič Vitvickijs dokumentiert. Vitvickij war in den 1860er Jahren in Riga geboren und stammte aus einer kleinadli109 Valdemars, Sarakste S. 901. Vgl. auch Vysockij im Rižskij Vestnik 9.3.1891: »Das einzige Ziel vernünftiger Letten muß sein, die russische Sprache zu lernen und die russische Kultur zu akzeptieren, denn ohne diese haben die Letten keine Zukunft.« 110 Brief Möller-Sakomelskis vom 14.2.1908, in: Dellinghausen, S. 144f. 111 Vgl. auch Birževye Vedomosti, 10.12.1899, zitiert nach: BM, Bd. 59, 1899, S. 88: »Der verstorbene Gründer des Rishki Vestnik, Tscheschichin, war ein Kenner des baltischen Landes, ein erfahrener und ehrenhafter Publizist, während die jetzige Redaktion … über alles in der Welt Geschrei und Invektiven liebt. In der allerletzten Zeit ist derselbe ganz besonders boshaft wie sollte er es auch nicht werden, da er trotz seiner 30 Jahre dem Umfang nach fast denselben Leserkreis hat wie der nur 5 Jahre bestehende Pribaltiskij Listok, der sich allmählich die Symphatien der russischen Gesellschaft im baltischen Gebiet erworben hat dank dem Umstande, daß er sich fern hält von einem galligen und verbissenen Ton.«

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gen Familie. Nach dem Besuch des russischsprachigen Gouvernementgymnasiums studierte er am Rigaer Polytechnikum. Bereits während seiner Studienzeit nahm er am öffentlichen Leben der Stadt teil und begann Beiträge für russische Zeitungen und Zeitschriften zu verfassen. In den 1880er Jahren wurde er Redakteur des ›Rižskij Vestnik‹, dessen auf Unifizierung und Zentralisierung gerichtete Tendenz er zunächst teilte. Auch Vitvickij war maßgeblich von der nationalistischen Stoßrichtung der russischen Presse beeinflußt und beteiligte sich durch seine Korrespondenzen aus Riga an ihrer reichsweiten Popularisierung. Im Gegensatz zu den neu nach Riga gekommenen Gruppen war er jedoch gleichermaßen an lokalen Entwicklungen interessiert. Sein Engagement bei der Planung des Russischen Theaters hatte ihm enge Kontakte zu der zunehmend reformorientierten deutschen Stadtverwaltung eingebracht. Als erster künstlerischer Direktor des 1902 eröffneten Theaters bestimmte er dessen Repertoire mit und knüpfte vielfältige Verbindungen zu russischen, lettischen und deutschen Schauspielern und Autoren. Als Mitglied des Russischen Klubs verbrachte er mindestens einen Abend der Woche dort, besuchte regelmäßig die Lesungen des Russischen Literaturvereins und organisierte 1909 den ersten Baltischen Journalistentag, der zur Verständigung der konkurrierenden Gruppen beitragen sollte. Auf die veränderte Situation, welche die staatlichen Reformen und der gesellschaftliche Wandel schufen, reagierte Vitvickij mit zunehmend liberaleren Anschauungen. Von ständischen Vorrechten der Deutschen ließ sich seit den 1890er Jahren nicht mehr sprechen und im persönlichen Kontakt mit liberalen Vertretern wie dem Bürgermeister George Armitstead oder dem Journalisten Paul Schiemann sah Vitvickij sich zunehmend genötigt, sein vormaliges Feindbild von den Deutschen zu revidieren: »Nur die Tatsache, daß die Tätigkeit der Rigaer Stadtverwaltung von jenen liberalen Grundsätzen durchsetzt war, die seinerzeit die liberale Bewegung Deutschlands verursacht haben, konnte den Boden für den Sieg bei den Stadtwahlen vorbereiten. Das konservative deutsche Lager ist es geradezu, das mit den Verhältnissen nicht rechnet und immer noch im Gedankenkreise der Zeit von Carl Schirren lebt … Das Bestreben, diese realen Kräfte zu ignorieren zugunsten der alten baltischen Theorien, stellt den Grundfehler des baltisch-deutschen Konservativismus dar und macht ihn untauglich zum praktischen Leben. Der deutsche Liberalismus aber, der dies alles nüchtern in Erwägung zieht, zeigt sich gerade dadurch als die lebensfähigere Richtung … Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß wenn das baltische Deutschthum heute nicht in völliger Isoliertheit und Hilflosigkeit dasteht, sondern im Bunde mit anderen Gruppen gewisse Erfolge bei der Verteidigung seiner Position errungen hat, es solches in nicht geringem Maße gerade dem deutschen Liberalismus verdankt.«112

112 Rižskaja Mysl’ 20.4.1913.

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Als Summe dieser Erfahrungen begann der weltoffene und vielsprachige Vitvickij das russische Orientierungsmuster von der ›Integration in das Reich‹ neu zu definieren. Statt daraus eine Legitimation für eine Bevorrechtigung der Russen vor den nichtrussischen Gruppen zu ziehen, deutete er es um zugunsten einer ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ – ein Modell, das ihm für die Regelung multiethnischer Koexistenz weitaus geeigneter schien. Denn nüchterne Beobachter konnten nicht übersehen, daß der Anspruch eines Vorrangs der russischen Nation von der Realität in der Peripherie des Zarenreichs keinesfalls gedeckt wurde. Vielmehr fiel die politische Schwäche des lokalen Milieus, das mit der Fülle politischer Köpfe bei Deutschen und Letten nicht konkurrieren konnte, bereits den Zeitgenossen auf: »Manasein sagte mir vor Jahren, etwa 1882, es sei auffallend, daß unter sämtlichen Rigaschen Russen kein einziges leitendes Haupt zu finden sei, das politisch zu denken vermöge … Nun ist auch S. [Šafranskij] längst fort, und die reine Unfähigkeit herrscht und beeinflußt sogar die Moskovskie Wjedomosti«.113 Realistischer erschien es vor diesem Hintergrund, eine ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ anzubahnen, zumal mit dem liberalen Flügel des deutschen Elektorats ein geeigneter Partner vorhanden war. Mit seinem publizistischen Eintreten für eine deutsch-russische Allianz und gegen das nationalistische Programm der Letten hoffte Vitvickij eine ausgewogenere Berücksichtigung der unterschiedlichen Forderungen zu erreichen. Ungewohnt mutete es den Lesern des ›Rižskij Vestnik‹ an, als Vitvickij 1901 in dem Blatt dazu aufrief, »die Interessen der Stadt und der gesamten Bevölkerung, nicht aber die Interessen einer Partei« zu unterstützen: »Das ist die russische Losung in der Rigaschen Stadtverwaltung!«114 Dieses Plädoyer für eine deutsch-russische Koalition setzte seiner Zusammenarbeit mit dem Besitzer des ›Rižskij Vestnik‹, dem deutschfeindlichen Šutov, jedoch ein Ende. Vitvickij verließ die Zeitung kurz nach den Stadtwahlen von 1901, welche der von ihm favorisierten deutsch-russischen Allianz den Sieg gebracht hatten, und gründete mit den ›Rižskie Vedomosti‹ (Rigaer Nachrichten) eine liberale Konkurrenz zum nationalkonservativen ›Vestnik‹. Als das Blatt 1905 aus Zensurgründen geschlossen wurde, brachte er die ›Rižskaja Mysl’‹ (Rigaer Gedanke) auf den Markt, eine qualitativ anspruchsvolle Tageszeitung, welche die Richtung der Kadettenpartei vertrat und zunehmend an Popularität gewann. ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ war nicht nur im politischen, sondern auch im kulturellen Bereich ein schwer zu verwirklichendes Programm. Am ehesten, so schien es Vitvickij, konnten muttersprachliche Schulen, die weitgehend frei von staatlicher Kontrolle wären, dazu beitragen: »Wir befürworten die Übergabe der Schulleitung an örtliche Selbst113 Vgl. Valdemars, Sarakste, S. 545. 114 Rižskij Vestnik, zitiert nach Rigaer Rundschau 31.3.1901.

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verwaltungen, wenn sie auch für die Schulkosten verantwortlich sind sowie die Möglichkeit freier Wahl der Unterrichtssprache nach dem Bedarf der Einwohner. Für die russische Bevölkerung soll der Unterricht in der Muttersprache gesichert werden.«115 Seine Grundlage hatte dieser Vorschlag im »Recht einer jeden Nationalität auf Selbstbestimmung und der Unverletzbarkeit ihrer Sprache und Sitten«, wie es das lokale Parteiprogramm der Kadetten proklamierte.116 Die Anerkennung von Differenz, von deren Notwendigkeit Vitvickij aufgrund seiner Erfahrung des multiethnischen Zusammenlebens immer mehr überzeugt war, hoffte er auch durch die Organisation eines Baltischen Journalistenkongresses zu erreichen. Der Zweck des Treffens, zu dem er 1909 gemeinsam mit Paul Schiemann einlud, war die »Annäherung zwischen den örtlichen Journalisten und Schriftstellern.«117 Gelang das zwar nur temporär und partiell, ging von dem Versuch doch eine Signalwirkung aus, die Liberale der anderen ethnischen Gruppen ebenfalls wahrnahmen. Als der Gründung von Vereinen und Parteien nach 1905 kaum mehr Hemmnisse mehr entgegenstanden, rief Vitvickij zum Ausbau des russischen Vereinsnetzes auf, um die russische Präsenz in den Ostseeprovinzen zu stabilisieren: »Der Erfolg der deutschen Kultur sollte die lokale russische Gesellschaft dazu auffordern, ein lebhafteres Interesse für die Entwicklung unsere nationalen Kultur zu zeigen. Aufgrund der Tatsache, daß wir in diesem Bereich eine viel bessere Position unser eigen nennen dürfen, da wir die Macht der Staatsnation hinter uns haben, müssen von unserer Gesellschaft viel intensivere Anstrengungen verlangt werden, sich im Wettbewerb der nationalen Kulturen erfolgreich zu behaupten.«118 Nicht nur auf lokaler, sondern auch auf nationaler Ebene hoffte Vitvickij eine ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ durchzusetzen. 1905 war er maßgeblich an der Gründung der örtlichen Kadettenpartei beteiligt und hatte deren lokales Programm entworfen. In seiner Zeitung ›Rižskaja Mysl’‹, die zum offiziellen Organ der Rigaer Kadetten wurde, plädierte er für Dezentralisierung und Demokratisierung und damit für einen föderalen Reichsbegriff, der den unterschiedlichen rußländischen ›Nationalitäten‹ weitgehende kulturelle Selbstbestimmung ermöglichen sollte. Nationale Wahlkurien, wie sie kurz vor Kriegsausbruch noch in den polnischen Provinzen eingeführt wurden, lehnte Vitvickij konsequent ab. Als der Krieg ausbrach, mußte seine Zeitung geschlossen werden, und ihr Herausgeber wurde nach St. Petersburg evakuiert. Wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Riga, »der Stadt, 115 116 117 118

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Rižskie Vedomosti 19.9.1905. Ebd., 2.12.1906. Rigasche Rundschau 23.3.1909. Rižskaja Mysl’ Nr. 1806, 1913.

mit der er im Laufe seines Lebens und Schaffens verwandt geworden ist«, wie seine Frau in einem Nekrolog formulierte, starb Vitvickij 1919 dort.119 Bei seinem Eintreten für eine ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ wurde Vitvickij vor allem vom russischen Wirtschaftsbürgertum Rigas unterstützt. Ähnlich wie im deutschen Milieu hatte die politische und wirtschaftliche Modernisierung der Region auch im russischen Milieu einen Wandel typischer Lebensläufe eingeleitet. Weniger der lokalorientierte Händler oder der gesellschaftlich isolierte Intellektuelle gaben innerhalb des Milieus jetzt den Ton an, sondern zunehmend liberal orientierte Großkaufleute und Industrielle, oft mit weitreichenden Verbindungen nach West- und Osteuropa, die sich von den neuen liberalen Zeitungen, wie dem ›Pribaltijskij Listok‹ oder der ›Rižskaja Mysl’‹ sehr viel angemessener repräsentiert fühlten. Daß sich zur wirtschaftlichen Potenz dieser Gruppe auch erheblicher politischer Einfluß gesellte, war eine Konsequenz der revidierten Städteordnung von 1892. Das Statut hatte die politische Teilhabe an sehr viel umfangreicheren Besitz als bisher gebunden und die baltische Ausnahmeregelung für Akademiker abgeschafft. War das zwar in der Absicht erfolgt, die konservativen Kräfte zu stabilisieren, führte die Reform in Riga zu einer Stärkung liberaler Kreise, denen nationalkonservative Anschauungen weitgehend fernlagen. Ein führender Vertreter dieser liberalen Gruppe war Andrej Ivanovič Gusev, dessen Vater in 1850er Jahren aus dem Gouvernement Tver nach Riga eingewandert war. Der in Riga geborene Andrej Gusev schien, den spärlichen Quellen nach, ein überaus talentierter Unternehmer gewesen zu sein, der den väterlichen Tabakhandel zu einem bedeutenden Industrieunternehmen ausbaute. In den 1880/90er Jahren wurden in den Gusevschen Werken zahlreiche ausländische Ingenieure eingestellt, Tabakplantagen im Inneren Rußlands erworben und laufend neue Produktionstechniken eingeführt. Eine zeitgenössische Untersuchung hält fest, »daß aus dem anfänglich kleinen Unternehmen durch Eingreifen des jetzigen Inhabers, des Herrn Andrei Iwanowitsch Gussew, seine Sachkenntnis und die ihm zur Verfügung stehenden Mittel … eine Fabrik entstand, die nach der Produktion von Bakun-Tabak jetzt als die erste und größte Rußlands dasteht.«120 Auch außerhalb seines beruflichen Engagements war Gusev eng mit dem öffentlichen Leben der Stadt verbunden. Von 1905 bis 1914 amtierte er als Stadtverordneter, war Mitglied des Industriellenvereins, besuchte abends oft den Russischen Klub und unterstützte diverse Wohlfahrtsvereine mit erheblichen Mitteln ebenso wie er Kunst und Kultur durch eigene Stiftungen förderte. Sein Ansehen als Unternehmer, Politiker und Mäzen führte dazu, daß 119 Vgl. Božena Vitvickijs Nekrolog in ›Teatr i Musika‹, Nr. 3, 1922, zitiert nach: Žuravlev, S. 193. 120 Beiträge zur Geschichte der Industrie Rigas, Heft II, S. 36.

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auch der exklusive deutsche Klub Musse ihn 1905 als einen der Seinen aufnahm. Gusevs Förderung von Kunst und Kultur schien nicht nur Russen zugute gekommen zu sein, »auch Letten, Deutsche und Juden wußten seine Hilfsbereitschaft zu schätzen.«121 Als Mitinitiator des Rigaer Zoos gelang ihm kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Realisierung eines Projekts, das sich der allgemeinen Nationalisierung weitgehend entzog und dadurch Mitglieder aller ethnischen Gruppen temporär zu vereinen vermochte. Gusev trat 1905 zunächst der Baltischen Konstitutionellen Partei bei, wenig später dann dem Russischen Oktoberverband, der seinen gemäßigt liberalen Vorstellungen am ehesten entsprach. Zu den Kadetten, deren Forderung nach einer Zwangsenteignung von Großgrundbesitz besitzbürgerliche Kreise zunächst abschreckte, wahrte er dagegen Distanz. Seine Einbindung in das politische Leben der Stadt, seine vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Deutschen, Letten und Juden, seine europäische Bildung und nicht zuletzt sein erheblicher Reichtum, führten dazu, daß er nicht in ethnischer Absonderung, sondern vielmehr in interethnischer Zusammenarbeit eine Chance sah, die unterschiedlichen Forderungen angemessen zu berücksichtigen. Die Leitvorstellung einer ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ suchte er auf kommunalpolitischer Ebene durch eine Allianz mit dem liberalen deutschen Flügel zu erreichen, zumal sie sich mit der deutschen Vorstellung eines städtischen Gemeinwohls gut verbinden ließ. Nicht nur die Zusammenarbeit der deutschen und russischen Eliten, zu denen Gusev gehörte, auch die Wahlerfolge der Kadettenpartei und die Auflagenhöhe der liberalen russischen Zeitungen belegen, daß das Gros des russischen Milieus Rigas sich von liberalen Persönlichkeiten wie Leonid Nikolaevič Vitvickij und Andrej Ivanovič Gusev angemessen vertreten fühlte. Über individuelle Schwerpunkte hinaus erlauben die Biographien der hier skizzierten Akteure den Rückschluß auf allgemeinverbindliche Leitvorstellungen des russischen Milieus und deren Wandel. Zunächst vermochte die Denkfigur einer ›Integration in das Reich‹ die fragmentierte russische Öffentlichkeit einander näher zu bringen. Vermittelt wurde sie überwiegend von Mitgliedern der lokalen Intelligenz, die von der nationalistischen Deutungskultur der russischen Presse beeinflußt waren. Aber auch Beamte, Kaufleute und Handwerker konnte der Topos einer ›Benachteiligung der Nation im eigenen Staat‹ überzeugen, wurde er doch durch die tagtägliche Zurücksetzung im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich ebenso bestätigt, wie er die eigene organisatorische Schwäche zu verdecken half. Doch mit dem staatlichen Abbau der ständischen Ordnung und den kulturellen Unifizierungsmaßnahmen begann das

121 Segodnja 2.9.1931. Über Gusevs Todesjahr und -ort existieren keine Angaben.

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Feindbild von den Deutschen an Gehalt zu verlieren, mußte die ›Integration in das Reich‹ neu definiert werden. Während eine kleine Gruppe von mittelloser Intelligenz und entsandten Beamten den ›Vorrang der russischen Nation vor den übrigen Nationalitäten‹ behauptete, distanzierte sich die Mehrheit des Milieus von solchen Vorstellungen. Zu offensichtlich war, daß die Vorstellung vom Vorrang der russischen ›Nation‹ als Ordnungsmodell für die Peripherie nicht taugte, mochte sie in der Hauptstadt als »Bezugspunkt einer sich emanzipierenden Gesellschaft« auch noch so überzeugend sein.122 Weder verfügte das russische Milieu über eine so beeindruckende Vereinskultur wie die Deutschen, noch wies es wirkliche politische Köpfe auf oder konnte mit den symbolischen Praktiken der Letten konkurrieren.123 Das russische Wirtschaftsbürgertum, dessen politischer Einfluß durch die Städteordnung von 1892 verstärkt worden war, sah daher in einer ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹, die auf einem föderalen Reichsverständnis basierte, die geeignetere Lösung für die Herausforderungen des multiethnischen Alltags. Über das lokale Beispiel hinaus gibt dieser Befund Anlaß, die Reichweite des russischen Nationalismus zu modifizieren. Mit dem Postulat einer unteilbaren russischen Nationalität war es Michail Katkov zwar gelungen, eine russische Öffentlichkeit in St. Petersburg und Moskau zu mobilisieren, wie jüngst überzeugend gezeigt wurde,124 doch in der multiethnischen Peripherie schien das Schlagwort der Epoche weniger zu greifen. Ließ sich über die Problematik, daß es nur eine ›narodnost’‹ in Rußland geben dürfe, nämlich die russische, im ethnisch recht homogenen Zentrum des Reiches leichter hinwegsehen, stieß diese Denkfigur in der multiethnischen Peripherie mit der Realität mehrerer ethnischer Gruppen, eben verschiedener ›narodnosti‹, zusammen. Für die lokale russische Gesellschaft im Nordwesten des Zarenreichs erwies sich ein föderales Reichsverständnis als geeigneteres Modell, das Problem der multiethnischen Koexistenz zu meistern. Mithin scheint es sich beim russischen Nationalismus weniger um den Katalysator einer reichsweiten ›russischen Öffentlichkeit‹ zu handeln als vielmehr um ein spezifisches Hauptstadtphänomen, das in der multiethnischen Peripherie an Wirkungsmacht verlor. 122 Renner, Russischer Nationalismus, S. 380. 123 Vgl. auch Rižskij Vestnik 21.5.1876: »Es ist nur zu offensichtlich, daß die russische Öffentlichkeit klein ist und Unterstützung braucht. Ohne Mäzene kann keiner unserer Vereine überleben … Das Problem ist: Uns fehlen solche Individuen. Wir haben Ideen und Pläne, aber wir vergessen, daß nicht die Statuten, sondern die Mitglieder besser werden müssen. Doch wir haben nirgendwo Charaktere.« 124 Vgl. bei Renner, Russischer Nationalismus, die Publikationsorte der wichtigsten nationalistischen Zeitungen, die sich zum Großteil auf St. Petersburg und Moskau konzentrierten, S. 176.

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4. Zwischen religiöser Behauptung und Akkulturation: Die Juden Die Vielfalt kultureller Einflüsse, die Riga seine Signatur gab, blieb auch auf die Juden der Stadt nicht ohne Wirkung. So konstatierte der jüdische Arzt Isaak Joffe in einer zeitgenössischen historischen Studie: »Sowohl die gesonderten politischen und kulturellen Zustände in Liv- und Kurland, als auch die engen Beziehungen, in welchen diese beiden Länder seit jeher zu Westeuropa, namentlich zu Deutschland standen, haben naturgemäß nicht verfehlt, ein besonderes Gepräge nicht nur dem Verhalten der örtlichen Behörden und Bürger zu den Juden zu verleihen, sondern sind auch auf letztere selbst in ihrer materiellen und kulturellen Entwicklung nicht ohne Einfluß geblieben.«125 Juden hatten erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts damit begonnen, nach Riga zuzuwandern, das außerhalb des jüdischen Ansiedelungsrayons lag. 1842 erfolgte die staatliche Genehmigung einer ›Rigischen Hebräergemeinde‹, die im Zarenreich die erste legale jüdische Gemeinde außerhalb des Ansiedlungsrayons darstellte.126 Rigas wachsender Bedeutung als Handelszentrum und Industriestandort war es zuzuschreiben, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tausende von jüdischen Zuwanderern aus Kurland, Livland und den polnischen, litauischen und weißrussischen Provinzen Kovno, Wilna, Vitebsk und Grodno in die Stadt kamen. Dazu trug bei, daß Pogrome oder behördlich tolerierte Verfolgung hier unbekannt war, wenn auch die rechtliche Gleichberechtigung, wie überall im Zarenreich, nach wie vor ausstand. 1881 lebten 14 000 Juden in Riga, 1913 waren es rund 22 000, deren bürgerliche Akteure im wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt eine wichtige Rolle spielten. Dennoch ist die Überlieferung jüdischen Lebens in Riga während des ausgehenden Zarenreichs überaus spärlich.127 Das geht vor allem auf die Auswirkungen des Holocausts in Lettland zwischen 1940 und 1944 zurück. Persönliche Aufzeichnungen sind kaum mehr vorhanden, und mit Ausnahme der veralteten, im nationaljüdischen Impetus geschriebene Studie Mendel Bobes, »Jews in Latvia« existiert auch keine wissenschaftliche Darstellung der jüdischen Öffentlichkeit vor 1914.128 Die Quellenlage für ein Porträt jüdischer Protagonisten ist daher denkbar ungünstig. Im Jahr 2001 125 Vgl. Joffe, S. IV. 126 Vgl. Buchholtz, Geschichte der Juden in Riga. Vgl. auch Hildermeier, Jüdische Frage, S. 325. 127 Vgl. Guide to the Collections of the Museum ›Jews in Latvia‹. 128 Vgl. Bobe; Šteimanis, History of Latvian Jews. Šteimanis aus dem Lettischen übersetzte Arbeit faßt Bekanntes im wesentlichen faktographisch zusammen. Die Vorkriegszeit nur streifend: Dribins, Hebreij Latvijā; ähnlich Zeitlin; Überblicke in: Aus der Geschichte der Juden in Lettland; als stadtgeschichtlicher Wegweiser vgl. Vestermanis.

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wurde in den USA jedoch eine Autobiographie des in Riga geborenen Max Michelson publiziert, »City of Life, City of Death«, der seine Familie anhand von Zeitzeugnissen und persönlichen Erinnerungen beschreibt.129 Am Beispiel seiner Großmutter Emma Michelsohn (1856–1935), die mit ihrem Mann zwischen 1878 und 1914 ein bürgerliches Leben in Riga führte, lassen sich spezifische Denkfiguren und Handlungsmaßstäbe herausarbeiten, die das jüdische Milieu Rigas konstituierten. Neben der Figur Emma Michelsohns berücksichtigt dieses Kapitel auch den jüdischen Rechtsanwalt Paul Mintz (1868–1941), der die Rigaer Abteilung der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Russlands gründete und um die Jahrhundertwende zu den Säulen des Milieus zählte, dabei jedoch eine veränderte Perspektive auf den jüdischen Handlungsspielraum der Zeit entwickelte. Emma Michelsohns Familie war ein typisches Beispiel jener ›Kurländischen Juden,‹ so die zeitgenössische Bezeichnung, welche die Formierung eines jüdischen Milieus maßgeblich vorantrieben. 1856 als Tochter des Gutsverwalters Nikolai (Noah) Hirschfeld geboren, wuchs sie in recht wohlhabenden, bürgerlich geprägten Verhältnissen in der kurländischen Kleinstadt Frauenburg auf. 1878 heiratete sie Max Michelsohn, den Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Mitau, der dort die deutsche Stadt-Realschule absolviert hatte. Im selben Jahr zog das jungverheiratete Paar nach Riga, wo Michelsohn die Chancen nutzte, welche die prosperierende Stadt zunehmend bot. 1888 gründete er sein eigenes Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Holzmöbeln und Holztafeln für Schulen konzentrierte. Diese Produkte, denen der Ausbau der staatlichen Schulen entgegenkam, fanden zunehmend innerhalb des ganzen Reiches Absatz. Michelsohns geschäftlicher Erfolg führte dazu, daß er bald Kaufmann der Zweiten Gilde wurde und 1900 ein großes Grundstück am Rande der Rigaer Innenstadt erwarb, wo Fabrik und Wohnhaus eng beieinander lagen. Diese Nähe ermöglichte Emma Michelsohn die rege Anteilnahme an der Entwicklung des Unternehmens, dessen Miteigentümerin sie war. Außer der Erziehung ihrer fünf Kinder verbrachte sie viel Zeit mit der Aufsicht einzelner Arbeitsvorgänge, mit der Betreuung von Kollegen und Geschäftspartnern ihres Mannes sowie mit der Diskussion von Erweiterungs- und Verbesserungsplänen. Als ihr Mann 1908 starb und ihr ältester Sohn die Firma übernahm und weiter ausbaute, folgte ihre Schwiegertochter diesem Beispiel und arbeitete täglich als Sekretärin ihres Mannes in der Firma mit.130 Das Ziel des sozioökonomischen Aufstiegs, das Emma und Max Michelsohn energisch verfolgten, war nicht nur eine individuelle Entscheidung, 129 Vgl. Michelson. 130 Vgl. Michelson, S. 29.

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sondern ein allgemeines Merkmal des entstehenden jüdischen Milieus. Diesem Ziel diente zum einen die Gründung von Unterstützungsvereinen wie dem ersten jüdischen Wohlfahrtsverein Bikur Cholim. Max Michelsohn besuchte nicht nur dessen Mitgliedersitzungen regelmäßig, er und seine Frau Emma entschlossen sich auch, dem Verein eine beträchtliche Stiftung zur Verfügung zu stellen.131 Jahrelang engagierte sich auch Emma im Bikur Cholim, »dem Mittelpunkt und Lieblingskind der jüdischen Gesellschaft dieser Jahre«, und amtierte zwischen 1902 und 1905 als dessen Vizevorsitzende.132 Das allgemeine Streben nach sozioökonomischem Aufstieg wird auch im jüdischen Andrang zu den städtischen Lehranstalten deutlich. Wie viele andere bürgerliche Juden schickten auch Michelsohns ihren Sohn Dietrich auf das städtische Polytechnikum, das 1900 rund 12% jüdischer Studenten aufwies, mehr als das Doppelte ihres Bevölkerungsanteils.133 Eine Folge dieses Andrangs, aber auch der guten deutsch-jüdischen Zusammenarbeit im Rigaer Rathaus bestand darin, daß die technische Hochschule eine Ausnahmeregelung erwirkte, die es ermöglichte, jüdische Studenten über die gesetzlich vorgeschriebene 5%-Klausel hinaus aufzunehmen.134 Schließlich dokumentiert auch die Gründung einer ›eigenen‹ Bank, der Nordischen Gesellschaft gegenseitigen Kredits, in dessen Vorstand Michelsohns Sohn später berufen wurde, wie Rigas jüdische Bürger ihren sozioökonomischen Aufstieg im Alltag verfolgten. Sozioökonomischer Aufstieg war von Bildung und Kultur nicht zu trennen. Die biographischen Fragmente Emma Michelsohns illustrieren, wie die Vorstellung kultureller Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft von ihr umgesetzt wurde. Bildung und Kultur wurden in Riga primär von Deutschen vorgelebt, weshalb die jüdischen Zuwanderer aus Livland und Kurland zunächst die deutsche Kultur als erstrebenswerte Option begriffen. Emma Michelsohn, die selbst eine deutschsprachige Schule besucht hatte, war eine besonders überzeugte Verfechterin einer solchen Akkulturation.135 In ihrem Hause wurde nur Deutsch gesprochen, während Jiddisch als Sprache der Unterschicht verpönt war: »Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Kurlands und Rigas sprach Jiddisch, aber in meiner Familie hatte Jiddisch nicht den Rang einer eigenständigen Sprache. Man bezeichnete es als Jargon und hielt es für ein korrumpiertes Deutsch, das nur 131 Vgl. Bernhard Meyer, Zum 50-jährigen Jubiläum der vereinsmäßigen jüdischen Krankenpflege 1870–1920 in Riga. Bericht im Auftrag des Vereins zur Unterstützung armer kranker Juden in Riga ›Bikur-Cholim‹, Riga 1921, S. 42, in: Fonds 2962, apr. 1, Nr. 37, LVVA. 132 Ebd., S. 7. 133 Vgl. Buchholtz, Polytechnisches Institut, s. Tabelle im Anhang. 134 Vgl. Rigasche Rundschau 7.3.1902. 135 Vgl. zum Begriff der ›Akkulturation‹ Volkov, Juden in Deutschland, S. 86ff.; Kaplan.

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unkultivierte Leute sprachen, die kein Hochdeutsch konnten. In unseren sozialen Zirkeln war sein Gebrauch verpönt. Es wurde weder bei uns zuhause noch bei irgendeinem unserer Verwandten und Freunde gesprochen … Für Emma stellte das Jiddische eine unwillkommene Erinnerung an die bedrückende Religiosität ihrer Jugend dar, der zu entkommen ihr und ihrer Familie gelungen war, und sie erblickte darin zweifellos eine Drohung, in die engumgrenzte Gesellschaft ihrer Kindheit zurückzufallen.«136 Ebenso war der Besuch deutscher Schulen für die Michelsohn-Kinder obligatorisch, bevor die Russifizierung dieser Möglichkeit ein Ende setzte. Als jährlicher Erholungsort diente der Familie nicht etwa ein innerrussischer Kurort am Schwarzen Meer, sondern meist Baden-Baden oder ein anderer Kurort im Deutschen Reich. Gelesen wurde vor allem deutsche Literatur, abonniert die Leiziger ›Jüdische Allgemeine‹ und die liberale ›Rigasche Rundschau‹. Emmas Sohn Dietrich, ein begabter Sänger, sang abends Schubertlieder und die Lohengrin-Arien Richard Wagners.137 Wie unterschiedlich Juden und Letten die deutsche Kultur wahrnahmen, zeigt folgende Erinnerung an Emma Michelsohn: »Wie viele kurländische Juden war meine Großmutter von der deutschen Kultur beeinflusst und sehr entschieden in ihrer Bewunderung von allem, was deutsch war. Sie kannte die deutsche Literatur und Dichtung und Musik sehr gut. Eine Familienlegende will es, dass Richard Wagner während seines Rigaer Aufenthalts Gast in ihrem Hause war. Kulturelle Orientierung nach Deutschland (im Gegensatz zu Russland) war typisch für jene Juden, die oft dem deutschbaltischen Adel Dienste geleistet hatten und das über Generationen hinweg. Für Emma, wie für viele Juden, repräsentierte Deutschland Emanzipation – ein Fenster zur westlichen Kultur und zur modernen Welt. Die Haltung der Letten gegenüber Deutschland war davon grundverschieden, für sie stellte alles Deutsche Bedrückung, Unterjochung und Ausbeutung dar.«138

Die jüdische Präferenz für die deutsche Kultur schlug sich nicht nur in einzelnen Lebensläufen des jüdischen Bürgertums nieder, sondern manifestierte sich auch in der Gründung einer weltlichen Gemeindeschule, die am deutschen Modell orientiert war und nach Odessa die zweite weltliche Schule dieser Art innerhalb des Zarenreichs darstellte.139 Die Gründung der ›Israelitischen Gemeindeschule zu Riga‹ im Jahr 1840 ging auf die von der westlichen Haskalah-Bewegung beeinflussten ›Kurländischen Juden‹ zurück, die mit diesem Projekt bei der Rigaer Stadtverwaltung wie auch bei 136 Michelson, S. 11f. 137 Ebd., S. 23 138 Ebd., S. 11. 139 Vgl. Zipperstein; zum allgemeinen Kontext der Integration durch weltliche Schulen auch Hildermeier, Jüdische Frage, S. 338.

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der Reichsregierung ein offenes Ohr gefunden hatten.140 Ihren auf Emanzipation und Auf klärung gerichteten Vorstellungen hatte es entsprochen, daß »der Hauptlehrer … ein ausländischer Ebräer sein soll, welcher im Geiste der reinen Auf klärung gebildet sein muß,« wie die Schulstatuten festhielten.141 Berufen wurde schließlich der Münchner Pädagoge Dr. Max Lilienthal, der ein an deutschen Schulen orientiertes Curriculum durchsetzte, aufgrund seiner Verdienste aber bereits wenig später als Berater des Innenministers Uvarov nach St. Petersburg berufen wurde. Neben Mathematik und Naturkunde wurden Hebräisch, Deutsch und Russisch ebenso wie Latein und Französisch gelehrt, daneben Geschichte, Gesang und Sport. Zunächst hatte die Schule gegen den Widerstand des orthodoxen Flügels zu kämpfen, doch mit dem sozioökonomischen Aufstieg vieler Rigaer Juden gewann sie zunehmend an Popularität, so daß ihr Direktor, der 1877 aus Berlin nach Riga berufene Dr. Adolf Ehrlich, 1894 feststellte: »Die Schülerzahl hat eine nie geahnte Höhe erreicht. Durchschnittlich 500 Lernende genießen hier den Segen und die Wohlthat des Unterrichts. Diese Zahl könnte sicherlich verdoppelt werden, wenn die Räume und die Mittel dazu reichten. Zu Hunderten müssen die Anmeldungen von Neuschülern beim Anfang jedes Schuljahrs zurückgewiesen werden.«142 Bis zum Beginn der staatlichen Russifizierung wurde hier ausschließlich auf deutsch unterrichtet, blieb die deutsche Kultur prägend. Im Jahr 1888 wurde auf staatliche Anordnung hin das Russische als Unterrichtssprache eingeführt und die Vermittlung deutscher Kultur wich zunehmend jener der russischen Kultur. Die Identifikation mit der deutschen Kultur bedeutete für Rigas Juden jedoch keinesfalls die Aufgabe ihrer religiösen Identität. Denn was das entstehende Milieu zusammenband, war zunächst primär die gemeinsame Konfession. Die Mehrzahl des deutsch akkulturierten jüdischen Bürgertums, für das Emma Michelsohn repräsentativ war, lehnte zwar die orthodoxe Religiösität der Zuwanderer aus den östlichen Gouvernements entschieden ab, bekannte sich aber ohne Einschränkungen zum Glauben der Väter. Mischehen gab es im jüdischen Bürgertum Rigas kaum, Taufen fast gar nicht. Wenn Konversionen doch einmal vorkamen, wurden sie von Emma Michelsohn mit Verachtung kommentiert: »Obwohl Emma nichtjüdisches Aussehen bewunderte, betrachtete sie Konversionen zum Christentum mit Verachtung. Diese Haltung teilte ihre gesamte Familie ebenso wie ich selber … Wenn das Gespräch auf Juden kam, die konvertiert waren, wurde diese Tatsache unweigerlich erwähnt und dafür das abschätzige jiddische Wort geshmad benützt, statt des neutralen deutschen Begriffs getauft. 140 Vgl. Ehrlich. 141 Ebd., S. 5. 142 Ebd., S. 32.

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Konversionen waren Verrat und reflektierten skrupellosen Opportunismus oder extremen Selbsthaß: Konvertiten betrachtete man mit Misstrauen, begegnete ihnen mit Verachtung und oft wurden sie aus der jüdischen Gesellschaft ausgestoßen.«143 Religiöse Behauptung wurde jedoch liberal praktiziert. Sämtliche Mitglieder von Emma Michelsohns großer Familie bedienten sich religiöser Gebräuche eher eklektisch, integrierten, was passend war, in ihr Alltagsleben, ließen anderes, und das war das Meiste, jedoch weg. Emma Michelsohns Umgang mit Religion war typisch für das Gros des aufgeklärten jüdischen Bürgertum in Riga: »In ihrer eigenen Art war meine Großmutter eine religiöse Frau. Obwohl sie selbst entschied, welche jüdischen Gewohnheiten und Bräuchen sie folgen wollte, identifizierte sie sich eindeutig als Jüdin. Freitags wurden Sabbatkerzen in unserem Hause entzündet und viele Jahre lang nahm ich das hin ohne zu wissen, welches religiöse Ritual sich dahinter verbarg … An Yom Kippur verbrachte Emma den ganzen Tag in der Synagoge, aber ob sie je an einem anderen Tag ihren Fuß dorthin setzte, erinnere ich nicht. Sie hielt keine kosheren Mahlzeiten ab außer Passah. Schwein oder Schellfisch wurden nie serviert. Dennoch erschien gekochter Schinken und Kanadischer Speck gelegentlich auf unserem Tisch, unweigerlich von humorvollen Bemerkungen begleitet, ob es sich hier um Rind oder Truthahn handele. Mein Großvater Max war etwas frömmer als Emma, aber ich bezweifle, daß die Regeln des kashrut (die jüdischen Zubereitungsregeln) in seinem Haushalt je befolgt wurden.«144

Ein ähnliches Verhalten ließ sich bei den Männern der Familie beobachten. Als der Bau einer Synagoge in der Altstadt an finanziellen Erwägungen zu scheitern drohte, engagierte sich Emmas Mann mit zwei anderen bekannten Industriellen und kaufte das vorgesehene Grundstück auf eigene Kosten. In der 1903 eröffneten Synagoge erhielt er einen prestigereichen Platz an vorderster Stelle, der später an seinen Sohn weitergegeben wurde. Ungeachtet dieses gemeindlichen Engagements wurde die Religion als solche jedoch liberal und oft auch nachlässig von ihm praktiziert. So besuchten Vater und Sohn die Synagoge nur an höchsten Feiertagen und kamen meist zu spät: »Papa besuchte nur an sehr hohen Feiertagen, Rosh Hashanan, Yom Kippur und gelegentlich an Passah den Gottesdienst. Unsere Synagoge war streng orthodox und Männer und Frauen saßen in getrennten Abteilungen … Papa war aus Gewohnheit spät. Einmal, an Yom Kippur, waren wir, wie üblich, verspätet zum Gottesdienst gekommen. Er fragte seinen Nachbar, ob Kol Nidrei gesungen werden würde, nur um zu hören, dass wir es gerade verpasst hätten«.145 143 Michelson, S. 11. 144 Ebd., S. 10. 145 Ebd., S. 25.

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Abb. 10: Die Große Synagoge in Riga um 1900 (Photo: M. Vestermanis, Juden in Riga)

Die liberale Glaubenspraxis des deutsch akkulturierten jüdischen Bürgertums, wie Emma Michelsohns Familie es verkörperte, wurde indes keinesfalls von allen Rigaschen Juden geteilt. Denn der dominierenden Gruppe der ›kurländischen Juden‹ und ihren Leitvorstellungen von deutscher Akkulturation, sozioökonomischem Aufstieg und einer liberal praktizierten religiösen Behauptung erwuchs seit den 1870er Jahren Konkurrenz in Gestalt der ›Reisschen Juden‹, wie die jiddische Ausdruck für ›Russische Juden‹ lautete.146 So bezeichneten sich jene Zuwanderer, die seit der staatlichen Lockerung der Aufenthaltserlaubnis aus den südöstlichen Gouvernements Minsk, Vitebsk, Mohilev oder Grodno kamen, die Teil des jüdischen Ansiedlungsrayons waren. Sozial handelte es sich bei diesen Zuwanderern meist um unterbürgerliche Gruppen, die oft im expandierenden Holzgeschäft Arbeit fanden und zunehmend auch eigene Unternehmen gründeten. Religiös wurzelten sie überwiegend in der Tradition des Chassidismus und fühlten sich einer mystischen Volkskultur verbunden. Der aufgeklärten, westlichen Orientierung der ›kurländischen Juden‹ begegneten sie eher mit Ablehnung und gründeten eigene Gebetsstätten, in denen die jüdischen Riten orthodox befolgt wurden. Kulturell favorisierten sie die eigene religiöse Tradition und schickten ihre Söhne in den traditionellen Cheder, die jüdische Religionsschule, während die Mädchen zuhause blieben. Im bürgerlichen Rahmen wurde hier meist rus146 Vgl. Bobe, S. 245ff.

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sisch gesprochen, die unterbürgerliche Mehrheit behielt das Jiddische bei.147 Die unterschiedliche religiöse Praxis, abweichende kulturelle Präferenzen und ein sozial differierender Hintergrund schufen zwischen ›Kurländischen‹ und ›Reisschen Juden‹ zunächst eine Trennlinie, die sich in unterschiedlichem Lebensstil, Schul- und Synagogenbesuch wie auch in der Sprachwahl niederschlug. Mit verstärktem Kontakt und einer wachsenden Zahl an Ehen zwischen beiden Gruppen flaute diese konfessionell und kulturell begründete Trennlinie gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch ab und machte neuen Differenzen Platz, die eher sozial und politisch begründet waren. Stärker als interne Trennlinien blieb jedoch die ethnokonfessionelle Abgrenzung zur christlichen Außenwelt. Zwar gab es im öffentlichen Bereich gewisse Gemeinsamkeiten wie beispielsweise die deutsch-jüdische Wahlallianz zwischen 1882 und 1892. Ebenso entschlossen sich deutsche und jüdische Bürger 1882, dem deutschen Verein gegen den Bettel eine jüdische Abteilung anzuschließen, dessen Mitgliedern das gleiche Stimmrecht zukam. Der Mitbegründer dieser Abteilung, der angesehene Kaufmann Wolf Luntz, wurde später zum Ehrenmitglied des deutschen Vereins gegen den Bettel ernannt.148 Auch im wirtschaftlichen Leben der Stadt gab es eine Reihe an Kontakten zwischen Juden, Deutschen und Russen, zumal jüdische Industrielle häufig in Aufsichtsräten nichtjüdischer Firmen saßen. Zwischen Juden und Letten existierten vor 1914 aber kaum Kontakte, zumal die aus dem Ansiedlungsrayon gekommene Mehrheit der Rigaer Juden kein Lettisch verstand. Max Michelson erinnert sich an die Bewertung der lettischen Sprache in bürgerlichen Kreisen: »Außer im Gespräch mit unserer Köchin wurde in unserem Hause kein Lettisch gesprochen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt Lettisch als Sprache der Bauern, eine Sprache, die gebildete Menschen nicht benützten. Diese Einstellung blieb in jüdischen Kreisen weit über 1918 hinaus bestehen, als Lettland ein unabhängiger Staat wurde.«149 Im privaten Bereich verkehrte man ausschließlich mit Juden und trat jüdischen Clubs und Vereinen bei, welche die Milieubildung vorantrieben. Enge Freundschaften etwa zwischen Juden und Christen waren nahezu unbekannt. Diese spezifische Abgrenzung wurde durch die allgemeine Nationalisierung der Lebenswelt noch verschärft, wie sich der Enkel von Emma Michelsohn erinnert: »Ich wuchs in einer jüdischen Atmosphäre auf, aber einer solchen, in der Religion keine zentrale Rolle spielte … Doch obwohl wir Religion aus unserem Alltag verbannten, identifizierten wir uns gleich147 Vgl. die Ergebnisse der Volkszählung 1881: 27% der Rigaer Juden gaben als häusliche Umgangssprache deutsch an, 2% russisch und 71% jiddisch. 148 Vgl. auch die Darstellung der Verbundenheit mit dem deutschen Verein in: Curatorium des Hebräer-Asyls. Verein gegen den Bettel in Riga, S. 27. 149 Michelson, S. 11.

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zeitig entschieden als Juden. Jude-Sein war jedoch vor allem eine Sache kultureller und ethnischer Zugehörigkeit und schlug sich in dem klaren Gefühl nieder, Mitglied eines bestimmten Volkes zu sein. Diese Identifikation war zum Teil von der äußeren Umgebung diktiert und erzwungen, die jeden in der Bevölkerung mit Blick auf seine ethnische Zugehörigkeit einteilte. Juden fanden diese Identifikation nachvollziehbar und fühlten sich mit diesem Arrangement vertraut. Sie begriffen sich selbst als eigenständiges Volk und hatten sehr begrenzten Kontakt mit der nichtjüdischen allgemeinen Umwelt.«150 Dieses Merkmal sollte Emma Michelsohns Leben auch nach 1918 kennzeichnen und sich bis zu ihrem Tode im Jahr 1935 kaum verändern. Mit der zunehmenden Politisierung der Gesellschaft und der kulturellen Russifizierung des Staates wandelten sich jedoch prägende Denkfiguren des jüdischen Milieus und neue Vorstellungen kamen hinzu. In der Gestalt von Paul Mintz können einige dieser Veränderungen deutlich werden. Mintz’ Familie, die ihren Stammbaum bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen konnte, war 1880 aus Dvinsk, das im Ansiedlungsrayon lag, nach Riga gezogen. Trotz dieser geographischen Herkunft war auch die Familie Mintz von der deutschen Kultur geprägt, wie Zeitzeugen erinnern: »Die Familie Mintz lebte in Riga als erste Generation derer, die den Ansiedlungsrayon verließen … Sie kann als Beispiel für den weitreichenden Einfluß des Deutschen auf die Juden der Region gelten, sogar bevor sie in das deutsch geprägte Riga zogen. Ihr Benehmen, ihre äußere Erscheinung, die Sprache, die sie zuhause benützten, die Erziehung ihrer Kinder, all das war von der deutschen Kultur geprägt. Langansässige Rigaer Einwohner waren davon überzeugt, daß die Familie bereits seit vielen Generationen in Riga oder Kurland gelebt haben musste.«151 Der 1868 geborene Paul Mintz ging zum Studium der Rechtswissenschaft nach St. Petersburg und schloß sein Examen an der Dorpater Universität ab. Nach Riga zurückgekehrt, eröffnete er hier eine Anwaltskanzlei und startete zahlreiche Aktivitäten, die den jüdischen Handlungsraum stärken und das entstehende Milieu enger zusammenbinden sollten. Denn sozioökonomischer Aufstieg, religiöse Behauptung und Integration in die deutsche Kultur waren Zielvorstellungen, die zwar nicht an Bedeutung verloren, aber in einem zunehmend politisierten und nationalisierten Umfeld nicht mehr ausreichend erschienen, um die Stellung der Juden zu verbessern. Vielmehr galt es jetzt auch rechtliche Emanzipation einzufordern, um Juden zu gleichwertigen Bürgern Russlands zu machen. Mintz begann zunächst mit der Organisation von ›Herrenabenden‹, wo sich führende jüdische Bürger zur Diskussion entsprechender Schritte tra-

150 Michelson, S. 3. 151 Bobe, S. 254.

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fen.152 Aus dieser Runde ging 1898 die Rigaer Abteilung der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Russlands hervor. Nach 1905 übernahm die von Mintz initiierte Herrenrunde auch die Aufgabe, ein jüdisches Wahlkomitee zusammenzustellen, das eine eigenständige lokale Partei ins Leben rief und die Formierung des jüdischen Elektorats vorantrieb. Die Partei forderte volle rechtliche Gleichheit sowie sämtliche bürgerliche Rechte, die auch die christlichen Parteien sich aufs Tapet schrieben. Die demokratische Ausrichtung der jüdischen Partei schied sie jedoch von den konservativ-liberalen Vorstellungen der deutschbaltischen BKP und legte ein Zusammengehen mit den russischen Kadetten und den lettischen Demokraten nahe, wie die Protokolle des jüdischen Wahlkomitees verdeutlichen: »Dr. Max Schönfeld, der Präses des Verbands zur Erlangung der Vollberechtigung der Juden, teilte mit, daß der Verband sich in einen Wahlblock mit den russischen, lettischen, polnischen … Konstitutionell Demokratischen Parteien vereinigt habe und von einem Hand-in-Hand gehen mit den deutschen Parteien Abstand genommen werden müßte, was ihm, Referenten, sehr leid tue, da er selbst deutsche Bildung und Erziehung genossen und die deutsche Kultur sehr hoch schätze (Beifall). Allein, wo es sich um wichtige Interessen des ganzen jüdischen Volkes handele, gingen diese den persönlichen Empfindungen und Wünschen voran. Das jüdische Volk sei ein demokratisches und müsse sich mit den fortschrittlichen Parteien vereinigen, welche dem demokratischen Prinzip huldigen. Redner betonte ausdrücklich, daß dieses durchaus kein Kampf gegen das hiesige Deutschthum sei, sondern eine Sicherung der Principien, die der alljüdische Verband in Rußland vertritt (Beifall).«153

In solchen Reformvorstellungen wird zugleich die neue Trennlinie sichtbar, die bürgerliche Demokraten wie Mintz von den unterbürgerlichen jüdischen Sozialisten trennte, die sich ebenfalls zu organisieren begannen. Während Mintz und seine Mitstreiter von einem monarchisch legitimierten Parlament eine Reform des autokratischen Systems erhofften und damit auf die evolutionäre Veränderung rechtlicher Ungleichheit setzten, sahen die Mitglieder des 1902 in Riga gegründeten Bunds im revolutionären Klassenkampf das einzige Mittel, volle politische und soziale Gleichheit zu erreichen.154. Diesem Ziel diente auch ihr Engagement in der Revolution von 1905, als sie gemeinsam mit den lettischen Sozialisten auf die Barrikaden gingen und das öffentliche Leben der Stadt monatelang lahm legten. Auch der Zionismus, dem die Mitglieder der bürgerlichen Bildungsgesellschaft zuneigten, war für 152 Vgl. dazu ebd., S. 255. 153 Rigasche Rundschau 21.3.1906. 154 Der Aufnahme wohlhabender, aus Innerrußland stammenden Juden am Rigaer Polytechnikum war es zuzuschreiben, daß »in 1902–1904 that city became the financial capital of the Bund in Russia.«, s. Tobias, S. 242. Nach der Niederschlagung der Revolution zerfiel die Rigaer Abteilung des Bunds schnell und zählte 1910 nur mehr 50 Mitglieder, vgl. auch Kalniņš, Latvijas sociāldemokratijas.

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die jüdischen Sozialisten, welche eine Lösung des jüdischen Problems hier und jetzt anstrebte, keine Option. Nicht nur die neue Zielutopie rechtlicher Emanzipation unterschied Paul Mintz von Emma und Max Michelsohn, deren Leitvorstellungen tendenziell unpolitisch geblieben waren. Auch die Frage der kulturellen Integration wurde von ihm anders beantwortet. Denn wer die Mehrheitsgesellschaft darstellte, war nicht statisch, sondern ebenfalls Wandel unterworfen und wurde von der Generation Paul Mintz’ neu bestimmt. Mit der demographischen Stagnation der deutschen Bevölkerung, ihrer Einbuße an politischer Macht und kultureller Dominanz war die deutsche Sprache und Kultur weniger attraktiv geworden, hatte an Nützlichkeit verloren und konnte sozialen Aufstieg und kulturelle Integration nicht mehr gewährleisten. Vielmehr erschien die Reichssprache zusehends wichtiger für den beruflichen Erfolg in Industrie und Handel, ging seit den 1890er Jahren von der russischen Kultur, die jetzt in die Schulen Einzug hielt, eine immer größere Ausstrahlungskraft aus, wie auch die Erfolge des russischen Theaters in Riga demonstrierten. Paul Schiemann erinnerte sich, dass »namentlich im vorzüglichen von Neslobin geleiteten russischen Stadttheater sich hier ein hervorragendes Mittel russischer Kulturpropaganda (bot) … Die Folge war, daß das jüdische Publikum dem russischen Theater volle Häuser sicherte und auch die an der modernen Literatur interessierten Deutschen immer häufiger das Schauspielhaus im Puschkinboulevard zu besuchen anfingen.«155 Auch in unterbürgerlichen Kreisen, wo bisher ausschließlich Jiddisch gesprochen wurde, verbreitete sich allmählich die russische Sprache, in der schließlich die maßgeblichen sozialistischen Denker wie Bakunin, Trotzki und Lenin den Umsturz der Autokratie predigten. Die neue Alternative kultureller Integration, die zugleich rechtliche Gleichberechtigung und wirtschaftliches Fortkommen zu befördern schien, wurde von Paul Mintz an vorderster Stelle propagiert. In der von ihm begründeten Bildungsgesellschaft galt die besondere Aufmerksamkeit der Vermittlung der Reichssprache, die das Gros der Rigaschen Juden kaum beherrschte. Und obwohl keinesfalls alle Mitglieder des bürgerlichen Vereins des Russischen mächtig waren, setzte Mintz das Russische als Verhandlungs- und Protokollsprache durch. Wie sich kulturelle Präferenzen änderten und welcher Sprache und Kultur das jüdische Bürgertum Rigas zunehmend den Vorzug gab, belegen schließlich die Statistiken der Volkszählungen. 1881 hatten 71% aller Rigaer Juden jiddisch gesprochen, 27% deutsch und nur 2% russisch. 1913 dagegen sprachen nur noch 64% jiddisch, während die restlichen 36% als häusliche Umgangssprache zu etwa gleichen Teilen das Deutsche oder Russische angaben.156 155 Vgl. Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 107. 156 Vgl. Ergebnisse der Volkszählung 1881; Ergebnisse der Volkszählung 1913. Für das Jahr 1913 war nur der Anteil des Jiddischen angegeben. Welche Anteile die deutsche oder

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Im Ersten Weltkrieg übernahm Paul Mintz die Leitung des jüdischen Flüchtlingskomitees, die besondere Anforderungen stellte, da die russische Regierung 1915 die gesamte jüdische Bevölkerung Rigas nach Kurland zu evakuieren befahl. 1919 wurde er zum Professor der Rechtswissenschaft an der neugegründeten Lettischen Universität ernannt und amtierte einige Jahre auch als Justizminister der Lettischen Republik, wo er die Gesetzgebung des neuen Staates wesentlich mitgestaltete. Als Lettland 1940 von den Sowjettruppen besetzt wurde, wurde Mintz nach Sibirien deportiert, wo er 1941 in einem Lager starb. In den Lebensläufen von Emma Michelsohn und Paul Mintz, so rudimentär die Quellenbasis für letzteren auch ist, wird der Wandel jener Denkfiguren erkennbar, die für das jüdische Milieu Rigas typisch waren. Religiöse Behauptung, sozioökonomischer Aufstieg und die Adaption der deutschen Kultur waren Zielvorstellungen, die zunächst den Kern des Milieus konstituierten, wenn ihnen vom orthodoxen Flügel auch immer wieder Widerstand entgegenschlug. Doch mit der Politisierung und sozialen Auffächerung der Gesellschaft erschien der nächsten Generation die Einforderung rechtlicher Gleichheit notwendig. Hinzu trat die Bevorzugung der russischen Kultur, welche die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Behauptung in einer veränderten Gesellschaft eher zu garantieren versprach. Hatten vor allem religiöse Konflikte zwischen Orthodoxen und Aufgeklärten das jüdische Milieu in den 1870er und 1880er Jahren durchzogen, so traten um die Jahrhundertwende politische und weltanschauliche Differenzen zwischen Bürgern und Arbeitern, Demokraten und Sozialisten nach vorne. Stärker als diese internen Trennlinien blieb jedoch die ethnokonfessionelle Abgrenzung nach außen, die auch vom Wandel kultureller Anlehnung kaum berührt wurde. Weiter westlich in Prag, Berlin oder Breslau, wo die rechtliche Emanzipation vollzogen war, kam es durchaus zu religiös gemischten Vereinen und zu persönlichen Freundschaften zwischen Deutschen und Juden, wurde Jude-Sein ›situativ‹ praktiziert.157 In Riga hingegen, wo die rechtliche Gleichheit nicht gegeben war, blieben Religion und Ethnizität konstante Zuschreibungen, die das jüdische Milieu dauerhaft von seiner christlichen Umgebung trennten.

russische Sprache ausmachte, ließ sich anhand der Angaben über die Umgangssprache in den Stadtvierteln einschätzen. 157 Vgl. zum Konzept der situativen Ethnizität van Rahden; vgl. auch Cohen, Ethnic Survival; Mosse.

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III. Die Nationalisierung der politischen Kultur

Kommunale Politik war in Riga das Geschäft einer geschlossenen Gesellschaft gewesen. Die städtische Verfassung, die in das 13. Jahrhundert zurückging, hatte die politische Mitwirkung an ständische Zugehörigkeit geknüpft und damit die politische Alleinherrschaft der Deutschen über Jahrhunderte hinweg zementiert. Doch mit der neuen russischen Städteordnung von 1877 erweiterte sich der Kreis jener Rigenser, die an Wahlkämpfen teilnehmen, das politische Personal mitbestimmen und deren Entscheidungen beeinflussen konnten, erstmals über die deutsche Elite hinaus. Kontakte mußten angebahnt, Allianzen geschmiedet, Denkfiguren praktisch umgesetzt und deren Vereinbarkeit erprobt werden. Mit gutem Grund gilt die politische Kultur der Stadt als idealer Testfall für die Reformfähigkeit der Gesamtgesellschaft. Während für die Städte Mitteleuropas vor allem nach der Bürgerlichkeit ihrer politischen Kultur gefragt wurde und ein beeindruckender Munizipalsozialismus zutage trat,1 galten die Bemühungen in osteuropäischen Städten zunächst den Umrissen einer bürgerlich agierenden Gesellschaft, wogegen deren kommunale Politik weitgehend im Dunkeln blieb.2 Weisen die Fragestellungen auch unterschiedliche Akzente auf, durchzieht die Historiographie der Urbanisierung und des städtischen Liberalismus doch eine gemeinsame Tendenz: Multiethnizität als städtische Ausgangslage blieb meist unbeachtet. So wurde der jüdische Beitrag zur kommunalen Leistungsfähigkeit der deutschen Stadt bisher wenig berücksichtigt, und für die Stadt des Zarenreichs gilt noch immer, daß sie primär »als Entfaltungsraum einer russischen Nationalgesellschaft« gesehen und untersucht wird.3 Inwieweit Multiethnizität die Reformfähigkeit der lokalen Gesellschaft beeinflußt, steht daher im Zentrum dieses Abschnitts. Das erste Kapitel skizziert den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen kommunale Politik gestaltet werden konnte und fragt, wie sich die ethnische und berufliche Zusammensetzung der politischen Eliten im Zuge einer veränderten Gesetzgebung wandelte. Das zweite Kapitel analysiert das konkrete Gestaltungsfeld dieser Eliten, die kommunale Politik. Am Beispiel dreier Wahlkämpfe wird gezeigt, wie die zentralen Leitvorstellungen der ethnischen Milieus in der 1 Vgl. Gall, Stadt und Bürgertum; Lundgreen. 2 Vgl. Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 28ff. 3 Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 32; vgl. auch van Rahden, S. 245ff.

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kommunalen Politik umgesetzt wurden und wie die Eliten auf die Reformforderungen der breiten Bevölkerung antworteten. Damit rückt die Frage nach dem Verhältnis von partikularen Interessen und Gemeinwohlorientierung in den Mittelpunkt, eine Frage mithin, der die multiethnische Ausgangslage Rigas eine besondere Relevanz verleiht. Konnte das Leitmodell eines ›städtischen Gemeinwohls‹ da verbinden, wo Ethnizität trennte? Stimulierte die Herausforderung von Multiethnizität die Berücksichtigung allgemeiner Interessen oder führte sie eher zur Realisierung partikularer und damit meist ›nationaler‹ Interessen? Während die Forschung für das Zarenreich bisher den Vorrang partikularer, meist persönlicher Interessen betont hat und darin einen Grund für die rückständige Infrastruktur russischer Städte sah,4 stellen vereinzelte neue Arbeiten eine wachsende Orientierung an gemeineuropäischen Entwicklungen fest, die der lokalen Politik zugute kam.5 Die hohe politische Partizipationsbereitschaft sowie eine progressive Kommunalpolitik, die sich in Riga beobachten ließen, werfen zugleich Fragen nach deren zivilgesellschaftlicher Grundierung auf. Denn der Munizipalsozialismus Rigaer Provenienz diente ebenso dem Ziel des deutschen Machterhalts, den nur eine Wohlfahrt aller noch legitimieren konnte. Wie tragfähig die bisher favorisierte Gleichsetzung von zivilgesellschaftlichen Werten und Handlungen angesichts deren Ambivalenz in der historischen Praxis ist, steht damit auf dem Prüfstand. Das dritte Kapitel wendet sich schließlich der reichsweiten Ebene zu, nämlich der 1906 eröffneten Allrussischen Duma, und untersucht, wie die regionale Ausformung eines baltischen Liberalismus das Problem von Multiethnizität auf Reichsebene auszuhandeln suchte. Bot dieser Liberalismus Lösungen an, die sich von Stadt und Region auch auf das Reich übertragen ließen? Und welche Akzeptanz schlug einer solchen übernational gedachten Alternative seitens der nationalen russischen Öffentlichkeit entgegen?

1. Rechtlicher Rahmen und Wandel der politischen Eliten Die Einführung der russischen Städteordnung in den baltischen Provinzen im Jahr 1877 wirkte auf die deutschen Eliten wie ein Schock. Hatten sie in den ständisch zusammengesetzten Magistraten der Städte bisher uneinge4 Vgl. Brower, Russian City, S. 21ff.; Bater; Häfner, Stadtdumawahlen und soziale Eliten; sowie zusammenfassend Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 32ff.; 5 Vgl. Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 56; Woodworth, vgl. dazu auch v. Hirschhausen, Baltischer Liberalismus.

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schränkt den Ton angegeben und das als ihr ›historisches Recht‹ begriffen, wurden sie jetzt mit einer Reform konfrontiert, die politische Partizipation nicht mehr an Stand – und damit faktisch an Ethnizität –, sondern an Vermögen band und so von ständischer und ethnischer Zugehörigkeit löste. Entsprechend harsch fiel die Reaktion im deutschen Milieu Rigas aus, dessen jahrhundertealte Machtstellung erstmals akut bedroht schien: »Dieser Rat von Riga, der einst in reichsstädtischer Unmittelbarkeit regiert, Kriege mit dem mächtigen Deutschorden geführt, die Hansatage beschickt, bei dem Zusammensturz des altlivländischen Staates die Unabhängigkeit der Stadt zwanzig Jahre behauptet … endlich mit Peter dem Großen kapituliert hat – er soll jetzt einer aus Wahlen einer politisch sehr ungebildeten Masse hervorgehenden ›Duma‹ weichen! Je älter man wird, desto konservativer wird man. Mein Herz ist bei der untergehenden Stadtordnung wie das des jüngsten Cato, der gegen Cäsar unterliegend mit den Worten starb: ›Die Götter haben sich für die neue Ordnung der Dinge entschieden, Cato stimmt für die alte.‹« 6 In der Tat stellte das Statut von 1877 die politische Ordnung der Stadt auf eine völlig neue Grundlage. Bisher hatte die Stadtverwaltung in den Händen dreier ständischer Gremien gelegen: des sich durch Zuwahl ergänzenden Rats an der Spitze sowie der beiden Gilden, in denen Kaufleute und Handwerker organisiert waren. Auch die Justiz war von den Mitgliedern des Rats ausgeübt worden – ein ständischer Überhang, der vor allem Letten und Russen, aber auch einigen liberal orientierten Deutschen Anlaß zur Kritik bot: »Die Verwaltung Rigas trug noch einen ganz mittelalterlichen Charakter. An ihrer Spitze stand der sich durch Zuwahl ergänzende Rat, der zum Teil aus Kaufleuten, zum Teil aus Juristen bestand und der zugleich auch Gerichtshof war … Bürger und Einwohner waren nicht dasselbe, nur der Bürger nahm Teil am Regiment der Stadt.«7 Die Trennung von Verwaltung und Justiz sowie die Erweiterung des städtischen Wahlrechts, das vor 1877 weniger als 1% der Bevölkerung, nämlich rund 1 600 überwiegend deutsche Bürger ausgeübt hatten, war bereits in den 1860er Jahren das Ziel einer kleinen Gruppe reformorientierter Deutscher und Russen gewesen.8 Mit ihren Reformvorschlägen, welche die ständische Grundlage politischer Partizipation aber nicht prinzipiell zu ändern beabsichtigten, waren sie in St. Petersburg indes erfolglos geblieben. Denn der ministerialen Bürokratie ging es darum, ständische Sonderrechte aufzuheben und die unterschiedlichen Städteordnungen des heteroge6 Georg Berkholz an Editha v. Rahden, Riga, 1.5.1877, in: Eggers, Baltische Briefe, S. 166. 7 Theodor H. Pantenius, In Riga. Aus den Erinnerungen eines baltischen Journalisten (erstmals publiziert 1874), in: Heimatstimmen, hg. von Hunnius u. Wittrock, Bd. V., S. 12f. 8 Vgl. Masing.

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nen Reiches zu vereinheitlichen. In diesem Sinne sollte jetzt auch das neue Stadtstatut vom 26. März 1877 wirken. Mit seiner Einführung trat an die Stelle der rechtlich definierten Bürgergemeinde eine ökonomisch definierte Einwohnergemeinde. Die Verwaltung der Stadt oblag einer Stadtverordnetenversammlung, der sogenannten ›Duma‹, deren 72 Mitglieder nach einem Zensuswahlrecht gewählt wurden. Wahlberechtigt war jeder männliche Einwohner über 25 Jahre, der entweder eine besteuerte Immobilie besaß oder als Gewerbetreibender einen Handelschein der Gilden vorweisen konnte. Eine baltische Sonderregelung erlaubte auch Akademikern gegen eine geringe ›Literatensteuer‹ die Ausübung des Wahlrechts. Frauen traten erstmals, wenn auch nur durch Bevollmächtigte, als Wählerinnen in Erscheinung. Die Wahlen erfolgten, je nach Vermögen, in drei Wählerklassen. Als Folge der neuen Regelung wuchs das Elektorat jetzt auf 3,2% der Gesamtbevölkerung. Damit waren 5 212 Rigenser aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Ausführung der Beschlüsse, welche die Stadtverordnetenversammlung faßten, übernahm ein Stadtamt (uprava), das aus dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter und neun von den Stadtverordneten zu wählenden Mitgliedern bestand. Die Gesetzgebung, auch das eine baltische Sonderregelung, verblieb bis zur Justizreform von 1889 beim bisherigen Rat und wurde erst dann staatlich eingesetzten Richtern übergeben. Den beiden Gilden war damit ihre politische Macht entzogen, als privatrechtliche Institutionen blieben sie dagegen unangetastet. Als Amtssprache war das Deutsche neben dem Russischen zunächst noch zugelassen, eine Bestimmung, die 1889 aufgehoben wurde. Ungeachtet der Empörung, mit der das deutsche Milieu die neue Ordnung aufnahm, wich diese von der baltischen Tradition ständischer Selbstverwaltung in geringerem Maße ab, als die deutschen Zeitgenossen es wahrhaben wollten. Für die innerrussischen Städte dagegen mit ihrer staatsorientierten Verwaltung stellte sie einen weitaus schwerer zu bewältigenden Neuanfang dar. Hinzu kam, daß die städtische Intelligenz in den übrigen russischen Städten, soweit sie nicht über Hausbesitz verfügte, von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wurde. In den Ostseeprovinzen dagegen berechtigte der akademische Abschluß weiterhin zur Wahl. Was in der Tat den Auf bruch aus der ethnisch überformten Ständeordnung baltischer Städte bedeutete, war der Wandel jener Kriterien, die zur politischen Partizipation berechtigten. Indem das Wahlrecht jetzt an Klasse und nicht mehr an ständische Zugehörigkeit gebunden wurde, löste sich die Chance politischer Partizipation prinzipiell auch vom Kriterium der Ethnizität. Die Aufschlüsselung der Rigaer Wahlberechtigten nach ethnischer Zugehörigkeit belegt diesen Bruch mit der ständischen Ordnung, weist aber zugleich auf das Weiterwirken einiger ihrer Charakteristika hin. 168

Tab. 15: Ethnische Zusammensetzung der Wahlberechtigten in Riga 1878 und 1913 (prozentual)9

Deutsche Letten Russen Juden Sonstige ohne Angabe Insgesamt

1878

1913

55,1 25,2 18,2

34,9 39,6 11,2

1,5 — — 100,0

— 5,7 8,6 100,0

Was einer wirklichen Zäsur gleichkam, war die Tatsache, daß nicht mehr nur Deutsche über die politische Führung der multiethnischen Kommune entschieden, sondern auch Letten, Russen und Juden daran beteiligt waren. Erstmals in der Geschichte der Region eröffnete sich ein politischer Handlungsraum, der grundsätzlich allen ethnischen Gruppen offenstand. Mit Begeisterung begrüßten daher die Protagonisten des lettischen und russischen Milieus die neue Möglichkeit einer aktiven Mitgestaltung des kommunalen Lebens: »Während die baltischen Städte mehr von der Willkür der eigenen, fast souverän in mittelalterlicher Art hingestellten, von der großen Mehrzahl der Städter ganz unabhängigen städtischen Gewalt leiden, verkümmern die Städte im Inneren des Reiches vorzugsweise durch die unangemessene Gewalt der administrativen Autoritäten des Staates und der Polizei. Die neue Verfassung hilft nun in sehr wirksamer Weise beiden Übeln gleichzeitig ab … Von ständischer Eintheilung der Stadtbewohner weiß das neue Gesetz glücklicherweise gar nichts und sorgt dafür in sehr wirksamer Weise, daß die Stadtverwaltung nicht der Plutokratie fraglos in die Hände gegeben wird.«10 Dennoch dominierten Deutsche im Jahr 1878 mit 55,1% weiterhin das Elektorat. Und obwohl sie seit der Jahrhundertwende diese quantitative Vormacht einbüßten, waren Deutsche 1913 noch immer mit 34,9%, und damit fast dem Dreifachen ihres Bevölkerungsanteils, in der Stadtverordnetenversammlung vertreten. Obgleich das ausschließlich auf ihrer ökonomischen Stärke beruh9 Quellen für Tabelle 15: Wählerliste 1878; Wählerliste 1913; Wittram, Meinungskämpfe, S. 108ff. Die Rekonstruktion der ethnischen Anteile ist bestimmten Unsicherheiten unterworfen, auf die bereits Wittram, Meinungskämpfe, hinweist. Da die Wählerverzeichnisse die lettischen Namen in deutscher Schreibweise wiedergeben (z.B. nicht Kristaps Bergs, sondern Christoph Berg), sind lettische Wähler nur mit Einschränkungen ethnisch einzuordnen. Die Tageszeitungen aller ethnischen Milieus nennen aus ihrer Lokalkenntnis heraus jedoch die etwaigen Anteile, so daß obige Angaben als weitestgehend zutreffend gelten können. 10 Valdemar, Vaterländisches und Gemeinnütziges, II, S. 8ff.

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te, wurden Residuen der ständischen Ordnung, ähnlich wie in anderen russischen Großstädten, damit bis ins 20. Jahrhundert hinein weiter getragen.11 Nicht nur die ethnische Schichtung der Wahlberechtigten verschob sich durch das neue Gesetz, auch ihre berufliche Zusammensetzung sollte sich aufgrund des wirtschaftlichen Wandels erheblich verändern. Für große Teile der städtischen Wahlberechtigten ließ sich deren berufliche Tätigkeit ermitteln. Tab. 16: Berufliche Zusammensetzung der Wahlberechtigten in Riga 1878 und 1913 (prozentual)12

Handel/Gewerbe Industrie Freie und beamtete Intelligenz Handwerk Hausbesitzer ohne Angabe des Berufs Insgesamt

1878

1913

29,1 3,0 8,4 14,0 45,5 100,0

23,8 19,6 9,6 12,0 35,0 100,0

Obwohl die Rekonstruktion des jeweiligen Berufs nur für Teile der Wahlberechtigten möglich war, wird die Verlagerung des beruflichen Schwerpunkts vom Handel zur Industrie doch erkennbar. Die Zunahme industrieller und technischer Berufe ging mit einer leichten Abnahme jener in Handel und Gewerbe einher. Akademische Bildung berechtigte seit 1892 nicht mehr zur politischen Partizipation, doch profitierte die städtische Intelligenz, vor allem Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten, in ökonomischer Hinsicht so stark von Urbanisierung und Industrialisierung, daß sich ihr Anteil am Elektorat dennoch erhöhte. Obgleich der Handwerkeranteil des Jahres 1878 aufgrund des Mangels vollständiger Angaben zu niedrig erscheint, es also tendenziell zu einem stärkeren Rückgang kam als die Zahlen zeigen, ließ sich auch als Handwerker in einer Stadt unentwegter Bautätigkeit noch immer gutes Geld verdienen, wie der recht beträchtliche Wähleranteil für 1913 belegt. Die Chance einer stärkeren Selbstgestaltung des kommunalen Lebens, welche die Reform bot, wurde in den innerrussischen Städten kaum genutzt.13 11 Vgl. Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 66. 12 Quellen für Tabelle 16: Wählerliste 1878; Wählerliste 1913; Rigasches Adressbuch 1914. Die berufliche Tätigkeit der Wähler ließ sich für 1878 aus den Angaben der Wählerliste ermitteln. 45,5% der Wähler waren jedoch nur als Hausbesitzer klassifiziert und rangieren hier dementsprechend. Die Wählerliste von 1913 lieferte dagegen keinerlei Berufsangaben, weshalb versucht wurde, die berufliche Tätigkeit dieser 5 169 Wähler mit Hilfe des Adressbuchs von 1914 zu rekonstruieren. Dies gelang in 65% aller Fälle, da das Adressbuch nicht für alle Wahlberechtigten den Beruf angab. 13 Vgl. die Beiträge in Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, Teil II.

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Auch die Wahlbeteiligung blieb dort überaus niedrig.14 Der mangelnde Erfolg der Städteordnung führte im Verein mit der konservativen Ausrichtung des neuen Zaren 1892 zu einer Revision. Der Wahlzensus wurde beträchtlich erhöht und an eine Immobilie im Wert von mindestens 1 500 Rubel oder an den Erwerb eines Handelsscheins der Gilden gebunden. Statt in Wählerklassen wurde jetzt einheitlich und gleichzeitig gewählt, was bei dem gesetzlich vorgeschriebenen Kugelballotement meist eine über Tage sich hinziehende Veranstaltung bedeutete. Die baltische Sonderregelung für Akademiker wurde abgeschafft und die städtische Intelligenz, wenn sie nicht über Hausbesitz verfügte, von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Auch Juden wurde das Wahlrecht entzogen. Die Anzahl der Stadtverordneten erhöhte sich in Riga, wie in den meisten größeren Städten des Reiches, von 72 auf 80 Personen. Waren 1890 noch 5 938 Einwohner wahlberechtigt gewesen, sank diese Zahl nach der Einführung des neuen Statuts von 1892 auf 2 371. Das entsprach 0,9% der Gesamtbevölkerung. Der Anstieg von größeren Vermögen als Folge von Industrialisierung und sozialem Aufstieg führte indes dazu, daß sich 1913 wieder 5 169 Personen aufgrund ihres Immobilien- oder Gewerbebesitzes für eine Wahlstimme qualifizierten. Zu diesem Zeitpunkt machte diese Gruppe jedoch nicht mehr als 1% der Gesamtbevölkerung aus. Wählen war seit 1892 nur noch eine Sache der Besitzbürger. Neben der Verkleinerung des Elektorats brachte die revidierte Städteordnung auch eine Verschärfung der staatlichen Kontrolle über die örtliche Selbstverwaltung mit sich. Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung konnten vom Ministerium nicht mehr nur hinsichtlich ihrer ›Gesetzmäßigkeit‹, sondern auch bezüglich ihrer ›Zweckmäßigkeit‹ revidiert werden, dann nämlich, »wenn sie dem allgemeinen Reichsinteresse nicht entsprechen oder offenbar die Interessen der lokalen Bevölkerung schädigen.«15 Die Auslegbarkeit dieser Formulierung sollte gerade in der Phase kultureller Russifizierung die bereits gespannten Beziehungen zwischen der deutschbaltischen Lokalverwaltung und der zaristischen Bürokratie weiter verschlechtern. Von allen ethnischen Gruppen wurde das neue Gesetz »ob all seiner einengenden, ja kränkenden Bestimmungen« kritisiert.16 Die Stoßrichtung der Kritik verlief jedoch unterschiedlich. Den Deutschen war vor allem die verstärkte staatliche Kontrolle ein Dorn im Auge, und der liberale Flügel beklagte auch die Diskriminierung seiner jüdischen Mitbürger. Letten und Russen kritisierten primär den erhöhten Zensus wegen seiner harschen ökonomischen Exklusionstendenz. In der Tat kam die Revision der Städteordnung faktisch zunächst der deutschen Bevölkerung zugute, die ökonomisch noch immer 14 Vgl. Häfner, Stadtdumawahlen und soziale Eliten, S. 234ff. 15 Art. 83 der Städteordnung von 1892, zit. nach: Baltische Bürgerkunde, S. 206. 16 Baltische Bürgerkunde, S. 206.

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stark war. Indem sozioökonomischer Status noch mehr als bisher die Chancen politischer Mitwirkung bestimmte, erlaubte die Reform dem zahlenmäßig schwachen, ökonomisch aber potenten deutschen Milieu eine Kontinuität seiner Herrschaft, die andernfalls kaum möglich gewesen wäre. Von der Forschung wird den russischen Städteordnungen von 1870/77 und 1892 seit kurzem neue Aufmerksamkeit entgegengebracht. Während es früher eher um deren rechtliche Gestalt ging, interessiert heute vor allem die Wirkung der Reform auf die lokale Gesellschaft.17 Das Fazit ist ambivalent. Betont Daniel R. Brower eher die Vereinnahmung lokaler Mittel für private Zwecke, weisen einzelne neuere Studien auf eine wachsende Gemeinwohlorientierung hin.18 Für die baltischen Städte wurde darüber hinaus die These aufgestellt, daß die Reform von 1877 zu »übernationaler Toleranz« geführt habe.19 Diese Annahme wird von der Analyse der Rigaer Wahlkämpfe widerlegt. Denn der neue politische Handlungsraum, den die Reform von 1877 schuf, provozierte vielmehr die Bildung ethnischer Lager und den Beginn scharfer Konfrontation zwischen den konkurrierenden Gruppen. Abweichend vom hohen Grad an Lokalismus, den Guido Hausmann an der politischen Kultur der innerrussischen, ethnisch homogeneren Städte beobachtet, gewannen die Wahlkämpfe an der multiethnischen Peripherie eine symbolische Bedeutung, die weit über die Regelung lokaler Interessen hinausreichte. Angesichts des Fehlens einer gesamtstaatlichen Artikulationsebene wurde der kommunale Raum hier zum Austragungsort nationaler Interessen gemacht, und weniger lokale Argumente als vielmehr nationale Ziele begannen die städtische Politik zu bestimmen. In Riga markierte die Reform von 1877 den Beginn der Nationalisierung politischer Kultur.

2. ›Nationale Interessen‹ oder ›städtisches Gemeinwohl‹? – Die Nationalisierung kommunaler Politik Den Auftakt zum Wahlkampf des Winters 1877/78, ein für alle Beteiligten völlig neues Phänomen, lieferte die hitzig diskutierte Frage, nach welchen Kriterien sich die Wahlberechtigten gruppieren sollten: nach ständischer Zugehörigkeit oder nach Bekenntnis, nach Ethnizität oder eher aufgrund gemeinsa17 Vgl. W. Hanchett, Tsarist Statutory Regulation of Municipal Government in the Nineteenth Century, in: Hamm, City in Russian History, S. 91–114; V.A. Nardova, Municipal Self-Government after the 1870 Reform, in: B. Eklof u.a., S. 38–115; Hildermeier, Liberales Milieu in russischer Provinz, S. 510ff. Die neue Städteordnung wurde in den übrigen Gouvernements des Reiches bereits 1870 eingeführt, nur in den Ostseeprovinzen erst 1877. 18 Vgl. Brower, Russian City, S. 21ff.; Hausmann; Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 56f. 19 Vgl. Haltzel, S. 57; Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 103.

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mer politischer Ziele? Die Protagonisten des deutschen Milieus lehnten eine Gruppierung nach ›Nationalität‹ zunächst ab, da sie dem angestrebten Ziel des allgemeinen Wohls widerspreche, und vertraten die Ansicht, »nicht nationale, sondern soziale Gruppen« seien zur Stimmabgabe berufen.20 Den Akteuren des lettischen und russischen Milieus dagegen erschien die Gruppierung der Wähler nach ›Nationalität‹ nur eine »natürliche Folge der Tatsache, daß auch unser bisheriges sociales Leben sich nach Nationalitäten gesondert habe.«21 Die im Herbst 1877 einberufenen Wählerversammlungen, die ethnisch getrennt in der großen Gilde, im Lettischen Verein und im Russischen Klub stattfanden, belegen, daß die von der liberalen deutschen Presse weiterhin verfochtene Anschauung, »daß wir über jeder Partei stehen, auf Grund unserer Geschichte wie nach der Norm unseres Berufes«, an den unterschiedlichen politischen Interessen der ethnischen Milieus vorbeiging.22 Auf den Wahlversammlungen wurden Kandidatenlisten verabschiedet, Wahlkampfstrategien geplant und ein Komitee mit der Aufgabe betraut, Kontakte zu den übrigen Komitees zwecks möglicher Verständigung aufzunehmen. Auch der Presse wurde eine wichtige Rolle bei der Vermittlung des Wahlprogramms zugesprochen. Unveröffentlichte Notizen des deutschen Komitees belegen,23 daß die Letten einer Verständigung mit den Deutschen zunächst offen gegenüberstanden, wogegen das deutsche Wahlkomitee etwaige Annäherungen von vornherein mit wenig Nachdruck betrieb: »Daß man von deutscher Seite den anderen nicht entgegenkam, hing eng mit dem Recht dieser Stadt zusammen und mit dem Umstande, daß nicht bloß eine jahrhundertelange historische Continuität den Deutschen vor Gott und Kaiser die Herrschaft zusprach, sondern auch, daß in den fremden Nationalitäten nicht die Elemente vorhanden sein mochten, welche in der alten Verfassung zu segensreicher Wirksamkeit gelangen konnten. Fremd standen sich die Nationalitäten unserer Stadt gegenüber.«24 Während die Deutschen sich als eigenständiges Wahlkomitee formierten und eine eigene Kandidatenliste aufstellten, bemühte sich Ignatij Alekseevič Šutov, der Vorsitzende des russischen Komitees, mit Erfolg um eine Annäherung von Russen und Letten. Die Konstellation der Deutschen gegen eine lettisch-russische Allianz sollte bis 1901 Bestand haben. Begründet wurden die jeweiligen Entscheidungen mit Argumenten, die auf die spezifischen Leitvorstellungen der konkurrierenden Milieus zurückgingen und diese erstmals in die breitere städtische Öffentlichkeit trugen. Zum zentra20 Rigasche Zeitung 24.9.1877. 21 Rīgas Lapa 27.9.1877. 22 Zeitung für Stadt und Land 18.-22.10.1877 23 Vgl. Wittram, Meinungskämpfe, S. 116, sowie die Aufzeichnungen des deutschen Wahlkomitees in Fonds 223, Nr. 48, apr. 1, LVVA. 24 Zeitung für Stadt und Land 6.10.1877.

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len Argument der Deutschen wurde die Notwendigkeit von ›Continuität‹, da nur diejenigen Männer, die bereits Erfahrung in der kommunalen Politik mitbrächten, das Wohl der Stadt auch in Zukunft sichern könnten: »Wir meinen, dass die Continuität des Zusammenhangs zwischen der bisherigen städtischen Verwaltung und der alsbald neu ins Leben tretenden durchaus gewahrt werden muß. Wenn es folglich darauf ankommt, dass erfahrene Persönlichkeiten dem städtischen Verwaltungswesen erhalten bleiben, so kommt es nicht minder darauf an, dass diesen Männern … die Möglichkeit geboten sei, den Geist und Sinn, in welchem sie im alten Riga gewirkt haben … ins neue Riga zu verpflanzen, damit unsere Stadt bleibe, was sie stets gewesen: eine Heimstätte der Bürgertugend, eine Pflanzstätte gesunden redlichen Bürgersinns. Dieser Bürgersinn kann aber nicht jedem beliebigem Individuum, auch wenn es auf der Höhe der Bildung steht, so ohne weiteres eingeflößt werden, sondern nur in solchen Männern zu vollkommener Entfaltung gelangen, die in diesem Geiste aufgewachsen und großgezogen sind.«25

Indem nicht etwa Bildung oder Besitz den Ausweis politischer Eignung abgebe, sondern allein der aus Erfahrung gewonnene ,Bürgersinn‹ schottete man sich zugleich gegen die Ansprüche der Letten und Russen ab, die keine kommunalpolitische Erfahrung mitbringen konnten und aus deutscher Sicht nur ihre profanen nationalen Interessen vertraten: »Nichts ist aber für das wahre Wohl eines Gemeinwesens, sei dasselbe ein Staat oder auch nur eine Provinzialstadt, so hindernd und schädlich als der auf dem Racenunterschied beruhende Hader.«26 Was der Rekurs auf ›Bürgersinn‹ und ›Continuität‹ indes geschickt verdeckte, war, daß in Folge solcher Argumente auch nur Deutsche in der neuen Stadtverordnetenversammlung sitzen dürften. Letten und Russen reagierten auf die ständische und historische Argumentation der Deutschen, hinter der sich ein veritables Interesse am eigenen Machterhalt verbarg, mit dem offeneren Verweis auf die spezifischen Interessen ihrer ›Nationalität‹: »Wie es nur natürlich ist, dass ein jeder vor Allem für sich selbst sorgt, so kann man auch nur von jeder Nationalität erwarten, dass sie selbst ihr Interesse wahrnimmt. Unserer Meinung nach ist es die Pflicht jeder Nationalität, ihr Interesse wahrzunehmen.«27 Neue Männer seien in der Stadtverordnetenversammlung vonnöten, die ihre Handlungsmaximen nicht mehr aus der ständischen Ordnung der Vergangenheit, sondern aus der fortschrittlichen Gestaltung der Zukunft zögen: »Ständische Scheidung ist mittelalterlich und veraltet: wir wollen Männer der Gegenwart und die müssen nichtständisch gesinnt sein.«28 Neben die Kontrastierung von ständischen gegenüber nationalen Interessen, von Vergangen25 Neue Zeitung für Stadt und Land 7.10.1877. 26 Zeitung für Stadt und Land 12.10.1877. 27 Rīgas Lapa 27.9.1877. 28 Ebd., 17.12.1877. Vgl. auch ebd., 12.1. 1878: »Sollte das deutsche Comitee nicht etwa die Vergangenheit zu viel und die Zukunft zu wenig ins Auge gefaßt haben?«

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heitsbezug oder Zukunftsorientierung, von ›Kontinuität‹ oder ›Fortschritt‹ trat schließlich das Argument der Zahl gegenüber dem Gewicht. Hatte das deutsche Milieu seinen Machtanspruch vor allem mit dem Gewicht von Erfahrung, Bildung und Bürgersinn verteidigt, beriefen sich Letten und Russen auf ihre Bevölkerungsanteile, die proportional auch in der Verwaltung der Stadt vertreten sein sollten.29 Das gemeinsame Vorgehen von Letten und Russen wurde schließlich damit begründet, daß nur eine lettisch-russische Allianz imstande sei, die drückende Vormacht der Deutschen zu brechen: »Wir sind der Ansicht, dass auch die russischen Wähler bei der Abgabe ihrer Stimme sich nur von den Interessen ihrer Nationalität leiten lassen. Das ist jedenfalls praktischer als alle Vereinbarungen, welche in der Hitze des Kampfes oft in Staub und Trümmer sinken. Der erdrückenden Majorität einer gewissen Nationalität die Spitze zu nehmen, wird aber den anderen, in der Minorität befindlichen Nationalitäten nur möglich sein, wenn sie gemeinsam handeln.«30 Hinter dem arithmetischen Argument stand jedoch auch die Kompatibilität der Denkfiguren, welche das russische und lettische Milieu jeweils prägten. Denn die von den Letten propagierte sozioökonomische Emanzipation von den Deutschen vertrug sich gut mit der russischen Forderung nach einem ›Abbau ständischer Herrschaft‹ und ließ sich durch die gemeinsame Wendung gegen die Deutschen konkret umsetzen. Die neuartige Erfahrung politischer Konkurrenz führte zu einer ungewohnten Mobilisierung der städtischen Gesellschaft. Nicht nur im privaten Verkehr schienen die Wahlkämpfe zum allgemeinen Gesprächsgegenstand geworden zu sein, auch die Zeitungen aller ethnischen Gruppen waren voll davon: »Es war nicht bloß unvermeidlich, dass die Tagespresse immer wieder diesem Thema, welches unserer Gegenwart jetzt die Signatur gibt, ihre Spalten öffnete, sondern es war eine positive Forderung, daß solches geschah. Seit langer Zeit hat es keine, wenn überhaupt je eine Frage gegeben, welche so sehr der täglichen öffentlichen Besprechung, der steten Bewegung in allen Kreisen und deshalb der unablässigen Behandlung in der Presse bedürft hätte, wie die Fragen der Wahlen.«31 29 Vgl. die deutsche Reaktion in der Neuen Zeitung für Stadt und Land 5.10.1877: »Sollte wirklich das numerische Verhältnis der einzelnen Nationalitäten zueinander maßgebend sein – oder ist es nicht vielmehr allein recht und billig, wenn die Nationalität, welche über ein größeres Contingent intelligenter und bewährter Kräfte verfügt, im Verhältnis dazu bei den Wahlen Berücksichtigung findet … Es liegt so die Gefahr nahe, dass nicht die tüchtigsten Bürger in die Stadtverordnetenversammlung gewählt werden, sondern viele Untüchtige, weil jede Nationalität ihrem numerischen Stärkeverhältnis nach vertreten sein soll.« 30 Rižskij Vestnik, zitiert nach Neue Zeitung für Stadt und Land 25.10.1877. 31 Rigasche Zeitung 17.12.1877. Vgl. auch Zeitung für Stadt und Land 11.3.1878: »Die Meinungen in öffentlichen Dingen prallten aufeinander und manche wilde politische Debatte wurde innerhalb der Mauern Rigas geführt«.

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Das große politische Interesse trieb die Entfaltung einer städtischen Öffentlichkeit ebenso voran wie deren Differenzierung in ethnische Milieus. Am Wahltag im März 1878 schlug es sich schließlich in einer Wahlbeteiligung von 72% nieder, einem Ergebnis, das im Vergleich mit innerrussischen Städten sehr hoch erscheint.32 In St. Petersburg beispielsweise waren nur 8% des Elektorats zur Urne gegangen, in Kazan 9%, in Tomsk 12%.33 Die hohe Wahlbeteiligung in Riga, welche derjenigen in west- und mitteleuropäischen Städten ähnelt, war einmal ein Ausfluß der Tradition ständischer Selbstverwaltung, deren Träger ihre Partizipationsbereitschaft jetzt in die neuartige Arena moderner Interessenvertretung übertrugen. Zum anderen rührte sie daher, daß es hier nicht nur um die Regelung unterschiedlicher lokaler Interessen ging, sondern daß Kommunalpolitik im multiethnischen Riga vielmehr der Artikulation nationaler Interessen diente. Die Wahlen endeten mit einem glänzenden Sieg der deutschen Liste, deren Kandidaten in die neue Stadtverordnetenversammlung einrückten. Vakanzen, die sich bei der Besetzung eröffneten, wurden einigen Russen und Letten angeboten, so daß vereinzelt auch ›Nichtdeutsche‹ in der neuen Versammlung saßen. Wie sich die ethnische Zusammensetzung des kommunalen Leitungsorgans im Laufe der nächsten 30 Jahre veränderte, verdeutlicht Tabelle 17. Tab. 17: Ethnische Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung Rigas 1878–1913 (absolut)34

Deutsche Letten Russen Übrige Insgesamt

1878

1901

1913

66 2 4 — 72

62 8 10 — 80

46 18 14 2 80

32 Vgl. Hollander, Städteordnung, S. 467f. 33 Vgl. Häfner, Stadtdumawahlen und soziale Eliten, S. 235; 250f.; Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 63. 34 Quellen: Kandidatenlisten der jeweiligen Komitees, abgedruckt in allen Rigaer Tageszeitungen in den Wahlmonaten der Jahre 1877/78, 1900/1901, 1912/13; Rigaer Adreßbücher 1878, 1904, 1914. Seit 1882 waren auch Juden, die die deutsche Liste nominiert hatte, zu Stadtverordneten gewählt. 1892 wurde ihnen aber das aktive wie passive Wahlrecht wieder entzogen, weshalb sie in Tabelle 17 nicht in Erscheinung treten. Bei den »Übrigen« des Jahres 1913 handelt es sich um einen Litauer und einen Polen. Die unterschiedlichen Gesamtzahlen erklären sich durch den Wechsel der Wahlordnung: Während zwischen 1877–1891 jeweils 72 Stadtverordnete gewählt wurden, waren es seit 1892 80.

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Fünfzig der 72 neu gewählten Stadtverordneten hatten als Mitglieder ständischer Institutionen bereits der früheren Stadtverwaltung angehört. Die Wirksamkeit ständischer Bindungen, wie sie in anderen Städten des Zarenreichs beobachtet wurde,35 erhielt sich ebenso in Riga. Neben der ethnischen Zugehörigkeit ließ sich auch die berufliche Tätigkeit der Stadtverordneten rekonstruieren. Tab. 18: Berufliche Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung Rigas 1878–1913 (prozentual)36

Freie und beamtete Intelligenz Handel/Gewerbe Industrie/technische Berufe Handwerk Gutsbesitzer ohne Angabe Insgesamt

1878

1901

1913

27,8 47,2 1,4 22,2 1,4 — 100,0

26,3 32,5 26,3 13,7 1,2 — 100,0

30,0 27,6 30,0 10,0 1,2 1,2 100,0

1878 kam das Gros aller Stadtverordneten aus Handel und Gewerbe und damit aus denjenigen Sektoren, welche die städtische Wirtschaft zunächst dominierten. Gut vertreten war auch die Gruppe freier und beamteter Intelligenz. Bei ihnen handelte es sich primär um deutschbaltische Juristen, die an der Universität Dorpat studiert hatten und sich den dort vermittelten Deutungsmustern ›baltischer Autonomie‹, ›deutscher Kultur‹ und ›ständischer Herrschaft‹ besonders verpflichtet fühlten. Trotz der Hitze des Wahlkampfs wurde die neu gewählte Stadtverordnetenversammlung nicht zur Arena ethnischer Konflikte. Zu klein war die Anzahl von Letten und Russen gegenüber der erdrükkenden deutschen Mehrheit, zu sachorientiert aber auch die Atmosphäre, als daß ›nationale‹ Auseinandersetzungen hier Raum gefunden hätten. Sogar der hochkonservative stellvertretende Bürgermeister, Eduard Hollander, merkte an, daß für »unfruchtbaren nationalen Hader … in dieser Versammlung kein Platz war, und auch den Stadtverordneten russischer und lettischer Nationalität kann das Lob nicht versagt werden, dass sie die ihnen zugefallene Aufgabe in durchaus würdiger Weise aufgefaßt haben«.37 War bereits die Wahlbeteiligung hoch gewesen und hatte eher westeuropäischen Maßstäben politischer Teilhabe entsprochen, war auch die Sitzungspräsenz der neuen Duma erheb35 Vgl. Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 66, 114. 36 Quellen: Hollander, Städteordnung, S. 469ff.; sowie Adreßbücher und Kandidatenlisten wie Anm. 16. 37 Hollander, Städteordnung, S. 469.

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lich. In den meisten russischen Städten krankte die Reform von 1877 dagegen am mangelnden Engagement der Stadtverordneten. In Kazan beispielsweise fielen immer wieder Versammlungen aus, weil weniger als ein Drittel der Abgeordneten präsent waren.38 Absenz, Apathie oder Desinteresse schien im korporativ geprägten Riga jedoch kaum verbreitet gewesen zu sein, und die Sitzungspräsenz der ersten Legislaturperiode betrug 77%.39 Die Tätigkeit der neuen Versammlung konzentrierte sich zunächst auf verwaltungstechnische Aufgaben, die sich aus der neuen Städteordnung ergaben. Neue Organe wie das Stadtamt mußten geschaffen und besetzt, Fachabteilungen wie das Bauamt oder die Sanitätscommission eröffnet werden, deren Zahl sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte auf 24 ständige Kommissionen ausdehnte. Sodann wurde die Stadtverwaltung ersucht, der Reichsregierung Vorschläge zu unterbreiten, welche der ständischen Institutionen jetzt ins Eigentum der Stadt übergehen sollten. Johann Christoph Schwartz, ein Hauptvertreter des baltischen Autonomiegedankens, erstellte hierzu ein Gutachten, das einen Großteil des städtischen Vermögens sowie die Polizei- und Schulverwaltung weiterhin unter korporativer Kontrolle zu lassen empfahl.40 Die fehlende Bestätigung dieser parteiischen Stellungnahme markierte den Beginn einer Serie von Konflikten zwischen Stadtverwaltung und Reichsregierung, welche die eigentliche kommunale Arbeit in den Hintergrund drängte. So wurde in fast jeder Dumasitzung der 1880er Jahre eine offizielle Beschwerde über den livländischen Gouverneur verabschiedet – ein Unterfangen, zu dem die starre Haltung Zinov’evs beigetragen haben mag, das indes von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen standen vor allem Fragen darüber, wem die Aufsicht über die städtischen Schulen zukomme, in welcher Sprache die Korrespondenz zwischen Gouverneur und Stadtverwaltung geführt werden solle und wo das staatliche Aufsichtsrecht an seine Grenzen stoße.41 Ihre besondere Zuspitzung erfuhren diese Auseinandersetzungen durch den Streit über die Korrespondenzsprache, der Mitte der 1880er Jahre zwischen dem Rigaer Bürgermeister Robert Büngner und dem livländischen Gouverneur Zinov’ev entbrannte. Hinter dem vordergründigen Konflikt um die Sprache stand die Unvereinbarkeit von reichsweitem Integrationsbestreben und der Aufrechterhaltung baltischer Autonomie, die schließlich 1885 mit Büngners offizieller Absetzung durch den Zaren endete. Eindeutig ging die »im Laufe der 80er Jahre auf Kompetenzstreitigkeiten, Senatsprozesse gegen die Staatsregierung und das Austragen von aller 38 Häfner, Stadtverordnetenwahlen und soziale Eliten, S. 565. 39 Hollander, Städteordnung, S. 565. 40 Vgl. Gutachten über die Theilung der Competenzen. 41 Henriksson, Loyal Germans, S. 41ff., weist darauf hin, daß auch die russischen Behörden sich keineswegs immer rational verhielten.

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Art Rechtsfragen verwandte Zeit« auf Kosten kommunaler Aufgaben, deren Bilanz wenig beeindruckend war.42 1879 wurde ein städtischer Kinderhort errichtet, der vor allem arbeitenden Müttern zugute kam, 1884 eine Sezieranstalt und 1891 ein Leprosorium eröffnet. Neben der Subvention der zweiten baltischen Volkszählung im Jahr 1881 veranlaßte die Stadtverwaltung 1882 die notwendige Neuvermessung der Stadt, auf deren Grundlage man zeitgemäße Pläne herausgab. Handel und Industrie, deren Förderung im Wesentlichen dem städtischen Börsenkomitee oblag, unterstützte die Stadt durch die Eröffnung dreier Handwerkerschulen. Der bislang private Dampferverkehr über die Düna wurde der städtischen Hand übertragen, was häufigere und billigere Transporte gewährleistete und vor allem den jenseits der Düna wohnenden Letten und Russen zugute kam. Ein Schwerpunkt der städtischen Tätigkeit lag auf der Ausrichtung der ersten Baltischen Industrie- und Gewerbeausstellung im Jahr 1883, die indes, so der Vorwurf der lettischen Presse, nur den Interessen der deutschen Industrie zugute gekommen sei. Ging dieser Vorwurf an der Intention der Ausrichter, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Region unter Beweis zu stellen, auch vorbei, läßt sich die Bevorzugung ›deutscher Kultur‹ im kulturpolitischen Bereich klar erkennen. Das niedergebrannte deutsche Stadttheater wurde in den Jahren 1885–1887 neu aufgebaut, was die Stadt rund 400 000 Rubel kostete. Das russische und lettische Theater, die über keine eigenen Gebäude verfügten, wurden dagegen mit einer jährlichen Subvention von jeweils 5 000 Rubel unterstützt, etwaige Neubauten standen nicht zur Debatte. Ähnlich zeigte sich die Bevorzugung ›deutscher Kultur‹ in einem kulturpolitischen Schlüsselbereich: der Versorgung einer vielsprachigen Bevölkerung mit Schulen. Während die wenigen russischen Schulen primär staatlich und kirchlich finanziert wurden, verfügten die Letten, Anfang der 1880er Jahre etwa 30% der Bevölkerung, über keinerlei muttersprachliche Schulen. Daß dieser Zustand angesichts der lettischen Zuwanderung unhaltbar war, erkannten auch die deutschen Kommunalpolitiker. Anfang der 1880er Jahre wurden sechs neue Schulhäuser gebaut, in denen ca. 3 000 Schüler Platz fanden. Zwei davon waren Schulen mit russischer Unterrichtssprache, zwei mit lettischer und zwei mit deutscher Sprache. Das Projekt kostete die Stadt 306 000 Rubel. Es war jedoch unübersehbar, daß es nicht deutschen Kindern, sondern vor allem lettischen Kindern an muttersprachlichen Volksschulen mangelte. So kam der deutschbaltische Pädagogen Philipp Gerstfeldt 1885 in einem Gutachten zu dem Ergebnis, daß »in Riga die Bildungsmisere der Kinder … der undeutschen Sprachgruppen … hochgradig ist.«43 Die mangelnde Bereitschaft der Stadtverwaltung, die dringend benötigten lettischsprachigen Volksschulen zu bauen, wurde nur notdürftig mit dem Vorwand kaschiert, der Schulbesuch dieser Nationalitäten zeige, daß 42 Baltische Bürgerkunde, S. 217. 43 Gerstfeldt.

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es hier keine weiteren Bedürfnisse gebe. Mit der Russifizierung der Volksschulen in den 1880er Jahren erlosch der städtische Reformimpetus fast ganz; bis zur Jahrhundertwende wurden nur noch zwei russischsprachige Elementarschulen errichtet. Das schulpolitische Vorgehen verweist darauf, wie das Orientierungsmuster ›deutscher Kultur‹ von den konservativen deutschen Eliten umgesetzt wurden. Keinesfalls wollten sie der Möglichkeit Vorschub leisten, daß der deutschen ›Leitkultur‹ eine Konkurrenz in Gestalt einer lettischen Nationalkultur erwuchs, deren Entwicklungspotential zunehmend sichtbar wurde. Hinzu kam, daß Bildung in lettischer Sprache im städtischen Raum als nutzlos galt, da sozialer Aufstieg bisher fast immer mit der Assimilierung in die deutsche Kultur verbunden war. Daß soziale Zugehörigkeit und Ethnizität im Zeichen der lettischen Nationsbildung jedoch zunehmend auseinander fielen, war eine Erfahrung, die zunächst außerhalb des deutschen Erwartungshorizonts lag. Die Bereitschaft der Deutschen, mit anderen ethnischen Gruppen zusammenzuarbeiten, wuchs jedoch seit den 1880er Jahren. Nicht nur deren zunehmende Partizipationsforderungen trugen dazu bei, sondern auch die wachsende Einsicht, die deutsche Führung einer nichtdeutschen Stadt sei nur durch stärkere Einbeziehung von Russen, Letten und Juden dauerhaft haltbar: »Das Princip, nach welchem vor vier Jahren von der Majorität gewählt wurde, waren das ständische und das nationale … da den Ständen so gut wie ausschließlich Deutsche angehörten, so wählte man ständisch und deutsch. Man wird nicht leugnen können, daß dieses nur ein Notbehelf war … wir meinen, daß die politische Rücksicht dieses Mal in einem anderen Sinn wird geübt werden dürfen – im Sinne eventueller Concessionen an unsere nichtdeutschen Mitbürger.«44 Bereits 1882, mehr noch in den Wahlen von 1886, wurden auch Russen und Letten, die über Besitz und Bildung verfügten und den deutschen Primat nicht in Frage stellten, auf die deutschen Wählerlisten gesetzt. Engere Verbindungen ergaben sich vor allem mit dem jüdischen Bürgertum, zu dem ohnehin gute geschäftliche Beziehungen existierten. Unveröffentlichte Aufzeichnungen der Beratungen des deutschen Wahlkomitees belegen das Interesse der deutschen Elite, mit dem jüdischen Besitzbürgertum, das konservativ eingestellt und überwiegend deutsch akkulturiert war, eine politische Allianz einzugehen: »Bei der darauffolgenden Diskussion ergab sich, daß die Versammelten die sofortige Cooptation von Russen oder Letten … lediglich für wünschenswert erachteten … Hinsichtlich der Juden wurde aber eine sofortige Cooptation seiner maßgebenden Personen, insbesondere des Herrn Leib Lifschitz, welcher für die Betheiligung der Juden an den Wahlen vor vier Jahren große Verdienste erworben, für notwendig erachtet. Es wurde beschlossen, den 44 Zeitung für Stadt und Land 11.10.1881.

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Herrn Lifschitz zum Eintritt in das provisorische Wahlkomitee auffordern zu lassen.«45 Die Zusammenarbeit von Deutschen und Juden fand in der Stadtverordnetenversammlung ihren Ausdruck, in der zwischen 1882 und 1892 durchgängig auch einige Juden saßen. Die These eines deutschbaltischen Antisemitismus, die Ingeborg Fleischhauer auf der Grundlage eines einzigen Protagonisten aufgestellt hat,46 läßt sich vor dem Hintergrund der engen kommunalpolitischen Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Juden, der erst die antijüdische Reform des Staates ein Ende setzte, nicht weiter aufrecht halten: »Tiefgehende Gegensätze zwischen dem Gros der Bevölkerung und unseren ebräischen Mitbürgern haben bis heute nicht existiert und werden, so hoffen wir zuversichtlich, auch nicht existieren. Hieraus ergab sich der Beitritt von Wählern mosaischer Confession zum Allgemeinen Wahlkomitee von selbst. Bot ihnen doch das Programm dieses Comitees die bestmögliche Garantie für die Fortdauer der guten geschäftlichen und socialen Beziehungen, derer sie sich bisher in unserer Stadt erfreut haben und deren Werth schätzen zu lernen, die Ereignisse der letzten Jahre besonders geeignet gewesen sind.«47

Als der Bürgermeister Robert Büngner im Streit um die Korrespondenzsprache entlassen wurde, gelangte mit Ludwig Kerkovius 1891 ein Mann an die Spitze der städtischen Verwaltung, der pragmatischer dachte und als erfolgreicher Unternehmer auch die positiven Seiten der staatlichen Wirtschaftspolitik zu würdigen wußte. Ein Nekrolog schildert ihn als Persönlichkeit, der »nicht Gefahr lief, wie leider so viele von uns Männern, sich in starren Principien und Theorien zu verlieren.«48 Die Neuorientierung der deutschen Elite, die sich unter dem Eindruck von Urbanisierung, Industrialisierung und staatlicher Unifizierung allmählich von der Fixierung auf die Vergangenheit löste, schlug sich seit den 1890er Jahren in einer intensiveren kommunalpolitischen Tätigkeit nieder. Für fruchtlose Konflikte zwischen Stadtverwaltung und Staatsregierung war Ludwig Kerkovius nicht zu haben. Vielmehr ging es angesichts der expandierenden Industrie darum, Verkehr und Infrastruktur zu modernisieren und den Unternehmen weitere Anreize zu bieten, sich an der nordwestlichen Peripherie des Reiches anzusiedeln. So wurde 1896 eine eiserne Brücke über die Düna errichtet, welche die saisonabhängige Pontonbrücke ersetzte. 1897 ließ die Stadt ein städtisches Schlachthaus errichten und führte zugleich die obligatorische Fleischbeschau ein. 1898 wurde ein umfangreicher Güterbahnhof errichtete, der die letzte große Freifläche der 45 Die nichtöffentlichen Beratungen des deutschen Wahlkomitees im Jahr 1882 in Fonds 223, Nr. 48, apr. 1, LVVA 46 Vgl. Fleischhauer. 47 Zeitung für Stadt und Land 24.1.1882. 48 Ludwig Kerkovius, in: Rigascher Almanach 1901, S. 90.

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Stadt ausfüllte. Ein Jahr später legte die Stadt einen großen Volkspark in der überwiegend von Letten bewohnten Mitauer Vorstadt an und eröffnete ein Kinderhospital, das allen Bedürftigen kostenlos offen stand. Seit 1900 ermöglichten elektrische Straßenbahnen das Fortkommen innerhalb der Stadt, eine Errungenschaft, in deren Genuß die meisten russischen Metropolen erst in den 1920er Jahren kamen. Auch entschied sich die Stadtverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts dafür, auf den eigentlich notwendigen Bau eines neuen Stadthauses zu verzichten und bewilligte stattdessen 320 000 Rubel für ein russisches Theater, das 1901 seine erste Saison eröffnete. Ebenso stellte sie dem Lettischen Verein kostenlos ein Grundstück für den Bau eines ethnographischen Museums zur Verfügung und begann, das zweite lettische Theater zu subventionieren. Für solche Zeichen verhaltener Akzeptanz wurde Ludwig Kerkovius zum Ehrenmitglied des Lettischen Vereins ernannt, eine Auszeichnung, die sonst kaum einem Deutschen zuteil wurde. Ihrem Anspruch, dem Wohl der ganzen Stadt, nicht aber einseitigen nationalen Interessen zu dienen, kam die deutsche Elite damit in mancherlei Hinsicht nach. Auch die Ressourcenvergeudung durch permanente Rechtsstreitigkeiten war eine Sache der Vergangenheit. Gravierende Probleme, welche die schnelle Urbanisierung mit sich brachte, blieben indes ungelöst. Noch immer waren die äußeren Stadtteile ohne ausreichende Kanalisation und Elektrizität, war die Versorgung mit gesundem Trinkwasser nicht überall gewährleistet – Probleme, die vor allem den Letten begründeten Anlaß gab, die Vernachlässigung ›lettischer Stadtteile‹ zu kritisieren.49 Der Wandel der politischen Eliten und ihre allmähliche Neuinterpretation tradierter Deutungsmuster wurden zunächst in dem Wahlkampf des Jahres 1901 sichtbar. Nicht mehr unter der Fahne ›ständischer Continuität‹ warb das deutsche Wahlkomitee um Stimmen, sondern mit der Parole einer ›Continuität der Verwaltungsmaximen‹ kämpften Deutsche und Russen jetzt gemeinsam gegen die Letten.50 Dieser Kurswechsel überraschte zunächst auch die Wähler, doch sollte er den Beginn einer stabilen deutsch-russischen Allianz markieren, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Bestand hatte. Für das deutsche Milieu war die Suche nach einem Partner zunächst eine schiere Notwendigkeit gewesen, da die Zuwanderung und der sozioökonomische Aufstieg der Letten deren Anteil am Elektorat erheblich vergrößert hatte. Begünstigt wurde die Anbahnung engerer Kontakte durch das gemeinsame Interesse an der Förderung der Wirtschaft. Hatten bisher primär Juristen die deutsche Liste dominiert, deren Haltung vom Schirrenschen Diktum ›baltischer Autonomie‹ und ›ständischer Herrschaft‹ geprägt waren, rückten seit den 1890er Jahren erfolgreiche Unternehmer und Industrielle auf die Spitzenplätze der deutschen 49 Vgl. Rigensis. 50 Vgl. Rigasche Rundschau 3.3.1901.

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Wahlliste, die oft auch geschäftliche Verbindungen mit russischen Wirtschaftsbürgern unterhielten.51 Während Industrielle im Jahr 1878 gerade einmal 1% der Stadtverordneten ausgemacht hatten, waren es 1901 bereits 26%. Ließen arithmetische Überlegungen und ein verändertes Sozialprofil die Verbindung zu den Russen naheliegend erscheinen, machte die allmähliche Neudeutung tradierter Leitvorstellungen diese Allianz auch inhaltlich möglich. Das Hauptargument der deutschen Liste war 1878 die Notwendigkeit personaler Kontinuität mit der ständischen Vergangenheit gewesen. 1901 dagegen wurde eine Kontinuität nicht von Personen, sondern von ›Verwaltungsmaximen‹ zum Leithema des deutschen Wahlkampfs: »Wir haben indes bereits erklärt, dass unsere Continuität nicht etwa gleichsam die erbliche Mitgliedschaft gewisser Personen und Gruppen in der Stadtverordnetenversammlung verstanden werden soll, sondern die organische Fortentwicklung bewährter Verwaltungsmaximen … Wir selbst hegen den Wunsch, dass so manche Einseitigkeit und Engheit verschwinden möge, an denen … man wohl gerade deshalb festgehalten hat, weil man des Einverständnisses der übrigen nationalen Gruppen nicht sicher war.«52 In den Vordergrund rückte jetzt die Herausforderung von Industrialisierung und Urbanisierung, für deren Bewältigung andere, wirtschaftsnähere Männer geeigneter erschienen. In George Armitstead fand sich 1901 ein Kandidat für das Bürgermeisteramt, der diesen Aufgaben besonders gut gewachsen zu sein schien: »Unser wachsendes und emporstrebendes Riga verlangt neue jüngere Kräfte, die Energie und Kenntnisse vereinigen – in George Armitstead begrüßen wir den Mann, wie ihn Riga jetzt nötig hat.«53 Leitprinzipien wie ›baltische Autonomie‹ und ›ständische Herrschaft‹ spielten für ihn und seine Mitarbeiter eine zunehmend geringere Rolle, und auch die Integrationskraft eines kulturellen Gedächtnisses hatte sich abgeschwächt. Die Standortbestimmung, zu der sich die neuen Männer nach der Jahrhundertwende gezwungen sahen, verdeutlicht diese Verlagerung und Abschwächung bisher handlungsleitender Vorstellungen besonders klar: »Die Entwicklung unserer Stadt ist unverkennbar in eine neue Phase getreten und die neue Zeit erfordert auch neue Männer … Unbeschadet solcher Continuität stellt die neue Zeit Anforderungen, die einen gewissen Wandel in den Anschauungen und in dem Verhalten unserer Stadtvertreter bedingen: Die Vergangenheit, so viel Gutes wir auch aus ihr in bezug auf die Bethätigung echten Bürgersinns entlehnen können, muß doch in bezug auf die Entwicklung unserer Stadt und die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung als unwiderbringlich dahin gelten … Die Zukunft, und zwar eine weite Zukunft ist es, auf welche sich der Blick der Stadtverwaltung nunmehr 51 Vgl. Düna-Zeitung 1.3.1901. 52 Rigasche Rundschau 24.3.1901. 53 Düna-Zeitung 8.5.1901.

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vor allem zu richten hat, denn in ihr liegen für unsere Commune so gewaltige Aufgaben … Nicht nur Continuität mit der Vergangenheit tut noth, sondern namentlich mit der Zukunft.«54

Was jedoch bestehen blieb und noch nach vorne gerückt wurde, war das Versprechen, nicht nationalen Parteiinteressen sondern dem allgemeinen Wohl der Stadt zu dienen. Die Vorstellung eines ›baltischen Gemeinwohls‹ blieb als Gehäuse zwar bestehen, doch lösten es diese pragmatischen Wirtschaftsbürger von seiner bisherigen Funktion, ständische Herrschaft über die indigene Bevölkerung zu legitimieren und deuteten es um in die anationale und überständische Verpflichtung zu sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt. Einerseits stach diese Parole vorteilhaft vom lettischen Wahlprogramm ab, das sich vor allem für die Sicherung ›nationaler Interessen‹ einsetzte: »Nationalität an und für sich ist … noch kein Programm und zwar umso weniger, als die Stadtverordnetenversammlung … nach dem Sinne der Städteordnung nur eine ökonomische Körperschaft, und zwar nach allen ihren äußeren Anzeichen – eine russische, nach ihrem Wirkungskreis jedenfalls eine anationale Körperschaft ist.«55 Andererseits ließ sich damit auch eine Brücke zu den Russen bauen, denn die von ihrer ständischen und patriarchalischen Bedeutung losgelöste Handlungsmaxime eines ›städtischen Gemeinwohls‹ vertrug sich gut mit dem Wunsch des russischen Milieus nach ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹. Begünstigend wirkte, daß die ständische Ordnung, ein Stachel im Fleisch aller baltischen Russen, in den Städten zunehmend abgebaut und die kommunale Politik auch den kulturellen Wünschen der Russen mit dem Bau eines neuen Theaters erheblich entgegengekommen war. Wirtschaftliche Interessen, die den zahlreichen Industriellen und Kaufleuten unter den russischen Wählern am Herzen lagen, bildeten eine weitere Gemeinsamkeit, dynastische Loyalitäten traten hinzu. Vor allem aber begannen die russischen Wirtschaftsbürger den Ausschließlichkeitsanspruch des lettischen Nationalismus zu fürchten, der im Wahlkampf von 1901 erneut hervorgetreten war: »Die Interessen der Stadt und der Bevölkerung, nicht aber die Interessen einer Partei – das ist die russische Lösung in der Rigaschen Stadtverwaltung.«56 Angesichts der reformorientierten Kampagne der deutsch-russischen Allianz hatte es das lettische Milieu nicht leicht, zündende Argumente ins Feld zu führen. In den 1890er Jahren war die lettische Wahlbeteiligung schwach gewesen, da das zahlenmäßige Übergewicht der Deutschen jegliche Aussicht auf einen Sieg zunichte gemacht hatte. Trotz der Revision der Städteordnung, welche das Elektorat von 7 177 Personen im Jahr 1892 auf 54 Ebd. 55 Rigasche Rundschau 24.3.1901. 56 Rižskij Vestnik , zitert nach Rigasche Rundschau 31.3.1901.

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2 371 Personen reduziert hatte, stellten die Letten 1901 bereits die Majorität der Wähler. Doch die zunehmend sichtbare Aufspaltung des lettischen Milieus in Rechtskonservative auf der einen und Demokraten auf der anderen Seite erschwerte ein geschlossenes Vorgehen. Ebenso wie Deutsche und Russen formulierte auch das lettische Wahlkomitee kein konkretes Programm, sondern trat weiterhin mit der Parole an, nur lettische Stadtverordnete könnten die Interessen der Nation angemessen vertreten: »Wir fordern in der Stadtverordnetenversammlung die Vertretung aller lettischen Kreise.«57 Unter ›nationalen Interessen‹ wurde ein ausreichendes Angebot lettischsprachiger Schulen verstanden, die aber von staatlicher Seite ohnehin nicht gestattet waren, sowie die Versorgung der Vorstädte mit Elektrizität, Kanalisation und Trinkwasser. Da nur Letten willens seien, diese Probleme zu lösen, müßten sie auch entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil an der Stadtverwaltung beteiligt werden: »Die Deutschen haben aus höheren Rücksichten freiwillig den Letten den ihnen zukommenden Antheil an der Selbstverwaltung zu gönnen.«58 Erneut manifestierte sich das Spannungsverhältnis zwischen fremdnationaler Elite und autochthoner Mehrheitsbevölkerung im argumentativen Gegensatz von Gewicht oder Zahl. Die Wahlen von 1901, wiederum von allen Seiten mit hohem agitatorischem und finanziellem Aufwand geführt, endeten mit dem Sieg der deutsch-russischen Liste. Dieser war angesichts des hohen lettischen Wähleranteils keineswegs vorauszusehen gewesen, doch auch ein kleiner Teil der lettischen Wähler hatte sich für die deutsch-russische Liste entschieden. Die Wahlbeteiligung lag diesmal bei 61%. In der neuen Duma saßen 62 Deutsche, 10 Russen und 8 Letten. Beruflich setzten sich diese Stadtverordneten zu großen Teilen aus Kaufleuten und Gewerbetreibenden, Industriellen und Technikern sowie der freien und beamteten Intelligenz zusammen.59 Daß das Wahlversprechen eines städtischen Gemeinwohls kein Lippenbekenntnis bleiben sollte, war vor allem dem vorurteilslosen und energischen neuen Mann an der Spitze der Verwaltung, George Armitstead, zu verdanken, dem es gelang, eine liberale Elite deutscher Kommunalpolitiker für eine anationale und überständische moderne Sozialpolitik zu gewinnen. Bereits seine deutsch-britische Herkunft machte ihn in der national aufgeladenen Atmosphäre der Stadt für größere Gruppen akzeptabel. Vor allem aber trug seine Orientierung an den westeuropäischen Entwicklungen zum verstärkten Ausbau der städtischen Sozialpolitik bei, die auch der politische Gegner anerkannte: »Die Deutschen haben hier immer eine kleinstädtische 57 Dienas Lapa 31.1.1901. 58 Baltijas Vēstnesis 18.2.1901, zitiert in: Rigaer Rundschau 20.2.1901. Vgl. auch Veinbergs, Riga am Scheideweg, v.a. S. 5ff. 59 Vgl. Kap. III.1., Tabelle 18.

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Politik betrieben, als befänden sie sich in einer deutschen Provinzstadt. Erst das letzte Stadtoberhaupt Armitstead fing an, die fortschrittlichen Ideen des Westens zu übernehmen.« 60 Vorangetrieben wurde diese Ausrichtung vor allem durch die Schockerfahrung der Revolution von 1905, die Riga besonders heftig erschütterte.61 Bereits vor dem St. Petersburger ›Blutsonntag‹, dem 9. Januar 1905, der gemeinhin den Beginn der revolutionären Aufstände markierte, hatten Massenstreiks die Stadt geprägt. Im hochindustrialisierten Riga war die kurzfristige Rezession, die 1900 einsetzte, besonders spürbar gewesen, und etwa 15% der lokalen Arbeiterschaft hatten ihre Beschäftigung verloren. Seit Januar 1905 breiteten sich Fabrikdemontagen, Arbeitsniederlegungen, Brandschatzungen und Straßengewalt lawinenartig aus und ließen sich auch durch erhöhte Truppenkontingente in den Fabriken nicht eindämmen. Mehr als ökonomische Frustration katalysierten politische Motive den Fortgang der Revolution. Die Politisierung der Arbeiterschaft war in den baltischen Provinzen erheblich fortgeschrittener als in den innerrussischen Städten. Dazu hatte vor allem die 1904 gegründete Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei beigetragen, die eine enge Verbindung zur deutschen Sozialdemokratie unterhielt und deren Programm sich ganz an das Erfurter Programm der reichsdeutschen Sozialisten anlehnte. Die politischen Forderungen nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht, nach Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie nach Berücksichtigung kultureller Eigenständigkeit wurden zum Sprengstoff, der Streikende jetzt zu Revolutionären machte. Denn im Gegensatz zu Moskau und St. Petersburg waren Arbeitgeber hier zugleich auch Angehörige der fremdnationalen Oberschicht, fiel der ›kapitalistische Ausbeuter‹ mit dem ›Erzfeind der lettischen Nation‹ zusammen. Soziale und nationale Motive verstärkten sich wechselseitig und führten im Herbst 1905 zum Höhepunkt der revolutionären Unruhen. Der reichsweite Eisenbahnerstreik im Oktober des Jahres gab das Signal zum lokalen Generalstreik, und die Rigaer Innenstadt geriet völlig unter revolutionäre Kontrolle. Der reichsdeutsche Konsul Ohnesseit berichtete nach Berlin, »die ganze Stadt war wie eine eingeschlossene Festung von der Außenwelt abgeschlossen … Sie befindet sich vollkommen in der Hand der Revolutionäre und die Regierungsgewalt 60 Jaunas Dienas Lapa 9.2.1913. 61 Vgl. als Quelle: v. Transehe-Roseneck. Vgl. an Literatur v.a. Krastiņš, Revolucija 1905– 1907, sowie Benz, Revolution von 1905 in den Ostseeprovinzen. Benz Dissertation stellt eine informative, aber rein ereignisgeschichtliche Faktensammlung dar. Relevant für den ländlichen Kontext: v. Pistohlkors, Ritterschaftliche Reformpolitik, S. 232–271; Longworth. Eine abgewogene, analytisch orientierte Darstellung der Revolution in den Ostseeprovinzen fehlt. Insgesamt zur russischen Revolution von 1905: Asher, Revolution of 1905; Hildermeier, Russische Revolution.

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war dort vollkommen ausgeschaltet … Wenn es angesichts dieser Verhältnisse nicht zu schlimmeren Greueltaten, Plünderungen etc. gekommen ist, gebührt ein Teil des Verdienstes daran den Führern der Revolutionäre, welche die rohe und brutale Horde auch dieses Mal straff in der Hand hielten und den strengsten Befehl ausgegeben hatten, nur die Hemmung jedes Verkehrs mit schärfster Gewalt zu erzwingen, wo aber kein Widerstand geleistet würde, sich jeglicher Gewalttat zu enthalten.« 62 Die lettischen Sozialisten verbündeten sich mit den Mitgliedern des jüdischen Bunds in einem revolutionären Föderativkomitee, das im Haus des Lettischen Vereins seinen Sitz nahm und in den Wintermonaten 1905/06 die gesamte Stadt unter Kontrolle hatte. Das Komitee organisierte Massenmeetings, auf denen erstmals die politische und kulturelle Autonomie Lettlands innerhalb eines demokratisierten Reichs diskutiert wurde: »Was haben die Letten getan für ihre Autonomie, nationale Freiheit und Abtrennung vom Reiche? Bisher nichts … So stehen wir denn ebenso abhängig da wie bisher, wir lettischen Revolutionäre, die Westeuropa für die ersten hält im Kampf des russischen Proletariats! Wir werden nur Reden halten? Nein! Der größte Teil des Volkes ist erwacht. Zu den allgemeinen Menschenrechten werden wir hinzufügen die dem Volke so teure Selbstbestimmung, die Autonomie und um dieser Rechte willen rufen wir das lettische Volk zum Kampfe auf! – Es gibt für uns keinen andern Ausweg als den der bewaffneten Erhebung!« 63. Angesichts des Stillstands jeglichen bürgerlichen Lebens verhängte die Regierung im November 1905 den Ausnahmezustand über Livland und entsandte im Dezember Truppen, die der Revolution ein blutiges Ende setzten. Die brutale Strafexpedition der russischen Bataillone endete mit der Hinrichtung von ca. 2 000 Revolutionären lettischer und estnischer Nationalität, denen auf der anderen Seite etwa 600 in der Revolution getötete Deutschbalten und russische Soldaten gegenüberstanden.64 Ihre besondere Heftigkeit gewann die Revolution in den Ostseeprovinzen aus der Verbindung sozialer und nationaler Motive. Die Wut der Streikenden, der Brandschatzer, der Meetingbesucher richtete sich primär gegen die Deutschen in Stadt und Land. Sie stellten nicht nur jene soziale Oberschicht dar, die für die ökonomische Abhängigkeit verantwortlich schien, sondern verkörperten auch den nationalen Erzfeind, der die lettische Nation seit Jahrhunderten an ihrer Selbständigkeit und Freiheit gehindert habe. In den pathetischen Worten des lettischen Sozialdemokraten Fēlikss Cielēns tritt die große Bedeutung, welche die Revolution von 1905 für die Letten annahm, besonders deut62 Zitiert nach Benz, Revolution von 1905, in: Acta Baltica XXIX/XXX, S. 117. 63 Us Priekšu, Nr. 9, 1905, zitiert nach v. Transehe-Roseneck, S. 216. Diese Zeitung war das Organ Mikelis Valters, vgl. Kap. II.2. 64 Zahlen nach Spekke, S. 314.

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lich zutage: »Die Revolution des Jahres 1905 ist eine flammende Demarkationslinie im geschichtlichen Werdegang des lettischen Volkes. Sie ist die große Wegkreuzung, wo nach langen Jahrhunderten wieder eine selbständige politische Geschichte unseres Volkes begann … der grandiose Versuch der breiten Volksmassen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und sich einem bestimmten politischen Ziel entgegenzubewegen. Und dies geschah zum ersten Mal in der lettischen Geschichte seit Jahrhunderten … Im Jahre 1905 wurde das Volk der Letten wieder zum Gestalter seiner politischen Geschichte, verwandelte sich von einem geschichtslosen in ein geschichtliches Volk.«65 Wie tief die Zerklüftung der städtischen Gesellschaft entlang den sozialen und nationalen Trennlinien fortgeschritten war, hatte die Revolution mit aller Deutlichkeit gezeigt. In der Stadtverwaltung, die im Frühjahr 1906 durch die militärische Unterstützung aus St. Petersburg wieder das Heft in die Hand bekam, lösten die traumatische Erfahrung einen verstärkten Reformimpetus aus. Nur die vermehrte Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen aller ethnischen Gruppen, davon waren George Armitstead und seine liberalen Mitarbeiter überzeugt, könne die Wunden der Revolution heilen lassen, gesellschaftliche Stabilität erneuern und damit auch den Machterhalt der bürgerlichen deutschen Führung garantieren: »Die Stadt gehört nicht uns Deutschen allein, sondern allen drei in derselben lebenden Nationen … Für den ersehnten nationalen Frieden ist es jedenfalls durchaus notwendig, die Frage, wer dem Anderen Unrecht getan, wer dem Anderen Dank schuldet, und wer dem Anderen geistig überlegen ist, vollständig beiseite zu lassen. Nur ein rein fachliches Vorgehen auf der Basis gegenseitiger Anerkennung kann zum Frieden führen.« 66 Einen Neuansatz kommunaler Politik suchte Armitstead zum einen in der Schul- und Kulturpolitik einzuleiten. Der eklatante Mangel an lettischsprachigen Volksschulen war zunächst auf das ständische Denken früherer Kommunalpolitiker zurückgegangen und hatte sich durch die Russifizierungspolitik des Staates weiter verschärft. Seit dem Oktobermanifest 1905 waren muttersprachliche Grundschulen jedoch wieder erlaubt. Armitstead nutzte den gewonnen Spielraum, sich von aller »national-politischen Erörterungen, die doch zu keinem praktischen Resultate führen« zu enthalten, und ging das Problem pragmatisch an.67 Unter seiner Ägide wurden zwölf neue Schulen errichtet, deren Unterrichtssprache mehrheitlich lettisch war, drei weitere befanden sich im Bau. Schulärzte wurden engagiert, die kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für alle Schüler durchführten. Das Schul65 Fēlikss Cielēns, 1905. gada vēsturiskā nozīme, zitiert nach Benz, Revolution von 1905, in: Acta Baltica XXVIII, S. 21. 66 Leserbrief Nicolai v. Carlbergs, Dünazeitung 24.3.1905. 67 Armitstead, Arbeiten und Einrichtungen der Rigaschen Stadtverwaltung, S. 3.

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geld war stufenweise herabgesetzt worden, und 50% aller städtischen Schüler zahlten 1913 gar kein Schulgeld. Ein Vergleich mit dem Jahr 1900 zeigt die Anstrengung, welche die Stadtverwaltung unternahm: 1900 hatte Riga 64 Grundschulklassen gehabt und das Schulbudget 87 000 Rubel betragen. Im Jahr 1912 wiesen Rigas Schulen 156 Klassen auf, und das Budget hatte sich mit 230 000 Rubeln nahezu verdreifacht. Auch in der Kulturpolitik suchte die Verwaltung den unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen gerecht zu werden. 1905 war ein großzügiges Kunstmuseum eröffnet worden; in den nächsten Jahren folgten mehrere Volksbibliotheken mit Lesehallen und einem breiten mehrsprachigen Angebot. Nachdem 1901 das opulent ausgestattete russische Stadttheater seinen Betrieb aufgenommen hatte, trieb Armitstead auch den Bau eines lettischen Theaters voran – ein symbolisch wichtiges Projekt, das aber unter seinem konservativen Nachfolger wieder auf die lange Bank geschoben wurde. Außer der Kulturpolitik lag der zweite Schwerpunkt der Stadtverwaltung auf dem Ausbau der kommunalen Wohlfahrt. In der Umwandlung von Wohltätigkeit, die sich mit ständischem Denken sehr wohl vertragen hatte, in eine kommunale Sozialpolitik, die dem früheren Gabenempfänger nun einen Rechtsanspruch gab, trat ein Politikwechsel zutage, den die Erfahrung der Revolution von 1905 vorangetrieben hatte und der von dem Wissens- und Kulturtransfer aus westeuropäischen Kommunen zusätzlich profitierte: »Weil aber diese (Fürsorge) der bürgerlichen Elemente sich vielfach … aus einem Recht in eine Pflicht gewandelt hatte, konnte diese Tätigkeit allgemach nicht mehr unter den Begriff der Wohltätigkeit fallen, zumal sie auch den sie Ausübenden selbst zugute kam. So, und unter dem Einfluß der sich ausbreitenden Demokratie und der Gleichberechtigung entstand … der Begriff der sozialen Fürsorge und der Sozialpolitik.« 68 Außer der Errichtung städtischer Krankenhäuser kam es unter Armitstead zum Bau eines städtischen Obdachlosenasyls, eines Lungensanatoriums und eines öffentlichen ›Volksbrausebads‹. 1904 nahm ein städtisches Arbeitsvermittlungsamt seine Tätigkeit auf; seit 1913 war die Impfung gegen Infektionskrankheiten für alle Stadtbewohner kostenlos. Nach dem Revolutionsjahr hatte die Stadt Schrebergärten in den Vorstädten angelegt, die Arbeitern kostenlos überlassen wurden. Städtische Kantinen und Teehäuser sollten, allerdings mit wenig Erfolg, dem Kneipenbesuch der Arbeiter vorbeugen. Der Perspektivenwechsel von einer ständisch-patriarchalisch konnotierten Wohltätigkeit zu einer überständischen modernen Sozialpolitik kulminierte in der 1908 eingerichteten Versicherung, die städtische Angestellte und Arbeiter gegen Alter, Invalidität und Unfall ver-

68 Carlberg, Armitstead, S. 35.

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sicherte und die erste Sozialversicherung in der Geschichte des Zarenreichs darstellte.69 Großes Gewicht legten die Liberalen schließlich auf die Verbesserung der Infrastruktur. 1904 hatte Riga eine Kanalisation erhalten; seit 1905 versorgte ein Kraftwerk die Stadt mit Strom und Gas, in deren Genuß ganz entlegene Stadtteile allerdings nicht kamen. Ein modernes Straßenbahnnetz verband die Innenstadt mit den neu entstandenen Wohnsiedlungen und Fabrikvierteln. Eine städtische Bauordnung regelte den bisher wild wuchernden Neubau von Gebäuden und trennte Wohngegenden von Industrievierteln. Zwar blieben auch in Riga typische Probleme der Industrialisierung und Urbanisierung, etwa die elenden Wohnbedingungen breiter unterbürgerlicher Schichten, ungelöst. Das Beispiel west- und mitteleuropäischer Metropolen, städtische Sozialwohnungen zu bauen, gelangte in Riga nicht über eine entsprechende Ausstellung im Jahr 1907 hinaus. Auch die Versorgung mit muttersprachlichen Grundschulen blieb angesichts des kontinuierlichen Zuzugs der lettischen Landbevölkerung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs unbefriedigend. Diese Lücken in der kommunalen Daseinsfürsorge gingen aber auch auf die anachronistische russische Gesetzgebung zurück, welche keine Möglichkeit zur Erhebung städtischer Einkommensteuern bot.70 Der Vorschlag einer progressiven Einkommensteuer, den die Rigaer Verwaltung 1907 nach St. Petersburg sandte, war dort ohne Echo geblieben.71 Finanziert wurde der Rigaer Munizipalsozialismus durch internationale Anleihen in Millionenhöhe, mit denen kommerzielle Unternehmen wie das Elektrizitätswerk, das Wasserwerk, die städtische Dampferflotte und das überaus profitable Straßenbahnnetz finanziert wurden. Der Gewinn, welcher der Stadt aus diesen Investitionen zufloß, betrug im Jahr 1912 fast eine Million Rubel, die wiederum für den Bau von Schulen, Krankenhäusern und die Verbesserung der Infrastruktur verwandt wurde. Auch innerhalb des Reiches wurde Riga zunehmend zum Vorzeigebeispiel kommunaler Politik und der Zar selbst zeichnete die Stadt im Jahr 1913 als »die bestgeleitete Commune Russlands« aus.72 Anders als russische Metropolen, denen die kommunale Bewältigung von Urbanisierung und Industrialisierung im frühen 20. Jahrhundert überwiegend nicht gelang,73 war diese Riga 69 Vgl. auch Lindenmeyer. 70 1907 wurde von der Rigaer Kommunalverwaltung ein Gesetzesentwurf zur Erhebung einer kommunalen Einkommenssteuer erarbeitet, der den Petersburger Behörden eingereicht wurde, ohne je ein Echo zu finden. 71 Vgl. v. Schrenck, Kommunal-Einkommenssteuer. 72 Vgl. den Text der Depesche an die Bürgermeister aller Gouvernementstädte in: Rigasche Rundschau 5.3.1913 sowie das Echo in allen übrigen Zeitungen. 73 Vgl. Brower, Russian City, S. 222ff.

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in einem Ausmaß geglückt, das an den erfolgreichen Munizipalsozialismus reichsdeutscher Großstädte erinnert.74 Ähnlich wie man das für deutsche Großstädte beobachtet hat, wurde auch hier hinter den Mauern politischer Illiberalität eine sozial progressive Politik gestaltet, die primär unterbürgerlichen Schichten zugute kam.75 Das politische Versprechen ihrer deutschbaltischen Trägerschichten, nicht nationalen Interessen verpflichtet zu sein, sondern einem übernationalen und transständischen Gemeinwohl, blieb im multiethnischen Raum Rigas kein Lippenbekenntnis. Welchem Wandel die Leitvorstellungen des deutschen Milieus im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten Jahren unterworfen waren, illustriert bereits die Sprache, mit dem die Zeitgenossen den Wahlkampf von 1913 führten. Waren die Deutschen 1878 mit ›ständischer Continuität‹ gegen den ›Fortschritt‹ der Letten angetreten, ging die deutsch-russische Allianz im Jahr 1913 unter der Parole einer ›Continuität des Fortschritts‹ in den Wahlkampf. Hinter dem Versprechen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts stand jetzt eine pragmatisch orientierte Wirtschaftselite, deren tonangebende Protagonisten ihren beruflichen Schwerpunkt in der Industrie hatten und deren akademische Vertreter, zumeist Ärzte oder Rechtsanwälte, von der Urbanisierung nur profitierten. Im Unterschied zu den früheren Wahlkämpfen, die weitgehend mit rhetorischen Topoi ausgekommen waren, bemühten sich die konkurrierenden Lager erstmals um sachliche Argumente und Vorschläge. So gab das deutsche Wahlkomitee eine Broschüre heraus, die bisherige Errungenschaften und künftige Pläne der Stadtverwaltung erläuterte.76 Eine 1912 aufgelegte Anleihe von 12,5 Millionen Rubel sollte primär auf die Kanalisierung der noch ausstehenden Vorstädte verwandt werden sowie auf die Eröffnung neuer Grundschulen. Die bestehenden Krankenhäuser sollten weiter ausgebaut sowie Sozialwohnungen in größerem Umfange errichtet werden. Geplant waren darüber hinaus der Bau neuer Markthallen und einer zweiten festen Brücke über die Düna sowie die Erweiterung des Dampferverkehrs. Mit einem solchen Programm gelang es erneut, die Führer des russischen Elektorats für die Fortsetzung der erfolgreichen Allianz zu gewinnen, zumal deren Sitzanteile in der Stadtverordnetenversammlung erheblich erhöht wurden. Zwar hatte Ivan Vysockij, der Chefredakteur des ›Rižski Vestnik‹, versucht, eine eigene nationalistische Liste durchzusetzen, doch sein Spaltungsversuch blieb erfolglos. Die große Mehrheit der wohlhabenden russischen Wahlberechtigten fühlte sich von jenem Standpunkt angesprochen, den Andrej Gusev in seinem programmatischen Artikel ›Warum die Russen 74 Vgl. dazu GG, Jg. 21, 1995, Kommunale Sozialpolitik in vergleichender Perspektive; Ladd; Zimmermann. 75 Vgl. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 210. 76 Vgl. Was tut unsere Stadtverwaltung?; vgl. zu den Wahlkämpfen auch Hamm, Riga’s 1913 City Election.

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in den Wahlen mit den Deutschen gehen‹ begründete: »Die Führung der städtischen Wirtschaft durch die Deutschen ist durchaus befriedigend und es liegt absolut kein Grund zu der Annahme vor, daß die Letten im Stande sind, die Stadt erfolgreicher zu verwalten und die Bedürfnisse anderer Nationalitäten gerechter zu berücksichtigen.«77 Die Stabilität der deutsch-russischen Allianz war durch die Erfahrung der lettischen Revolution verstärkt worden. Zudem hatte der industrielle Erfolg des deutschen Stadtbürgertums die negativen Auswirkungen der Russifizierung weitgehend kompensieren können,78 was auch den Deutschen das Zusammengehen mit dem russischen Bürgertum erleichterte: »Indem sich unsere russischen Mitbürger mit seltener Einmütigkeit auf unsere Seite stellten, ließen sie sich von dem richtigen Gedanken leiten, dass sie damit keineswegs spezifisch deutsche Interessen förderten, sondern nur den Boden festigten, auf dem eine gemeinsame Kulturarbeit zum Wohle der allen teuren Stadt, die auch vielen Russen Vaterstadt ist, geleistet werden kann. Darin sehen wir neben der Einmüthigkeit der Deutschen die gleichsam historische Bedeutung des Wahltags, dass Deutsche und Russen sich für eine gemeinsame hohe Kulturaufgabe zusammengefunden haben. Es ist damit eine Waffenbrüderschaft geschlossen, die weit über den einen Tag Gewähr verspricht.«79 Ein ähnliches Reformprogramm wie die Deutschen legten auch die Letten im Wahlkampf auf. Abgesehen von Details unterschied es sich nur durch seine Finanzierungsvorschläge vom deutschen Programm.80 Die interne Segmentierung des lettischen Milieus war jedoch so weit fortgeschritten, daß sich im Verlauf des Wahlkampfs zwei konkurrierende lettische Wahlkomitees formierten, die gegeneinander antraten. Während eine Minderheit der lettischen Wähler sich um den rechtskonservativen Fricis Veinbergs gruppierte, hing die große Mehrheit dem Progressiven Block an, den die national orientierten Demokraten mit der Sozialdemokratie geschmiedet hatten: »Wer wird gewinnen? … Diese Frage lässt sich heute nicht beantworten … doch klar ersichtlich gibt es zwei unterschiedliche Blöcke, die nicht aufgrund der Nationalität vereinigt sind. Es ist ein Unding, dass es diese zwei Blöcke gibt … 1901 und 1905 kämpften die Letten gegen die Deutschen und die Russen waren nur die Beilage zu den Deutschen. 1910 führt man den Kampf schon als Lette, Deutscher oder Russe. Wie kann man in diesem Jahr den Kampf beschreiben, wenn die Letten gegen Letten, und die Russen gegen ihre Brüder … kämpfen werden? Diese Wahlen sind ein Brüderkrieg!«81 77 Leserbrief an den Rižski Vestnik , 11.3.1913: »Počemu russkie na vyborach idut s nemcami« [Warum die Russen in den Wahlen mit den Deutschen gehen]. 78 Vgl. Henriksson, Loyal Germans. 79 Rigasches Tageblatt 19.3.1913. 80 Rede Vilis Olavs, in Dzimtenes Vēstnesis 12.1.1913. 81 Jaunas Dienas Lapa 18.1.1913.

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Trotz der ideologischen Spaltung des lettischen ›Nation-building‹, die auch in der kommunalen Politik zum Ausdruck kam, traten am Tag der Entscheidung ideologische Gegensätze hinter der nationalen Loyalität zurück. Bereits die Tatsache, daß die Wahlprogramme von Deutschen und Letten zwar nahezu austauschbar waren, von den Zeitgenossen jedoch als ›nationaler Gegensatz‹ wahrgenommen wurden und auch keineswegs zur Anbahnung engerer Verbindungen zwischen Deutschen und Letten geführt hatte, zeigt, in welch hohem Maße der kommunale Schauplatz nationalisiert war. Entsprechend wiederholte sich am Wahltag die Entscheidung, ethnische Zugehörigkeit über ideologische Motive zu stellen: »Die politische Spaltung zwischen den Letten selbst, der Gegensatz zwischen gemäßigten und radikalen Letten wird die Kluft zwischen Letten und Deutschen nicht überbrücken, die gemäßigte Partei der Letten wird mit der radikalen mehr Berührungspunkte haben als mit den konservativen Deutschen … Während der Wahlen beherrschte nur eine Stimmung fast alle lettischen Wähler: es geht gegen die Deutschen.«82 Der Andrang zu den Wahlen im März 1013 war groß: »Es war keine leichte Aufgabe, bis zur Wahlurne vorzudringen. Von 1 Uhr mittags ab war die Queue der Wartenden eine so große geworden, daß es reichlich 4 Stunden zu dauern pflegte, bis der Wähler durch alle Schlangenlinien sich bis zum Wahltisch durchgeduldet hatte.«83 Bis in die Nacht dauerte der Zustrom der Wahlberechtigten an, dem in manchen Fällen kräftig nachgeholfen wurde.84 Die Stimmauszählung ergab einen überwältigenden Sieg für die deutsch-russische Liste. Außerordentlich hoch war vor allem die Wahlbeteiligung gewesen und hatte mit 82% einen Wert erreicht, der noch über demjenigen westeuropäischer Städte lag. Schockiert zeigte sich die lettische Presse vor allem darüber, daß von den rund 2 400 lettischen Wählern etwa 250 für die gegnerische Liste gestimmt hatten.85 Aber auch der Großteil der polnischen und litauischen Wähler, die 1913 5,7% des Elektorats ausmachten, hatten sich für das Programm der ›Fortschrittscontinuität‹ entschieden.86 Denn eine ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ schien immer weniger der politisierte Nationalismus der Letten zu garantieren als vielmehr die Gemeinwohlorientierung der Deutschen. Mehr 82 Lettischer Leserbrief an die Rigasche Rundschau 8.7.1906. 83 Rigasche Rundschau 16.3.1913. 84 Vgl. Baltische Post 18.3.1913. 85 Neben den von der deutsch-russischen Liste aufgestellten lettischen Kandidaten waren nach dem Sieg weitere Plätze dem lettischen Wahlkomitee zur Besetzung überlassen worden, welche dieses Angebot jedoch ablehnte. 86 Die Kandidaten der polnischen und litauschen Wahlkomitees standen ebenfalls auf der deutsch-russischen Liste und wurden den Wählern von den entsprechenden Komitees zur Annahme empfohlen.

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noch als 1901 und mitbedingt durch das Trauma der Revolution hatte sich in der deutschen Elite die Einsicht durchgesetzt, daß die vormaligen Leitbilder ›ständischer Herrschaft‹ und ›baltischer Autonomie‹ für ein funktionierendes Zusammenleben in der multiethnischen Stadt keine geeigneten Maximen mehr abgaben. Auch hatte der Verzicht auf eine Aktualisierung der Vergangenheit, welche die früheren Wahlkämpfe geprägt hatte, dazu beigetragen, zahlreiche Wähler über das deutsche Milieu hinaus zu gewinnen, wie Paul Schiemann im Nachklang des Wahlkampfs resümierte: »Nur die Last des politischen Erbes Sigismundi Augusti macht uns zu Feinden aller. Weil wir in diesem Wahlkampf darauf verzichtet haben, konnten wir den russischen Liberalismus zu unserem Bundesgenossen zählen. Die Vergangenheit kann uns nur ein kulturelles Erbe hinterlassen, das politische Ziel stellt uns in die Gegenwart.«87 Besonders überzeugend wirkte vor allem die Orientierung an einem städtischen ›Gemeinwohl‹, das kein Topos blieb, sondern erkennbar zu realisieren versucht wurde. Die Interessengebundenheit des Phänomens ist indes nicht zu übersehen. 1913, als sich die quantitative Übermacht der Letten trotz eines rigiden Besitzwahlrechts auch im städtischen Elektorat abzeichnete, ließ sich eine deutsch dominierte Führung nur noch durch eine Politik rechtfertigen, die den Forderungen aller ethnischen Gruppen entgegenkam. Die Analyse der lokalen Politik liefert Anlaß, auf die eingangs formulierte Frage nach dem Verhältnis von ›partikularen Interessen‹ und ›Gemeinwohl‹ unter der besonderen Bedingung von Multiethnizität zurückzukommen. Der beeindruckende Munizipalsozialismus und das hohe Maß an Partizipationsbereitschaft, das die politische Kultur Rigas prägte, scheint vor allem von zwei Faktoren vorangetrieben worden zu sein. Es waren zum einen die Residuen der ostmitteleuropäischen Ständegesellschaft, die hier ein hohes Maß an Selbstverantwortung und kommunaler Eigentätigkeit hervorbrachten. Denn die korporativen Traditionen einer weitgehend autonomen Selbstverwaltung, die zum Staat Distanz hielt, ihn oft auch als Gegner sah, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einen ›Bürgersinn‹ übersetzt, der maßgeblich für die reformorientierte Gestaltung der städtischen Politik verantwortlich war. Was bisher primär für die alten deutschen Reichs- und Hansestädte beobachtet wurde, gilt auch für das ostmitteleuropäische Riga, daß nämlich die in die frühe Neuzeit hineinreichenden ständischen Traditionen in einem engeren Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichen Ausprägungen stehen als dies bisher gesehen wurde. Gerade von der ständischen Gesellschaft führt ein Weg zur modernen Zivilgesellschaft. Zum anderen wurde die Gemeinwohlorientierung, welche das lokale Beispiel belegt, durch den multiethnischen Charakter der Stadt stimuliert. Ein87 Rigasche Rundschau 24.4.1913.

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mal spielten die engen kulturellen Bindungen nach Westeuropa eine Rolle, die zur Nachahmung kommunaler Reformansätze einlud. Entscheidender noch war der zunehmende Partizipationsdruck, der von den konkurrierenden ethnischen Gruppen ausging. Je lauter die russische Presse den deutschbaltischen Separatismus anklagte, je mehr die Letten politische Teilhabe und soziale Gleichheit einforderten, desto überzeugender mussten die deutschen Kommunalpolitiker ihre Leistungsbereitschaft unter Beweis stellen. Denn die Führung der multiethnischen Kommune durch die Mitglieder primär einer ethnischen Gruppe war dauerhaft nur haltbar, wenn sie die Bedürfnisse aller ethnischen Gruppen berücksichtigte. Somit erwuchs aus der starken Nationalisierung des multiethnischen Raums ein ähnlich starkes Engagement um das allgemeine Wohl. Das Phänomen der Multiethnizität schien dieses transständische und übernationale Gemeinwohl und damit ein wesentliches Element einer Zivilgesellschaft im Falle Rigas erheblich begünstigt zu haben.

3. Die Alternative zur Nation: Baltischer Liberalismus zwischen 1905 und 1914 Die Nationalisierung der städtischen Gesellschaft hatte mit der Revolution von 1905 einen Höhepunkt erreicht. Letten und Deutsche standen sich in den Revolutionsmonaten unversöhnlich gegenüber, zumal die politischen Fronten der Gegenwart durch ein weit zurückreichendes selektives Gedächtnis weiter verhärtet wurden. Das Oktobermanifest von 1905, mit dem die Konstitutionalisierung Russlands eingeleitet wurde, forderte jedoch zur geregelten Aushandlung von Konflikten auf, die nicht mehr die Straße, sondern den Sitzungssaal zum Schauplatz hatte. Bei der Formierung politischer Parteien wiederholte sich in der baltischen Region dasselbe Muster, das bereits die kommunale Ebene Rigas gekennzeichnet hatte: Die Parteien formierten sich ausschließlich entlang ethnischer Grenzen. Während das russische Milieu sich mehrheitlich den lokalen Ablegern der Kadetten und Oktobristen anschloß, gründeten die Letten eigene Parteien, welche die ideologische Segmentierung in Konservative, Demokraten und Sozialisten widerspiegelte. Mehr als die ideologischen Unterschiede grenzte jedoch Ethnizität nach außen ab und führte dazu, daß alle autochthonen Parteien nur noch Angehörige der eigenen Nation aufnahmen: »Den Gedanken, daß man nicht auf die Nationalität des Abgeordneten, sondern auf seine politische Tendenz achten soll, halten wir für einen Irrtum.«88 88 Latvija 29.1.1907.

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Mit der Gründung der Baltischen Konstitutionellen Partei suchten die Rigaer Deutschen dagegen ein Programm zu formulieren, das die Mitglieder aller ethnischen Gruppen integrieren konnte. Diesem Versuch einer regionalen Vergemeinschaftung wendet sich dieses Kapitel zu und wechselt damit die Perspektive von der lokalen Ebene zur regionalen und Reichsebene. Das Phänomen eines baltischen Liberalismus ist in der Forschung bisher eine Terra incognita geblieben, was auch auf die selektive Wahrnehmung deutscher, lettischer und estnischer Historiker zurückgeht. Seine Wirkungskraft muß jedoch gerade während eines Zeitraums interessieren, in dem über die »Handlungschancen von Liberalen« im östlichen Europa neu entschieden wurde.89 Zunächst wird gezeigt, welche inhaltlichen Leitvorstellungen und Gesellschaftsbilder dieser Liberalismus vertrat und von welchen konkurrierenden Modellen er sich dadurch abgrenzte. Sodann wird das Ausmaß seiner sozialen und ethnischen Integrationskraft untersucht und schließlich nach der Übertragung dieses regionalen Programms in die reichsweite Öffentlichkeit der Allrussischen Duma gefragt. Kurz nach der Verkündigung des Oktobermanifests im Herbst 1905 hatten deutschbaltische Liberale, darunter der Rigaer Kommunalpolitiker Erwin Moritz, der Industrielle Robert Erhardt und der Journalist Paul Schiemann, die Baltische Konstitutionelle Partei (BKP) gegründet.90 Ebenso wie die gleichzeitig gegründeten Parteien der Letten und Esten setzten auch die deutschen Liberalen jene bürgerlichen und politischen Freiheiten, die sich in Mitteleuropa nach der Revolution von 1848/49 durchgesetzt hatten, an die Spitze ihrer Agenda. Nur auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie, welche sich die deutschbaltischen Liberalen als föderales System vorstellten, seien diese zu verwirklichen. Den einzelnen Reichsteilen solle dabei weitgehende Selbstverwaltung zugestanden und durch mehr Dezentralisierung die reformorientierten Kräfte aktiviert werden. Die doppelte Frontstellung dieser Liberalen gegen Demokratie und Nationalismus tritt zunächst in der Frage politischer Partizipation zutage. Die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts und das Votum für ein begrenztes Wahlrecht jener Bürger von Besitz und Bildung, die 89 Dieter Langewiesche, Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeptionen und Ergebnisse, in: ders. Liberalismus im 19. Jahrhundert, S. 14; vgl. für Russland Leontovich; Fischer; die Aufsätze von Beyrau und Löwe in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jh.; Raeff; Renner, Rußland und die civil society, dort auch die wichtigste weitere Literatur. 90 Weder die Partei noch die dahinter stehende Bewegung werden in der einschlägigen, überwiegend älteren Literatur berücksichtigt. Einzig bei v. Pistohlkors, Baltische Länder, findet die Partei Berücksichtigung, vgl. S. 439–443. Ereignisgeschichtlich und insgesamt wenig weiterführend eine ungedruckte Magisterarbeit: du Vinage; Dieses Kapitel basiert primär auf den folgenden Quellen: Fonds 1873, apr. 1; Fonds 223, apr. 1, No. 174, LVVA; Bericht über die Tätigkeit der BKP, 1906–1908; sowie: Rechenschaftsberichte der BKP für die Jahre 1910 und 1911, in: Rigasche Rundschau 12.5.1912, sowie auf der Auswertung der offiziellen Organe der BKP, der Baltischen Post und der Rigaschen Rundschau.

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auch der europäische Liberalismus des 19. Jahrhundert favorisiert hatte, ging nicht zuletzt auf die unmittelbare Erfahrung der Revolution von 1905 zurück. Seine Befürworter standen jedoch nicht nur in der baltischen Region, sondern auch innerhalb des Reichs damit weitgehend isoliert da. Progressiv hingegen und im Einklang mit den konkurrierenden Parteien des lettischen und estnischen Bürgertums mutet das bildungs- und sozialpolitische Programm der BKP an. Unter dem Eindruck der massiven Industrialisierung, welche der Region ihren Stempel aufgedrückt hatte, plädierte die BKP für eine obligatorische Arbeiterversicherung gegen Unfall, Alter und Krankheit, für Streikfreiheit und Normierung der Arbeitszeiten, wenn auch der von den Sozialdemokraten geforderte Acht-Stundentag ihnen nicht durchführbar erschien. Ein obligatorischer und kostenloser Volksschulunterricht sollte durch eine progressive Einkommensteuer finanziert werden. Ein Anliegen war den baltischen Liberalen auch die rechtliche und politische Emanzipation der Juden, die im Russischen Reich als einzigem Staat Europas weiter ausstand.91 Das Plädoyer der BKP für die Aufhebung des jüdischen Ansiedlungsrayons fand auch als Wahlkampfargument Eingang in den liberalen deutschen Diskurs: »Wir als staatserhaltendes Element dürfen nicht ruhig mitansehen, wie ein Volk mit bedeutender Intelligenz und Kapitalkraft durch Ausnahmegesetze und Beamtenwillkür geradezu in das revolutionäre Lager gestoßen wird.«92 Waren das Reformvorstellungen, die ähnlich auch von den bürgerlichen Parteien der Letten und Esten vertreten wurden, gewann der baltische Liberalismus durch seinen Standpunkt in der Nationalitätenfrage, neben der Agrarfrage das zentrale Problemfeld der Ostseeprovinzen, sein eigenes trennscharfes Profil. Die baltischen Liberalen vertraten einen föderalen Reichsbegriff und distanzierten sich »in vollständiger Abwendung von einem bisher starr festgehaltenen politischen Irrtum … daß Rußland einen Einheitsstaat zu bilden vermöchte«93 von der Idee eines russischen ›Nationalstaats‹, dem rechte und zunehmend auch gemäßigte Dumaparteien das Wort redeten. Eine Folge dieses föderalen Reichsverständnisses war die Forderung nach rechtlicher Gleichberechtigung und kultureller Eigenständigkeit aller ›Nationalitäten‹ innerhalb der Region. In Verwaltung und Gericht müssten daher alle örtlichen Sprachen, also deutsch, russisch und lettisch bzw. estnisch, zugelassen werden, und auch der Volksschulunterricht solle in der jeweiligen Muttersprache erfolgen. Angesichts der demographischen Situation in den baltischen Städten, in denen Letten bzw. Esten zwischen 40% und 60%, Deutsche zwischen 15% und 25% und Russen zwischen 10% und 15% der Bevölkerung aus91 Vgl. Hildermeier, Jüdische Frage; nur in Rumänien stand die jüdische Emanzipation ebenfalls aus. 92 Rede Baron G. v. Maydells, Vorsitzender der liberal-konstitutionellen Partei Libaus, abgedr. in Rigasche Rundschau 10.9.1912. 93 Rigasche Rundschau 30.11.1905.

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machten,94 war diese Forderung nicht unbegründet und stand in vergleichbaren multiethnischen Räumen Europas wie Böhmen, Ungarn, Flandern oder Tirol ebenfalls zur Diskussion. Vom ständischen Denken der früheren Generation deutschbaltischer Politiker, die auf dem Primat deutscher Kultur bestanden hatten, suchten sich die Protagonisten des baltischen Liberalismus entschieden zu emanzipieren. Sie waren vielmehr davon überzeugt, daß nur ein Ordnungsmodell ›nationaler Gleichberechtigung‹ das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten innerhalb der baltischen Region, aber auch innerhalb des gesamten Reichs dauerhaft regeln könne: »Das Wohl und Wehe des Reiches hängt von dem Gedeihen des deutschen oder lettischen Rußländers genauso ab wie von dem russischen. Sollte es nicht endlich an der Zeit sein, an die Stelle des nationalistischen Ideals das nationale Ideal zu setzen?«95 Agierten die baltischen Liberalen in der ›Nationalitätenfrage‹ durchweg progressiv, konnten sie sich in der Agrarfrage, dem anderen zentralen Problemfeld der Ostseeprovinzen, zu keinem Reformkonzept durchringen. Eine anachronistische Landesverfassung hielt das Monopol des Adels auf Alkoholproduktion, Krugbetrieb, Jagdrecht und auf die Einsetzung von Pastoren aufrecht und sprach einem ausschließlich adlig besetzten ›Landtag‹ weitere Kompetenzen in der ländlichen Selbstverwaltung zu. Diese ständischen Herrschaftsresiduen waren der indigenen Bevölkerung ebenso ein Dorn im Auge wie der Umfang des adeligen Grundbesitzes, dessen Proportionen indes nicht wesentlich von ostpreußischen oder schlesischen Verhältnissen abwichen.96 Aus Rücksicht auf den grundbesitzenden deutschbaltischen Adel nahm die BKP eine Reform der Agrarverfassung jedoch nicht in ihr offizielles Programm auf – ein Defizit, das ihre Überzeugungskraft im estnischen und lettischen Milieu weiter schwächte. Hatte bereits das begrenzte Wahlrecht die Akzeptanz des baltischen Reformkonzepts in der autochthonen Bevölkerung erschwert, wurden die Fronten in der Agrarfrage nahezu unüberbrückbar. Während die bürgerlich-demokratischen Parteien der Letten und Esten eine Zwangsenteignung adligen Großgrundbesitzes befür94 Vgl. Baltische Bürgerkunde, S. 360, welche die genauen Zahlenverhältnisse in den größeren baltischen Städten aufführt, S. 360ff. Vgl. auch Raun, Estonia, S. 71ff. 95 Rigasche Rundschau 10.8.1911. Vgl. auch ebd., 20.5.1911: »Das Grundprinzip der BKP ist das der nationalen Toleranz. Sie stellt es sich zur Aufgabe, in immer weiteren Kreisen dem Gedanken Geltung zu verschaffen, daß jeder Staatsbürger des russischen Reiches einen Anspruch auf die Achtung seiner nationalen Eigenart genieße. In solchem Sinne haben wir die muttersprachliche Schule, die Glaubensfreiheit, die Sprachenfreiheit auf unser Panier geschrieben. Daß wir den Letten, den Polen und Juden dasselbe gönnen, was wir für uns verlangen, erscheint uns nicht nur gerecht, sondern auch logisch und politisch als der einzig vertretbare Gesichtspunkt.« 96 Circa 40% der Gesamtfläche aller 3 Provinzen befanden sich 1907 in lettischem (Klein-) Grundbesitz, ca. 50% in deutschbaltischem (Groß-)Grundbesitz, die übrigen 10% waren staatliches, kirchliches oder städtisches Eigentum. Vgl. Baltische Bürgerkunde, S. 300ff., sowie Plakans, The Latvians. A short Story, S. 113. Im Vergleich dazu waren 1907 in Ostpreußen und den mecklenburgischen Herzogtümern 44% der Fläche in (zumeist adligem) Großgrundbesitz.

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worteten, sprach sich die Baltische Konstitutionelle Partei entschieden dagegen aus. Mit ihrem Argument, »daß ein Festhalten am Privateigentum … uns als ein Postulat des Liberalismus erscheint, der ein Eingreifen der Staatsgewalt in die privaten Verhältnisse seiner Bürger perhorreszieren muß«,97 vertrat sie einen Standpunkt, den das Gros des europäischen Liberalismus Anfang des 20. Jahrhunderts durchweg teilte. Indem die deutschbaltischen Liberalen es jedoch versäumten, praktikable Alternativen wie Kredite für bäuerlichen Landkauf, finanzielle Anreize zum Verkauf adligen Grundbesitzes oder die Einrichtung eines Landfonds zu entwickeln, war eine schwer überwindbare Barriere zur indigenen Bevölkerung des flachen Landes geschaffen. Die Integrationskraft des Programms blieb primär auf den städtischen Raum begrenzt. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Baltischen Konstitutionellen Partei verweisen auf die enge Anlehnung an die liberalen Bewegungen Westeuropas und damit auch auf den rezeptiven Charakter dieses Liberalismus. Es war vor allem der Blick nach England und die Orientierung am ›aristocratic liberalism‹ des 19. Jahrhunderts, die in die Konzeptionen der baltischen Liberalen eingingen. Der britische Historiker Alan S. Kahan hat die Ziele dieses europäischen Deutungsmusters, das auf liberale Vordenker wie Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und Jacob Burckhardt zurückging, mit den Leitbegriffen »diversity, decentralisation, freedom« umschrieben.98 Das zunächst auf Bildung und Besitz beschränkte Wahlrecht und die Bedeutung, die Dezentralisierung, der lokalen Selbstverwaltung und der kulturellen Autonomie zugemessen wurde, waren Grundprinzipien der Bewegung, die im britischen Wahlmodus, in der Ausweitung konfessioneller und nationaler Selbstbestimmung für Schottland und Irland, im spezifischen ›town patriotism‹ sowie im privaten Schulsystem weitgehend realisiert waren. Den ständischen Wurzeln der deutschbaltischen Liberalen und ihrer weit zurückreichenden Tradition regionaler Selbstverwaltung kam diese Gewichtung besonders entgegen. Es ist jedoch unübersehbar, daß die baltischen Liberalen mit ihrer Anlehnung an das englische Modell mehr das England des 19. Jahrhunderts beschworen als die zeitgenössische Realität des frühen 20. Jahrhunderts. Diese nämlich wies in Gestalt des ›new liberalism‹ bereits auf den Übergang zur sozialen Demokratie hin, wie sie vor allem Lloyd Georges sozialer Interventionsstaat ankündigen sollte.99 Die Orientierung an vornehmlich englischen Modellen wirft die Frage auf, warum sich die deutschbaltischen Liberalen angesichts ihrer engen Verbindungen ins deutsche Kaiserreich nicht an deutsche Vorbilder anlehnten. Der Grund liegt vor allem in der zu gro97 Rigasche Rundschau, 16.2.1906. 98 Vgl. Kahan ebd., S. 111: »The aristocratic liberalists supported a constitutional regime with a limited suffrage alongside which there would be a high degree of decentralisation and local self-government.« 99 Vgl. Freeden.

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ßen Modernität des deutschen Liberalismus.100 Mit einem demokratischen Männerwahlrecht, einer Bejahung des neuen sozialen Interventionsstaats sowie mit Weltmachtstreben und der zunehmend nationalistischen Einfärbung bildungsbürgerlicher Liberaler stand hier ein Modell zur Debatte, das den politischen Leitvorstellungen baltischer Liberaler scharf widersprach. Die Progressivität des deutschen Modells lieferte den baltischen Liberalen – ähnlich wie den russischen Kadetten – eher einen Anlaß, bei der Suche nach Vorbildern über den Kanal zu schauen. Die Problematik des baltischen Liberalismus, daß er auf nationalpolitischer Ebene ein progressives Gesellschaftsbild vertrat, in verfassungs- und agrarpolitischer Hinsicht hingegen einem gemäßigten, traditional eingefärbten Liberalismus das Wort redete, wird vor allem im Vergleich mit den gleichzeitig gegründeten lettischen und estnischen Parteien deutlich. Alle autochthonen Parteien, ob konservativ, demokratisch oder sozialdemokratisch, waren national ausgerichtet.101 In ihrer Forderung nach Selbstverwaltung und nach bürgerlichen und politischen Freiheiten unterschieden sie sich kaum von der Baltischen Konstitutionellen Partei. Unterschiede wurden zunächst in der Frage politischer Partizipation sichtbar. Mit Ausnahme konservativer Gruppierungen verlangten sämtliche Parteien der autochthonen Bevölkerung ein allgemeines, gleiches Wahlrecht, das sich auch auf Frauen erstrecken müsse. Unüberbrückbar wurden die Fronten vor allem, was die Kernprobleme der baltischen Region anging: der Nationalitätenkonflikt und die Agrarfrage. Bereits die Forderung sämtlicher estnischer und lettischer Parteien nach der Trennung der Selbstverwaltung Kurlands, Livlands und Estlands in ein lettisches und ein estnisch besiedeltes Bevölkerungsgebiet stand zur deutschbaltischen Vorstellung einer regionalen Konsensgemeinschaft im Widerspruch. Ebenso manifestierte sich die nationalistische Ausrichtung der autochthonen Parteien in der Forderung nach dem offiziellen Gebrauch des Lettischen bzw. Estnischen in Selbstverwaltung, Schule und Gericht. Das Recht auf muttersprachlichen Schulunterricht sprachen sie dabei nur sich selbst zu, deutsche Kinder sollten es hingegen in selbstfinanzierten Privatschulen genießen,102 was mit dem Argument der Zahl begründet wurde: »Nach objektiven Daten gibt es nur 9 bis 10% Ausländer im Baltikum, was bedeutet, daß in Lettland und Estland von einer ethnisch homogenen Bevölkerung gesprochen werden kann. 100 Vgl. G. Eley, Liberalismus 1860–1914. Deutschland und Großbritannien im Vergleich, in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrhundert, S. 260–276, hier v.a. S. 272ff. 101 Vgl. Ronis, Latviešu buržuāzijas politika. Die Programme sind in den Zeitungen der jeweiligen Flügel, Rīgas Avize, Latvija, Dzimtenes Vēstnesis, Jaunas Dienas Lapa, abgedruckt. 102 Vgl. Baltijas Vēstnesis, 24.11.1905: »Lettisch muß in der Bildung, in der lokalen Administration und vor Gericht dominieren. Das bedeutet nicht, daß man den Deutschen den Gebrauch ihrer Sprache in der Schule verbietet, aber nur mittels privater Förderung … In keinem Land kann eine so winzige Minderheit solche Ausnahmerechte fordern.«

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Die Folge dessen ist, daß die Einwohner das natürliche Recht haben, ihre nationalen Interessen für die dominierenden zu halten und sie an die Spitze zu stellen.«103 Die Fragwürdigkeit dieser Zahlenarithmetik im städtischen Raum, wo deutsche, russische, polnische und jüdische Minoritäten oft mehr als 50% der Bevölkerung ausmachten, fand in einer Zeit nationaler Emphase nirgendwo Eingang in den politischen Diskurs. In der Agrarpolitik schließlich traten die demokratischen Parteien der Letten und Esten für die Abschaffung sämtlicher Adelsprivilegien sowie für die Zwangsenteignung von Großgrundbesitz ein, wogegen sich konservativere Gruppierungen mit der vagen Formulierung nach ›gerechtem Ausgleich‹ auf der Basis von Entschädigung begnügten.104 Die radikale Divergenz der Interessen zwischen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung und einer fremdnationalen Oberschicht schuf politische Erwartungshorizonte, die kaum vereinbar schienen. Letten und Esten versprachen sich von der Konstitutionalisierung Rußlands die Chance, politische und kulturelle Selbstständigkeit innerhalb eines föderalisierten Reichs durchzusetzen. Dieses Programm zielte vor 1917 nicht auf staatliche Selbstständigkeit, wohl aber auf größtmögliche Autonomie wie die populäre Losung ›ein freies Lettland in einem freien Rußland‹ verdeutlicht.105 Die deutschen Eliten dagegen sahen sich durch die Erfahrung von Revolution und Konstitutionalisierung dazu gezwungen, die tradierten ständischen, regionalen und historischen Leitvorstellungen neu zu reflektieren und einen nichtständischen und übernationalen, aber der gedachten Einheit der Region verpflichteten Ordnungsentwurf vorzulegen, der den demokratischen Nationsbegriff der Letten und Esten gleichsam neutralisieren sollte. Ein regionaler Liberalismus, wie ihn die Trägerschichten der Baltischen Konstitutionellen Partei vertraten, war ihre spezifische Antwort auf die Problematik der multiethnischen Lebenswelt. Diese unterschiedlichen Zielvorstellungen verweisen auf ein Problem liberaler Gesellschaftsbilder in multiethnischen Räumen, das der westeuropäische Liberalismus zunächst kaum kannte: Während im französischen Liberalismus der ›grande révolution‹ oder in der deutschen Verfassungsbewegung der Jahrhundertmitte Liberalismus und Nationalismus eine weitgehend progressive Verbindung eingingen, traten die Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung und nach Gewährung bürgerlicher und politischer Freiheiten in einer multiethnischen Region wie der baltischen eklatant auseinander. Diese Problematik war auch ein Resultat zeitlicher Verschiebungen, welche im östlichen Europa dazu führten, daß konstitutioneller Liberalismus und ethnischer Nationalismus gleichzeitig aufeinander stießen, während sie im westlichen Europa tendenziell 103 Ebd. 104 Balss, 18.11.1905; Latvija 3.1.1906. Vgl. auch Raun, Estonia, S. 83–86. 105 Vgl. Leo Dribins, Nationalismus als soziokulturelle Emanzipation. Die Letten 1880– 1918, in: v. Hirschhausen u. Leonhard, Nationalismen in Europa; Raun, Estonia, S. 85, der vom »demand for Estonian national autonomy« spricht.

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aufeinander folgende Phänomene bildeten. Der übernationale Liberalismus der deutschbaltischen Minderheit war für den ethnischen Nationsbegriff der lettischen und estnischen Mehrheitsvölker vor 1914 nicht mehr diskutabel. Baltische, lettische und estnische Interessen waren endgültig auseinander gefallen. Das belegt auch die mangelnde soziale Integrationskraft des liberalen Programms. Etwa 10 000 Menschen scheinen im Jahrzehnt vor 1914 dem organisierten baltischen Liberalismus angehört zu haben.106 Darunter befanden sich fast nur Deutsche, die 95% der Mitglieder ausmachten. Russen waren mit rund 3%, Letten mit etwa 2%, Juden kaum vertreten.107 Das erklärte Ziel der BKP, durch ihr Konzept nationaler Gleichberechtigung über die ethnische Segmentierung hinweg zu integrieren, erwies sich als völliger Fehlschlag. Das Postulat einer Klasse und ›Nationalität‹ gegenüber indifferenten Integration wurde von den nationalisierten Klassengesellschaften der Letten und Esten harsch zurückgewiesen: »Eine jede Partei kann nur auf einer Gemeinsamkeit wirtschaftlicher oder nationaler Interessen begründet werden. Diese Interessengemeinschaft wird der neuen Partei (der BKP) augenscheinlich fehlen, da sie nicht nur alle Nationalitäten zusammenwirft, sondern auch Klasseninteressen, die in unserem jetzigen Leben doch eine so große Rolle spielen.«108 Nicht nur übernational wollte dieser Liberalismus integrieren, sondern auch in sozialer Hinsicht. Ließ sich dieses Ziel zwar nur noch innerhalb des deutschen Milieus verfolgen, so war die BKP dabei sichtlich erfolgreicher, wie die soziale Struktur ihrer Mitglieder zeigt. Tab. 19: Soziale Zusammensetzung der Baltischen Konstitutionellen Partei 1906 Berufliche Zugehörigkeit Freie Intelligenz Beamte Industrie/technische Berufe Handel/Gewerbe Handwerk Landwirtschaft ohne Angabe Insgesamt

Anteil in Prozent 14,3 4,0 30,3 34,5 8,9 2,8 5,2 100,0

106 Quelle s. Anm. 3. Die BKP verzeichnete Ende 1906 rund 7 800 Mitglieder, eine Zahl, die bis 1914 weitgehend gleichblieb. Für ihre Schwesterparteien, die monarchisch-konstitutionelle Partei Kurlands, die konstitutionell-liberale Partei Libaus und die konstitutionelle Partei Estlands, lassen sich Mitgliedszahlen nur schätzen. Die Zahl von 10 000 Mitgliedern entsprach etwa einem Viertel der männlichen deutschen Bevölkerung in den Ostseeprovinzen. 107 Quellen für diese Angabe und für die folgende Tabelle: Bericht über die Tätigkeit 1906, S. 6. Daß die Tätigkeit der BKP sich primär auf Riga und Livland erstreckte, mag für den fehlenden Anteil der Esten mitverantwortlich sein. Für die Schwesterparteien existieren m.W. keine entsprechenden Quellen. 108 Baltijas Vēstnesis 26.10.1905.

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Angehörige von Handel und Industrie dominierten, doch das neue Modell eines baltischen Liberalismus, der gerade im sozialpolitischen Bereich vergleichsweise progressiv agierte, vermochte keineswegs nur Großkaufleute und Industrielle anzuziehen. Vielmehr dominierten in den beiden Hauptsektoren die Unselbständigen, nämlich im Handel die kaufmännischen Angestellten (21,8 von 34,5%) sowie im industriellen Sektor Gesellen und Arbeiter (23,8 von 30,3%). Die insgesamt breite Palette städtischer Berufssektoren belegt, daß das Ziel des Liberalismus, über die bislang starren Standesgrenzen hinaus politische Einheit zu stiften, durchaus erfolgreich war, »daß zum ersten Mal in Livlands Geschichte ein großer Kreis von Männern aller Berufszweige, ohne Rücksicht auf ihren Stand … zu gemeinsamem politischen Streben sich verbunden hat.«109 Die Begrenztheit des baltischen Liberalismus auf ein deutsches und primär städtisches Milieu zeigte sich auch in den Wahlergebnissen zur russischen Reichsduma. In den Wahlen zur ersten und zweiten Reichsduma (1906/07), die auf der Basis eines annähernd allgemeinen und gleichen Wahlrechts stattfanden, blieb die BKP erfolglos. Ihre Wahlergebnisse waren angesichts der zahlenmäßigen Minorität der Deutschen jedoch erstaunlich gut. 1906 vermochte die BKP beachtliche 37% aller Rigaer Wahlberechtigten für ihr Programm zu gewinnen, in ganz Livland waren es 21%.110 Die Dumawahlen des Jahres 1907 fanden nach einem grundlegend veränderten Wahlmodus statt, welcher ethnische Russen, Grundbesitzer und städtisches Besitzbürgertum deutlich bevorzugte und der BKP zur Entsendung von sieben Abgeordnete in die Dritte Allrussische Duma (1907–1912) verhalf. Die Wahlergebnisse zeigen, daß der liberalen Bewegung im baltischen Raum erst aus einem undemokratischen Wahlrecht, das wirtschaftliche Unabhängigkeit einseitig favorisierte, überhaupt noch Handlungschancen erwuchsen, wogegen der »politische Massenmarkt« (H. Rosenberg) sie hier, wie in ganz Europa, entscheidend geschwächt hatte. Der baltische Liberalismus, wie ihn die BPK vertrat, entfaltete seine Wirkung primär im kommunalen Raum und förderte dort einen beeindruckenden Munizipalsozialismus zutage, den die Anlayse der lokalen Politik dokumentiert hat. Wie aber ließ sich das regionale Konzept eines baltischen Liberalismus auf der Reichsebene umsetzen, die ihm a priori nur einen minimalen Gestaltungsspielraum bot? Zunächst ging es für die deutschbaltischen Abgeordneten, die 1907 in die dritte Reichsduma gewählt wurden, darum, ihre Position durch den Anschluß an eine der großen russischen 109 Bericht über die Tätigkeit 1906, S. 73. 110 In Riga kandidierten die BKP-Kandidaten in den Wahlen zur ersten Duma 1906 auf einer gemeinsamen Liste mit den lokalen russischen Oktobristen. In den Wahlen zur II. Duma erhöhten sich die Ergebnisse noch einmal leicht, in Livland auf 23%.

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Parteien zu stärken.111 Eine solche Verbindung bedeutete auch einen symbolischen Bruch mit der langen Tradition, sich durch die Beschwörung regionaler Autonomie von allen innerrussischen Entwicklungen zu distanzieren. Hatte sich die Loyalität als Untertan meist auf die Treue zur Monarchie beschränkt, generierte die Stellung als Staatsbürger einen neuen Loyalitätsbezug, der seinen Fluchtpunkt nicht nur in der Person des Zaren, sondern auch im konstitutionalisierten Reich fand: »Die BKP soll durch die Anlehnung an eine große, ihr politisch verwandte russische Partei beweisen, daß wir keine Sonderbewegung verfolgen, sondern als Staatsbürger des russischen Reiches mitteilnehmen an den Sorgen des gemeinsamen Vaterlands.112 Nahe lag eine Verbindung mit den russischen Kadetten, deren föderalistisches Reichsverständnis und deren Standpunkt in der Nationalitätenfrage dem Programm der BKP weitgehend entsprach. Doch die ideologische Offenheit der Kadetten nach links, die sich vor allem in der Forderung nach Zwangsenteignung des Großgrundbesitzes manifestierte, wirkte auf die baltischen Liberalen abschreckend. Die Entscheidung, sich ungeachtet erheblicher programmatischer Unterschiede den Oktobristen anzuschließen, welche ein zentralistisches Reichsverständnis vertraten, war vor allem äußeren Faktoren wie der Organisationsstruktur und den Trägerschichten geschuldet und sollte sich bald als fragil erweisen.113 Eigentliche baltische Fragen kamen in der Reichsduma vor 1914 nicht zur Diskussion. In augenfälliger Weise nahmen die deutschbaltischen Abgeordneten jedoch zu zwei zentralen Problemen der Nationalitätenpolitik Stellung, welche die Duma bis an den Rand der Auflösung erschüttern sollten: der Frage der Autonomie Finnlands sowie der Einführung nationaler Wahlkurien in den westlichen Provinzen Rußlands.114 An ihnen läßt sich die nationale Wirkungskraft des baltischen Liberalismus am klarsten illustrieren. Die Wurzel der finnischen Frage lag darin, daß Finnland seit 1809 durch Personalunion mit dem russischen Zarenreich verbunden war, seine 111 Neben den 7 Deutschen, die bis auf einen den konstitutionell-demokratischen Parteien Kurlands, Estlands und Livlands angehörten, wurden 2 Letten, 2 Esten und 1 Jude gewählt, die sich den Kadetten, den Progressisten und der Sozialdemokratie anschlossen. 112 Rigasche Rundschau, 2.9.1909. 113 Vgl. Paul Schiemanns Beobachtung bereits in der Gründungsphase der russischen Parteien, z.B. zu den Kadetten: »Trotz seiner radikalen Färbung, namentlich auf dem Gebiet der Agrargesetzgebung, dürfte dieses Programm in vielen Punkten auch bei uns Anklang finden.« Die ›Einheit und Unteilbarkeit Russland‹, welche die Oktobristen proklamierten, impliziere dagegen »eine Bekämpfung der Autonomie für einzelne Teile des Reiches vom Gesichtspunkte der allrussischen Zentralisierung. Es liegt die Gefahr nahe, daß diese Richtung leicht eine aggressive und panslavistische Färbung erhält, die deshalb bei uns wohl wenig Symphatie finden dürfte.« in: Rigasche Rundschau, 8.11.1905. Vgl. zu den Parteien v.a. Hosking; Emmons; Hagen, politische Öffentlichkeit. 114 Vgl. Hagen, Nationalitätenproblem Russlands; Avrech.

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innere Gesetzgebung aber weitgehend unabhängig auf einem finnischen Landtag regelte.115 Durch das Manifest vom 17. Oktober 1905, mit dem der Zar seine bislang autokratische Macht mit den neuen Institutionen der Duma und des Reichsrats zu teilen versprach, erhob sich die Frage, ob die neue Gewaltenteilung sich auch auf Finnland erstrecken müsse. Während die Finnen, ähnlich wie die föderal orientierten russischen Kadetten, der Ansicht waren, daß »Finnland einen selbständigen staatlichen Organismus bilde, der mit dem Reich nur durch ein inneres organisches Band verbunden ist, [nämlich] dadurch, daß an der Spitze beider Länder derselbe Monarch steht«,116 vertraten der Ministerpräsident Stolypin sowie die gesamte nationalistische Rechte und Teile des Zentrums die Anschauung, daß Finnland ein »inkorporierter Bestandteil des einigen und untrennbaren russischen Staats« darstelle. Nur die Übertragung der russischen Gesetzgebung auf Finnland könne daher die »staatlichen Interessen Russlands« sichern.117 Diese Sichtweise manifestierte sich schließlich in dem Gesetzesentwurf, den Stolypin der Duma im Mai 1910 vorlegte. Er sah vor, daß sämtliche legislativen Kompetenzen über Budget, Wehrpflicht, Bildung, Währung und Verkehr sowie über die Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit der russischen Legislative zu überantworten seien. Nicht zu Unrecht urteilte Paul Schiemann in der ›Rigaschen Rundschau‹, dem Organ der Baltischen Konstitutionellen Partei, daß »ganz abgesehen also von allen staatsbürgerlichen Bedenken … es vom Nützlichkeitsgesichtspunkte aus als verfehlt angesehen werden (muß), wenn die Vertreter der russsischen Staatsidee lediglich vom imperialen Gleichmacherideal aus eine Verschmelzung mit Finnland anstreben, die weder Finnland noch dem Reiche irgendwelchen Nutzen bringen kann.«118 Die überaus heftige Debatte, angeheizt durch die Petitionen europäischer Parlamentarier zugunsten Finnlands, fand ihren Höhepunkt in den großen Reden der Kadetten Maklakov und Miljukov sowie Alexander Baron Meyendorffs, der als Abgeordneter Kurlands dem linken Flügel der Oktobristen angehörte, zuvor BKP-Mitglied gewesen war und zum zweiten Vizepräsidenten der Reichsduma gewählt worden war.119 Bereits zu Beginn der Debatte hatten sämtliche deutschbaltischen Abgeordnete erklärt, daß sie gegen 115 Vgl. auch Schweitzer. 116 Aus der Rede der finnländischen Delegation, die gemeinsam mit 5 russischen Abgeordneten mit einem Gesetzesentwurf zur Regelung der Frage betraut worden war. Der am österreichischen Modell orientierte Vorschlag der Finnen gelangte indes nie in die Duma, nur derjenige der russischen Kommissionsmitglieder; Rede abgedruckt in Rigasche Rundschau, 2.11.1909. 117 Stenografičeskie otčety Gosudarstevennoj Dumy, III, 4, S. 2032ff. Vgl. auch Hagen, Nationalitätenproblem Rußlands, S. 100ff. 118 Ebd., 14.11.1909 119 Vgl. Hagen, Alexander Baron Meyendorff.

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die Finnlandvorlage stimmen würden, da sie »die Annahme des Gesetzes als mit dem Reichsinteresse widersprechend betrachteten« und um Entbindung vom Fraktionszwang bäten.120 Meyendorff begründete diese Haltung in einer großen Rede kurz vor der Abstimmung damit, daß die Verletzung der historischen Autonomie Finnlands durch ›strategische Interessen‹ das föderale Grundprinzip des Vielvölkerreichs in Frage stelle: »Sie wünschen die Rechte Finnlands niederzureißen und sehen darin ein nationales Denkmal. Ich wünsche aber nicht, mit Ihnen die Verantwortung hierfür zu teilen.«121 Als es schließlich Ende Mai 1910 zur Abstimmung kam, verließen die Kadetten, die Progressisten und die gesamte linksradikale Opposition aus Protest gegen das »unwürdige Schauspiel« (Miljukov) den Saal – begleitet von sämtlichen deutschbaltischen Abgeordneten. Die im Saal verbliebenen Rechten und Oktobristen ließen den Entwurf mit knapper Mehrheit durchkommen – begleitet vom triumphierenden Ruf des radikalen Nationalisten Puriškevič: »Finis Finlandiae!« Exemplarisch illustriert auch die Debatte über die Einführung der Zemstvo, der lokalen Selbstverwaltung, in den russischen Westprovinzen (1910/11), wie deutschbaltische Liberale ihr regionales Konzept einer ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ auf Reichsebene umzusetzen suchten. In den russischen Westprovinzen bildeten polnische Gutsbesitzer die kulturelle, soziale und in begrenztem Maße auch politisch dominierende Oberschicht, wogegen das Gros der Bevölkerung aus Weißrussen, Ukrainern und Litauern bestand. Russen waren nur in Militär und Bürokratie sowie als meist abwesende Gutsbesitzer vertreten. Das Kernmotiv Stolypins, auch in diesen Gebieten die Zemstvo zu etablieren, eine lokale Selbstverwaltung, die Alexander II. 1864 im Inneren Rußlands eingeführt hatte, gründete zum einen im ursprünglichen Zemstvogedanken, breitere Kreise der ständischen Gesellschaft zur lokalen Verwaltung heranzuziehen, zum anderen aber darin, der russischen Bevölkerung dabei die Vormacht zu sichern. Da eine unveränderte Übertragung den politischen Einfluß der Polen massiv verstärkt hätte, entschied sich Stolypin für eine gravierende Änderung: Die Träger der Selbstverwaltung sollten nicht mehr wie bisher aus ständischen Wählerversammlungen her120 Erklärung der deutschbaltischen Abgeordneten im Oktoberverband, abgedr. in: Rigasche Rundschau 22.5.1910 121 Rede Meyendorffs am 24.5.1910, abgedr. in: Rigasche Rundschau, 25.5.1910. Vgl. auch die Russkoe Slovo, die auflagenstärkste Tageszeitung Rußlands am 25.5.1910: »In der Abendsitzung der Duma zog besondere Aufmerksamkeit auf sich die Rede von Aleksandr Feliksovič Meyendorff, die sich auf gründliches Studium der Materie gründete. Der starke Enthusiasmus des Redners beeindruckte die Duma sichtlich. Es herrschte eine Stille, wie man sie im Weißen Saal seit langen nicht erlebt hat. Sogar die Rechten verhielten sich still … Nach allgemeinem Urteil hat die Rede dieses Oktobristen stärker auf das Gesetz eingeschlagen als alle vorherigen Reden der oppositionellen Sprecher.«, zitiert nach Hagen, Alexander Baron Meyendorff, S. 600.

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vorgehen, sondern ausschließlich aus nationalen Wahlkurien, um »den russischen Stimmenanteil zu isolieren und stabilisieren.«122 Der überaus komplizierte Entwurf, den Stolypin der Duma Ende März 1910 vorlegte, verflocht nationale und soziale Kriterien in einer Weise, welche Juden von der Beteiligung ausschloß und die polnischen Gutsbesitzer massiv schwächte, dagegen der ukrainischen und weißrussischen Landbevölkerung und den wenigen Russen den entscheidenden Einfluß zugestand sowie den orthodoxen Klerus überproportional bevorzugte. In seiner Vorstellung des umstrittenen Projekts nannte Stolypin noch einmal die Motive seines Vorgehens, indem er die Regierung als Vertreterin eines »nationalrussischen Herrschaftsanspruchs« bezeichnete, die »nicht unparteiischer Schiedsrichter … in dem russischen und polnischen Wettkampf« sein dürfe.123 Mit seinem Plädoyer, daß »die landschaftliche Idee der staatlichen Idee untergeordnet werden muß«, illustrierte Stolypin, daß die russische Regierung spätestens jetzt auf den Kurs eines »ideologischen Staatsnationalismus« (Theodor Schieder) eingeschwenkt war, der in westeuropäischen Nationalstaaten ebenfalls an der Tagesordnung war.124 Während die heftig debattierte Vorlage mit den Stimmen der Rechten und der Mehrheit der Oktobristen einen Tag nach dem Finnlandgesetz durchging, stimmten die baltischen Abgeordneten gemeinsam mit den Kadetten, der Linken und einer Minderheit der Oktobristen dagegen: »Die Teilung russischer Staatsbürger in ›wahrhafte‹ Russen und Fremdstämmige ist ein Prinzip, das nie und nimmermehr etwas anderes als Unfrieden erzeugen kann«, kommentierte Paul Schiemann in einem Leitartikel.125 Als der Reichsrat das Gesetz im März 1911 ablehnte, um Stolypin zu schwächen, veranlaßte der Ministerpräsident mit einer Notstandsverordnung die kurzfristige Auflösung beider Kammern, um das Gesetz durchzubringen. Dieser de-facto-Staatsstreich löste in der gesamten Duma Empörung aus und beendete die Zusammenarbeit zwischen Stolypin und den Oktobristen. Es war wiederum Meyendorff, der herausragende Repräsentant des baltischen Liberalismus, der den Verfassungsbruch Stolypins zum Anlaß nahm, auf die Unvereinbarkeit zwischen einem national indifferenten Reichsverständnis und der Vorstellung eines ethnisch definierten Nationalstaats hinzuweisen: »Ein Staat, der aus einer Familie von Völkern besteht, muß das monarchische Prinzip besonders hochhalten. In dem Augenblick, da die Regierungsgewalt in einem solchen Staat beginnt, sich ausschließlich vom Gefühl gewisser Gruppen der Bevölkerung leiten zu lassen … da ein bedeutender Teil der Bevölkerung zu Gewalt122 Hagen, Nationalitätenproblem Rußlands, S. 57. 123 Rede Stolypins, abgedr. in: Hagen, Nationalitätenproblem Rußlands, S. 59ff. sowie in Rigasche Rundschau ,8.5.1910, dort auch das nächste Zitat. 124 Vgl. Schulze, Staat und Nation, v.a. S. 243–277. Vgl. auch Asher, Stolypin, S. 327ff. 125 Leitartikel Paul Schiemanns, ›Selbstverwaltung und Nationalismus‹, in: Rigasche Rundschau 13.5.1910.

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maßnahmen gegen andere übergeht, wird jene Macht, die ausschließlich dem nationalen Instinkt dient, verloren sein, weil derselbe nationale Instinkt kommen und sagen wird: Wir haben dich nicht länger nötig, wir werden ohne dich regieren. Mir scheint, daß das monarchische Prinzip eine Staatsidee in reinerer Form in sich schließt, die höher steht als die nationale Idee.«126 Im Zuge des Rechtsrucks, den das russische Parteienspektrum nach Einbringung des Finnlandgesetzes und der nationalen Wahlkurien durchlief, orientierte sich die BKP zunehmend nach links, zumal »unsere Abgeordneten in allen wichtigen Fragen mit den sogenannten Linksoktobristen und Progressisten gegangen sind und genötigt waren, in einen gewissen Gegensatz nicht nur zum rechten Flügel, sondern mehrfach auch zum Zentrum der Fraktion zu treten.«127 Die Folge dieser Neuorientierung war, daß sich die gegnerischen Pole allmählich verschoben. Hatten sich die baltischen Liberalen in ihrer Gründungsphase gleichermaßen gegen Demokratie und Nationalismus abgegrenzt, so wurde der Gegner der »auf dem Liberalismus basierenden nationalen Toleranz«128 zunehmend auf der Rechten gesehen: »Die Front aller Patrioten muß nach rechts gerichtet sein. Der Nationalismus, die offene Reaktion und der Klerikalismus – sie sind unsere Feinde.«129 Die wenigen parlamentarischen Vertreter des baltischen Liberalismus konnten die staatliche Diskriminierung ausgewählter ›Fremdstämmiger‹ (inorodcy) nicht verhindern. Wie sie ihren Handlungsspielraum auf nationaler Ebene nützten, zeigt jedoch, daß das Konzept dieses Liberalismus nicht auf die baltische Region beschränkt blieb, sondern ebenso auf andere multiethnische Räume übertragbar erschien. Die Absage baltischer Liberaler gegenüber dem Versuch, staatliche Interessen mit nationalen Interessen gleichzusetzen, verweist auf die Vielfalt liberaler Entwicklungsmuster in Europa, wie gerade der Blick auf Deutschland illustriert. Denn die Nationalitätenpolitik Rußlands im Jahrzehnt vor 1914 mit ihrer staatlich geförderten Diskriminierung ausgewählter ›Fremdstämmiger‹ wies viele strukturelle Ähnlichkeiten zur Ausgrenzung von ›Reichsfeinden‹, insbesondere der Polen, im deutschen Kaiserreich auf. Während die deutschen Nationalliberalen solche Exklusionsversuche mit ihren Stimmen unterstützten, lehnten baltische Liberale ebenso wie die russischen 126 Meyendorffs Rede in: Stenografičeskie otčety Gosudarstevennoj Dumy, Bd. IV, 3, S. 3015; partiell abgedruckt in Rigasche Rundschau, 30.4.1911. Vgl. aus derselben Rede: »Die Existenz Rußlands hängt [nicht von diesen Gesetzen, sondern] von etwas anderem ab, und zwar davon, wie weit die Staatsidee innerlich mit dem Volke verwachsen ist … Die Erschütterung des Gesetzlichkeitsgefühls ist eine unserer Hauptgefahren, wo dieses Gefühl bei uns so gering ist. Wenn sie heute Maßnahmen verwirklichen, weil sie 6 Millionen gefallen, so werden sie morgen 6 Millionen vernichten, weil es den 120 Millionen so genehm sein wird; und werden auf diese Weise dieses Spiel bis in die Unendlichkeit treiben.« 127 Rigasche Rundschau 2.6.1912. 128 Ebd., 15.11.1911. 129 Ebd., 13.6.1912.

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Kadetten, die staatliche Diskriminierung ethnischer Minderheiten ab. Dieses Verhalten dokumentiert, daß liberale Prinzipien von der Rechtsgleichheit aller Bürger und dem Anspruch auf kulturelle Selbstbestimmung hier nicht, wie in vielen liberalen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, zugunsten der vermeintlichen Sicherung ›nationaler‹ Interessen zurückgedrängt wurden, sondern auf regionaler wie auf Reichsebene aufrechterhalten wurden. Ging der Liberalismus in ethnisch einheitlichen Räumen Europas mehr und mehr in der Vorstellung eines national homogenen Machtstaats auf, so verweist das baltische Beispiel darauf, daß Liberalismus und Nationalismus in multiethnischen Räumen zunehmend auseinander fielen.

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IV. Die Realisierung der Zivilgesellschaft und ihre Grenzen

Die Fülle an Vereinen, Klubs und Assoziationen, die Riga um die Jahrhundertwende aufwies, hatte den aus der Hauptstadt entsandten russischen Beamten Petr Ruckij in erhebliches Erstaunen versetzt. Auf der Suche nach den Gründen dieses Phänomens kam er zu folgendem Ergebnis: »Das Leben in kleinen Vereinen und Gesellschaften, in Kreisen und Kooperationen, hat in dem mehrsprachigen baltischen Gebiet schon lange Wurzel geschlagen, von der obersten Schicht der Bevölkerung, dem Adel, bis hin zur untersten Schicht, den Bauern, wie nirgendwo sonst in ganz Rußland. Jeder Stand, jede Nationalität, jede Art von Arbeit und Vergnügen, ob geistig oder körperlich – alles strebt hier nach einem abgeschlossenen Leben in seiner besonderen Nische. Das Gute an allen hiesigen Vereinen, Kassen und Korporationen ist das Prinzip der Selbsthilfe, das die Grundlage der Existenz bildet.«1 In der Tat wies die baltische Stadt eine Dichte an Vereinen mit politischen und sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Zielsetzungen auf, die dem bisherigen Eindruck einer schwachen Vergesellschaftung im Zarenreich widerspricht. Bereits den Zeitgenossen waren wesentliche Gründe dieser Besonderheit nicht verborgen geblieben. Die ins Mittelalter und in die Frühe Neuzeit zurückreichende Tradition ständischer Selbstverwaltung und die lange ›Abwesenheit des Staates‹ (Reinhard Wittram) hatten dazu geführt, daß das deutsche Stadtbürgertum auf die Ideen der Auf klärung mit einer Welle von Vereinsgründungen reagierte, die zunächst die Überbrückung ständischer Gräben zum Ziel hatte. Der rege Kulturtransfer aus Westeuropa und die engen persönlichen Verbindungen zumal nach Deutschland regten zur Übertragung der dortigen Modelle an: »Ein charakteristischer Zug im rigaschen Leben jener Tage läßt sich darin finden, daß es gewissermaßen zur Stellung des Vollbürgers, des civis Rigensis gehörte, in Ämtern und Vertrauensstellungen, in den zahlreichen Stiftungen oder in den Vereinen, auch ohne Entschädigung zum Gedeihen der Vaterstadt beizutragen.«2 1 Ruckij, S. 1. Vgl. dort weiter: »Diese Lebensweise kommt nicht aus dem Nichts. Was Adel und Bürgertum betrifft, so entstand dieses Vereinsleben durch historische Traditionen und Besonderheiten der Volksstämme, und nahm seinen Anfang im Dunkel des Mittelalters, als diese Ordnung in Westeuropa ihre Blütezeit erlebte.« 2 Busch, S. 190.

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Waren die Träger dieses Assoziationswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausschließlich Deutsche gewesen, begannen Letten, Russen und Juden seit der Jahrhundertmitte das deutsche Vorbild zu imitieren und ihre Interessen ebenfalls in eigenen Vereinen zu verfolgen.3 Neben der Arena der Politik war es die lokale Vereinskultur, welche die Milieubildung maßgeblich vorantrieb. Der Verein war der Ort, wo der Einzelne sich zunehmend als Lette, Deutscher, Russe oder Jude fühlte, hier wurde die Geselligkeit ethnisch markiert, hier entstand das Milieu.4 Ihren Höhepunkt fand die städtische Vereinsseligkeit im Jahrzehnt vor 1914, wo dem Assoziationswillen der Gesellschaft von staatlicher Seite kaum mehr Einhalt geboten wurde. Das Rigaer Adressbuch des Jahres 1914 verzeichnete fast 700 Vereine und Assoziationen unterschiedlichster Art, was den Stadtsekretär Nicolai v. Carlberg zu dem Kommentar verführte, »dass wohl keine andere Stadt Russlands, vielleicht keine andere Stadt der Welt im Vergleich mit der Bewohnerzahl so reich an Vereinen aller Art (ist), wie unser Riga, nirgends ist das Vereinsleben so hoch entwickelt, so rege wie hier.«5 Diese lokale Vergesellschaftung in Vereinen, Assoziationen und Klubs ist von der Forschung bisher unberücksichtigt geblieben, obwohl gerade die neuen Demokratien Ostmitteleuropas an den Wurzeln ihrer liberalen Traditionen interessiert sind.6 Zwar wird pauschal von einer baltischen ›Sonderentwicklung‹ gesprochen, doch entsprechende Studien existieren nicht.7 Dabei ist die Forschung zu Assoziation und Geselligkeit, angestoßen durch die Öffnung der Archive, auch im Osten Europas in Gang gekommen und beginnt, die Deutung der Gesellschaft als ›staatlicher Veranstaltung‹ (Dietrich Geyer) zu hinterfragen. Unter dem Stichwort ›obščestvenost‹ (Gesellschaftlichkeit) werden gesellschaftliche Selbstorganisation und Eigentätigkeit, freilich in beschränktem Ausmaß, auch in den Städten Rußlands erkennbar.8 Die deutsche Forschung, die sich seit Thomas Nipperdeys bahnbrechendem Aufsatz »Verein als soziale Struktur« (1972) mit dem Vereinswesen als Signum für Bürger3 Die Entscheidung, welcher Verein erlaubt, welcher verboten wurde, lag in der Hand von Gouverneur und Innenministerium, was im übrigen Zarenreich meist zu einer rigide gehandhabten Politik der Ablehnung führte. In den Ostseeprovinzen mündete die Tatsache, daß der baltische Generalgouverneur oft aus dem herrschenden deutschbaltischen Adel kam oder ihm zumindest nahe stand, jedoch darin, daß kaum ein Versuch städtischer Vereinsgründung abschlägig beantwortet wurde. 4 Vgl. zum Vereinswesen als »Rückgrat der Milieuorganisation« Tenfelde, Historische Milieus. 5 Vgl. Carlberg, Armitstead als Sozialpolitiker, S. 41. 6 Ein Forschungsprojekt zum baltischen Vereinswesen ist von Jörg Hackmann, Universität Greifswald, in Angriff genommen worden, eine Publikation liegt noch nicht vor. Einige Verweise jetzt in Oberländer u. Wohlfart. 7 Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 119. 8 Vgl. zum Forschungsstand ebd., S. 116ff.

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lichkeit intensiv befaßt, beginnt sich heute vermehrt für die transnationale Verflechtung solcher Geselligkeit zu interessieren.9 Dieses Kapitel, das die Vereinslandschaft Rigas untersucht, nimmt solche Anregungen auf und verknüpft sie mit der Leitfrage dieser Studie nach den Auswirkungen von Multiethnizität. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht daher einmal, wie die konkurrierenden Denkfiguren und Leitvorstellungen praktiziert und popularisiert wurden und so ethnische Milieus entstehen ließen, wo bisher eine ständische Gesellschaft geherrscht hatte. Untersucht wird jeweils ein typischer Verein auf Vereinsziel, soziale Trägerschaft und kulturelle Praxis, wobei mögliche Bezüge und Anlehnungen an andere, meist westliche Modelle besondere Beachtung finden. Zum anderen interessiert die Konstruktion von Grenzen. Öffnungs- und Schließungsmechanismen sind von der Forschung zum Vereinswesen meist in sozialer und politischer Hinsicht thematisiert worden, wogegen die ethnische Dimension, manchmal aufgrund eines anderen Kontextes, meist keine Rolle spielte. In Riga entschieden sich die Zeitgenossen dafür, die Grenzen ihrer Vergemeinschaftung ethnisch zu bestimmen. Wie verlief dieser Prozeß? Traten bestehende Grenzen, etwa soziale oder konfessionelle, dadurch zurück? Änderten sich Grenzziehungen, beispielsweise in Krisenzeiten wie in der Revolution von 1905? Und konnten übernationale Ziele wie Gemeinwohl oder dynastische Loyalität dort verbinden, wo Ethnizität polarisiert hatte? Das dichte Assoziationswesen Rigas, das innerhalb des Zarenreichs Pioniercharakter beanspruchen kann und auf die strukturellen Unterschiede Ostmitteleuropas in Abgrenzung von Osteuropa hinweist, läßt sich als Fundament einer lokalen Zivilgesellschaft verstehen. Vorangetrieben durch die multiethnische Konkurrenz entstand hier seit der Jahrhundertmitte eine Gesellschaft, die auf städtischer Ebene ein Gegengewicht zum vermeintlich allumfassenden Staat bildete, die viele seiner Aufgaben übernahm, und in deren Agenturen, den Vereinen, Praktiken eingeübt wurden, die der politischen Partizipation und späteren Demokratisierung zugute kamen. Doch dem zivilgesellschaftlichen Merkmal einer erheblichen Selbstorganisation, welche die multiethnische Ausgangslage begünstigte, stehen ebenso erhebliche Barrieren gegenüber. Denn die Zeitgenossen entschieden sich dafür, die Grenzen ihrer Vergesellschaftung ethnisch zu markieren. Die vorliegende Analyse fördert mithin nicht nur das lokale Phänomen einer hohen Selbstorganisation zutage, das Gesellschaft hier tatsächlich zur ›lokalen Veranstaltung‹ machte und in der Geschichte Ostmitteleuropas weitgehend unbekannt geblieben ist.10 Es verweist darüber hinaus auf den engen, doch 9 Vgl. Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. 10 Vgl. Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung.

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zugleich ambivalenten Zusammenhang zwischen Multiethnizität und Zivilgesellschaft, den eine auf national homogene Gesellschaften konzentrierte Forschung bisher weitgehend außer Acht gelassen hat.

1. Die Praxis des Gemeinwohls und ihre Grenzen Von der Literärisch-praktischen Bürgerverbindung zum Deutschen Verein Wie die deutschbaltische Vorstellung eines ›städtischen Gemeinwohls‹ in der Praxis umgesetzt wurde, lässt sich an der 1802 gegründete Literärisch-praktischen Bürgerverbindung exemplarisch betrachten. Die Bürgerverbindung war ein typisches Kind der Auf klärung, deren Ideen im Rigaschen Stadtbürgertum auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Fragen nach der Ausbreitung von Humanität und Wissen sowie nach der »allmäligen Milderung der bis dahin streng eingehaltenen Standesunterschiede« waren zunächst in den entstehenden Freimaurerlogen diskutiert worden.11 Doch deren reichsweite Schließung setzte solchen Ansätzen ein baldiges Ende. In Anlehnung an die Hamburger Patriotische Gesellschaft gründeten drei Rigaer Theologen darauf hin die Bürgerverbindung, deren Ziel darin liegen sollte, »durch das gemeinschaftliche Bestreben einiger hiesiger Gelehrter, Geschäftsmänner, Künstler und Handwerker dem Publicum in unserer Stadt nützliche Dienste zu leisten. Die Gesellschaft kennt nämlich keinen anderen Zweck als den, gemeinnützige Kenntnisse an dem Orte unter ihre Mitbürger, denen es an Zeit, Kraft und Gelegenheit zur Erwerbung derselben fehlt, zu verbreiten.«12 Die Tätigkeit der Gesellschaft konzentrierte sich zunächst auf die Armenpflege und die Gründung von Schulen. In den 1860er Jahren weitete sich das Aufgabenfeld zunehmend aus, und die Bürgerverbindung begann eigene Vereine wie den populären Gewerbeverein zu gründen. Auch die Einrichtung der Statistischen Kommission, die 1866 der Stadtverwaltung angegliedert wurde, ging auf eine Initiative der Bürgerverbindung zurück. Im Dezember 1877 feierte die Bürgerverbindung ihr 75jähriges Bestehen. In den Reden des Festaktes, der im Beisein des Gouverneurs stattfand, wurde auf Geleistetes zurückgeblickt und die Notwendigkeit der Gemeinwohlorientierung auch für die Zukunft bestätigt: »Die Arbeit in der Bürgerver11 Julius v. Eckhardt, Die Freimaurerei in Riga, in: Rigascher Almanach für 1900, S. 5. 12 Verfassung und Gesetze der literärisch-praktischen Bürgerverbindung zu Riga 1803, Fonds 2557, apr. 2, Nr. 5, LVVA. Vgl. vor allem Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung. 1827 waren von 136 Mitgliedern 48% Literaten, 18% Kaufleute, 18% Handwerker, 10% Adlige und Militärs und 6% blieben ohne Angabe, ebd., S. 54.

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bindung ist eine Vorschule für spätere kommunale Tätigkeit. Sie lehrt die Mängel und Bedürfnisse unseres sozialen Lebens aus der Quelle kennen; sie schärft das Auge in der Auffindung von Mitteln. Sie schlingt das Band gemeinsamer Tätigkeit um die verschiedenen Stände und Berufsclassen und wirkt so einerseits dem verderblichen Kastengeist entgegen, während sie andererseits das Bewußtsein der Interessengemeinschaft in der gesamten Bürgerschaft Rigas befestigt und kräftigt.«13 Die Aktivität der Bürgerverbindung in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs belegt, wie das Leitprinzip vom ›Gemeinwohl‹ auch in einer Zeit erheblichen politischen und gesellschaftlichen Wandels umzusetzen versucht wurde. Großen Zuspruch fand zunächst eine 1870 eröffnete Volksküche, die von Bedürftigen aller ethnischen Gruppen frequentiert wurde. Das Angebot, diese Einrichtung gemeinsam mit dem gerade gegründeten Lettischen Verein zu führen, stieß jedoch auf Ablehnung, da dessen Mitglieder eine ähnliche Aktivität lieber gesondert betreiben wollten.14 Um der steigendem Frequenz der Volksküche nachzukommen, ließ die Bürgerverbindung 1902 einen Neubau errichten, in dem rund 1 700 Menschen täglich mit einer Mahlzeit versorgt wurden. Im sogenannten Magdalenenasyl wurden ehemalige Prostituierte sozial zu integrieren gesucht, eine 1878 errichtete Anstalt nahm sich geistig und körperlich behinderter Mädchen an, und 1894 gründete der Verein einen Kindergarten, in dem primär lettische Kinder betreut wurden. Der wachsende Zuspruch führte dazu, daß eine Stiftung in Höhe von 18 000 Rubel 1910 auf einen umfangreichen Neubau dieses Kindergartens verwandt wurde. Im Jahr 1912 waren 25 der insgesamt 80 Kinder Deutsche, der Rest überwiegend Letten, und als Unterrichtssprachen wurde deutsch und lettisch gleichermaßen benutzt. Oft führte die Orientierung an westlichen Modellen auch zu sozialpolitischen Experimenten. So diskutierte der Vorstand der Bürgerverbindung wiederholt den Bau von städtischen Sozialwohnungen. Eduard Hollander, Vorstandsmitglied der Bürgerverbindung und stellvertretender Bürgermeister, reiste persönlich zu Hermann Schulze-Delitzsch nach Berlin, um sich Anregungen zum Bau und Betrieb solcher Wohnungen zu holen. Die Vermietung dieser Wohnungen, die kurze Zeit später in der Nähe großer Fabriken errichtet wurden, erwies sich als schwierig, da diese neuartige Form von Unterstützung bei den Arbeitern auf Mißtrauen stieß. Das Projekt musste schließlich eingestellt werden. Auch die Eröffnung eines Obdachlosenasyls ging auf westliche Vorbilder zurück. Mehrere Besuche von Vereinsmitgliedern in Berliner Anstalten führten 1881 zur Eröffnung eines Asyls, das jährlich von etwa 15 000 Menschen benutzt wurde und 1913 einen 13 Zitiert nach Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung, S. 173. 14 Vgl. ebd., S. 140.

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Neubau im Wert von 82 000 Rubel erhielt. Pioniercharakter innerhalb des russischen Reiches wies die 1840 von der Bürgerverbindung übernommene Taubstummenanstalt auf, die auf ein 1809 eröffnetes Privatinstitut zurückging. Unter ihrem Leiter, einem aus der Schweiz berufenen Pädagogen, war die Anstalt zu großem Ansehen gelangt, zumal es im ganzen Zarenreich nur wenige solcher Anstalten gab. Die Zöglinge stammten aus den unterschiedlichsten ethnischen und konfessionellen Gruppen; 1886 waren 30% davon jüdische Kinder.15 Dem umfangreichen Legat des Rigaer Kaufmanns Alexander Schweinfurth war es zuzuschreiben, daß die Taubstummenanstalt 1899 einen modern ausgestatteten Neubau beziehen konnte, der etwa 70 000 Rubel gekostet hatte.16 Von den rein karitativen Einrichtungen der Bürgerverbindung hatte sich die staatliche Verwaltung bisher ferngehalten. Anders sollte das seit den 1880er Jahren in jenen Institutionen aussehen, die zugleich von der Leitvorstellung ›deutscher Kultur‹ geprägt waren. Denn auch im pädagogischen Sektor war die Bürgerverbindung überaus aktiv gewesen und begriff ihre Schulgründungen als »nothwendige und wertvolle Ergänzung der öffentlichen, von der Stadt mitunterhaltenen Unterrichtsanstalten.«17 Unbehelligt von der Einführung des Russischen als Unterrichtssprache blieben zunächst jene Anstalten, deren soziales Anliegen den Behörden wichtiger erschien als ihre kulturelle Prägung: die Taubstummenanstalt sowie die Blindenschule, welche die Bürgerverbindung ebenfalls ins Leben gerufen hatte. Dem Argument, daß hier nur in einer Sprache unterrichtet werden könne, verschlossen sich auch die russischen Beamten nicht, und Deutsch blieb die herrschende Sprache zwischen Schülern und Lehrern. Die ebenfalls von der Bürgerverbindung gegründeten Waisenschulen, in denen 1888 rund 180 Schüler erzogen wurden, sowie die Töchterschule mit 106 Schülerinnen waren von der Anordnung, die russische Unterrichtssprache einzuführen, aber direkt betroffen. Auf den entsprechenden Erlaß reagierte die Bürgerverbindung nach heftigen Diskussionen mit der Schließung beider Schulen. Zu stark widersprach die Denkfigur ›deutscher Kultur‹ dem staatlichen Primat einer russischsprachigen Erziehung, als daß die Mitglieder der Bürgerverbindung ihr Engagement hätten fortsetzen wollen. Vielmehr dürfe die Bürgerverbindung »nicht selbst mitwirken … an dem von der Regierung beabsichtigten Werke der Entnationalisierung, sich damit nicht in Gegensatz stellen zu ihrer ganzen Vergangenheit, (denn) es handele sich nicht nur um die deutsche Unterrichtssprache, sondern darum, daß an die Stelle der

15 Vgl. Busch, S. 155. 16 Vgl. Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung, S. 163. 17 Ebd., S. 119.

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alten deutschen Schule etwas ganz neues treten solle, wodurch das alte Wesen vernichtet werde.«18 ›Gemeinwohl‹ war eine Handlungsmaxime, die nicht nur vom Kern des Milieus praktiziert wurde, wie es die Bürgerverbindung konstituierte. Die zahlreichen Legate, Vermächtnisse und Stiftungen, die dem Verein aus dem wohlhabenden deutschen Stadtbürgertum zuflossen, belegen, daß sich weite Kreise des deutschen Stadtbürgertums mit dieser Vorstellung identifiziert hatten: »Wenn unser Riga sich aber eines weitverbreiteten Rufes der Wohltätigkeit und des Gemeinsinns erfreut, so hat zur Begründung dieses Rufs wesentlich die stete Bereitwilligkeit der Rigaer Kaufmannschaft beigetragen, sowohl zur Unterstützung gemeinnütziger Unternehmungen, wie zur Linderung der Noth … in liberalster Weise mitzuwirken.«19 Ein besonders generöses Beispiel solcher Praxis war die ›Sprostsche Dienstbotenstiftung‹ in Höhe von 120 000 Rubel, mit der die Bürgerverbindung Alterspensionen an Rigaer Dienstboten finanzierte. Das reiche Spendenauf kommen führte dazu, daß das Vermögen der Bürgerverbindung immer mehr anschwoll und 1913 mehr als eine halbe Million Rubel betrug.20 Im Dezember 1902 erging die Einladung zur Feier des 100. Jubiläums der Bürgerverbindung, der fast alle ihrer 657 Mitglieder folgten. In seiner Festrede verwies der gerade gewählte Bürgermeister George Armitstead noch einmal auf die Bedeutsamkeit ehrenamtlicher Wohltätigkeit zum Besten der Stadt: »Aber nicht das, was sie geschaffen, wurde an der Bürgerverbindung am höchsten gepriesen, sondern der Geist, aus dem heraus sie geboren ist, in dem sie gewirkt hat und in dem sie zu wirken gelehrt hat – der Geist des Gemeinsinns, der getreu dem Wahlspruch der Bürgerverbindung ›Nos Aliis!‹ an dem Wohl der Allgemeinheit freiwillig und unermüdlich mitarbeitete, ohne einen anderen Lohn dafür zu … beanspruchen als das Bewußtsein erfüllter Bürgerpflicht.«21 Die karitative Praxis der Bürgerverbindung dokumentiert, daß die deutschbaltische Leitvorstellung eines ›Gemeinwohls‹ sich in der Tat nicht auf partikulare Bedürfnisse wie die der eigenen Gruppe beschränkt hatte. Die zahlreichen Krankenhäuser und Schulen, Kindergärten, Anstalten oder Asyle, welche der Verein unterhielt, kamen überwiegend den Angehörigen anderer ethnischer Gruppen zugute. Seine Wurzeln hatte diese Ausrichtung im Traditionsbestand ständischpatriarchalischer Verantwortung gegenüber den bedürftigen Schichten der Bevölkerung. Angestoßen wurde die karitative Praxis aber auch durch das Unvermögen des Staates, diesen Aufgaben nachzukommen. Was der russi18 19 20 21

Ebd., S. 193. v. Stein, S. 145. Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung, S. 226. Die hundertjährige Jubelfeier der literärisch-praktischen Bürgerverbindung, S. 4f.

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sche Staat an sozialpolitischem Engagement nicht leisten konnte oder wollte, übernahm in Riga überwiegend das deutschbaltische Bürgertum. Stimuliert wurde dessen Experimentierfreude durch den regen kulturellen Austausch mit Ländern wie Deutschland, England oder der Schweiz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innovative sozialpolitische Konzepte ausarbeiteten und umsetzten.22 Die Möglichkeit von Reisen, persönlichem Austausch und Wissenstransfer, die dem deutschen Stadtbürgertum aufgrund von Sprachkenntnissen, persönlichen Beziehungen und materiellen Möglichkeiten zur Verfügung standen, kam dem sozialen Engagement der lokalen Gesellschaft erheblich zugute. Das sollte sich auch nach der Zäsur von 1905 nicht wesentlich ändern. Zwar führte die traumatische Erfahrung der Revolution zu heftigen Diskussionen innerhalb des Vereins, ob sich die Gemeinwohlorientierung in Zukunft auf die eigene ›Nationalität‹ beschränken solle, doch wurde dieser Vorschlag schließlich abgelehnt: »Mehr als ein Jahrhundert hindurch hatte die Bürgerverbindung eine reich gesegnete, internationale Tätigkeit entfaltet, sie hatte den Versuch, sie in einen nationalen Verein umzugestalten, zurückgewiesen.«23 In den karitativen Anstalten der Bürgerverbindung kam es auch nach 1905 nicht zu einer Nationalisierung sozialer Fürsorge, wogegen in den Schulen des Vereins jetzt Deutsche bevorzugt wurden. So nahm die Handwerkerschule seit 1905 nur mehr deutschsprachige Schüler auf, wodurch die ethnische Zusammensetzung der Schule sich erheblich veränderte.24 Das blieb jedoch ein Einzelfall. In allen übrigen Anstalten, Schulen und Stiftungen der Literärisch-praktischen Bürgerverbindung war Ethnizität weiterhin kein Kriterium der Aufnahme oder Ablehnung. Eng gesteckt blieben dagegen die sozialen und ethnischen Grenzen der gemeinsamen Tätigkeit. Auch im 20. Jahrhundert setzten sich die Mitglieder des Vereins überwiegend aus Besitz- und Bildungsbürgern zusammen, Handwerker dagegen waren kaum vertreten.25 Ebenso blieb die ethnische Grenzziehung gegenüber Nichtdeutschen erhalten. Versuche, durch die soziale Praxis des Gemeinwohls ethnische Gräben zu überwinden, waren halbherzig geblieben und vom Lettischen Verein schroff zurückgewiesen

22 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen. 23 Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung, S. 264. 24 Vgl. die ethnische Zusammensetzung der Handwerkerschule im Jahre 1903: 61% Letten, 28% Deutsche; 11% Sonstige; sowie 1910: 62% Deutsche, 20% Letten, 11% Russen, 7% Polen; bei: Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung, S. 238. 25 Vgl. ebd., S. 171. Von den 440 Mitgliedern, welche die Bürgerverbindung 1878 aufwies, gehörten 50% zur freien oder beamteten Intelligenz, 40% waren Kaufleute oder Gewerbetreibende und 3% übten einen handwerklichen Beruf aus. Die restlichen 7% blieben ohne Angabe.

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worden.26 Noch immer prägte der ständisch-soziale Abstand, den Männer wie Eduard Hollander gegenüber den Letten empfanden, den Habitus des deutschen Stadtbürgertums, noch immer nahm man sich selbst als Bürger wahr und das lettische Gegenüber als Bauern, auch als der Gehalt dieser Vorstellung von der Wirklichkeit längst überholt worden war. Diese Grenzziehung prägte nicht nur die Bürgerverbindung, sondern war ein übergreifendes Merkmal aller deutschen Vereine. Besonders scharf verlief die ethnische Abgrenzung in bildungsbürgerlich geprägten Vereinen, deren Mitglieder sich dem Leitbild ›deutscher Kultur‹ besonders verpflichtet fühlten. In exklusiven Gesellschaftsclubs wie der Musse dagegen, wo der ständisch-soziale Rang wichtiger war als die ethnische Zugehörigkeit, wurden auch Russen und Engländer, entsprachen sie diesem Kriterium, willkommen geheißen. Eine andere als die protestantische Konfession galt zwar im bildungsbürgerlichen Kern des Milieus als schwer überwindbare Barriere, wurde aber an seinen Rändern weniger als Ausschlußkriterium wahrgenommen. So wies der kleinbürgerliche Rigaer Turnverein im Jahr 1912 über 5% jüdischer Mitglieder auf.27 Insgesamt aber fanden auch deutsch akkulturierte Juden mit bedeutenden Verdiensten oder Vermögen kaum Eingang in die Geselligkeit des deutschen Milieus. Die Ernennung des jüdischen Arztes Isidor Brennsohn zum Ehrenmitglied der Livländischen Ärztekammer blieb eine Ausnahme.28 Ein Überblick (Tab. 20) über die wichtigsten Vereine der hochdifferenzierten deutschen Vereinslandschaft Rigas belegt, daß die deutschen Rigenser die Grenzen ihrer Geselligkeit ethnisch markierten. War in der Literärisch-praktischen Bürgerverbindung ein städtisches Gemeinwohl bisher ungeachtet der Ethnizität des Bedürftigen praktiziert worden, stellte die Revolution die Legitimität dieses Handelns erstmals in Frage. Denn die revolutionäre Erbitterung der Letten, die sich in monatelangen Massenmeetings und Streiks, in Brandschatzung, Straßengewalt und Mord manifestierte, hatte sich vor allem gegen die Deutschen gewendet. Als die Revolution im Frühjahr 1906 mit Hilfe russischer Truppen niedergeschlagen worden war, stand die Frage nach der Gemeinsamkeit der Interessen mit neuer Aktualität auf der Tagesordnung. Obwohl die Orientierung an einem 26 Vgl. ebd., S. 115: »In gewisser Beziehung ist es gelungen, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in gemeinsamer Arbeit sich zu nähern, dagegen entstand eine neue Spaltung durch die beginnende nationale Bewegung jener Zeit … Die B.V. hat sich, obgleich ein Versuch, in gemeinsamer Arbeit mit dem lettischen Wohltätigkeitsverein zu wirken, scheiterte, dadurch nicht irre machen lassen, sie liess nach wie vor die Früchte ihrer Tätigkeit allen Stadtgenossen ohne Unterschied der Nationalität zugutekommen, wenn auch ihre Mitglieder ausschließlich Deutsche waren und die ihr zur Verfügung stehenden Mittel von Deutschen gespendet wurden.« 27 Rechenschaftsbericht des Rigaer Turn-Vereins 1912. 28 Vgl. Brennsohn, Aerzte Livlands.

219

220 Pädagogische und karitative Aufgaben Förderung von Handelsinteressen, Projektfinanzierung, Börsentätigkeit Förderung ärztl. Kenntnisse, beruflicher Austausch Unterstützung kaufmännischer Angestellter wissenschaftliche Erforschung der livländischen Landesgeschichte Vermittlung naturkundlicher Kenntnisse, Publikationen Förderung technischer Kenntnisse, Austausch Turnsport, Geselligkeit

1802 1816 1822 1828

1845 1858 1862

Literärisch-praktische Bürgerverbindung3 Börsencomitee

Gesellschaft praktischer Ärzte4

Hilfsverein der Handlungscommis5 Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde Naturforscherverein6

Technischer Verein7

Rigaer Turnverein8

550

228

348

554

758

140

o.A.

775

150

500

Mitglieder

Soziales Profil

primär Bildungsbürgertum, viel Adel 56% Literaten, 15% Kaufleute, 6% Beamte, 5% Adel Ingenieure, technische Berufe, Unternehmer, Handwerker, Kleingewerbe

Kleinbürgertum

Freie Intelligenz

primär Wirtschaftsbürgertum, sowie Intelligenz und Adel primär Wirtschaftsbürgertum, sowie Intelligenz und Adel primär Bildungsbürgertum, aber auch Kaufleute Wirtschaftsbürger

Ethnische Zusammensetzung

ca. 90% Deutsche; ca. 10% Engländer und Russen ca. 95% Deutsche; einige Russen und Juden

mind. 95% Deutsche

mind. 95% Deutsche

mind. 95% Deutsche

ca. 90% Deutsche; ca. 10% Engländer, Russen ca. 95% Deutsche

ca. 90% Deutsche; ca. 10% Russen und Engländer ca. 90% Deutsche; ca. 10% Russen, Engländer mind. 95% Deutsche

1 Vgl. v. Büngner, Gesellschaft der Musse; v. Hedenström, Gesellschaft der Musse. 2 Vgl. Fonds 2088, apr. 1, Nr. 15, LVVA. 3 Hollander, Literärisch-praktische Bürgerverbindung. 4 Vgl. Bochmann. Die 1888 gegründete Gesellschaft livländischer Ärzte dagegen, die 1901 280 Mitglieder hatte, wies einen 8%igen Anteil jüdischer Mitglieder auf, vgl. Protokolle des 13. Ärztetags der Gesellschaft livländischer Ärzte in Riga, St. Petersburg 1901. 5 Vgl. Aus dem 75. Jahresbericht des Hilfsvereins der Handlungscommis. Juden waren hier per Statut von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. 6 Vgl. Korrespondenzblatt des Naturforscher-Vereins. 7 Vgl. Bock, Fünfzig Jahre des Rigaer Technischen Vereins. 8 Vgl. Rechenschafts-Bericht des Rigaer Turn-Vereins. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf das Jahr 1890.

1834

Geselligkeit

1797

Ressource2

Ziel

1787

Geselligkeit

Gegründet

Name

Musse1

Tab. 20: Ausgewählte Vereine des deutschen Milieus Rigas um 1900 mit Mitgliederzahl, Sozialprofil und ethnischer Zusammensetzung

221

1887 1888 1889 1906 1907

Rigaer Velocipedistenverein12

Gesellschaft livländischer Ärzte13 Architektenverein14

Fabrikantenverein15

Gesellschaft für kommunale Sozialpolitik16 Verein zur Förderung der Volkswohlfahrt Verein zur Förderung der Volkswohlfahrt (dezidiert übernational gegründet)17

9 10 11 12 13 14 15 16 17

1882

Ziel

Förderung ärztl. Kenntnisse, beruflicher Austausch Förderung des Bauwesens, beruflicher Austausch Interessenvertretung der Industrie, Lohnabsprachen, Gutachten öffentliche Diskussion sozialpolitischer Fragen, Publikationen Soziale Hilfe, v.a. bei Epidemien, Alkoholismus Wohltätigkeit

Vermittlung kaufmännischer Kenntnisse, Geselligkeit Radsport, Geselligkeit

Vermittlung handwerklicher und kaufmännischer Bildung, Geselligkeit Wohltätigkeit, Eindämmung des Straßenbettels

151 (auch Frauen) 925 (auch Frauen) 925

127

42

606 (auch Frauen) 280

1000

2500

2034

Mitglieder

Soziales Profil

Breites bürgerliches Spektrum, auch Kleinbürger Breites bürgerliches Spektrum

Bildungs- und Wirtschaftsbürger

Unternehmer

Bildungsbürger

primär Kleinbürgertum, neuer Mittelstand Handwerker, Kleingewerbe, auch Kaufleute Freie Intelligenz

43% Kaufleute, 23% Handwerker, 22% Literaten, 12% o.A. Breites bürgerliches Spektrum, viel Kleinbürgertum

Ethnische Zusammensetzung

primär Deutsche, ca. 90%; ca. 10% Juden primär Deutsche, ca. 90%; ca. 10% Letten, Russen, Juden primär Deutsche, ca. 90%; ca. 10% Russen primär Deutsche, ca. 90%; ca. 10% Letten, Russen, Juden primär Deutsche, ca. 85%; ca. 15% Letten, Russen, Juden primär Deutsche, ca. 90%; ca. 10% Letten, Russen, Juden

ca. 80% Deutsche; ca. 20% Letten, Russen, Juden (getrennte jüdische Sektion) mind. 95% Deutsche; einige Letten mind. 95% Deutsche

mind. 95% Deutsche

Vgl. v. Hedenström, Rigaer Gewerbeverein. Vgl. Beiträge zur Geschichte des Vereins gegen den Bettel; Ruckij, S. 37. Vgl. Der Rigaer Kaufmännische Verein. Die Mitgliederanzahl bezieht sich auf das Jahr 1890. Vgl. Rechenschafts-Bericht des Ersten Rigaer Velocipedisten-Verein.. Vgl. Protokolle des 13. Ärztetags der Gesellschaft livländischer Ärzte in Riga. Vgl. Gedenkschrift zum 25jährigen Jubiläum des Architekturvereins. Die Mitgliederzahl verdoppelte sich bis 1914 auf 96. Vgl. Fonds 2765, LVVA; Bericht über die Tätigkeit des Rigaer Fabrikantenvereins. Die Angabe der Mitglieder bezieht sich auf das Jahr 1910. Vgl. Hefte der Gesellschaft für kommunale Sozialpolitik, Bd. IV. Vgl. Verein zur Förderung der Volkswohlfahrt. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf das Jahr 1912.

1907

1907

1868

Verein gegen den Bettel (dezidiert interkonfessionell gegründet)10 Kaufmännischer Verein11

Gegründet 1865

Name

Gewerbeverein9

›Gemeinwohl‹ weiterhin handlungsleitend blieb, rückten partikulare Interessen, nämlich die Erhaltung der eigenen Gruppe, innerhalb des deutschen Milieus nach vorne. Hatten die Deutschen die nationalen Bestrebungen der Letten bisher als partikular abgetan und sich selber mehr als sozialen Stand denn als ethnische Gruppe wahrgenommen, reagierten sie nach 1905 erstmals öffentlich auf den Nationalisierungsdruck von unten. Nur in der Verteidigung ›nationaler Interessen‹ schien eine Chance zu liegen, die sichtbar gefährdete Position zu erhalten. Die Gründung der sogenannten Deutschen Vereine im Jahr 1905 ist als »neues Prinzip im deutschbaltischen Denken« interpretiert worden.29 Darüber hinaus wurde die These aufgestellt, die Deutschen hätten nach der Revolution ihre Loyalität gegenüber Zar und Reich revidiert, ihre Hoffnung auf einen Anschluß an das wilhelminische Kaiserreich gesetzt und damit »the road from Czar to Kaiser« eingeschlagen.30 Die Quellenbelege solcher Interpretationen sind allerdings rar geblieben. Mit der Gründung der Deutschen Vereine antwortete das deutsche Milieu auf die aktuelle Herausforderung des lettischen Nationalismus, aber ebenso auf die Erfahrung der staatlichen Russifizierung. Bisher hatte keiner der deutschbaltischen Vereine den Zusatz ›deutsch‹ im Namen aufgewiesen. Zwar war ›deutsche Kultur‹ ein maßgebliches Kriterium des eigenen Selbstverständnisses gewesen, doch sich aufgrund von Sprache oder Abstammung von anderen abzugrenzen, hatte man als soziokulturelle Oberschicht nicht für nötig gehalten. Diese Einstellung hatte sich durch den äußeren Druck verändert, und die Vorstellung der ›Nationalität‹ wurde nun auch im deutschen Milieu dafür herangezogen, sich gegenüber der fremdnationalen Umwelt zu verteidigen. Die Ziele der Deutschen Vereine bestanden in der »Förderung deutschen Schul- und Lehrwesens … in der Förderung der wirtschaftlichen Wohlfahrt der Deutschen und … in der Pflege deutscher Sprache und Geselligkeit«, wie die Vereinstatuten festhielten. 31 Der neuartige Gedanke, sich erstmals auf der Basis gemeinsamer ›Nationalität‹ zusammenzuschließen, zog zunächst Tausende von Deutschen an, und in allen drei Provinzen entstand rasch ein dichtes Netz von Ortsgruppen. 1906 waren bereits 9 750 Deutsche dem Rigaer Ortsverein beigetreten, und 1908 wies der Verein mit 16 000 Mitgliedern seinen höchsten Stand auf.32 In seiner sozialen Zusammensetzung spiegelte der Verein die Sozialstruktur des Milieus wider. Angehörige von Handel, Gewerbe und Industrie waren mit 39% vertreten, Handwerker mit 31%, die freie oder beamtete Intelli29 Wittram, Baltische Geschichte, S. 233; vgl. auch v. Pistohlkors, Baltische Länder, S. 449; Kroeger, Die deutschen Vereine. 30 Vgl. Lundin. 31 Kalender des Deutschen Vereins 1907, S. 21. 32 Kalender des Deutschen Vereins 1907–1914.

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genz mit 24%, der Adel mit 4% und Arbeiter mit 2%.33 In den Leitungsgremien dominierten Akademiker und Adlige, die von der Auswirkungen der Russifizierung und der Revolution besonders getroffen worden waren.34 Im Gegensatz zur bisherigen Praxis des deutschen Vereinswesens ließen die Deutschen Vereine auch Frauen als vollberechtigte Mitglieder zu. 1906 machten die weiblichen Mitglieder 45% aus.35 Diese Partizipation weist darauf hin, daß erst der nationale Rahmen es ermöglichte, Emanzipation und Tradition zu verbinden, die im wertkonservativen deutschen Milieu tendenziell Gegensätze gebildet hatten. Der Deutsche Verein bot deutschbaltischen Frauen, die im öffentlichen Leben der Stadt bisher keine Rolle gespielt hatten, die Chance eines sozialen, pädagogischen und organisatorischen Engagements, das gesellschaftlich sanktioniert war und in der Öffentlichkeit Anerkennung fand. Zum ersten Mal standen die Frauen des Milieus den Männern gleichberechtigt gegenüber. Diese Auswirkung des deutschbaltischen Nationalismus führte dazu, daß Frauen auch dann, als der Deutsche Verein an Popularität verlor, kaum austraten und vor 1914 über 50% der Mitglieder stellten.36 Obwohl der unklare Begriff der ›Nationalität‹ zunehmend in Festreden und Vereinskalender Eingang fand, blieb die kulturelle Definition, wer Teil des Milieus sei, in der Praxis erhalten. Darüber wer dazu gehörte, entschied noch immer nicht die ›Abstammung‹, sondern die Beherrschung der deutschen Sprache und die Aneignung und Verbundenheit mit der deutschen Kultur. Auf die wiederholt gestellte Frage, wer im Deutschen Verein zugangsberechtigt sei, blieb die Antwort vergleichsweise offen und trug damit den zeitgenössischen Mischformen zwischen den ethnischen Gruppen Rechung: »In einem Lande wie dem unseren, wo nicht selten ein Übergang von der einen Nationalität zur anderen … stattfindet, da wäre es schwierig, nur die Abstammung entscheiden zu lassen. Mancher Deutsche ist nur nach seinem Blut nach deutsch, seinem Volkstum aber bereits längst entfremdet. Dafür sind Angehörige anderer Nationalitäten ihrem Wesen und ihrer Art nach bereits Deutsche geworden … Die Abstammung allein ist nicht maßgebend. Mitglieder des Vereins können volljährige Personen beiderlei Geschlechts werden, die die Aufgaben des Vereins, Einigung, Erhaltung und Stärkung der deutschen Bevölkerung Livlands in kultureller, geistiger 33 Sitzungsprotokolle des Deutschen Vereins, Fonds 5540, apr. 1, Nr. 217, LVVA. Die folgende Analyse beruht auf der Auswertung sämtlicher archivalischer und gedruckter Quellen des Deutschen Vereins. 34 Vgl. die Memoiren des Rechtsanwalts Max Herweg als typischer Vertreter der konservativen Intelligenz Herweg; zur Rolle des »stark ins konservative, bisweilen völkische Lager« tendierenden Adels im Deutschen Verein v.a. v. Mensenkampff, S. 356f. 35 Kalender des Deutschen Vereins 1907. 36 Vgl. als Quelle auch die ›Baltische Frauenzeitung‹ 1907–1914 sowie an Literatur Henriksson, Politics of Gender.

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und wirtschaftlicher Beziehung zu der ihren machen wollen.«37 Interne Sitzungsprotokolle dokumentieren, daß in der Tat auch deutsch akkulturierte Letten und Russen aufgenommen wurden. Die soziale und kulturelle Praxis des Vereinslebens illustriert, daß der Versuch, die Rigaer Deutschen durch die Vorstellung gemeinsamer ›Nationalität‹ noch enger zusammenzubinden, als die vielfältige Vereinskultur dies bereits bewirkt hatte, nur begrenzten Erfolg hatte. Wirklich gelungen war das Bestreben, ein privates deutsches Schulwesen wiederaufzubauen. Mit erheblichen Gelder, die dem Deutschen Verein aus Spenden zuflossen, gelang 1906 die Eröffnung von vier deutschsprachigen Schulen, die Grundschul-, Realschul- und Gymnasialausbildung anboten und in denen 1910 etwas 1 600 Schüler unterrichtet wurden. Das entsprach 10% aller schulpflichtigen deutschen Kinder.38 Die erfolgreiche Verwirklichung dieses Vereinsziels erklärt sich vor allem dadurch, daß damit an ein tradiertes Leitbild des Milieus, die ›deutsche Kultur‹, angeknüpft wurde, das von den schulischen Russifizierungsmaßnahmen kurzfristig behindert worden war. Mithin ging es weniger darum, etwas genuin Neues zu schaffen, als vielmehr die jahrhundertelange Tradition deutschsprachiger Bildung institutionell zu erneuern. Doch auch diese Tradition wurde im frühen 20. Jahrhundert nicht mehr unkritisch übernommen. Denn der Großteil der deutschen Bevölkerung schickte seine Kinder nicht in die Privatschulen des Deutschen Vereins, obwohl zahlreiche Stipendien zur Verfügung standen, sondern auf die russischsprachigen städtischen Schulen. Auch die Forderung jener Eltern, deren Kinder die Schulen des Vereins besuchten, daß dort russischsprachige Abschlußklassen eingeführt werden sollten, belegt die Grenzen, die dem deutschbaltischen Nationalismus innerhalb des eigenen Milieus erwuchsen.39 Kein Erfolg war dagegen dem deutschen Wirtschaftsnationalismus beschieden. Das neue Arbeitsvermittlungsbüro schloß nach wenigen Jahren wieder seine Pforten, der Auf bau deutscher Kreditkassen für Handwerk und Kleingewerbe blieb schleppend, und der Aufruf nationalistischer Intellektueller, deutsche Unternehmen nur an Deutsche zu verkaufen, verhallte nahezu ungehört. Nur dort, wo sich durch Immobilienkauf Wahlstimmen sichern ließen, folgte man dieser Bitte, da alle Gruppen der deutschen Bevölkerung an der Aufrechterhaltung der deutschen Herrschaft im Rigaer Rathaus ein erhebliches Interesse hatten.40 37 Kalender des Deutschen Vereins 1907, S. 34. 38 Vgl. Kalender des Deutschen Vereins 1910. 39 Vgl. Kalender des Deutschen Vereins 1913, S. 74ff. 40 Vgl. v. Hoyningen-Huene, S. 39: »Papa wollte eine Haus in der Hagenberger Vorstadt kaufen. Ich war sehr erfreut von dem bisschen, das ich hörte und stellte mir gleich vor, dass wir dann, wie die Campenhausens, in einer Villa mit Garten leben würden … doch wurde mir klar gemacht, dass es ein kleines Haus war, das an arme Leute vermietet wurde und dass

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Mit der Gründung der Deutschen Vereine war schließlich die Hoffnung verbunden, jene ständische Differenzierung abzubauen, die das Milieu nach innen durchzog. Nationalkonservativen Intellektuellen, wie dem Chefredakteur des ›Rigaschen Tageblatts‹, Ernst Seraphim, schwebte eine Gesellschaftsordnung vor, in der soziale Ungleichheit vor der Gleichheit der Nationsgenossen zurücktrat. Die völkische Rhetorik der intellektuellen Vorreiter unterschied sich jedoch frappant von der gesellschaftlichen Praxis der Mehrheit, wie eine Vielzahl persönlicher Erinnerungen belegt. Eindringlich beschrieb der deutschbaltische Handwerkersohn Erwin Aidnik die typische Atmosphäre eines solchen Geselligkeitsabends des Deutschen Vereins: »Hier die Tische der sogenannten besseren Gesellschaftskreise, dort die Gruppen der Handwerker und sonstigen Deutschen, und zwischen beiden eine eiskühle und gläserne, weil nicht immer und allen sichtbare Scheidewand. Hüben und drüben wurde das Unnatürliche dieser Situation empfunden. Aber niemand wagte es, den heimlichen Trennungsstrich zu überschreiten.«41 Eine wesentliche Zielsetzung der Deutschen Vereine, die ständische Differenzierung des Milieus durch die Verheißung nationaler Gleichheit abzubauen, blieb vor 1914 erfolglos. Die neuartige Rhetorik der Vereinsführer, die erstmals Begriffe wie ›Volksgemeinschaft‹ und ›völkisches Empfinden‹ heranzogen, hat die Forschung dazu veranlaßt, hinter dem Versuch eines deutschbaltischen Nationalismus auch einen Loyalitätswechsel vom russischen Zaren zum deutschen Kaiser zu sehen. Diese Annahme hält der Auswertung sämtlicher Vereinsakten jedoch nicht stand. Vereinzelte Protagonisten mochten mit dem Gedanken eines deutschen Anschlusses symphatisieren, wenige Grundbesitzer setzten die Ansiedlung wolgadeutscher Bauern durch, um der deutschen Oberschicht einen sozialen Unterbau zu geben, doch solche Versuche blieben randständige Phänomene, zumal die politische Wirklichkeit keinerlei Anknüpfungspunkte bot. Weder gab es irgendwelche Bemühungen, mit anderen deutschen Gruppen innerhalb des Russischen Reiches eine Art ›alldeutscher‹ Allianz zu bilden, noch hatte der Deutsche Verein, anders als der Lettische Verein, irgendwelche politische Ziele, »perhorreszierte in der Praxis jegliche Politik grundsätzlich und absolut«, und widmete sich ausschließlich »der Stärkung der deutschen Bevölkerung in kultureller, geistiger und wirtschaftlicher Kraft.«42 der Zweck des Kaufs bloß darum geschah, um Papa Stimmrecht in Riga zu geben. Mit solchen Mitteln wurde versucht, den Letten gegenüber in der Stadt die Waage zu halten.« 41 Aidnik, S. 253. Vgl. auch v. Mensenkampff, der führendes Mitglied des Deutschen Vereins war, in: ders., S. 247: »Alle deutschen Schichten arbeiteten … im Verein zusammen, doch trotz guten Willens kam die Geselligkeit nicht recht in Gang. Die Menschen aus so verschiedenen Kreisen und Bildungssphären verstanden nicht miteinander umzugehen. In jedem unbewachten Augenblick drohte die Gemeinschaft sich in ihre »gesellschaftliche« Bestandteile aufzulösen.« 42 Sitzungsprotokolle des Jahres 1907, Fonds 5540, apr. 1, Nr. 218, LVVA.

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Auch die starke Beteiligung der Vereinsmitglieder an der Inszenierung des Zarenbesuchs 1910 belegt, daß separatistische Absichten den nach wie vor loyalen Deutschen fern lagen. Ihnen ging es um die Aufrechterhaltung kultureller Autonomie innerhalb eines föderalisierten Reiches, nicht aber um einen politischen Loyalitätswechsel von Zar zu Kaiser.43 Das dokumentiert auch die Entwicklung des Vereins, nachdem die erste nationale Euphorie vorbei war und die Erlebnisse der Revolution allmählich verblassten. 1908 hatte der Deutsche Verein in Riga mit 16 000 Mitgliedern seinen höchsten Stand aufgewiesen. Seitdem ging diese Zahl kontinuierlich zurück und belief sich 1913 auf nur noch 11 000.44 Primär das Wirtschaftsbürgertum begann sich von den nationalen Parolen zu distanzieren, erschienen seinen Vertretern doch weniger Absonderung und Konfrontation als vielmehr die Zusammenarbeit mit den übrigen ethnischen Gruppen vielversprechend.45 Von einem »neuen Prinzip im deutschbaltischen Denken«, das Reinhard Wittram dem Phänomen des Deutschen Vereins bescheinigt hat, lässt sich daher nicht sprechen.46 Zwar stellte die Revolution das Selbstverständnis des deutschen Milieus in Frage und evozierte erstmals einen Zusammenschluß auf primär ethnischer, nicht ständischer Basis. Dieser neuartige Versuch nationaler Vergemeinschaftung war nicht zuletzt eine späte Reaktion auf die Nationalisierung der Umwelt. Doch in der Wirklichkeit dominierte die Sorge um den Erhalt ›deutscher Kultur‹, während die Aufrufe zu einem Wirtschaftsnationalismus, den die Letten durchweg betrieben, hier ungehört verhallten. Auch von politischen Forderungen distanzierte sich der Verein nachdrücklich. Dem Versuch schließlich, durch die Berufung auf die gemeinsame ›Nationalität‹ ständische Grenzen abzubauen, war in der geselligen Praxis ein weitgehender Mißerfolg beschieden. Vielmehr wurde unter neuen Begriffen an die tradierte Denkfigur von der ›deutscher Kultur‹ angeknüpft. Erst die Realität der Nation im Krieg sollte einen politischen Nationalismus hervorbringen, der sich grundlegend von jenem ständischen, kulturellen und regionalen Selbstverständnis unterschied, welches das deutsche Milieu Rigas bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs prägte.

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Vgl. Sitzungsprotokolle des Jahres 1914, Fonds 5540, apr. 1, Nr. 227, LVVA. Vgl. Kalender des Deutschen Vereins 1913, S. 83. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Fonds 5540, apr. 1, Nr. 225, LVVA. Wittram, Baltische Geschichte, S. 233.

2. Die Vielfalt des Nationalen: Lettische Vereinskultur zwischen bürgerlichem Nationsverständnis und lettisiertem Klassenbegriff Zum Anwalt einer lettischen Nation machte sich der 1868 gegründete Rigaer Lettische Verein (Rīgas Latviešu Biedrība)47. Den äußeren Anlaß dazu hatte eine Hungersnot im benachbarten Gouvernement Estland geliefert. Unter der Führung des Deutschen Ivan Humüller schlossen sich einige Letten zum Lettischen Unterstützungsverein für notleidende Esten zusammen, aus dem Ende des Jahre 1868 der Rigaer Lettische Verein hervorging. Zu den Gründern gehörten die führenden Mitglieder der nationalen Bewegung wie der Rechtsanwalt Fridrihs Veinbergs, der Unternehmer Rihards Tomsons, der Verleger Bernhard Dīriķis und der Architekt Jānis Baumanis.48 Nicht nur diese bürgerlichen Akteure, sondern die gesamte lettische Bevölkerung hatte die baltische Metropole bisher als ›deutsche Stadt‹ wahrgenommen, wo es kaum etwas genuin Lettisches gebe: »Der Lette ist in Riga isoliert und allein, er kennt niemanden, kann mit niemanden Austausch halten und die Stadt ist für ihn noch immer eine deutsche Stadt.«49 Umso mehr Hoffnungen richteten sich daher auf den neuen Verein, der gleichsam das Startsignal für die beginnende Vergesellschaftung der lettischen Bevölkerung gab: »Die Gründung des Rigaer Lettischen Vereins hat nicht nur eine Reihe allgemeiner Vereinsgründungen im ganzen Volk nach sich gezogen, sondern damit begann auch eine Zeit des klarer begründeten nationalen Selbstbewußtseins. Nun wußte man einen festen Hort, um den man sich scharen konnte, wo man Vorbilder für das eigene Wirken fand … wo sich Städter wie Landbewohner gleichermaßen versammeln konnten … Kurzum, nun gab es zumindest einen Ort, wo man sich in der fremden Umgebung wie zu Hause fühlen konnte.«50 Trotz solcher nationalen Einheitsrhetorik spiegelte das Vereinsleben zunächst die ethnokulturellen Mischformen wider, die in der multiethnischen Lebenswelt der 1860er Jahre an der Tagesordnung waren. Bereits der Gründer der Vorläuferorganisation des Lettischen Vereins war ein Deutscher gewesen. Auch die Sitzungsprotokolle des Unterstützungsvereins wurden zunächst in deutscher Sprache verfaßt, da außer einigen Deutschen auch 47 Die genaue Übersetzung aus dem Lettischen würde Rigaer Verein der Letten lauten. Dem deutschen Sprachgebrauch entspricht jedoch die Fassung Rigaer Lettische Verein sehr viel besser, weshalb sie im Folgenden benützt wird. Jüngst wurde eine Mainzer Dissertation über den Lettischen Verein von Kristine Wohlfart verfasst, die jedoch noch nicht gedruckt vorliegt. 48 Vgl. Krastiņš u. Mucenieks, S. 29ff. 49 Baltijas Vēstnesis 17.6.1871. Der Autor dieses Artikels war Alexanders Vēbers. 50 Kaudzīte, Atmiņas no Tautiskā Laikmeta, S. 605.

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deutsch akkulturierte Letten Mitglieder waren, die, wie die Vereinsgeschichte festhielt, »angaben, dass sie die lettische Sprache nicht beherrschten.«51 Fast alle Vereinsgründer hatten deutschsprachige Schulen besucht, waren mit deutschen Frauen verheiratet und sprachen zu Hause überwiegend deutsch.52 Neben Letten und einigen Deutschen waren ebenso einzelne Russen Mitglieder des Vereins geworden.53 Auch in sozialer Hinsicht war der Verein zunächst recht offen. Die 1 050 Mitglieder, welche das Verzeichnis für 1878 aufwies, setzten sich zu 51% aus Angehörigen von Handel und Gewerbe zusammen, zu 16% aus Handwerkern, zu 8% aus Arbeitern, 6% gehörten zur freien Intelligenz, und 2% waren als Beamte tätig.54 Der Zweck des Vereins galt der »Ausbreitung nützlichen Wissens und allerlei geistiger Auf klärung unter allen, welche aus Unkenntnis des Deutschen oder Russischen die Vermittlung der bestehenden, deutsch oder russisch unterhandelnden Vereine nichts nütze ist.«55 Dahinter stand das Ziel, aus der bäuerlichen und lokal orientierten Bevölkerung eine nationale Bürgergesellschaft zu machen. Dieses bürgerliche Nationsverständnis verdankte seine Entstehung maßgeblich der Rezeption des europäischen Frühliberalismus, dessen Wirkung die lettischen Aktivisten vor allem in Deutschland beobachtet hatten. Im lokalen Kontext wandte sich diese Emanzipationsbewegung jedoch gegen die deutschbaltische Oberschicht, deren Dominanz der kulturellen Eigenständigkeit und dem sozioökonomischen Fortschritt der Letten bisher enge Grenzen gesetzt hatte. Die Ziele der nationalen Bewegung bestanden daher in der Ausbildung einer lettischen Kultur und in einem sozioökonomischen Aufstieg, der zugleich Unabhängigkeit von den Deutschen gewährleisten sollte. Die Weiterentwicklung der lettischen Sprache und Kultur hatten zunächst deutschbaltische Pastoren in der 1816 gegründeten Lettisch-literärischen Gesellschaft betrieben.56 Nun begann der Lettische Verein diese Aufgabe zu übernehmen, um sich der kulturellen ›Bevormundung‹ durch die Deutschen zu entziehen. Zahlreiche Kommissionen wurden gegründet, welche die Ausbildung einer eigenen Kultur sowie die Vermittlung praktischer Kenntnisse zum Ziel hatten.57 Förderte eine Theaterkommission die Entstehung und Aufführung lettischer Dramen und Komödien, so suchte eine landwirtschaftliche Kommission durch Vortragsabende, Konferenzen und 51 Vgl. Rīgas Latviešu biedrība sava 25. gadu darba, S. 10. 52 Vgl. Zelče, Nezināma, S. 50ff. 53 Vgl. Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, S. 45. 54 Die verbleibenden 17% blieben ohne Angabe. Vgl. Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, S. 284; Rīgas Latviešu biedrība locekļu klades, LAB. 55 Baltijas Vēstnesis 18.1.1869. Vgl. auch Rīgas Latviešu biedrības likumi. 56 Vgl. v. Hehn, Lettisch-literärische Gesellschaft. 57 Vgl. Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, S. 150ff.

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landwirtschaftliche Ausstellungen den Wissensstand der Bauern zu heben. Kommissionen für Seefahrt, Musik und Medizin folgten. Die größte Wirkung ging von der 1869 gegründeten Wissenschaftskommission aus.58 Unter der langjährigen Leitung Alexanders Vēbers kam es zur Sammlung und Aufzeichnung von rund 40 000 Volksliedern, die lokale Kenner und Enthusiasten an die Kommission lieferten. Für die Letten, die sich als ›geschichtslose Nation‹ begriffen, besaß gerade die schriftliche Aufzeichnung historischer Volksdichtung einen hohen Symbolwert, ließ sich dadurch doch ein Traditionsbestand schaffen, der diese Vorstellung relativieren konnte. Besonders erfolgreich war auch die Reihe ›Nützlicher Bücher‹, die dem lettischen Lesepublikum erstmals ausländische Übersetzungen sowie inländische Autoren in preiswerten Buchausgaben vorstellte.59 1904 verzeichnete die Reihe über 10 000 Abonnenten.60 Seit der Jahrhundertwende arbeitete die Kommission an der Herausgabe einer lettischen Enzyklopädie, in die 30 000 Rubel investiert wurden. Jedes der fast 100 Hefte, die vor 1914 erschienen, hatte eine Auflage von etwa 4 000 Exemplaren.61 Schließlich wurden die Sprachforscher Karlis Milenbahs und Jānis Endzelīns mit der Ausarbeitung einer lettischen Grammatik beauftragt, welche die vielfältigen mündlichen Dialekte erstmals als einheitliche Schriftsprache kodifizierte.62 Eindringlicher als Publikationen konnte die kulturelle Praxis gemeinsamen Tuns die Vorstellung vermitteln, Mitglied einer lettischen Nation zu sein. Zunächst diente ein Totenkult um Garlieb Merkel diesem Zweck. Merkel hatte 1798 unter dem Titel »Die Letten« eine drastische Anklage der livländischen Fronwirtschaft veröffentlicht, in der die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedrückung der lettischen Leibeigenen durch den deutschbaltischen Adel gegeißelt wurde.63 Es war vor allem seine Geschichtsdeutung, die seine Schrift zu einem kanonischen Text des lettischen Nationalismus werden ließ. Denn Merkels Angriff auf die deutschbaltische Oberschicht zeichnete nicht nur jenes Feindbild, dessen die entstehende Nation bedurfte, sondern schrieb auch das Konstrukt fest, die Letten seien vor der Ankunft der Deutschen eine nahezu selbständige Nation gewesen.64 Eine solche Geschichtsdeutung eignete sich hervorragend zur Konstruktion jener nationalen Vergangenheit, die in der Gegenwart benötigt wurde: 58 Vgl. v.a. Stradinš, Latvijas Zinatna akademijai 50 gadi, S. 60ff.; Krastiņš u. Mucenieks, S. 22–28, Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, S. 150ff. 59 Krastiņš u. Mucenieks, S. 29–33. 60 Plakans, The Latvians. A short Story, S. 261. 61 Vgl. Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, 1928, S. 252ff. 62 Vgl. Baiba Metuzāle-Kangere, Linguistic Perspectives in Latvia 1900–1914, in: Loit, Baltic Countries, S. 443–455; Rūke-Draviņa. 63 S. Merkel, Die Letten. Siehe dazu auch Heeg. 64 Vgl. Merkel, Die Letten, S. 14.

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»Jahrhundertelang waren die Letten aus der Geschichte verschwunden, bis Merkel die Welt an ihre Existenz erinnerte.« 65 Der Mitgründer des Lettischen Vereins, Rihards Tomsons, rief daher dazu auf, am Grab des nahezu vergessenen Auf klärers ein Denkmal zu errichten. Merkels 100. Geburtstag im Jahr 1869 begingen die Vereinsmitglieder daher mit einem Fest am Grabe Merkels. Die Fahrt dorthin geriet zur Pilgerschaft, die Enthüllung des Denkmals markierte den Beginn eines Totenkults, der Merkel zur Ikone des lettischen Nationalismus machte.66 Durch jährliche Grabbegehungen und die massenweise Zirkulation seines Porträts, dessen Original prominent in der Eingangshalle des Vereinshauses hing, wurde die Erinnerung in den folgenden Jahren aktualisiert und wachgehalten. Ein vielbeachteter Artikel über »Merkel, der Apostel der lettischen Freiheit« im Jahr 1890 versetzte den Auf klärer in den Rang eines Nationalheiligen und verlieh seinem Buch kanonische Bedeutung für die lettische Nation.67 Doch der Totenkult gewann nicht die erhoffte Popularität und blieb auf einen kleinen bürgerlichen Kreis beschränkt. Merkels Schriften, »Die Vorgeschichte Livlands« und »Die Letten«, wurden vor 1905 nicht ins Lettische übersetzt und waren deshalb nur für ein gebildetes, deutsch lesendes Publikum erreichbar.68 Auch im Alltag setzten die ethnokulturellen Mischformen der Bevölkerung der Integrationskraft des nationalen Kults enge Grenzen. Auf dem Wege zur Denkmalenthüllung, berichtete das Vereinsmitglied Matiss Kaudzīte, sei ihm ein wohlhabender, deutsch akkulturierter Lette begegnet, der die Aufforderung mitzukommen, schroff zurückwies: »Früh am Morgen, als man sich zum Dampfschiffe begab, traf ich einen Mann aus meiner eigenen Gegend, der sehr wohlhabend war. Als ich ihn einlud, mit mir zu kommen und aufs Schiff zu steigen, erwiderte er, er habe dafür keine Zeit und fügte hinzu, nur diejenigen, die nichts hätten, könnten dafür Zeit auf bringen, er jedoch, der reich sei, könne keinesfalls dorthin fahren, eben weil er viel zu tun habe. So geht es eben mit denjenigen, die reich werden wollen und sich deshalb der Sklaverei ergeben und sich dann von den idealen nationalen Bestrebungen fern halten.« 69 Direkter und massenwirksamer als der bürgerliche Totenkult vermochte die symbolische Praxis der Sängerfeste die Vorstellung von einer lettischen Nation zu popularisieren. Hierbei handelte es sich um ein Transferprodukt, das den lokalen Bedingungen angepaßt wurde. Denn zunächst hatten nur Deutschbalten Sängerfeste gefeiert, um sich ihrer deutschen Kultur und 65 Baltijas Vēstnesis 23.6.1901. 66 Vgl. Merkeļa diena svinēšana Rīgā [Die Feier des Merkel-Tags in Riga], Baltijas Vēstnesis 29.10.1869. 67 Austrums Nr. 1, 1890, S. 187–200. 68 Vgl. Merkel, Die Vorzeit Livlands. 69 Vgl. Kaudzīte, Atmiņas no Tautiskā Laikmeta, S. 164:

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baltischen Heimat zu vergegenwärtigen. Diese baltischen Feste der frühen 1860er Jahre waren eine Nachahmung der deutschen Sängerfeste gewesen, mit denen die deutsche Nationalbewegung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 ihre Forderungen erneut in die Öffentlichkeit trug. Die Letten wiederum knüpften an das deutschbaltische Beispiel an und machten aus dem ursprünglich ›deutschen‹ Muster ein genuin ›lettisches‹ Phänomen, das im Laufe der Zeit zum Inbegriff nationaler Kultur avancierte.70 Zunächst waren kleinere Sängerfeste auf lokaler Ebene veranstaltet worden, deren Mobilisierungskraft der deutschbaltische Sprachforscher und Pastor August Bielenstein in seinen Erinnerungen festhielt: »Die versammelte Menge aus der Umgebung zählte wohl 8 000 Köpfe. Das Volk hatte dergleichen zuvor niemals gesehen und gehört und ein Weiblein äußerte zu mir, sie fühle sich wie im Himmel.«71 Die Integration von ländlichen und städtischen Gruppen stellte das erste Lettische Sängerfest her, zu dem der Lettische Verein im Juni 1873 einlud.72 Rund 45 Gemeinden in Livland und Kurland bereiteten sich monatelang auf die gemeinsamen Choraufführungen vor, neue Lieder wurden eigens für das große Ereignis komponiert, die gemeinsame Fahrt in die Metropole geplant. Am 28. Juni 1873 versammelten sich rund 1 000 aktive Sänger und 12 000 Zuhörer vor dem Gebäude des Lettischen Vereins. Die feierliche Eröffnungszeremonie hielt ein zeitgenössischer Stich fest, der viele Auflagen erlebte.73 In den Begrüßungsworten des Vereinsvorstands Rihards Tomsons wurde die Hoffnung auf eine Nivellierung regionaler und sozialer Unterschiede deutlich, welche die Organisatoren mit der Veranstaltung verbanden: »Nach vielen Jahrhunderten ist endlich die Zeit gekommen, in der die Einwohner von Kurland und Livland durch dieses Fest zu einem Volk vereinigt werden. Die Söhne und Töchter des Volkes sind zusammengekommen von fern und nah, aus allen Teilen der Gesellschaft, mit verschiedener Bildung und unterschiedlichen Berufen, um ungeachtet aller Standesunterschiede dieses große Sängerfest zu feiern.«74 Zwei Tage mit unterschiedlichen musikalischen Aufführungen folgten, die dem gemeinsamen Gesang und der Geselligkeit dienten. Erstmals wurde das eigens komponierte Lied des lettischen Komponisten Karlis Baumanis aufgeführt, ›Gott schütze Lettland‹ (»Dievs svēti Latviju«), das durch seinen neuartigen Bezug auf ein

70 Vgl. ebd., S. 185: »Der Redner berichtete, dass Sängerfeste anderen Völkern schon seit langer Zeit bekannt sind, dass solche Feste bereits früher in Riga gefeiert wurden, aber nur in deutscher Sprache und von Deutschen, wogegen die Letten daran nicht teilnehmen durften.« 71 Bielenstein, Ein glückliches Leben, S. 257. 72 Vgl. Grauzdina u. Poruks; Bērznkalns; Bula. 73 Vgl. das Titelbild der Studie. 74 Kaudzīte, Atmiņas no Tautiskā Laikmeta, S. 186.

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lettisches Territorium starke Wirkung ausübte und binnen kurzem zur inoffiziellen Nationalhymne avancierte.

Abb. 11: Das Haus des ›Lettischen Vereins‹ in Riga um 1900 (Photo: J. Krastiņš, E. Mucenieks, Rīga Latviešu Biedrība)

Ausnahmslos belegen die Zeitzeugnisse die starke, emotionale Wirkung des Festes, das die Vorstellung, Mitglied einer gemeinsamen Nation zu sein, erfolgreich vermittelte: »Ich erinnere mich daran, daß ich nie wieder in meinem Herzen einen solch selbstbewußten Stolz empfand wie damals, als ich in den geschlossenen Reihen der Mitsänger marschierte und die Blicke wahrnahm, die auf uns gerichtet waren, manche neugierig, manche bewundernd, manche neidvoll oder ironisch auf jenes Volk gerichtet, das nach Ansicht des Adels kein Anrecht auf eine eigene Kultur hatte.«75 Der Erfolg des ersten Sängerfests führte zur regelmäßigen Wiederholung dieser kulturellen Praxis. In den Jahren 1880, 1888, 1895 und 1910 wurden weitere Sängerfeste veranstaltet, deren Teilnehmerzahl auf 3 000 Sänger anstieg, während das Publikum etwa das Fünffache dieser Zahl ausmachte.76 Sowohl die lokale Vorbereitung, mit der Monate vorher begonnen wurde, als auch die Erfahrung der Gemeinsamkeit, den die Festtage selbst vermittelten, trugen wesentlich dazu bei, das 75 So das Zeugnis eines unbekannten Teilnehmers, zitiert nach Graudzina u. Poruks, S. 6. Vgl. auch Valdemars an K.R. Jakobson am 21.9.1873, in Valdemars, Sarakste, S. 376. 76 Vgl. Grauzdina u. Poruks, S. 87.

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lettische ›Nation-building‹, das zunächst ein städtisches Phänomen gewesen war, zu einer übergreifenden Bewegung zu machen. Wo zuvor die lokale Herkunft oder der ständische Rang bestimmend gewesen war, wurde jetzt die nationale Zugehörigkeit dominierend: »Leute aus Kurland und Livland waren zu dem Fest gekommen, doch zurück kehrten sie – als Letten!«77 Die Integration nach innen, welche die Sängerfeste bewirkten, war von der Abgrenzung nach außen nicht zu trennen. Die lettische Nationsbildung verdankte ihre Entstehung ebenso einem starken Feindbild von den Deutschen, das teils auf Konstruktion, teils auf die Realität zurückging. Wie die Frontstellung gegen die Deutschen sich mit einer Allianz mit den Russen verband, zeigt das Engagement des Lettischen Vereins bei der Revisionsreise des russischen Senators Nikolai A. Manasein. Manasein, der später russischer Finanzminister wurde, bereiste in den Jahren 1882 und 1883 die Ostseeprovinzen, um dem neuen Zaren ein Bild der dortigen Verhältnisse zu geben und die Ausgangslage der geplanten Unifizierung zu beurteilen.78 Letten und Deutsche bemühten sich gleichermaßen um die Beeinflussung des einflußreichen Beamten zugunsten ihrer jeweiligen Interessen. Weitaus mehr Geschicklichkeit als das deutschbaltische Stadtbürgertum wiesen dabei die Mitglieder des Lettischen Vereins auf, die sich aus dem Abbau ständischer Vorrechte eine Erweiterung ihres Handlungsspielraums erhofften. Zunächst gelang es dem Verein, dem Senator einen lettischen Übersetzer, Andrej Sterste, zu vermitteln, der als Verfasser bekannter Streitschriften gegen Agrarlasten und die kulturelle Dominanz der Deutschen bekannt geworden war.79 Mit Andrej Sterstes Hilfe wurde es möglich, dem Senator Petitionen zu übergeben, welche die wesentlichen Forderungen der lettischen Nationalbewegung zusammenfaßten. Gegen Ende seiner Reise, im Herbst 1882, hatte Manasein rund 20 000 solcher Petitionen erhalten, die von Zehntausenden lettischer Bauern und Städter unterschrieben worden waren.80 Zunächst wurde darum gebeten, die adeligen Landtage durch die ZemstvoVerwaltung zu ersetzen. Die ständische Justiz- und Polizeiordnung, die Exekutive und Judikative in der Hand der deutschbaltischen Ritterschaften vereinte, sollte aufgehoben, die Kontrolle des Adels über schulische und kirchliche Angelegenheiten abgeschafft werden, die Wahl der Pastoren nicht mehr dem Gutsherren, sondern der Gemeinde zukommen. In den städtischen Schulen, wo bisher auf Deutsch unterrichtet worden war, sollte auch die lettische Sprache eingeführt werden. Über solche sozialen und kulturellen Emanzipa77 Alexanders Vēbers über das erste lettische Sängerfest, zitiert nach: Rīgas Latviešu biedrība sešos gadu desmitos, S. 95. 78 Vgl. Thaden, Manaseins Senatorenrevision; Thaden, Russification in the Baltic Provinces; Haltzel. 79 Vgl. Stērste. 80 Siehe Plakans, The Latvians. A short Story, S. 230.

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tionsbestrebungen hinaus ging die Forderung nach einer Neuaufteilung der Ostseeprovinzen in ein lettisches und ein estnisches Gouvernement: »Diese Gouvernements könnten entweder einen der alten Namen behalten oder auch eine neue Benennung erfahren. Sie könnten zum Beispiel Lettland oder Estland genannt werden. In jedem dieser Gouvernements gäbe es alsdann zwei Nationen, Letten und Deutsche, beziehungsweise Esten und Deutsche.«81 Die lettische Forderung, ethnische und politische Provinzgrenzen dekkungsgleich zu machen, richtete sich vor allem gegen das Beharren des deutschbaltischen Adels auf einer ständisch legitimierten Grenzziehung. Die russische Regierung hatte jedoch an der Realisierung ethnisch begründeter Vorstellungen nicht das geringste Interesse, denn ihr ging es nicht um die Bevorzugung nationaler Bewegungen, sondern um eine Zentralisierung und Vereinheitlichung des multiethnischen Reiches. Vom Maximalprogramm der lettischen Petenten löste sie daher nur jene Forderungen ein, die diesem spezifischen Interesse entsprachen. Doch im Abbau der ständischen Ordnung, welche die Regierung in den 1880er Jahre vorantrieb, wurde die partielle Interessengleichheit erkennbar, welche die lettische Nationalbewegung mit der russischen Reichsregierung verband und die vom lettischen Nationalisten Krišjanis Valdemars auf die eingängige Formel gebracht wurde: »Glauben Sie wirklich, es wäre besser für die Letten, germanisiert zu werden, und in der Sklaverei zu verbleiben, als russifiziert zu werden und dadurch die Freiheit zu erlangen?«82 Das emanzipatorische, dabei bürgerlich geprägte Nationsverständnis, das der Rigaer Lettische Verein vertreten hatte, sollte sich mit der zunehmenden sozialen Differenzierung der lettischen Bevölkerung ändern. Innerhalb des Vereins gaben seit der Mitte der 1880er Jahre zunehmend Wirtschaftsbürger den Ton an, die sich von den mittellosen Migranten, die in die Stadt strömten, zu distanzieren suchten und für die Probleme des entstehenden Proletariats keine Lösungen bereit hielten. Hatte das Ziel der lettischen Protagonisten zwar in einer sozialen Differenzierung der vormals bäuerlichen Bevölkerung gelegen, so konfrontierte die Realisierung dieses Ziels sie jetzt mit der zunehmenden Unglaubwürdigkeit ihres Postulats einer Nation freier gleicher Bürger. Besonders deutlich faßte der Sozialdemokrat Jānis Asars im Jahr 1904 die Kritik zusammen, welche dem Lettischen Verein aus den Reihen der linken Intelligenz und der Fabrikarbeiterschaft entgegenschlug: »Das Verdienst des bürgerlichen Nationalismus lag darin, die aktuellen Fragen der Nation in die Öffentlichkeit zu bringen … Doch … als Valdemars 1891 starb, stand das Bürgertum zwar an seinem Sarg, aber war gleichzeitig weit entfernt von seinen 81 Vgl. Baltijas Vēstnesis 13.7.1881: »Alsdann könnte man in jedem dieser Gouvernements bei den Behörden mit nur zwei Sprachen auskommen: mit der russischen als Reichs- und der estnischen oder lettischen als Landessprache.« 82 Zandbergs, S. 147f.

234

Überzeugungen. Nachdem das wirtschaftliche Programmm des Bürgertums langsam Gestalt annahm, blieben nur noch … nationale Phrasen und Mythen, die lettische Sprache und Geschichte übrig.« 83

Wie exklusiv der Rigaer Lettische Verein seine Vorstellung von einer lettischen Nation zu definieren begann, illustrierte vor allem die veränderte Grenzziehung nach innen und außen. War den Veranstaltern der Sängerfeste in den 1870er und 1880er Jahren gerade die Vereinigung von städtischer und ländlicher Bevölkerung ein Anliegen gewesen, grenzte sich der Verein seit den 1890er Jahren zunehmend von den lettischen Unterschichten ab. Ein Vertreter bäuerlicher und proletarischer Gruppen wie das Vereinsmitglied Juris Maters, der in seiner Zeitung ›Baltijas Zemkopis‹ (Baltischer Landwirt) das bürgerliche Nationsverständnis der Vereinsleiter unter Beschuß nahm, wurde kurzerhand aus dem Verein ausgeschlossen.84 Ähnlich distanzierte man sich von der lettischen ›Irredenta‹, der im polnischen Gouvernement Vitebsk liegenden Region Latgalen. Bei den dort lebenden Letten, die 1897 ca. 25% aller ethnischen Letten ausmachten,85 handelte es sich um eine bäuerliche, weitgehend analphabetische Bevölkerungsgruppe, die einen eigenen latgalischen Dialekt sprach und der katholischen Konfession angehörte.86 Ein latgalischer Aktivist überlieferte den kühlen Empfang, der seinen Zielen vom Lettischen Verein zuteil wurde: »Daß außerhalb von Kurland und Livland noch ein Gebiet Latgalen bestand, welches in den Lauf seiner Entwicklung, besser wohl Rückständigkeit, gepreßt war und nun seine Forderungen und Ziele aufstellte, mit seinen Ideen verknüpft war – das war den Letten fremd und auch gleichgültig. Sie dachten folgendermaßen: Wenn die Latgaler schon Letten sind, dann müssen sie sich auch in die lettische Sprache mit ihrer Kultur und ihrem Geist einfügen, sind sie jedoch etwas anderes, dann gehen sie uns auch nichts an. So wurde in den Reihen des Rigaer Lettischen Vereins beschlossen, daß es weder eine latgalische Sprache noch Literatur geben könne.«87 Nicht nur von der Landbevölkerung begannen sich die bürgerlichen Vereinsmitglieder zu distanzieren, auch Juden gehörten zunehmend nicht mehr zur Nation. Krišjanis Valdemars hatte noch für eine enge Zusammenarbeit mit den Juden plädiert, von deren Vorbild lettische Unternehmer nur profitieren könnten.88 Doch am Ende der 1880er Jahre, als die bürgerliche Nationsdeutung zunehmend Konkurrenz erhielt, entwickelten ihre Vertreter 83 84 85 86 87 88

Asars, LNB. Vgl. Maters, 1. Bd., S. 286. Vgl. Plakans, The Latvians, S. 263. Vgl. Bukšs, Nationales Erwachen; Kemps. Bukšs, Nationales Erwachen, S. 217. Vgl. Baltijas Vēstnesis 11.12.1881.

235

236 Unterstützung von Arbeitern und Handwerkern Gegenseitige Unterstützung, beruflicher Austausch

1878

1880 1881

Lettischer Handwerker Hilfsverein7 Rigaer lettischer Gesangsverein8

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

100 (nur Frauen) 220

100

1.826

1989

297 (nur Frauen) 2845

952

2452

Mitglieder

Handwerker, Gewerbetreibende Besitz- und Bildungsbürgertum Besitz- und Bildungsbürgertum Handwerker

Kleinbürgertum, Arbeiter

Besitz- und Bildungsbürgertum Besitz- und Bildungsbürgertum Kleinbürgertum, Arbeiter

Kleinbürgertum, Arbeiter

Soziales Profil

Die Mitgliederzahlen beziehen sich auf die Jahrhundertwende, wenn nicht anders angegeben. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf das Jahr 1889. Vgl. Gada parskats par ceribas biedrības darbošanos. RLB 1928. Vgl. Rīgas Latviešu labdaribas biedrība sešos gadu desmitos. Jonatana biedrības parskats darbošanam; Ruckij, S. 25. Vgl. Pavasara biedrība gada parskats. Vgl. Vēsturiks atskats uz Rīgas Latviešu palidzibas biedrības. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf das Jahr 1890, Rigasches Adreßbuch 1890. Rigasches Adreßbuch 1900. Rigasches Adressbuch 1900.

Überdünscher Lettischer Wohltätigkeitsverein9 Überdünscher Lettischer Handwerker-Hilfsverein10

1872

Frühlingsverein6

1879

Gegenseitige Unterstützung, Kredite für Handwerker Pflege mehrstimmigen Gesangs

1870

Hilfsverein Jonathan5 Gegenseitige Unterstützung bei Unfall und Krankheit, Geselligkeit Gegenseitige Unterstützung

1869

Pflege von Bildung, Kultur und wirtschaftlicher Selbständigkeit Soziale Fürsorge

Gegenseitige Unterstützung

Ziel

Lettischer Wohltätigkeitsverein4

1867

Gegründet

1868

2

Rigaer Lettischer Verein3

Hilfsverein Ceribas

Name

ca. 100% Letten

mind. 95% Lettinnen

ca. 100% Letten

mind. 90% Letten, einige Russen, Polen, Deutsche ca. 85% Letten, einige Russen, Polen, Deutsche ca. 95% Letten

fast nur Lettinnen

ca. 80% Letten, ca. 20% Russen, Deutsche, Polen, Esten, Juden ca. 100% Letten

Ethnische Zusammensetzung

Tab. 21: Ausgewählte Vereine des lettischen Milieus um 1900 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung1

237

11

1887 1891 1892 1902

Hilfsverein Austrums14

Rigaer Radfahrerverein15

Arbeiterhilfsverein16

Lettischer Ärzteverein

11 12 13 14 15 16

Pflege des mehrstimmigen Gesangs

1883

Vgl. Auseklis, Rīgas Latviešu atturibas biedrība gada grammata. Rigasches Adressbuch 1900. Vgl. Baltijas almanahs, S. 100. Vgl. Rigas Savstarpigas palidzibas biedrības »Austrums« vēsture. Rīgas ritenbrauceju biedrība parskats. Vgl. Baltijas almanahs, S. 2.

Beruflicher Austausch

Gegenseitige Unterstützung

Gegenseitige Unterstützung bei Unfall und Krankheit Sportliche Aktivität, Geselligkeit

Pflege des Gesangs, Geselligkeit

Entzugshilfe für Alkoholiker

Gegenseitige Unterstützung, Kredite

Ziel

1883

1882

1882

Gegründet

Gesangsverein der Petersburger Vorstadt12 Gesangsverein Rota13

Lettischer Abstinenzverein Auseklis

Rigascher Hilfsverein

Name

20

480

244

247

1000

o.A.

70

o.A.

Mitglieder

Freie Intelligenz

Besitz- und Bildungsbürgertum Arbeiter

Handwerker, Arbeiter

(Klein)bürgertum

Besitz- und Bildungsbürgertum Kleinbürgertum, Arbeiter

Kleinbürgertum, Arbeiter

Soziales Profil

100% Letten

o.A.

mind. 90% Letten

ca. 100% Letten

mind. 95% Letten

ca. 95% Letten

ca. 100% Letten

ca. 95% Letten

Ethnische Zusammensetzung

eine religiös und wirtschaftlich motivierte Judenfeindlichkeit, die sich im wiederholten Aufruf zum Boykott jüdischer Läden niederschlug.89 Auch die zunächst durchlässigen ethnischen Grenzen hatten sich verfestigt. Mit der Inanspruchnahme kultureller Argumente zur Durchsetzung politischer Interessen waren Deutsche und Russen innerhalb des Lettischen Vereins zunehmend marginalisiert worden. Ebenso wie die lettischen Nationalisten Dīriķis, Vēbers und Kalniņš 1881 aus der deutsch dominierten Lettisch-literärischen Gesellschaft ausgeschlossen worden war,90 wurden Deutsche im Lettischen Verein jetzt zunehmend zum Austritt genötigt. Exemplarisch für eine solche Ethnisierung der Geselligkeit war der Konflikt zwischen Johann Zimse, dem deutsch akkulturierten Leiter des lettischen Volksschullehrerseminars, und Atis Kronvalds, einem bedeutenden lettischen Autor und Publizisten.91 Auf dem festlichen Souper, zu dem der Lettische Verein im Anschluß an das Sängerfest des Jahres 1873 geladen hatte, kam es zu einem öffentlichen Rededuell zwischen beiden Männern über die Frage, wem der Erfolg des Festes zu verdanken sei. Während Zimse den Einfluß des deutsch geprägten Schulwesen anführte, argumentierte Kronvalds mit der Kraft der lettischen Nationalbewegung. Die Auseinandersetzung endete schließlich in Zimses Austritt aus dem Lettischen Verein. Andere als lettische Mitglieder wies der Verein seit dem Ende der 1880er Jahre kaum mehr auf.92 Dieses Merkmal prägte nicht nur den Rigaer Lettischen Verein, sondern schlug sich in fast allen lettischen Vereinen nieder, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren. Kulturelle Muster und Vorstellungen, die hier praktiziert wurden, dienten zugleich der Durchsetzung politischer Interessen, die sich im lettischen Fall um die Ordnungsidee der Nation gruppierten. Ebenso wie die Deutschen markierten die Letten die Grenzen ihrer Geselligkeit ethnisch, wie der Blick auf die lettische Vereinslandschaft (Tab. 21) zeigt. Mit der zunehmenden sozialen Differenzierung der lettischen Bevölkerung fielen Inklusionspropaganda und Exklusionsrealität des Lettischen Vereins immer stärker auseinander. Die Vorstellung einer homogenen ›tauta‹ (Volk) mit einheitlichen Interessen entsprach nicht mehr der Wirklichkeit einer bürgerlichen Klassengesellschaft. Das Desinteresse der wohlhabenden Anwälte, Hausbesitzer oder Unternehmer des Lettischen Vereins gegenüber den sozialen Problemen der Industriegesellschaft sowie das Fehlen jeglichen Versuchs, das nationale Programm zu demokratisieren, erregte 89 Baltijas Vēstnesis 14.9.1888. Vgl. Dribins, Judenfrage. 90 Vgl. Bielenstein, Leben, S. 426; v. Hehn, Lettisch-literärische Gesellschaft, S. 136ff. 91 Vgl. v. Hehn, lettisch-literärische Gesellschaft, S. 123ff. 92 Der Sprachforscher Bielenstein und der deutsche Bürgermeister Wilhelm Kerkovius gehörten zu den wenigen Ausnahmen.

238

zunehmend die Kritik der jüngeren Generation. Jānis Jansons-Brauns, einer der führenden linken Intellektuellen spitzte diese Kritik besonders zu: »Die in den neunziger Jahren herrschende Ideologie der Volksverbundenheit stimmte überhaupt nicht mehr mit den erfolgten Wandlungen des sozioökonomischen Lebens überein … Das ganze Hurrageschrei der ›Stützen‹ des Volks, der Ruf nach ›Volkswohl‹ … das Sammeln von Volkstrachten usw. harmonisierte in keiner Weise mehr mit den drückenden Forderungen weiter Volksschichten … Eine sorgenvolle Unruhe hatte sich der ländlichen und städtischen demokratischen Kreise bemächtigt, man suchte und fragte nach Auswegen aus der drückenden Stagnation, und all dies veranlaßte die demokratische Jugend, den großen Männern der Volksverbundenheit den Rücken zuzukehren, der niederen Schicht zuzuhören und sich ernsthaft mit den sogenannten ›sozialen Fragen‹ zu beschäftigen.«93

Seit den 1890er Jahren erwuchs dem Lettischen Verein Konkurrenz um das Deutungsmonopol der Nation. Unter dem Namen ›Jauna strava‹ (Neue Strömung) formierten sich linke Intellektuelle zu einer schlagkräftigen Gruppe, die jetzt die Führung der lettischen Industriearbeiterschaft übernahm. Die Vertreter eines bürgerlichen Nationsverständnisses, wie es der Lettische Verein propagierte, waren vom europäischen Frühliberalismus und speziell dessen deutscher Ausprägung beeinflußt gewesen.94 Auch ihnen war eine ›Gesellschaft mittlerer Existenzen‹ (Lothar Gall) als ideale Vorstellung einer lettischen Nation erschienen. Die jungen Akteure der ›Jauna strava‹ griffen dagegen die Ideen des europäischen Sozialismus auf, wobei der deutsche Marxismus ein besonders häufig diskutiertes Transferprodukt darstellte. Jānis Jansons-Brauns erinnerte sich daran, wie es »unter Überwindung unwahrscheinlicher Schwierigkeiten und Hindernisse gelang … einige marxistische Ausgaben zu erhalten. Und mit welchem Enthusiasmus lasen wir sie, schrieben ganze Kapitel daraus ab und gaben sie weiter. Das war die deutsche marxistische Literatur … aus der wir selbst lernten und dann unser Wissen an die ersten lettischen Marxisten weitergaben.«95 Bestandteile dieser Ideologie wurden den lokalen Verhältnissen angepaßt und resultierten in einem lettisierten Klassenbegriff, der sozialistische Forderungen im nationalen Rahmen vertrat. Der Kern dieses Klassenbegriffs war die Vorstellung von einer lettischen Republik innerhalb eines föderalisierten und demokratisierten Reichs. Vorausgesetzt wurde dabei die Abschaffung der Monarchie. Mit der inhaltlichen Ausfüllung dieser Zielutopie durch ein allgemeines, gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, 93 Jānis Jansons-Brauns, Pirmie soli ;Erste Schritte=, in: Revolucionara kustība Latvijā, S. 13f. 94 Vgl. Kalniņš, Latvijas sociāldemokrātijas. 95 Jānis Jansons-Brauns, zitiert nach L. Duma, Lettische revolutionäre Sozialdemokraten in Deutschland, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Jg. 19, 1970, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1, S. 83f.

239

Acht-Stunden-Tag und Gewerkschaftsgründung sowie kostenlosem Schulunterricht entsprach das Programm der lettischen Sozialisten dem der meisten sozialdemokratischen Bewegungen Europas. Markant unterschieden sich diese Ziele jedoch vom Nationsverständnis der ersten Generation, das auf soziokulturelle Emanzipation gerichtet war, kaum jedoch politische Forderungen aufgewiesen hatte. Hatten seine Vertreter im Lettischen Verein die Vorstellung der Nation durch Mythen und Geschichtskonstrukte zu legitimieren gesucht, so begannen die linken Intellektuellen jetzt mit der Dekonstruktion solcher Bilder: »Was die Geschichte nicht konnte, mußte die Mythologie erreichen. Deshalb handelten die ersten nationalen Führer so gerne von uralten Göttern und der höheren Entwicklung der Letten in der Zeit der Freiheit. Aber diejenigen, die im Zeitalter der Dampfmaschinen leben, kann das Altertum nicht mehr inspirieren.«96 Auch die Feindbilder hatten sich verschoben. Für den soziokulturellen Nationalismus der ersten Generation war die deutsche Oberschicht der zentrale Feind des lettischen Volkes gewesen, der nur mit Hilfe der russischen Regierung geschwächt werden konnte. Für den politisierten Nationalismus, den die linken Intellektuellen und die organisierte Arbeiterschaft jetzt zunehmend artikulierten, stellte hingegen der russische Staat den Klassenfeind dar. Die ideologische Segmentierung des lettischen Nationsbildungsprozesses und dessen organisatorische Spaltung in zwei konkurrierende Flügel ist von der lettischen Forschung bisher als Antagonismus von bürgerlichen und sozialistischen Kräften gedeutet worden.97 Diese Sichtweise entsprach sowohl den Deutungsakzenten der nationalen Meistererzählung, die während der Ersten Republik und erneut seit 1990 gepflegt wurde, als auch dem dichotomischen Gesellschaftsbild sozialistischer Historiker. Die Segmentierung des Milieus entlang ideologischer Grenzlinien läßt sich jedoch eher als Gleichzeitigkeit konkurrierender Nationsdeutungen betrachten, zumal der nationale Charakter der lettischen Sozialdemokratie in der Revolution von 1905 besonders hervortrat. Denn auch die neue Vorstellung von einer sozialistischen Republik war national bestimmt. Bereits die 1904 gegründete Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei machte die Mitgliedschaft zunächst vom Kriterium der Ethnizität abhängig, eine Entscheidung, die erst später aufgehoben wurde.98 Deutlicher noch illustriert der Forderungskatalog der Partei während der Revolution die Nationalisierung sozialistischer Politik.99 Denn 1905 aktuali96 Olavs, Gurdenums tautiskos centienos [Müdigkeit in den nationalen Bestrebungen], in: Ders., Kopoti Raksti, 4. Bd., S. 109. 97 Vgl. Švabe; Bilmanis; Spekke, Rīga, hg. von Krastiņš; auch heute noch; Latvija 19. gadsimtā. 98 Vgl. Plakans, The Latvians, S. 260. 99 Vgl. den Text des Programms abgedruckt bei Henning, Lettische sozialistische Bewegung, S. 97ff.

240

sierten auch die lettischen Sozialisten die Forderung der bürgerlichen Vereinsmitglieder von 1882, die ständische Dreigliederung der Provinzen durch eine ethnische Zweiteilung zu ersetzen. Die neuen Gouvernements Estland und Lettland sollten darüber hinaus eine Selbstverwaltung erhalten, welche die Einführung des Lettischen als Verwaltungs- und Schulsprache mit einschloß. Begnügte sich die internatonal orientierte Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit der Forderung nach kultureller Autonomie innerhalb eines demokratisierten Reichs, verlangte der 1903 gegründete Lettische Sozialdemokratische Verband bereits Selbstregierung und ein eigenes lettisches Parlament.100 Daß sozialistische und nationale Forderungen sich nicht widersprachen, sondern sich in einem lettisierten Klassenbegriff verbanden, illustrieren auch Überlegungen des führenden lettischen Marxisten, Peteris Stučka, die er unter dem Titel »Einheit oder Föderation« 1904 zur Diskussion stellte: »Es ist nicht zu leugnen, daß man sich vor der Begeisterung für nationale Fragen hüten muß, wenn sie bourgeoise Züge annimmt … Aber das hindert uns nicht, lettisch zu sprechen und zu schreiben und zu diesem Zweck die Sprache weiter zu entwickeln. Das müssen wir schon deshalb tun, weil eine Million und mehr Proletarier da sind, die kaum eine andere Sprache sprechen, und aus deren Reihen wir jeden Tag neue bewußte Genossen gewinnen müssen … So ist die Frage der Parteiorganisation eine Nationalitätenfrage und vor allen eine Sprachenfrage … Obwohl wir nicht im geringsten Nationalisten sind, täten wir doch gut daran … das föderative Prinzip und außerdem im sinnvollen Maße Selbstverwaltung und Selbstbestimmung zu fordern.«101

Eine solche Nationsdeutung, mochten ihre Umrisse auch verschwommen bleiben, konnte ungleich erfolgreicher integrieren als das immer exklusiver werdende Nationsverständnis des Rigaer Lettischen Vereins. Der Verein war über eine Mitgliederzahl von 1 000 nie hinausgekommen. Die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei wies dagegen bereits in ihrem Gründungsjahr 1904 über 2 500 Mitglieder auf und verzeichnete 1907 rund 16 000.102 Die Popularität eines lettisierten Klassenbegriffs belegen ebenso die nationalen Wahlergebnisse zur Allrussischen Duma. 1906, als ein nahezu allgemeines Männerwahlrecht herrschte, errangen seine Parteien in Riga 55% der Stimmen, wogegen die konservativen lettischen Parteien nur 10% erhielten.103 Auch 1907, als ein Besitzwahlrecht eingeführt war, das nurmehr rund 100 Vgl. den Text des Programms abgedruckt ebd., S. 93f. 101 Stučka, Vienība vai federācija [Einheit oder Föderation], abgedruckt bei Henning, Lettische sozialistische Bewegung, S. 88ff. 102 Vgl. Henning, Lettische sozialistische Bewegung, S. 93; Kalniņš, Latvijas Sociāldemokrātijas, S. 46. In Riga wies die Partei im Jahr 1907 8 000 Mitglieder auf. Danach fiel die Mitgliedszahl aufgrund staatlicher Verfolgung rapide ab und kam 1909 nur noch auf 3 500 Mitglieder, s. ebd., S. 163. 103 Vgl. die genauen Wahlergebnisse zur zweiten Duma in: Rigasche Rundschau, 13.2.1907, sowie Bericht über die Tätigkeit der BKP 1907.

241

ein Drittel der männlichen Bevölkerung zur Wahl berechtigte, errang der Kandidat der Sozialisten in Riga noch immer 37% aller Stimmen.104 Zwar markierte auch der sozialdemokratische Flügel die Grenzen seiner Nationsvorstellung ethnisch. Doch innerhalb dessen war die soziale, konfessionelle und geschlechterspezifische Offenheit groß. Über ihre proletarische Klientel hinaus vermochten die Vertreter der ›jauna strava‹ auch kleinund bildungsbürgerliche Schichten anzusprechen, wie deren Beteiligung an der Revolution belegt. Erstmals wurden auch Frauen aktiv in den lettischen Nationsbildungsprozeß eingebunden. Während ihnen vom Lettischen Verein ausschließlich der private Bereich zugesprochen war, suchte der sozialdemokratische Flügel sie am öffentlichen und politischen Leben zu beteiligen.105 Ebenso wurden Juden, die der rechtskonservative Fricis Veinbergs aus seinem Bild der Nation ausschloß, vom linken Flügel als Teil der Nation gesehen. Die Zusammenarbeit der lettischen Sozialisten mit dem jüdischen Bund während der Revolution dokumentiert, wie konvergierende ideologische Interessen zumindest in Krisenzeiten Verbindungen schufen, wo Ethnizität bislang getrennt hatte. Doch auch diese interethnische Allianz war ein temporäres Phänomen, das nach der Niederschlagung der Revolution keinerlei Fortsetzung fand. Ethnizität blieb das bestimmende Abgrenzungskriterium nach außen. Nach innen war das lettische ›Nation-building‹ indes erheblich segmentiert. Denn über die Deutung der Nation ließ sich spätestens seit der Jahrhundertwende keine Einigkeit mehr erzielen. Zwischen bürgerlichem Nationsverständnis und lettisiertem Klassenbegriff klafften ideologische Gräben, die so tief waren, daß man in getrennten Parteien gegeneinander antrat und separate Vereine gründete; seit 1905 konnte auch die kulturelle Praxis des gemeinsamen Singens nicht mehr verbinden. Die ideologische Spaltung des lettischen ›Nation-building‹ lässt sich mithin auch als Hinweis darauf lesen, daß Nationsbildung auch in Ostmitteleuropa weniger zur Homogenisierung breiter gesellschaftlicher Gruppen führt, als vielmehr einen Prozeß pluraler Aneignung darstellt. Auch im lettischen Fall lag die Überzeugungskraft des nationalen Konzepts weniger in der Einheitlichkeit einer Vorstellung als vielmehr in der konfligierenden Vielfalt unterschiedlicher Deutungen.

104 Vgl. Kalniņš, Latvijas Sociāldemokrātijas, S. 155. 105 Vgl. Dermane.

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3. Der Primat der Geselligkeit und seine Schwäche: Der Russische Klub Öffentlichkeit fand in der russischen Bevölkerung Rigas lange Zeit nicht statt. Auch als das deutsche Assoziationswesen hoch entwickelt war und die Letten energisch nachzogen, war der Verein als geselliges Zentrum für die Rigaer Russen keine Option: »Die russischen Rigenser in der Zeit vor der Gründung des (Russischen) Vereins besaßen keinerlei Organisationen, und nicht nur die Hinzugezogenen, sondern auch die Russen, die hier geboren waren, verneinten die Existenz einer russischen Öffentlichkeit in Riga. Meist lebten die Russen hier getrennt voneinander und wanderten im Dunkel der Einsamkeit wie Kometen umher, die zu keinem System gehörten. Entweder gingen sie von einem fremdstämmigen Verein zum anderen, oder sie schliefen in aller Ruhe und wußten gar nicht, was außerhalb der familiären Sphäre vor sich ging, und wollten es auch gar nicht wissen.«106 Die Schwäche der russischen Vergesellschaftung, die den Zeitgenossen gerade im Vergleich zur differenzierten Vereinslandschaft der Deutschen und Letten so ins Auge stach, hat sich auch in der Historiographie niedergeschlagen. Abweichend von der dichten Überlieferung des lettischen und deutschen Assoziationswesens ermöglichen nur wenige Beschreibungen einen Einblick in die Innenwelt russischer Geselligkeit, bleiben persönliche Erinnerungen an Austausch und gemeinsames Tun jenseits von Politik und Familie Mangelware. Eine Ausnahme stellt der Russische Klub dar, der seit 1864 das unangefochtene, lange Zeit aber auch einzige Zentrum russischer Öffentlichkeit in Riga war.107 Daß die Rigaer Russen zunächst kaum öffentliche Räume kannten, in denen gemeinsame Ziele verfolgt wurden, in denen man Austausch und Gespräch, und damit ›bürgerliche‹ Tugenden pflegte, rührte nicht nur von individuellem Desinteresse, sondern auch von der wenig bürgerlichen Zusammensetzung her, die Rigas russische Bevölkerung in den 1860er Jahren aufwies. Von den etwa 26 000 Russen, die 1867 in Riga lebten, gehörten knapp 20% dem stehenden Heere an und standen dem zivilen Leben fern. Etwa 25% waren Arbeiter, bei den übrigen handelte es sich meist um Kleinhändler, Gewerbetreibende und Dienstboten. In den Fragebögen der Volkszählung bezeichneten sich überhaupt nur 600 Russen als Inhaber bürgerlicher Berufe, nämlich als Beamte, Ärzte, Apotheker, Fabrikanten, oder selbständige Kaufleute. Darunter fielen auch 32 Russinnen, die als Lehrerin106 Russkaja pesnja v Rige, S. 5. 107 Die Vereinsgeschichte ist nur als handschriftliches und unabgeschlossenes Fragment im Fonds 3746, LVVA, überliefert und wurde von der Forschung bisher nicht ausgewertet.

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nen oder selbständige Kauffrauen tätig waren.108 Innerhalb dieses schmalen bürgerlichen Segments wirkten zunächst nicht nur ständische und berufliche Zugehörigkeiten trennend, auch die konfessionelle Prägung verhinderte engere Kontakte zwischen Orthodoxen und den Altgläubigen, die 1867 knapp 30% der russischen Bevölkerung Rigas ausmachten. Das Gros des bürgerlichen Spektrums zog daher den privaten Verkehr und das häusliche Festessen der öffentlichen Geselligkeit vor: »Kaufleute gingen zum Gottesdienst oder besuchten einander wochenlang. Vereine kannten wir damals nicht. Wir, ich muß es gestehen, wollten keine Klubs haben.«109 Mancher schloß sich jedoch aus Mangel an russischen Vereinigungen dem einen oder anderen deutschen Klub an, dessen kulturelle Prägung nicht ohne Wirkung blieb, wie ein St. Petersburger Beobachter diagnostizierte: »Die eingeborenen russischen Kaufleute Rigas, welche alle ihre Bildung in deutschen Schulen erhalten mussten, … nähern sich, was ihre Lebensweise angeht, den deutschen Kaufleuten, während die Auswärtigen sich mehr an den Typus des echt russischen wohlhabenden Kaufmann anlehnen … Die Klage über die Spaltung der russischen Gesellschaft, über die Schwierigkeiten, in Riga etwas Russisches einzuführen … ist wohl begreiflich. Ein auch nur halbwegs gebildeter Russe wird hier in Riga schnell germanisiert … Bedarf er einmal der Zerstreuung, so findet er nur Vergnügungsorte … die nach deutschem Muster eingerichtet sind. Wenn dabei unserem Landsmann auch Manches komisch genug vorkommen mag, so geht er dennoch ins deutsche Theater, in den deutschen Club, denn … bei den Deutschen findet er alles schon fertig, will er’s russisch haben, so muß er es erst schaffen, pflegen und unterhalten. Allmählich gewinnt er denn auch an dem Einen oder Anderen gefallen und à la fin des fins hat er ganz ohne es zu merken deutsche Angewohnheiten und Anschauungen angenommen.«110

Das Bedürfnis nach einem eigenen öffentlichen Raum wurde erstmals während der städtischen Feiern zum tausendjährigen Bestehen des Russischen Reiches im Jahr 1862 artikuliert. Der wohlhabende Kaufmann G.S. Lomonosov, ein Mitglied der Altgläubigengemeinde, hatte aus diesem Anlaß zu einem Festessen in sein Haus geladen, das Angehörige unterschiedlichster Berufe erstmals an einen gemeinsamen Tisch brachte. In den zahlreichen Toasts verband sich der Stolz auf eine emphatisch verklärte Vergangenheit mit der Hoffnung auf eine reformorientierte Zukunft, die von der gerade erfolgten Bauernbefreiung genährt wurde. Dem staatlichen Reformschub gelte es nun auch auf lokaler Ebene nachzueifern, so schienen es die Gäste des Festessens empfunden zu haben: »Alle Reden, die von den Anwesenden gehalten wurden, durchdrang eine einzige patriotische Begeisterung, sie alle verfolgten 108 Resultate der Volkszählung 1867. 109 Rižskij Vestnik 17.10.1907. 110 Sovremennaja Riga, S. 333f.

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nur ein Ziel – die Vereinigung aller rigaschen Russen. Während der abendlichen Gespräche war die Rede von der Größe Rußlands, von der Bedeutung der Ostseeprovinzen, sowie von der Notwendigkeit, unseren Einfluß hier am Ort zu erhöhen, indem wir selbst die Bindung an unsere Nation durch öffentliche Vereinigung und die Verbreitung von Bildung festigen.«111 Als unmittelbare Folge der Feierlichkeiten wurde Ende 1862 ein Statutenentwurf zur Gründung eines Russischen Klubs nach St. Petersburg gesandt. Die treibende Kraft hinter dem Unternehmen war der russische Pädagoge Semjon Nikolajevič Šafranov, der am Rigaer Gouvernementgymnasium unterrichtete. Der Sohn eines Landgeistlichen hatte in Moskau studiert und dort das nationalistische Programm der ›Moskovskie Vedomosti‹ und des ›Golos‹ mit Begeisterung rezipiert. Nach Riga versetzt, besorgte er von dort zahlreiche Korrespondenzen für die ›tolstye žurnaly‹, die ›dicken Journale‹ St. Petersburgs und Moskaus. Zu Šafranovs Mitstreitern gehörte der Rigaer Zensor Konstantin A. Aleksandrov sowie Evgraf Vasil’evič Češichin, der spätere Chefredakteur des ›Rižskij Vestnik‹. Während der altgläubige Großkaufmann Lomonosov in den Kreisen der wohlhabenden Altgläubigen nach geeigneten Klubmitgliedern Ausschau hielt, nützten die Kaufleute Ignatij Alekseevič Šutov und Evtichij Jakovlevič Osipov ihre Verbindungen zu russischen wie deutschen Kaufmannskreisen für diesen Zweck. Dem wohlhabenden Textilhändler Osipov war es zu verdanken, daß der Klub kurz nach seiner Bestätigung aus St. Petersburg ein repräsentatives Gebäude im Herzen der Rigaer Altstadt erwerben konnte. Augenzeugenberichte vom Gründungsball des Russischen Klubs im Jahr 1864 illustrieren, wie ungewöhnlich das Phänomen russischer Geselligkeit in einer deutsch dominierten Umgebung auf die Zeitgenossen wirkte: »Als die Teilnehmer der Festlichkeiten, die anläßlich der Eröffnung des Russischen Klubs in Riga begangen wurden, der überraschend riesigen Menschenmenge in den Räumlichkeiten des Klubs ansichtig wurden, die als eine der größten der Stadt galten, konnten sie einfach nicht begreifen, woher plötzlich so viele Russen hergekommen waren. Keine der neuesten Statistiken hätte solche Daten über die russische Gesellschaft Rigas sammeln können, noch eine so anschauliche Vorstellung von ihr geben können, wie es diese Festlichkeiten von den Russen vermittelten.«112 Ähnlich wie die meisten Kaufmannsklubs des Zarenreichs besaß auch der Russische Klub Rigas keine spezifischen Ziele. Vielmehr war er, wie die 111 Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 17, LVVA. Vgl. ebd.: »Dieser Abend blieb allen Personen, die daran teilgenommen hatten, in unvergeßlicher Erinnerung. Es war das erste Mal in Riga, daß sich Angehörige von Handel und Militär, daß sich Geistliche, Wissenschaftler und Beamte gemeinsam versammelten. Alles war auf die Erweckung nationalen Bewußtseins gerichtet.« 112 Ebd., S. 19.

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Gründungsstatuten festhielten, »mit dem Zweck gegründet worden, den russischen Rigensern Gelegenheit zu angenehmer und nützlicher Unterhaltung zu geben und sie einander anzunähern.«113 Nicht der Verfolgung bestimmter Interessen sollte der neue Klub dienen, sondern einer soziale und konfessionelle Grenzen überschreitenden Geselligkeit, die zunächst auch noch ethnische Unterschiede transzendierte. Der Charakter des Russischen Klubs als eines inhaltlich offenen, sozialen Raums ohne konkrete gesellschaftliche Zielvision unterschied ihn von den deutschen, lettischen und jüdischen Vereinen, die meist spezifische, oft ethnisch eingefärbte Leitvorstellungen wie ›Nation‹ oder ›Gemeinwohl‹, ›Bildung‹ oder ›Emanzipation‹ durchzusetzen suchten. Zugleich machte das Fehlen einer gesellschaftlichen Utopie den Klub für eine breite bürgerliche Klientel attraktiv. Auch die Möglichkeit, eine preiswerte Gästekarte zu erwerben, signalisierte eine gesellschaftliche Offenheit, welche die meisten deutschen Vereine der Zeit nicht besaßen. In den ersten Jahren nach der Gründung stieg die Mitgliederzahl auf rund 400 Personen, deren soziale Zusammensetzung vergleichsweise heterogen war und damit dem Postulat von »Allschichtigkeit und Gemeinschaft« recht nahe kam.114 Die Bandbreite der vertretenen Berufe reichte vom Untersuchungsrichter über den Chef des Postamts zum Stabskapitän einer Artillerie-Brigade, vom Inhaber einer Ölmühle über den Betriebsarzt der lokalen Eisenbahn bis zum knapp besoldeten Buchhalter im Zollamt, vom Privatlehrer bis zum mittellosen Studenten.115 Unter den Mitgliedern fanden sich Beamte und Vertreter der freien Intelligenz, doch dominierten die Angehörigen von Handel und Gewerbe.116 Nicht nur die sozialen Grenzen dieser Geselligkeit waren recht niedrig gezogen. Auch religiöse Kriterien spiegelten bei der Aufnahme neuer Mitglieder keine wesentliche Rolle. Dezidiert suchte der Klub zunächst die bestehenden Barrieren zwischen rechtgläubigen und altgläubigen Russen zu überwinden. Die Aufnahme zahlreicher altgläubiger Kaufleute wie der Besitzer einer Lederwarenfabrik Ivan Grigor’evič Laškov oder der Makkaronifabrikant Kiprijan Grigor’evič Makarov dokumentieren den Erfolg dieses Bestrebens.117 Besondere Ehre widerfuhr dem altgläubigen Porzellanindustriellen Matvej Sidorovič Kuznecov, der 1894 zum Ehrenmitglied ernannt wurde, eine Auszeichnung, die sonst nur dem Gouverneur und sehr hohen Beamten und Militärs widerfuhr. Auch Angehörige anderer christlicher Bekenntnisse fanden problemlos Eingang in den Klub, »der Lutheraner wurde 113 Statuten des Jahres 1874, in: Fonds 3746, apr. 1, Nr. 81, LVVA. 114 Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, LVVA, S. 23. 115 Fonds 3746, apr. 1, Nr. 37, 91, 97, LVVA. Genaue Mitgliederlisten, die eine statistische Auswertung der Berufsarten ermöglicht hätte, sind nicht vorhanden. 116 Vgl. Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, LVVA, S. 21. 117 Vgl. Podmazov, S. 71, 104ff.

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ebenso wenig abgewiesen wie der Rechtgläubige oder der Altgläubige.«118 Im Gegensatz zum Gros der deutschen und lettischen Vereine gewährte der Russische Klub auch jüdischen Rigensern Eingang in die Klubräume in der Kalkstraße. 1880 waren rund 5% der Mitglieder jüdisch, 1900 etwa 8%, danach stagnierte die jüdische Präsenz wieder bei rund 5%.119 Jüdische Kandidaten konnten jedoch nicht wie manche christlichen Klubmitglieder aus dem Kleinbürgertum kommen, sondern mussten über Bildung, erheblichen Besitz und gewisses Prestige verfügen, sollte ihre Bewerbung erfolgreich sein. So war der 1891 aufgenommene Samuel Abramovič Maikapar der angesehene Inhaber einer florierenden Tabakfabrik, und bei dem 1901 eingetretenen O.E. Eliasstamm handelte es sich um einen der bekanntesten Ärzte Rigas, der zugleich Vorstand der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Russlands war. Offen war der Klub zunächst auch in ethnischer Hinsicht. Das Fehlen einer konkreten Zielvision ermöglichte eine Praxis der Geselligkeit, die nicht sofort von politischen Zielen instrumentalisiert wurde. Zwar hielten die Statuten des Klubs formal fest, daß nur Russen zu Klubältesten gewählt werden dürften, doch »die damalige Stimmung der russischen Gesellschaft maß dieser Bedingung keine Bedeutung zu, weshalb die meisten Russen sich ablehnend zu ihr verhielten« und auch Deutsche anfänglich als Kandidaten auftraten.120 Unter den regulären Klubmitgliedern befanden sich zunächst rund 30% Deutsche, die sich von der sozialen Offenheit und dem gesellschaftlichen laissez-faire des Klubs mehr angezogen fühlten als von der strengen ständischen Etikette der meisten deutschen Vereine. Familienabende und Maskeraden, Billiardspiel und ein informeller Umgangston stachen für viele wohltuend von dem ernsthaften Habitus ab, mit dem das Gros der deutschen Vereine konkreten Zielen nachging und dabei erhebliches Engagement verlangte. So konnte es hier passieren, daß »ein Herr ins Billiard-Zimmer aus Unwissen seinen Hund mitnahm und darin keine Verletzung der inneren Ordnung sah, weil er ihn ständig auch zum Alipief-Traktier mitnahm.«121 Die zunächst vorherrschende Indifferenz gegenüber ethnischen Kriterien trat auch in der Präferenz der Umgangssprache zutage. Die hohe Zahl deutscher Mitglieder sowie die Vertrautheit der russischen Mitglieder mit der deutschen Sprache führte dazu, daß beim Mittagstisch, beim Souper oder auch beim nachfolgenden Billiardspiel zunächst mehr das Deutsche als das Russische benützt wurde, wie der Vereinschronist festhielt: »Es ist heutzutage schwer zu sagen, welche Sprache beim Diner oder am Kartentisch bevor118 119 120 121

Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 23, LVVA. Fonds 3746, apr. 1, Nr. 37, 91, 97, LVVA. Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 24, LVVA. Ebd., S. 21.

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zugt wurde. Die deutsche Sprache hatte im Klub die gleichen Rechte, so daß bei einem Treffen einer russischen und deutschen Gesellschaft die Sprache der letzteren zur Verständigung bevorzugt wurde.«122 Auch das äußerliche Ambiente trug zunächst eher deutschen Charakter, was die Klubmitglieder nicht zu stören schien. Denn der Russische Klub hatte die Räumlichkeiten des ehemaligen deutschen Casinos übernommen und an dessen Ausstattung und Service nichts zu ändern für nötig erachtet: »Die Dienerschaft im Klub außer dem Portier bestand aus Letten und Deutschen, die schlecht oder gar nicht russisch sprachen. Das Büfett wurde nach dem Muster der deutschen Klubs von Frauen geführt, die ebensowenig ein Wort Russisch verstanden … Die Speisekarte wurde auf russisch und deutsch zusammengestellt. Die Küche war deutsch, russische Speisen verstand ja keiner zuzubereiten.«123 Seine deutschen Mitglieder hatten den Russischen Klub zunächst nicht als Vermittlungsinstanz russischer Interessen in Verbindung gebracht, zumal der Primat der Geselligkeit nicht nur in den Statuten festgelegt worden war, sondern auch die Praktiken des Klublebens bestimmte. Doch die Idee eines gänzlich unpolitischen Raums ließ sich in einer zunehmend politisierten Umgebung immer schwerer aufrechterhalten, wie bald deutlich wurde. Die Reformen des russischen Staates sowie das Pochen der russischen Öffentlichkeit auf einer verstärkten Integration der Ostseeprovinzen in das Reich blieb auf die russischen Mitglieder des Klubs nicht ohne Wirkung. Öffentlichkeitswirksame Ereignisse wie die skandalumwitterten Publikationen der politischen Antipoden Samarin und Schirren wurden auch im Russischen Klub heiß diskutiert und trugen dazu bei, politische Gegensätze zunehmend mit ethnischer Zugehörigkeit zu verknüpfen: »Die Deutschen schienen sich vorgestellt zu haben, daß der Russische Klub kein eigentlicher Klub würde, sondern mehr einem Pub oder einem der deutschen Vereine gleichen würde. Der Verstärkung dieser Unkenntnis diente auch die vollkommene Ignoranz der Rigaer Deutschen bezüglich der Befreiungsepoche in Rußland, der selbstgerecht die baltische Lässigkeit gegenübergestellt wurde. Sonst wären die Verhältnisse zwischen beiden Seiten schon von Anfang klar gewesen.«124 Die Spannung zwischen den konfligierenden Deutungen von der russischen ›Nation‹ gegenüber jener einer baltischen ›Region‹, von reichsweiter Integration gegenüber provinzialer Autonomie begann die unpolitisch gedachte Geselligkeit allmählich zu untergraben. Typisch für diese Politisierung von Geselligkeit, die zugleich zur Errichtung ethnischer Grenzen führte, waren zunehmende Differenzen zwischen deutschen und russischen Mitgliedern: »Die Streitigkeiten entstanden beim Mittagessen im Klub, wo der Baron an 122 Ebd. 123 Ebd., S. 23, dort auch das folgende Zitat. 124 Ebd., S. 22.

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einem Tisch zusammen mit jungen Beamten aus der Kanzlei des GeneralGouverneurs saß. Die jungen Leute erörterten … die polnische Frage, die Zemstvo und die Gerichtsreform. Im Laufe der Erörterung wurde auch die Broschüre des Barons Čto delat’ s Pol’šeju besprochen. Es kam zum Streit mit einem Herren, der sich als offizieller Korrespondent von Michail Katkov bezeichnete, und sich dem Baron gegenüber ungehörig benahm, worauf dieser sich beim Ältestenrat des Klubs beklagte.«125 Obwohl nach diesem Eklat beteuert wurde, »die Sache mit dem Baron sei eigentlich eine Verletzung der inneren Klubordnung und keinesfalls der nationalen Ehre«, war der Konflikt repräsentativ für die zunehmende Politisierung des Vereinslebens. Aber auch kulturelle Leitvorstellungen und Denkfiguren divergierten in einem Maße, daß die Beziehungen zwischen deutschen und russischen Vereinsmitgliedern sich zunehmend verschlechterten: »Während die deutsche Gesellschaft von ihrer Vergangenheit profitierte und um ihre Gegenwart zitterte, die sie für die Krone der Schöpfung hielt, lebte die russische Gesellschaft weniger von der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern vielmehr von der Zukunft.«126 Die anfängliche Vorstellung der Vereinsmitglieder, daß politische Auseinandersetzungen im Russischen Klub nichts zu suchen hätten, und der Primat der Geselligkeit den politischen Dissens neutralisieren könne, erwies sich immer mehr als Fiktion.127 Als Folge des zunehmenden Dissenses, den gegensätzliche politische Ziele und kulturelle Leitvorstellungen auslösten, kam es seit den 1870er Jahren zum Austritt der meisten Deutschen. Die Mitgliederzahl, die 1866 rund 400 Personen betragen hatte, sank 1872 auf 260.128 Lettische Mitglieder hatte der Klub kaum. Für das Jahr 1888 ließen sich sechs lettische Mitglieder feststellen, das entsprach etwa 2%, für das Jahr 1895 etwa 3%.129 Dazu zählte auch Michaels Drekslers, das bedeutendste lettische 125 Ebd., S. 24. 126 Ebd., S. 25. Und weiter heißt es dort: »Aus den Gesprächen mit den Deutschen stellte sich heraus, daß sie mit dem Leben im Inneren Rußlands überhaupt nicht vertraut waren … Alles, was Rußland betraf, sahen die Deutschen mit den Augen der damaligen deutschen Rigaer Zeitung, weshalb ihre Belesenheit beim Gedankenaustausch und in Fragen, die das staatliche Leben Rußlands anging, sehr bald am Ende war … Wenn man das Thema der Bauernreform oder des Gerichts ansprach, so bekam man zur Antwort: ›Nun, das wollen wir noch sehen!‹ Wenn man auf einen russischen Wissenschaftler hinwies, war die Antwort: ›Alles Dunst!‹ Wenn man aber das Gespräch auf die baltische Ordnung lenkte, so wurde mit überheblicher Freundlichkeit bemerkt: ›Der alte Zopf muß abgeschafft werden‹, anschließend wurde aber unbedingt hinzugefügt: ›Wo aber finden sie eine solche Ordnung wie in unseren baltischen Provinzen?‹ Danach ertönte immer die alte Leier über die Dorpater Universität, das deutsche Theater in Riga, den Wöhrmannschen Garten usw. Und zuletzt predigte man womöglich noch: ›Nun, Sie verstehen es besser als andere, Sie haben ja die deutsche Erziehung und Bildung genossen.‹« 127 Vgl. Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 26, LVVA. 128 Fonds 3746, apr. 1, Nr. 37, 91, 97, LVVA. 129 Ebd.

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Mitglied des Russischen Klubs. Drekslers, der vom Protestantismus zur Orthodoxie konvertiert war, leitete das Orthodoxe Lehrerseminar in Riga und verkörperte in den Augen der Russen die Brücke, welche der orthodoxe Glaube zwischen Letten und Russen schlagen könne.130 Neben seiner Mitgliedschaft in der Peter-und-Paul-Brüderschaft war Dreksler auch Mitglied des Lettischen Vereins, wo er für eine enge russisch-lettische Allianz gegen die Deutschen eintrat. Toasts auf das ›Wohl des gemeinsamen Vaterlands‹ und die ›gemeinsame Abstammung von Letten und Slawen‹ waren an den Mittagstischen des Russischen Klubs in den 1870er und 1880er Jahren die Normalität.131 Danach machte sich auch hier die Distanz bemerkbar, welche die staatliche Russifizierung, die Politisierung der lettischen Nationalbewegung und schließlich die Revolution zwischen Letten und bürgerlichen Russen auslöste. Vor 1914 gab es keine Letten mehr unter den Mitgliedern des Russischen Klubs. Frauen war der Zugang zum Russischen Klub ebenso wie im Lettischen Verein oder in der deutschen Bürgerverbindung nicht gestattet. Doch die Vermischung von privatem und öffentlichem Leben, die das Vereinsleben prägte, ließ die Geschlechtergrenze hier zunächst weniger spürbar erscheinen. Ein Damenverein für Gesang und Literatur entwickelte sich, den der männliche Chronist des Vereins als »Damen-Separatismus …, wo man ein wenig auf dem Klavier spielte, noch weniger sang oder las, und wie es schien, fast gar nichts lernte,« abkanzelte.132 Nach der Revolution von 1905 entschlossen sich die Vereinsmitglieder, den Club auch für Frauen zu öffnen. Das wurde in den Statuten von 1907 formal festgehalten, führte aber nicht zur Veränderung der Aufnahmepraxis. Weibliche Mitglieder gab es im Russischen Klub vor 1914 weiterhin nicht. Ebensowenig kam es innerhalb des russischen Milieus zur Gründung eigenständiger Frauenvereine mit spezifischen Zielen, wie sie sich in St. Petersburg und Moskau im Jahrzehnt vor 1914 herausbildeten.133 Der Hauptzweck des Klubs bestand in der Geselligkeit. Innenansichten des Vereinslebens zeigen, daß die hier praktizierte Geselligkeit von politischen Einflüssen zwar nicht ganz frei blieb, die Zeitgenossen den unpolitischen Charakter des Klubs aber grundsätzlich zu erhalten suchten. Von den deutschen, lettischen und jüdischen Vereinen hob sich zunächst die familiäre Atmosphäre des Russischen Klubs ab, der weit weniger als jene zwischen öffentlicher und privater Sphäre trennte. Wöchentliche Familienabende, Kinderfeste und festliche Diners mit Damen bildeten einen festen Bestandteil der Vereinsaktivität. Mit seiner Selbsteinschätzung als ›Familienclub‹134 entsprach auch der Rigaer 130 131 132 133 134

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Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 26, LVVA. Ebd., S. 33. Ebd., S. 22. Vgl. auch Ruckij, S. 41. Vgl. Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 121. Vgl. auch Pietrow-Ennker. Fonds 3746, apr. 1, Nr. 2, S. 20, LVVA.

Russische Klub der Vorstellung von einer ›erweiterten Familie‹, die den typischen Kaufmannsklub des späten Zarenreiches prägte.135 In den großzügigen Klubräumen begegnete der Bürger dem Bürger, traf man Gleichgesinnte zum informellen Austausch, wurden Geschäfte angebahnt und schmiedeten Eltern Heiratspläne für ihre Sprößlinge. Auch gelegentliche literarische Vorträge, Theateraufführungen und Konzerte gaben Anlaß zu Begegnung und Austausch. Auf Familienabenden, Bällen und Maskeraden empfand man sich in der Tat zunehmend als ›erweiterte Familie‹, formte sich ein Milieu. Das Lesezimmer bot ein reichhaltiges Angebot an Büchern und Zeitungen. Unter den 7 000 Bänden befanden sich alle russischen Klassiker sowie die Werke berühmter französischer Romanciers wie Alexandre Dumas oder Victor Hugo. Die Studien Ferdinand Lassalles’ und Karl Marx’ waren hier ebenso vertreten wie die Karl Kautskys und Pavel Miljukovs und hatten anscheinend keines Zensors Argwohn erregt. Alle bekannten Zeitschriften des Reiches, der ›Vestnik Evropy‹, die ›Peterburgskaja Žizn’‹, die ›Moskovskie Vedomosti‹, der ›Golos‹ oder das ›Russkoe Bogatsvo‹ lagen hier aus ebenso wie die ›Augsburger Allgemeine‹, ›Le Monde‹ oder die ›Times‹. Größerer Beliebtheit als das Lesezimmer erfreute sich das Spiel. Ging es im Billiardzimmer um den harmlosen Kitzel der Geschicklichkeit, wurde in den hinteren Zimmern auch um Geldbeträge gespielt, was die Mitglieder oft bis tief in die Nacht am Kartentisch festhielt. Aus dem Tätigkeitsbericht des Jahres 1907 geht hervor, daß »die Mitglieder des Klubs die meiste Zeit beim Kartenspiel verbracht haben.« Nach der Jahrhundertwende, als der Russische Klub zunehmend an Popularität einbüßte, schienen die Erlöse des Kartenspiels zur Haupteinnahmequelle geworden zu sein. Denn die versiegelten Kartenspiele, die der Betrugsvorbeugung dienten, mußten täglich neu erworben werden. 1909 beispielsweise brachte das Kartenspiel dem Klub einen Erlös von 10 340 Rubel, während Mitglieder- und Besuchsgebühren rund 3 000 Rubel einbrachten, Veranstaltungen 530 Rubel und Konzerte 100 Rubel.136 Doch der Vorrang der Geselligkeit vermochte das Eindringen der Politik nicht zu verhindern. 1870 erschien in der deutschsprachigen ›Petersburger Zeitung‹ ein gegen den Panslawismus gerichteter Leitartikel, der die Klubmitglieder so empörte, daß sie ihr Abonnement dieser Zeitung fristlos kündigten. In einer offiziellen Protestnote an die Redaktion gaben sie »der großen Verwunderung« Ausdruck, die der Artikel bei den Rigaer Russen erregt hätte: »Also solche Wahrheiten bringt uns, den Provinzialen, die ›Petersburger Zeitung‹ bei; sie empfiehlt uns, den Rigaer Russen, unsere Geschichte, Tradition und Sprache zu vergessen, sie lehrt uns, sich den Germanen anzuschließen … Das ist mehr als lächerlich in den Augen der russischen Gesellschaft Rigas. 135 Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 126. 136 Tätigkeitsbericht für das Jahr 1907/08, in: Fonds 3746, apr. 1.

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Diese hat sich nie mit Hochmut über die unbestreitbaren Verdienste der deutschen Nation im Bereich der allgemeinen Bildung geäußert, hat aber immer energisch darauf bestanden, daß die slawischen Stämme, darunter auch die Russen, keine verfaulten Stämme ohne Zukunft sind, im Gegenteil!«137 Seit der Einführung der neuen Städteordnung 1877 luden die Führer des russischen Elektorats regelmäßig zu Wahlvorbereitungen in den Russischen Klub, wo Einflußnahmen und kommunale Wahlabsprachen in informellen Gesprächen vereinbart wurden. In den abendlichen Kamingesprächen ging es um die lokale Politik ebenso wie um Reformen und die Integration der Region ins Reich. Im Gegensatz zum deutschen Milieu, das in regionalen Reformen den geeigneten Weg der notwendigen Modernisierung erblickte, waren die Mitglieder des russischen Milieus von der Notwendigkeit einer reichsweiten Unifizierung überzeugt und vertraten die Ansicht, daß »die Befreiung der undeutschen Bevölkerung von der Macht der Magistrate und Landratskollegien nur auf dieselbe Weise geschehen kann wie die Befreiung Rußlands von der Leibeigenschaft. Das gemeinsame Interesse galt nicht der Reform der erstarrten hiesigen Region, sondern vielmehr der regionalen Ausbreitung derjenigen Gaben des Allerhöchsten, die im übrigen Rußland bereits Fuß gefaßt hatten.«138 Die Praxis der Geselligkeit vermochte tatsächlich manche Trennlinien zu überbrücken. Unterschiedliche Beobachter stimmten überein, daß die russische Öffentlichkeit in den frühen 1880er Jahren »überall mit dem russischen Klub identifiziert wurde, weil dort in der Tat alle Schichten der russischen Gesellschaft vertreten waren.«139 Den integrativen Praktiken des Klublebens war es gelungen, altgläubige und rechtgläubige Russen einander anzunähern, ebenso wie russisch akkulturierte Juden hier willkommen waren. Auch über die Gräben, die ständisch-soziale und berufliche Zugehörigkeit geschaffen hatten, konnte die Geselligkeit des Klubs eine Brücke bauen. Vom Gouverneur bis zum Kleinhändler waren hier die Vertreter unterschiedlichster Berufe vereint. Mit der zunehmenden Politisierung der lokalen Gesellschaft entstanden aber neue Barrieren in Gestalt ethnischer Grenzen. Doch die neue Außengrenze gegenüber Deutschen und Letten, die nicht Sprache oder Glaube, sondern divergierende politische Interessen und kulturelle Deutungen auslösten, trug dazu bei, das Milieu nach innen zu stabilisieren. Mit der Ankunft neuer Eliten aus dem Reichsinneren begann das Monopol des Russischen Klubs, die russische Öffentlichkeit der Stadt zu vertreten, zu bröckeln. Die administrativen und kulturellen Unifizierungsmaßnahmen, mit denen der Staat seit Ende der 1870er Jahre die baltische Autonomie be137 Fonds 2746, apr. 1, Nr. 2, S. 30, LVVA. 138 Ebd., S. 26. 139 Pseničnikov, S. 23.

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schnitt, brachten neue Beamte, Anwälte und Lehrer, Priester und Architekten in die baltische Metropole, deren umgestaltete Verwaltung und boomende Wirtschaft ein gutes Auskommen und ansehnliche Posten versprach. Mit dem Zuzug dieser neuen Eliten wie dem Oberlehrer des Gouvernementsgymnasiums Petr Ruckij oder dem gefeierten Architekten Michail Ejzenštejn, die den Blick der nationalen Öffentlichkeit auf die Ostseeprovinzen mitbrachten, entstand eine neue Differenzierungslinie zwischen Ansässigen und Zugereisten. Die lokale Gesellschaft, die den Russischen Klub dominierte, setzte sich überwiegend aus Kaufleuten, Unternehmern und Angestellten zusammen, die oft auch geschäftliche Verbindungen zu Deutschen, Letten und Juden unterhielten. Aus Ortskenntnis und langjähriger Erfahrung des multiethnischen Zusammenlebens traten ihre Repräsentanten meist für eine ›Gleichberechtigung der Nationalitäten‹ ein, welche die Interessen der verschiedenen Gruppen am ehesten berücksichtigen könne. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich hingegen überwiegend um Angehörige der freien und beamteten Intelligenz, die an lokalen Belangen zunächst wenig Interesse zeigten und sich mehr an der Vorstellung einer russischen Nation orientierten.140 Lokale Reformen wie der Vorschlag muttersprachlicher Schulen, welche die Stadt 1905 an das Innenministerium richtete, oder gar die Idee einer baltischen Kulturautonomie, wie sie der Liberale Vsevolod Češichin 1910 zur Diskussion stellte, entbehrten für diese neuen Eliten jeglicher Legitimität. Mochten sich die übrigen ›Stämme‹ (plemena) ruhig als Nationalitäten bezeichnen, standen sie als Angehörige der russischen Nation über diesen Stämmen und vertraten die einzig legitime politische Nation. Entsprechend ausgeprägt waren daher auch die Feindbilder vom ›separatistischen Deutschen‹ oder vom ›revolutionären Letten‹. Den Standpunkt dieser Gruppe vermittelte vor allem der ›Rižskij Vestnik‹: »In Rußland kann es nicht zwei oder mehr gleichberechtigte Kulturen geben, die russische Kultur muß, wie der Staatsgedanke, im ganzen russischen Reich größere Rechte besitzen und vor ihren Forderungen müssen die deutschen, lettischen und übrigen kulturellen Sonderbestrebungen zurücktreten.«141 Entsprechend unterschiedlich fiel die politische Option beider Flügel aus. Während die lokalen Russen, die im Russischen Klub ihr Zentrum hatten, sich meist den Kadetten anschlossen, stellten sich die neuen Eliten auf die Seite der Oktobristen, deren lokale Abteilung weitaus nationalistischer orientiert war als die Fraktion in der nationalen Duma. Die rechtsnationale Färbung des Rigaer Oktobristenverbands zeigte sich in der Ablehnung muttersprachlicher Schulen ebenso wie in der Befürwortung nationaler Wahlkurien. Viele der lokalen Oktobristen waren zugleich Mitglied des rechtskonservativen 140 Vgl. Apine, Slāvi Latvijā, S. 162ff. 141 Rižskij Vestnik 13.7.1010. Vgl. auch Apine, Slāvi Latvijā, S, 203ff.

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Vereins Russkaja Beseda (Russisches Gespräch), der einen streng nationalistischen und antisemitischen Kurs propagierte.142 Die Entfernung der lokalen Oktobristengruppe vom konservativ-liberalen Programm der Partei auf Reichsebene wurde auch darin deutlich, daß ihr Führer, Ivan Vysockij, 1913 öffentlich proklamierte, daß »der Oktobrismus in der Form, wie ihn A. Gučkov, Graf Heiden und M. Stachovič vertreten, für die russische Bevölkerung der Randgebiete keine wünschenswerte Grundlage abgebe.«143 Auch wenn der Russische Klub seine Aufgaben immer wieder damit beschrieb, »die getrennte lokale Intelligenz zu verbinden und in den russischen Einwohnern Rigas die Vorstellungen gemeinsamer russischer Interessen in der Region zu erwecken«,144 führte die allmähliche Segmentierung des Milieus entlang politischer Trennlinien dazu, daß diese Vorstellung ihre Glaubwürdigkeit einbüßte.145 In der Gründung der Rižskoe russkoe obščestvennoe sobranie (Klub der Russischen Gesellschaft Rigas) im Jahr 1890, die sich bewußt als Konkurrenz zum Russischen Klub verstand, trat die neue Differenzierung konkret zutage. Der Großteil der entsandten Beamten trat dem neuen Verein bei, und viele verbanden das mit ihrem Austritt aus dem Russischen Klub. Der Verlust zahlreicher Mitglieder veranlaßte den Klubvorstand zu einem Hilfsgesuch an den Innenminister, in welchem die Entstehung der neuen Trennlinie zwischen Zugereisten und Ansässigen beschrieben wird: »Die Einführung der Reformen in den baltischen Randgebieten im Laufe der letzten Zeit wurde von allen leidenschaftlich erwartet und hatte auch die Hoffnungen des Russischen Klubs wach gehalten, da die Ankunft einer großen Zahl neuer russischer Angestellter in unserer Region den Glauben stärkte, daß das Leben und die Tätigkeit im Klub einen neuen Aufschwung erleben wird. In der Tat kam es aber ganz anders, da seit 1890 eine Gruppe von Personen, die meist vor kurzem hierher kam und denen einige Regularien im Russischen Klub aufgrund ihrer Unkenntnis der örtlichen Traditionen nicht annehmbar schienen, eine Satzung ausgearbeitet haben und die Versammlung der Rigaer Russischen Gesellschaft gegründet.«146

Doch nicht nur die Ankunft neuer Eliten mit unterschiedlichen politischen Zielen machte dem Russischen Klub seinen Anspruch auf Vertretung der russischen Gesellschaft streitig. Auch Migration und soziale Mobilität, welche die russische Bevölkerung Rigas von 26 000 (1867) auf 99 000 (1913) ansteigen ließ, führten zu einer Differenzierung des russischen Milieus, die sich im 142 Vgl. Apine, Slāvi Latvijā, S. 209ff. 143 Zitiert ebd., S. 214. 144 Statuten des Jahres 1907, Fonds 3746, apr. 1, Nr. 14, LVVA. 145 Vgl. auch Apine, Slāvi Latvijā, S. 184ff. 146 Bittschrift des Clubvorstands an den Innenminister aus dem Jahr 1894, Fonds 3746, apr. 1, Nr. 6, S. 24ff., LVVA.

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Bedürfnis unterschiedlicher Interessenorganisation niederschlug. Hatte Riga Anfang der 1870er Jahre nur rund 10 russische Assoziationen besessen, verzeichnete das städtische Adreßbuch um die Jahrhundertwende etwa 25 Vereine, und 1913 rund fünfzig Vereine, die politische, gesellschaftliche, berufliche oder kulturelle Interessen verfolgen.147 Ein Überblick (Tab. 22) über die wichtigsten russischen Vereine um 1900 dokumentiert die allmähliche Pluralisierung der russischen Selbstorganisation, die mit der hochdifferenzierten Vereinskultur der Deutschen und Letten zwar immer noch keinen Vergleich aushielt. Doch ebenso wie dort führte die Erfahrung, daß politische Interessen von kulturellen Deutungen und ethnischen Selbstzuschreibungen nicht zu trennen waren, im russischen Milieu dazu, die Grenzen der Vergesellschaftung ethnisch zu konfigurieren. Kaum ein russischer Verein wies um die Jahrhundertwende mehr als 5% nichtrussische Mitglieder auf. Öffentlichkeit wurde vielmehr im ethnisch geschlossenen Raum praktiziert. Die Politisierung der Gesellschaft sollte im 20. Jahrhundert auch das russische Milieu erreichen. Mit der Gründung einer Abteilung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sowie mit deren Beteiligung an der Revolution von 1905 hatten breite unterbürgerliche Gruppen ihren Willen zur Veränderung des bestehenden Systems demonstriert. Die Mitte der Gesellschaft zog nach dem Oktobermanifest mit der Gründung von Parteien und politischen Vereinen nach. Der Russische Klub konnte sich dem allgemeinen Politisierungsschub nicht entziehen. Denn das Auf blühen neuer Vereine war mit einem erheblichen Rückgang seiner Mitglieder einhergegangen. Das Mitgliederverzeichnis, das für 1884 noch 325 Mitglieder aufgewiesen hatte, verbuchte nach der Jahrhundertwende nur noch 139.148 Die zunehmende Pluralisierung der Interessen ließ das Postulat einer Geselligkeit, die unterschiedliche Schichten, Konfessionen oder Ideologien zu überbrücken beanspruchte, zum Anachronismus werden. Gerade das Fehlen eines konkreten gesellschaftlichen Ziels, das zunächst seinen Erfolg begründet hatte, wurde dem Russischen Klub nun von links und rechts zum Vorwurf gemacht. Der Klubvorstand entschloß sich 1907 dazu, alle russischen Vereine Rigas zu Verhandlungen über eine gemeinsame Dachorganisation aufzufordern. Die zügige Ausbildung eines Parteienspektrums hatte deutlich gemacht, daß an politische Allianzen zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten nicht zu denken war. Doch das Beispiel des deutschen Milieus, die ständischen Grenzen in Kulturvereinen wie den Deutschen Vereinen abzumildern, ließ auch den Russen eine Ausweitung der eigenen Zielsetzung notwendig erscheinen. Auf der Basis kultureller Gemeinsamkeiten erhoffte sich der Vorstand des Russischen Klubs eine stärkere organisatorische Einheit 147 Rigasches Adreßbuch 1869/70, 1900, 1914. 148 Fonds 3746, apr. 1, Nr. 37, 91, 97, LVVA.

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256 1864

Russischer Männergesangsverein Bajan4 Russische HandwerkerGenossenschaft Russischer Literarischer Zirkel5 Verein zur Unterstützung armer Schülerinnen des Lomonossov-Gymnasiums6 Gesellschaft der russischen Ärzte in Riga7 Beruflicher Interessenverband

Geselligkeit, Pflege russischer Kultur Pflege vorzugsweise russischer Musik Beruflicher Austausch und Unterstützung Pflege der russischen Literatur Unterstützung hilfsbedürftiger Schülerinnen

Beruflicher Austausch und Unterstützung Beruflicher Austausch und Unterstützung Unterstützung hilfsbedürftiger Russen

Zweck

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85

156

o.A.

61

124 (anfangs nur weibliche Mitglieder) 159

58

205

Mitglieder

freie und beamtete Intelligenz

74% Beamte und Lehrer, 26% freie Intelligenz Besitz- und Bildungsbürger

Handwerker

Beamte, freie Intelligenz, Kaufleute, Industrielle, Angestellte Bildungs- und Kleinbürger

Besitz- und Bildungsbürger

Kaufleute

Kleinbürger, Arbeiter

Soziales Profil

ca. 80% Russen; ca. 20% Deutsche, Juden, Letten, Polen

mind. 95% Russen

fast nur Russen, ca. 95%

ca. 95% Russen

ca. 85% Russen; ca. 6% Deutsche, 6% Juden, 3% Letten mind. 95% Russen

mind. 95% Russinnen und Russen

ca. 95% Russen

o.A.

Ethnische Zusammensetzung

1 Vgl. Ruckij, S. 30. 2 Vgl. Ruckij, S. 27. 3 Vgl. Ruckij, S. 38. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf 1893. 4 Russkaja pesnja. 5 Vgl. Russkij literaturnyj kružok. 6 Vgl. Otčet obščestva raspomožestvovanija nuždajuščimsja učenicam Rižskoij ženskoij Lomonosovskoij gimnazii; Ruckij, S. 26. 7 Vgl. Obščestvo russkich vračej; Protokoli zasedanij obščestva Russkich vračej; Ruckij, S. 45; Fonds 3746, apr. 1, LVVA; Otčet o dejatel’nosti obščestva russkich vračej.

1888

1882

1874

1869

1864

1862

1861

1859

Gegründet

Russischer Klub

Hilfsverein russischer Handlungsgehilfen1 Nikolai-Hilfsverein der russischen Kaufleute2 Russischer Wohltätigkeitsverein3

Name

Tab. 22: Ausgewählte Vereine des russischen Milieus um 1900 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung

257

8 9 10 11

1906

1899

1899

Fürsorge und Ausbildung armer altgläubiger Kinder Beruflicher Interessenverband Unterstützung russischer Schüler und Schulen

Pflege vorzugsweise russ. Dramen, Theater Geselligkeit

1894 1896

Geselligkeit

Zweck

1890

Gegründet

Beamte, freie Intelligenz, Kaufleute

o.A.

überw. Beamte und freie Intelligenz

Soziales Profil

108

Besitz- und Bildungsbürger

o.A Wirtschafts und Kleinbürger (nur weibl. Mitglieder). 55 Freie Intelligenz, neuer Mittelstand

o.A.

o.A.

o.A

Mitglieder

Vgl. Ruckij, S. 44. Vgl. Ruckij, S. 34. Vgl. Instrukcija rižskomu otdeleniju imperatorskago russkago techničeskago obščestva; Ruckij, S. 45. Vgl. Russkoe obščestvo prosveščenija.

Grebenčikovscher Verein zur Unterstützung armer Kinder 9 Kaiserlich-Russischer Technischer Verein10 Russischer Bildungsverein11

Klub der Russischen Gesellschaft Rigas Russische Dramatische Gesellschaft8 Russischer Geselligkeitsverein

Name

ca. 60% Russen; 30% Deutsche; 10% Sonstige mind. 95% Russen

100% altgläubige Russinnen

mind. 95% Russen

o.A.

ca. 100% Russen

Ethnische Zusammensetzung

des russischen Milieus Rigas. In einem programmatischen Vortrag vor den Klubmitgliedern wies Serafim Fürst Mansyrev, Klubvorstand und lokaler Abgeordneter der Kadetten, auf den Zwang hin, in der ›Konkurrenz der Nationalitäten‹ nicht nachstehen zu dürfen: »In Riga, das von Menschen verschiedener Nationalitäten bewohnt wird, hat die umfassende Steigerung des kulturellen Selbstbewußtseins ein ganz spezifische Färbung, und zwar wird sie zu einem Wettbewerb unterschiedlicher Nationalitäten … Es erscheint notwendig, … gute Beziehungen zueinander im Kreise der russischen Intelligenz anzuknüpfen, damit gemeinsame Aufgaben definiert und umgesetzt werden … und dadurch solchen monolithen und zielstrebigen Gruppen wie der deutschen und in letzter Zeit auch der lettischen würdevoll im friedlichen Wettbewerb standhalten zu können.«149 Doch auch dieser Versuch, nicht nur bloße Geselligkeit, sondern spezifische kulturelle Gemeinsamkeiten zur Basis einer übergreifenden Vergesellschaftung zu machen, schlug fehl. Von den 44 angeschriebenen Vereinen antworteten nur zwölf, und die Initiative verlief im Sande. Die Pluralisierung der Vereinskultur und die Politisierung der russischen Öffentlichkeit hatten den allgemeinen Vertretungsanspruch des Russischen Klubs zunehmend ausgehöhlt. Sein Glaube an das Verbindende allgemeiner Werte wie Kultur und Geselligkeit jenseits von Klassen, Konfessionen, Parteien und ›Nationalitäten‹ mußte in einer hochgradig politisierten und nationalisierten Stadt wie Riga zunehmend anachronistisch wirken. Auch die Mitglieder selbst empfanden, daß das Versprechen unpolitischer und überständischer Geselligkeit in einer Welt politisierter Interessen zunehmend an Überzeugungskraft verlor: »In der Vergangenheit stellte der Klub den Sammelpunkt der lokalen russischen Gesellschaft dar. Doch seit kurzem hat er diese Bedeutung verloren. Neue Russische Vereine werden gegründet und die Russische Öffentlichkeit spaltete sich in Gruppen und Zirkel und auch im Klub selber ist die Überzeugung, der Mittelpunkt der nationalen Kultur für alle örtlichen Russen darstellen zu können, abgestorben.«150 Erst dem Integrationspotential des Krieges gelang die Realisierung der Utopie von einer Vereinigung des ganzen Russentums. In den ersten Kriegstagen des Augusts 1914 forderte der Russische Klub zu einem Treffen aller 149 Vortrag des Fürsten Mansyrev im Russischen Klub, gehalten im März 1907, Fonds 3746, apr. 1, Nr. 36, S. 26ff., LVVA. Vgl. auch Rižskaja Mysl’ Nr. 1806, 1913: »Der Erfolg der deutschen Kultur sollte die lokale russische Gesellschaft dazu auffordern, ein lebhafteres Interesse für die Entwicklung unserer nationalen Kultur zu zeigen. Aufgrund der Tatsache, daß wir in diesem Bereich eine viel bessere Position unser eigen nennen dürfen, da wir die Macht der Staatsnation hinter uns haben, müssen von unserer Gesellschaft viel intensivere Anstrengungen verlangt werden, sich im Wettbewerb der nationalen Kulturen erfolgreich zu behaupten.« 150 Rižskaja Mysl’ 7.11.1913.

258

slawischen Vereine auf, einer Bitte, welcher diesmal die Vertreter nahezu aller russischen Organisationen nachkamen.151 Im umgehend gegründeten Slawischen Hilfskomitee zur Unterstützung der Soldaten waren Rechtskonservative und Liberale, Altgläubige, Orthodoxe und Juden, die Angehörigen unterschiedlichster sozialer Schichten, Frauen und Männer sowie Russen, Polen, Weißrussen und Ukrainer erstmals vereint. Ähnlich wie im deutschen und lettischen Milieu vermochte auch im russischen Milieu erst die Bedrohung des Krieges partikulare Bindungen wie soziale oder politische Zugehörigkeit, Konfession oder Geschlecht zu überwinden und auch die ethnische Grenze temporär zu überschreiten.

4. Der Weg aus dem Ghetto: Die Rigaer Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands Öffentlichkeit war für Rigas Juden lange Zeit ein schwieriges Unterfangen. Die Erlaubnis, Vereine zu gründen, die nur der städtische Rat und das Petersburger Innenministerium erteilen konnte, war im jüdischen Fall äußerst restriktiv gehandhabt worden. Nicht zu Unrecht konstatierte der Chronist des ersten jüdischen Wohlfahrtsvereins, daß »zu jener Zeit – wie noch in späteren Jahrzehnten – ein jüdisches Vereinsstatut, das Bestätigung gefunden hatte, ein Schatz, ein Kleinod (war); machte es doch auf diesem Sozialgebiet wenigstens der Unsicherheit und Gefährdung, die aller jüdischen Lebensbetätigung anhaftete, – bis auf weiteres – ein Ende.«152 Nicht nur von den Behörden schlug der jüdischen Vereinsbildung besonderes Mißtrauen entgegen, auch der fragile rechtliche Status der jüdischen Bevölkerung wirkte sich zunächst hemmend auf die Entwicklung von Selbstorganisation und Öffentlichkeit aus. Um einem Verein überhaupt beitreten zu dürfen, war der Nachweis, Mitglied der offiziellen ›Hebräergemeinde‹ zu sein, notwendig, doch das Gros der zugewanderten Juden besaß ein solches Papier nicht. Auch das Recht der politischen Partizipation, das die Milieubildung bei Deutschen, Letten und Russen entscheidend vorantrieb, genossen Juden nur zwischen 1877 und 1892. Entsprechend verzögert kam es im jüdischen Bürgertum erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Gründung einzelner Vereine, die sich meist der Wohlfahrt und gegenseitigen Unterstützung widmeten. 1870 151 Rižskij Vestnik 4.8.1914. 152 Vgl. Meyer, Jüdische Krankenpflege, S. 7, in: Fonds 2962, apr. 1, Nr. 37, LVVA, dort auch das folgende Zitat.

259

wurde der erste jüdische Wohlfahrtsverein Bikur Cholim ins Leben gerufen und 1882 begann ein Curatorium des Hebäer-Asyls als Unterabteilung des deutschen Vereins gegen den Bettel seine Arbeit.153 Das Ziel einer ›Akkulturation in die Mehrheitsgesellschaft‹, welche das jüdische Bürgertum Rigas entwickelte, sollte erst die 1898 gegründete Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands verwirklichen.154 Der Anstoß, einen Rigaer Zweig des 1863 in St. Petersburg eröffneten ›Obščestvo dlja rasprostranenija prosveščenija meždu evrejami v Rossii‹ zu eröffnen, stammte von Paul Mintz und dem Industriellen Leib Shalit.155 Shalit, der ebenfalls aus dem Ansiedlungsrayon nach Riga gezogen war, hatte im Holzgeschäft ein Vermögen gemacht, das er zu erheblichen Teilen dem Auf bau lokaler jüdischer Lehranstalten zukommen ließ. Der Unternehmer, der zu Hause deutsch sprach, das Russische jedoch ebenso gut beherrschte, engagierte sich darüber hinaus in der zionistischen Bewegung und vertrat Riga auf dem ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel. Die 1898 gegründete Rigaer Abteilung der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands stellte die dritte lokale Niederlassung nach St. Petersburg und Odessa dar.156 Das Ziel des neuen Vereins, primär die russische Sprache und Kultur zu fördern, verdeutlicht, wie das jüdische Deutungsmuster einer ›Akkulturation in die Mehrheitsgesellschaft‹ neu interpretiert wurde. Denn nicht mehr der Vermittlung deutscher Kultur galt hier die Aufmerksamkeit, sondern vor allem der Verbreitung der Reichssprache, die kulturelle Integration und sozioökonomischen Aufstieg jetzt eher zu gewährleisten versprach. Entsprechend manifestierte der neue Verein seinen Anspruch auch in seiner Satzung, in der es hieß: »Das Ziel des Vereins ist die Verbreitung der Auf klärung unter den Juden Russlands, die Förderung der Literatur und die Beschaffung von Mitteln für die Schuljugend. Der Verein unterstützt die Verbreitung der russischen Sprache unter den Ju153 Vgl. die Einschätzung der deutsch-jüdischen Zusammenarbeit in: Curatorium des Hebräer-Asyls, S. 27: »Wir wissen vor Allem unserem Mutter-Vereine, in dessen Schutz und Schirm wir gelebt haben, herzlichen Dank, seine gefestigte Stellung im Wohlthätigkeitswesen Rigas, das Vertrauen, das die Behörden der Stadt und Provinz ihm zollen, hat uns eine Sicherheit verliehen, die allen älteren jüdischen Vereinen gefehlt hat; die treffliche Leitung seiner Institute, die Formen seiner Verwaltung waren uns Vorbild und Schulung.« 154 Zur Rigaer Abteilung existieren keine aktuellen Darstellungen. Den Verein streift kurz der Aufsatz Svetlana Bogojavlenska, in: Oberländer u. Wohlfart, S. 157–190. Sämtliche Archivalien zum Verein, überwiegend in russischer, teils auch deutscher Sprache, befinden sich in Fonds 2016, LVVA. 155 Vgl. zu Shalit Bobe, S. 249. 156 Zur Petersburger Gesellschaft vgl. I.M. Čerikover, Obščestvo dlja rasprostranenija prosveščenija meždu evrejami v Rossii [Gesellschaft zur Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands], St. Petersburg 1913; zur Odessaer Niederlassung ein kurzer Abriß bei Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft, S. 448ff. sowie Hilkbrenner.

260

den, gibt selber gemeinnützige Werke, Übersetzungen sowie Zeitungen und Zeitschriften heraus und unterstützt andere bei der Herausgabe solcher Schriften in der russischen und jüdischen Sprache. Außerdem veranstaltet der Verein Vorlesungen, Theateraufführungen, Konzerte etc.«157 Bereits der erhebliche Jahresbeitrag von 10 Rubel begrenzte die Mitgliedschaft des neuen Vereins auf Bürger und Bürgerinnen von Besitz und Bildung. Im Gegensatz zu den führenden deutschen, lettischen und russischen Vereinen gestattete der Bildungsverein, wie er von den Zeitgenossen meist genannt wurde, auch Frauen den Zutritt.158 Das erhalten gebliebene Mitgliederverzeichnis erlaubt die berufliche Differenzierung dieser jüdischen Männer und Frauen: 57% waren in Handel und Gewerbe tätig, wobei selbständige Unternehmer und Firmenbesitzer dominierten; 23% lassen sich der freien Intelligenz zuordnen, worunter Ärzte und Anwälte die häufigsten Berufe waren; nur je 4% waren Angestellte oder Handwerker; Arbeiter machten mit 2% einen verschwindend geringen Anteil aus.159 Bereits kurz nach seiner Gründung zählte der Verein 400 Mitglieder, eine Zahl, die vor 1914 auf knapp 500 anstieg. Die unübersehbare Dominanz des Bildungs- und Besitzbürgertums brachte dem Verein wenig schichtenübergreifende Popularität ein, wie sie der Lettische Verein und der Russische Klub anfänglich genossen. Doch sein kulturelles Deutungsmonopol, seine wirtschaftliche Potenz und seine effektive Organisation machten den Bildungsverein rasch zum unbestrittenen Zentrum des jüdischen Bürgertums in Riga. Der Schwerpunkt des Vereins lag auf der Vermittlung von Bildung und praktischen Kenntnissen. Zunächst übernahm er das Schulgeld für fast 200 jüdische Kinder, stattete sie mit Kleidung aus und ermöglichte ihnen den regelmäßigen Aufenthalt in einem Sommerlager. Mehr Raum nahm die Förderung religiöser Schulen ein, die unter einem spezifischen Reformimpuls stand, an dem sich bald innerjüdische Konflikte entzünden sollten. Denn die Mitglieder des Bildungsvereins waren sich zwar einig, daß ein gewisses Maß jüdischer Anpassung an die christliche Umgebung notwendig sei, doch über der Frage, wie weit diese Anpassung gehen sollte, kam es immer wieder zu Differenzen. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder plädierte für eine weitgehende Akkulturation in die russische Mehrheitsgesellschaft, was den Erwerb der russischen Sprache, Vertrautheit mit der russischen Kultur sowie ein politisches Selbstverständnis als Bürger des russischen Reiches beinhaltete. Eine Minderheit schloß sich dagegen der neuen Vorstellung von einer jüdischen Nation an, die Ebenbürtigkeit verlange und ein bestimmtes Territorium ihr eigen nenne. Leon Pinskers 1881 erschiene Schrift ›Auto157 Fonds 2016, apr. 1, Nr. 1, LVVA. 158 Mitgliederverzeichnis im Fonds 2016, apr. 1, Nr. 103, LVVA. 159 Ebd. Die restlichen 10% blieben ohne Angabe.

261

emanzipation‹ hatte hierfür ein Signal gesetzt.160 Den lokalen Verfechtern dieses religiös motivierten und zunehmend zionistisch eingefärbten Nationalismus lag vor allem an der schulischen Vermittlung jüdischer Traditionen und Glaubensinhalte, wogegen die Anhänger einer Akkulturation die allgemeinen Fächer des europäischen Bildungskanons favorisierten. Als die Frage, ob der Verein auch religiöse Schulen unterstützen sollte, auf die Tagesordnung kam, ließ der Vorstand zunächst einen Bericht über die spezifische Schulsituation jüdischer Kinder erstellen, der zu folgendem Ergebnis kam: »Etwa 10–15% der Kinder schulpflichtigen Alters besuchen die christlichen privaten oder öffentlichen Schulen … Es sind dies die Kinder wohlhabender Eltern, die anderen gehen leer aus … Die ärmsten Kinder werden von Gemeinde wegen in Talmud-Thora-Schulen unterrichtet, diese … sind von jämmerlicher Qualität … Die Schädigung liegt darin, dass selbst für solche Kinder, die vom Elternhause her ein ziemlich reines Deutsch sprachen, bei diesem Unterricht der schmähliche Jargon festgehalten wurde. Die Schule, die bei dem Volk sonst die Sprache hebt und läutert, trägt hier somit zu deren Verderbnis bei, eine traurige Mitgift fürs Leben.«161 In der Diskussion, ob die Förderung religiöser Schulen überhaupt sinnvoll sei, traten die unterschiedlichen Anschauungen umgehend zutage. Die national-religiösen Vertreter innerhalb des Vereins argumentierten, daß »der mangelhafte Unterricht der hebräischen Fächer in den jetzt bestehenden Talmud-Thora-Schulen zu Riga … dringend die Notwendigkeit (ergibt), Talmud-Thora-Schulen nach neuer Art ins Leben zu rufen.«162 Dagegen verwahrten sich die liberalen Verfechter allgemeiner Bildung mit dem Hinweis, daß »die Aufgabe des unter so viel Mühen begründeten Vereins nur die ist, unbemittelten Glaubensgenossen zu einer allgemeinen und Fachbildung … zu verhelfen … Irgendwelche Anstrebungen in allgemein politischer oder jüdisch-nationaler Hinsicht können somit die Existenz der ganzen Vereins in Frage stellen und sollten von vornherein als ausgeschlossen gelten.«163 Nach längeren Diskussionen wurde ein Kompromiß zwischen Liberalen und National-Religiösen erzielt, indem nicht etwa bestehende TalmudThora-Schulen unterstützt wurden, sondern der Auf bau neuer, reformierter Modelle beschlossen wurde. Dabei handelte es sich um Elementarschulen, die zwar der Vermittlung von Talmud, Torah und der hebräischen Sprache Priorität einräumten und daher auch von orthodoxen Eltern akzeptiert wurden, daneben jedoch weltliche Fächer unterrichteten. In Riga und anderen größeren Städten Kurlands wie Bauske, Windau und Grobin eröff160 161 162 163

262

Vgl. Pinsker. Fonds 2016, apr. 1, Nr. 39, LVVA. Brief vom 12.5.1901 an den Vereinsvorstand, in: Fonds 2016, apr. 1, Nr. 12, LVVA. Brief vom 2.5.1905 an den Vereinsvorstand, in Fonds 2016, apr. 1, Nr. 18, LVVA.

nete der Bildungsverein solche reformierten Torah-Talmud-Schulen, die sich zur Einhaltung eines spezifischen, vom Verein vorgegebenen und kontrollierten Lehrplans verpflichteten. 16 Stunden des Unterrichts waren den sogenannten ›religiösen‹ Fächern vorbehalten, die anderen 16 Stunden dagegen weltlichen Fächern, darunter vor allem dem Russischen, dem Deutschen und der Mathematik.164 Konnte die Gründung reformierter Torah-Talmud-Schulen zwischen Liberalen und National-Religiösen noch Konsens stiften, schieden sich an der Beurteilung des Cheder die Geister. Während die liberalen, auf Akkulturation gerichteten Mitglieder des Bildungsvereins diese traditionelle jüdische Grundschule für Knaben als »Unfug« bezeichneten und grundsätzlich ablehnten, setzten sich die national-religiös orientierten Mitglieder für eine Stärkung und Reform dieses Schulytps ein.165 Eine Studie über das jüdische Schulwesen in Livland und Kurland, die der Verein erstellen ließ, um zu einer Entscheidung zu kommen, fällte folgendes Urteil: »Der Zustand des Jugend-Unterrichts ist ein durchaus unbefriedigender zu nennen. Abgesehen von dem überall bestehenden »Cheder« mit seinem traditionellen Unfug gibt es fast nirgends geordnete, wohlsituierte Schulen. Der Cheder soll dem Bedürfnis nach hebräischem Unterricht abhelfen, er thut dies in keinster Weise und wirkt in zweierlei Hinsicht geradezu schädigend, indem er die Kinder an ein liederliches Betragen und an den Jargon des Melamed gewöhnt. Der Unterricht in den Elementarfächern fehlt fast durchweg, insbesondere der weiblichen Jugend, die bekanntlich auch dem Cheder fernbleibt.«166 Ein zusätzliches Problem der Chedarim bestand im Mangel an geeigneten Lehrern. Entsprechend ausgebildete Lehrer fanden sich fast nur im Ansiedlungsrayon; sie erhielten jedoch in Riga keine Aufenthaltsgenehmigung. Der Verein entschloß sich nach langen Debatten, zwar keine Gelder für bestehende Cheder zur Verfügung zu stellen, wohl aber eigene, sogenannte ›Muster-Chedarim‹ zu eröffnen. Eine Lösung des Lehrermangels bestehe darin, so die Kommission, »eine Anzahl in Kurland ansässiger junger Leute, welche die hebräischen Fächer hinreichend beherrschen, zur Prüfung für das Amt unter der Bedingung vorbereiten zu lassen, dass die Stipendiaten sich verpflichten, nach Erlangung des Diploms für ein entsprechendes Gehalt an den jüdischen Elementarschulen Kurlands tätig zu sein und die Lehrstellen verhältnismäßig gut zu dotieren.«167 Das Projekt solcher reformierter ›MusterChedarim‹ scheint sich recht gut angelassen zu haben, und im Jahresbericht von 1912 wird ohne weiteren Kommentar die Unterstützung von sieben Ri164 165 166 167

Vgl. Fonds 2016, apr. 1, Nr. 13, LVVA. Vgl. Antrag vom 15.3.1902, Fonds 2016, apr. 1, Nr. 13, LVVA. Kommissionsbericht, in: Fonds 2016, apr. 1, Nr. 78, LVVA. Bericht o. Datum, in Fonds 2016, apr. 1, Nr. 78, LVVA.

263

gaer ›Muster-Chedarim‹ erwähnt, die zwischenzeitlich unter der organisatorischen Obhut eines eigens dafür gegründeten Vereins standen.168 Unterstützte der Bildungsverein unter dem Druck seiner religiös und zumeist auch national engagierten Mitglieder religiöse Schulen, setzten die intern dominierenden Liberalen den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Gründung und den Unterhalt weltlicher Schulen. Ungleich mehr Kapital, Einsatz und organisatorische Mühe wurde auf die Gründung zweier großer Schulen gelegt, die zum Herzstück des jüdischen Milieus wurden: die jüdische Mädchenschule und die jüdische Gewerbeschule. Das Thema weiblicher Ausbildung war im ständisch geprägten Riga später als in den bürgerlichen Städten Mitteleuropas zum Bestandteil des öffentlichen Diskurses avanciert. Da die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Rigas orthodox geprägt war und ihren Töchtern meist zu Hause rudimentäre Kenntnisse vermittelte, wurde Bildung hier überwiegend als männliche Domäne betrachtet und betrieben. Zwar kam es 1877 zur Angliederung einer Mädchenklasse an die jüdische Gemeindeschule, doch nur eine geringe Zahl jüdischer Mädchen fand dort Platz. Während die Kinder des Besitz- und Bildungsbürgertums entweder dorthin gingen oder, wie im Falle Emma Michelsohns, auf deutsche Lehranstalten geschickt wurden, blieben die Töchter klein- und unterbürgerlicher Familien meist ohne schulische Versorgung. Der Vorstand des Bildungsvereins entschloß sich nach längerer Diskussion, den Plan einer jüdischen Mädchenschule als städtische und damit weltliche Schule zu realisieren. Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Bildungsverein und der städtischen Verwaltung setzte ein, die 1907 zur Eröffnung der Rigaer jüdischen Mädchenelementarschule führte.169 Der geräumige Bau, in dem rund 150 Schülerinnen Platz fanden, war durch städtische Mittel, durch die Karobka-Steuer der jüdischen Gemeinde sowie durch erhebliche Stiftungen privater Mentoren finanziert worden. Ein erhalten gebliebenes Verzeichnis belegt, daß fast alle der hier aufgenommenen Schülerinnen aus klein- und unterbürgerlichen Schichten kamen, deren Väter meist Kleinhändler, Handwerker oder Trödler als Beruf angaben und ihren Wohnsitz in der Moskauer Vorstadt hatten.170 Auf diese von der Stadt wie von der jüdischen Gemeinde bisher kaum berücksichtigte Klientel schnitt der Verein auch das Schulgeld zu, das symbolische zwei Rubel pro Jahr betrug. Als Direktorin der neuen Schule wurde eine Frau berufen, und auch im Stundenplan trat die emanzipatorische Ausrichtung der jüdischen Mädchenschule zutage.171 Religion, jüdischer Geschichte und dem Hebräischen wurden insgesamt sieben Un168 169 170 171

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Vgl. Fonds 2016, apr. 1, Nr. 28, LVVA. Vgl. Fonds 2963, LVVA. Vgl. sostav učenic [Schülerinnenverzeichnis], Fonds 2963, apr. 1, Nr. 2, LVVA. Vgl. Ausschreibung und Verfahren in Fonds 2016, apr. 1, Nr. 101, LVVA.

terrichtsstunden zugemessen, wogegen allgemeine Fächer wie Russisch und Deutsch, Mathematik und Geschichte 16 Stunden ausmachten. Die Vertiefung der Reichssprache, die zugleich auch Unterrichtssprache war, schlug dabei mit sechs Stunden wöchentlich zu Buche.172 Der starke Zulauf, den die Schule in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzeichnete, illustriert, welche Anziehung von einer Akkulturation in die russische Gesellschaft ausging, zumal sie sich mit dem westeuropäischen Leitbild der ›neuen Frau‹ gut verbinden ließ. Wie stark sich der liberale Flügel innerhalb des Bildungsvereins durchsetzte, zeigt exemplarisch das größte Projekt des Vereins, die Rigaer jüdische Gewerbeschule. Hier ging es um die Vermittlung allgemein nützlicher Kenntnisse und europäischer Bildung, und damit um ein Programm, mit dem man sich dezidiert gegen die Konzentration auf partikulare jüdische Traditionen abgrenzen wollte. Die Idee einer Gewerbeschule stammte von dem Industriellen Leib Shalit, der den Mangel jüdischer Facharbeiter und qualifizierter Handwerker in seiner unternehmerischen Praxis immer wieder erfahren hatte. Nach komplizierten Verhandlungen mit dem Ministerium für Volksaufklärung, dessen antijüdisch eingestellte Vertreter unter V.K. Pleve solchen Ideen wenig zugänglich waren, wurde schließlich die notwendige Genehmigung erteilt. Sowohl die Jüdische Colonisationsgesellschaft als auch die St. Petersburger Zentrale der Gesellschaft der Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands hatten Gelder zur Verfügung gestellt, doch der Großteil des erforderlichen Kapitals von 160 000 Rubeln ging auf die Stiftungen vermögender Vereinsmitglieder zurück. Neben Leib Shalit, der 8 000 Rubel zur Verfügung stellte, hatten auch der vermögende Kaufmann Bernhard Meyer, der Holzgroßhändler Abraham Rabinowitsch, der Bankier Isidor Moritz Friedman und der renommierte Arzt Julius Eliasberg erhebliche Summen aufgebracht.173 Die Rigaer Stadtverwaltung garantierte einen jährlichen Zuschuß von 5 500 Rubeln und stellte ein geeignetes Grundstück zur Verfügung. 1906 konnte die Gewerbeschule den Unterricht in einem Neubau eröffnen, dessen Ausstattung modernsten pädagogischen Anforderungen genügte und sich von den armseligen Verhältnissen jüdischer Schulen auf dem Lande markant unterschied. Einem zeitgenössischen Beobachter fiel auf, welchen »Überfluß an Luft und Licht diesen völlig modernen Schulbau (charakterisieren), der in sich die Gewerbeschule … Abendkurse für erwachsene Handwerker beiderlei Geschlechts sowie endlich die Bibliothek und eine allgemein zugängliche Lesehalle umfaßt. Die Werkstätten sind hell, luftig und mit den neuesten und besten Apparaten

172 Fonds 2016, apr. 1, Nr. 101, LVVA. 173 Vgl. Ebreju ižglītības biedrības, S. 7f.

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versehen, der gewerbliche Unterricht liegt in den Händen von Meistern, die Oberleitung hat der Direktor der Schule, ein Ingenieur.«174 Vor allem die inhaltliche Gestaltung des Lehrplans dokumentiert, wie die liberale Mehrheit des jüdischen Milieus ihre Vorstellung einer Akkulturation in die russische Gesellschaft durchzusetzen suchte. Das Pflichtcurriculum umfasste Russisch, Deutsch, Mathematik, Physik, Buchführung, Mechanik, technisches Zeichnen, Gesang und Sport. Den religiösen Fächern wie Hebräisch und der Lektüre des Talmuds wurden dagegen nur zwei Wochenstunden eingeräumt. Jeder Schüler hatte die Wahl zwischen bestimmten Praxislehrgängen, die vom Schlosser und Tischler über den Metallgießer und Klempner bis zum Treibstofftechniker reichte. Ein reger Kontakt mit den großen Industrieunternehmen der Stadt, die überwiegend nicht in jüdischer Hand waren, setzte ein, welcher die Verleihung von Modellmaschinen, Auftragsarbeiten und Praktikumsplätze umfaßte und die Integration der jüdischen Absolventen in die christliche Berufswelt erleichtern sollte.175 Der Erfolg dieser Strategie zeigte sich bald, wie der Jahresbericht von 1912 konstatierte: »Die Absolventen der Anstalt, 16 im Berichtsjahr, haben sämtlich in verhältnismäßig kurzer Zeit entsprechende Anstellung gefunden.«176 Mit Hilfe der kooperativen Stadtverwaltung gelang es schließlich, auch für auswärtige Schüler eine spezielle Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken, »wodurch der Wirkungskreis dieser Anstalt auch auf die Nachbarprovinzen ausgedehnt wird. Nach Absolvierung der Anstalt gewinnen die Ex-Zöglinge das Recht, im gesamten Reich wohnen zu dürfen, was ja für den jüdischen Handwerker von wesentlicher Bedeutung ist.«177 Welche Attraktivität von der weltlichen Gewerbeschule ausging, die kaum noch jüdische Traditionen als vielmehr allgemein nützliche Kenntnisse für die Gegenwart vermittelte, dokumentiert der Anstieg der Schülerzahlen. 1906 hatte die Gewerbeschule mit 37 Schülern ihren Unterrichtsbetrieb eröffnet, 1911 verzeichnete sie bereits 70 reguläre Schüler sowie 500 Externe, die an den abendlichen Fortbildungskursen teilnahmen.178 Das Echo, welches die Zielsetzung beruflicher Integration in die christliche Arbeitswelt auslöste, verdeutlicht der Bericht eines deutschen Journalisten, welcher der Schule 1910 einen Besuch abstattete: »Die sehr geräumige, mehrere hundert Personen fassende Aula der modernen und nach allen Anforderungen der Schulhygiene gebauten Anstalt ist bis auf den letzten Platz gefüllt … Und wenn man bedenkt, daß die Zöglinge der Anstalt sich aus den 174 175 176 177 178

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Rigaer Neueste Nachrichten, 28.5.1909. Vgl. Bericht in Fonds 2016, apr. 1, Nr. 19, LVVA. Jahresbericht 1912, in: Fonds 2016, apr. 1, Nr. 28, LVVA. Rigaer Neueste Nachrichten 18.12.1910. Vgl. Ebreju ižglītības biedrības, S. 9.

einfachsten, kulturell am niedrigsten stehenden Schichten der hiesigen jüdischen Bevölkerung rekrutieren, so kann man nicht umhin, den Leistungen der Lehrer die vollste Anerkennung zu zollen … Ganz besonders hervorgehoben seien aber die technischen Darbietungen, die ja den Lebensnerv der Anstalt bilden. Erfüllt so die Gewerbeschule ihre … Hauptaufgabe, ihre Zöglinge zu tüchtigen, mit guter Elementarbildung ausgerüsteten Handwerkern heranzuziehen, aufs glänzendste, so unterläßt sie es auch nicht, der körperlichen Ausbildung ihrer Zöglinge die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.«179

Doch der sichtbare Erfolg der Gewerbeschule konnte die Kritik des nationaljüdisch und religiös orientierten Flügels nicht eindämmen. Unstimmigkeiten kamen zunächst wegen der Tatsache auf, daß die Lehrer der praktischen Fächer überwiegend Christen waren.180 Heftiger noch wurde moniert, daß die Stundenzahl für die religiösen Fächer zu gering sei. Als der Vorstand des Bildungsvereins gar erwog, diese Fächer ganz zu streichen, kam es zu einem Eklat, der nur beigelegt werden konnte, indem die Stundenzahl der religiösen Fächer unverändert blieb.181 Hinter dem Einzelfall verbargen sich generelle Differenzen darüber, wie weit die ›Anpassung‹ reichen sollte, inwieweit es um die Selbstbehauptung einer ›jüdischen Nation‹ ging oder ob die kulturelle Anlehnung an die russische Gesellschaft nicht die bessere Alternative war. Die engen Verbindungen zu Westeuropa, das einflußreiche Leitbild des deutschen Milieus sowie das Fehlen von Pogromen und behördlicher Repression führten beim Gros der Rigaschen Juden, abweichend von anderen jüdischen Zentren wie Odessa, Kiev oder Wilna dazu, daß hier nicht in religiöser Absonderung oder jüdischem Nationalismus, sondern in der Akkulturation in die nichtjüdische Gesellschaft eine wirkliche Chance rechtlicher Gleichberechtigung und soziokultureller Ebenbürtigkeit gesehen wurde. Ob man die Juden als eigenständige ›Nation‹ begriff oder eher ihre Akkulturation in die Mehrheitsgesellschaft favorisierte, beide Flügel innerhalb des Bildungsvereins verband ein ausgeprägtes Interesse an der Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit. Blieb der erste Schwerpunkt des Vereins, die Vermittlung von Bildung, daher nicht frei von innerjüdischen Konflikten, herrschte über dem zweiten Schwerpunkt, der Schaffung einer eigenen Tradition, weitgehend Konsens. Auch dieses Interesse des lokalen Bürgertums war ein Transferprodukt. Die Vorstellung des jüdischen Volkes als eine ›Nation‹ war zunächst ein osteuropäisches Interpretationsmodell gewesen, das rasch in den jüdischen Zentren Mitteleuropas an Einfluß gewann.182 Bei dem neuen Interesse an einer jüdischen Historiographie handelte es sich hingegen um eine aus dem Deutschen Reich kommende 179 180 181 182

Rigaer Neuste Nachrichten 18.12.1910. Vgl. Fonds 2016, apr. 1, Nr. 55, LVVA. Vgl. die Schilderung des Eklats in Fonds 2016, apr. 1, Nr. 80. Vgl. Volkov, Juden in Deutschland,, S. 62.

267

Tendenz, die wiederum in Osteuropa schnell Anklang fand. Die religiöse jüdische Welt war bis zur Jahrhundertmitte eher ahistorisch gewesen.183 Die Konzentration auf die Auslegung religiöser Texte und die Pflege einer Anzahl religiöser Mythen hatte ein wirkliches Interesse an Geschichte nahezu ausgeschlossen. Angeregt durch die wissenschaftlichen Methoden der modernen deutschen Historiographie entwickelte sich eine moderne jüdische Geschichtsschreibung zunächst vor allem in Deutschland.184 Stellte das Erscheinen von Heinrich Graetz’ »Geschichte der Juden« (1853–1873) das intellektuelle Ereignis im Kaiserreich dar, entsprach dem in Russland Simon Dubnovs 1916 erschienene »Geschichte der Juden«, zu der einzelne Vorstudien bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts publiziert wurden.185 In die »Armee von Traditionsschaffenden«, die im Gefolge dieser Publikationen an der Konstruktion einer kohärenten Geschichte der Juden zu arbeiten begannen,186 reihte sich auch der Rigaer Bildungsverein ein. Zunächst begannen seine Mitglieder, eine umfangreiche Sammlung jüdischer und nichtjüdischer Literatur zusammenzustellen. 1908 wurde eine Lesehalle mit 3 800 Bänden »belletristischen und allgemeinbildenden Inhalts in russischer, deutscher, hebräischer und jiddischer Sprache« eröffnet.187 Der Jahresbericht von 1908 vermerkte, »dass in den ersten drei Monaten des Bestehens dieser Lesehalle dieselbe von 5 000 Personen besucht wurde, worunter 2 689 Abonnenten!« Neben der Eröffnung einer allgemeinen Bibliothek richtete sich das Interesse der Vereinsmitglieder vor allem auf die Rekonstruktion ihrer eigenen Vergangenheit, auf die Geschichte der baltischen Juden. Zu diesem Zweck wurde »eine Commission mit der Aufgabe betraut, das Material zu einer Geschichte der Juden in den Ostseeprovinzen zu sammeln.«188 In einem Rundschreiben an alle größeren Gemeinden Livlands, Estlands und Kurlands gab der Initiator, der Arzt Isaak Joffe der Hoffnung Ausdruck, dass »Sie … mit uns übereinstimmen, dass die Verbreitung der Kenntnisse in der jüdischen Geschichte – auch in den Einzelheiten der eigenen Vergangenheit ein vorzügliches Mittel ist, die Bildung in weitesten Kreisen zu heben.«189 183 Vgl. Volkov, Erfindung einer Tradition, S. 19. 184 Vgl. Yerushalmi. 185 Vgl. Simon Dubnov, Ob izučenii istorii russkich evreev [Vom Studium der Geschichte der russischen Juden], St. Petersburg 1891; siehe auch Viktor E. Kelner, Nation der Gegenwart – Simon Dubnow über jüdische Politik und Geschichte, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, Jg. 2, 2003, S. 519–544. Vgl. jetzt S. Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, hg. von V. Dohrn, 3 Bde., Göttingen 2004–2005. 186 Volkov, Erfindung einer Tradition, S. 19. 187 Jahresbericht von 1908, in: Rigasche Neueste Nachrichten, 28.5.1909. Dort auch das folgende Zitat. 188 Fonds 2016, apr. 1, Nr. 6. 189 Ebd.

268

In den Jahren 1910–1912 erschienen drei Bände »Regesten und Urkunden zur Geschichte der Juden in Riga und Kurland«, welche die Ansiedlung von Juden und deren Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt in zeitgenössischen Überlieferungen und in deutscher Sprache festhielten. Hinter dem Projekt stand nicht nur der Wunsch einer dokumentarischen Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Vielmehr erhob sein Autor den Anspruch, mit der spezifischen Darstellung der lokalen Gemeinde zugleich eine exemplarische Geschichte von Fortschritt und Emanzipation zu schreiben. Nicht umsonst spielten in seiner Sammlung die aus dem Ansiedlungsrayon zugewanderten, unterbürgerlichen und meist orthodoxen Juden kaum eine Rolle. Der Schwerpunkt der Darstellung lag vielmehr auf den aufgeklärten, westlich orientierten ›Kurländischen Juden‹. So wurde es möglich, die Rigaer Gemeinde als Modell darzustellen, das auf andere jüdische Gemeinden Russlands stimulierend gewirkt habe: »Die Geschichte der Juden in den Ostseeprovinzen hat nicht bloss lokales Interesse, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern ist durchaus geeignet, eine bedeutende Nuance in die Gesamtgeschichte der Juden in Russland hineinzutragen. Sowohl die gesonderten politischen und kulturellen Zustände in Liv- und Kurland, als auch die engen Beziehungen, in welchen diese beiden Länder seit jeher zu Westeuropa, namentlich zu Deutschland standen, haben naturgemäss nicht verfehlt, ein besonderes Gepräge nicht nur dem Verhalten der örtlichen Behörden und Bürger zu den Juden zu verleihen, sondern sind auch auf letztere selbst in ihrer materiellen und kulturellen Entwicklung nicht ohne Einfluß geblieben.«190 Dem deutsch oder russisch akkulturierten jüdischen Bürgertum Rigas kam eine solche Fortschrittsdeutung entgegen, legitimierte sie doch gegenüber der christlichen Außenwelt, aber auch gegenüber dem eigenen national-religiösen Flügel das Bestreben nach rechtlicher Gleichheit und kultureller Integration. Hier konnte die Geschichte des eigenen Volkes zunehmend die Konzentration auf die Religion ersetzen, hier bedeutete der neue Zugang zur Überlieferung zugleich »Säkularisierung und Historisierung der jüdischen Vergangenheit.«191 Im Bildungsverein kam es wiederholt zu Konflikten zwischen den Verfechtern einer weitgehenden Akkulturation sowie den Befürwortern einer eigenständigen jüdischen ›Nation‹, doch zwischen beiden Flügeln ließen sich immer wieder Kompromisse erzielen. Welche unterschiedlichen Leitvorstellungen sich zwischen Zionisten und Akkulturierten, Arbeitern und Bürgern sowie Liberalen und Orthodoxen nach 1905 herausbildeten, spiegelt die jüdische Vereinskultur wider, in der sich das jüdische Milieu Rigas maßgeblich konstituierte (Tab. 23).

190 Joffe, S. IV. 191 Maurer, S. 314.

269

270 Zionistische Interessen

1882 1884 1897 1898

1900 1907

Bund6

Verein zur Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands7

Der Armenfreund

Jüdischer Klub8 o.A.

o.A.

529

150

o.A.

326

o.A.

1024

o.A.

Mitglieder

Besitz- und Bildungsbürgertum

Besitz- und Bildungsbürgertum

Besitz- und Bildungsbürgertum

Arbeiter

Besitz- und Bildungsbürgertum

Besitz- und Bildungsbürgertum

Klein- und Besitzbürgertum

Besitz- und Bildungsbürgertum

Kleingewerbe und Handel

Soziales Profil

100% Juden

100% Juden

100% Juden

100% Juden

100% Juden

90% Juden, 10% Deutsche

100% Juden

100% Juden

Ethnokonfessionnelle Zusammensetzung 100% Juden

1 Aufgrund der überaus fragmentarischen Quellenlage zum jüdischen Bürgertum Rigas lagen genaue Angaben zur Mitgliederzahl und partiell auch zur sozialen Zusammensetzung der Vereine überwiegend nicht vor. Die vorliegende Tabelle stellt überhaupt den ersten Versuch dar, die jüdische Vereinskultur Rigas systematisch zu erfassen. 2 Vgl. Statut des Geselligkeits-Vereins der Hebräer. 3 Vgl. Meyer, Jüdische Krankenpflege, in: Fonds 2962, apr. 1, Nr. 37, LVVA. Die Mitgliedszahl bezieht sich auf das Jahr 1910. 4 Vgl. Rigaer Adreßbuch 1913. 5 Vgl. Curatorium des Hebräer-Asyls. Die Mitgliederzahl bezieht sich auf das Jahr 1907. 6 Die Zahl bezieht sich auf das Jahr 1909. Während der Revolution 1905/06 wird seine Stärke in Riga auf 1 000 Mitglieder geschätzt. Vgl. Kalniņš, Latvijas sociāldemokratijas, S. 48–131. 7 Vgl. Fonds 2016. 8 Ebd.

Geselligkeit

Förderung von Bildung und praktischen Kenntnissen, zumal der russischen Sprache Unterstützung von Armen

Vertretung von Arbeiterinteressen

Kranken- und Armenpflege

1870

Jüdischer Krankenpflege-Verein Bikur-Cholim 3 Jüdischer Frauenverein zur Unterstützung armer Handwerker4 Curatorium des Hebräer-Asyls am Verein gegen den Bettel5 Freunde Zions (Chovevei Zion) 1878

Geselligkeit,Unterstützung jüd. Schulkinder Krankenpflege und Krankenversicherung Unterstützung von Handwerkern

Ziel

1866

Gegründet

Geselligkeits-Verein der Hebräer2

Name

Tab. 23: Ausgewählte Vereine des jüdischen Milieus nach 1905 mit Mitgliederzahl, sozialer und ethnischer Zusammensetzung1

271

9 10 11 12 13 14 15

Errichtung jüdischer MusterLehranstalten

1909

1909

Beruflicher Austausch und Unterstützung Konzert- und Theateraufführungen

1909

1908

Vermittlung des Talmud, Jüd. Religionslehre Förderung weiblicher Berufsausbildung

Geselligkeit, Verbreitung jüdischer Kultur und Lehre/ Zionismus Geistige Anregung und Geselligkeit

Ziel

o.A.

o.A.

o.A.

o.A.

o.A.

o.A.

o.A.

Mitglieder

Besitz- und Bildungsbürgertum

Kleinbürgertum, freie Intelligenz

Kleinbürgertum und Arbeiter

Klein- und Bildungsbürgertum

Klein- und unterbürgerliche Jugend

Studenten

Besitz- und Bildungsbürgertum

Soziales Profil

Vgl. Otčet obščestvi »Ivria«; Bobe, S. 46; Rigaer Adreßbuch 1913. Vgl. Fonds 4568, apr. 1, Nr. 276; LVVA; vgl. auch den Bestand 5.2.1. im Museum ›Juden in Lettland‹ (MEL). Bestand 6.2.2.4., MEL. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Rigasches Adressbuch 1913.

Literärisch-pädagogischer Verein jüdischer Frauen12 Verein jüdischer Hutmachermeister13 Jüdischer Dramatisch-Musikalischer Verein Carmel14 Cheder Muskan15

1908

1908

Anatolica10

Jagdil Thora

1908

Ivriya9

11

Gegründet

Name

100% Juden

100% Juden

100% Juden

100% Juden

100% Juden

100% Juden

Ethnokonfessionnelle Zusammensetzung 100% Juden

Der Dominanz des akkulturierten jüdischen Bürgertums war es zuzuschreiben, daß die Beziehungen zwischen Christen und Juden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensiver wurden. So lud der erfolgreiche jüdische Architekt Michail Ejzenštejn den russischen Gouverneur Zvegincev regelmäßig zu großen Dinners nach Hause ein, was dieser gerne annahm.192 Auch der jüdische Arzt Isidor Brennsohn, der um 1900 biographische Lexika baltischer Ärzte verfaßt hatte, die weder zwischen Juden und Christen noch nach Nationalität unterschieden, wurde von der elitären deutschen Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen zum Ehrenmitglied ernannt.193 Doch trotz guter Kontakte zu den Deutschen auf kommunaler und wirtschaftlicher Ebene, zu den russischen Liberalen auf der politischen, und zu den lettischen Sozialisten im revolutionären Ausnahmezustand schied Religion gesellschaftlich wie privat dauerhaft zwischen Juden und Christen. Das Gros des jüdischen Milieus Rigas begriff sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts kulturell als Teil der Mehrheitsgesellschaft und politisch als Bürger des russischen Staates. Doch seine vielfältigen Bemühungen um Akkulturation resultierten in dauerhafter, oft selbst gewünschter sozialer Absonderung von der nichtjüdischen Gesellschaft. Trennte zwischen Deutschen, Letten und Russen primär die Politisierung von Ethnizität, so war es die Religion, welche zwischen den Rigaschen Juden und ihrer christlichen Umwelt eine stabile Grenze schuf.

192 Vgl. Eisenstein. 193 Vgl. das Schreiben der Gesellschaft, abgedruckt in: Brennsohn, Aerzte Livlands o.S.

272

V. Die Segmentierung der kulturellen Praxis Die Konkurrenz um die Durchsetzung der eigenen Leitvorstellungen schlug sich auch in Symbolen, Diskursen und Ritualen nieder. Denn Deutsche, Letten, Russen und Juden waren in Riga gleichermaßen bemüht, ihrem Handeln eine Bedeutung zu verleihen, die über die bloße Artikulation von Interessen hinausging, die das eigene Milieu zusammenhalten konnte und die Mitglieder anderer Milieus für sich gewinnen sollte. Wie die konkurrierenden Gruppen ihre spezifischen Leitvorstellungen kulturell vermittelten, welche Praktiken sie dabei zur Hilfe nahmen und wie solche Repräsentationen von der Umgebung wahrgenommen wurden, steht im Zentrum dieses fünften Teils. Die multiethnische Ausgangslage verleiht dem kulturgeschichtlichen Zugriff seinen besonderen Reiz. Denn eine interethnische Verflechtungsgeschichte, wie diese Studie sie erprobt, ist darauf angewiesen, nicht bei der Bedeutung stehen zu bleiben, welche die Initiatoren ihren symbolischen Handlungen verleihen wollten, sondern vor allem nach deren Wahrnehmung, Rezeption oder Neuinterpretation durch die konkurrierenden Gruppen der multiethnischen Lebenswelt zu fragen. Im vorliegenden Kontext wird schnell deutlich, daß es nicht nur ›eine‹ Bedeutung, nicht die ›richtige‹ Interpretation gab. Vielmehr mündeten eindeutig intendierte Aussagen und Handlungen in eine Vielzahl von Bedeutungen, die ihre Integrationskraft brüchig machten und zu einer Segmentierung der kulturellen Praxis führte. Vier Beispiele illustrieren dieses Muster. Im ersten Kapitel wird der staatliche Versuch kultureller Russifizierung auf seine Wirkungsweise im schulischen und kirchlichen Alltag hin untersucht und gefragt, inwieweit ähnliche Erfahrungen zwischen konkurrierenden Gruppen konsensbildend wirken konnten. Das zweite Kapitel nimmt die Feier des 700jährigen Stadtjubiläums in den Blick, mit dessen Inszenierung die deutschen Eliten ihre Leitvorstellungen kulturell vermitteln wollten. Erneut interessiert vor allem die ambivalente Wahrnehmung dieser Selbstdeutung, die zu einer interethnischen Kontroverse über das jeweilige Verhältnis zu Stadt und Region führte. Wie offen gerade auch ikonographische Repräsentationen für unterschiedliche Sinnzuschreibungen sind, zeigt die Errichtung eines Denkmals für Peter den Großen, die das dritte Kapitel untersucht. Daß kulturnahe Zugangsweisen keineswegs politikfern sein müssen, lässt sich hier besonders deutlich zeigen, diente doch die Debatte um den historischen Herrscher allen Milieus primär zur Ausein273

andersetzung um das gegenwärtige Verhältnis zu Staat und Monarchie. Im vierten Kapitel schließlich wird die Aufmerksamkeit auf das »Schreiben und Lesen räumlicher Wirklichkeiten« gerückt1 und nach den konkurrierenden Raumvorstellungen gefragt, die Deutsche und Letten während der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten. Im Entwurf der ›eigenen‹ Karte, die sich von der des anderen unterschied, wurden bestehende Machtbeziehungen abgebildet, zugleich aber auch Ansprüche an die Zukunft formuliert, die zur Veränderung der Wirklichkeit beitrugen und die überkommene Grenzziehung im Ersten Weltkrieg schließlich zerbrechen ließen.

1. Kulturelle Russifizierung: Staatlicher Anspruch und nationales Echo Dem Wunsch nach kultureller Selbstbestimmung, den Deutsche, Letten und Russen gleichermaßen hegten, trat seit den 1880er Jahren der Staat entgegen. Hatten seine Reformen in der Verwaltung und Justiz zunächst der administrativen Modernisierung der Ostseeprovinzen gedient, wurden jetzt Schule und Kirche zum Gegenstand kultureller Unifizierungsbestrebungen. Damit stand die russische Regierung nicht allein, sondern ordnete sich ein in die allgemeine Tendenz politischer Zentralisierung und kultureller Vereinheitlichung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die meisten europäischen Staaten erfaßte.2 Ein ›integraler Nationalismus‹, der die Staatsnation als homogen und unteilbar deutete und den zum Feind erklärte, der sich nicht zu ihr bekannte, wurde zur Signatur des Zeitalters. War die Nationalitätenpolitik des multiethnischen Zarenreichs bisher überwiegend auf die Kooperation mit nichtrussischen Eliten, auf die Respektierung des regionalen Status quo und auf Toleranz gegenüber fremden Wertesystemen ausgerichtet gewesen, gewann seitdem das Ziel kultureller Vereinheitlichung und Integration die Oberhand.3 Denn mit Alexander III. hatte 1881 ein Zar den Thron bestiegen, dem jede Sonderstellung nichtrussischer Minderheiten, seien es Polen, Deutsche oder Finnen, ein Dorn im Auge war, der die zaghafte rechtliche Emanzipation der russischen Juden rückgängig zu machen suchte und der zudem eine persönliche Abneigung gegen Deutsche hatte.4 Auch außenpolitische Beden1 Christoph Conrad, Vorwort, in: GG, Jg. 28, 2002, Heft 3, Mental Maps, S. 340. 2 Vgl. Schulze, Staat und Nation, S. 243–277. 3 Vgl. Kappeler, Nationalitätenproblem; ders., Vielvölkerreich. 4 Vgl. Thaden, Conservative Nationalism. Zur antideutschen Einstellung Alexanders III. hatten seine dänische Frau wie vor allem sein Erzieher, Konstantin Pobedonoscev, der spätere Oberprokuror der orthodoxen Kirche, beigetragen, vgl. Byrnes; Simon.

274

ken gegenüber dem mächtiger werdenden Nachbarn im Westen trugen dazu bei, daß die innere Homogenisierung des russischen Reiches nicht mehr nur von der russischen Öffentlichkeit, sondern auch von der Regierung als notwendig betrachtet wurde. Mithin markierte der Thronwechsel Alexander III. auch den Übergang vom konservativen zum nationalen Rußland. Der neuartige staatliche Gestaltungswille stieß in den Ostseeprovinzen, die staatliche Eingriffe bisher kaum kannten, auf eine besonders heftige Reaktion. Im zeitgenössischen Kampf begriff der ›Russifizierung‹ scheint noch das Trauma durch, das die kulturellen Integrationsbemühungen vor allem bei den Deutschen ausgelöst hatten.5 Nicht nur Schule und Kirche seien davon erfasst gewesen, wurde lange Zeit argumentiert, vielmehr habe die Russifizierung dem gesamten kulturellen und politischen Leben ihren Stempel aufgedrückt. Die damit verknüpfte Vorstellung einer durchgängigen Konfliktsituation zwischen Deutschen und Russen hat sich in der deutschbaltischen Historiographie lange Zeit erhalten und wurde kaum je kritisch hinterfragt.6 In dem 1981 erschienenen Sammelband Edward Thadens, der führenden Analyse zum Thema, ist der Begriff der ›Russifizierung‹ erneut aufgegriffen und modernisierungstheoretisch interpretiert worden.7 In der Forschung herrscht jedoch zwischenzeitlich Konsens, daß ein solcher, Einheitlichkeit und Systematik suggerierender Kampf begriff zur Erklärung und Differenzierung der unterschiedlichen Maßnahmen und Wirkungen wenig taugt. Doch ein Begriff, der ihn ersetzen könnte, ist nicht in Sicht.8 Vor diesem Hintergrund erscheint es zum einen notwendig, zwischen administrativen und kulturellen Maßnahmen zu unterscheiden, den Terminus der ›Russifizierung‹ also analytisch zu zerlegen, um die vermeintliche Geschlossenheit des Vorgehens und die Einheitlichkeit der Wirkung in Frage zu stellen. Daher hat diese Studie die Auswirkungen der administrativen Maßnahmen im Rahmen der kommunalen Politik erläutert, wogegen die schulischen und kirchlichen Integrationsversuche im Rahmen der kulturellen Praxis thematisiert werden. Zum anderen konnte der Begriff seine spezifische Kon5 Vgl. die Hauptvertreter dieser Richtung: Buchholtz, Deutsch-protestantische Kämpfe; Buchholtz, Fünfzig Jahre Russische Verwaltung; Russisch-baltische Blätter; v. Dorneth, Russifizierung der Ostseeprovinzen; sowie vor allem v. Tobien, Livländische Ritterschaft, v.a. Bd. 1, 2. Teil: »Verwaltung und Vergewaltigung.« 6 Vgl. noch v. Rauch, Deutschbaltische Geschichtsschreibung, S. 420ff.; auch Wheelan, Adapting to Modernity, setzt sich nicht damit auseinander, vgl. S. 214ff. Wichtig: v. Pistohlkors, »Russifizierung« in den baltischen Provinzen; ders., »Russifizierung« und die Grundlagen der deutschbaltischen Russophobie. 7 Bezeichnenderweise stammen diejenigen Darstellungen, die sich kritisch mit dem Terminus ›Russifizierung‹ auseinandersetzen, überwiegend aus angelsächsischer Feder. Vgl. Thaden, Russification in the Baltic Provinces. Ein knapper, ausgezeichneter Abriß der Maßnahmen bei Haltzel. 8 Vgl. Kappeler, Nationalitätenproblem, S. 175.

275

notation auch deshalb so lange erhalten, weil das Ausmaß der Russifizierung kaum je konkret überprüft wurde. Das lag partiell an den schwer zugänglichen Archiven in den lettischen und estnischen Sowjetrepubliken, partiell aber auch an der Entscheidung der Historiker, was überhaupt erinnert werden sollte. Es erscheint daher weiterführend, auf der Ebene konkreter Institutionen anzusetzen – zumal Quellen dafür zur Verfügung stehen –, um die Durchführung und Wirkungsweise der forcierten staatlichen Integration zu erhellen. So kann deutlich werden, wie weit die Russifizierung reichte, aber auch, wo ihre Grenzen lagen. Schließlich hat sich kaum eine neuere Analyse mit dem individuellen Erleben der Betroffenen auseinandergesetzt. Auch die ausgezeichneten Beiträge in Thadens’ Band konzentrieren sich auf die staatlichen Maßnahmen und vernachlässigen die schwieriger zu rekonstruierende Erfahrung der Zeitgenossen. Da zumal die deutschbaltische Historiographie die Erfahrung nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen bisher kaum berücksichtigt hat, konnte auch die konträre Reaktion auf das staatliche Vorgehen bisher nicht deutlich werden. Denn während die kulturelle Russifizierung die Leitvorstellungen der Deutschen besonders heftig provozierte, versprachen sich die Letten davon eine Befreiung vom Imperativ ›deutscher Kultur‹ und werteten das staatliche Vorgehen zunächst positiv. Der Erfahrungsvergleich kann dazu beitragen, zwischen Maßnahmen und Wirkungen, zwischen Ängsten und Realitäten zu unterscheiden und dadurch die Unterschiedlichkeit der Wirkungsweisen aufzuzeigen. So lässt sich schließlich auch der Frage nachgehen, ob dort, wo Ethnizität eine trennende Wirkung entfaltete, die gemeinsame Bedrohung der jeweiligen Kultur zum verbindenden Faktor werden konnte.

a) Die Russifizierung der Schule im Spannungsfeld von Autonomievorstellung, Integrationsversuch und Utilitätsargument Wie stark die »Abwesenheit des Staats« (Wittram) das kulturelle Leben Rigas zunächst prägte, zeigte in besonderem Maße das lokale Schulwesen. Die Leitung und Verwaltung aller städtischen Schulen hatte seit der Frühen Neuzeit einem sogenannten ›Schulkollegium‹ zugestanden, dessen Zusammensetzung vom ständischen Rat der Stadt bestimmt wurde und weitgehend unabhängig von staatlicher Aufsicht agierte. Mit der Etablierung eines Ministeriums für Volksaufklärung in St. Petersburg um 1800 war diese städtische Autonomie etwas eingeschränkt worden, doch Lehrplan, Lehrsprache und Lehrerwahl blieben bis 1885 in lokaler Hand. Von den 139 Schulen, die Riga 1883 aufwies, unterstanden alle städtischen Schulen wie auch die privaten und kirchlichen Schulen dieser ständischen Aufsicht.9 Nur die neun ›Kronsschulen‹, die vom 9 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 2, S. 302. Vgl. auch: Resultate der schulstatistischen Enquete.

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Staat gegründet und unterhalten wurden, waren der Kontrolle des Ministeriums für Volksaufklärung unterworfen. Ebenso befand sich Rigas Technische Hochschule unter ständischer Kuratel, da sich sein Verwaltungsrat ausschließlich aus Mitgliedern ständischer Institutionen zusammensetzte. Auf dem flachen Land trat zur ständischen Kontrolle noch die kirchliche. Die ländlichen Volksschulen in den Ostseeprovinzen, die ausschließlich von lettischen Kindern frequentiert wurden, waren überwiegend von den baltischen Ritterschaften finanziert, die gemeinsam mit den lokalen Pastoren die Aufsicht über Lehrplan und Personal ausübten. Am »landeskirchlichen Charakter der livländischen Volksschule«, wie ein Befürworter es nannte,10 entzündeten sich jedoch im Zeitalter wachsender Nationalisierung heftige Konflikte. Bereits 1887 kommentierte der neue Gouverneur Zinov’ev dieses ständische Residuum mit kritischem Unterton: »Aber man darf nicht vergessen, daß, wenn auch die Pastoren den Reichsideen der Ordnung, der Sittenreinheit, der Disziplin, der häuslichen und bürgerlichen Tugend förderlich sind, doch eben diese Pastoren in den Schulen den Geist der Anhänglichkeit an die germanische Kultur, an die germanischen Ideale und die Absonderung von Rußlands Kultur und Idealen den Schülern einprägen, wobei sie selbst des Glaubens sind, daß auf diese Weise der geistigen Annäherung des Landvolks an Rußland ernste Hindernisse bereitet werden.«11 Das deutsche Interesse am Erhalt ›ständischer Herrschaft‹ und ›deutscher Kultur‹ schlug sich auch in der Präferenz der Schultypen nieder. In der zweiten Jahrhunderthälfte existierten in Riga drei Schultypen: die Elementaroder Grundschule, die sogenannte Kreisschule, eine etwas weiterführende Schule, die etwa einer Realschule entsprach, sowie das Gymnasium, das in Riga als städtische wie als staatliche Institution existierte.12 Die Stadtverwaltung bevorzugte jedoch einseitig die höheren Schulen, wogegen der dringend benötigte Ausbau von Volksschulen lange Zeit ein Stief kind deutscher Kommunalpolitiker blieb. Zwischen 1868 und 1883 hatte sich die Zahl der städtischen Volksschulen von 19 auf 34 Schulen erhöht, doch die durchschnittliche Schülerzahl in den überfüllten Klassen blieb aufgrund der starken Zuwanderung mit 63 Knaben bzw. 48 Mädchen unverändert hoch.13 Die Bevorzugung höherer Bildung kam vor allem im städtischen Budget zum Ausdruck. Von den insgesamt 139 Schulen, die Riga 1883 aufwies, waren 91 Volksschulen, 27 Kreisschulen und 12 Gymnasien. Die restlichen neun staatlichen Schulen waren unabhängig von städtischen Zuwendungen. 10 Hollmann, S. 43. 11 Verwaltungsbericht Zinov’evs für das Jahr 1887, Archiv Meyendorff, zitiert nach v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 256. 12 Vgl. Das Schulwesen in den russischen Ostseeprovinzen; Hollmann; Schweder, Rigasche Elementarschulen. 13 Vgl. Resultate der schulstatistischen Enquete, S. 38, 67.

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Auf die wenigen Gymnasien wurde 48% des städtischen Schulbudgets verwandt, auf die Kreisschulen 19%, wogegen auf die zahlreichen Volksschulen nur 23% entfiel.14 Gleichzeitig stellten die Kinder der deutschen Bevölkerung 68% aller Gymnasiasten, wogegen russische Kinder 14%, lettische Kinder 3% und jüdische Kinder 0,5% aller Gymnasiasten ausmachten.15 Die Folge dieser Budgetierung bestand in einer klaren Bevorzugung der deutschen Bevölkerung, deren Kinder primär in den Genuß höherer Schulbildung kamen. Höhere Bildung wurde als Domäne der deutschen Bevölkerung angesehen, wogegen Elementarkenntnisse für die unterbürgerlichen Letten als ausreichend erschien, eine Haltung, die sogar in die offizielle Schulenquete der Stadt Eingang fand: »Jedes Wissen, jede Erweiterung des geistigen Horizonts des Menschen ist mit einer gewissen Gefahr verbunden, wenn nicht Hand in Hand mit den Kenntnissen eine denselben entsprechende allgemeine geistige und sittliche Bildung gewonnen wird. Ist die Erfüllung dieser Forderung nicht möglich, so schließen wir dieselben (Elementarschulen) lieber und bewahren unsere Kinder aus dem Volke wenigstens davor, mit Werkzeugen der heutigen Cultur bekannt gemacht zu werden, für deren … Handhabung ihnen nicht gleichzeitig die dazu erforderlichen Voraussetzungen geboten werden können.«16 Ebenso manifestierte sich die Durchsetzung der Denkfigur ›deutscher Kultur‹ in der Unterrichtssprache. Bis Ende der 1870er Jahre waren alle städtischen Schulen, ungeachtet ihres Schultyps, deutschsprachig gewesen. Insgesamt herrschte 1883 in etwa 85% aller Rigaer Schulen die deutsche Unterrichtssprache, während in den übrigen auf russisch unterrichtet wurde. Deutsche machten zu diesem Zeitpunkt indes nur rund 30% der Bevölkerung aus.17 Auf dieses Missverhältnis zielte die harsche Kritik des deutschbaltischen Pädagogen Philipp Gerstfeldt »an den ganz erschreckend ungünstigen Divergenzen bezüglich der undeutschen Bewohner Rigas.«18 Denn die Tatsache, daß das Angebot an städtischen und damit kostenlosen Volksschulen mit lettischer oder russischer Unterrichtssprache so gering war, bewirkte im russischen und lettischen Milieu einen weit schwächeren Schulbesuch, als die Schulpflichtigkeit der Kinder ihn nahelegte. Besuchten Anfang der 1880er Jahre in Riga etwa 60% aller schulpflichtigen deutschen 14 Vgl. Resultate der schulstatistischen Enquete, S. 5. Auf die übrigen Schulen wurden 10% (= 100%) verwandt. 15 Ebd., S, 105. Kinder anderer ethnischer Zugehörigkeit machten 14,5% aus. 16 Resultate der schulstatistischen Enquete, S. 4. 17 S. Resultate der schulstatistischen Enquete, der die entsprechenden Daten zur Unterrichtssprache am Ende jeder Beschreibung der Schulytpen liefert. Der deutsche Bevölkerungsanteil von 30% bezieht sich auf die zeitgenössische Angabe von Nationalität, nicht von Sprache, vgl. Tabelle 2, Kap. I. 18 Gerstfeldt, S. 294.

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Knaben die Schule, waren es nur 42% aller schulpflichtigen lettischen Knaben sowie 33% der russischen.19 Erst Gerstfeldts öffentliche Problematisierung des »Mangels an Gelegenheit zur Befriedigung des subjectiv bemessenen Schulbedürfnisses« entfachte eine Debatte innerhalb der deutschen Öffentlichkeit, die Anfang der 1880er Jahre zur Gründung einiger lettischsprachigen Volksschulen führte.20 Die Deutungsmuster von ›deutscher Kultur‹ und ›baltischer Autonomie‹ traten ebenfalls in der inhaltlichen Gestaltung des schulischen Alltags zutage. In den städtischen Volksschulen nahmen Religion und Deutsch zusammen mit Rechnen die höchste Wochenstundenzahl ein. Zwar kam der Reichssprache die gleiche Stundenzahl wie der deutschen Sprache zu, doch diese formale Gewichtung entsprach kaum irgendwo der pädagogischen Wirklichkeit. Entsprechend bemängelte das Ministerium für Volksauf klärung nach einer Revision im Jahr 1871, daß es »mit dem Unterricht in der russischen Sprache … auch jetzt nicht vorwärts (geht) … Als einer der Hauptursachen, welche den Fortschritt des Unterrichts in den dortigen Gymnasien hemmen, muß die Unfähigkeit der Lehrer dieser Sprache anerkannt werden, die teils Deutsche sind, welche die russische Sprache nicht vollkommen beherrschen, teils Russen, die mit wenigen Ausnahmen für den Lehrberuf schlecht vorbereitet sind und denen es sogar an einer genügenden allgemeinen Bildung fehlt.«21 Hinter der Vernachlässigung der russischen Sprache, die das Gros der deutschen und lettischen Schüler Rigas vor dem Beginn der staatlichen Russifizierung kaum beherrschte, standen indes weniger mangelnde Kenntnisse einzelner Lehrer als vielmehr die generelle Schulpolitik der deutschen Eliten. Wie weit die Überzeugung ging, ›baltische Autonomie‹ und ›deutsche Kultur‹ seien auch im schulischen Bereich unangreif bare Besitzstände, verdeutlicht die Erinnerung des Rigaer Pädagogen Ernst Friesendorff: »In vielen deutschen Kreisen der Ostseeprovinzen herrschte damals die Ansicht, je weniger die Schüler von der Reichssprache verständen, desto sicherer wären die Schulen vor ihrer Russifizierung. Auch der wortführende Bürgermeister, Eduard Hollander, war von der Richtigkeit dieser Schulpolitik fest überzeugt. Aber ich konnte den klugen baltischen Patrioten nicht davon überzeugen, daß gerade gute Leistungen im Russischen und genügende praktische Beherrschung der Reichssprache das einzige Mittel sei, der Regierung jeden greif baren Anlaß zu einer radikalen Russifizierung der Grenzmarken zu nehmen … Man pochte auf die Privilegien und die kaisertreue loyale Gesinnung und wollte freiwillig nicht einen Haarbreit

19 Vgl. Resultate der schulstatistischen Enquete, S. 101. 20 Gerstfeldt, S. 304. 21 Bericht des Ministeriums für Volksauf klärung für das Jahr 1871, zitiert in: Schulwesen in den Ostseeprovinzen, S. 741.

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von dem guten Rechtsboden aufgeben. Meine Ansichten brachten mich in den Ruf eines schlechten baltischen Patrioten.«22

Unabhängig von der spezifischen Prägung des Schulwesens durch deutsche Kultur und die protestantische Konfession blieb die Leistungsfähigkeit baltischer Schulen hoch. Fast 90% aller schulpflichtigen Kinder besuchten in den Ostseeprovinzen die Volksschule, und während im europäischen Rußland eine Schule auf 2 400 Einwohner entfiel, kam in Livland, ähnlich wie im deutschen Kaiserreich, eine Schule auf 630 Einwohner.23 Wie vorteilhaft das Schulsystem der baltischen Provinzen von der meist unzureichenden schulischen Versorgung im übrigen Russland abstach, erkannte auch der livländische Gouverneur Zinov’ev an: »Nur die Heranziehung einer großen Zahl von Beamten der Selbstverwaltung hat es ermöglicht, ein kompliziertes System der Schulverwaltung zu organisieren, das leicht und völlig selbständig ohne jegliche Hilfe von außen und hierbei ohne jegliche Unkosten 2 000 Volksschulen im Gouvernement administriert.«24 Noch stärker illustriert der Vergleich der Alphabetisierung den qualitativen Unterschied zwischen den baltischen und den innerrussischen Gouvernements. Während in den Ostseeprovinzen um die Jahrhundertwende 76% der Bevölkerung lesen und schreiben konnten, betrug deren Zahl im europäischen Rußland 23%. In Riga selbst konnten 1881 rund 78% der Bevölkerung lesen und schreiben, wogegen es in St. Petersburg 58% waren und in Moskau 47%.25 Nicht ohne Grund erblickten die deutschbaltischen Eliten daher im ständisch organisierten, regional finanzierten und von deutscher Kultur geprägten Schulwesen der baltischen Provinzen ein Herzstück ›baltischer Autonomie‹. Um so schmerzhafter wurden die staatlichen Eingriffe, mit denen die russische Regierung in den 1880er Jahren die schulische Autonomie der baltischen Provinzen beschnitt, von den Deutschen empfunden. Hinter dem neuen Zaren stand eine Gruppe von Beamten und Ratgeber, die Jurij Samarins »Grenzmarken Russlands« mit Begeisterung gelesen hatten und die ›Verschmelzung‹ (slianie) der baltischen Provinzen mit dem Reich als unverzichtbare Maßnahme zur Stärkung der staatlichen Macht begriffen. Um die angestrebte Vereinheitlichung und Homogenisierung des heterogenen Reichs zu erzielen, mußte vor allem die russische Sprache zur allgemeinen Unterrichtssprache werden, mußte russische Kultur als ›Leitkultur‹ auch in der Peripherie des Reiches durchgesetzt werden. 22 Friesendorff, S. 24. 23 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 281. Die Angabe der Schulpflichtigkeit bezieht sich auf das Jahr 1885. 24 Verwaltungsberichts Zinov’evs für das Jahr 1887, in: v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 257. 25 Quellen: v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 282; Statističeskij atlas goroda Moskvy, S. 55; v. Tobien, Statistisches Jahrbuch, S. 86.

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Einer dieser Beamten, der Senator Nikolai A. Manasein, wurde in den Jahren 1882 und 1883 mit einer ausführlichen Revision der baltischen Provinzen betraut, deren Resultate kurze Zeit später den Ausgangspunkt der schulischen Russifizierung bildeten.26 Zunächst wurde der Sitz des sogenannten ›Kurators für den Dorpater Lehrbezirk‹, dem die Kontrolle über das Schul- und Hochschulwesens Livlands zukam, von Dorpat nach Riga verlegt. Hier erschien die Durchsetzung der staatlichen Maßnahmen leichter, zumal sie auch auf die Unterstützung der lokalen russischen Gesellschaft zählen konnte. In den Erinnerungen des Direktors des russischen Alexander-Gymnasiums, J.W. Beljawski, tritt die spezifische Motivation dieses Schritts zum Ausdruck: »Jetzt bekleidete Kapustin den wichtigen Platz eines Kurators des Dorpater Lehrbezirks, ein bedeutungsvolles Amt, da von oben her beschlossen worden war, dieses Grenzland mit Rußland zu vereinen, nicht nur in äußerlicher Beziehung, sondern auch durch ein inneres geistiges Band – für diesen Zweck war zweifellos die Schule das allerwichtigste Mittel, Riga aber das geeignetste Zentrum für die Verwaltung der Elementar- und Mittelschulen. Dorpat … bisher die wesentliche Pflanzstätte des spezifisch deutschen Geistes … sollte daher isoliert, ja womöglich ganz seiner Bedeutung beraubt werden.«27 Das einflußreiche Amt des Rigaer Stadtschuldirektors, das in der Vergangenheit immer ein Deutscher innehatte, wurde beseitigt und statt dessen ein russischer Volksschuldirektor mit der Kontrolle der Schulen und der Auswahl der Lehrer betraut. Im Jahr 1887 wurde die russische Sprache als obligatorische Unterrichtssprache in den ländlichen Volksschulen Livlands, Kurlands und Estlands eingeführt, wo bisher auf Lettisch oder Estnisch unterrichtet worden war. Im selben Jahr ersetzte das Russische die deutsche Unterrichtssprache in den städtischen Knabenschulen. Seit 1890 galt diese Regelung auch für alle baltischen Mädchenschulen. 1889 wurde ein Gesetz erlassen, das die Reichssprache zur obligatorischen Unterrichtssprache aller privaten Schulen in den Ostseeprovinzen machte.28 Auch die weitreichende Autonomie der deutsch geprägten Dorpater Universität fand ein Ende, als dort 1889 die universitäre Selbstverwaltung abgeschafft wurde und 1895 das Russische die deutsche Lehrsprache ersetzte.29 1890 übertrug die Regierung den Lehrplan der innerrussischen Gymnasien für Knaben auch auf die baltischen Provinzen, 1891 führte sie Schüleruniformen und obligatorische Andachten in russischer Sprache ein. Als das Problem des Lehrermangels im Laufe der Rus26 Der Ablauf der Revisionsreise ist von der Literatur ausführlich behandelt worden. Der Text in: S. Manaseina Revīzija, S. 180. Vgl. Thaden, Manaseins Senatorenrevision, sowie ders., The Russian Government, in: ders., Russification in the Baltic Provinces, S. 56–67. 27 Erinnerungen eines Pädagogen, abgedruckt in Düna-Zeitung 27.7.1905. 28 Vgl. Haltzel, S. 123–144. 29 Vgl. ebd., S. 145–156.

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sifizierungsmaßnahmen immer akuter wurde, ermöglichte 1897 ein Erlaß, daß bereits 17jährige ohne Vorbildung, aber mit fließendem Russisch, zu Volksschullehrern berufen werden konnten. Die Durchsetzung und Kontrolle dieser Beschlüsse oblag in Riga dem gerade ernannten Kurator Michail Kapustin, einem kultivierten und tüchtigen Juristen, dem die kulturelle Angleichung des baltischen Schulwesens an die des Reiches eine Herzenssache war: »Es ist das zu erzielen, daß die Schule in der Erlernung der russischen Sprache nicht allein die Erfüllung einer Pflicht sehen, sondern daß sie auch das befriedigende Gefühl geistiger Einigung mit dem gemeinsamen Vaterland an sich erfahren … Um so dringlicher ist daher die Pflicht der Schule, dem Mangel in der ersten Zeit der Kindheit abzuhelfen und die russische Sprache nach Möglichkeit in dem Alter zu lehren, in dem das Kind eine lebendige Kenntnis der Sprache leicht aufnimmt.«30 Unterstützt wurde Kapustin und sein weit weniger fähiger Nachfolger Lavrovsky von dem ebenfalls neu ernannten Gouverneur Mikhail Zinov’ev, einem überaus tüchtigen Beamten, der ebenfalls von der Notwendigkeit kultureller Integration der Ostseeprovinzen ins Reich fest überzeugt war.31 Umso härter sollten die konträren Vorstellungen in der Praxis nun aufeinanderstoßen. Pochten Vertreter einer ›baltischen Autonomie‹ darauf, »dass die livländische Volksschule den Charakter einer provinziellen Landesinstitution (trägt), welche aufs innigste mit der seit der Kapitulation von 1710 dieser Provinz kaiserlich garantierten eigenen Landesverfassung verwachsen ist«,32 so setzte Zinov’ev dieser Anschauung den staatlichen Anspruch auf Integration entgegen, dem er in einem Bericht an den Kaiser plastischen Ausdruck verlieh: »Wenn mit Geschick und Geduld das schwierige Problem der Russifizierung des baltischen Schulwesens gelöst ist und in den Schulen die Jugend im Geiste der … Ergebenheit für Thron, Vaterland und Ordnungsliebe erzogen werden wird, so wird in kürzester Zeit die ostseeprovinzielle Frage nicht mehr existieren. Die geschicktesten Verteidiger der ostseeprovinziellen Dogmen werden ihren Boden verlieren und die verwirrte Bevölkerung wird dessen inne werden, daß es besser, ehrenvoller, ja auch vorteilhafter ist, Bürger eines musterhaften Gouvernements des Großen Reiches Euer Majestät zu sein, worauf die Livländer durch ihren Reichtum, ihre Arbeitsamkeit und ihre Liebe zur sozialen Tätigkeit Anspruch haben, statt als Bürger irgend eines ephemeren phantastischen livländischen Herzogtums zu gelten.«33 30 Zirkulär Kapustins Zirkulär vom Januar 1887 in betreff des russischen Sprachunterrichts in den Privatschulen, abgedruckt in: Hollander, Stadt-Gymnasium, S. 300f. 31 Vgl. ausführlich zu Zinov’evs Denken und Handeln v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1 , S. 153–167. 32 Hollmann, S. 43. 33 Alleruntertänigster Bericht des livländischen Gouverneurs für das Jahr 1886, abgedruckt in: v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 291.

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Auf die staatlichen Erlasse reagierten die deutschen Kommunalpolitiker Rigas zunächst mit zivilem Widerstand. In einer Petition an den Kurator begründete das Schulkollegium seine Weigerung, städtische Schulen mit russischer Unterrichtssprache weiterhin aus seinem Budget zu finanzieren. Beantragt wurde stattdessen die Umwandlung der höheren städtischen Schulen in private Institute, wobei die Lehrer den Verlust ihrer Rechte in Kauf zu nehmen bereit seien.34 Die Regierung erklärte dieses Vorgehen für gesetzeswidrig und teilte der Stadtverwaltung mit, eine Verweigerung der Mittel komme nicht in Betracht. Der Gouverneur selbst sah sich gezwungen, an die Rigaer Stadtverordnetenversammlung zu appellieren, »nicht … den ungesetzlichen Beschluß zu fassen, der die Bedeutung einer ebenso häßlichen als zwecklosen Demonstration habe.«35 Mit welcher Erbitterung die deutschen Eliten sich für den Erhalt der deutschen Sprache in den städtischen Schulen einsetzten, verdeutlicht vor allem die Denkschrift des konservativen Ratsherrn Johann Christoph Schwartz, deren kompromißloser Ton noch Öl ins Feuer der Auseinandersetzung goß: »Die Schule nach dem 17.5.1887 steht in einem bewußten Gegensatz zur geschichtlich gewordenen Schule und hebt deren Zwecke und Ziele auf … und an die Stadtverwaltungen tritt die Frage heran, ob sie die Einführung des neuen Schultyps aus ihrer Tasche unterstützen wollen. Sind sie dazu bereit und was wären die Wirkungen? … Die unmittelbarste ist die Vernichtung des Rechtsbodens. Diese geschichtliche Erinnerung schärft das eigene Gewissen in bezug auf die Verpflichtungen des lebenden Geschlechts der Vergangenheit gegenüber. Wer entlastet uns vor der kommenden Generation, wenn wir einen Teil des Erbes unverteidigt aufgeben? … Denn die Selbsterhaltung, die Erhaltung desjenigen Wesens, welches uns als Untertanen überhaupt erst leistungsfähig macht, gehört doch wohl in eminentem Sinne zur Untertanenpflicht und ein Gesetz, welches uns gebietet, selbst die Axt an die Wurzeln unseres Daseins zu legen, ein solches Gesetz gibt es nicht.«36

Vertraten Konservative wie Schwartz die Ansicht, daß das Recht auf Widerstand durchaus als staatsbürgerliche Pflicht aufzufassen sei, ging das den Liberalen innerhalb des deutschen Milieus zu weit. Das kompromisslose Bestehen der Regierung auf ihrer Forderung setzte jedoch dem zivilen Widerstand der Stadtverwaltung ein baldiges Ende, und die angekündigten Maßnahmen wurden mit einer gewisser Verzögerung schließlich durchgesetzt. Eine erste Folge der anlaufenden Russifizierung der Schulen bestand darin, daß das Interesse der Stadt am Auf bau der geplanten und dringend benötigten Volks34 Vgl. Hollander, Vor 50 Jahren, S. 555f. 35 Zinov’evs Schreiben an die Stadtverordnetenversammlung am 11.7.1889, abgedruckt in: Livländische Gouvernementszeitung Nr. 79, 17.7.1889. 36 Vgl. die Denkschrift Schwartz’, zitiert bei Buchholtz, Geschichte der Familie Schwartz, S. 479. Vgl. auch Hollander, Stadtgymnasium, S. 328.

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schulen erlahmte. Die frühen 1880er Jahre waren eine Zeit hoher Investitionen gewesen, und das Schulbudget war von 165 000 Rubel (1879) auf 228 000 Rubel (1889) erhöht worden.37 Der kommunale Widerstand gegen die Russifizierung schlug sich wiederum im Schulhaushalt nieder. Zwischen 1889 und 1898, einer Zeit rapiden Bevölkerungswachstums, wurde das Schulbudget von 228 000 Rubel auf auf 214 000 Rubel gesenkt und stieg erst unter dem reformorientierten Bürgermeister Armitstead wieder an.38 Infolgedessen verschlechterte sich die schulische Versorgung zunächst. Im Jahr 1883 hatte Riga 21 höhere Schulen besessen, in denen 4 500 Kinder unterrichtet wurden.39 Zehn Jahre später waren es nur noch 19 Schulen mit der selben Anzahl an Schülern.40 Die Anzahl der Volks- und Kreisschulen erhöhte sich dagegen im selben Zeitraum von 118 auf 154 Schulen, und die Zahl der Schüler stieg von 7 400 (1883) auf 10 200 (1894).41 Das lag jedoch ausschließlich an der Eröffnung zahlreicher Privatschulen, da die Stadtverwaltung keinerlei Volksschulen mit russischer Unterrichtsprache zu finanzieren gewillt war.42 Auch die Qualität des Unterrichts verschlechterte sich erheblich. Das Gros der deutschen und lettischen Lehrer an Rigas Schulen beherrschte die Reichssprache Mitte der 1880er Jahre schlecht oder gar nicht. Zahlreiche Lehrer, Deutsche wie Letten, wurden daher vom Dienst suspendiert und russische Lehrer, deren Ausbildung im Elementarschulbereich meist dürftig war, wie Quellen aller ethnischen Gruppen übereinstimmend festhalten, traten an die Stelle erfahrener Pädagogen.43 Für die im Amt bleibenden Lehrer führte der Zwang, unverzüglich auf Russisch unterrichten zu müssen, zu einem Schulalltag, der kaum die Kommunikation über den gemeinsamen Stoff ermöglichte: »Da die Kinder ganz ohne Kenntnis der russischen Sprache in die Vorbereitungsklasse eintraten, so mußte hier zunächst für die Erlernung der Unterrichtssprache gesorgt werden. Was lag da näher und war pädagogisch mehr gerechtfertigt als die deutsche Sprache als Hilfsmittel zu benutzen, um den Kindern die fremden, russischen Ausdrücke verständlich zu machen. Doch das wurde streng verboten und als eine Übertretung des Gesetzes gebrandmarkt.«44 37 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 299. 38 Ebd. 39 Diese Zahl bezieht sich auf städtische Gymnasien und die von der Regierung finanzierten Kronsschulen. 40 Vgl. v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 301. 41 Ebd., S. 297, 302. 42 Vgl. Werbatus, S. 103; v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 302. Die wenigen lettischen Volksschulen wurden vor Beginn der Russifizierungszeit eröffnet. 43 Vgl. Werbatus, S. 168; vgl. auch P. Graß, Erinnerungen an die Russifizierungszeit, in: Libauischer Hauskalender 1931, Libau 1930, S. 123–128; Valters, Atmiņa un sapņi, S. 113. 44 Werbatus, S. 175, Vgl. weiter ebd.: »Nur der Weg der Anschauung sollte erlaubt sein, der gegenüber den konkreten Bezeichnungen allerdings auch zum Ziel führte. Aber was sollte man

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Die Forschung hat sich bisher auf die staatlichen Maßnahmen der Russifizierung konzentriert.45 Kaum berücksichtigt blieb dagegen deren Wirkung in der schulischen Praxis. Wie weit die Russifizierung reichte und wie tief die Maßnahmen griffen, läßt sich jedoch am ehesten am Beispiel konkreter Institutionen und ihres Innenlebens untersuchen. Ein erstes Beispiel für den recht flexiblen Umgang mit der neuen Unterrichtssprache stellt das Rigaer Stadtgymnasium dar.46 Kurz nach der Bekanntgabe der Reformen wandte sich sein Direktor, der renommierte und erfahrene Pädagoge Gustav Schweder, in einem persönlichen Schreiben an den Kurator Kapustin, um zu besprechen, »wie das Gesetz vom 10.4.1887 mit den geringsten Nachtheilen und mit Aussicht auf Erfolg im Stadtgymnasium zur Ausführung gebracht werden könne.«47 Bereits die Verordnung über die unverzügliche Entlassung jener Lehrer, die nicht fähig seien, in russischer Sprache zu unterrichten, wurde in der Praxis eher milde gehandhabt.48 Vier von den 21 fest angestellten Lehrern nahmen freiwillig ihren Abschied, das Gros der Pädagogen begann jedoch mit der Aneignung oder Vervollkommnung von Russischkenntnissen, wozu sich einige auch einen längeren Aufenthalt im Reichsinneren erbaten.49 Auch die Zahl und ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft veränderte sich am Rigaer Stadtgymnasium kaum. Die Mehrheit der deutschen Eltern beließen ihre Söhne auf der Schule, viele sorgten für zusätzlichen Privatunterricht in häuslichen Zirkeln. 1888 waren von 506 Schülern 400 Deutsche gewesen, 49 Juden, 29 Letten, sechs Russen, und 22 Angehörige sonstiger mit den abstrakten geschehen? … Für den französischen Unterricht, der gleichfalls in russischer Sprache stattfinden mußte, richteten sich die Kinder in ihren Vokabelheften drei Rubriken ein und setzten in die dritte die deutsche Bezeichnung derjenigen russischen Ausdrücke, die ihnen fremd waren. Das wurde den Kindern als ein Einschmuggeln der deutschen Sprache untersagt.« 45 Vgl. Anm. 5–7. 46 Vgl. Schweder, Domschule; Held; Hollander, Stadt-Gymnasium; Poelchau, Real- bzw. Stadtgymnasium. 47 Vgl. Schweders Schreiben an Kapustin vom 20.2.1889, zitiert nach: Hollander, StadtGymnasium, S. 35. Vgl. auch Schweder, Domschule, S. 105. 48 Vgl. Hollander, Stadt-Gymnasium, S. 248, 312; Schweder, Domschule, S. 75 sowie Anhang; vgl. auch Hollander, ebd., S. 309: »Es war nicht von den Lehrern verlangt worden, sofort russisch zu unterrichten; es war nur gefragt worden, wer dazu fähig sei und in welcher Frist der einzelne Lehrer diese Fähigkeit erwerben zu können, glaube. Tatsächlich ist auch späterhin gegen solche Lehrer, die nur in mangelhaftem Russisch unterrichteten, viel Rücksicht geübt worden.« 49 Vgl. Bocké, S. 105: »Für die baltischen Lehrer war das eine Zeit schwerer Gewissensnot, da ihnen zugemutet wurde, zu ihrem Teil mitzuwirken am Niedergang der deutschen Kultur ihrer Heimat in einer Sprache, die ihnen ausnahmslos Fremdsprache war, in der sie sich geistig unfrei dünkten. Gewissen und Überzeugung gerieten in bittren Streit mit wirtschaftlichem Zwang, und aus der Überzeugungsfrage wurde bald eine Magenfrage. Und wer will den ersten Stein auf die Gatten und Väter werfen, die damals zu irgend einem Popen in Moskau gingen, um in dessen Familie die Reichssprache wenigstens soweit zu lernen, um den mäßigsten Ansprüchen des Unterrichts genügen zu können, und so Amt und Einkommen zu retten.«

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ethnischer Gruppen.50 Nach der Einführung der russischen Unterrichtssprache ging die Zahl deutscher Kinder zwar kurzfristig zurück, stieg aber bereits in den 1890er Jahren wieder kräftig an. Im Jahr 1901 zählte das Stadtgymnasium bei einer Gesamtzahl von 600 Schülern 420 Deutsche, 64 Letten, 38 Russen, 30 Juden sowie 48 Sonstige.51 Gerade die Anfangsklassen schienen sich die russische Sprache zügig angeeignet zu haben und »drückten sich unbefangen in der fremden Sprache aus,« wie die russischen Beamten bei ihrer Revision anerkennend feststellten.52 Mit dafür verantwortlich war die Tatsache, daß an die renommierten höheren Schulen der Gouvernementhauptstadt oft gute russische Pädagogen entsandt wurden, die der deutschen Prägung des baltischen Schulwesens mit Toleranz begegneten. Typisch dafür war der 1900 zum neuen Direktor des Stadtgymnasiums berufene Sergej Ivanovič Ljubomudrov. Der in Leipzig promovierte Ljubomudrov bemühte sich, die staatlichen Maßnahmen mit Takt und Sensibilität umzusetzen, wie auch erbitterte Gegner der schulischen Russifizierung anerkannten: »Nach dem Urteil von Lehrern jener Zeit verband er mit einer vielseitigen klassischen und philosophischen Bildung ein gewisses pädagogisches Geschick … Bei der weitergehenden Russifizierung, die wohl auch sein Ziel war, ging er klug und vorsichtig zu Werk, zumal er vor der deutschen Kultur eine gewisse Hochachtung hatte. Im Lehrerkollegium suchte er den Gegensatz zwischen den deutschen und russischen Kollegen zu überbrücken. Es hatte sich die Gewohnheit herausgebildet, daß in den Zwischenstunden in dem einen Lehrerzimmer die deutschen, in dem anderen die russischen Kollegen sich auf hielten. Ljubomudrov ließ nun das eine Zimmer schließen, so daß alle zusammen bleiben mußten. Er selbst verhielt sich gegen alle korrekt und gab auch den Deutschen gegenüber seiner Anerkennung Ausdruck, wenn einer sich verdient gemacht hatte.«53

Zu einer symbolischen Versöhnung zwischen Deutschen und Russen kam es auf der 700-Jahrfeier des Gymnasiums im Jahr 1911, während derer Ljubomudrov in einer Rede »voller Gehalt, Takt und reichen Inhalts« den vorzeitig entlassenen deutschen Direktor Schweder in Gegenwart der versammelten deutschen Honoratioren symbolisch rehabilitierte.54 In mancher Hinsicht scheint die zeitgenössische Beobachtung zuzutreffen, daß die Schule entgegen der staatlichen Homogenisierungsabsicht »ihren deutschen Charakter nicht eingebüßt hat.«55 50 Siehe Carlberg, Rigas Schulwesen, S. 626. 51 Hollander, Stadt-Gymnasium, S. 381. Bei den Sonstigen handelte es sich überwiegend um Polen. 52 Ebd., S. 367. 53 Ebd., S. 369f. 54 Ebd., S. 408. 55 Schönfeldt, S. 17. Eine ähnliche Situation schien auch die städtische Realschule gekennzeichnet zu haben. Die Schule blieb bis 1914 unter deutscher Leitung, die Schülerzahlen

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Eine ähnliche Tendenz begrenzter Kooperation ließ sich auch an der städtischen Mittelschule für Mädchen beobachten.56 Die Einführung der russischen Unterrichtssprache verlief hier in Stufen und viel langsamer als in den Knabenschulen. Erst 1890 kam es zur Einführung des Russischen als obligatorischer Unterrichtssprache.57 Der Lehrplan änderte sich jedoch kaum, das Fach Deutsch wurde weiterhin in der Muttersprache unterrichtet, und die Anzahl der Russisch-Stunden blieb bis 1894 die selbe.58 Der Konfrontationsrhetorik von zeitgenössischen Eliten wie von späteren Historikern widerspricht wiederum die Kontinuität des Lehrpersonals. Nur zwei Lehrerinnen verließen zwischen 1889 und 1894 die Töchterschule, aber nicht aus sprachlichen Gründen, und acht neue Lehrer, davon fünf deutsche, kamen im selben Zeitraum hinzu.59 Ähnlich wie der Direktor des Stadtgymnasiums suchte auch der Direktor der Mädchenschule weniger in offener Konfrontation als in begrenzter Kooperation die Russifizierungsmaßnahmen zu mildern.60 Auch die Zahl der Schülerinnen ging an der Stadttöchterschule kaum zurück.61 Die wenigen Mädchen, welche die Schule verließen und privat unterricht wurden, stammten fast ausschließlich aus der deutschbaltischen Intelligenz. Eltern aus kaufmännischen und handwerklichen Berufsgruppen, die mit dem Leitprinzip ›deutscher Kultur‹ pragmatischer umgingen und zudem von der gleichzeitigen Industrialisierung in hohem Maße profitierten, tendierten dazu, ihre Töchter in der russischsprachigen Schule zu lassen.62 stiegen trotz der russischen Unterrichtssprache rasch an, was primär auf deutsche Schüler zurückging, nämlich von 483 (1886) auf 615 (1890). Keiner der Lehrer mußte hier ausscheiden, vielmehr kamen fünf neue deutsche Lehrer hinzu. Lehrinhalt und Pädagogik schien sich nur sprachlich, nicht aber von ihren kulturellen Inhalten und Vermittlungsmethoden verändert zu haben. Vgl. Programm der Stadt-Realschule 1886; Programm der Stadt-Realschule 1890. 56 Vgl. Fonds 1397, LVVA. 57 Vgl. Werbatus, S, 171. 58 Vgl. Haltzel, S. 139. 59 Vgl. Stadt-Töchterschul; vgl. auch Haltzel, S. 139. 60 Vgl. Werbatus, S. 170: »Um die verderbliche Wirkung der Russifizierung von vornherein tunlichst abzuschwächen, hatte ich es mir schon bei Zeiten angelegen sein lassen, bei eintretenden Vakanzen solche deutschen Lehrkräfte an die Schule heranzuziehen, die der russischen Sprache vollkommen mächtig waren und sich doch ihre deutsche Gesinnung und den deutschen Verstand bewahrt hatten. So konnte es denn geschehen, daß trotz der Russifizierung kein einziger Lehrer entlassen werden mußte und daß … trotz der durchgeführten russischen Unterrichtssprache doch nur deutsche Lehrkräfte an der Schule wirkten, mit Ausnahme der beiden wohlgesinnten und verständigen russischen Sprachlehrer.« 61 S. Haltzel, S. 139. 62 S. Werbatus, S. 172f. Eine städtische Schule wurde während der Russifizierungsphase überhaupt erst gegründet. Die 1901 eröffnete Börsen-Kommerzschule war als Handelsschule konzipiert, die eine kaufmännische Ausbildung mit höherer Schulbildung verband und primär von deutschen Schülern besucht wurde. Als es der privaten Anstalt nach 1905 freistand, die deutsche Unterrichtssprache wieder einzuführen, votierte die Elternschaft geschlossen dagegen und optierte für die Kontinuität des Russischen. Vgl. Schönfeldt, S. 26; Demme, S. 330ff.

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Erhebliche Flexibilität im Umgang mit den neuen Maßnahmen und Vorgesetzten legte auch die Leitung des Baltischen Polytechnikums an den Tag.63 Die 1862 gegründete Technische Hochschule, konzipiert nach dem Vorbild des Züricher Polytechnikums, wurde von der Stadt und mehreren ständischen Institutionen wie den Gilden und Ritterschaften sowie von Firmen und Privatpersonen finanziell getragen. Ihrem privaten Charakter verdankte die rasch wachsende und an Prestige gewinnende Hochschule eine weitgehende Autonomie in der Wahl von Lehrkörper, Lehrplan und Didaktik. Auch die Wahl der Studenten stand allein der Fakultät zu, weshalb auch die allgemeine Zulassungsbeschränkung für Juden hier nicht zum Tragen kam.64 1886 machten jüdische Studenten 27% der Studentenschaft aus, wogegen ihr Anteil an allen anderen Hochschulen des Zarenreich nicht mehr als 5% betrug.65 Den Charakter der Hochschule vor Beginn der Russifizierungsmaßnahmen hielt sein Direktor, der renommierte Chemiker Paul Walden, ein deutsch akkulturierter Lette, anschaulich fest: »Die Hochschule … erhielt keine Subvention von der … Regierung und ihre Angestellten hatten keine Staatsbeamtenrechte. In ihrer Organisation und Verwaltung hatte sie volle Autonomie. Alle Wissenschaften wurden in deutscher Sprache vorgetragen, obgleich es unter den Hörern nicht nur Deutschbalten, sondern auch Letten, Esten, Litauer, Polen, Ukrainer, Großrussen, Armenier, Kaukasier usw. gab … Diese deutsche Rigaer Hochschule bildete gleichsam eine Oase im bunten Völkergemisch Rußlands, wo es bei den einzelnen Völkern viele zentrifugale politische Ambitionen gab. Sie war, wenn man so sagen will, ein Fremdkörper, ein autonomes Gebilde im autokratisch regierten Zarenreich.«66 Als die Regierung 1892 auch hier die russische Unterrichtssprache einführen wollte, verschaffte der private Status der Hochschule dem Verwaltungsrat eine solide Verhandlungsbasis. Bei den Verhandlungen zwischen Hochschulverwaltung und Regierungsbeamten bot erstere die Einführung des Russischen unter der Bedingung an, daß kein Mitglied der Fakultät entlassen werden dürfte, die Rechte des Verwaltungsrats unbeschnitten blieben und die Abschlüsse des Polytechnikums denen staatlicher Hochschulen gleichgesetzt würden. Denn ein Nachteil der Autonomie, den die Hochschule genoß, lag darin, daß ihre Abschlüsse bisher keine staatliche Anerkennung aufwiesen, was im Zuge verstärkter Industrialisierung, Professionalisierung und Mobi63 Vgl. zum Polytechnikum die reichhaltige zeitgenössische Literatur: Kupffer; Buchholtz, Polytechnisches Institut; Kieseritzky; Album Academicum des Polytechnikums; Hoffmann, Baltisches Polytechnikum; Redlich. 64 Bobe und Šteimanis, welche die Geschichte der baltischen Juden primär als Märtyrergeschichte schreiben, gehen ohne Quellennachweis von der Gültigkeit der reichsweiten Quote aus und schätzen den Anteil jüdischer Studenten am Polytechnikum viel zu gering ein. 65 Vgl. Tabelle 1 in: Festschrift des Rigaschen Polytechnischen Instituts, o.S. 66 Walden, Mein Leben, S. 13. Vgl. auch Kupffer, S. 3f.

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lität immer problematischer wurde.67 Die Regierung wiederum war am Erhalt der prestigeträchtigen Hochschule interessiert, zumal sie privat finanziert war, gleichzeitig aber Studenten aus dem ganzen Reich offenstand. An einer Schließung war ihr nicht gelegen. Aus diesem Motiv heraus willigte sie in den Handel ein und gestattete darüber hinaus eine Karenzzeit von vier Jahren, bis der Übergang zur russischen Sprache zu erfolgen habe. In der Praxis sah es danach so aus, daß Russisch benutzte, wer es konnte, einige Professoren aber weiterhin das Deutsche zu Hilfe nahmen.68 Während die livländischen Ritterschaften die Einführung der russischen Unterrichtssprache als ›Rechtsbruch‹ kritisierten und ihre erheblichen Subventionen kündigten,69 stieg die Regierung in großem Umfang in die Finanzierung der Hochschule ein. Damit verband sich ein Namenswechsel von Baltischem Polytechnikum zu Rigaer Polytechnikum. Gleichzeitig mußte die jüdische Zulassungsquote eingeführt werden. Doch auch hierüber wurde verhandelt und mit einer Quote von 10% ein Ergebnis erzielt, welches das Doppelte des sonstigen Anteils jüdischer Studenten betrug. Die universitäre Autonomie blieb abgesehen von der neuen Unterrichtssprache weitgehend erhalten. Im Gegensatz zur Dorpater Universität, die von den Russifizierungsmaßnahmen grundlegend verändert worden war, lässt sich für das Rigaer Polytechnikum eine erhebliche Kontinuität von Lehrenden und Lehrplan feststellen, die auch kompromißlose Gegner der schulischen Russifizierung nicht umhin konnten, anzuerkennen.70 Daß die wissenschaftli67 Vgl. Kupffer; S. 8f.; Hollander, Vor fünfzig Jahren, S. 558. 68 Vgl. Walden, Mein Leben, S. 45: »Auch die Rigaer Hochschule mußte sich … den neuen Vorschriften fügen, damit ihre Lehrer und Ingenieure nicht ohne staatliche Rechte und ohne Pension blieben. Die meisten Hochschullehrer nahmen russischen Privatunterricht … Mehrere sächsische Kollegen machten Ferienreisen ins Innere Rußlands, um sich dort praktisch im Russischen zu üben. Vorsichtshalber ließ man ganze Vorlesungsserien ins Russische übersetzen und bemühte sich, sie auswendig zu lernen. Die meisten Kollegen klagten über diese »Energievergeudung«. Wie sah denn das Ergebnis dieser Bemühungen aus? Eines Tages schickte die russische Regierung einen Revisor in unser Land, der sich vergewissern sollte, ob die vorgeschriebenen Maßnahmen auch durchgeführt wurden. Es war ein älterer Professor, ein bekannter Slawist, der in der Hochschule eintraf und mehrere Vorlesungen besuchte. Dabei geriet er auch in das Kolleg eines aus Sachsen stammenden Professors und hörte ihm eine Stunde lang geduldig zu. In der Pause fragte er einen Studenten: »In welcher Sprache hat der Professor vorgetragen? Haben Sie ihn verstanden?« Die Antwort lautete: »Er hat russisch gesprochen und wir haben alles verstanden.« Der Revisor wurde nachdenklich, sagte dann aber freundlich schmunzelnd: »Na, dann ist ja alles gut.« Der gute Wille schien wichtiger zu sein als das Können.«. 69 Vgl. v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1, Teil 2: »Verwaltung und Vergewaltigung«; v. Büngner, Rechtskraft und Rechtsbruch. 70 Vgl. Personalbestand des Polytechnikums 1889/90, Riga 1889; Personalbestand des Rigaschen Polytechnischen Instituts 1901/1902, sowie die Zusammensetzung des Lehrkörpers um 1900 bei Kupffer, S. 8: 54% der Lehrenden kamen vom Polytechnikum, 20% von der Universität Dorpat, 14% aus dem Ausland und 12% von anderen russischen Hochschulen.

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chen Maßstäbe und die Wettbewerbsfähigkeit des Instituts unter den veränderten Bedingungen nicht litten, die Bedeutung des Instituts eher noch zunahm, belegt die Reihe international ausgewiesener Naturwissenschaftler, die in den Jahrzehnten vor 1914 dort lehrten.71 So baute der spätere Nobelpreisträger für Chemie, Wilhelm Ostwald, ein deutsch akkulturierter Lette, eine erstklassige Abteilung für Chemie auf, deren Absolventen von der lokalen chemischen Industrie bevorzugt eingestellt wurden.72 Die neue Lehrsprache machte das Polytechnikum schließlich auch für Studenten anderer russischer Gouvernements attraktiv und entsprechend veränderte sich die ethnische Zusammensetzung der Studentenschaft. Daten über die jeweilige Nationalität sind nicht überliefert, aber die konfessionelle Zusammensetzung führt weiter. 1886 waren 36% aller Studenten Lutheraner, 25% Juden, 24% Katholiken und 15% Orthodoxe. Während es sich bei den Lutheranern überwiegend um Deutsche und einige Letten gehandelt hatte, dominierten unter den Katholiken die Polen und Litauer, und unter den Orthodoxen überwiegend Russen aus Livland, Kurland und Estland. Nach der offiziellen Einführung der russischen Unterrichtssprache rangierten Lutheraner um 1900 immer noch mit 32% an der Spitze, worunter sich auch zahlreiche Letten befanden, aber der Anteil orthodoxer Studenten war auf 30% gestiegen und hatte sich damit fast verdoppelt. Neben den Russen umfaßte diese Gruppe jetzt zahlreiche Weißrussen, Ukrainer und Kaukasier. Katholiken machten 18% aus, Juden 12% und Angehörige sonstiger Konfessionen 8%.73 War das Polytechnikum in den 1870er Jahre noch eine Domäne der Deutschen gewesen sowie deutsch akkulturierter Juden und Letten, führte die neue Unterrichtssprache nach der Jahrhundertwende zu einer multiethnischen Zusammensetzung der Studentenschaft. Die Beispiele des Stadtgymnasiums, der Töchterschule und des Polytechnikums verweisen darauf, daß die schulische Russifizierung an höheren städtischen Schulen eher moderat durchgesetzt wurde. Abgesehen von der neuen Unterrichtssprache lässt sich in mehreren Fällen eine erhebliche Kontinuität inhaltlicher und personeller Art beobachten. Im Gegensatz dazu waren die Folgen in den ländlichen Volksschulen einschneidender und wirkten sich auf die Lehrqualität überaus negativ aus.74 Die Akten der livländischen Oberlandesschulbehörde dokumentieren, daß rund zwölf Prozent aller Volksschullehrer auf dem Lande entlassen wurden und durch die doppelte Zahl neuer

71 Vgl. Leimanis. 72 Vgl. Ostwald. 73 Vgl. Tabelle 1 in: Festschrift des Rigaschen Polytechnischen Instituts. 74 Auf die beiden deutschen Landesgymnasien, die von den Ritterschaften bis 1887 unterhalten wurden, kann mangels Repräsentativität hier nicht eingegangen werden.

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Lehrer mit ausgewiesenen Russischkenntnissen ersetzt wurden.75 Die Ausbildung dieser neuen Lehrer erwies sich jedoch oft als unzureichend. Im Jahr 1901 waren bereits 15% aller livländischen Volksschullehrer nicht im Besitz eines staatlichen Diploms, was fast ausschließlich auf die russischen Lehrkräfte in den Landvolksschulen zurückging.76 Darüber hinaus war das behördliche Vorgehen oft überaus pedantisch, während vielen Lehrern wiederum das Geschick im Umgang mit den Regierungsvertretern fehlte. Der Qualitätsverlust drückte sich vor allem im Rückgang von Schulen und Schulbesuch aus. 1886 hatte es in Livland 1 037 Volksschulen gegeben, wogegen es 1904 nur noch 974 waren.77 1881 hatten 92% aller schulpflichtigen lutherischen Kinder die Volksschule absolviert,78 1899 nur noch 80%. Entsprechend sank das Verhältnis der Schüler zur Gesamtbevölkerung von 7,6% (1885) auf 6,9% (1898).79 Der Vergleich mit der Situation auf dem flachen Land unterstreicht die Notwendigkeit, das Ausmaß der Russifizierung in Zukunft zwischen Stadt und Land zu differenzieren. Denn die hier untersuchten Beispiele belegen, daß an die höheren Schulen der Gouvernementhauptstadt oft gute russische Pädagogen entsandt wurden, ländliche Volksschulen dagegen meist mit schlecht ausgebildeten oder gar nicht qualifizierten Lehrern auskommen mußten. An den höheren Schulen Rigas behielten die Lehrkräfte auch häufiger ihre Stellen, als es der zeitgenössische Topos vom ›Kulturbruch‹ suggerierte. Daher konnte der Lehrplan zwar in einer neuen Sprache, doch inhaltlich oft wenig verändert weitergeführt werden. Vor allem in den Mädchenschulen scheint die Umsetzung der neuen Maßnahmen weniger rigide gehandhabt worden zu sein, zumal sie erst Jahre später einsetzte. Auch die überwiegend von Mädchen genutzte Möglichkeit, private Hauskreise zu besuchen, war in der Stadt leichter als auf dem Lande zu realisieren und wurde von der Regierung toleriert.80 Die Analyse konkreter Institutionen macht mithin deutlich, daß die staatliche Russifizierung der Schule dem pädagogischen Deutungskanon ›deutscher Kultur‹ zwar ein Ende setzte, jedoch längere Kontinuitäten bei Lehrkräften und Inhalte erlaubte, als bisher vermutet wurde. Das gilt vor allem für die höheren Schulen im städtischen Raum, wogegen ländliche Volksschulen zweifellos einen erheblichen Qualitätsverlust hinnehmen mußten. 75 S. Theodor Gaethgens, Einleitung, in: Hollmann, S. 275f. Das entsprach 142 von 1209 Lehrern. 76 Vgl. ebd., S. 276. 77 S. Baltische Bürgerkunde, S. 252. 78 S. Haltzel, S. 124. 79 Vgl. Bienemann, Lettische Geschichtsauffassung, S. 210. Vgl. auch Theodor Gaethgens, Einleitung, in: Hollmann, S. 277: »Die Zahl der in den evangelischen Landschulen unterrichteten Kinder aber war von 48 775 im Jahr 1887, 1901 auf 44 946 Kinder gesunken, obwohl nach dem Maßstabe frührer Erfahrungen die Zahl auf etwa 54–55 000 hätte steigen müssen.« 80 Vgl. zu den deutschen Hauskreisen ausführlich v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 296ff.

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Auch Mädchenschulen schienen von den Russifizierungsmaßnahmen weniger stark betroffen zu sein als Lehranstalten für Knaben. Vieles spricht daher für eine Differenzierung des Phänomens der Russifizierung in der zukünftigen Forschung, welche erstens den Stadt-Land-Gegensatz berücksichtigt, zweitens Unterschiede zwischen höherer und Elementarausbildung in Rechnung stellt und drittens der Kategorie des Geschlechts Aufmerksamkeit schenkt. Darin liegen weiterführende Kriterien einer Differenzierung, die sich auch auf andere, davon betroffene Gebiete des Zarenreichs anwenden lassen und dazu beitragen können, das konkrete Ausmaß dessen, was russifiziert wurde, genauer zu bestimmen und den pauschalen Begriff der ›Russifizierung‹ somit zu modifizieren und zu versachlichen. Wie unterschiedlich die Russifizierung ausfiel und welche Differenzen vor allem zwischen Stadt und Land herrschten, markierte zugleich auch einen Unterschied in der Ethnizität der Betroffenen. Denn fast nur Kinder lettischer Eltern besuchten die ländlichen Volksschulen, während deutsche Kinder meist auf die höheren Schulen der Städte gingen. Der schulische Qualitätsverlust, den die Russifizierung vor allem auf dem Lande mit sich brachte, traf lettische Kinder in der Praxis daher mehr als deutsche Kinder. Gleichzeitig wurde die Russifizierung der Schule von den Deutschen als zentrale Verlusterfahrung empfunden, während sie für die Letten zunächst positiv konnotiert war. Wie die betroffenen Gruppen, Deutsche und Letten, die schulische Russifizierung jeweils erfuhren und deuteten, kann erhellen, ob der beiderseitige Verlust der muttersprachlichen Schule möglicherweise neue Gemeinsamkeiten ermöglichte. Von den Deutschen wurde die Russifizierung der Schule zunächst als frontaler Angriff auf tragende Wertvorstellungen des Milieus begriffen. Bereits die administrativen Reformen der Regierung, die Städteordnung 1877, die Polizeireform 1888 und die Justizordnung 1889, hatten den Deutungsmustern ›ständischer Herrschaft‹ und ›baltischer Autonomie‹ einen Großteil ihres realen Gehalts genommen. Die Russifizierung der Schule unterminierte nun auch das Leitprinzip ›deutscher Kultur‹ in erheblichem Maße. Als unmittelbare Reaktion entwickelte die Mehrheit des Milieus ein antirussisches Feindbild, das auf bereits bestehenden Ressentiments auf bauen konnte. Der Zar blieb davon ausgenommen, während das russische Volk und die russische Bürokratie jetzt weitgehend gleichgesetzt wurden und zum Fixpunkt der Kritik avancierten: »Staatlich erfaßt, decken sich zur Zeit Russenthum und Tschinownikthum – wir können daher letzteres nur zugleich mit ersterem bekämpfen, und müssen unser Volk vor dem Russenthum bewahren, um nicht dem Tschinownikthum zu verfallen.«81 81 Russisch-baltische Blätter, Bd. IV, S. 66.

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Zu leidenschaftlichen Vermittlern dieses Feindbilds wurden vor allem emigrierte Intellektuelle wie Julius Eckhardt, die aus dem Deutschen Kaiserreich die ostseeprovinziale Deutung zu formen suchten.82 In Riga selbst schien eine solche antirussische Einstellung primär vom Bildungsbürgertum und vom Adel übernommen worden zu sein, die von den administrativen und kulturellen Integrationsmaßnahmen am meisten betroffen waren.83 Der kaufmännisch und handwerklich geprägten Mehrheit des deutschen Milieus fiel es dagegen leichter, die negativen Erfahrungen der Russifizierung durch das positive Erleben von Industrialisierung und wirtschaftlichem Erfolg zu kompensieren.84 Die zunehmend positive Beurteilung der Reichssprache, die gerade das deutschbaltische Wirtschaftsbürgertum zu entwikkeln begann, schlug sich auch in der Entscheidung vieler Eltern nieder, nach 1905 bei der russischen Unterrichtssprache zu bleiben, obgleich die deutsche im privaten Bereich jetzt wieder erlaubt war. Nicht zuletzt blieben maßgebliche Vermittlungsinstanzen deutscher Kultur wie die Presse, das Theater und die Vereine von der staatlichen Russifizierung unberührt, was mit zum Abflauen des Feindbilds beitrug. Der Angriff von außen bewirkte im deutschen Milieu jedoch eine verstärkte Integration nach innen, die der Absicht der Regierung auf ›Verschmelzung‹ (slianie) mit der russischen Gesellschaft zuwiderlief. Bisher hatte ›deutsche Kultur‹ einen wesentlichen Bezugspunkt des Milieus dargestellt, nicht aber die Vorstellung deutscher ›Abstammung‹. Der Außendruck der russischen Regierung wie des lettischen Nationalismus bewirkte indes auch im deutschen Milieu eine verspätete Nationalisierung, die sich im neuartigen Rekurs auf die gemeinsame Abstammung niederschlug. Ständische Unterschiede, die noch immer eine große Rolle im deutschen Milieu spielten, wurden dadurch zu verringern gesucht, wie die Untersuchung der Deutschen Vereine gezeigt hat. Neben den verstärkten Bezug auf eine deutsche Abstammung trat eine engere Bindung an die Region. Denn die Russifizierung hatte nicht nur alle Deutschen, sondern auch alle Livländer, 82 Vgl. Eckhardt, Baltische Provinzen, S. 74, der bereits 1868 diese Sichtweise popularisierte: »Daß neben russische Religion und Agrargesetzgebung endlich auch die rücksichtslose Einführung der russischen Geschäftssprache in alle baltischen Verwaltungsstellen … verlangt wird, ist nur die naturgemäße Consequenz dieses Systems, das … die Vernichtung organischen Lebens in einem Land anstrebt, das seit 7 Jahrhunderten gewohnt ist, die deutsch-protestantische Cultur als die natürliche Grundlage seiner Entwicklung anzusehen. Die russische Demokratie verlangt einen plötzlichen und vollständigen Bruch mit der Geschichte auf allen Gebieten des baltischen Lebens, alle Errungenschaften der Vergangenheit sollen der Regierungsuniformität zu Liebe gestrichen werden.« 83 Symptomatisch dafür die Journalisten Ernst Seraphim und A. Stellmacher, vgl. Seraphim; Arbeit; ders., Im neuen Jahrhundert; Stellmacher. 84 Auf diesen Zusammenhang, den die deutschbaltische Historiographie bislang nicht thematisiert hatte, wies 1983 erstmals Henriksson, vgl. ders., Loyal Germans. S. 78ff.; 92ff.

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Estländer und Kurländer, wie sich die deutschen Bewohner der Ostseeprovinzen genannt hatten, gleichermaßen getroffen. Bereits im immer populärer werdenden Begriff der ›Heimat‹ wurde diese neue gemeinsame Bindung deutlich.85 Welche Wirkung die Russifizierung auf das deutsche Milieu ausübte, belegt auch die veränderte Selbstbezeichnung der Deutschen seit der Jahrhundertwende. Hatte man sich 1870 meist als ›livländischer Literat‹ oder ›Rigaer Kaufmann‹ bezeichnet, war man nach 1900 vor allem ein ›baltischer Deutscher‹. Während wirtschaftliche und politische Integrationsangebote der Regierung wie die progressive Industriepolitik Wittes oder die Konstitutionalisierung des Reiches das Bewußtsein russischer Staatsbürger zu sein, durchaus verstärken konnten, bewirkte der kulturelle Integrationszwang eher das Gegenteil des Erwünschten, nämlich eine verstärkte Nationalisierung und Regionalisierung des deutschen Milieus.86 Im Gegensatz zu den Deutschen standen die Letten der Russifizierung der Schule zunächst positiv gegenüber.87 Das lag daran, daß die Maßnahmen als Schlag gegen die deutsche Herrschaft wahrgenommen wurden und damit die eigenen Handlungschancen zu erweitern schienen. In der Tat führte die staatliche Vereinheitlichung des baltischen Schulwesens zum weitgehenden Verlust deutscher Kontrolle. Auf dem Lande waren nicht mehr Pastor und Gutsherr für die Aufsicht der Volksschulen zuständig, in Riga nicht mehr der ständische Rat und das deutsch dominierte Schulkollegium, sondern russische Volksschuldirektoren und Inspektoren, die oft gute Verbindungen zum Rigaer Lettischen Verein besaßen und den lettischen Interessen zunächst entgegenzukommen schienen.88 So wurde der russophile Lette Fricis Brivzemnieks, Mitglied des Lettischen Vereins, mit dem neugeschaffenen Amt des städtischen Schuldirektors betraut.89 In dieser Stellung gelang es ihm, den Kurator Kapustin davon zu überzeugen, den russischen Unter85 S. Heimatstimmen, hg. von Hunnius u. Wittrock; vgl. auch Kroeger, Situation der baltischen Deutschen, S. 629ff. 86 Vgl. zur parallelen Herausbildung solcher Selbstbilder im deutschen Kaiserreich Confino. 87 Die lettische Literatur zum Themenkomplex ist überwiegend von nationalen und antirussischen Deutungen geprägt und sucht die russophile Ausrichtung der lettischen Nationalbewegung unterzugewichten. Vgl. Švabe, S. 450–478; Vičs; Blanks, Latviešu tautiska kustiba; Zelče, Jaunstrāvnieki. Überzeugend v.a. Plakans, The Latvians. A short Story, S. 241: »Yet … it would be a mistake to characterize Russification measures either as the main feature of Latvian history during the 1880ies, or as accomplishing at that time a profound reorientation of Latvian cultural development.« 88 Vgl. Valdemars’ Korrespondenz in: ders., Sarakste, S. 628ff. Vgl. auch die Biographien in Jansons. 89 Vgl. Valdemars, Sarakste, S. 899. Auch F. Veinbergs wurde auf Veranlassung des Gouverneurs Zinov’ev 1887 zum livländischen Kreissekretär befördert wurde. Vgl. auch Thaden, Russification in the Baltic Provinces, S. 240; Vičs, S. 208; vgl. auch die zahlreichen Abordnungen des Lettischen Vereins, die in St. Petersburg empfangen wurde, in: Latvija 19. gadsimtā, S. 454

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richt in den Landvolksschulen erst vom dritten Schuljahr ab beginnen zu lassen, ein Aufschub, der aber nur bis 1891 dauerte. Auch Kapustins Vorschlag, lettische Publikationen nur noch in kyrillischen Buchstaben erscheinen zu lassen, ein slavophiler Lieblingsgedanke, blieb nicht zuletzt aufgrund der guten russisch-lettischen Beziehungen unausgeführt.90 Aus lettischer Sicht trugen die kulturellen Russifizierungsmaßnahmen wesentlich dazu bei, eine maßgebliche Denkfigur des eigenen Milieus, den ›Abbau ständischer Herrschaft‹ durchzusetzen. Die eigene Position könne, davon waren die Führer der Nationalbewegung überzeugt, davon nur profitieren.91 Die positive Wahrnehmung der schulischen Russifizierung ging ebenso auf die prorussische Einstellung zurück, welche die Protagonisten des lettischen Milieus prägte.92 Der Stabilisierung einer lettisch-russischen Allianz dienten nicht nur spezifische ›Inventions of tradition‹ wie die Konstruktion einer gemeinsamen slawischen Stammesgemeinschaft, die ins Mittelalter zurückreiche; sie wurde auch durch die Vorstellung gemeinsamer Interessen in der Gegenwart stimuliert.93 Es war vor allem der in Moskau lebende Krišjanis Valdemars, der den russischen Machtzuwachs in der Region als Erweiterung lettischer Handlungsmöglichkeiten zu interpretieren suchte: »Räumen Sie diese (deutsche) Macht, dieses einzige unüberwindbare Hindernis aus dem Weg und das (lettische) Volk wird auf blühen. Das einzige radikale Mittel, die Macht der Barone zu brechen, sehe ich in der Russifizierungspolitik. Meines Erachtens sollten die Letten lieber auf Russisch stammeln als Deutsch zu kauderwelschen … Wenn die Letten und Esten schon unter der Russifizierung leiden müssen, so sind sie ja das Leiden schon gewöhnt – sie mußten unter den Deutschen leiden, nun werden sie auch unter den Russen leiden. Das Leiden unter den Russen wird den Letten aber in der Zukunft die Freiheit und die Menschenrechte bringen, und wird letzten Endes auf hören.«94

Vor allem aber wurde die schulische Russifizierung von den Letten unter dem Aspekt der Nützlichkeit bewertet. Hinter der Erwartung größeren Nutzens stand die Erfahrung einer veränderten Umwelt, die den eigenen Handlungsraum über die Provinzgrenzen hinaus erweiterte. Nicht die Kenntnis 90 Vgl. Jansons, S. 360ff. 91 Vgl. Dienas Lapa Nr. 46, 1888, zitiert nach: Blanks, Latviešu tautiska kustiba, S. 75. 92 Vgl. Lazda. Vgl. auch Apals. 93 Vgl. Dienas Lapa 1.1.1888. 94 Zitiert nach: Līgotnu Jēkabs, Tautiskaš atmodas ideoloģija [Die Ideologie des nationalen Erwachens], in Latviešu literatūras vēsture, hg. von L. Bēržiņš, Riga 1935, S. 176. Vgl. dort weiter: »Denn der Russe wird bald die Zügel lockerer lassen, weil er es selbst nicht durchhält. Wir Letten … können nur dadurch die Befreiung vom deutschen Joch erlangen. Spüren Sie nicht, daß sich die Selbstherrschaft in Rußland nicht mehr lange halten kann? Ein Parlament kann kommen und das Baltikum könnte eine autonome Provinz werden! Wird dann den Letten die russische Sprache nicht mehr nutzen als die deutsche?«

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des Deutschen, wohl aber die des Russischen waren hierfür notwendig und hilfreich. Das reichte von der Ableistung der 1875 eingeführten Wehrpflicht über den Zugang zur Beamtenlauf bahn und die Gründung von Unternehmen innerhalb des Reiches bis hin zur Kenntnis der russischen Kultur: »Früher war die deutsche Sprache als die notwendigste angesehen und deshalb wurde sie auch in unseren Schulen unterrichtet; jetzt dagegen erkennt man an, daß Kenntnisse der russischen Sprache für die Letten wichtiger und nötiger sind und deshalb muß diese Sprache in unserer Volksschule den Platz einnehmen, der früher dem Deutschen eigen war … Deshalb soll sich keiner gegen den verstärkten Russisch-Unterricht auf hetzen lassen, vielmehr ihm mit wohlwollenden Gefühlen entgegentreten.«95 Seine Überzeugungskraft gewann das Utilitätsargument zumal in Riga daher, daß nicht die Muttersprache durch eine Fremdsprache ersetzt worden war, sondern eine Fremdsprache durch eine andere. Im Gegensatz zu den Deutschen, denen man durch die Russifizierung der Schule ein zentrales Mittel ihrer Herrschaftsdurchsetzung nahm, hatte die deutsche Schule diese Rolle für die Letten nie gespielt. Die Aufgabe, ihren nationalen Deutungskanon zu vermitteln, war im lettischen Falle nicht der Schule, sondern den Vereinen, den Sängerfesten und der Presse zugekommen. Auch die ländlichen Volksschulen, in denen das Lettische zwar als Unterrichtssprache diente, doch deutsche Kultur und protestantischer Glaube dominierten, fielen unter das Verdikt einer ›fremden Schule‹, die den Namen einer ›Schule des Volkes‹ nicht verdiene.96 Rückblickend formulierte Mikelis Valters, was das Gros des lettischen Milieus vor Beginn der Russifizierung empfand: »Nichts ist deutschbaltischerseits getan worden, um in den mittleren und höheren Schulen des Baltikums lettisch-estnische Volksenergien zu fördern und erziehen. Der ganze Apparat des Schulwesens ist den beiden Nationen als ein herrschaftlich-fremdartiges Entnationalisierungsinstrument entgegengetreten. Lettische oder estnische Hochschulbildung erfüllte die deutschbaltischen Politiker mit Gleichgültigkeit, ja … mit Spott.«97 Einen Nachteil konnten die meisten Letten angesichts des Verlusts deutscher Schulen kaum empfinden. Im Gegensatz zur deutsch geprägten Schule wurde die russisch geprägte Schule kaum als fremdnationale Kontrollinstanz empfunden. Es war die Reichssprache, die hier gelehrt wurde, nicht die Sprache einer fremdnationalen Oberschicht. Vor allem aber setzten die Integrationsbemühungen des Staates zu einem Zeitpunkt ein, an dem die kulturelle Nationsbildung der Letten schon zu weit fortgeschritten war, als daß ein schulischer Integrationszwang sie noch hätte beeinflussen können. So erinnerte sich der letti95 Baltijas Vēstnesis Nr. 144, 1886, zitiert nach Blanks, Latviešu tautiska kustiba, S. 72. 96 Vgl. Schulprogramm des lettischen Volksschullehrerkongresses 1905. 97 Valters, Baltengedanken und Baltenpolitik, S: 167.

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sche Sozialdemokrat Felikss Cielēns, daß die russische Sprache im Schulalltag zwar pragmatisch gelernt wurde, aber keinerlei kulturelle Überzeugungskraft mehr ausüben konnte: »Ein ähnlich nationaler Geist herrschte auch in den Familien, mit denen wir in Riga verkehrten. Mit den Russen befreundeten wir uns nicht, sondern hielten uns abseits, obwohl die Kinder russischer Beamter und Offiziere keine Überheblichkeit in der Klasse zeigten, und gern in unseren Familien verkehrt hätten. Das Nationalbewußtsein der lettischen Gymnasiasten kam so stark zum Ausdruck, daß wir im Gymnasium demonstrativ miteinander lettisch sprachen, obwohl das dem Schulinspektor gar nicht gefiel. Der gesellschaftliche Verkehr außerhalb der Schule fand nur in lettischer Sprache statt.«98 Neben das Gegengewicht einer nationalen Öffentlichkeit trat die Sozialisationsinstanz der Familie. Ihre Aufgabe, grundlegende Bildung zu vermitteln, war in den Ostseeprovinzen auch institutionalisiert gewesen, da in den Landvolksschulen ein erheblicher Teil des Schulpensums zuhause bewältigt werden mußte. Welches Gegengewicht die private Sphäre dem staatlichem Wunsch nach Erziehungshoheit entgegensetzte, kommt in zahlreichen zeitgenössischen Erinnerungen zum Ausdruck: »Die elementare Gesellschaftszelle – die Familie – kann jeglichem Nationalisierungsversuch den stärksten Widerstand leisten … Die lettische Sprache war aus den Schulen verjagt worden, doch unsere Mütter und Großmütter lehrten sie erfolgreich zu Hause. Meine Mutter erzog uns streng im Geiste der lettischen Kultur und des lettischen Bewusstseins … Sie achtete besonders darauf, daß wir ein richtiges und gepflegtes Lettisch sprachen. Sie merzte systematisch alle Germanismen aus, die Ende des vorigen Jahrhunderts nicht nur im Gespräch, sondern auch noch in Büchern und Zeitungen zirkulierten. Sie erlaubte auch nicht, daß sich in unsere Rede russische Worte oder russische Sprachformen einschlichen.«99 Die positive Wahrnehmung der schulischen Russifizierung wich im Laufe der 1890er Jahre einer gewissen Ernüchterung. Der Qualitätsverlust, der mit den wenig qualifizierten Lehrkräften einher ging, war zu deutlich, als daß er sich länger übersehen ließ. Zur wachsenden Skepsis trug bei, daß sich auch die russische Öffentlichkeit zunehmend von der lettischen Nationalbewegung distanzierte. Hatten die ›Moskovskie Vedomosti‹ in den 1870er Jahren noch zur Befreiung des lettischen Bruderstamms vom deutschen Joch aufgerufen, erschien der politische Nationalismus der Letten und Esten der russischen Öffentlichkeit jetzt zunehmend als Bedrohung der unteilbaren russischen Nation.100 Schließlich begann die neue Generation westlich 98 Cielēns, S. 129. Ähnlich Valters, Atmiņas un sapni, S. 113. 99 Vgl. Cielēns, S. 129f. 100 Vgl. Dzimtēnes Vēstnesis 8.8.1910: »Die Zeiten Manaseins und Sinovjews wurden von den Letten mit Jubel und guten Hoffnungen begrüßt. Die Letten sahen in ihnen ihre

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orientierter sozialistischer Intellektueller die prorussische Orientierung des Lettischen Vereins zunehmend zu kritisieren.101 In der Revolution von 1905 stand der muttersprachliche Volksschulunterricht daher erneut auf dem Forderungskatalog der lettischen Nationalbewegung. Ähnlich wie zuvor die deutsche Schule nahm die Mehrheit des Milieus jetzt auch die russische Schule als kulturelle Überfremdungsinstanz wahr, die dem gewachsenen Anspruch auf kulturelle Autonomie scharf widersprach.102 Das staatliche Ziel, die kulturelle Integration der baltischen Bevölkerung in das Reich durch die Russifizierung der Schule zu erreichen, blieb im Rigaer Fall weitgehend erfolglos. Weder im deutschen noch im lettischen Milieu ließ sich die Forderung nach kultureller Autonomie längerfristig unterdrükken. Daß der Versuch einer kulturellen Russifizierung fehlgeschlagen war, wurde im frühen 20. Jahrhundert auch von der russischen Regierung anerkannt. Eine Resolution des Ministerkomitees kam einer Preisgabe der früheren Kulturpolitik gleich: »Die Lage des Schulwesens in den Ostseeprovinzen erscheint unbefriedigend. Die Hinweise auf den Verfall der Volksbildung sind gerechtfertigt … Es muß daher in bezug auf das Ostseegebiet mit besonderem Nachdruck der vom Ministerkomitee schon ausgesprochene Grundsatz betont werden, daß aus den Schulen in keinem Fall Werkzeuge einer künstlichen Durchführung russifikatorischer Prinzipien gemacht werden dürfen und daß die Lehranstalten vor allem das Ziel einer Bildung der Jugend gemäß den Erfordernissen der örtlichen Gesellschaft und zur Einflößung guter Sitten haben müssen.«103 Die neue Einsicht führte zwar nicht zur Auf hebung der schulischen Russifizierung, aber eröffnete Deutschen wie Letten nach 1905 gewisse Alternativen. Während der ersten zwei Schuljahre durfte in den Landvolksschulen wieder die lettische Unterrichtssprache benutzt werden, was den lettischen Ansprüchen zumindest entgegenkam. Allen privaten Schulen wurde erlaubt, die Wahl ihrer Unterrichtssprache selbst zu bestimmen. Davon profitierten vor allem die Deutschen, die nach der Revolution in Riga ein umfangreiches privates Schulwesen auf bauten.104 Befreier von der deutschen Oberherrschaft. Die Letten unterstützten die Reformarbeiten der 80er Jahre, weil sie diese Reformen als die Erfüllung ihrer Wünsche ansahen. Das Resultat dieser Reformepoche war aber ein ganz anderes … Über die geistige Entwicklung der Letten brachen schwere Zeiten herein. Die örtlichen Reformen wurden nicht zu Ende geführt. Die Schulen wurden in Russifizierungsanstalten umgewandelt. Unser ganzes soziales Leben wurde verdächtigt und unter Kontrolle gestellt … So erlebten die Letten auf dem Wege, auf den sie von den russischen Bürokraten geführt waren, nur bittere Enttäuschung.« 101 Vgl. Cielēns, S. 54f. 102 Vgl. Schulprogramm des lettischen Volksschullehrerkongresses 1905, S. 64. 103 Resolution des Ministerkomitees vom 18.6.1905, zitiert in: v. Schrenck, Beiträge, Bd. 1, S. 281. 104 S. Wachsmuth, Autonome Schule, S. 5–16.

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Diese Zugeständnisse konnten die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht jedoch nicht eindämmen, die in den Parteiprogrammen beider ethnischen Gruppen weiterhin ganz vorne rangierten. Dennoch kam es zwischen Deutschen und Letten nicht zu einer Annäherung über das gemeinsame Interesse an der muttersprachlichen Schule. Erst der Eindruck der nationalistischen Debatten in der Reichsduma kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bewirkte in der intellektuellen Avantgarde beider Gruppen die zunehmende Erkenntnis gemeinsamer Interessen. Im Herbst 1913 diskutierten Arveds Bergs und Paul Schiemann erstmals die Möglichkeit eines gemeinsamen Handelns: »Wenn die Deutschen mit vollem Recht gegen eine solche geistige Knechtung auch der lettischen Jugend auftreten, so werden denkende Letten ihnen gerne die Hand reichen, um zusammen gegen Angriffe auf die Entwicklung der heranwachsenden Generation zu kämpfen. Und … Herr Wissotzki und seine Gesinnungsgenossen werden sich bitter täuschen, wenn sie jetzt noch auf Feindschaft zwischen Letten und Deutschen in jedem Falle spekulieren, um die geistige Selbständigkeit beider Völker ungestört anzugreifen. Solche Angriffe können nur zu einem Zusammenschluß zwischen den Letten und den Deutschen beitragen.«105 Paul Schiemann reagierte in der ›Rigaschen Rundschau‹ auf Bergs’ Artikel mit dem Angebot einer kulturellen Front, die dazu beitragen könne, auch die politischen und sozialen Gegensätze neu zu verhandeln: »Zum ersten Mal, seitdem wir eine allgemeine baltische Landespolitik haben, stehen Deutsche und Letten geschlossen in einer Front … Warum sollen wir nicht hoffen dürfen, daß sie sich zu einer ständigen entwickle, daß die einmal erkannte Gemeinsamkeit der Interessen ein festeres Band schüfe. Der Gegner, der uns heute bedroht, wird nicht so bald vom Kampfplatz verschwinden. Aber auch die Güter, die wir verteidigen, sind keine Werte von heute und morgen … In der wärmenden Liebe, die Letten wie Deutsche zu ihrer Kultur hegen, möge der Haß schmelzen, den Gegensätze von geringerer Bedeutung seit Jahrzehnten in uns genährt.«106 Die in der lokalen wie regionalen Öffentlichkeit mit Erstaunen registrierte Debatte führte aber zu keinem Ergebnis und wurde von politischen Differenzen bald wieder überlagert.107 Zu trennend wirkte das lange Gedächtnis der 105 Arved Bergs in Dzimtenes Vēstnesis, abgedruckt auch in Rigasche Rundschau 10.10.1913. Vysockij war der rechtsnationalistisch eingestellte Redakteur des lokalen Rižskij Vestnik. 106 Vgl. Paul Schiemann, Die kulturelle Front, in: Rigasche Rundschau 12.10.1913; 107 Vgl. Arveds Bergs in Dzimtenes Vēstnesis, abgedruckt in Rigasche Rundschau 16.10. 1913: »Mit voller Klarheit sehen wir die Ursachen, die im Augenblicke eine nähere Verständigung der Letten und Deutschen unmöglich machen … doch es entstehen neue Fakten, die unsere strittigen Fragen in ein anderes Licht rücken … Ohne Zweifel wird das mit vielen unserer baltischen Fragen geschehen, um die wir heute noch heiß streiten. Letten und Deutsche im Baltikum werden sich einmal verstehen. Die Frage ist nur, wann das sein wird.«

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Vergangenheit, zu unterschiedlich waren die Reformvorstellungen im politischen, sozialen und agrarischen Bereich, als daß eine Gemeinsamkeit des kulturellen Lebens die verhärteten Fronten hätte überwinden können. Zu sehr schließlich war das Interesse an der muttersprachlichen Schule an die eigene Ethnizität gebunden, als daß die Gemeinsamkeit dieses Prinzips zwischen Deutschen und Letten hätte verbinden können. Denn jede Gruppe forderte den muttersprachlichen Unterricht nur im Namen ihrer eigenen Nation und deren Sprache, nicht aber als übergreifendes Prinzip. Vor 1914 war die Nationalisierung der Lebenswelt so weit fortgeschritten, daß auch universale Ideen dort nicht mehr verbinden konnten, wo partikulare Interessen trennten.

b) Religiöse Praxis zwischen Staatskirche, Landeskirche und Volkskirche Als Instrument kultureller Vereinheitlichung zog der russische Staat im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auch die Kirche heran. Bisher waren die Rechte der evangelischen Kirche in den Ostseeprovinzen kaum beschnitten worden, und auch die Massenkonversionen der protestantischen Letten zur Orthodoxie in den 1840er Jahren waren der Regierung eher ungelegen gekommen. Doch nun, unter dem neuen Primat der Zentralisierung und des Nationalismus, begann die russische Regierung mit einer dezidierten Förderung der orthodoxen Kirche und ihres Missionsauftrags. Damit verband sich eine einschneidende Repression der evangelischen Kirche und ihrer Pastoren, die nicht zuletzt auf deren deutschen Charakter zielten. Die neuartige Intervention der Staatskirche trug dazu bei, daß sich die konfessionelle Ausrichtung der evangelischen Landeskirche verstärkte. Auf die schwelenden Konflikte zwischen deutschbaltischer ›Landeskirche‹ und dem lettischen Streben nach einer ›Volkskirche‹ blieb ihr Einfluß jedoch gering. Die bisherige, überwiegend deutschbaltische Historiographie hat sich meist auf die staatlichen Repressionen konzentriert und dadurch den konfessionellen Gegensatz zwischen Luthertum und Orthodoxie nach vorne gerückt.108 Ähnlich wie im Falle der schulischen Russifizierung wurden lettische Erfahrungen dabei kaum berücksichtigt.109 Das weitaus gravierende108 Vgl. Wittram, Baltische Kirchengeschichte, wo ein Beitrag zur lettisch-estnischen Wahrnehmung der evangelischen Kirche fehlt; v. Schrenck, Baltische Kirchengeschichte; Thimme. Typisch für die ältere Literatur ist die Herausstellung des konfessionellen Gegensatzes bei G. Kroeger, Die evangelisch-lutherische Landeskirche und das griechisch-orthodoxe Staatskirchentum in den Ostseeprovinzen 1840–1918, in: Wittram, Baltische Kirchengeschichte, S. 177–205. Es sind im wesentlichen nur zwei, nun schon ältere Arbeiten, die sich bemühen, diese Verengung aufzulösen, nämlich Garve sowie die hervorragende Studie des Theologen Kahle. 109 Bei den in Anm. 108 genannten älteren Studien, aber auch bei M. Garleff, Die baltischen Länder Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg

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re Spannungsfeld bestand jedoch zwischen ethnischer Zugehörigkeit und kirchlicher Bindung, deren Verhältnis von der Forschung meist vernachlässigt wurde. Um diese Verengung der Perspektive aufzulösen, erscheint es zum einen notwendig, die Konzentration auf die staatliche Kirchenpolitik auszuweiten zugunsten einer Betrachtung der religiösen Alltagspraxis, die auch deren ethnischer Dimension Aufmerksamkeit schenkt. Zum zweiten gilt es, die unterschiedlichen Reaktionen von Deutschen und Letten vergleichend zu untersuchen, denn nur so kann deutlich werden, ob der staatliche Angriff auf die gemeinsame Konfession dort Gemeinsamkeiten stiften konnte, wo Ethnizität bisher getrennt hatte. Angesichts des kontinuierlichen Transfers kirchlicher Positionen und religiöser Strömungen zwischen Deutschland und den baltischen Provinzen interessiert zum dritten, ob die These einer weitgehenden Konfessionalisierung der Gesellschaft, die Olaf Blaschke für das deutsche Kaiserreich im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgestellt hat,110 sich auch für die multikonfessionelle baltische Region als zutreffend erweist. Führte also eine Übersteigerung des Bekenntnisses dazu, daß konfessionelle Abgrenzung zunehmend auch in nichtreligiöse Bereiche des Lebens übertragen und dort wirkungsmächtig wurde? Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die evangelisch-lutherischen Kirchen in den Provinzen Estland, Livland und Kurland den Rang von Landeskirchen mit eigener privilegierter Rechtsstellung gehabt.111 1832 wurden sie der Aufsicht des Innenministeriums unterstellt und erhielten den Status ›geduldeter‹ Kirchen neben der ›herrschenden‹ orthodoxen Staatskirche. Damit verstärkte sich die Einflußmöglichkeit des Staates auf die Besetzung hoher Ämter, doch die Autonomie der Verwaltung innerhalb des Kirchspiels, wie die einzelne Kirchengemeinde hier genannt wurde, blieb erhalten.112 Riga wies zu Beginn der 1870er Jahre elf evangelische Kirchspiele auf, im Jahr 1914 waren es 14 geworden.113 Der Grund für den Ausbau der Kirchspiele lag in der Zuwanderung der protestantischen Letten, welche die Zahl der evangelischen Bevölkerung von 64 000 im Jahr 1867 auf 247 000 im Jahr 1913 erhöhte. Gleichzeitig stieg die Zahl der orthodoxen Christen von 19 000 auf 86 000 an.114 Entsprechend 2001, findet der religiöse Erfahrungsraum der Letten und Esten kaum Beachtung, siehe ebd., S. 80ff. Auch die lettische Literatur zum Thema Religion im 19. Jahrhundert, ist insgesamt dünn, vgl. Latvija 19 gadsimtā, S. 377–397; Adamovičs, Dzimtenes baznicas vēsture; ders., Letten und die evangelische Kirche; Snippe. 110 Vgl. Blaschke, Zweites Konfessionelles Zeitalter; ders., Konfessionen im Konflikt. 111 Vgl. W. Lenz, Zur Verfassungs- und Sozialgeschichte der baltischen evangelisch-lutherischen Kirche 1710–1914, in: Wittram, Baltische Kirchengeschichte, S. 110–129. 112 Vgl. den Beitrag von Lenz, ebd., und Kroeger, Evangelisch-lutherische Landeskirche, wie Anm. 108; sowie Garve, S. 15. 113 Vgl. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Rußland, S. 1–41. 114 Ergebnisse der Volkszählung 1913, S. 36; vgl. auch Kap. I.

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wuchs die Größe der Gemeinden, und der Durchschnitt der evangelischen ›Eingepfarrten‹ in Riga betrug im Jahr 1910 rund 21 000 Menschen.115. Der uneingeschränkte Herr des Kirchspiels war der Pastor. Neben Predigtamt und seelsorgerischer Betreuung stand ihm bis 1887 auch die Kontrolle der lokalen Volksschulen zu. Zum Kirchspiel gehörten üblicherweise zwei Gemeinden, eine meist kleine deutsche und eine große lettische. Variierte die Größe der deutschen Gemeinden Rigas um die Jahrhundertwende zwischen 2 000 und 12 000 Mitgliedern, bewegten sich die lettischen Gemeinden in Größenordnungen zwischen 10 000 und 30 000 Mitgliedern, was kontinuierlich Anlaß zur Kritik gab.116 Beide Gemeinden wurden in derselben Kirche und oft vom selben Pfarrer betreut, doch der Gottesdienst fand getrennt statt. Sein Einkommen erhielt der Pfarrer in Riga aus städtischen und gemeindlichen Abgaben, wogegen er auf dem Lande über eine eigene Landwirtschaft verfügte, die meist an die umliegenden Bauern verpachtet wurde. Diese Form des Unterhalts entsprach strukturell dem der Gutsherrschaft, die Größe des Einkommens erlaubte nicht überall, aber doch häufig einen Lebensstil, welcher dem kleiner Rittergüter gleichkam.117 Der Pastor war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast immer ein Deutscher gewesen. Im Zuge des soziokulturellen Aufstiegs der Letten änderte sich das jedoch. 1892 hatte sich die livländische Pastorenschaft noch aus 80 Deutschen, 16 Letten und acht Esten zusammengesetzt, wogegen es 1912 bereits 51 lettische und estnische Pastoren und nurmehr 48 Deutsche waren.118 In Riga blieb die Dominanz deutscher Pastoren bis 1914 erhalten und nur zwei von den rund 30 Rigaer Pastoren ließen sich als Letten identifizieren.119 Eingesetzt wurde der Pfarrer nicht durch die Gemeinde, sondern durch den ständischen Rat in den Städten, durch den Gutsherrn auf dem flachen Land.120 Auch dort, wo das Patronatsrecht nicht galt und Konsistorium oder Krone den Pfarrer bestimmten, blieb die Gemeinde ohne Stim115 Vgl. Die Evangelisch-lutherische Gemeinden in Rußland, S. XVII. 116 Vgl. Mittheilungen für das Kirchenwesen 1903, Tabelle o.S., welche die Größe der Gemeinden innerhalb der Kirchspiele festhält. In den deutschen Gemeinden Rigas herrschten folgende Größen: Petri-Kirche: 10 000 Gemeindemitglieder; Trinitatis-Kirche: 2 000 Gertrud-Kirche: 8 000; Dom-Kirche: 12 000; Jacobi-Kirche: 10 000; Luther-Kirche 2 000; Martinskirche: 5 000; Paulskirche: 1 500. Die lettischen Gemeinden waren ungleich größer: Trinitatis-Kirche: 10 000 Gemeindemitglieder; Jesus-Kirche: 16 000; Gertrudkirche: 32 000; Johannis-Kirche 38 000; Luther-Kirche: 11 000; Martins-Kirche: 15 000; Paulskirche: 12 000. 117 Vgl. Wittram, Drei Generationen, S. 152. 118 Vgl. v. Tobien, Livländische Ritterschaft, Bd. II., S. 219ff. 119 Vgl. Die evangelischen Prediger Livlands bis 1918, S. 9–30. 120 Vgl. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Russland, S. XXII. Ab 1889, als der ständische Rat aufgelöst wurde, setzte das Konsistorium die Pfarrer ein. Wo das Patronatsrecht nicht galt, setzte entweder die Krone oder das Konsistorium den Pfarrer ein.

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me.121 Der Erhalt dieses ständischen deutschen Vorrechts war im Zeichen zunehmender Nationalisierung zum Gegenstand heftiger Kritik der Letten geworden und führte vor allem auf dem Land zu kontinuierlichen Konflikten. Ein besonders markantes Beispiel solcher Auseinandersetzungen kennzeichnete die Einführung des livländischen Pastors Viktor Wittrock: »Der erste Versuch (der Introduktion) mißlang: eine johlende, schreiende Menge verhinderte, daß der Generalsuperintendent mit dem Pastor das Gotteshaus betrat … Für einen zweiten Versuch einige Woche später nahm der Generalsuperintendent Polizeihilfe in Anspruch. Aber auch diesmal gelang es nicht, in die Kirche zu kommen: der Kreischef und die Gendarmen waren von einer wütenden Menge eingeschlossen und wurden verprügelt … Vor dem dritten Versuch … erhielten der Pastor und der Generalsuperintendent anonyme Drohbriefe, die sie zu einer Termin- und Programmänderung veranlasste … Unter dem Poltern und Toben der Menge vor der Tür vollzog Hollmann die Introduktion des Pastors, dann wurde die Haupttüre geöffnet, und im Kampf zwischen dem Gesang der Gemeinde und dem Geschrei der eingedrungenen Tumultuanten gewann schließlich der den Gottesdienst tragende Teil der Gemeinde die Oberhand.«122

Auch die theologische Prägung der evangelischen Pastoren trug dazu bei, daß der deutsche Anspruch einer Landeskirche mit den partizipatorischen Vorstellungen der lettischen Gemeinden in Konflikt geriet. In den 1840er Jahren hatte die evangelische Kirche in Livland und Estland eine massenweise Abwanderung von Letten und Esten zur Herrnhuter Brüdergemeine sowie Massenkonversionen zur Orthodoxie verbuchen müssen.123 Der erhebliche Legitimationsverlust, der daraus resultierte, hatte eine Betonung der konfessionellen Ausrichtung hervorgerufen, die vor allem von der Theologischen Fakultät Dorpat ausging.124 Indem man sich zunehmend im Besitz des wahren Glaubens wähnte und dafür gerne den Begriff der ›Objektivität‹ heranzog, wurden andere Bekenntnisse leicht als ›subjektiv‹ abgetan, verschärfte sich die Abgrenzung von der Orthodoxie und der katholischer Kirche.125 Die enge Verbindung der theologischen Meinungsführer zur Universität Erlangen, die ein Zentrum des protestantischen Konfessionalismus in Deutschland war, stimulierten diese Entwicklung maßgeblich. Auf den Synoden der baltischen Landeskirchen kam es nach der Jahrhundertmitte 121 Die Kirchspielreform von 1870 erhöhte zwar das gemeindliche Mitspracherecht der Bauern, schloß die Gemeinde aber weiterhin von jeglicher kirchlicher Mitbestimmung aus. 122 Wittram, Drei Generationen, S. 214f. Vgl. sehr ähnlich Kaehlbrandt, Lebensbild, S. 164f. 123 Vgl. Philipp; Adamovičs, Lettische Brüdergemeine; Straube. Zur Orthodoxie vgl. Cernajs; Gavrilin. 124 Vgl. Heinrich Seesemann, Die Theologische Fakultät der Universität Dorpat 1802– 1918, in: Wittram, Baltische Kirchengeschichte, S. 206–219; Grüner, Baltische Provinzialsynoden. 125 Vgl. Maurach, S. 141f.

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verstärkt zum Versuch, Lehre, Sakrament und Amt herauszustellen, während Überlegungen zur gemeindlichen Mitbestimmung immer schärfer zurückgewiesen wurden: »Gemeinsam war ihnen zunächst die Forderung, die Construction jeder Kirchenverfassung habe sich aus der Schrift und dem bekenntnismäßig lutherischen Begriff der Kirche heraus zu gestalten, welcher den Papismus wie die Herrschaft des Haufens per majora ausschließt, so wie endlich die Erkenntnis, daß Verfassung machen oder geben einzig (die Sache) der Generalsynode sei und die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse schwerlich dazu angethan erschienen, eine Veränderung der Kirchenverfassung sofort in Angriff zu nehmen.«.126 Die Tatsache, daß die evangelische Landeskirche dadurch vermehrt als Säule der ständischen deutschen Herrschaft betrachtet wurde, trug dazu bei, ihre Autorität in den lettischen Gemeinden seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu untergraben. Unter dem Einfluß des hochkonservativen Oberprokurors der orthodoxen Kirche, Pobedonoscev kam es nach dem Thronwechsel 1881 zu einem Wandel der bisherigen Kirchenpolitik.127 Bisher waren Konversionen zur Orthodoxie streng abgelehnt worden, und die lettischen Massenkonversionen in den 1840er Jahren hatten den russischen Staat völlig unvorbereitet getroffen. Auch das 1837 in Riga gegründete Priesterseminar sollte nicht der Bekehrung Andersgläubiger dienen, sondern die Rückführung der großen Altgläubigengemeinde in die rechtgläubige Kirche vorantreiben.128 Doch das Denken in nationalstaatlichen Kategorien, das seit den 1880er Jahren Eingang in das staatliche Handeln fand, erstreckte sich jetzt auch auf den Bereich von Kirche und Religion. Zunächst ergriff die Regierung Maßnahmen, um die Stellung der orthodoxen Kirche zu stärken. Zwischen 1883 und 1900 wurden in den Ostseeprovinzen 49 neue Pfarrbezirke gegründet und außerordentlich hohe Mittel in die Ausbildung und Besoldung von orthodoxen Priestern gesteckt.129 Eine neue Kathedrale im Zentrum Rigas sollte die Macht der Orthodoxie auch im Stadtbild symbolisch zur Geltung bringen. Die lokale Peter-und-Paul-Bruderschaft, die von der Regierung erhebliche Gelder erhielt, verwandte ihre Mittel auf die Gründung orthodoxer Gemeindeschulen, auf die Herausgabe von Erbauungsliteratur in lettischer Sprache sowie 126 So die offizielle Stellungnahme der Synode 1863, abgedruckt in: Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 6, 1864, S. 560. 127 Die baltischen Provinzen gaben für Pobedonoscev ein bevorzugtes Feindbild ab, vgl. seinen Brief an Alexander III.: »Die baltischen Provinzen wurden von Pastoren, Baronen und Bürgern beherrscht, die aller voller Fanatismus sind. Ohne jegliche Furcht und ohne die russischen Gesetze zu achten, suchen sie diese Herrschaft mit illegalen Mitteln und aller Härte aufrechtzuerhalten.«, in: Pobedonoscev, S. 165. Vgl. auch Byrnes. 128 Vgl. Gavrilin, S. 59–72. 129 Vgl. auch die Erinnerungen des estnischen Gouverneurs: Šachovskij, Iz archiva Knjaz’ja S.V. Šachovskogo.

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auf die finanzielle Unterstützung der lokalen Priester.130 Diesen Maßnahmen zur Stärkung der Orthodoxie korrespondierten solche, die der Schwächung des Luthertums dienen sollten. Seit 1885 wurde der Bau lutherischer Kirchen von der Zustimmung der orthodoxen Behörde abhängig gemacht. Zugleich begann die Regierung, eine stärkere Kontrolle der Synoden auszuüben. 1889 wurde jegliche evangelische Missionsarbeit verboten, und seit 1891 mußten alle evangelischen Kirchenbücher auf russisch geführt werden.131 Zum Kulminationspunkt der Konfrontation zwischen lutherischer Landeskirche und orthodoxer Staatskirche wurde jedoch die Behandlung von Rekonvertiten und die Verfolgung lutherischer Pastoren. Das Problem ging zurück auf die Massenkonversionen der 1840er Jahre. In diesem Jahrzehnt waren rund 75 000 Letten und Esten zum orthodoxen Glauben übergetreten.132 Doch bereits kurz nach der Jahrhundertmitte suchten zahlreiche Konvertiten diesen Schritt rückgängig zu machen.133 Die russischen Staatsgesetze, welche der orthodoxen Kirche die Rolle der ›herrschenden‹ Kirche zuwiesen, verboten jedoch einen offiziellen Austritt. Ebenso waren Geistlichen anderer Glaubensgemeinschaften Amtshandlungen an Mitgliedern der orthodoxen Kirche untersagt. Dennoch wandten sich seit der Jahrhundertmitte rund ein Viertel der Übergetretenen mit der Bitte um kirchliche Wiederaufnahme und Betreuung an die lutherischen Pastoren, die dieser Bitte meist entsprachen. Auf das Problem, wie mit den Rekonvertiten und den sie betreuenden Pastoren umzugehen sei, hatte Alexander II. mit der stillschweigenden Auf hebung des geltenden Reversalzwangs reagiert. Hatte dieser die orthodoxe Erziehung von Kindern bikonfessioneller Ehen bislang vorausgesetzt, wurde diese Regelung 1865 informell außer Kraft gesetzt. Das negative Echo der europäischen Öffentlichkeit auf die konfessionellen Unruhen der Ostseeprovinzen führte schließlich dazu, daß auch die Anklagen gegenüber den lutherischen Pastoren niedergeschlagen wurden. Mit der Thronbesteigung Alexander III. sollten sich diese Befriedungsmaßnahmen als temporär erweisen. Vielmehr wuchs sich das Vermächtnis der religiösen Unruhen der 1840er Jahre zum zentralen Konfliktpunkt zwischen evangelischer Landeskirche und orthodoxer Staatskirche in den 1880er Jahren aus. Zunächst stellte der neue Zar 1885 den Reversalzwang wieder her und erneuerte damit das Gesetz, daß Kinder aus bikonfessionellen Ehen zwingend als Mitglieder der orthodoxen Kirche galten. Durch den Erlaß wurden auch Rekonvertiten automatisch als Orthodoxe behan130 Vgl. Gavrilin, S. 243ff. 131 Vgl. Garve, S. 237ff. 132 Haltzel, S. 22, Anm. 85. 133 Vgl. Kahle, S. 104–123; Garve, S. 60–67 sowie die zeitgenössische deutsche Interpretation der Konversionen bei Harleß.

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delt, der subjektive Tatbestand der Rekonversion somit nicht anerkannt. Bedauerlicherweise sind für Riga keine Zahlen über die Größe der betroffenen Personengruppe vorhanden, doch für Livland liegen sie vor. Die Zahl der Rekonvertiten lag um 1890 bei etwa 18 000, während die Zahl der evangelischen Kinder aus evangelisch-orthodoxen Ehen, die jetzt von der orthodoxen Kirche beansprucht wurden, etwa 16 000 nun erwachsene Menschen umfasste.134 Straf bar machten sich nun erneut jene Pastoren, die Rekonvertiten zum Abendmahl zuließen, sie konfirmierten oder trauten. In vollem Umfang konnten Anklagen gegen solche Pastoren erhoben werden, und ein Gesetz von 1888 verfügte schließlich auch die Amtsenthebung aller jener Pastoren, über denen ein solches Verfahren auch nur schwebte.135 Die Intervention des Staates, der erstmals direkt und mit aggressiven Mitteln in die kirchliche und religiöse Praxis der baltischen Provinzen eingriff, traf zum einen die lettischen Rekonvertiten, zum anderen die deutschen Pastoren. In Einzelfällen kam es jetzt dazu, daß Kinder aus bikonfessionellen Ehen rückwirkend als orthodox erklärt wurden, daß erwachsene Letten aufgrund ihrer Taufscheine an der Eheschließung mit anderen Lutheranern gehindert und daß evangelisch-orthodoxe Ehen annulliert wurden.136 Insgesamt sahen die Behörden jedoch davon ab, lettische Rekonvertiten gerichtlich zu verfolgen, wie auch die Erinnerungen des deutschen Pastoren Maurach illustrieren, der keinerlei Schönfärberei des russischen Vorgehens verdächtig war: »Nur der Pastor wird verurteilt, nicht aber … die rekonvertierten Gemeindeglieder zur kurzterminierten Gefängnishaft, und in noch selteneren Fällen zur Abgabe ihrer lutherisch getauften Kinder zur Erziehung durch griechische Anverwandte für die orthodoxe Kirche … Solche gerichtlichen Verfolgungen von Rekonvertiten (kamen) nur ausnahmsweise vor: fast immer hielt man sich nur an die Pastoren, ließ aber »das Volk« durchschlüpfen.«137 Mit erheblicher Härte wurde indes gegen die Pastoren vorgegangen, die Amtshandlungen an Rekonvertiten vornahmen, sie also zum Abendmahl zuließen, seelsorgerisch betreuten oder trauten. Das Strafmaß für solche Handlungen bewegte sich zwischen zeitweiliger Dispensierung, Amtsenthebung, Gefängnisstrafe und der Möglichkeit einer Verbannung nach Sibirien. In der Folge kam es zwischen 1884 und 1894 allein in Livland zu insgesamt 199 Pastorenprozessen, womit rund 85% aller hier wirkenden Pastoren vor Gericht standen.138 In Riga selbst waren vier Pastoren angeklagt, nämlich 134 Vgl. Haltzel, S. 110, Anm. 62. 135 Vg. ebd., S. 114. 136 Vgl. die eindrucksvolle Reklamation der lettischen Dienstmagd Marie Telling Mitte der 1880er Jahre, welche die Problematik einer ›Mischehe‹ unter den neuen Gesetzen schildert, bei Kahle, S. 215. 137 Vgl. Maurach, S. 320. 138 Vgl. Registrierung der Criminalprocesse.

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Johann v. Holst von der Jacobikirche, Rudolf Bergmann von der Jesus-Kirche, Theodor Hellmann von der St.-Petri-Kirche und Carl Walter von der Paulskirche. Während Holst 1893 einen Freispruch erhielt, wurden die laufenden Prozesse gegen Bergmann und Walter erst im Zuge der Amnestie, die Nikolai II. anläßlich seiner Krönung 1894 erließ, niedergeschlagen. Das Urteil gegen den Pastor der Petri-Kirche, Theodor Hellmann, wurde dagegen vollstreckt und lautete auf sechs Monate Dispensierung vom Amt.139 In den meisten Fällen gingen die Prozesse mit temporärer Amtsenthebung aus, in einigen Fällen aber auch mit dem völligen Verlust des Amtes, mit Gefängnisstrafen und der Verbannung aus den Ostseeprovinzen. Solche Verurteilungen evangelischer Pfarrer aufgrund pastoraler Handlungen zogen zunehmend die Aufmerksamkeit der kirchlich orientierten europäischen Öffentlichkeit auf sich und sorgten für negative Schlagzeilen. Unter dem Druck der Evangelischen Allianz sah sich Alexander III. 1894 gezwungen, sämtliche laufenden Prozesse niederzuschlagen. Zwei Jahre später erließ Nikolai II. eine Amnestie, die sich auch auf die bereits verurteilten Pastoren erstreckte. In der Praxis fand die Verfolgung der Pastoren damit weitgehend ein Ende. Nach wie vor wurden etwa 35 000 Letten, Rekonvertiten sowie Kinder aus evangelisch-orthodoxen Ehen, die sich selbst als Lutheraner bezeichneten, in orthodoxen Kirchenbüchern geführt. Das änderte sich erst mit dem Toleranzedikt von 1905, das die Freiheit des religiösen Bekenntnisses brachte und den Austritt aus der orthodoxen Kirche offiziell gestattete. Die staatliche Repression der evangelischen Kirche erfaßte primär die deutschbaltischen Pastoren und damit einflussreiche Vermittler tragender Wertvorstellungen. Diese Gruppe reagierte auf den Angriff von oben, der nicht nur ihrer Konfession, sondern auch deren deutscher Prägung galt, mit einer neuartigen Nationalisierung der Konfession. Indem ›Deutschtum‹ und ›Luthertum‹ gleichgesetzt wurde, hoffte man, der staatlichen Repression ein Bollwerk kirchlicher und ethnischer Geschlossenheit gegenüberzustellen, an dem die Versuche kirchlicher Destabilisierung wirkungslos abprallten. Vor allem die einflußreichen Oberpastoren der Rigaer Petri-Kirche, Emil Kaehlbrandt und Johannes Lütkens, waren es, die jetzt von der Kanzel herab die Synthese von Deutschtum und reformatorischem Christentum zu verkünden begannen und auch die Missionierung der Letten durch die Deutschen dabei heilsgeschichtlich zu interpretieren suchten: »Das Grundelement der baltischen Cultur ist die evangelisch-lutherische Kirche. Mit dem sittlichen Einfluß des deutschen Geistes steht und fällt die lutherische Kirche in den baltischen Provinzen und nur mit der Vernichtung der lutherischen Kirche kann der Einfluß des deutschen Geistes (und die Cultur des Landes 139 Ebd., S. 34f.

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überhaupt) verschwinden. Daß aber die Vernichtung dieser beider Factoren auch die Zerstörung des Volksthums der Esten und Letten zur unausbleiblichen Folge haben muß … mag vielleicht nur tiefer blickenden Geistern vorbehalten sein.«140 Besonders deutlich wurde die neuartige Nationalisierung der Konfession an der Behandlung der Konvertiten. Auf die Bitte nach Rückkehr in die evangelische Kirche, auf das Verlangen nach Taufe, Konfirmation oder Abendmahl, hatten die deutschen Pastoren um 1850 meist zurückhaltend reagiert und vor allem nach ernsthaften religiösen Beweggründen gefragt. Der offene Angriff des Staates auf die Freiheit des Bekenntnisses führte jedoch dazu, daß neben religiöse Motive jetzt zunehmend nationale traten und erstere zurückdrängten. Der Zweck der Rückführung von Konvertiten wurde nicht mehr allein in der Stärkung von Kirche und Konfession gesehen, sondern vor allem in der Stabilisierung von ›Deutschtum‹ und ›deutscher Kultur‹. Entsprechend großzügig begannen die evangelischen Pastoren den Bitten konvertierter Letten nach Wiederaufnahme in die evangelische Kirche nachzugeben. Der liberale Pastor Traugott Hahn schildert in seinen Lebenserinnerungen die veränderte Motivlage, welcher dieser pastoralen Praxis jetzt zugrunde lag: »Dieser kaiserliche Gnadenakt veranlaßte auch eine wesentlich andere innere Stellungnahme vieler Pastoren zu der Frage der Aufnahme von Griechen … Ich möchte sie die Zeit der Aufnahme aus landeskirchlicher Politik, ja sogar aus deutsch-konfessioneller Politik nennen. Die Gründe, aus denen man nunmehr Griechen annahm, waren für viele Pastoren diese: Wir müssen die günstige Zeit auskaufen und jetzt so viele Griechen als nur möglich aufnehmen … Dazu kamen aber noch andere Gründe, welche ich als deutsch-konfessionelle bezeichnet habe. Der Gedankengang war dieser: unser baltisches Deutschtum … steht und fällt mit der lutherischen Kirche im Lande. Hört unsere Kirche einmal auf, die »Landeskirche« zu sein, dann hört unser Land auch auf, ein deutsches Land, und das Deutschtum hört auf, die führende Macht im Lande zu sei. Darum muß alles darangesetzt werden zur Erhaltung des Deutschtums und seiner Kulturmacht in unseren Provinzen, daß auch die Letten und Esten möglichst ausnahmslos Lutheraner bleiben.«141

Die Nationalisierung der Konfession, welche vom Gros der evangelischen Pastoren ausging, wurde jedoch nur vom kirchlich gebundenen Teil des deutschen Milieus übernommen. Das strenge Luthertum der Kirchenführung evozierte auch eine Gegenbewegung und erhebliche Teile der deutschen Stadtbevölkerung Rigas begannen sich zunehmend von der Kirche 140 Rigasches Kirchenblatt Nr. 33, 1881, S. 261. Vgl. Kaehlbrandt, Predigt am V. Sonntage nach Epiphanias. 141 Hahn, S. 322f. Als ›Griechen‹ bezeichnte Hahn, im Einklang mit dem zeitgenössischen Duktus der evangelischen Pastoren, die Angehörigen der griechisch-orthodoxen Kirche. Vgl. auch Kaehlbrandt, Lebensbild, S. 167

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abzuwenden.142 Sakralisierungsanstrengung und Säkularisierungstendenz schienen sich gegenseitig zu bedingen. Den Trend zur Säkularisierung im deutschen Milieu belegen die Berichte des Generalsuperintendenten über das Rigaer Gemeindeleben, in denen der Rückgang von Kirchenbesuch und Abendmahlsgang gerade auch in den deutschen Gemeinden beklagt wurden: »Der Gesamteindruck ist aber im wesentlichen unverändert derselbe wie in den letzten Jahren: die Macht der kirchlichen Sitte, die die Massen an ihre Kirchen und ihre Gottesdienste band, scheint unwiederbringlich dahin zu sein. Es wird darum immer deutlicher offenbar, wie viele Gemeindeglieder ihrer Kirche innerlich fremd und kalt gegenüberstehen.«143 Die Tatsache, daß dem intensivierten Glaubensleben weniger Deutscher eine zunehmende religiöse Indifferenz vieler gegenüberstand, wurde jedoch dadurch verdeckt, daß die Fassade äußerer Kirchenbindung meist aufrechterhalten wurde, daß Austritte und offene Kirchenkritik im deutschen Milieu überaus selten waren. Die äußere Verbindung zur Kirche entsprang indes immer weniger religiösen Gründen als vielmehr nationalen Motiven, da in der evangelischen Landeskirche zugleich ein Stabilisierungsfaktor der deutschen Herrschaft gesehen wurde: »Von einer … Entchristlichung der Gebildeten, wie sie in Deutschland vor sich ging, kann keine Rede sein … Aber Ketzer und Kritiker gab es doch auch schon, und die unangefochtene Herrschaft der Sitte verschleierte die Tatsache, daß auch hier vielfach nur noch ein äußerliches Verhältnis zu den kirchlichen Dingen bestand. In manchen Fällen war es das nationale Gefühl, das die Kirche als eines der bedrohten Güter umschloß und festhielt, die Kirche eben nicht als Gemeinde, sondern als Institution, die zwar keinen durchgängig nationalen Charakter hatte, wohl aber unbestreitbar nationale Züge aufwies.«144 Mithin war in den Jahrzehnten vor 1914 neben den Konfessionalismus der Landeskirche und den Versuch ihrer Vertreter, die Konfession zu nationalisieren, religiöse Indifferenz als Mehrheitsströmung des Milieus getreten. Nur die national motivierte Loyalität gegenüber der deutsch geprägten Kirche vermochte diese gegensätzlichen Tendenzen nach außen noch zu verdecken. Der Verteidigung der Landeskirche durch die Deutschen stellten die Letten einen Angriff auf diese Institution entgegen. Aus unterschiedlichen Gründen löste die staatliche Repression von Rekonvertiten und Pastoren keine verstärkte Loyalität zur evangelischen Kirche aus. Zunächst empfand man die Maßnahmen der Regierung im lettischen Milieu nicht als sonderlich einschneidend, da lettische Rekonvertiten kaum je wirklich bestraft wurden. Zwar kam es zur erheblichen Behinderung, was Taufen oder Eheschließun142 Vgl. Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 117. 143 Vgl. Mittheilungen für das Kirchenwesen 1910, S. 20. 144 Wittram, Drei Generationen, S. 210.

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gen anging, doch wirkliche Abschreckungsmaßnahmen wurden nur gegenüber den deutschen Pastoren durchgesetzt. Zur Gleichgültigkeit gegenüber der Verfolgung der Pastoren, die primär als Problem der Deutschen galt, trat die Kritik an der evangelischen Landeskirche selbst, welche die lettische Nationalbewegung zunehmend artikulierte. Der Vorwurf, es handele sich nicht um eine ›Volkskirche‹, sondern um eine ›Herrenkirche‹ wurde zunächst durch die oft unzureichende Beherrschung der lettischen Sprache seitens der Pastoren genährt. In der Tat weisen die Selbstzeugnisse der evangelischen Pastoren darauf hin, daß schätzungsweise die Hälfte der deutschen Pastoren in den Ostseeprovinzen die Sprache ihrer Gemeinden erst in der kirchlichen Praxis erlernte. An der Rigaschen Johanni-Kirche kam es beispielsweise dazu, daß der neueingestellte Diakon für die lettische Gemeinde, Magnus Werbatus, 1864 sein Amt antrat, »während welches ich mir die lettische Sprache aneignen musste, die mir fast völlig fremd war.«145 Immer mehr geriet vor allem das Patronatsrecht ins Kreuzfeuer der Kritik. Denn mit der Politisierung des lettischen Nationalismus wurde dieses ständische Residuum zunehmend als nationaler Angriff auf die lettische Selbstbestimmung betrachtet und massiv attackiert. Bot die Pfarrwahl bereits in den Rigaer Kirchspielen kontinuierlich Anlaß für Konflikte, so artikulierten vor allem die lettischen Landgemeinden ihre Unzufriedenheit in Formen, welche die weitgehende Entfremdung von der evangelischen Landeskirche belegen. »Da die Fehtelnsche Kirchengemeinde keinen von der Gemeinde selbst gewählten Pastor, sondern einen von den Kirchenpatronen gegen den Willen der Mehrheit der Gemeindeglieder aufgezwungenen hat, so ist es kein Wunder, daß sich ein solcher in der Rolle eines gedungenen Seelenhirten fühlt, die geistigen Bedürfnisse und Leiden der Gemeindemitglieder nicht kennt und in sich nicht den Wunsch fühlt, seine Kräfte für die Beseitigung dieser Bedürfnisse und Leiden zu opfern. Die Kirche, die der Idee des christlichen Glaubens dienen soll, hat sich in ein Institut verwandelt, das dem Interesse der reichen Schichten, den Verfechtern der Finsternis und den Aussaugern des Vaterlands dient … und hierdurch jede Autorität unter den Gemeindegliedern verloren hat.«146

Stimulierte vor allem die Nationalisierung der Letten die Entfremdung von der deutsch geprägten Landeskirche, trug deren eigene Neuausrichtung mit dazu bei, diese Distanz zur verhärten. Denn tonangebend waren in der evangelischen Kirche seit den 1860er Jahren die Vertreter eines strengen Konfessionalismus, welche Amt, Lehre und Sakrament betonten, die Autorität des Amtes herausstellten und für die Forderung nach gemeindlicher Mitbestimmung und Presbyterialverfassung kein Verständnis auf brachten. Auch das Anliegen, an der Dorpater Universität einen lettischen Lehrstuhl 145 Werbatus, S. 84. 146 Handschriftliche Adresse von 700 Gemeindegliedern der Odenseeschen und Fehtelnschen Kirchengemeinde vom 9.7.1905, Fonds 233, apr. 3, Nr. 3205, LVVA.

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für Theologie einzurichten, um den Glauben in der Muttersprache auszulegen, wurde abgelehnt. Vor allem aber schuf die zunehmende Bindung der Konfession an Ethnizität, die sich in der Gleichsetzung von ›Luthertum‹ und ›Deutschtum‹ manifestierte, eine immer größere Distanz zwischen den lettischen Gemeinden und den deutschen Pastoren: »Unsere lutherische Kirche soll also dem hiesigen Deutschthum dienen, soll für dasselbe eine Schutzmauer nach außen wie nach innen bilden … So haben die Herren in unbewachten Augenblicken bekannt, daß sie der lutherischen Kirche bedürfen, um das Deutschthum in Livland zu erhalten, und wenn sie öffentlich für diese Kirche und die Gewissensfreiheit kämpfen, im letzten Grunde für das Deutschtum eintreten.«147 Die Entfremdung von der offiziellen Landeskirche manifestierte sich vor allem im Rückgang des städtischen Kirchenbesuchs, der sich nach der Revolution von 1905 in Riga noch weiter abschwächte, wie die Berichte des Generalsuperintendenten festhalten: »Es herrscht auch bei den Gutgesinnten eine gewisse Befangenheit und Zurückhaltung bezüglich der kirchlichen Bethätigung, eine Scheu, sich offen zu bekennen, die aus dem Bewußtsein hervorgeht, sich mit dem Empfinden weiter Kreis im Widerspruch zu befinden. Jeder Gang zur Kirche, zur Kommunion oder auch zum Pastor ist jetzt gleich einem Bekenntnis zu achten.«148. In ganz Livland ging die Zahl der Kommunikanten von 860 000 (1902) auf 470 000 (1913) zurück, verminderte sich also um fast die Hälfte.149 Entkirchlichung bedeutete im lettischen Milieu jedoch nicht notwendigerweise Entchristlichung. Vielmehr wurde auch in den Diskursen scharfer Kirchengegner der Glauben selbst nicht in Frage gestellt: »Wir Christen

147 Grenzstein, S. 94. Vgl. auch Dzimtenes Vēstnesis Nr. 280–290, 1911, in: Fonds 233, apr. 3, Nr. 7, LVVA: »So kommt es denn so heraus, dass auch die geistlichen Beamten des Consistoriums nur Repräsentanten der Ritterschaft und des Deutschthums sind. Aber wenn wir auch die Pastoren als geistliche Amtsträger der Gemeinden anerkennen, auf welcher Grundlage darf ein Pastor sich eigenmächtig einen Herrscher, Herrn und Richter der autonomen Gemeinde nennen? Nach unseren Kirchenlehren sind sie Pastoren und dürfen sie nur ein Diener der Gemeinde und nichts weiter. Indem sie sich zu Herren und Richtern der Gemeinde aufwerten, können sie nur Unwillen, Zorn und Anstoss wider sich erregen … Unser Consistorium ist eine deutsche ritterschaftliche Einrichtung. Es ist nicht eine Einrichtung der autonomen Kirche. Seine Wurzeln sind nicht in der evangelischen Kirche zu suchen. Unsere Consistorien werden in ihrem jetzigen Bestande immer ein den baltischen evangelischen Gemeinden von der Ritterschaft angehängter fremder Organismus sein. Die Grundlagen der konsistorialen Herrschaft und die Wahl ihrer Beamten sind nicht evangelisch.« 148 Mittheilungen für das Kirchenwesen 1907, S. 20ff., bezogen auf Riga. 149 Vgl. Vidzemes generalsuperintendenta zinojumi, S. 315. So hatte die St. Pauls-Kirche in Riga 1898 noch 1286 neue Mitglieder aufgenommen, wogegen es im Jahr 1905, trotz steigender Zuwanderung, nur 365 Neuaufnahmen waren. Vgl. Trejs, 11. Ähnlich Mittheilungen für das Kirchenwesen 1910, S. 39: »Im öffentlichen Leben verliert die Kirche mehr und mehr jeden Einfluß.«

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wollen in der Kirche beten, aber keine Vorpostenpolitik betreiben.«150 Religiöse Traditionen blieben auch nach der Revolution ein unverrückbarer Bestandteil der kulturellen Praxis der lettischen Sängerfeste.151 Wachsende Teile des lettischen Milieus suchten jedoch nach religiösen Alternativen zur konservativen Landeskirche. Nach wie vor ging von der orthodoxen Kirche Attraktion aus,152 zahlreiche Letten öffneten sich auch gegenüber den religiösen Gemeinschaftsbewegungen der Jahrhundertwende oder wandten sich den Baptisten zu.153 Blieb die Mehrheit des lettischen Milieus in Riga religiös geprägt, aber zur Kirche auf Distanz, setzte sich im sozialistisch orientierten Teil des Milieus eine weitgehende Entchristlichung durch. Vor allem die Revolution war zur zentralen Säkularisationserfahrung geworden, in welcher der Kampf gegen die Institution mit der Negation der christlichen Verkündigung selbst verschmolz.154 Dieser Gruppe ging es nicht mehr um Reform innerhalb der Kirche, sondern um die Wendung gegen die Kirche und Religion, doch repräsentativ war sie damit nicht. Ähnlich wie das deutsche Milieu kennzeichneten auch das lettische Milieu gleichermaßen säkulare und christliche Einstellungen. Wurde diese Vielfalt im deutschen Milieu jedoch von äußerer Kirchlichkeit verdeckt, so war es im lettischen Milieu gerade die äußere Entkirchlichung, welche das gleiche Phänomen verbarg. 150 Grenzstein, S. 136. 151 Traditionell stand neben den weltlichen Konzerten der lettischen Sängerchöre immer auch ein geistliches Konzert, das sich auch nach der Revolution weiterhin großer Beliebtheit erfreute. 152 Auf dem flachen Land traten in Livland zwischen 1881 und 1904 insgesamt 31 000 lettische Lutheraner zur orthodoxen Kirche über. Vgl. Garve, S. 234. Vgl. auch Malyškin. Seit 1905 mit der neuen Bekenntnisfreiheit stieg indes die Zahl der Übertritte von der orthodoxen zur lutherischen Kirche wieder stark an. Zwischen 1905 und 1911 traten in Livland etwa 8 000 Personen, überwiegend vormalige Konvertiten, über, vgl. Evangelisch-lutherische Gemeinden, S. XVIII. 153 Auf welche Motive eine solche Abwendung von der Kirche, nicht aber vom Glauben zurückgehen konnte, beschreibt Mikelis Valters in seinen Erinnerungen: Valters, Atmiņas un sapņi, S. 47f. »Die lutherische Kirche war nicht besonders beliebt. Als man … ein BaptistenGebetshaus erbaute, wandten sich alle diesem zu … Das Predigen in der Baptisten-Kirche war lebendiger. Die schönen Bibelworte und ihre Deutung in einer lebendigen Sprache gefielen, alle begeisterten sich, zu Hause sprach man darüber. Man freute sich über einen guten Prediger. Die (lutherischen) Kirchenherren sprächen zu getragen, so sagte man, – die Baptistenprediger seien anders. Religiöses Leben kam in die Familie, ins Haus, und verstärkte das religiöse Empfinden. Das religiöse Gefühl wurde stärker in unseren Ausdrücken, in unserer Sprache, erweckte stärkere Emotionen. Als man vom Gotteshaus der Baptisten heimkehrte, war das Verständnis zueinander näher, die Gespräche freundschaftlicher … Keiner bezweifelte die großen Wahrheiten des Christentums.« 1890 hatte es in Livland 31 Baptistengemeinden mit insgesamt etwa 3 000 Mitgliedern gegeben, 1913 waren es 63 Gemeinden mit rund 7 000 Mitgliedern geworden, vgl. Kronlins, S. 93. 154 Vgl. die Autobiographie des lettischen Sozialdemokraten Cielēns, S. 90f.

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Die lettische Entfremdung von der evangelischen Landeskirche führte dazu, daß auch die staatliche Repression des Glaubens und die Verfolgung evangelischer Pastoren keine Erneuerung religiöser Gemeinschaft zwischen Deutschen und Letten hervorbrachte. Es kam nicht nur zu keiner gemeinsamen Verteidigung des Bekenntnisses oder zu einer vereinten Abwehr der staatlichen Eingriffe. Die zunehmende Nationalisierung der Konfession, mit der die deutschen Vertreter der Landeskirche auf den Angriff der Staatskirche reagierten, verstärkte vielmehr die Distanz des lettischen Milieus zur institutionalisierten Kirche. Trotz der augenscheinlichen Aushöhlung kirchlicher Gemeinsamkeit hielt die deutsche Kirchenleitung auch im frühen 20. Jahrhundert an der Vorstellung einer übernationalen kirchlichen Einheit fest: »Unser Gotteshaus bleibt neutraler Boden und der gemeinsame Glaube steht über dem Nationalitätenhader. Vom christlichen Standpunkt müssen wir daher mit vollster Überzeugung Protest einlegen gegen eine Umwandlung unserer evangelischen Landeskirche in reine Nationalkirchen … Sie zerstört die Einheit der una sancta ecclesia in unserem Heimatland, sie treibt einen Keil unter die Heimatgenossen, welche das Evangelium näher bringen soll und die providenziell aufeinander angewiesen sind.«155 Die Frage einer Trennung der Kirche nach Ethnizität war vom lettischen Milieu bereits seit längerem gefordert worden. Vor allem in der deutsch geschriebenen Streitschrift Ado Grenzsteins »Herrenkirche oder Volkskirche« war diese Forderung um 1900 einprägsam formuliert worden: »Was hier gemacht werden … muß, ist nichts anderes als eine reinliche Scheidung. Mögen wir in politischen und sozialen und anderen profanen Dingen immerhin kämpfen und streiten, den Tempel Gottes wollen wir davon isolieren, um Himmels willen aber nicht, wie es jetzt geschieht, zum Mittelpunkt von Vorpostengeplänkel machen. Zu diesem Ziel gelangen wir nur auf einem Wege. Jedem das Seine. Wir trennen uns kirchlich. Der Deutsche hat seine Kirche, der Este seine, der Lette seine. Das erreichen wir leicht und vollkommen dadurch, dass die Leitung der evangelisch-lutherischen Kirche nach diesen drei Gruppen geteilt und dass die Vorbildung der Geistlichen ebenso gesondert bewerkstelligt wird.«156

Angesichts der immer gravierenderen Differenzen fanden solche Gedanken auch im deutschen Milieu zunehmend Anklang. Allzu offensichtlich war es, daß die weitgehende Nationalisierung der Lebenswelt auch vor der religiösen Praxis nicht haltmachte. Sogar der konservative Oberpastor der Petri-Gemeinde, Emil Kaehlbrandt, sah sich genötigt, das festzustellen: »Es wurde bald fühlbar, daß sich eine Scheidewand bildete zwischen der lettischen Gemeinde und dem deutschen Pastor. Und selbst unter den Pastoren

155 Grüner, Bildung neuer Pfarrverbände, S. 139f. 156 Grenzstein, S. 136.

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trat immer mehr eine Scheidung nach Nationalitäten hervor.«157 Trotz der Ablehnung der landeskirchlichen Führung kam es auf der lokalen Ebene Rigas nach der Jahrhundertwende erstmals zu jener ethnischen Trennung der Kirchengemeinden, die in Form von Nationalkirchen nach 1918 landesweit verwirklicht werden sollte. Den äußeren Anlaß boten deutschen wie lettischen Gemeindegliedern die viel zu großen Gemeinden, die sich als Folge der Zuwanderung in Riga gebildet hatten. Eklatant war vor allem der Fall der städtischen GertrudKirche. Bereits 1883 war die Gemeinde, die damals etwa 30 000 Mitglieder aufwies, in zwei ethnisch getrennte Gemeinden aufgeteilt worden, die jede über einen eigenen Pastor verfügte. Noch immer gehörten sie jedoch zum selben Kirchspiel, benützten dieselbe Kirche. Immer drängender wurde der Wunsch, sich auch räumlich zu trennen, und mündete 1906 in einen neuen Kirchenbau für die lettische Gemeinde. Damit war nicht nur die räumliche Segregation der religiösen Praxis vollzogen, auch verwaltungstechnisch erhielt die neue lettische Gemeinde jetzt den Rang eines eigenen Kirchspiels. Massive Konflikte hatte es auch an der Rigaer Martinskirche gegeben, die dazu führten, daß 1896 auch hier die Trennung der 20 000 Gemeindemitglieder nach ethnischer Zugehörigkeit erfolgte: »(So) wurde dann endlich vor einigen Jahren die völlige Teilung der Gemeinde in eine deutsche und eine lettische vollzogen … so daß fortan beiden Gemeinden der Weg für den Ausbau ihrer kirchlichen Verhältnisse frei gegeben war … Mit Genehmigung des Generalkonsistoriums hat nunmehr jeder der beiden an der Martinskirche bestehenden Beichtkreise seinen selbständigen Pastor erhalten, die als Konpastoren gleichberechtigt neben einander stehen. Es steht zu hoffen, daß damit die Bedingungen zu einer ersprießlicheren Entwicklung für beide Gemeinden gegeben sind.«158 Ebenso trennten sich Deutsche und Letten 1903 in der Rigaer Jesus-Kirche, wobei die Einheit des Kirchspiels aufrechterhalten wurde.159 Blieb das Patronatsrecht bei diesen Trennungen bisher unangetastet, geriet es im Falle der Rigaer Pauluskirche erstmals erfolgreich unter Beschuß. Erneut war die Überfüllung der Paulus-Gemeinde mit 22 000 Mitgliedern ein äußeres Motiv gewesen, die ethnische Trennung durchzusetzen. Bei den Verhandlungen über die Trennung von Gottesdienst, Seelsorge und Gemeindeleben setzten die Vertreter der neuen lettischen Gemeinde entgegen der Konsistorialverfassung durch, daß nicht das Konsistorium den Pastor der lettischen Gemeinde einsetze, sondern sie selber ihn im Wahlverfahren bestimme – eine faktische Umgehung des Patronatsrechts, dessen Legitimität 157 Kaehlbrandt, Lebensbild, S. 168. 158 Rigasches Kirchenblatt Nr. 3, 4, 1905. 159 Die Jesus-Kirche hatte bisher 21 000 Mitglieder aufgewiesen.

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auch in den Augen vieler Deutscher längst ausgehöhlt war.160 Die Berichte des Superintendenten belegen, daß der Kirchenbesuch und das gemeindliche Engagement dort, wo ethnische Trennungen erfolgt waren, bei Letten wie bei Deutschen erheblich zunahmen.161 Daß selbstbestimmte kirchliche Strukturen das religiöse Engagement der Gemeindemitglieder ungleich erfolgreicher zu mobilisieren vermochten, erkannten zwischenzeitlich auch deutsche Pfarrer an: »Scheint es auf der einen Seite notwendig … der veränderten Sachlage Rechnung zu tragen, indem man die gemischten Gemeinden nach Sprache und Nationalität reinlich scheidet … erheben sich auf der anderen Seite gewichtige praktische Bedenken … ob denn auch wirklich das Gros der Gemeinde reif sei, sich mit vollem Bewußtsein für Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Nation zu entscheiden … Daß die Trennung sich in diesen beiden Fällen bewährt hat, bedarf wohl heute keines besonderen Beweises mehr … So schließt denn nach dieser Seite das Jahrhundert mit der Tendenz, die Vorstadtgemeinden durch sprachliche und nationale Scheidung der Lösung verwickelter Verhältnisse näherzubringen.«162 Vor 1914 hatte sich damit in vier der 14 Rigaer Gemeinden jene ethnische Trennung von kirchlichem und gemeindlichem Leben durchgesetzt, welche die Nationalkirchen in der Lettischen Republik in den 1920er Jahren realisieren sollten. Die ethnische Segmentierung der religiösen Praxis, die sich im frühen 20. Jahrhundert in Riga beobachten läßt, ist schließlich ein Befund, der quer zur Annahme einer allgemeinen Konfessionalisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts steht. Zwar war es unter dem Druck von Massenkonversionen auch in den evangelisch geprägten Ostseeprovinzen des Zarenreichs zu einem rigiden Konfessionalismus gekommen, der durch die staatliche Kirchenpolitik seit den 1880er Jahren noch verstärkt worden war. Dieser Konfessionalismus prägte jedoch primär die Vertreter der Kirche selbst sowie einen kleinen, kirchlich gebundenen Teil des deutschen Milieus. Zur herrschenden Strömung vermochte er jedoch nirgendwo zu werden, blieb vielmehr ein marginales Phänomen. Denn weder konnte Konfession die evangelische Bevölkerung Rigas nach innen integrieren, wie die lettische Indifferenz gegenüber der staatlichen Repression der evangelischen Kirche zeigt, noch gab sie nach außen eine bestimmende Grenze ab, wie die ethnische Trennung der evangelischen Gemeinden belegt. Vielmehr liefen die Fronten quer durch Kirche und religiöse Praxis und entsprechend scharf wurde die deutsche Vorstellung einer evangelischen Landeskirche von den lettischen Vertretern einer evangelischen Volkskirche attackiert. Im Ge160 Vgl. Rīgas Doma baznicas latviešu draudze, S. 7ff. 161 Mittheilungen für das Kirchenwesen 1910, S. 21. 162 Poelchau, Rigas evangelische Kirche, S. 58.

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gensatz zum Prozeß der Konfessionalisierung, wo Konfession zunehmend Bereiche prägt, die nicht zum direkten Wirkungsbereich von Kirche und Religion gehören, kam es in Riga und den Ostseeprovinzen vielmehr zu einer Nationalisierung von Kirche und Religion, welche die ethnische Segmentierung evangelischer Gemeinden zur Folge hatte. Mithin trifft die Annahme einer weitgehenden Konfessionalisierung auf das Zentrum der baltischen Region nicht zu. Was hier trennte, war nicht Konfession, sondern Ethnizität, deren Politisierung auch die Kirche und religiöse Praxis so stark erfasste, daß dasselbe Bekenntnis zunehmend getrennt praktiziert wurde.

2. Von der Nationalisierung der Erinnerung zur Neutralisierung der Zukunft: Rigas 700-Jahr-Feier im Jahr 1901 Zum herausragenden Moment des gesellschaftlichen Lebens wurde die Feier des 700-jährigen Stadtjubiläums, das Riga im Jahr 1901 beging. Es bot die Gelegenheit zur öffentlichen Selbstdarstellung der lokalen Gesellschaft, es erforderte eine Interpretation der Vergangenheit und rief auf zu einem Entwurf für die Zukunft. Die deutschen Eliten, welche das Fest ausrichteten, ergriffen die Gelegenheit, vor allem den industriellen Fortschritt der Stadt nach außen zu tragen, zumal die Präsentation solcher Errungenschaften die ethnischen Spannungen am ehesten zu überbrücken versprach. Außer der Betonung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gingen auch politische Präferenzen und soziale Ordnungsentwürfe in die Symbolik der monatelang dauernden Festlichkeiten ein. Doch die Integrationskraft der Inszenierung sollte beschränkt bleiben, und die Bruchlinien, welche die multiethnische Gesellschaft durchzogen, wurden durch den Versuch festiver Gemeinsamkeit neu bloßgelegt. Insofern erscheint die Jubiläumsfeier als geeigneter Gegenstand, nach der spezifischen Selbstdeutung zu fragen, welche die deutschen Eliten damit verbanden, und das Integrationspotential auszuloten, das dieser Versuch aufwies. Vermochte das Fest tatsächlich politische Spannungen und kulturelle Differenzen temporär aufzuheben? Und wie wurden Geschichtsbilder eingesetzt, die ein solches Datum unweigerlich herauf beschwor? Führten ›shared means‹ notwendigerweise auch zu ›shared meanings‹ oder interpretierten die Besucher die Inszenierung des Jubiläums anders als die Initiatoren erhofften?163 Bereits die Diskussion, ob und wie das Jubiläum gefeiert werden sollte, brachte die Problematik der vielfältigen Erinnerungsstränge, die das mul163 Vgl. Lüdtke, S. 573ff.

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tiethnische Riga kennzeichneten, rasch auf den Tisch. Während der konservative Flügel des deutschen Milieus einer groß angelegten Erinnerungsveranstaltung das Wort redete, die vor allem den deutschen Traditionsbestand der Stadt herausstellen sollte, plädierte der liberale Flügel für eine national indifferente Industrieausstellung und den Verzicht auf offizielle Empfänge und Bankette.164 Die Massenstreiks des Frühjahrs 1899 ließen zuviel Prunk nicht opportun erscheinen, und auch der Ausgang der Stadtwahlen im Frühjahr 1901 war keineswegs voraussehbar. Eine sensible Behandlung des Anlasses erschien somit ratsam. Im rasch gegründeten Festkomitee, das mit der Realisierung des Jubiläums betraut wurde, setzten sich schließlich die Vorstellungen der Liberalen durch, wenngleich auch konservative Wünsche partiell Berücksichtigung finden sollten. Doch mit der Herausstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region, die im Mittelpunkt der Jubiläumsausstellung stehen sollte, hofften die deutschen Wirtschaftsbürger eine Lösung gefunden zu haben, deren Zukunftsgewichtung mehr als alle Vergangenheitsbeschwörung auch über das deutsche Milieu hinaus auf Akzeptanz und Interesse stieße: »Gegen das Eine haben wir bisher … ein Veto eingelegt, daß nämlich die historische Thatsache der Gründung Rigas eine Deutung erfahre, die es den Letten angeblich unmöglich machen solle, an der 700jährigen Gedächtnisfeier dieser Thatsache sich zu betheiligen. Es ist genug bekannt, daß die Städtegründungen im Mittelalter in zahllosen Fällen … von Unrecht, Gewalt und Blut erfüllt waren. Trotzdem waren und blieben die Gründungen Culturthaten, deren volle Wirkungen sich erst in der Gegenwart erfüllen … Wir meinen, die Vergangenheit hat nicht mehr Recht als die Gegenwart, und auch für historische Thatsachen muß es … eine Verjährung geben, die sich nicht nach Jahrzehnten und Jahrhunderten bemißt, sondern lediglich nach dem Maße, in welchem jene Thatsachen ihre Wirkung in der Gegenwart eingebüßt haben.«165

Die unterschiedlichen Ansichten über die Gestaltung des Jubiläums ließen sich innerhalb des deutschen Milieus schnell beilegen, zumal über der Tatsache, daß das Datum größerer Festlichkeiten allemal wert war, keinerlei Dissens herrschte. Anders sah es im lettischen Milieu aus, wo die Frage des 164 Vgl. Düna-Zeitung 12.11.1899, 27.7.1900, Rigaer Rundschau 31.5.1901. Vgl. zum Jubiläum v.a. Scherwinsky; Mettig, Siebenhundertjähriges Jubiläum; Eckhardt, Rigaer JubiläumsAusstellung; Katalog der Rigaer Jubiläumsausstellung; Ronis, 700 gadu svinibas. 165 Rigasche Rundschau 3.11.1899. Vgl. auch ebd. 31.5.1901: »Daß aber die Eroberer nicht bloß als … Unterdrücker im Lande hausten, daß sie vielmehr wirkliche und werthvolle Arbeit geleistet haben, davon zeugt jeder Fußbreit unseres Landes … Das Culturwerk in unserem Lande ist nicht das Werk des Meisters, sondern das gemeinsame aller Derer, die gleiche Liebe zu einer Heimat, zu einer Stadt vereinigt, möchten sie nun Deutsche oder »Undeutsche« heißen und wer wollte es heute noch unternehmen, hier zu scheiden, was meine und was Deine Arbeit ist … Sollte das Jubiläum nicht vielmehr ein Fest des ganzen Reiches sein, in dessen Krone siebenhundertjährige Arbeit ihrer Bürger dieses Kleinod gefügt hat.«

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Jubiläums bereits lange vor dem eigentlichen Datum hohe Wellen schlug. Im Zentrum der Diskussion stand zunächst die Frage, ob die Letten sich an der Jubiläumsfeier durch die Ausrichtung eines Sängerfestes beteiligen sollten. Die Frage der Partizipation war jedoch von der Deutung dessen, was überhaupt gefeiert werden sollte, nicht zu trennen. Der konservative Flügel der lettischen Nationalbewegung, der vom Lettischen Verein vertreten wurde, sah in dem Jubiläumsfest der Gegenwart primär eine einseitige Verherrlichung der Vergangenheit. Die Gründung Rigas durch den deutschen Bischof Albert stelle den Beginn der 700-jährigen Sklaverei des lettischen Volkes dar, weshalb jegliche Feier eines solchen Anlasses sich von selbst verbiete: »Eine Gedächtnisfeier, die für ein Volk eine Jubelfest ist, kann für das andere ein Trauerfest werden, welches bloß bittere Gedanken wachruft … Mit der Gründung Rigas … befestigte sich der Standpunct der Deutschen in der Weise, daß sie alles Land und mit ihm alle Bewohner … zum Erbeigenthum erlangen, die Letten dagegen sind diejenigen, welche das Alles verlieren und zugleich damit ihre menschliche Freiheit. Wollten wir Letten … der Gründung der Stadt Rigas und ihrem Gründer-Jubilaren, dem Bischof Albert, zu Ehren ein Gesangsfest ausrichten, so hieße das soviel, als richteten wir eine Jubelfeier zur Erinnerung an das Ende der Freiheit des lettischen Volkes aus.«166 In die Ablehnung jeglicher lettischer Beteiligung an dem Fest floß auch die prorussische Orientierung des nationalkonservativen Flügels ein. Denn statt der Ankunft der Deutschen in der baltischen Region Tribut zu zollen, plädierten die Führer des Lettischen Vereins dafür, den Beginn der Zugehörigkeit der Region zu Rußland zu feiern und das geplante Sängerfest mit dem entsprechenden Jubiläum im Jahr 1910 zu verbinden: »In diesem Jahr feiert man das 700jährige Jubiläum Rigas, oder genauer, das Jubiläum der Stadtgründung durch den deutschen Bischof Albert, der einen ruhigen Handelsort in eine befestigte Stadt verwandelt hat. Die Deutschen in Riga sind der Meinung, daß alle in den Ostseeprovinzen dieses Fest feiern werden, doch man sollte nicht vergessen, daß es Albert war, der uns all das Unglück gebracht hat. Dabei markiert dieses Jahr vor allem die hundertste Wiederkehr der Thronbesteigung Alexander I., der uns die Freiheit geschenkt hat. Wir feiern unser Fest in neun Jahren, nämlich das 200jährige Jubiläum russischer Herrschaft in den Ostseeprovinzen. Was immer Albert Gutes getan hat, hat er mit ins Grab genommen. Doch die Früchte der kaiserlichen Güte genießen wir täglich.«167

Die konservative Deutung des »Fests eines Häuflein Deutscher zur Verherrlichung einer Zwingburg« stieß innerhalb des lettischen Milieus jedoch keineswegs auf ungeteilte Zustimmung.168 Der linke Flügel der Nationalbewegung reagierte auf das Konstrukt von der Gründung Rigas als Beginn der Unterjo166 Baltijas Vēstnesis Nr. 248, 1899, abgedruckt in: Düna-Zeitung 11.1.1900. 167 Baltijas Vēstnesis 20.1.1901. 168 Rigasche Rundschau 31.5.1901.

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chung einer freien Nation vielmehr mit dessen Dekonstruktion: »Die Erklärung der Geschichte (durch die pseudo-nationale Presse) ist sehr verwunderlich … Vor dem Hierherkommen der Deutschen gab es an den Ufern der Düna nur kahle Sandhügel, später erstand an ihnen eine blühende Stadt, die nicht anderen Vorfahren weggenommen, sondern neu gegründet wurde … Daß in Lettland eine 700jährige Knechtschaft geherrscht hat, ist ein unleugbares Factum, an welchem aber Riga am wenigsten schuld ist, dieses ist wohl eher als das Thor anzusehen, durch welches uns von Westen her die Bildung kam.«169 Auf die sozialistische Prägung der jungen Intellektuellen ging auch der Widerstand gegen die ausschließlich nationalen Argumentationskriterien zurück, welcher der nationalkonservative Flügel bevorzugte: »Der große Theil des lettischen Volkes hat die große Bedeutung … der Arbeit zu würdigen gelernt. Unter uns wird wenig danach gefragt, welcher Nationalität du bist, welcher Familie du angehörst, sondern nur danach, was du zu leisten imstande bist. Nur einzig und allein die Arbeit fällt ins Gewicht. Diejenigen, welche immer wieder das Volksthum im Munde führen, in Wahrheit aber wenig für dieses Volksthum gearbeitet haben, die sind es, die auf Abwege führen.«170 Einigkeit in der Frage der Festbeteiligung ließ sich im Vorfeld des Jubiläums nicht herstellen. Zwar schien der größere Teil des lettischen Milieus die Teilnahme durch ein Sängerfest gutzuheißen, doch der Lettische Verein setzte sich mit seiner Verweigerung schließlich durch. Daß der Disput über die Deutung des Jubiläums die ideologische Segmentierung des lettischen Nationalismus auch im kulturellen Bereich offen legte, wurde von beiden Seiten erkannt: »Auf die Anfragen an die Gesangsvereine auf dem Lande treffen gar verschiedene Antworten ein, mit Acclamation das Gesangsfest im Jahr 1901 begrüßende und solche, die sich strikt ablehnend verhalten. Die Nation ist somit in zwei Lager zerfallen und das ist schlimm. Man kann sich an den Gedanken nur schwer gewöhnen, daß, während ein Theil des Volkes jubelt und singt, der andere grollend und theilnahmslos bei Seite steht.«171 Die endgültige Entscheidung über Ablauf und Symbolik der Jubiläumsfeierlichkeiten lag beim deutschen Festkomitee, das sich 1899 konstituierte. Führende Vertreter aus Industrie und Handel, Repräsentanten der städtischen Gilden und Vereine sowie des Polytechnikums hatten sich zu dieser zeitraubenden, ehrenamtlichen Tätigkeit bereiterklärt. Die 48 Mitglieder des Komitees setzten sich zu 29% aus Industriellen, zu 23% aus Handel und Gewerbe, zu 17% aus dem neuen Mittelstand, zu 15% aus der freien Intelligenz, zu 10% aus Beamten und zu 6% aus Handwerkern zusammen; ein Viertel war zugleich Mitglied der Stadtverordnetenversammlung.172 Darunter befanden 169 170 171 172

Dienas Lapa 29.5.1901. Dienas Lapa 29.5.1901. Dienas Lapa, abgedruckt in: Düna-Zeitung 16.11.1899. Vgl. Scherwinsky, S. 23ff.

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sich der Professor des Polytechnikums, C. Lovis, der zugleich Miteigentümer der Maschinenfabrik Felser war, der Handwerkermeister Friedrich Brunstermann, der an der Spitze der Kleinen Gilde stand, der Rechtsanwalt Nikolai v. Klot sowie der Direktor der erfolgreichen Metallfabrik Pohle, Hans Jensen. Der Kaufmann S.P. Klimow und die Beamten N.N. Iwanov und P.M. Afrossimov waren die einzigen Russen, die Handwerker Nicolai Minuth und Nicolai Plawneeks die einzigen Letten im Komitee. Zur Unterstützung des Festkomitees wurden die beiden Gilden, das Börsenkomitee, der Gewerbeverein und weitere deutsche Vereine hinzugezogen. Mit deren Hilfe ließ sich die notwendige Garantiezeichnung von 150 000 Rubeln rasch erzielen, ohne daß die Stadt oder der Staat irgendwelche Mittel beigesteuert hätten. Das ehrenamtliche Engagement der lokalen Elite sowie die private Finanzierung des städtischen Ereignisses trägt einen zivilgesellschaftlichen Charakter, der Riga von den Traditionen innerrussischer Metropolen unterschied. Während städtische Großereignisse dort immer auch staatliche Veranstaltungen waren und entsprechend bezuschußt und gelenkt wurden,173 legte die Tradition ständischer Selbstverwaltung hier eher Distanz zum Staat nahe und ermöglichte eine unabhängige Inszenierung des städtischen Ereignisses. Auch dieser Aspekt der kulturellen Praxis weist erneut auf die enge Beziehung von Ständegesellschaft und Zivilgesellschaft hin, wie sie bereits auf der politischen Ebene sowie im städtischen Vereinsleben deutlich geworden ist. Mit ihrer Entscheidung, wie das Jubiläum begangen werden sollte, hatten sich die deutschen Eliten für eine Lösung ausgesprochen, die zwar spezifische Erinnerungen aktualisierte, deren Schwerpunkt jedoch auf der Betonung von Gegenwart und Zukunft lag: »Die Veranstalter (waren) bestrebt … drei Aufgaben zu kombinieren: Darstellung von Industrie und Gewerbe der Gegenwart, Anschauung der Merkzeichen der Culturgeschichte der Stadt, und Versammlungsort Rigas für die Jubiläumssaison.«174 Den Kernbestandteil der Jubiläumsfests machte eine großangelegte Baltische Industrie- und Gewerbeausstellung aus, welche die modernsten Maschinen und Produkte der städtischen und regionalen Wirtschaft präsentierte. Daneben trat eine kleinere Ausstellung, genannt Alt-Riga, die eine Rekonstruktion des Stadtkernes aus dem 17. Jahrhundert zeigte und dazu beitragen sollte, »ein Stück aus der Vergangenheit, ein Symbol des Werdens und Wachsens Alt-Rigas, in anschaulicher Plastik vor den Augen des Besuchers wieder lebendig« werden zu lassen.175 Den dritten Teil der Jubiläumsausstellung stellte schließlich die sogenannte Vogelwiese dar, ein Vergnügungsviertel 173 Vgl. beispielsweise Häfner, Städtische Eliten und ihre Selbstinszenierung. 174 Düna-Zeitung 23.6.1901. 175 Düna-Zeitung 3.9.1901.

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mit zahlreichen Animationen und Volksbelustigungen, das primär auf »die grosse Masse der Ausstellungsbesucher« zielte, wie der zeitgenössische Bericht über die Jubiläumsausstellung vermerkte.176 Bereits die feierliche Eröffnungsveranstaltung am 1. Juni 1901 machte deutlich, daß die Präsentation der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Stadt und Region auch dem Ziel diente, die durch die Russifizierung brüchig gewordene Verbindung zum Reich erneut zu stabilisieren. In Gegenwart aller städtischen Honoratioren, hochrangiger Vertreter der Regierung und zahlreicher Journalisten aus dem ganzen Reich betonte der Präses des Festkomitees, Prof. Carl Lovis, in seiner Eröffnungsansprache, welche starken Impulse gerade auch von der staatlichen Industriepolitik auf die lokale Industrie ausgegangen seien: »Riga ist in den letzten Jahrzehnten auch in die Reihe der Industriestädte eingetreten, in denen es unter dem Schutz unseres erhabenen Herrscherhauses und des mächtigen russischen Reiches seine maritime Lage zum besten der culturellen Weiterentwicklung der anliegenden Provinzen und des gesamten Reichs im Geiste unserer Zeit des Dampfes und der Electricität zu verwerten suchte.«177 Die Errungenschaften der wirtschaftlichen Modernisierung wurden den Besuchern in der Industrieausstellung präsentiert, die sich über große Hallen und Pavillons auf der Esplanade im Zentrum der Stadt erstreckte. Gepflegte Grünanlagen, Blumenschmuck und Restaurants aller Preisklassen verstärkten bei den russischen Journalisten den Eindruck einer perfekten, ›westlich‹ anmutenden Planung: »Bei längerem Aufenthalt sieht man sich unwillkürlich nach Aschenbechern auf dem Ausstellungsplatze um, weil man sich geniert, einen Papyrosstummel auf die sauberen Wege oder auf die tadellos gehaltenen Rasenplätze zu werfen.«178 Von den 785 Ausstellern kamen 76% aus Riga, 24% aus den übrigen baltischen Städten und vom Lande. Im Vergleich mit der Gewerbeausstellung des Jahres 1883 wurde deutlich, wie sehr sich die Herstellung industrieller Produkte mittlerweile nach Riga verschoben hatte.179 Dennoch dokumentierten die deutschen Veranstalter mit ihrer Entscheidung, nicht nur die Rigaer, sondern die baltische Industrie zu präsentieren, welche große Bedeutung sie der Region zumaßen und wie der Stolz auf die Stadt neben die Verbundenheit zur Region trat. Die Ausstellung selbst war ein Kaleidoskop technischen Fortschritts. Gegen ein Billet von 25 Kopeken konnten die Besucher in der Maschinenhalle 176 Scherwinsky, S. 245. 177 Rede von C. Lovis am 1.6.1901, abgedruckt ebd., S. 31f. 178 Bericht über die Jubiläumsausstellung, abgedruckt in: Eckhardt, Rigaer JubiläumsAusstellung, S. 36. 179 Vgl. Eckhardt, Rigaer Jubiläums-Ausstellung, S. 11–13; Auf der baltischen Gewerbeausstellung des Jahres 1883 waren Rigaer Firmen zu 57%, übrige baltische Firmen zu 43% vertreten gewesen.

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die Kühl- und Eismaschinen der Firma Felser betrachten,180 im Pavillon der Mühlgrabener Chemischen Fabriken AG wurde ihnen die Wirkungen von Superphospat erklärt,181 und in der Industriehalle waren die neuesten Salonwagen der Russisch-Baltischen Waggonfabrik ausgestellt.182 Die Tabakfirma Mündel & Co. hatte sich für die Präsentation einer lebenden Werkstatt entschieden, die das Publikum besonders begeisterte: »Beim rauchenden wie nichtrauchenden Publicum erregte das Vorführen der ganzen Herstellung ihrer Fabrikate (das größte Interesse). 6–8 Arbeiterinnen zeigten fast ununterbrochen mit großer Geschicklichkeit ihre Tätigkeit, die vortrefflich durch eine electrisch angetriebene Papyroshülse-Maschine unterstützt wurde.«183 Der in russischer, deutscher und lettischer Sprache vorliegende Ausstellungskatalog dokumentierte das Übergewicht industrieller Produkte, wogegen gewerbliche Exponate erheblich schwächer vertreten waren.184 Die Konsequenz dessen, daß primär deutsche Firmen in der Ausstellung präsent waren, wurde jedoch von der lettischen und russischen Öffentlichkeit nicht thematisiert. Vielmehr überwog in den Besucherkommentaren die technische Faszination, ein gemeineuropäisches Phänomen der Zeit, das durch die gleichzeitige Eröffnung einer elektrischen Straßenbahn, der ersten dieser Art in Rußland, noch verstärkt wurde. Rund 400 000 Menschen besuchten die Industrieausstellung während der Sommermonate 1901, ein unerwarteter Erfolg, der zugleich zeigte, daß das Bemühen der deutschen Veranstalter um eine nationsübergreifende Symbolik bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Resonanz stieß. Zwar hielt der konservative Flügel des lettischen Milieus daran fest, daß die deutsche Gründung Rigas auch die von Deutschen organisierte Jubiläumsausstellung diskreditiere, doch beim Gros der nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen überwogen Akzeptanz und Interesse: »Man muß anerkennen, daß diese Art der Feier eine glücklich gewählte ist. Die vor 700 Jahren stattgefundene Gründung Rigas ist ein historisches Ereignis, daher konnten die Ausrichter der Gedächtnisfeier gar leicht dazu verleitet werden, ihr Hauptaugenmerk vergangenen Zeiten zuzuwenden … Diese Steine des Anstoßes haben die Ausrichter der Feier ganz gewandt zu umgehen gewußt, indem sie die Ausstellung als den Haupttheil der Gedächtnisfeier hinstellten. Eine Ausstellung ist ja ein Kind der Neuzeit und unserem Jahrhundert ist es beschieden worden … Industrie und Handwerk auf eine Höhe zu heben, die in alten Zeiten undenkbar war. Und an diesen Erfolgen … hat nicht nur ein Teil der Bewohner, eine Nationalität, sondern haben alle Bewohner unserer Heimat, Deutsche, Russen, Letten und Esten 180 Gegr. 1874, im deutschen Besitz, 1 000 Arbeiter. 181 Gegr. 1892, in deutschem Besitz, 200 Arbeiter. 182 Gegr. 1869, deutsche, russische und jüdische Aktionäre, 4 500 Arbeiter. 183 Scherwinsky, S. 104. Die Firma Mündel & Co. war 1849 gegründet worden, im dt. Besitz, und beschäftigte 450 Arbeiter. 184 S. Katalog der Rigaer Jubiläums-Ausstellung.

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mitgewirkt. Daher gehört die Ausstellung nicht bloß einer Nation, sondern ganz Riga, ja allen Bewohnern des Baltenlandes.«185

Die positive Herausstellung der politischen Einbindung Rigas ins Reich, die durch die Festansprachen der Veranstalter, die Wahl des russischen Finanzministers Witte zum Ehrenpräsidenten der Jubiläumsausstellung sowie die ausgesucht sorgfältige Behandlung der zahlreichen russischen Ehrengäste und Journalisten zu vermitteln gesucht wurde, stieß auch im russischen Bürgertum Rigas auf Anerkennung. Die liberalen Wirtschaftsbürger, die dort den Ton angaben hatten die feinen Nuancen der Festsymbolik wohl registriert: »Die Rigaer Jubiläumsfestlichkeiten tragen einen deutschen Stempel. In der deutschen Färbung gibt es jedoch nichts, was auch nur irgendwie die empfindliche Prüderie der anderen nationalen Elemente der örtlichen Bevölkerung hätte reizen können. In politischer Hinsicht tragen die Festlichkeiten einen extrem loyalen Charakter. Trotz eifrigstem … Suchen nach Material zur Anklage auf politische Unzuverlässigkeit wird nichts gefunden werden, was den weitgehendsten Anforderungen an Loyalität widersprechen würde. Im Gegentheil, in die Augen springend war das offenbare Bestreben zu zeigen, daß die Cultur der betreffenden nationalen Eigenart vollkommen mit der Erfüllung der Pflicht und Schuldigkeit in politischer Hinsicht vereinbar ist.«186 Ähnlich wie im lettischen Milieu blieb der Versuch einer Nationalisierung der Erinnerung, welche die russische Tageszeitung ›Rižškij Vestnik‹ proklamierte, auch hier eine randständige Tendenz des schmalen rechtsnationalistischen Flügels, welche bei den liberalen Wirtschaftseliten kein Echo fand.187 Die Symbolik von wirtschaftlichem Fortschritt und politischer Integration ins Reich trug eher dazu bei, Deutsche und Russen einander näher zu bringen.188 Kontroverser reagierten die Besucher auf den zweiten, kleineren Teil der Jubiläumsausstellung, das sogenannte Alt-Riga, das eine Nachbildung des frühneuzeitlichen Stadtkerns darstellte. Entsprach eine solche Vergegenwärtigung der Vergangenheit zwar dem Geist der Zeit und hatte in Gestalt ei185 Balss, Nr. 23, 3.6.1901 Vgl. ähnlich Dienas Lapa 29.5.1901: »Die Hauptausstellung auf der Esplanade … können wir Letten mit noch ganz anderen Gefühlen betrachten, denn sie ist mit unseren eigenen Interessen aufs Innigste verknüpft. Sie läßt in keinerlei Weise die Vermuthung auf kommen, daß eine Nation sich von der anderen trennen wolle. Alles gründet sich auf Einigung, auf Harmonie … Vergebens spürst Du nach einer bestimmt ausgesprochenen nationalen Färbung, du findest nur Arbeit, Arbeit und wiederum Arbeit, die die Menschheit vereinigt und die Nationen einander nähert.« 186 Pribaltiskij Kraj 25.6.1901. 187 S. Rižskij Vestnik, abgedruckt auch in: Düna-Zeitung Nr. 94, 26.4.1901. Vgl. auch Pribaltiskij Kraj 25.6.1901. 188 Vgl. auch die Zusammenstellung des russischen Presseechos unkatalogisiert in der Raritätenabteilung der Latvijas Akadēmiska Biblioteka, Riga (LAB).

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nes Alt-Paris auf der Pariser Weltausstellung im Jahr zuvor Besucherströme angezogen, so war die Integrationskraft dieses Symbols in einer Stadt vielfältiger nationaler Traditionen, wie Riga sie aufwies, begrenzter. Denn genau an jene Vergangenheit, die den ständischen Alltag von Deutschen und ›Undeutschen‹ aktualisierte, wollten keinesfalls alle ethnischen Gruppen erinnert werden. Das rekonstruierte Rathaus lieferte zwar den Deutschen einen willkommenen Anlaß, sich voller Stolz die Burspraken ins Gedächtnis zu rufen, jene öffentlichen Verlesungen der städtischen Gesetze, welche die jahrhundertelange rechtliche Autonomie Rigas dokumentierten. Die Letten verknüpften dagegen mit demselben Symbol die rechtliche und soziale Ungleichheit der vergangenen Ordnung.189 Daher avancierte Alt-Riga vornehmlich zum Treffpunkt der deutschen Gesellschaft und blieb trotz des geringen Eintrittspreises von 25 Kopeken mit 99 000 Besuchern der am schwächsten besuchte Teil der Jubiläumsausstellung.190 Zu ausgeprägt war die Begeisterung der Zeitgenossen für den technischen Fortschritt, zu deutlich verwies die Symbolik Alt-Rigas auf die ständische Ordnung der Vergangenheit, deren Aktualisierung nur im deutschen Milieu positive Assoziationen weckte. Den nichtdeutschen Mitgliedern der multiethnischen Stadtgesellschaft bot dieses Symbol dagegen kaum einen Bezugspunkt. Die Vogelwiese, ein Vergnügungsviertel mit Schaustellern und Volksbelustigungen, zog das Publikum dagegen in Massen an. Für ein Billet von nur zehn Kopeken gab es hier eine Imitation Venedigs zu bewundern; wer wollte, konnte sich von italienischen Gondolieri den Stadtkanal entlang rudern lassen oder eine amerikanische Rutschbahn ausprobieren. Auch die Nachstellung des Burenkriegs mit lebenden Darstellern oder die Rekonstruktion eines afrikanischen Dorfs schien die Besucher gefangengenommen zu haben. Die Intention der Veranstalter, »dem Publikum neben der Darstellung cultureller und industrieller Erzeugnisse auch angenehmen Aufenthalt und Unterhaltung zu bieten« war mit der Errichtung der Vogelwiese durchweg aufgegangen.191 Rund 300 000 Menschen besuchten während der Sommermonate 1901 diesen Teil des Jubiläumsfests, der weder ein bestimmtes Geschichtsbild vermittelte noch eine Vision der Zukunft entwarf, sondern ganz dem Genuß der Gegenwart gewidmet war.

189 Vgl. Baltijas Vēstnesis Nr. 128, 21.6.1901: »Von der neuen Stadt gehen wir über die Vogelwiese in die alte Stadt, nach ›Alt-Riga‹ … Alles, was man hier sieht, kann das Auge nicht erfreuen, so dunkel, so kalt, so eng… Welch riesiger Unterschied tut sich zwischen dem alten und dem neuen Riga auf. Dort ist alles so eng und dunkel, hier ist alles so breit und schön. Es lebe das neue Riga und danken wir Gott dafür, daß wir nicht mehr in dem alten Riga leben müssen.« 190 Vgl. Eckhardt, Rigaer Jubiläums-Ausstellung, S. 23. 191 Düna-Zeitung 8.6.1901.

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Seinen offiziellen Höhepunkt fand das Rigaer Stadjubiläum in den Festlichkeiten, zu denen die Stadt Ende Juni 1901 einlud. Auf öffentliche Festzüge oder Bankette war verzichtet worden, doch den einzigen Festakt der Saison hatte die Stadtverwaltung auf den Tag der Sommersonnenwende gelegt, ein Datum, das als ›Ligo‹ den Höhepunkt des lettischen Festkalenders markierte. Einem morgendlichen Festgottesdienst folgte ein einstündiges Bläserkonzert von den Kirchtürmen der Stadt. Der öffentlichen Bitte um Ausschmückung der Häuser war man in der Innenstadt nachgekommen, und auch das Gebäude des Lettischen Vereins war schließlich mit Laub und Blumen bekränzt worden. Abends hatte die Stadtverwaltung zu einem Wasserfest eingeladen, das weite Teile der Bevölkerung anzog. Wer keinen Zugang zu einem der vielen geschmückten Schiffe und Boote hatte, bevölkerte den Quai und genoß das abendliche Schauspiel aus Wasserkorso, Feuerwerk und Gesang.192 Der Zulauf zu den gebotenen Attraktionen war groß, Massen säumten die Uferpromenaden und Bootsstege, und der Aufruf der rechtsnationalistischen Presse, auch dieses Fest zu boykottieren, war ungehört verhallt, wie die liberale russische Tageszeitung Pribaltiskij Kraj betonte: »Am 22. Juni war das Dünaufer, die Straßen, Plätze und Gärten sowie auch die Ausstellung von einer großen Menschenmenge ausgefüllt, in der auf Schritt und Tritt russische, estnische oder lettische Laute zu hören waren, wobei die Leute verschiedener Stände, die sich in den obenerwähnten Sprachen unterhielten, weder einen verbitterten, noch … finsteren Ausdruck zur Schau trugen. Die Boykottierung der Jubliäumsfeier, die russische, lettische und estnische Ultranationalisten gepredigt hatten, ist folglich nicht gelungen.«193 Mit der groß angelegten Feier des 700-jährigen Stadtjubiläums, die im August 1901 zu Ende ging, hatten die Rigaer Deutschen ihre gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, kulturellen Leitbilder und politische Loyalität symbolisch zu vermitteln gesucht. Die gewählte Symbolik blieb jedoch vieldeutig und machte die Jubiläumsausstellung zum Gegenstand eines Deutungskampfs, der zugleich die Grenzen ihrer Integrationskraft zeigten. Mit dem Kernelement der Jubiläumsfeier, der Baltischen Industrieausstellung, verfolgten die deutschen Eliten ein doppeltes Ziel. Zum einen verdeutlichte die Summe der Exponate den Auf bruch in die industrielle Moderne, dem sich das deutsche Wirtschaftsbürgertum mit ganzer Kraft verschrieben hatte. Hier präsentierte es sich als erfolgreiche Unternehmerschicht, ganz im Einklang mit dem Fortschrittsoptimismus der Epoche. Mit der Bejahung der industriellen Moderne verbanden die Veranstalter zum anderen den Versuch einer Denationalisierung der Zukunft. Das national indifferente Symbol industriellen Fortschritts war bewußt als Integrationssymbol gedacht, welches 192 Vgl. Düna-Zeitung 25.6.1901. 193 Pribaltiskij Kraj 25.6.1901.

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nationale Spannungen nach Möglichkeit neutralisieren sollte.194 Die symbolische Industrialisierung der Gesellschaft sollte nationale, kulturelle und soziale Unterschiede einebnen und die heterogene Bevölkerung auf den anationalen Zukunftsentwurf einer erfolgreichen Wirtschaftsgemeinschaft verpflichten. Daß die Vorreiterrolle dabei primär dem deutschbaltischen Bürgertum zugedacht war, wurde mit der technischen und kulturellen Leistungsfähigkeit dieser Gruppe begründet, die zu einer solchen Führung berechtige. Neben die Zukunftsvision einer anationalen Fortschrittsgesellschaft trat die Vergegenwärtigung der ständischen Vergangenheit. Denn mit der Präsentation Alt-Rigas wurde erneut demonstriert, was ›deutsche Kultur‹ in den Ostseeprovinzen geleistet habe, wurden ständische Traditionslinien symbolisch in die Gegenwart verlängert und die Selbstdarstellung, welchen die Industrieausstellung erprobte, wieder relativiert. Die Gleichzeitigkeit von Fortschrittsoptimismus und Vergangenheitsorientierung, die in den gewählten Symbolen zutage trat, verweist auf den Übergang zwischen ständischer Ordnung und bürgerlicher Klassengesellschaft, in dem sich das deutsche Stadtbürgertum befand und den es entsprechend nach außen symbolisierte. Neben den gesellschaftlichen Ordnungsentwurf einer anationalen Wirtschaftsgemeinschaft trat die Akzentuierung politischer Bindungen. Im Gegensatz zur Generation jener, die in den 1870er und 1880er Jahren die politische und kulturelle Autonomie der Provinzen gegenüber dem Staat zu verteidigen suchten, hatte der ökonomische Erfolg des deutschen Wirtschaftsbürgertums seit den 1890er Jahre eine neue politische Loyalität gegenüber dem russischen Reich bewirkt. Hatten die Russifizierungsmaßnahmen das Band zwischen Reich und Region zeitweilig gelockert, lag den liberalen Eliten jetzt daran, es durch symbolische Akte neu zu festigen. So trat neben den Stolz auf die Stadt und die Verbundenheit mit der Region, welche die Ausstellung symbolisierte, auch die Loyalität zum Reich, die in feinen Nuancen öffentlich zelebriert wurde. Damit machte die Jubiläumsausstellung deutlich, daß Stadt, Region und Reich auch nach der Erfahrung der Russifizierung die zentralen politischen Bezugspunkte des deutschen Milieus darstellten. Die Integrationskraft dieser Selbstdeutung war jedoch begrenzt. Die Besucherzahl von rund 400 000 Menschen, weit mehr als Riga an Einwohnern aufwies, zeigt zunächst, daß der Präsentation technischen Fortschritts, begleitet von populärem Amüsement, ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Über die Rezeption der von den Initiatoren erhofften Denationali194 Vgl. Düna-Zeitung 31.5.1901: »Die Ausstellung soll ein Zeugnis von dem wirtschaftlichen Können Rigas und der Ostseeprovinzen ablegen. Es ist ein patriotisches Werk, das mit allen Kräften unterstützt werden muß … Und zwar gilt dieser Appell für alle Bewohner unserer Heimat, ohne irgendwelchen Unterschied der Nationalität. Deutsche, Russen, Letten und Esten sollen sich hier auf friedlichem Wege vereinigen. Nicht trennen, sondern vereinigen soll die Ausstellung!«

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sierung der Zukunft im Zeichen von Fortschritt und Wachstum sagt dieser Besucherrekord aber noch nichts aus. Wer sich dem deutschen Integrationsangebot öffentlich verweigerte, war vor allem der konservative Flügel des lettischen Milieus. Auf den deutschen Versuch einer Neutralisierung der Zukunft antworteten lettische Nationalisten vielmehr mit einer Nationalisierung der Erinnerung, die jegliche Beteiligung am Fest der Deutschen diskreditiere. Diese Haltung blieb jedoch keineswegs unumstritten. Denn der linke Flügel des Milieus reagierte auf die Stadtgründungsmythen der Konservativen mit deren Dekonstruktion und stand der Präsentation sozioökonomischer Leistungsfähigkeit positiv gegenüber. Auch das russische Bürgertum Rigas fühlte sich vom anationalen Integrationsangebot einer erfolgreichen Wirtschaftsgemeinschaft durchaus angezogen, zumal die Demonstration politischer Loyalität zum Reich ihren Wünschen besonders entgegenkam. Dennoch scheint die Jubiläumsfeier für den Großteil der Besucher nicht mehr als ein gelungenes Tageserlebnis abgegeben zu haben. Zur Aneignung der offerierten Symbolik, wie sie die Selbstzeugnisse aus dem deutschen Milieu bezeugen, kam es bei Letten und Russen nicht.195 Zwar entzog sich der Inhalt der Ausstellung ethnischen Kategorien, doch Urheberschaft, Planung und Organisation bestätigten erneut die angestammte Herrschaft der Deutschen. Mochte das Aufgebot technischer Leistungsfähigkeit auch nationsübergreifend gedacht sein, war es doch von Deutschen für Letten und Russen, nicht aber mit ihnen geplant und realisiert. Der aktiven Partizipation der Deutschen stand vielmehr die passive Perzeption der übrigen Bevölkerungsgruppen gegenüber, was mit dazu beitrug, eine Aneignung der symbolischen Aussage von Regionalisierung und Denationalisierung zu verhindern. Weder vermochte die Jubiläumsfeier die bestehenden politischen Spannungen abzuschwächen, die 1905 mit aller Macht auf brechen sollten, noch ließen sich kulturelle Differenzen zwischen Deutschen und Letten dadurch entschärfen. ›Shared means‹ implizierten hier keineswegs ›Shared meanings‹, und symbolische Deutungen mündeten in abweichender Wahrnehmung und Interpretation. Den Deutschen ermöglichte das Jubiläumsfest die öffentlichkeitswirksame Darstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Stadt und Region, womit auch die Verbindung zur Regierung und dem lokalen russischen Bürgertum symbolisch gefestigt wurde. Für den Grossteil der multiethnischen Stadtbevölkerung war die Jubiläumsausstellung bei aller Begeisterung für die zeitgenössische Technik ein Unternehmen der Deutschen, dessen gesellschaftliche Botschaft ohne Wirkung blieb und dessen Integrationskraft über das gelungene Tageserlebnis nicht hinausreichte. 195 Vgl. z.B. die Erinnerungen Bielenstein, Häuser, S. 59ff.; Seraphim, Arbeit, sowie Ronis, 700 gadu svinibas, und die entsprechenden Berichte in der lettischen und russischen Tagespresse.

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3. Die Deutungsoffenheit des Denkmals: Peter der Große 1910 als Föderalist, als Westler, als Eroberer? Im Juli 1910 wurde im Zentrum Rigas eine mächtige Reiterstatue Peter des Großen enthüllt. Zar Nikolai II., begleitet von seiner Familie und großer Entourage, sowie der russische Ministerpräsident Stolypin nahmen an der festlichen Zeremonie teil, mit der die 200jährige Zugehörigkeit Livlands zum Russischen Reich gefeiert wurde. Enthusiastisch hielt die Tagespresse das spektakuläre Schauspiel fest: »Es war ein wundervolles Bild, das sich jetzt entrollte. Die ordensübersääten Uniformen der hohen Würdenträger, die scharlachrote Montur der Leibkosaken Ihrer Majestäten und die blendend hellen Toiletten der zahlreichen Damen auf der imposanten Tribüne vereinigten sich mit der Farbenpracht der Fahnen- und Blumendekorationen zu einem Gesamtbild von stärkster Wirkung … In feierlicher Prozession zog die orthodoxe Geistlichkeit … vor das verhüllte Denkmal. Der feierliche Gottesdienst währte bis 10 Minuten nach 12 Uhr, worauf die Hülle des Denkmals fiel und das auf rotem Granitsockel montierte Bronzestandbild Peter des Großen frei und lichtumflutet dastand. Der Erzbischof vollzog hierauf die Weihe des Denkmals, von allen Türmen der Stadt läuteten die Glocken und auf der Esplanade sowie auf den Kriegsschiffen im Hafen wurde Salut gefeuert.«196 Am Nachmittag des Festtags empfing Nikolai die Vertreter lokaler Vereine und ständischer Institutionen im festlich geschmückten Schloß. In silbernen Schüsseln überreichten die Repräsentanten der beiden Gilden, des Fabrikantenvereins und der russischen Kaufmannschaft Salz und Brot, ein traditioneller Brauch, dem auch die Vertreter des Lettischen Vereins und der jüdischen Bildungsgesellschaft, der altgläubigen Grebenčikovschen Anstalt und vieler weiterer Vereine folgten.197 Ein Gartenfest für die angereisten Würdenträger und die Spitzen der lokalen Gesellschaft schloß sich an, gefolgt vom Besuch des Zaren in städtischen Schulen und Kirchen. Den ereignisreichen Tag beendete eine Soiree im Haus der livländischen Ritterschaft, der die Damen in großer Toilette sah, und der auch Nikolai II. und Stolypin zu später Stunde noch die Ehre erwiesen. Als der Zar sich schließlich auf seine Yacht zurückbegab, illuminierte ein Feuerwerk Stadt und Fluß, und Menschenmassen drängten sich an den Kaimauern, um einen Blick auf das erleuchtete Schiff der kaiserlichen Familie zu werfen. Die Presse aller ethnischen Gruppen überbot sich nach der Abreise des Zaren in Schilderungen, welche Begeisterung der hohe Besuch bei der lokalen Bevölkerung hervorgerufen habe und wie sehr die Loyalität zur Dyna196 Rigaer Neueste Nachrichten 5.7.1910. 197 Vgl. Kaisertage in Riga, S. 4.

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stie die heterogene Gesellschaft »zu einer großen Familie« verbunden habe: »In gemeinsamer festlicher Begeisterung sahen wir bei der Rigaer Feier auch Esten, Letten und Polen. Zusammen mit der russischen Bevölkerung, unseren Altgläubigen und den Deutschen … sind alle diese Nationalitäten in einer einmütigen Begrüßung des Allrussischen Monarchen zusammengeschmolzen.«198 Doch der Eindruck der Harmonie täuschte. Die Errichtung des Peter-Denkmals, dessen Einweihung im Mittelpunkt des Zarenbesuchs stand, hatte einen Deutungsstreit zwischen Deutschen, Letten und Russen entfacht, der weit über die historische Persönlichkeit Peters hinausreichte. Die Frage, wie der Zar erinnert wurde, mündete vor dem Hintergrund der aktuellen Politik vielmehr in unterschiedlichen Entwürfen zur Gestaltung der politischen Zukunft. Konnte dynastische Loyalität dort noch verbinden, wo ethnische Zuschreibung immer stärker polarisierte? Und implizierten ähnliche Deutungen der Vergangenheit auch gemeinsame Ansprüche an die Zukunft? Oder diente die historische Erinnerung als Waffe, um den Gegner zu schwächen und die Grenzen des Milieus geschlossen zu halten? Während das Stadtjubiläum im Jahr 1901 zur Diskussion des Verhältnisses zu Stadt und Region provoziert hatte, entzündete sich am Denkmal Peter des Großen eine Debatte um den jeweiligen Bezug zu Staat und Monarchie. Zwischen beiden Ereignissen lagen tiefe Brüche. Die Revolution von 1905 hatte die Konflikte zwischen Deutschen und Letten zur Explosion gebracht, aber auch die Grenzen der lettischen Loyalität zum Reich deutlich gemacht. Das Oktobermanifest schrieb erstmals eine vorsichtige Konstitutionalisierung fest und machte den Untertanen zum Staatsbürger mit politischen und bürgerlichen Rechten.199 Inwieweit veränderten diese Zäsuren das Verhältnis von Deutschen, Letten und Russen zu Monarchie und Reich? Und welche Rolle sollte der eigenen Gruppe in einem konstitutionalisierten Rußland zukommen, wie die Gestaltung der politischen Zukunft aussehen? Noch immer herrscht in der Forschung die Vorstellung eines »Völkergefängnisses« vor, das die nichtrussischen ›Nationalitäten‹ des Reichs mit Rußland verbanden, und entsprechend einflussreich ist die These Theodor Schieders geblieben, im Osten Europas habe sich ein Sezessionsnationalismus entwickelt, dessen Träger auf Trennung vom Reich und auf nationale Selbständigkeit drängten.200 Auch von den Deutschen in der baltischen Region wurde behauptet, sie hätten nach dem Trauma der Revolution ›the Road from Tsar to Kaiser‹ betreten und auf den Anschluß an das wilhelminische Kaiser198 1. Zitat in Rižskaja Mysl’ 5.7.1910, 2. Zitat in Golos Moskvi, abgedruckt in: Rigasche Zeitung 8.7.1910; ähnlich Rigasche Rundschau 5.7.1910. 199 Vgl. zur Debatte um den Scheinkonstitutionalismus zusammenfassend Hildermeier, Wie weit kam die Zivilgesellschaft?, S. 125ff. 200 Vgl. Schieder, Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaats.

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reich gesetzt.201 Die diskursive Auseinandersetzung ebenso wie die kulturellen Praktiken, welche die Errichtung des Peter-Denkmals in Riga begleiteten, können zur Klärung dieser Fragen beitragen, denn die Interpretation der Vergangenheit lieferte Deutschen, Letten und Russen gleichermaßen einen Anlaß, ihr Verhältnis zum russischen Staat in der Gegenwart zu definieren.

Abb. 12: Das Denkmal Peter des Großen in Riga 1910 (Postkarte: I. Štamgute, Rīga)

Die Initiative zu einem Denkmal Peters des Großen, das »der Erinnerung an die im Jahr 1710 erfolgte Vereinigung Livlands und Rigas mit dem russischen Reich« dienen sollte,202 war von der livländischen Ritterschaft ausgegangen, in welcher der grundbesitzende Adel Livlands organisiert war. Die Rigaer Stadtverordnetenversammlung, um Beteiligung gebeten, hatte das Projekt im 201 Vgl. Lundin. 202 Ausschreibung für das Denkmal, Fonds 2821, apr. 1, Nr. 1, LVVA.

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Oktober 1908 einstimmig befürwortet und die Führung übernommen. Ein Denkmalkomitee wurde einberufen, das sich aus dem livländischen Gouverneur Nikolaij Zvegincev, den Vertretern der Gilden, des Börsenkomitees und des Rigaer Stadtamts sowie aus dem Bürgermeister George Armitstead und zwei adligen Mitgliedern der Ritterschaft zusammensetzte. Deutsche dominierten das Komitee, Russen waren nur wenige, Letten gar keine vertreten. Die livländische Ritterschaft hatte sich bereit erklärt, 18 000 Rubel der geschätzten Kosten von 50 000 zu übernehmen. Die Stadtverwaltung steuerte 28 000 Rubel bei, und der Rest sollte durch Spenden aufgebracht werden. Der Spendenaufruf, welcher hervorhob, daß »der großmütige und weitblickende Herrscher (dem Land) die Möglichkeit gewährte, sein eigenes kulturelles Leben zu entwickeln«, fand ein überaus positives Echo.203 Livländische Städte wie Fellin und Dorpat, ständische Organisationen wie die adlige Güterkreditsozietät oder die Große Gilde, Rigaer Banken und Unternehmen wie die Gummifabrik Rossia oder die Ilguziemsche Bierbrauerei waren ebenso unter den Spendern wie die Rigaer jüdische Bildungsgesellschaft, die russische Altgläubigengemeinde oder die deutsche Schwarzhäupterkompagnie.204 Zusammen kam schließlich eine Summe von 40 000 Rubeln, was den zur Verfügung stehenden Gesamtbetrag auf 86 000 Rubel erhöhte und die ursprünglich projektierte Summe erheblich überstieg. Die Tatsache, daß keinerlei staatliche Hilfe nötig war, um ein so kostspieliges Projekt zu finanzieren, wurde auch von der kritischen Hauptstadtpresse als überraschender Beleg für die monarchische Loyalität der Ostseeprovinzen betrachtet.205 Ähnlich wie die Inszenierung des Stadtjubiläums verweist auch die Finanzierung des Peter-Denkmals auf das erhebliche zivilgesellschaftliche Potential, das dieses lokale Engagement kennzeichnete. Der oberste Repräsentant des Staates sollte in Namen der ganzen Stadt geehrt werden, doch staatliche Hilfe schlossen die adlig-bürgerlichen Initiatoren dabei aus. Vielmehr verstand sich die lokale Gesellschaft als Gegengewicht zum Staat, als autonome Veranstaltung, die noch dann Distanz zum Staat hielt, als sie dessen ersten Vertreter auf den Sockel zu stellen gewillt war. Auf die öffentliche Ausschreibung für das Denkmal liefen 58 Entwürfe primär deutscher und russischer Bildhauer im Laufe des ersten Halbjahrs 1909 ein.206 Damit sich das Publikum ein eigenes Bild machen könne, wurden sie von der Stadt öffentlich ausgestellt. Die deutsche Öffentlichkeit sprach sich eindeutig für einen Entwurf des reichsdeutschen Bildhauers Hugo Lederers aus, der Peter nicht als Eroberer, sondern in der Pose 203 204 205 206

Spendenaufruf in Fonds 2821, apr. 1, Nr. 2, LVVA. Fonds 2821, apr. 1, Nr. 1, 3, LVVA. Vgl. Golos Moskvi, abgedruckt in: Rigasche Zeitung 8.7.1910. Fonds 2821, apr. 1, Nr. 1, LVVA; Peterdenkmalkonkurrenz in Riga.

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des nachdenklichen Staatsmanns zeigte, und plädierte dafür, »Peter zu ehren, »indem wir ihn hier in unserer geliebten Vaterstadt durch dieses nicht kriegerische, sondern rein geistige Denkmal einreihen unter die großen Geistesheroen der Welt.«207 Dennoch entschied sich die Jury für einen anderen Entwurf. Zur Ausführung kam eine konventionelle Reiterstatue des Berliner Bildhauers Gustav Schmid-Cassel, betitelt ›Krieg und Frieden‹, die mehr den Feldherrn als den Staatsmann hervorhob. Aufgestellt sollte das Denkmal an einem der zentralsten Plätze der Stadt werden, wo die mittelalterliche Altstadt an die Jugendstilpalais des Anlagenrings stieß – eine Ortsentscheidung, mit der die Stadtverwaltung den hohen Stellenwert monarchischer Repräsentation auch räumlich bekräftigte. Die umfangreichen Vorbereitungen auf den Zarenbesuch, in dessen Mittelpunkt die Einweihung des Denkmals stand, führten dazu, daß sich das Interesse der lokalen Öffentlichkeit zunehmend der Rolle der Monarchie in Geschichte und Gegenwart zuwandte. Entsprechend begannen ihre intellektuellen Protagonisten mit der Arbeit am Gedächtnis, nämlich einer Debatte über die geschichtliche Bedeutung Peters des Großen, in die zugleich Ordnungsentwürfe für die Gestaltung der Gegenwart eingingen. Auslöser dieser Diskussion waren zunächst die Vertreter des deutschen Milieus, von dem auch der Gedanke zu dem Denkmal ausgegangen war. An Peter I. hoben sie zunächst seine Bedeutung als ›Westler‹ hervor. Diese Lesart erforderte wenig Konstruktionsarbeit, konnte vielmehr unmittelbar an Peters Absicht anknüpfen, Rußland zu europäisieren.208 Gut ließ sich die Westorientierung des großen Zaren auch mit der eigenen Leitvorstellung ›deutscher Kultur‹ verbinden, da der Erhalt des deutschen Schulwesens auch ein Instrument des petrinischen Europäisierungsstrebens gewesen war. Daß Peter selbst sich von seinen baltischen Eroberungen eine Öffnung nach Westen erhoffte, lieferte den geeigneten Anlaß, die Kontinuität dieser Öffnung auch für die Zukunft anzumahnen: »Wenn auch die neuen Zeitverhältnisse manches Schwere mit sich brachten … so ging doch durch die Stadt als Grundstimmung die Überzeugung, daß Peter nicht nur ihre Eigenart mit Wohlwollen betrachtete, sondern vielmehr den vorgefundenen Kulturzustand in Stadt und Land zu fördern bestrebt gewesen sei. Wußte er doch, welch reiche Quellen von Bildungsmitteln sich ihm zur Europäisierung Rußlands eröffneten … Weil das so war, ist Peter der Große populär geworden wie kein anderer Fürst.«209 207 Rigasche Rundschau 2.6.1909. 208 Vgl. Wittram, Peter I.; zur Frage der variierenden Bedeutungszuschreibungen des Zaren vgl. Riasanovsky; Cross. 209 Mettig, Erinnerungen an Peter den Großen, S. 30. Vgl. ebd., S. 5: »In Reval und Riga werden Standbilder dem großen Zaren errichtet, der den Wunsch … der für das Wohl Rußlands bedachten Fürsten, baltisches Küstenland als Brücke zum Verkehr mit dem Westen zu

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In den Mittelpunkt der deutschen Interpretation rückte aber die Darstellung Peters als Garant kultureller und rechtlicher Autonomie. In der Tat hatten die Unterwerfungsverträge von 1710 und 1721 die ständische Selbstverwaltung Livlands und Estlands weitgehend unangetastet gelassen und den deutschen Ständen die Freiheit des evangelischen Glaubens und die Erhaltung des deutschen Schulwesens gewährt.210 Auch die Stabilisierung des Adelsregiments sowie die Umwandlung Rußlands vom orthodoxen Zarenreich zum interkonfessionellen Imperium waren Errungenschaften gewesen, von denen die baltischen Deutschen besonders profitiert hatten. Entsprechend leicht fiel es daher dem konservativen Flügel des deutschen Milieus, mit der Deutung der Kapitulationen als ›freiwilliger Vereinbarung‹ ein historisches Konstrukt der Vergangenheit aufleben zu lassen: »So war Riga und Livland dem großen Zaren untertan geworden. Nicht aber aufgrund einer Eroberung, sondern aufgrund freier Vereinbarung mit gegenseitigem ehrlichem Überkommen für Gegenwart und Zukunft.«211 Liberale Vertreter wie Paul Schiemann bevorzugten hingegen eher die Interpretation Peters als ›Föderalist.‹ Der historischen Realität entsprach aber auch diese Version nur bedingt, denn Peters Ziel eines modernen Machtstaats war eher von zentralisierenden Reformen der Verwaltung, des Steuerwesens und der Wirtschaft begleitet gewesen. Die Sonderbehandlung Livlands und Estlands war dabei dem Bedürfnis nach qualifizierten Untertanen geschuldet, die zur Europäisierung des Reiches beitragen könnten, nicht aber einer föderalen Reichsvorstellung. Doch die Akzentuierung des ›Föderalisten‹, wie willkürlich diese Einordnung auch sein mochte, entsprach den Interessen der Gegenwart. Denn die föderale Gestaltung Rußlands, die sich die Rigaer Deutschen wie die meisten nichtrussischen Bevölkerungsgruppen vom Oktobermanifest des Jahres 1905 erhofft hatten, war nur in Ansätzen erfolgt und stand gerade 1910 wieder ernsthaft zur Disposition. Die russische Regierung, unterstützt von der rechten Dumamehrheit, hatte die kulturelle und politische Eigenständigkeit Finnlands im Mai 1910 massiv beschnitten. Gleichzeitig waren in den Westprovinzen des Reichs sogenannte nationale Wahlkurien eingeführt worden, wodurch die politische Macht der wenigen Russen sowie der Ukrainer und Weißrussen gewinnen, in großartiger Weise erfüllte und die Grundlage der evangelisch-deutschen Kultur zum Wohle der neugewonnenen Provinzen und des russsischen Reiches sicherte.« 210 Vgl. Schirren, Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft. 211 Rigasche Zeitung 3.7.1910. Vgl. auch Rede B. Hollanders, Peter der Große und Livland, gehalten am 22.5.1910 auf dem Festakt der Schulen des Deutschen Vereins in Livland, in: Kalender der deutschen Vereine 1911, S. 36: »Adel und Bürgertum … wollten doch nicht eher eine Kapitulation eingehen, ehe ihnen die Aufrechterhaltung ihrer heiligsten Güter gewährleistet worden waren: der evangelische Glaube, die deutsche Muttersprache, das angestammte Recht.«

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überproportional gestärkt und die der Polen erheblich geschwächt wurde.212 Die immer nationalistischer geprägten Debatten in der Reichsduma ließen Ähnliches auch für die nordwestliche Peripherie des Reiches befürchten, weshalb das Verhältnis nichtrussischer Minderheiten zur russischen Staatsnation zunehmend ins Zentrum der lokalen Debatte geriet: »Für uns handelt es sich gerade in diesen Erinnerungstagen in erster Linie um die Frage: wie wird sich das Reich, wie wird sich die Regierung zu den kulturellen Ansprüchen des Landes stellen?«213 Aus deutscher Perspektive war die eigene Loyalität zu Monarch und Reich, welche die Rigaer ›Kaisertage‹ so augenscheinlich demonstrierten, durch die Konstitutionalisierung erheblich verstärkt worden und damit die beste Grundlage, den baltischen Provinzen eine vergleichbare kulturelle Autonomie zuzugestehen, wie Peter das seinerzeit getan habe.214 Über die ethnozentrische Argumentation deutscher Konservativer, die kulturelle Autonomie nur für sich selber forderten, ging vor allem Paul Schiemann hinaus, indem er diese Forderung im Namen aller nichtrussischen Bevölkerungsgruppen stellte. Die in den finnischen und polnischen Provinzen sichtbar gewordene Beschränkung politischer und kultureller Eigenständigkeit könnten dem loyalen Geist der baltischen Bevölkerung nur abträglich sein: »Der wahrhaft patriotische Geist, das selbstverständliche Zugehörigkeitsgefühl zum gemeinsamen Vaterland, es ist daher erst mit der kaiserlichen Anerkennung der Gleichberechtigung aller russischen Staatsbürger bei uns wiederhergestellt worden. Mit dieser Verfassungsreform gleichzeitig aber eine Degradierung der baltischen Nichtrussen zu Staatsbürgern zweiter Klasse zu verbinden, wäre ein Verbrechen gegen den Gedanken gesunder Staatlichkeit und eine Untergrabung der auf den Festtagen der jüngsten Vergangenheit offenbarten Resultate.«215 Diskurs und Festpraxis, welche die Denkmalserrichtung begleiteten, unterstreichen noch, worauf bereits die Analyse des Stadtjubiläums wie der 212 Vgl. Asher, Stolypin, S. 327ff. 213 Rigasche Rundschau 10.7.1910. 214 Vgl. dazu Rigasche Rundschau 10.7.1910: »Die Kundgebungen der offiziellen und privaten Vertreter der Bevölkerung, die Äußerungen der Presse verschiedenster Zunge haben es unzweifelhaft erkennen lassen, daß das Gefühl der Zusammengehörigkeit zum russischen Reiche bei uns kraftvoll und stark ist und wir uns mit vollem Bewußtsein und gerne als Bürger Rußlands fühlen und in politischer Beziehung keinerlei Sonderstellung beanspruchen. Die Treue zum Monarchen, die politische Zuverlässigkeit ist allerdings zu allen Zeiten dieselbe gewesen, aber russisch-staatsbürgerliche Gesinnung gab es vor nicht langer Zeit bei uns in viel geringerem Maße. Wie konnte auch ein deutscher oder lettischer Untertan sich mit Genugtuung als russischer Staatsbürger fühlen, wenn er nicht wie sein russischer Mitbürger das Recht hatte, in seiner Muttersprache zu lernen, wie sein orthodoxer Mitbruder seinen Glauben frei zu bekennen, wie er im eigenen Lande dem Staate zu dienen.« 215 Ebd.

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Deutschen Vereine hingewiesen hat, daß nämlich die These eines deutschen Loyalitätswechsels nicht haltbar ist. Nicht nur die Spitzen der deutschen Gesellschaft verwandten größte Mühe und erhebliche Kosten auf die Repräsentation monarchischer Loyalität, auch die breitere deutsche Bevölkerung trug aktiv dazu bei, den Zarenbesuch durch Vorführungen und Delegationen, Häuserschmuck und individuelle Geschenke festlich zu gestalten.216 Der Deutsche Verein Rigas unternahm große Anstrengungen, durch Ehrenwachen und andere Praktiken seine Bindung an die Dynastie symbolisch zu bekräftigen. Von der Konstitutionalisierung des Reichs wie von der erfolgreichen Industrialisierung der Region waren positive Impulse ausgegangen, die sich mit der traditionellen monarchischen Treue zu einer erneuten Bekräftigung deutschbaltischer Loyalität zu Dynastie und Reich verbanden. Auch im lettischen Milieu wurde die Deutung der Vergangenheit, zu der das Denkmal aufrief, von den Interessen der Gegenwart geformt. Dem konservativen Flügel der lettischen Nationalbewegung diente der festliche Anlaß zunächst als Gelegenheit, die lettische Loyalität zur Monarchie nach der Revolution neu zu beweisen. Seinen Vertretern wie Fricis Veinbergs, dem Präses des lettischen Hausbesitzervereins, und Fricis Grosvalds, dem Vorsitzenden des Lettischen Vereins, war es gelungen, das seit langem geplante Sängerfest mit dem 200jährigen Jubiläum der baltischen Zugehörigkeit zum Reich zu verbinden und als Loyalitätskundgebung für das Kaiserhaus zu inszenieren: »Wir haben das Sängerfest nur als Erinnerung an den Anschluß gefeiert, um zu zeigen, daß die Letten der Befreiungsbewegung und der Revolution keine Symphatien entgegenbringen. Wir lehnen diese Politik ab … denn nur diejenigen, die keine politischen Intentionen haben, sondern sich auf die Kultur konzentrieren, können das lettische Volk vereinen.«217 Mit 3 000 Sängern und rund 100 000 Zuhörern stellte das fünfte Letttische Sängerfest die größte nationale Manifestation seit der Revolution dar. Die Heraushebung der kulturellen Eigenständigkeit, die Peter der Große der Region und damit auch den Letten ermöglicht habe, erforderte von den konservativen Nationalisten jedoch erhebliche Konstruktionsarbeit, da die historische Realität kaum eine Handhabe dafür bot. Im Gegenteil, die Stabilisierung der deutschbaltischen Adelsherrschaft durch Peter I. hatte die Abhängigkeit der lettischen Landbevölkerung im 18. Jahrhundert noch verschärft. Doch indem die Gewähr kultureller Eigenständigkeit, die Peter der Große den deutschen Ständen zugesichert hatte, jetzt kurzerhand auf die baltische Gesamtbevölkerung projiziert wurde, gelang es, den Zaren auch

216 Vgl. u.a. v. Bulmerincq, Lebenserinnerungen, S. 30f.; Kaisertage in Riga; Kalender der Deutschen Vereine 1910. 217 Majas Viesis 30.6.1910; ähnlich auch 14.7.1910.

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als Freund der Letten hinzustellen und das positive Verhältnis zur Monarchie mit historischem Alter zu legitimieren.218 Neben dem Föderalisten hoben konservative Letten in Peter dem Großen ebenso den westlich orientierten Herrscher hervor. Ähnlich wie die Deutschen sahen auch sie darin einen Anknüpfungspunkt, der ihre eigene Stellung innerhalb des Reiches nur stärken konnte: »Der Anschluß an das Reich war für das baltische Gebiet von großer Bedeutung, denn er eröffnete den Weg nach Europa. Mit seinem genialen Blick in die Zukunft wußte Peter, was das Land brauchte. Seit dieser Zeit ist das lettische Schicksal mit dem russischen verbunden … Peter öffnete das Fenster nach Europa, wo er in der westlichen Kultur die Vorbilder für Rußland sah … Wir hoffen sehr, daß dieses Ideal auch in anderen russischen Herrschern erhalten bleiben möge.«219 In der Deutung Peters als Westler und föderal eingestelltem Staatsmann herrschte zwischen konservativen und demokratischen Letten Konsens. Doch während die Konservativen daraus die Notwendigkeit kultureller Autonomie in der Gegenwart ableiteten, gingen die Vertreter des demokratischen Flügels weiter. Indem sie an Peter vor allem seine Reformfreudigkeit herausstellten, suchten sie auch die aktuelle Forderung nach politischer Selbstverwaltung historisch zu legitimieren: »Wir führen heute einen Kulturkampf, der nicht mehr mit Speeren, sondern mit dem gedruckten Wort geführt wird, der sich der Schulen, Vereine, Kongresse und Ausstellungen bedient. Obwohl einige Zeichen darauf hindeuten, daß wir Letten diesen Kampf gewinnen, so gibt es doch keinen Grund für einen Traum vom leichten Sieg … Werden wir die für das baltische Gebiet notwendige Reformen erhalten oder nicht? Werden wir als Nation anerkannt, die auf eigenen Beinen stehen kann oder sind wir auch in Zukunft auf die Barmherzigkeit anderer Völker angewiesen?«220 In den Kommentaren der Demokraten trat eine erhebliche Distanz zur Regierung zutage, die aber noch keine Distanz zum Reich implizierte. Ähnlich wie die Deutschen führte der demokratische Flügel der lettischen Nationalisten die Loyalität der Massen als Beweis an, daß das lettische Volk für weitere politische Rechte reif sei: »Worüber alle Fremden reden, das ist das ruhige, disziplinierte, ganz kultivierte Verhalten der Volksmassen während der ganzen Festzeit … Warum soll man diese Leute, die sich so vernünftig 218 Vgl. Majas Viesis 14.7.1910. 219 Majas Viesis 30.6.1910. Vgl. auch Dzimtenes Vēstnesis 3.7.1910: »Was aber das alte Rußland nicht vermochte, das schuf nach entsprechenden Reformen das neue Reich unter dem genialen Peter. Der neue Herrscher begriff, daß er ohne Auf klärung und allein mit rücksichtsloser Macht nicht viel gewinnen konnte. Er war der erste Zar, der die Grenzen seines Reiches überschritt und Kurland und Livland besuchte … Sein größtes Verdienst war das Fenster nach Europa, durch das Licht und die Schätze der geistigen und weltlichen Kultur in das dunkle, wenig aufgeklärte Land strömten.« 220 Arveds Bergs in Dzimtenes Vēstnesis 10.7.1910.

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verhalten, die sich so ordentlich aufführen, von der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ausschließen? Mit einem Worte: der Eindruck, den man bei den Festlichkeiten von unserer Volksmenge gewinnen konnte, konnte nur zu dem Endurteil führen, daß … es hier weite Kreise gibt, die für Selbsttätigkeit vollkommen reif sind und daß darum die künftigen Reformen auf breiter Grundlage einzuführen sind.«221 Bei aller Kritik an der Regierung lagen auch dem demokratischen Flügel des lettischen Milieus Sezessionsabsichten fern. Doch während konservative Letten nur für kulturelle Rechte wie muttersprachlichen Schulunterricht und den Gebrauch des Lettischen in der Verwaltung und vor Gericht plädierten, pochte die demokratische Linke auf die egalitäre Ausweitung politischer Partizipation und eine weitgehende lettische Selbstverwaltung innerhalb eines demokratisierten Reichs. Jegliche Legitimität sprachen der Monarchie nur die lettischen Sozialdemokraten ab, die überwiegend illegal agierten. Geschwächt von den Massenverhaftungen und -erschießungen nach 1905 war ihre Basis in Riga so fragil geworden, daß keinerlei öffentlicher Protest organisiert werden konnte. Ähnlich wie 1901 reagierten die Sozialdemokraten auf die konservativen Konstrukte einer prolettischen Politik Peters mit deren Dekonstruktion und kritisierten, daß »Peter I. mit dem Anschluß Livlands an Rußland alle Forderungen des deutschen Adels erfüllte und diejenigen Privilegien erneuerte, die während der schwedischen Herrschaft beschnitten worden waren.«222 Während des Zarenbesuchs verteilte das sozialdemokratische Zentralkomitee rund 10 000 Exemplare der Flugblatts ›Nieder mit dem Zarismus!‹, das aber in der allgemeinen Euphorie bei der Bevölkerung kaum Beachtung fand: »Der Zarismus hat keine und kann keine Zukunft haben. Wir leben in einer Zeit, wo die Altäre der Priester und die Kronen der Herrscher zu schwanken beginnen und brechen.«223 Zwar waren die lettischen Sozialdemokraten die einzigen, die sich während der Festtage öffentlich gegen Zar und Reich stellten, doch auch sie verfolgten keine eigentlichen Sezessionsabsichten. Nicht die Trennung von Rußland, sondern die nationale Autonomie innerhalb eines sozialistischen Staates, ein ›freies Lettland in einem freien Russland‹ blieb ihre Devise. Stumm verhielten sich lange jene Mitglieder der multiethnischen Gesellschaft, deren Stellung das Denkmal und der Zarenbesuch am meisten begünstigte: die Rigaer Russen. Zwar herrschte in der russischen Öffentlichkeit Einigkeit, daß das bevorstehende Ereignis besonders geeignet sei, die russische Präsenz in der Region herauszuheben, nachdem Stadtjubiläum und Sängerfest der erfolgreichen Selbstinszenierung von Deutschen und Letten gedient 221 Arveds Bergs in Dzimtenes Vēstnesis, in Rigasche Zeitung 14.7.1910. 222 Caru Romānovu jubilejai. 223 Caru Romānovu jubilejai, S. 7. Ähnlich Ciņa 1.9.1910; Jaunā Dienas Lapa 28.6.1910.

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hätten. Doch von den vielen Vorschlägen, die in der lokalen Öffentlichkeit ventiliert wurden, gelangte keiner zur Ausführung. Weder kam es zum Bau eines russischen ›Volkshauses‹, noch gelang die Umbenennung des Uferkais nach Peter dem Großen. Am Desinteresse der lokalen Gesellschaft und an der Uneinigkeit der führenden Vereine scheiterten auch kleinere Vorhaben, eigens komponierte Kantaten vor dem Zaren zur Aufführung zu bringen. Als sich wenige Wochen vor dem Besuch noch immer kein Konsens über die Vorbereitungen herstellen ließ, reagierte die liberale ›Rižskaja Mysl’‹ mit Empörung: »Es ist eine Schande, wenn wir, die russischen Rigenser, bei diesem Anlaß nicht als eine einheitliche Kraft auftreten in just diesen Tagen, die den Anfang der Verbindung der Region mit Rußland darstellen. Früher war es möglich, daß die Russen sich hier einigten. Wir hoffen sehr, daß das Fest zur Einigung der Russen beiträgt und einer erneuerten Gemeinschaft den Weg bereitet, deren Fehlen in der letzten Zeit die Entwicklung der russischen Gesellschaft gebremst hat, von der jedoch unsere Erfolge in diesem Gebiet abhängen.«224 Die organisatorische Schwäche des russischen Milieus sollte sich in der entscheidenden Stunde wiederholen. Denn der extra gefertigte silberne Kranz, den die russischen Vereine dem Zaren zu Füßen legen sollten, war im milieuinternen Kompetenzgerangel vergessen worden. Bei der feierlichen Enthüllung des Denkmals standen ihre Vertreter als einzige ohne jedes Symbol der Ehrerbietung da, was sie zum Gespött der lettischen und deutschen Öffentlichkeit machte.225 Erst die lebhafte Auseinandersetzung der Deutschen und Letten mit den historischen Errungenschaften Peters des Großen forcierte vor Beginn der Festlichkeiten auch eine russische Stellungnahme, die aber blaß blieb. Aus liberaler Sicht lag Peters Bedeutung vor allem in seiner Leistung, Rußland europäisiert zu haben. Gerade das Zusammentreffen mit nichtrussischen Gruppen wurde von einer lokalen Jubiläumsschrift als positive Leistung geschildert, die zur Modernisierung des Reiches wesentlich beigetragen habe: »Peter war der erste Zar-Befreier der russischen Nation, da er alle dazu einlud, unabhängig von ihrer Herkunft gemeinsam für das Wohl des Staates zu arbeiten und jedem seinen entsprechenden Verdienst zukommen ließ … Rußland mußte sich nicht wegen der Kontakte zu Fremdstämmigen schämen, sondern vielmehr deswegen, weil 224 Rižskaja Mysl’ 1.6.1910. 225 Vgl. Rigasche Neueste Nachrichten 8.7.1910. »Der Streit (zwischen den hiesigen russischen Vereinen) dauerte den ganzen Winter über in so scharfer Form, daß die Vereine die Ausführung dieser schönen Projekte verspäteten und sich damit begnügen mußten, eine Deputation zwecks Überreichung von Salz und Brot und Niederlegung eines silbernen Kranzes am Peterdenkmal zu wählen. Aber am Tage der Enthüllung des Denkmals hat diese Deputation es vergessen, den Kranz am Denkmal niederzulegen. Er schmückte noch vorgestern das Schaufenster des Juweliers Weissagers, bis er dann endlich gestern nach dem Hause des ›Ulei‹ transportiert wurde.«

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diese Kontakte so vereinzelt und spärlich waren, es mußte sich nicht wegen fremden Wissens und fremder Erfindungen schämen, sondern aufgrund seiner eigenen Unkenntnis und der Finsternis seiner Vergangenheit.«226 Der nationalkonservative Flügel des russischen Milieus stellte hingegen einen Aspekt in den Vordergrund, den Deutsche und Letten bisher ausgeblendet hatten, nämlich Peters Bedeutung als Eroberer. Von einer zeitgenössischen Studie, die der Russische Bildungsverein anlässlich des Jubiläums herausgab, wurde die Eroberung der Ostseeprovinzen im Nordischen Krieg als notwendige Rückgewinnung russischen Landes gedeutet, mit welcher der historische Missionsauftrag Rußlands im Nordosten Europas eingelöst sei.227 Auch das war ein Geschichtsbild, das der vergangenen Wirklichkeit nicht entsprach, sich aber gut in die Bedürfnisse der Gegenwart einfügte. Tatsächlich hatte Peter der Große mit der Eroberung Livlands und Estlands von Territorien Besitz ergriffen, die niemals russisches Land, sondern allenfalls russisches Eroberungsziel seit Ivan IV. gewesen waren. Slawophile Lieblingstopoi, daß die baltischen Städte schon im Mittelalter russischen Fürsten tributpflichtig gewesen wären und die lettische Bevölkerung ohnehin der Orthodoxie zugeneigt habe, unterstützten diese Version noch, die auch bei liberal eingestellten Russen auf Akzeptanz stieß.228 Die Kapitulationen, mit denen Peter der Große den deutschen Ständen die Aufrechterhaltung ihrer Sprache, ihres Glaubens und ihrer Verwaltung zugesichert hatte, paßten dagegen weniger in das Bild des siegreichen Eroberers, der angestammtes Terrain für Rußland zurückgewann. Die vorteilhafte Behandlung der Deutschen war ein Aspekt der petrinischen Herrschaft, der gerade deshalb von nationalkonservativen Russen ausgeblendet wurde. Denn das Interesse der russischen Rechten richtete sich nach 1905 vor allem darauf, den Primat ethnischer Russen an der multiethnischen Peripherie politisch durchzusetzen. Mit der Einführung nationaler Wahlkurien war das in den Westprovinzen des Zarenreichs gelungen und die nationalistische Gruppe um Ivan Vysockij hoffte, dasselbe nun auch in den Ostseeprovinzen zu erreichen. Ähnlich wie bei Deutschen und Letten war die Deutung der Vergangenheit auch im russischen Milieu von der politischen Gegenwart geformt. Stellten die Rigaer Deutschen in Peter dem Großen bevorzugt den Garanten kultureller Autonomie heraus, favorisierten Letten vor allem den Westler, so akzentuierten nationalkonservative Russen am liebsten den siegreichen Eroberer, der Russlands ›natürliche‹ Grenzen wieder für das Reich in Besitz genommen habe. Es war die Deutungsoffenheit des Denkmals, welche die Variationsbreite dieser Geschichtsbilder erst ermöglichte. 226 Ivanov, S. 98f. 227 Vgl. Sivickij. 228 Vgl. Rižskij Vestnik 11.1.1910, 16.1.1910. 7.5.1910.und v.a. 16.6.1910.

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Der ohne jeden Zwischenfall verlaufene Besuch des Zaren, die glänzende Inszenierung der Denkmalsenthüllung, die vollendete Etikette der städtischen Gesellschaft und die Begeisterung der Bevölkerung hatte die tiefen Gräben zwischen den ethnischen Gruppen Rigas kurzfristig überdeckt. Der Diskurs über das Denkmal, welcher das gesellschaftliche Großereignis begleitet hatte, legte jedoch offen, weshalb auch die Loyalität zur Dynastie, die den Großteil der städtischen Gesellschaft prägte, keine Basis der Verständigung mehr abgab. Mit der Hervorhebung Peters als Westler und Föderalist, die Deutsche, Letten und liberale Russen gleichermaßen präferierten, verknüpften sie zugleich die Forderung nach kultureller Autonomie der nichtrussischen ›Nationalitäten‹ innerhalb eines dezentralisierten Reichs. Lettische Demokraten gingen darüber noch hinaus und nahmen das Ereignis zum Anlaß, auch nationale Selbstverwaltung im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie zu fordern. Beide Ziele hatten jedoch keine sezessionistischen Absichten, wollten Reformen unterschiedlicher Reichweite vielmehr im Rahmen des bestehenden Reiches durchführen. Der föderalen Interpretation des großen Zaren stellten nationalkonservative Russen dagegen die Aktualisierung des Eroberers entgegen, die aber ebenso von den Interessen der Gegenwart geformt war. Denn ihnen ging es darum, die nationalistische Politik der russischen Regierung, die in Finnland und den Westprovinzen gerade durchgesetzt worden war, jetzt auch auf die Ostseeprovinzen zu übertragen und den ethnischen Russen in der multiethnischen Peripherie eine politische Vormachtsstellung einzuräumen, die weder von ihrer Zahl, noch von ihrem tatsächlichen Einfluß gedeckt war. Die Deutungsoffenheit des Denkmals hatte zu solcherart variierenden Interpretationen geradezu eingeladen. Doch nicht einmal die gleiche Lesart der Vergangenheit konnte in vereinten Ansprüchen an die Gegenwart münden. Zwar würdigten Deutsche wie Letten in Peter I. vor allem den Garanten kultureller Autonomie, doch den Anspruch einer solchen Autonomie in der Gegenwart erhoben sie jeweils getrennt. Indem kulturelle Autonomie in der multiethnischen Gesellschaft Rigas jeweils nur für die eigene Gruppe gefordert wurde, gerann eine allgemeine Idee erneut zum partikularen Interesse. Nur einzelne Intellektuelle wie Paul Schiemann durchbrachen diese ethnozentrische Schallmauer und formulierten das gleiche Ziel im Namen aller. Das Gros der städtischen Gesellschaft beharrte jedoch auf der ethnischen Monopolisierung dieses überethnischen Ordnungsentwurfs, weshalb auch die gemeinsame Loyalität zur Dynastie zwischen Deutschen und Letten nicht mehr zu vereinen imstande war.

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4. Die Konkurrenz um Verortung: Raumentwürfe zwischen ›baltischen Provinzen‹ und ›Latvija‹ 1850–1918 Am 10. September 1917, kurz nachdem deutsche Truppen Riga besetzt hatten, richteten die lettischen Parteien eine Resolution an den deutschen Militärgouverneur, in der mit aller Schärfe darauf hingewiesen wurde, daß »das lettische Volk nach wie vor den Standpunkt der Unteilbarkeit Lettlands, des Selbstbestimmungsrechts des Volkes und der Selbstverwaltung vertritt.«229 Im März 1918, als außer Kurland auch ganz Livland und Estland unter deutscher Besatzung standen, sandte der vom deutschbaltischen Adel dominierte kurländische Landesrat eine Depesche an Wilhelm II., in der darum gebeten wurde, Kurland, Estland und Livland zu einem »gesamtbaltischen Staat, der mit Deutschland in Personalunion verbunden sei« zusammenzufügen.230 Hinter den konträren Raumvorstellungen eines ›baltischen Staats‹ und eines ›Lettlands‹ standen indes keineswegs nur akute Probleme der Gegenwart, vielmehr prallten hier Deutungen aufeinander, die weit in die Vergangenheit zurückreichten. Entsprechend wiesen bereits die Zeitgenossen darauf hin, daß »die Frage der ›Selbstbestimmung‹ des Baltikums unvergleichlich älter (ist) als die Frage der Selbstbestimmung Lettlands. Es besteht eben eine scharfe historische Kollision dieser beiden Probleme.«231 Trotz der Bedeutung, die dem Gebrauch unterschiedlicher Raumvorstellungen nicht nur in Krisenzeiten wie dem Ersten Weltkrieg, sondern bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zukam, existiert bis heute keine Untersuchung über die neuzeitlichen Raumbegriffe der baltischen Region.232 Weder in der deutschen noch in der lettischen Historiographie nach 1945 wurde die Erfindung und Konstruktion der beiden zentralen Begriffe ›baltische Provinzen‹ und ›Latvija‹ thematisiert; die einzige etymologische Studie über das Wort ›baltisch‹ ist eine entlegene literaturwissenschaftliche Arbeit aus dem Jahr 1953.233 Dieser Forschungsstand spiegelt zum einen die ethnozentrische Verengung beider Historiographien wider, welche Gegenstände, die der Legitimation des eigenen Tuns dienen, als ›Realitäten‹ wahrnehmen wollten, nicht aber als soziale Konstruktion in Frage zu stellen suchten. Zum anderen ist das Interesse an der räumlichen Dimension histo229 Germanis, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, S. 45. Hervorhebung UvH. 230 Mitausche Zeitung 10.3.1918; Hervorhebung UvH. Vgl. auch Stopinski; Volkmann, S. 120; Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 527. 231 Laika Domas, 1918, S. 52ff.; zitiert nach: Dopkewitsch, S. 112. 232 Wo im Folgenden auf den zeitgenössischen Gebrauch des Wortes ›baltisch‹ Bezug genommen wird, werden Anführungszeichen benützt, wo dies nicht der Fall ist, erscheint das heute geläufige und anders konnotierte Adjektiv ohne solche im Text. 233 Svennung.

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rischer Prozesse selbst eine vergleichsweise neue Entwicklung.234 Angestoßen von der Erfahrung, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs europäische Räume entlang neuer Grenzkategorien denken zu müssen, interessieren sich heute unterschiedliche Forschungsdisziplinen dafür, welche Vorstellungen menschliche Gruppen sich von ihrer räumlichen Umwelt machen, wie sich »Individuen ein subjektives inneres Bild von ihrer unmittelbar erfahrbaren räumlichen Umgebung schaffen.«235 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die konkurrierenden Gruppen Rigas mit der Ausarbeitung spezifischer »mental maps«, die dasselbe Terrain unterschiedlich vermaßen und deuteten. Entwarfen die deutschen Eliten einen ›baltischen‹ Raum, so arbeiteten lettische Nationalisten am Entwurf einer ›Latvija.‹ Von besonderem Interesse ist daher, wie diese unterschiedlichen Kartographien jeweils entstanden und popularisiert wurden. Wie waren die Raumbegriffe inhaltlich gefüllt, und lässt sich ein Wandel der Bedeutungen beobachten? Ebenso interessiert, welche Kategorien der jeweiligen Grenzziehung dienten und welche Interessen dahinter lagen. In welchem Verhältnis standen dabei Realität und Wunschvorstellung, was war von Fakten gedeckt, was erfunden, was konstruiert? Die radikale Politisierung beider Begriffe im Krieg lässt es sinnvoll erscheinen, den zeitlichen Rahmen hier bis 1918 zu spannen, um den Bedeutungswandel hin zur Staatsbezeichnung nachzeichnen zu können. Über den singulären Fall hinaus lässt sich an der Entwicklung kollektiver Raumvorstellungen zeigen, daß nicht nur politisch-soziale Leitbegriffe als Seismographen krisenhafter Veränderungen wirkten, sondern auch Raumbegriffe normativ aufgeladen waren und die spezifischen Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen sprachlich widerspiegelten.

›baltisch‹: Erfindung und Popularisierung von 1850 bis 1881 »Diese neue Ära, der wir zuversichtlich entgegensehen, soll nirgend mit den geheiligsten Traditionen der Vergangenheit brechen … soll durch das frische Wehen des Zeitgeistes zu reicher Blüthe und Entfaltung gelangen. Ständischer und provinzieller Partikularismus sollen in ihrer unberechtigten Selbstherrlichkeit fallen: die verwandten Elemente der drei baltischen Provinzen sollen sich ungefesselt gegenseitig durchdringen und läutern können. Riga ist die stolze Aufgabe vorbehalten, die Trägerin, der Vereinigungspunkt seiner bisher auseinander gehenden Interessen zu werden: kommt es dieser Aufgabe 234 Vgl. GG, Jg. 28, 2002, Mental Maps; s. dort Christoph Conrad (Hg.), Vorbemerkung, S. 339ff.; sowie Wolfe; Osterhammel, Entzauberung Asiens; Todorova. 235 Schenk, S. 495.

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in rechter Weise nach, dann kann es in einem höheren und vollkommeneren Sinne Das werden, was es bisher nur in beschränkter Bedeutung gewesen: der Vorort der Baltischen Provinzen.«236 Als Julius Eckhardt diese politische Zukunftshoffnung 1866 formulierte und an eine neuartige räumliche Vorstellung band, war der Begriff ›baltisch‹ noch wenig populär und jenseits der Ostseeprovinzen weitgehend unbekannt. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse der zweiten Jahrhunderthälfte zwangen die deutschen Eliten jedoch zur Erfindung einer kognitiven Karte, die bald über die regionale Öffentlichkeit hinaus Wirkung zeigte. Die Existenz ›baltischer Provinzen‹ war nach der Jahrhundertwende auch in Westeuropas gebildeter Gesellschaft zu einer Selbstverständlichkeit geworden, ›baltisch‹ zur geläufigen Raumbezeichnung avanciert. Grundlegend für das Auf kommen des neuen Begriffs war zunächst die Entstehung einer überprovinzialen deutschsprachigen Öffentlichkeit. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte ein starrer Partikularismus die deutschen Eliten der russischen Ostseeprovinzen geprägt. Die Zugehörigkeit zur Provinz, die in der üblichen Selbstbezeichnung als Kurländer, Livländer oder Estländer ihren Ausdruck fand, war entscheidend, der Bezug zur Region dagegen schwach und ohne tiefere Bedeutung. Entsprechend stellte der deutsche Reiseschriftsteller J.G. Kohl in seiner zeitgenössischen Beschreibung 1840 fest: »Sie haben freilich alle, die Est-, Liv- und Kurländer, in Sitte, Sprache, Wesen und Denkungsweise etwas Gemeinsames, welches sie uns, wenn sie bei uns erscheinen, als Ostseeprovinzianer erkennen lässt … Im Lande selbst aber erscheinen die letzteren (Unterschiede) so groß, dass nicht nur sehr scharf hervortretende provinzielle Gegensätze, sondern auch sogar bedeutend starke gegenseitige Abneigung und sogar eine Art nationellen Hasses daraus entsteht.«237 Diese Trennung kennzeichnete auch die zeitgenössische Presse, und bis zum Ende der 1850er Jahre hatte allein die ›Inländische Wochenschrift für Liv-, Est- und Kurland‹ über alle drei Provinzen berichtet, indes streng getrennt und ohne jede Kritik an der ständischen Herrschaft des deutschbaltischen Adels. Mit der Gründung einer ›Baltischen Monatsschrift‹ im Jahr 1859 wollten bürgerliche Liberale diese provinziale Beschränktheit überwinden und die Ausbildung einer kritischen regionalen Öffentlichkeit vorantreiben: »Der Name, den diese Zeitschrift sich gegeben, ist eine Vorbedeutung für die gesamte Entwicklung der folgenden Jahrzehnte gewesen. Dieser erste Versuch, die alte Beschränktheit des specifisch rigaschen, livländischen, estländischen und kurländischen Partikularismus zu durchbrechen, das Zusammengehörigkeitsgefühl dessen, was von je zusammenge236 Julius Eckhart, Riga, in: Stavenhagen, S. 12 237 Kohl, Deutsch-Russische Ostseeprovinzen, 430.

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hörte, zu wecken und die lebendigen Kräfte der Heimat um eine Fahne zu sammeln, hat andere, folgenreichere Versuche nach sich gezogen.«238 Auf der Suche nach einem passenden Begriff, der die angestrebte Einheit der drei Provinzen einprägsam verdeutlichen könne, waren deutsche Intellektuelle in der Vergangenheit fündig geworden. Der Gelehrte Adam v. Bremen hatte in seiner 1075 verfaßten Geschichte der Hamburger Erzbischöfe erstmals den Begriff eines ›baltischen‹ Meerbusens, eines mare balticum, verwandte: »Jener Busen wird von den Anwohnern der baltische genannt, weil er sich in Gestalt eines Gürtels weithin durch die scythischen Gegenden … ausdehnt.«239 Dem lateinischen Wort für Gürtel (balteus), das Adam v. Bremen benutzte, entsprach in den nordischen Sprachen ›Belti‹, im Dänischen ›Belte‹ sowie im Schwedischen ›Bälte‹. Während damit bisher nur die dänischen Meerengen bezeichnet worden waren, verwandte Adam von Bremen mare balticum erstmals für die gesamte Ostsee, deren wahre Ausdehnung er freilich nicht kannte und irrtümlich bis nach Griechenland ansetzte.240 Auch der Herausgeber der ›Baltischen Monatsschrift‹, Georg Berkholz, musste zugeben, daß der Begriff »weit entfernt davon war, schon ursprünglich unseren Gegenden eigen gewesen zu sein … vielmehr an dem uns entgegengesetzten anderen Ende des auch unsere Küsten bespülenden Meeres entstanden ist.«241 Doch die politische Notwendigkeit eines übergreifenden Raumbegriffs ließ die Übertragung der mittelalterlichen Meeresbezeichnung auf die Ostseeprovinzen legitim erscheinen: »Steht uns kein historischer Rechtsanspruch zur Seite, so können wir unser Ziel auch ohne einen solchen zu erreichen suchen … Das Entscheidende in allen solchen Fällen ist am Ende denn doch nur das praktische Bedürfnis … Da aber ist es nun eben der Fall, dass die durch unsere drei Provinzen dargestellte historisch-politische Einheit eines neuen Gesamtnamens … bedarf.«242 Diente der neue Name den deutschbaltischen Eliten zunächst dazu, eine regionale Öffentlichkeit zu propagieren, ging damit auch eine spezifische politische Aufladung einher. Denn hinter der ›Baltischen Monatsschrift‹ stand eine Gruppe von Männern, die ihr auf Fortschritt gerichtetes Programm als Gegensatz zur Besitzstandswahrung des konservativen Adels verstanden und dabei vor dem perhorreszierten Begriff einer liberalen ›Partei‹ nicht zurückschreckten.243 Die bürgerlichen Publizisten stellten vor allem drei Probleme 238 Anfänge der Baltischen Monatsschrift, S. 541–552. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Programm der Baltischen Monatsschrift, abgedruckt in: Das Inland. Eine Wochenschrift für Liv-, Est- und Kurlands Geschichte, Geographie, Statistik und Literatur, Bd. 24 (1859), Nr. 15. 239 Zitiert nach Berkholz, Baltisch, S. 525; vgl. auch Svennung, S. 24ff. 240 Vgl. Svennung, S. 48, 92f. 241 Berkholz, Baltisch, S. 528. Hervorhebung im Original. 242 Ebd., S. 528. 243 Vgl. Diederichs, S. 123–152.

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öffentlich zur Debatte: eine Reform der Agrargesetzgebung, die den Bauern das Recht auf Landkauf gab, die Abschaffung des alleinigen Güterbesitzrechts des Adels sowie eine durchgreifende Justizreform, die Administration von Rechtssprechung trennte und die ausschließlich adlige Besetzung der Richterposten abschaffte. Mit dem Eintreten für Reformen, die im Verständnis der Zeitgenossen liberal konnotiert waren, bewirkte die ›Baltische Monatsschrift‹ zugleich eine spezifische politische Aufladung der räumlichen Bezeichnung: ›Baltisch‹ avancierte zunächst zum Fortschrittsbegriff. Zur Popularisierung der neuen Bezeichnung trug ebenso der Reformschub in jenen beiden Nachbarstaaten bei, deren Einfluß auf die Ostseeprovinzen am stärksten war: Deutschland und Russland. Der Blick nach Westen, der für deutschbaltische Intellektuelle selbstverständlich war, zeigte eine ›Gesellschaft im Auf bruch‹, geprägt von regem Liberalismus und der Neukonstituierung von Parteien, von wirtschaftlichem Wachstum und der öffentlichen Diskussion der nationalen Frage.244 Auch im Osten Europas standen die Zeichen auf Reform, und während der Staat Bauernbefreiung, lokale Selbstverwaltung und Justizreform vorantrieb, rief ein nationaler Diskurs in der Presse eine russische Öffentlichkeit hervor.245 Von diesen Entwicklungen profitierte auch die Reformbewegung in den Ostseeprovinzen, die statt des nationalen Banners die Region zum Ausdruck von Auf bruch und Veränderung machen wollte: »Auch in unseren Provinzen machte die politische Erstarrung des letzten Jahrzehnts einem frischen Aufschwung Platz … in weiten Kreisen erwachte die Erkenntnis von notwendigen Reformen auf fast allen Gebieten des provinziellen Lebens … Die damals in ganz Europa, besonders in Deutschland wie in Russland die Geister beherrschenden liberalen Tendenzen gewannen auch bei uns volle Macht über die Geister … Man empfand das dringende Bedürfnis, sich über die wichtigen innenpolitischen Fragen in gründlichen Erörterungen auszusprechen.«246 Die neue russische Öffentlichkeit war zwar zunächst Vorbild gewesen, doch sollte sie zunehmend zum größten Feind der baltischen Regionsbildung werden. Denn die anfänglich liberale Ausrichtung der russischen Publizisten wurde nach dem polnischen Aufstand von 1863 von nationalen Argumenten überlagert, welche die politische Integration nichtrussischer Völker, zumal der Polen und der Deutschen, als unzulänglich ansahen. Immer wieder warnte Michail Katkov in den ›Moskovskie Vedomosti‹ vor einem deutschbaltischen Separatismus, den auch der zur Schau getragene Reichspatriotismus kaum mehr verdecken könne. »Für sie existiert Russland nur als rußländisches Imperium und nicht als Rus’, nicht als russisches Land 244 Vgl. Siemann, Gesellschaft im Auf bruch. 245 Vgl. Renner, Russischer Nationalismus sowie Kassow u.a. 246 Diederichs, S. 125.

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… Das Ideal, das die Deutschen für Russland predigen, ist die Verkörperung der abstrakten Staatsidee, außerhalb der narodnost’, ein Russland, in dem es nichts Russisches gäbe.«247 Der publizistische Angriff auf die Sonderentwicklung der Ostseeprovinzen kulminierte in Jurij Samarins ›Grenzmarken Rußlands‹, das die Kritik russischer Intellektueller an der ständischen Herrschaft und deutschen Kultur der Ostseeprovinzen wortmächtig bündelte. Doch gerade die Existenz eines einflussreichen Gegners, welcher der Vorstellung jegliche Legitimität absprach, daß die Ostseeprovinzen eine eigenständige Region seien, welche sich strukturell vom übrigen Russland unterschied, konnte das neue Zusammengehörigkeitsgefühl stabilisieren. Schirrens Replik auf Samarin, seine »Livländische Antwort« sollte zum kanonischen Text der deutschen Bevölkerung in den Ostseeprovinzen werden und das räumliche Zusammengehörigkeitsgefühl maßgeblich vorantreiben. Zwar spielte der Titel »Livländische Antwort« auf die Bezeichnung des mittelalterlichen Ordensstaats, der Livonia antiqua an, welche die Territorien Livland, Estland und Kurland annähernd umfasst hatte, doch den Text selbst durchzogen ganz selbstverständlich Bezeichnungen wie ›baltische Provinzen‹, ›baltische Intelligenz‹ oder ›baltisches Bürgertum‹. Der Angriff der russischen Presse forderte zugleich zu einer Antwort heraus, was der Begriff ›baltisch‹ außer seiner territorialen Bezeichnung und fortschrittlichen Aufladung noch umfasse, wie der Begriff inhaltlich gefüllt sei. Anhand der Kategorien Recht, Sprache, Glaube, Einrichtungen, Gewohnheiten und Sitten buchstabierte der konservative Schirren seinem Publikum durch, worin sich die ›baltischen‹ Provinzen vom übrigen Russland seiner Ansicht nach unterschieden. Es handele sich um eine Region, wo deutsches Recht herrsche und die Selbstverwaltung auf ständischen Institutionen ruhe, deren Träger mehrheitlich Deutsche seien, um eine Region mithin, in der die deutsche Sprache und Kultur dominiere und der evangelische Glaube die Bevölkerung präge: »Es ist ein abendländisch-protestantisches Land, und ein russisches Gouvernement ist, trotz der officiellen Terminologie, zur Zeit auch Livland nicht.«248 Schirrens Streitschrift wurde zum heimlichen Bestseller, der die vorgestellte Einheit der Region erfolgreich einem breiteren Publikum vermittelte. Der Versuch des konservativen Historikers, das Territorium durch die Herausstellung der deutschen Herrschaft und Kultur gleichsam zu nationalisieren, blieb jedoch zunächst folgenlos. Bürgerliche Liberale liefen gegen den Lieblingsgedanken der Epoche, daß Gesellschaft und Territorium deckungsgleich sein müssen, geradezu Sturm und verwiesen immer wieder darauf, »daß diese Übertreibung nicht des Heimatgefühls, sondern der Abstammungsgemeinschaft … weder die ökonomische Wohl247 Den’ 2.6.1862, zitiert nach Renner, Russischer Nationalismus, S. 302. 248 Schirren, Livländische Antwort, S. 108.

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fahrt noch das Recht, weder die Sprache noch den Glauben der Unterdrückten schont. Nichts ist der Bildung einer wahren Heimat so feindlich als diese Richtung, welche für die Unterdrücker … wie für den Unterdrückten … alle Segnungen und alles Wohlgefühl des Heimatlandes auf hebt … Wo nicht Völker aller Zungen und Anschauungen friedlich nebeneinander wohnen können, da fehlt dem Orte eine der intensivsten Bedingungen des Heimatgefühls.«249 Die ›baltischen Provinzen‹ waren auch in den Augen der deutschen Bevölkerung ein multiethnisches Territorium. Der Angriff der russischen Öffentlichkeit hatte die Entstehung eines baltischen Gemeinschaftsgefühls maßgeblich gefördert und zugleich eine Antwort provoziert, was denn die Sonderstellung der Provinzen begründe. Ein wirkungsmächtiges Unterscheidungskriterium lag nicht zuletzt in der eigenen Gesetzgebung. Zwar hatte auch im legislativen Bereich bis vor kurzem ein starrer Provinzialismus geherrscht und »da es bis zu den vierziger Jahren weder eine gedruckte Behördenverfassung noch ein gedrucktes Ständerecht, kein praktisch gültiges Strafgesetzbuch und keine Proceßordnung, ja bis zum Erscheinen des bahnbrechenden Bungeschen Privatrechts kein Handbuch dieser Disciplin gab … so war die genaue Kenntnis dessen, was Rechtens ist, das Gemeingut einzelner Eingeweihter.«250 Doch die Bemühungen deutscher Juristen an der Universität Dorpat führten 1845 zur Kodifizierung eines eigenen öffentlichen Rechts und 1865 zum Inkrafttreten eines eigenen Privatrechts für die Ostseeprovinzen.251 Die Tatsache einer eigenen Gesetzgebung, wenn sie auch nur Teile des gesamten Rechts umfaßte, war ein Argument, mit dem die Verfechter einer baltischen Einheit zunächst wuchern konnten. So eröffnete Fürst Paul Lieven den livländischen Landtag im Jahr 1864 mit dem Hinweis, »daß deutsche Rechtswissenschaft in der baltischen Bevölkerung Leben gewinnen (wird) … die lebendige Wissenschaft unserer Justiz die Weihe und die Selbständigkeit gewähren (wird), welche sie mehr von der russischen differenzieren wird als etwaige äußerliche Differenzen. Sollten auch die äußeren Bollwerke fallen, so werden im Geiste und Gemüte einer im patriotischen und vorurteilsfreien Bewußtsein der Zusammengehörigkeit sich einigenden Bevölkerung die geistigen Bollwerke in unbesiegbarer Weise erstehen.«252 Die livländische und estländische Ritterschaft bemühte sich in den 1860er Jahren auch um die Einrichtung eines obersten regionalen Gerichtshofs, eines ›baltischen Senats‹. Darüber hinaus strebte der liberale Flügel des Adels einen ›Vereinigten Landtag‹ aller vier Ritterschaften an, der den Ostseepro249 250 251 252

Erdmann, Wesen der Heimat. Eckardt, Baltische Provinzen, S. 399. Vgl. v. Bunge, Liv-, est- und curländische Rechtsgeschichte. Stael v. Holstein, Fürst Paul Lieven, S. 184.

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vinzen eine starke regionale Sonderstellung gegeben hätte.253 Beide Vorhaben blieben jedoch in St. Petersburg erfolglos, wo die Reichsregierung bereits die Zentralisierung und Vereinheitlichung des Reiches plante. Als die russische Justizreform 1889 auch in den Ostseeprovinzen Eingang fand, wurden wesentliche Teile des baltischen Zivil- und Provinzialrechts außer Kraft gesetzt.254 War die Existenz eines eigenen Rechts somit nur ein kurzlebiges Phänomen, sollte sie die Vorstellung baltischer Einheitlichkeit doch erheblich beeinflussen: »Denn ich weiß es wohl, das Gewicht, das Schirren dem Rechtsboden der Provinzen beilegte … war nach innen eine belebende, neuschaffende Kraft. Es hat in dem selbem Maße nach außen eine Utopie gegenüber der praktischen Politik der Staaten geschienen, als es nach innen erst eine selbständige baltische Politik schuf.«255 Die Vorstellung einer einheitlichen Region, die sich von den übrigen russischen Gouvernements markant unterschied, konnte sich auch deswegen zügig durchsetzen, weil die verkehrstechnische und wirtschaftliche Modernisierung der Ostseeprovinzen sie konkret erfahrbar machte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten nur Landstraßen, im Frühjahr oft unbefahrbar, die größeren Städte der Ostseeprovinzen verbunden. Doch dem liberalen deutschen Bürgertum war nicht nur an politischen Reformen, sondern auch an der Erweiterung seiner wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten gelegen. Diesem Ziel diente einmal der Bau von Eisenbahnen, welche die Städte der Ostseeprovinzen seit 1860 immer enger verbanden, Kommunikation ermöglichten, Gemeinsamkeit im Alltag erfahrbar machten und die Provinzgrenzen immer weniger spürbar werden ließen. Zum anderen galt das Interesse der wirtschaftlichen Intensivierung und Vernetzung. In der 1863 gegründeten ›Baltischen Wochenschrift für Landwirthschaft, Gewerbefleiß und Handel‹ fand das neuartige Bewusstsein gemeinsamer ökonomischer Interessen einen sprechenden Ausdruck: »Bei dem Vorhandensein unbezweifelt gleicher materieller Interessen der Baltischen Provinzen wäre aber dieser Pflicht (zur Besprechung der industriellen Interessen) nur in unvollkommener Weise genügt worden, wenn eine Beschränkung auf Livland stattgefunden hätte. Der Verein hat es daher vorziehen müssen, ein Organ für die industriellen Interessen Liv-, Est- und Kurlands zu gründen und hofft die Wirksamkeit desselben durch Betheiligung der Nachbarprovinzen ermöglichen zu können.«256

253 Vgl. Stael v. Holstein, Reformbewegungen, S. 260ff. 254 Vgl. v. Bunge, Baltischer Civilproceß. 255 Pezold, S. 18. 256 Baltische Wochenschrift für Landwirthschaft, Gewerbefleiß und Handel, Programm, 5.2.1863. Hervorhebung im Original.

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Schließlich vermochte auch die kulturelle Praxis großer Sängerfeste in der deutschen Bevölkerung die Vorstellung zu fördern, einer einheitlichen Region anzugehören. Die populären ›Baltischen Sängerfeste‹, deren erstes 1857 in Reval und deren zweites 1861 in Riga stattfand, verliehen dem Begriff ›baltisch‹ einen weiteren Reformakzent, der über den politischen hinausging. Denn ›baltisch‹ wurde von den Veranstaltern und Teilnehmern auch als Versuch einer ständeübergreifenden Integration gedeutet. Bisher hatten ständische Grenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft ähnlich rigide getrennt wie sie gegenüber der nichtdeutschen Umgebung abschotteten. Inspiriert von den Schillerfeiern und Sängerfesten, die in Deutschland in den 1850er Jahren einen Höhepunkt erreichten, hegten die Organisatoren auch hier die Erwartung, daß das gemeinsame Singen die sozialen Differenzen zu mildern imstande sei, daß in der Rückbesinnung auf die gemeinsame deutsche Kultur eine Chance läge, das Trennende des ständischen Prinzips aufzuheben und die provinziale Absonderung zu überwinden: »Bei allem aber hat der Deutsche Männergesang auf die Verschmelzung der verschiedenen ständischen Gliederungen einen wohltätigen Einfluß ausgeübt. Die Sangesbrüder einer Zunge … fanden in der gemeinschaftlichen Ausbildung einer Kunst auch einen socialen Berührungs- und Vereinigungspunkt und so gestaltete sich das Baltische Sängerfest in doppelter Beziehung zu einem Verbrüderungsfest!«257 Baltisch und deutsch fielen keineswegs immer zusammen, aber auf den Sängerfesten der breiten Bevölkerung war die Vorstellung einer ›baltischen‹ Region kulturell eindeutig bestimmt. Am Ende eines ereignisreichen Jahrzehnts zog Julius Eckhardt, der geistvolle Historiograph der Ostseeprovinzen, Bilanz: »Durch Mittheilungen aus diesen letzten Abschnitten baltischer Vergangenheit glauben wir dem Verständnis deutscher Leser erfolgreicher entgegenkommen zu können als durch ausführliche Schilderungen von den einzelnen Ecken und Winkeln des alterthümlichen Gebäudes, welches Liv-, Est- und Kurland heißt.«258 Ein Begriff war entstanden, der die drei Ostseeprovinzen des Zarenreichs als ein zusammengehörendes, einheitliches Territorium, als ›baltische Provinzen‹ beschrieb. Die territoriale Bezeichnung diente der Abgrenzung von den benachbarten Gouvernements, betonte, was anders war und vom übrigen Russland unterschied. Zugleich transportierte ›baltisch‹ eine politische Bedeutung, versprach liberale Reformen und soziale Integration jenseits ständischer Barrieren, ohne die ethnischen Grenzen in Frage zu stellen. Realität und Projektion hielten sich dabei die Waage: Ein ins Mittelalter zurückreichendes Ständewesen hatte in der Tat hier ein Ausmaß priva257 Begrüßungsrede zum Baltischen Sängerfest, in: Das Baltische Sängerfest in Riga vom 29. Juni bis zum 4. Juli 1861, Riga 1862, S. 47f. 258 Eckhardt, Baltische Provinzen, S. VIIIf. Hervorhebung UvH.

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ter und gesellschaftlicher Selbstorganisation hervorgebracht, das russische Gouvernements nicht kannten. Zivilgesellschaftliches Engagement bestimmte Teile des Alltags in einem Maße, das mit England vergleichbar war. Eine sich zügig modernisierende Wirtschaft, ein früher Eisenbahnbau und wachsender kleinbäuerlicher Besitz bildeten sozioökonomische Strukturen, die scharf vom übrigen Russland abstachen, wo landlose Bauern, eine unzulängliche Infrastruktur und eine vor 1880 nur schwach entwickelte Wirtschaft das Bild bestimmten. Schließlich einte das Rechtssystem und grenzte von der Umwelt ab. Doch ebenso füllten Projektionen den Begriff. Die fast ausschließliche Prägung des Territoriums durch die deutsche Sprache und Kultur war der selektiven Wahrnehmung der deutschen Eliten geschuldet, welche die Entwicklung der autochtonen Bevölkerung kaum zur Kenntnis nahmen. Doch seit den 1860er Jahren entstanden lettische und estnische Nationalkulturen, die ein Gegengewicht zur Dominanz der deutschen bildeten. Mochte die deutsche Sprache vor Gericht, in der Verwaltung und an der Hochschule Bedeutung haben, so sprachen 80% der Bevölkerung eine andere Sprache und die Reichssprache war eine dritte. Das Fiktive des Begriffs lag schließlich auch darin, daß er sich über die erheblichen sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Esten und Letten hinwegsetzte. Indem man die Einheitlichkeit des Raums nur von der gemeinsamen deutschen Oberschicht ableitete, wurde die Verschiedenheit der lettischen und estnischen Mehrheitsbevölkerung verdeckt. Projektionen wie diese sollten schließlich zur Konstruktion eines alternativen Raummodells führen, einer ›Latvija‹.

Vom poetischen zum politischen Begriff: ›Latvija‹ Die Einprägsamkeit der neuen Raumvorstellung ›baltischer Provinzen‹ blieb auch auf die lettischen Eliten nicht ohne Wirkung. Denn in der Tat entsprachen die provinzialen Grenzen partiell dieser Vorstellung, war der sprachliche und kulturelle Unterschied beim Überschreiten der Gouvernementgrenzen nach Vitebsk und Kovno überaus spürbar. Doch um den deutsch gefärbten Begriff überhaupt in Anspruch nehmen zu können, bedurfte es einer gewissen Konstruktionsarbeit. Die Wortführer der lettischen Nationalbewegung bemühten sich zunächst, das lettisierte Äquivalent zu den ›baltischen Provinzen‹, nämlich ›Baltija‹, etymologisch für sich zu verbuchen. Auf den Aufsatz Georg Berkholz’, der die Entstehung des Begriffs ganz im germanischen Sprachraum verortet hatte, reagierte Andrejs Dīriķis 1885 mit einer Gegendarstellung, in der er darauf pochte, daß in der baltischen Region vor allem slavische, litauisch-lettische und livisch-estnische Völker gewohnt hätten. Sie hätten die Ostsee analog zum russischen ›Beloe more‹ als 350

›balta jure‹, als weißes Meer bezeichnet. Der Name stamme daher nicht aus dem germanischen Kulturraum, vielmehr »schauen die Letten mit Recht auf die Worte ›Baltija‹, ›Baltijas juhra‹ als auf ihr Eigenthum.«259 Dīrikis’ Version wurde von den lettischen Eliten zunächst übernommen und führte dazu, daß der Raumbegriff ›Baltija‹ auch im lettischen Milieu an Popularität gewann. So hieß es in einem vielbenutzten lettischen Schulatlas von 1882: »Baltija ist das Land, in dem wir leben. Hier gibt es zwei Millionen Einwohner, doch die wahren Einwohner des Landes sind Letten und Esten.«260 Auch die maßgeblichen Emanzipationsschriften der frühen Nationalbewegung, alle noch in deutscher Sprache erschienen, verwandten für den Schauplatz ihrer Schilderung ganz selbstverständlich das Wort ›baltisch‹ im Titel.261 Ähnlich benutzte auch die nationale Presse den von den Deutschen erfundenen Begriff ohne Probleme, nannte sich ›Baltijas Vēstnesis‹ (Baltischer Bote) oder ›Baltijas Zemkopis‹ (Baltischer Bauer). Daneben trat der neue Begriff ›Latvija‹ (Lettland), der ebenso wie ›baltisch‹ eine zeitgenössische Erfindung war. Erstmals wurde der Name ›Latvija‹ 1837 von dem deutschbaltischen Theologen Karl Christian Ullmann in der Wochenzeitschrift ›Inland‹ verwandt, wo er einen Aufsatz über das Thema ›Woher stammt der Name der Letten?‹ publizierte. Ullmann leitete den Namen aus dem Litauischen ab und stellte fest: »Der Litauer nennt den Letten Latwys. Der Litauer macht aus dem Namen Latwys die Benennung des Landes, in welchem dieser wohnt, Latwija.«262 Spätere Sprachforscher bestätigten diese Herleitung und wiesen auf das litauische Flüßchen ›Latava‹ oder ›Latva‹ hin, an dessen Mündung möglicherweise lettische Volksstämme gesiedelt hätten.263 Forschungen des 20. Jahrhunderts haben auch in der 1206 erschienenen Chronik Heinrich des Letten nach der Verwendung des Begriffs ›Latvija‹ gesucht. Doch dort findet sich nur der Name ›Letthia‹, worunter Heinrich damals jenes Gebiet verstand, das an der östlichen Grenze zu Litauen lag, das sogenannte ›Latgalen‹.264 Bereits im 15. Jahrhundert verschwand das Wort ›Letthia‹ wieder aus dem mittelalterlichen Wortschatz; Wörterbücher des 18. Jahrhunderts vermerkten nur mehr ›Latviju Zeme‹, ein ›lettisches Land‹.265 Auch in der lettischen Etymologie herrscht heute Konsens, daß die Rückführung des Begriffs ›Latvija‹ auf Karl Christian Ullmann die wahrscheinlichste ist.266 259 Baltijas Vēstnesis Nr. 270, 1885, zitiert nach Gleye, S. 128. 260 Kaudzīte, Ģeografia skolām, S. 36. 261 S. Biezbardis, Sprach- und Bildungskampf in den baltischen Provinzen; Valdemars, Baltische Bauernzustände. 262 Inland 3.11.1837, S. 735. 263 Vgl. Stradiņš, Latvijas vārda pēdam. 264 Vgl. Latviešu konversācijas vārdnīca, Spalten 20317ff. 265 Vgl. Lettisches Lexicon, S. 134. 266 So auch Stradins, Latvijas vārda pēdam.

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Ullmanns Wortschöpfung blieb zwei Jahrzehnte ohne Beachtung, bis sich der lettische Dichter Juris Alunans 1857 mit ihrer Deutung auseinandersetzte und eine national inspirierte Gegendarstellung formulierte. In der vielgelesenen lettischsprachigen Wochenzeitschrift ›Majas Viesis‹ stellte Alunans die These auf, daß der Name ›Latvija‹ vielmehr vom altlettischen Wort ›lat‹ (Harmonie) herrühre. Ähnlich pragmatisch wie Georg Berkholz den Begriff ›baltisch‹ für eine deutsche Regionsbildung instrumentalisierte, suchte Alunans mit dem Wort ›Latvija‹ die lettische Nationsbildung zu legitimieren.267 Die zunächst dominierende Gleichzeitigkeit von regionaler und nationaler Raumvorstellung zeigte sich im Gebrauch der lettischen Nationalhymne. Auf dem ersten lettischen Sängerfest 1873 wurde noch die Version ›Gott schütze das baltische Land‹ (›Dievs svēti Baltiju‹) vorgezogen.268 Dominierte 1873 noch der Regionsbegriff ›Baltija‹ als räumlicher Bezugspunkt, war die neue Wortschöpfung ›Latvija‹ fünfzehn Jahre später bereits so populär, daß das Absingen der Textversion ›Dievs svēti Latviju‹ auf dem dritten Sängerfest 1888 den emotionalen Höhepunkt jeden Konzerts darstellte.269 ›Latvija‹, obgleich zunehmend geläufiger, blieb zunächst ein poetischer Begriff, war ein literarischer, kein politischer Schauplatz. Als solchen popularisierten ihn vor allem die lettischen Volksdichter der Zeit. In den vielgelesenen Gedichten des Poeten Auseķlis war das Land ›Latvija‹ durch seine Sprache, Volkskultur und eine ruhmreiche Vergangenheit definiert, »die verloren ist und nur noch in unseren Liedern fortlebt.«270 Die ethnische Füllung des Begriffs trat auch in der Abgrenzung von den estnischen Nachbarn zutage, welche Auseķlis immer wieder artikulierte: »Die Esten, Brüderchen/ haben Haß in Lettland gesät/seine Burg angegriffen/und scharfe Pfeile abgeschossen.«271 Wie unterschiedlich die jeweiligen Autoren den imaginären Raum indes definierten, wurde an der Behandlung der lettischen Irredenta 267 Vgl. Juris Alunans, Ko tas vārds ›latvietis‹ apzīme? [Was bedeutete der Namen ›latvietis‹?], in: Majas Viesis Nr. 40, 1857, abgedruckt in: Alunans, S. 106f.: »Wir wollen aber beweisen, daß die Letten ihren Namen auf eine ganz andere Weise bekommen haben … Also Latava oder Latva bezeichnet demnach den Ort oder das Land, wo man harmonisch miteinander lebt. Wenn nun Latva das Land ist, wo man harmonisch lebt, so ist der Lette derjenige, der sich in Latva auf hält. Deshalb bedeutet das Wort ›latvietis‹ einen harmonischen, einträchtigen Menschen.« 268 Dziesmas. Obwohl spätere Überlieferungen behaupten, der Komponist habe die Textversion ›Gott schütze Lettland‹ (›Dievs svēti Latviju‹) speziell für das erste lettische Sängerfest geschrieben und sie sei dort auch zur Aufführung gekommen, findet sich diese Version im Festprogramm nicht. Vgl. Līgotnis, Baumaņu Kārlis tautas atmodas rītā, LAB; »Austras« krājuma teksti no K. Baumaņa arhīva, LAB. 269 Lautenbahs, S. 24f. 270 J. Lapiņa, Auseķla stils [Der Stil des Auseklis], in: Izglītības Ministrijas Mēnešraksts Bd. 1, 1921, S. 18. 271 Auseķlis, Kopoti Raksti, S. 57 (Gedicht von 1876).

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erkennbar, dem von katholischen Letten bewohnten Latgalen im litauischen Gouvernement Vitebsk, genannt Inflantien. Für die Mehrheit der lettischen Nationsbildner gehörten die Latgaler nicht zur vorgestellten Gemeinschaft der lettischen Nation. Ihr abweichender Dialekt, der andere Glaube und die sozioökonomische Rückständigkeit schlossen sie vom Projekt einer lettischen Nation geradezu aus.272 Und so stellte der konservative Politiker Veinbergs in seiner Schrift ›Politische Gedanken aus Lettland‹ als Letten nur jene vor, »die in Kurland und der südwestlichen Hälfte von Livland leben.«273 Eine Ausnahme bildete der inklusive Raumentwurf des lettischen Akteurs Atis Kronvalds, der alle lettischen Volksstämme der umliegenden Gouvernements in einem gemeinsamen ›Großlettland‹ (Liellatvija) vereinen wollte: »Anstelle des Lokalpatriotismus müssen wir zu einem allgemeinen Patriotismus erziehen, der sich auf alle lettischen Stämme erstreckt: Auf Kurländer, Livländer, auf die Letten in Inflantien und Litauen, weil das Heimatland dieser lettischen Stämme nicht das Baltikum alleine oder gar nur ein Teil davon ist, sondern unser Vaterland Lettland ist.«274 Doch auch Kronvalds Utopie eines ›Großlettlands‹ besaß keine politische Bedeutung, sondern war ein kultureller Raumentwurf, der zwar die lettische Irredenta miteinschloß, die Grenzen der bestehenden Gouvernements jedoch nicht antastete. Weiter ging der lettische Schriftsteller Ernests Dinsberģis in seiner 1876 erschienen ›Ethnographie‹.275 Seiner Beschreibung der europäischen Großmächte stellte er ein gleichberechtigtes Kapitel ›Latvija‹ an die Seite, in dem er die Bevölkerung und das Territorium Kurlands und Südlivlands beschrieb und seinen Lesern versicherte: »Diese Überschrift bezieht sich auf uns, und dass wir selber diese Letten sind und dass unser Land Lettland heißt; das, hoffe ich, ist uns allen bekannt und bedarf keiner weiteren Erklärung.«276Vor allem aber kommentierte er seine Beschreibung mit dem Hinweis, daß »es besser wäre, sie beide zusammen als das Land der Letten oder als Lettland zu bezeichnen; denn dieser Unterschied zwischen Livländern und Kurländern sollte nun endlich auf hören und stattdessen das vereinigte Lettland zur Blüte gelangen, so daß es in der Zukunft nur noch ein Lettland und ein lettisches Volk gibt.«277 Der Versuch, die bislang ethnisch und kulturell bestimmte Definition des Territoriums mit politischem Gehalt anzureichern, fiel in das Jahr 1881. Die 272 Auch der Präses des Lettischen Vereins, Rihards Tomsons, hieß in seiner Begrüßungsrede zum ersten Sängerfest nur Letten aus Kurland und Livland willkommen, vgl. Tomsons, S. 10. 273 Veinbergs, Lettland, S. 94. 274 Brief an Dīriķis vom 22.9.1872, in: Kronvalds, Kopoti raksti, S. 403. 275 Dinsberģis. 276 Ebd., S. 2. 277 Ebd.

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politische Modernisierung der Region, die soziokulturelle Aufwärtsmobilität der Letten und das Entstehen einer aktiven Nationalbewegung führten dazu, daß Ethnizität zunehmend auch als Kategorie räumlicher Ordnung eingefordert wurde und bei der Aufteilung der politischen Verwaltungseinheiten berücksichtigt werden müsse. Die Führer der Nationalbewegung nutzten die Gelegenheit der Revisionsreise des russischen Senators Manasein dazu, diesem eine Petition zu überreichen, in der gebeten wurde, »dass die gegenwärtigen drei baltischen Gouvernements nur in zwei vertheilt werden, so dass in dem einen das Estnische, in dem anderen das Lettische die officielle Sprache wäre … Alsdann könnte man in jedem dieser Gouvernements bei den Behörden nur mit zwei Sprachen auskommen. Mit der russischen Sprache als der Reichs- und der estnischen oder lettischen als der Landessprache.«278 Begleitend, und wiederum mit Zehntausenden von Unterschriften versehen, wurde vorgeschlagen: »Diese Gouvernements könnten entweder einen der alten Namen behalten oder auch eine neue Benennung erfahren. Sie könnten zum Beispiel Lettland oder Estland genannt werden.« Hinter dem Vorschlag, das Territorium aufgrund ethnischer Kategorien neu zu vermessen, standen ebenso politische Interessen. Denn mit der gleichzeitig geforderten Einführung der Zemstvo, der ländlichen Selbstverwaltung, in die neuen Gouvernements wäre die Herrschaft des deutschbaltischen Adels erheblich geschwächt und die Mitspracherechte der lettischen und estnischen Bevölkerung erweitert worden. Der Vorschlag einer ethnischen Grenzziehung blieb jedoch erfolglos. Die russische Regierung hatte an der Durchsetzung ethnischer Ordnungskategorien, mit Ausnahme der russischen, nicht das geringste Interesse und bevorzugte den status quo ständischer Grenzen. Trotz der Erfolglosigkeit des Bemühens stellt das Jahr 1881 eine wichtige Zäsur in der Entwicklung des Begriffs ›Latvija‹ dar, da es die erstmalige Hinwendung vom poetischen zum politischen Raumbegriff markiert, der mit konkreten politischen Rechten verbunden wurde. Die wachsende Popularität der neuen Bezeichnung schlug sich auch in Gestalt von Landkarten nieder. Ein 1880 erschienener »Atlas für die lettischen Landschulen«, stellte neben die koloniale Karte der ›Baltija‹ erstmals die revolutionäre Karte einer ›Latvija‹, die dasselbe Territorium anders vermaß und bestimmte.279 Die Grenzen waren nicht mehr ständisch gezogen, nicht mehr historisch legitimiert und spiegelten nicht die politische Gegenwart wider, sondern verliefen entlang ethnischer Linien und waren von der Erwartung der Zukunft geleitet. Die Russifizierung der lettischen Volksschulen setzte der Verbreitung dieses Atlanten 1885 ein Ende, doch bereits

278 Baltijas Vēstnesis 13.7.1881, dort auch das folgende Zitat. 279 Vgl. Atlass Latwijas lauschu skolam.

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1889 erschien die ›Karte Lettlands‹ des lettischen Kartographen M. Silinš.280 Hier waren die ethnischen Wunschgrenzen zwischen ›Lettland‹ und ›Estland‹ fett und dominant markiert, wogegen die realen ständischen Grenzen zwischen Kurland, Livland und Estland kaum sichtbar gestrichelt erschienen. Die zahlreichen Auflagen, welche Silinš’ Karte bis 1914 erlebte, waren maßgeblich dafür verantwortlich, den neuen Grenzentwurf breiten Bevölkerungsschichten zu vermitteln Die staatliche Russifizierung verhinderte in den nächsten zwei Jahrzehnten eine weitergehende Politisierung des Begriffs. Atlanten wie der Schulatlas von 1880 waren in der russifizierten Schule nicht mehr zugelassen und das Absingen der inoffiziellen Nationalhymne ›Gott schütze Lettland‹ stand unter immer stärkerer Zensur. So wies auch die 1901 erschienene erste lettische Enzyklopädie, ein nationales Statusobjekt, in das der konservative und prorussisch orientierte Lettische Verein erhebliche Mittel investiert hatte, keinen Eintrag ›Latvija‹ auf. Abgedruckt war nur die offizielle Karte der Ostseeprovinzen, welche die herkömmlichen Provinzbezeichnungen verwandte. Der mittlerweile geläufige Begriff ›Latvija‹ wurde in diesem ersten lettischen Lexikon jedoch nirgends thematisiert.281 Eine Weiterentwicklung nationaler Raumvorstellungen fand vor 1905 nicht mehr innerhalb der imperialen Grenzen statt, wohl aber außerhalb, wo es leichter war, nationale Ideen gleichsam zu testen.282 Die in die Schweiz emigrierten lettischen Sozialdemokraten um Mikelis Valters verbanden demokratische und nationale Forderungen miteinander und propagierten in der Exilpresse, daß »der Kampf um den freien Menschen« mit dem »Kampf um das freie Volk verschmilzt.«283 In Zürich, nicht in Riga wurden Konzeptionen entwickelt, welche die Vorstellung einer lettischen Autonomie bereits vor 1905 an die Existenz eines nationalen Territoriums knüpften: »Russland muß aufgeteilt werden in einzelne territoriale Organisationen, die aufgebaut wären auf rein demokratischem Prinzip und die das vollkommene Recht auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung hätten, d.h. die Souveränität in der neuzeitlichen Bedeutung dieses Begriffs. Auch die lettische Demokratie muß solch eine Demokratie errichten.«284 Innerhalb des russischen Reiches wurden die Forderungen von 1881 erst wieder in der Revolution von 1905 aktualisiert. Dabei spiegelte sich die Tatsache, daß das Konzept eines nationalen Territoriums zunächst im Ausland entwickelt worden war, in der unterschiedlichen Reichweite der lettischen 280 281 282 283 284

Vgl. M. Silinš, Latvijas Karte [Karte Lettlands], Riga 1889. Konversācijas vārdnīca. Vgl. zu diesem Phänomen Roshwald. Proletariats, Nr. 5, 1904, zitiert nach: Dopkewitsch, S. 23. Proletariats, 1903, Einleitung, zitiert ebd., S. 24.

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Forderungen wider. Die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, deren Vorläuferorganisation bezeichnenderweise noch Baltische Lettische Sozialdemokratische Arbeiterorganisation hieß, war vom Marxismus der russischen Arbeiterpartei beeinflusst. Geleitet von der Hoffnung auf eine gesamtrussische Konstituante lehnten ihre Mitglieder jegliche Grenzverschiebung im nationalen Sinne ab und beschränkten sich auf die Forderung nach Kultur- und Verwaltungsautonomie auf der Grundlage eines allgemeinen Wahlrechts. Der Lettische Sozialdemokratische Verband, den die aus dem Schweizer Exil zurückkehrenden Sozialdemokraten 1905 in Riga etablierten, ging über die Forderungen von 1881 nach der bloßen Neueinteilung der Gouvernements nach ethnischen Kriterien dagegen weit hinaus und forderte die politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie einer lettischen Republik innerhalb eines föderalen Russlands: »Das ganze von Letten bewohnte Land – Kurland, Südlivland und Inflantien – ist in einen selbstverwalteten Bezirk – Lettland – zu vereinigen mit vollständigen Selbstbestimmungsrechten in allen inneren Angelegenheiten dieses Gebietes.«285 So unbedeutend die Rolle des Sozialdemokratischen Verbands während der Revolution auch war, so wirkungsmächtig sollte seine territoriale Forderung im folgenden Jahrzehnt werden. Alle Gruppierungen des lettischen Parteienspektrums stellten die territoriale Vereinigung Kurlands und Südlivlands zu einer neuen Verwaltungseinheit nach 1905 in den Mittelpunkt ihrer Programme. Auch der Abgeordnete der lettischen Sozialdemokratie, Andrejs Priedkalns, appellierte 1912 an die russische Duma, die baltischen Provinzen nach ethnischen Kriterien aufzuteilen und den neuen Gouvernements weitgehende wirtschaftliche und kulturelle Kompetenzen auf der Grundlage eines allgemeinen Wahlrechts zu gewähren.286 Ebenso wie die Vorstellung ›baltischer Provinzen‹ war auch der konkurrierende Raumentwurf einer ›Latvija‹ gleichermaßen von Realität und Projektion bestimmt. Der Wirklichkeit entsprach die Dominanz der lettischen Bevölkerung auf dem Lande. Auch die entstehende Nationalkultur konnte die Forderung nach einer ethnischen Grenzziehung rechtfertigen ebenso wie die sprachliche und kulturelle Differenz zu den angrenzenden Esten eine Realität war, die ein lettischer Grenzentwurf berücksichtigte. Die multiethnische Bevölkerung der Städte und die erhebliche Bedeutung zumal der deutschen, aber auch der russischen Kultur wurde von einer rein ethnischen Grenzziehung indes ausgeblendet. Denn Letten stellten um 1900 in dem von ihnen konstruiertem Territorium nur 68% der Gesamtbevöl285 Parteiprogramm des Lettischen Sozialdemokratischen Verbands, zitiert nach: Henning, Lettische sozialistische Bewegung, S. 104f. 286 Dumarede Priedkalns’, abgedruckt in: Rigasche Rundschau 18.2.1912.

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kerung und in den Städten oft nur 50–60%.287 Hatten die Erfinder eines ›baltischen‹ Raumentwurfs die Rolle der estnischen und lettischen Nationalkulturen weitgehend ausgeblendet, negierten die Konstrukteure einer ›Latvija‹ die Prägekraft der deutschen Kultur und nahmen den Einfluß der russischen und jüdischen Gruppen nicht wahr. Mithin wiesen die Raumentwürfe von Deutschen und Letten in territorialer Hinsicht zwar erhebliche Gegensätze auf, doch in der ethnozentrischen Konstruktion der konkurrierenden Karten waren sie weitgehend identisch.

Vom Fortschritts- zum Beharrungsbegriff: ›baltisch‹ zwischen 1881 und 1914 Mit dem Beginn der Russifizierungsmaßnahmen begann sich die liberale Bedeutungsschicht des Begriffs ›baltisch‹ zu verändern. Die gleichen Reformen, die im lettischen Milieu zu Fortschrittserwartungen führten, bewirkten im deutschen Milieu Vergangenheitsorientierung und Beharrungsbestreben. Die Auflösung des baltischen Generalgubernats im Jahr 1875, das die Ostseeprovinzen verwaltungsrechtlich den übrigen Gouvernements gleichstellte, die Städtereform von 1877, die den Deutschen das Monopol politischer Partizipation nahm, die staatliche Ablehnung aller regionalen Reformvorschläge und die kontinuierlichen Angriffe der russischen Publizistik waren Entwicklungen, welche die deutschen Eliten zu einem »Wechsel unserer politischen Tendenzen« veranlasste: »Die immer intimer werdende Beschäftigung der hauptstädtischen Presse mit unseren Verhältnissen, die Einbürgerung der Rubrik »Ostzeiski krai« in die Petersburger und Moskauer Blätter hat es zuwege gebracht, dass der baltische Liberalismus sich zu verlaufen begann … Der conservative Sinn war wieder in innerster Brust geweckt, ein selbstbewusster, thatbereiter, sich selbst als Princip, nicht als Nothbehelf erkennender Conservativismus wurde … der vorherrschende Boden, auf dem man sich einte.«288 Den äußeren Anstoß, auf liberale Reformen zu verzichten und stattdessen die verbliebenen ständischen Rechte zu verteidigen, gab der Beginn der Russifizierungsmaßnahmen, die sich mit dem Thronwechsel von 1881 ankündigten. Die Erfahrung von schulischer Russifizierung und kirchlicher Repression, welche die deutsche Bevölkerung während der nächsten zwei Jahrzehnte machte, füllte die Vorstellung einer gemeinsamen ›baltischen Heimat‹ mit gelebtem Inhalt. Unter dem äußeren Druck wurde unmittelbar 287 Vgl. Dunsdorfs, S. 317; Plakans, The Latvians. A Short Story, S. 88; Baltische Bürgerkunde, S. 360ff. 288 Bienemann, Wechsel unserer politischen Tendenzen, S. 608, 611.

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erfahrbar, daß man dasselbe Schicksal teilte, dieselbe Abwehr formulierte, denselben Feind in der russischen Bürokratie sah.289 Liberale Plädoyers, die Landespolitik auf eine breitere Grundlage zu stellen, wie sie der Redakteur der ›Baltischen Monatsschrift‹, Edmund v. Heyking, noch formulierte, wurden harsch abgewehrt und ihrem Urheber vorgeworfen »die Baltische Monatsschrift sei (dadurch) unbaltisch geworden, ja in manchen Beziehungen antibaltisch; weiter von ihrem Ursprung konnte sie sich kaum entfernen.«290 Die konservative Wende der deutschen Eliten mündete in eine veränderte inhaltliche Füllung des Begriffs ›baltisch‹. Bisher hatten politische Kriterien wie ständische Selbstverwaltung und liberaler Reformimpetus den Raumentwurf ebenso bestimmt wie kulturelle Denkfiguren. Mit dem zunehmenden Verlust politischer Eigenständigkeit und dem offensiven Angriff auf die deutsche Sprache begann sich die Balance dieser Definitionskriterien zu verschieben. Weniger politische Kriterien machten jetzt aus, was unter ›baltisch‹ verstanden wurde, sondern kulturelle Kriterien wie Sprache, Geschichte und Konfession rückten definitorisch nach vorne. So kritisierte der konservative Rigaer Oberprediger Emil Kaehlbrandt in seinem »Baltischen Programm« von 1900 das Schließen jener »zahlreichen gemischten Ehen … unbekümmert darum, daß mit dem kirchlichen Bewusstsein unfehlbar auch das baltische Bewusstsein verloren geht.«291 Und der konservative Jurist Johann Christoph Schwartz ging darüber noch hinaus, indem er deutsch und baltisch gleichzusetzen begann: »So werden wir sicher am wenigsten irre gehen, wenn wir uns von unserem natürlichen Gefühl leiten lassen, von der Liebe zur baltischen Heimat, die eins ist mit unserer Cultur, mit unserer Sprache und unserem Glauben.«292 Der konservative Versuch einer Nationalisierung des Raums spiegelte sich beispielhaft in der sprachlichen Neuschöpfung des ›Balten‹ wieder, der in den 1880er Jahren auf kam und große Popularität gewann. Bereits 1882 konstatierte der liberale Georg Berkholz mit ironischem Unterton: »Noch zwar antworten wir … auf die Frage nach unserer Landesangehörigkeit, nicht gerne: »Ich bin ein Balte«, sondern lieber in mehr partikularistischer Weise, »ein Est- oder Liv- oder Kurländer … bedenkt man aber, welche Fortschritte in der Popularität seiner Verwendung dieser neugewonnene Volksname der »Balten« schon bis jetzt gemacht hat, so kann man sich wohl auch der Hoffnung getrösten, es werde … wirklich allgemein anwendbar werden.«293 Blieb das Adjektiv ›baltisch‹ trotz einzelner Natio289 Vgl. Bienemann, Aus baltischer Vorzeit, S. 3. 290 Diederichs, S. 145. 291 Baltisches Programm, zitiert nach Kaehlbrandt, Lebensbild, S. 309. 292 Schwartz’ Denkschrift zitiert nach: Buchholtz, Deutsch-Protestantische Kämpfe, S. 405. 293 Berkholz, Baltisch, S. 529.

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nalisierungsversuche eine ethnisch neutrale Bezeichnung, war der ›Balte‹ ethnisch eindeutig definiert. Als ›Balten‹ bezeichneten sich vor 1918 nur die deutschen Bewohner Livlands, Estlands und Kurlands, eine Selbstbezeichnung, die auch von der nichtdeutschen Umgebung übernommen wurde. Der sich rasch ausbreitende Begriff war das Resultat des doppelten Nationalisierungsdrucks von oben und unten, vom russischen Staat wie von den lettischen und estnischen Nationalgesellschaften, der die deutschen Eliten auch sprachlich zur Gegenreaktion zwang. Zeitverhaftet, aber treffend hat Reinhard Wittram dies rückblickend auf folgende Formel gebracht: »Schon seit wir Balten sind, das heißt, seit wir im Nationalitätenkampf stehen, ist uns … ein nationalpolitischer Aktivismus … vonnöten.«294 Separatistische Züge wies der ›Balte‹ nicht auf. Der Begriff war ethnisch exklusiv, regional inklusiv und sollte die Vorherrschaft der deutschen Elite zu einem Zeitpunkt sprachlich legitimieren, als diese Macht bereits am Zerbrechen war. Ebenso wie die Russifizierung trug auch die Revolution von 1905 dazu bei, das baltische Zusammengehörigkeitsbewusstsein weiter zu festigen: »Ja, man umfasste die Heimat, die verwundete, wiedergeschenkte, mit neuer Liebe und neuer Kraft – das dreigegliederte Land, in dem man noch mehr als früher ein Ganzes sah … die ganze Natur unter dem nördlichen Himmel und die vernehmlicher redenden Steine der Ruinen«295 Der Verlust von Leben und Eigentum und die gemeinsame Bedrohung, der die Deutschen sich ausgesetzt sahen, ließ das Gemeinsame noch stärker hervortreten, verband im Zeichen deutscher Kultur und baltischer Herkunft und drängte ständische und provinziale Grenzen endgültig zurück. In der geläufigen Selbstbezeichnung des ›baltischen Deutschtums‹ wurde das Erlebte jetzt terminologisch erfasst, fand die historische Erfahrung ihren sprachlichen Ausdruck.

Annexion oder Unabhängigkeit – die radikale Politisierung räumlicher Vorstellungen im Ersten Weltkrieg Der Krieg lud beide Raumvorstellungen in bislang unbekanntem Maße politisch auf. Die eminente Politisierung, die der Krieg bei Letten wie Deutschen bewirkte, führte dazu, daß Raummodelle wie das der ›baltischen Provinzen‹ und der ›Latvija‹, die bislang nebeneinander gestanden hatten, teilweise sogar parallel benutzt worden waren, jetzt unvereinbar wurden und einander ausschlossen. Für Russland in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen – das bedeutete für die Letten nicht nur die Verteidigung des Zarenreichs als russische Untertanen, sondern auch den erneuten Kampf ge294 Wittram, Deutsch und Baltisch, S. 200. 295 Wittram, Drei Generationen, S. 335.

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gen den historischen Feind des eigenen Volkes.296 Die aktivierte Feindschaft gegen die Deutschen und ein erneuerter russischer Patriotismus gingen im Kriegserlebnis eine Mischung ein, die den Begriff ›Latvija‹ endgültig politisierte und aus dem poetischen Begriff ein politisches Modell nationaler Autonomie machte. An zwei unterschiedlichen Phänomenen lässt sich das zeigen: an Flucht und Verteidigung. Die Besetzung Kurlands durch deutsche Truppen im Sommer 1915 und die drohende Eroberung Rigas führten dazu, daß rund 750 000 Letten und damit fast die Hälfte des Volkes, ihre Heimat verließen und ins Innere des Reiches flüchteten.297 Unter der Leitung Vilis Olavs und Arveds Bergs wurde eine Flüchtlingsorganisation ins Leben gerufen, die ihren Sitz in St. Petersburg hatte und zum Zentrum nationalen Lebens außerhalb Rigas avancierte. Dadurch, daß die Heimat verloren schien, wurde sie zunehmend gegenständlicher, wurde die Vorstellung einer ›Latvija‹ so konkret, wie es den Bemühungen der politischen Eliten in Friedenszeiten nicht zu vermitteln gelungen war: »Es bedurfte einer solchen Erschütterung wie des Krieges, damit die Zukunft des Volkes bedroht würde, die Heimat verloren ging und im Volke der Geist der Einheit erwachte, die nationale Disziplin. Nur als solche, die die Heimat verloren haben, als Bettler, gewinnen wir die Seele eines vollberechtigten Bürgers, der auf das eigene Gut verzichten kann und dem Lettland mehr ist als die ganze Welt.«298 Gleichzeitig gelang es den Leitern der nationalen Bewegung, beim Oberbefehlshaber der russischen Armee die Aufstellung lettischer Schützenregimenter durchzusetzen. Und da der Feind der Regierung, wie unbeliebt diese auch sein mochte, gleichzeitig den eigenen bezeichnete, war die Kampfmoral entsprechend hoch: »Daher haben sich die lettischen und estnischen Jünglinge mit Enthusiasmus als Freiwillige gemeldet, um gegen ihren historischen Erbfeind zu ziehen. … Sie verteidigen nicht nur Russland, sondern auch ihr Vaterland. Sie gehen nicht als Untertanen Russlands in den Krieg, sondern als selbständige Verbündete der Russen.«299 Die nationale Truppe, etwa 35 000 Mann, zog die Anteilnahme der verstreuten Bevölkerung in hohem Maße auf sich.300 Fast jede lettische Familie hatte einen Sohn, Bruder oder Neffen in den Regimentern, um dessen Wohl sich gemeinsam gesorgt wurde. Vor allem aber wurde der Kampf gegen die Deutschen als Fortsetzung der 1201 ›beendeten‹ Geschichte des Volkes gedeutet, als Kampf gegen den historischen Erbfeind des 296 Vgl. zu dieser Konstellation auch in anderen Großreichen Roshwald, S. 70ff. 297 Vgl. Germanis, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, S. 6ff. 298 Vgl. J. Lapinš, Nacionalā disciplina, in Līdums, Nr. 22–24, zitiert nach Dopkewitsch, S. 40. 299 Dievs svēti Latviju [Gott schütze Lettland] in: Līdums Nr. 132, 1914, zitiert nach Dopkewitsch, S. 36. 300 Vgl. Germanis, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, S. 6ff., S. 13ff.

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lettischen Volkes, mit dem man den damals verlorenen Kampf neu aufnahm und Rache übte für ›700 Jahre Sklaverei.‹ Der Krieg lieferte die Chance, den Topos vom ›geschichtslosen Volk‹ zugunsten der Vorstellung abzulösen, die Geschichte der Letten habe durch den aktiven Kampf wieder begonnen und mache die Letten wieder zum ›historischen Volk‹: »Die Geschichte der Letten hatte aufgehört, als der letzte lettische Krieger die Waffen vor dem deutschen Krieger streckte. Jetzt ist die Situation wieder dieselbe. Die Deutschen brechen ins Land ein und die Geschichte der Letten beginnt wieder, wo der lettische Soldat gegen den deutschen zu den Waffen greift. Ob die lettischen Bataillone zurückkehren werden als Sieger, ob sie auf dem Schlachtfelde bleiben werden … sie haben für uns eine gewaltige historische Bedeutung, sie haben den Gang unserer Geschichte da erneuert, wo er unterbrochen worden war.«301 Beide Erfahrungen, Flucht und Verteidigung, riefen in der lettischen Bevölkerung eine politische Erwartung wach, die von räumlichen Bezügen nicht mehr zu trennen waren. Die Hoffnung auf Rückgewinnung des verlorenen Territoriums und Rückführung der lettischen Flüchtlinge verband sich mit der Meinung, daß die russische Regierung die militärischen Verdienste der lettischen Schützen durch die Gewährung weitgehender Selbstverwaltung belohnen werde. Nahrung erhielt diese Hoffnung vor allem durch die russische Februarrevolution von 1917, da die provisorische Regierung den Wünschen der russischen ›Nationalitäten‹ zunächst entgegenzukommen schien. Ihren sprechenden Ausdruck fanden die lettischen Kriegserfahrungen in der Forderung ›ein freies Lettland in einem freien Russland‹, die seit 1916 zur feststehenden Losung breiter Bevölkerungsschichten geworden war: »Diese Antwort ist vor allem ein Bekenntnis zu sich selbst, zugleich aber auch ein Bekenntnis zu Russland und ein Glaube an den Sieg des wahren freien Russlands. Als ein solches Bekenntnis ist die Antwort … ›Ein freies Lettland im freien Rußland‹ … die Antwort des ganzen lettischen Volkes.«302 Zwar blieb die inhaltliche Füllung dieser Forderung variabel und vieldeutig, doch über die Notwendigkeit einer ethnischen Grenzziehung herrschte ein übergreifender Konsens. Alle im Frühjahr 1917 neu entstandenen demokratischen Parteien nahmen die Forderungen einer politischen Autonomie Lettlands innerhalb des Reichs in ihr Programm auf. Das Jahr 1917 bezeichnet 301 Mūsu bataljoni [Unsere Batallione] in: Baltija Nr. 18, 1916, zitiert nach: Dopkewitsch, S. 41. Vgl. auch Osolin, Rußland oder Deutschland, S. XI: »Vor 700 Jahren hat ›der deutsche Drang nach Osten‹ das lettische Volk aus den Reihen der Nationen und aus dem Bewußtsein der Welt verdrängt. Erst als dieser deutsche Drang auf den russischen Widerstand stiess … konnte das lettische Volk wieder beginnen, den ihm gebührenden Platz unter den Nationen zu erringen, mit denen zusammen es für … den Sieg des wahren demokratischen Rußlands kämpft. Durch diesen Kampf ist das lettische Volk wieder in das Bewußtsein der Welt eingetreten: 1905 durch die lettische Revolution, 1915 durch die lettischen Freiwilligenlegionen.« 302 Osolin, Rußland oder Deutschland, S. 6

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damit auch den endgültigen Übergang von der geographischen Bezeichnung zum politischen Begriff. Doch blieb die Forderung nach nationaler Autonomie zunächst im Rahmen des bestehenden Reiches, das dezentralisiert und demokratisiert gedacht wurde. Die Vorstellung eines Sezessionsnationalismus gilt es für die baltischen Völker daher zu revidieren: Im Nordwesten des Zarenreichs blieben Autonomievorstellungen bis 1917 eingebunden in die Vorstellung eines reformierten Reiches. Autonomie innerhalb des Reiches, nicht aber Loslösung vom Reich war die Parole der baltischen Nationalismen. Der Krieg sollte aber auch die deutsche Raumvorstellung ›baltischer Provinzen‹ in ungeahntem Ausmaß politisch aufladen. Denn das zügige Vorrücken der deutschen Truppen und die Besetzung Kurlands im Jahr 1915 schürte im deutschbaltischen Milieu erstmals Hoffnungen auf einen Anschluß der baltischen Region an das Deutsche Reich. Bisher hatte die Vorstellung ›baltischer Provinzen‹, so eindeutig sie auch in kultureller Hinsicht zu bestimmen gesucht wurde, keinerlei separatistische Züge aufgewiesen. Doch hinter der Frontlinie begann die traditionelle Loyalität zum Zaren jetzt zu bröckeln. Kollektive Demütigungen wie ein Sprachverbot des Deutschen in der Öffentlichkeit, das rücksichtslose Vorgehen der Armee gegen ›feindliche Ausländer‹ und ›Spione‹, die vor allem in den Deutschen vermutet wurden, und die offensive Feindschaft der Letten taten ihre Wirkung.303 Während die Russifizierungsmaßnahmen die Loyalität zu Zar und Reich nicht erschüttern konnten, bewirkte die Erfahrung des Krieges eine Verschiebung deutscher Loyalität vom Zaren zum Kaiser. Die Ereignisse des Jahres 1917 trieben die Politisierung der konkurrierenden Raummodelle weiter voran. Denn mit dem Zerfall des Zarenreichs war die Forderung nach lettischer Autonomie innerhalb der imperialen Grenzen obsolet geworden. Die Bindung an Russland begann sich zu lockern und die veränderte internationale Konstellation provozierte erstmals den Gedanken völliger staatlicher Unabhängigkeit sowohl von Russland als auch von Deutschland: »Wann kommt für uns der Tag, an welchem der freie Lette sein Antlitz dem Sonnenaufgang zuwenden und kühn ausrufen wird: ›Wo Lettland beginnt, dort hört Russland auf!‹«304 Gleichzeitig führte das erneute Vorrücken des deutschen Heeres und die Eroberung Rigas im Herbst 1917 dazu, daß sich die deutschbaltischen Hoffnungen auf einen Anschluß intensivierten und der Gedanke eines ›baltischen Staates‹ unter deutscher Führung zunehmend eine reale Option zu sein schien. Emigrierte Deutschbalten wie Paul Rohrbach oder Theodor Schiemann initiierten im deutschen Kaiser303 Vgl. Lohr. 304 Ernest Blanks, 700 und 200 gadi [700 und 200 Jahre], in: Dzimtenes Atbalss 3.6.1917, zitiert nach Germanis, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, S. 40. Vgl. auch J. Bankavs, Ko dārit?, in: Dzimtenes Atbalss, Nr. 66, 1917, zitiert nach: Dopkewitsch, S. 96.

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reich eine Kampagne, um die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß »die geistige Heimat unseres Landes allezeit in Deutschland lag … Russisches hat nicht auf die Balten abgefärbt, und Esten und Letten sind ohne jeden Einfluß auf sie gewesen; sie waren, sind und bleiben kerndeutsch.«305 Und in einer von Friedrich Meinecke, dem Nationalliberalen Eugen Schiffer und Friedrich v. Siemens initiierten Massenpetition, unter der mehr als 20 000 Unterschriften standen, wurde der deutschen Regierung erklärt: »Die Lande gehören uns. Die Seele des Volkes lehnt sich auf dagegen, das Deutschtum in den Ostseeprovinzen aufzugeben.«306 Die veränderte Problematik, daß es jetzt nicht mehr um eine lettische Autonomie innerhalb Russlands ging, sondern um eine unabhängige lettische Republik gegenüber dem Konzept eines prodeutschen ›baltischen Staats‹, provozierte eine publizistische Kontroverse zwischen St. Petersburg, Riga und Berlin, in dem die Konkurrenz um Verortung ideologisch kulminierte. In seinem Essay »Baltische Zukunftsgedanken« begründete Rudolf v. Hoerner, ein Vertreter des deutschbaltischen Adels, die Notwendigkeit eines Anschlusses der ›baltischen Provinzen‹ an Deutschland vor allem mit historischen und kulturellen Argumenten. Die mittelalterliche Landnahme und die Selbständigkeit des livländischen Ordensstaates hätten es vermocht, »das Gepräge deutschen Wesens den baltischen Verhältnissen so tief einzudrücken, dass die nachfolgenden Sturmfluten es nicht mehr auszutilgen vermochten.«307 Die weit zurückreichende Prägekraft deutscher Kultur rechtfertige es daher auch, hier nicht von Annexion als vielmehr vom Eintritt Deutschlands in sein ›angestammtes Erbe‹ zu sprechen: »Wenn irgendwo die französische Erfindung des Begriffs ›Desannexion‹ den Erweis ihrer Anwendbarkeit finden kann, so ist das hier in der baltischen Frage.« Der ›baltische Staat‹, welcher deutschbaltischen Konservativen vorschwebte, sollte durch die gezielte Ansiedlung deutscher Kolonisten sowie eine systematische ›Eindeutschung‹ der Letten und Esten hergestellt werden. Politisch präferierten Hoerner und seine Gesinnungsgenossen eine konstitutionelle Monarchie mit dem deutschen Kaiser als Haupt, in welcher den Deutschbalten eine erhebliche Sonderstellung politischer und kultureller Art zukäme. Dieser Vorschlag entsprach im Großen und Ganzen auch den Wünschen Wilhelms II., der obersten Heeresleitung und der neuen Reichsregierung unter Graf Hertling, die ihre Überzeugung von einem ›deutschen Baltikum‹ noch im September 1918 auf der glanzvollen Wiedereröffnung der Dorpater Universität zu beweisen suchten.308 305 Die Baltischen Provinzen, Bd. 6. 306 Denkschrift mit 20 000 Unterschriften am 31.3.1917 an Bethmann Hollweg, zitiert nach Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 399. 307 v. Hoerner-Ihlen, S. 6. Dort, S. 7, auch das folgende Zitat. 308 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 399ff., 526ff.

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Keineswegs alle Deutschen der Region befürworteten jedoch eine reichsdeutsche Annexion. Das liberale Wirtschaftsbürgertum, dessen wirtschaftliche Interessen nach Russland wiesen, stand dem Gedanken einer Angliederung an das deutsche Reich, welche die Ostseeprovinzen zum Agrarland herabgedrückt hätten, überaus skeptisch gegenüber: »Die deutsche Annexion wäre ein schwerer … Schlag für die blühende Industrie Lettlands. Daß das Wirtschaftsleben Lettlands ohne das Verbundensein mit Russland, ohne freien Absatz in das große russische Hinterland, ohne das Rückgrat der russischen Prohibitivzölle seine jetzige Entwicklung nicht … behaupten könne – das sehen auch die deutschbaltischen Bürgerlichen, die kaufmännischen und industriellen Kreise ein. Daher ihre ablehnende Haltung gegen die Annexionsidee.«309 Der Riß, der in dieser Frage durch das deutsche Milieu ging, wurde im generationellen Konflikt zwischen dem liberalen Paul Schiemann und seinem hochkonservativen Onkel Theodor Schiemann, den Wilhelm II. zum letzten Kurator der Dorpater Universität gemacht hatte, exemplarisch deutlich. Theodor Schiemann war ein beredter Advokat der Vorstellung, daß »wir aus dem Ostseelande ein deutsches Gemeinwesen« schaffen müssten und sprach sich in seinen Briefen des Jahres 1917 und 1918 vehement gegen die gleichberechtigte politische Teilnahme der Letten und Esten aus: »Diese Leute nun als gleichberechtigtes Staatselement in den künftigen baltischen Landesstaat einzuführen, halte ich für ebenso schädlich und gefährlich für die Zukunft der baltischen Deutschen als für die Zukunft des deutschen Reichs.«310 Paul Schiemann dagegen wandte sich gegen die ethnozentrische Argumentation seines Onkels und plädierte dafür, »gemeinsam mit den Letten und Esten und gemeinsam auch mit den übrigen Randstaaten die staatliche Selbständigkeit der Ostgebiete durchzukämpfen.«311 Obwohl sich seine Hoffnung auf ein multiethnisches Staatswesen nicht erfüllte, fand er sich schnell mit dem Scheitern dieser Hoffnung ab und unterstützte 1919 als Gründer der Deutschbaltischen Demokratischen Partei den Auf bau der neuen Republik Lettland. Der deutschbaltischen Raumvorstellung eines ›baltischen Landesstaats‹ unter deutscher Führung stellten die Führer der lettischen Nationalbewegung nach der Oktoberrevolution den Entwurf einer lettischen Republik, einer unabhängigen ›Latvija‹ entgegen. Die Politisierung räumlicher Vorstellungen hatte damit einen Punkt erreicht, wo keinerlei Konsens über die politische Geographie der Region mehr möglich war und die konkurrierenden kognitiven Karten einander endgültig ausschlossen. In seinen »Lettischen Zukunftsgedanken«, mit denen der Leiter des lettischen Flüchtlings309 Osolin, Russland oder Deutschland, S. 15f.; vgl. auch dies., Freies Lettland, S. 11. 310 Brief Theodor Schiemanns an Paul Schiemann vom 24.8.1917, in: Schiemann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 162. 311 Paul Schiemann an Theodor Schiemann undatiert, in: ebd., S. 163.

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komitees, Arveds Bergs, auf Hoerners Kampfschrift antwortete, zog Bergs ebenfalls historische Deutungskategorien heran, die nun aber der Legitimierung eines lettischen Staates dienten. Erneut bemühte Bergs den nationalen Mythos von der Existenz einer ausgebildeten lettischen Nation, die erst die Ankunft der Deutschen zerstört hätte.312 Mit einem unabhängigen Staat knüpfe man daher an diese Vergangenheit an und reaktiviere das historische Erbe. Auf Hoerners Argument von der deutschen Leitkultur antwortete Bergs mit der Wirkungsmacht der lettischen Kultur, »die dem Lande seine Physiognomie gäbe.«313 Der von Hoerner präferierten deutschen Monarchie stellte Bergs die Erwartung einer lettischen Demokratie entgegen, und gegenüber den reichsdeutschen Interessen an einem agrarischen Zufuhr- und industriellen Absatzgebiet betonte Bergs die lettischen Interessen an einem Absatz der eigenen Industrie in Russland. Weder zu Russland, das »nie verstanden habe, sich in Lettland häuslich niederzulassen, das Land kulturell zu befruchten oder seinen Ausbau zu fördern«, noch zu Deutschland gehöre das neue Lettland.314 Seinem Charakter »natürlicher kultureller und wirtschaftlicher Vermittler zwischen Westen und Osten«, entspräche am besten die politische Unabhängigkeit: »Latwija soll in Zukunft ein unteilbares politisches Ganzes sein.«315 Nur wenige Monate später kam es unter dem Eindruck der deutschen Revolution und begünstigt von der internationalen Mächtekonstellation am 18. November 1918 in Riga zur offiziellen Erklärung nationaler Unabhängigkeit, und die Republik ›Lettland‹ wurde binnen kurzen von der neuen deutschen Regierung wie auch von England völkerrechtlich anerkannt.316 Deutsche und Letten hatten dasselbe Territorium sehr unterschiedlich vermessen und gedeutet. Beide Raumvorstellungen waren Erfindungen der Gegenwart und entstanden aus dem akuten Bedürfnis nach äußerer Abgrenzung und innerer Integration. Den Bezugsrahmen bildete im einen Fall die Region, im anderen die Nation, doch bei der Konstruktion dieser unterschiedlichen kognitiven Karten gingen beide Gruppen ähnlich vor. Sowohl die ständisch-regionale Grenzziehung der Deutschen als auch die ethnische der Letten wurde vor allem mit historischen und kulturellen Deutungskategorien legitimiert, so daß die Differenz primär in der unterschiedlichen Interpretation ähnlicher Elemente lag. In beiden Fällen hielten sich Projektion und Realität die Waage, wobei die ethnozentrische Konstruktion der ›eigenen Karte‹, welche die Bedeutung des ›Anderen‹ jeweils ausblendete, ein 312 313 314 315 316

Bergs, Lettische Zukunftsgedanken, S. 8. Ebd., S. 17. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 23. Vgl. Kalniņš, Die Staatsgründung Lettlands, S. 313.

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gemeinsames Muster war. Während der Begriff ›baltisch‹ vom Fortschrittszum Beharrungsbegriff mutierte, wurde aus der poetischen Vorstellung einer ›Latvija‹ ein politischer Begriff, dem der Krieg zur staatlichen Realität verhalf. Beide Konzeptionen illustrieren über den regionalen Kontext hinaus, daß sich die spezifischen Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen auch in räumlichen Vorstellungen widerspiegelten, daß historisches Erleben sich nicht nur in politischen Leitbegriffen ablagerte, sondern auch in Raumbegriffen seinen sprachlichen Ausdruck fand.

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Ausblick und Resumee: Riga im europäischen Vergleich Rigas hochdifferenzierte Öffentlichkeit brach im Ersten Weltkrieg abrupt zusammen. Die multiethnische Struktur der Stadt, welche die städtische Gesellschaft in Friedenszeiten in so hohem Maße mobilisiert, freilich auch polarisiert hatte, erwies sich unter den Bedingungen des Krieges als schwere Hypothek. Belastend war bereits die exponierte Geographie der Stadt. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs stellte die Russische Regierung die drei Ostseeprovinzen unter direkte Militärverwaltung, um den anrückenden deutschen Truppen besser begegnen zu können. Als das deutsche Heer im Frühjahr 1915 Kurland besetzte und die Front sich für die nächsten zwei Jahre in Hörweite der Stadt verlagerte, kam es zu tiefgreifenden Veränderungen, die dem städtischen Leben weit über das Kriegsende hinaus ihren Stempel aufdrücken sollten. Seit 1915 flüchteten Tausende von Letten aus dem besetzten Kurland und aus Riga ins Innere Rußlands. Hinzu kam die von der Regierung angeordnete Evakuierung der gesamten jüdischen Bevölkerung. Die Stadt verlor zwischen 1914 und 1918 mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung und sollte sich von diesem demographischen Zusammenbruch erst Jahrzehnte später erholen. Einen ähnlichen Bruch stellte die weitgehende Deindustrialisierung der zuvor boomenden Industriemetropole dar. Die russische Regierung schloß den Hafen, übernahm die Eisenbahn für ausschließlich militärische Zwecke und ordnete den Abtransport wertvoller Industrieanlagen an. Damit einher ging die Liquidierung zahlreicher Firmen und die Konfiszierung privaten Eigentums, eine Praxis also, die das Grundrecht auf Eigentum in den westlichen Teilen des Reiches auszuhöhlen begann. Besonders einschneidend wurde von den Zeitgenossen die politische und gesellschaftliche Diskontinuität wahrgenommen, welche die Offensive der Regierung gegen ›feindliche Ausländer‹ mit sich brachte.1 Am vehementesten richtete sich diese Nationalisierungsagenda in Riga gegen die deutsche Bevölkerung. Zwar waren die Deutschbalten russische Staatsangehörige, doch ihre Loyalität wähnte die russische Kriegsbürokratie beim Deutschen Reich, dessen Soldaten ein paar Steinwürfe entfernt im Schützengraben lagen. Sämtliche deutsche Schulen wurden im September 1914 geschlossen, 1 Vgl. Lohr.

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im Laufe des ersten Kriegsjahres alle deutschen Vereine aufgelöst, das Polytechnikum nach Moskau evakuiert, deutschsprachige Publikationen generell verboten. Am empfindlichsten traf das deutsche Milieu der staatliche Erlaß, in der Öffentlichkeit nicht mehr die deutsche Sprache benutzen zu dürfen. Die Unterdrückung der deutschen Kultur und der völlige Verlust an Öffentlichkeit wurden zur prägenden Kriegserfahrung der Rigaer Deutschen und trugen maßgeblich dazu bei, jenen Loyalitätswechsel vom Zar zum Kaiser, den die nationalistische Rechte bereits vor 1914 grundlos suggeriert hatte, jetzt tatsächlich herbeizuführen: »Wüßten die Urheber eines Sprachverbots, daß ein fanatisierter Feind aus dem Bedrückten wird! Was unser deutscher Verein nie vermocht, das taten diese Tage!«2 Für diese neuartige Politisierung von Ethnizität, die erstmals auf den Anschluß an das Deutsche Reich zielte, war vor allem die Radikalisierung bestehender Spannungen unter den Bedingungen des Krieges verantwortlich. Die Nationalisierungsagenda des Staates, mochte sie sich in der Konfiskation von Eigentum, in der Verletzung persönlicher Freiheit oder im permanenten Spionageverdacht, einer Obsession der russischen Kriegsgesellschaft, manifestieren, war vor allem deshalb so durchschlagend, weil sie auf bereits lange bestehende Konflikte zurückgriff und diese unter völlig veränderten Bedingungen aktualisierte. Hatten sich die Aversionen von russischer Gesellschaft und Bürokratie bereits in Friedenszeiten gegen die ›Fremdstämmigen‹ gerichtet, legitimierte der Krieg das Vorgehen gegen dieselben Gruppen nun als ›inneren Feind‹ Rußlands. Eine entscheidende Zäsur stellte der Kriegsausbruch ebenso für das lettische Milieu Rigas dar. Der Krieg gegen das wilhelminische Deutschland stieß vor allem deshalb auf solchen Enthusiasmus, weil der Feind des russischen Reiches, so wenig beliebt es auch sein mochte, zugleich den historischen Feind des eigenen Volkes bezeichnete. Der Staatenkrieg wurde zum Volkskrieg, in dem es die jahrhundertelange Unterdrückung durch die Deutschen endlich abzuschütteln galt. Da Deutschbalten ungeachtet ihrer russischen Staatsbürgerschaft und Angehörige des Deutschen Reichs von Letten wie Russen unter den Bedingungen des Krieges gleichgesetzt wurden, konnte die militärische Gegnerschaft ins zivile Leben hineindringen. Die Mauern an Feindseligkeit, welche die Letten seit Kriegsausbruch um ihre deutschen Nachbarn zogen, waren eine Folge dieser radikalen Politisierung von Ethnizität. Erstmals war diese in der Revolution von 1905 zum Ausdruck gekommen war, doch im Gegensatz zu 1905, als der russische Staat die populare Gewalt einzudämmen suchte, tolerierten die Behörden physische Gewalt gegen Deutsche jetzt in den meisten Fällen, was die lettische Feindseligkeit noch anheizte. 2 Vgl. Mein Heimatland in schwerer Zeit.

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Im Herbst 1917 wurde Riga von deutschen Truppen erobert und ein Renationalisierungsprogramm, diesmal unter deutscher Flagge, eingeleitet. Begrüßten die Deutschen den Einmarsch des deutschen Heeres mit unverhohlener Begeisterung, war es für das lettische Milieu ein herber Rückschlag aller seiner Hoffnung auf eine nationale Autonomie innerhalb des Reichs, welche die russische Februarrevolution des Jahres 1917 noch verstärkt hatte. Zu einer Kampfzone besonderer Art wurde Riga im Jahr 1919. Das Kriegsende im Westen hatte hier keineswegs zum Abflauen der Kampfhandlungen geführt, vielmehr gewann der Volkskrieg aus der Verknüpfung mit ideologischen und rassischen Motiven eine neue, vorher unbekannte Gewalt. Mit der Besetzung Rigas durch lettische Truppen der Roten Armee im Januar 1919 gerann der Kampf gegen den ethnischen Gegner zugleich zum Kampf gegen den Klassenfeind, wovon vor allem die deutsche Oberschicht betroffen war. Die Rationierung von Lebensmitteln anhand von Klassenkategorien oder die Zwangsevakuierung der Rigaer ›Bildungsschicht‹, die 10 000 Menschen obdachlos machte, illustrieren, wie eine solche Fermentierung aussehen konnte. Die Rückeroberung der Stadt durch die sogenannte ›Baltische Landeswehr‹ und lettische Regimenter im Juni 1919 löste die komplizierte Interessenverflechtung keineswegs auf. Im Herbst 1919, als russische Weiße und die ›Baltische Landeswehr‹, bestehend aus Deutschbalten und reichsdeutschen Freischärlern, gegen lettische Truppen kämpften, verschränkten sich auf dem Schlachtfeld, das erstmals in die Stadt selbst hineinreichte, nationale, konterrevolutionäre und weltanschauliche Motive. Für die lettischen Regimenter ging es um die Verteidigung der gerade erworbenen nationalen Unabhängigkeit, für die kämpfenden Deutschbalten um die Behauptung ihrer historischen Sonderstellung. Und für die reichsdeutschen Freikorps handelte es sich um den Kampf gegen den Bolschewismus und zugleich gegen die sozial und ethnisch ›minderwertigen Ostvölker‹, ein Kampf, der für die im Krieg verlorene Lebenswelt kompensieren sollte. Zu Recht hat Dan Diner von dem baltischen Bürgerkriegsschauplatz als einem »Treibhaus politischer Mentalitäten« gesprochen.3 Erst im Januar 1920 kam der baltische Bürgerkrieg, dessen Motivverflechtung eine europäische Dimension aufweist, zum Ende und eine um die Hälfte verringerte Bevölkerung begann mit der Rückkehr zum zivilen Leben, das von den Nachwirkungen der kriegerischen Gewalt jedoch nachhaltig belastet bleiben sollte. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Brüche demographischer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art, die Riga im Krieg prägten, stechen die Kontinuitäten der Jahrzehnte vor 1914 umso mehr hervor, lassen die Spannun3 Diner, S. 48. Vgl. auch Liulevicius. Zu den einzelnen Daten und Schauplätzen vgl. v. Hehn u.a., Von den Baltischen Provinzen zu den Baltischen Staaten 1918–1920.

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gen der Vorkriegsgesellschaft sich aber auch stärker als jene Faktoren begreifen, die unter den Bedingungen des Krieges zu Bürgerkriegsverhältnissen führten. Die Politisierung von Ethnizität und die Ethnisierung von Kultur hatten seit den 1860er Jahren eine ausgeprägte ethnische Segmentierung der städtischen Gesellschaft bewirkt, die ihren gewaltsamen Kulminationspunkt in der Revolution von 1905 fand. Angesichts dieses spezifischen Verlaufs stellt sich einer Arbeit, die sich weniger als Lokalstudie, sondern vielmehr als Analyse der Mechanismen multiethnischer Koexistenz versteht, schließlich die Frage nach der Gültigkeit des Einzelfalls und damit nach der Verallgemeinerbarkeit ihrer Befunde. Es lohnt sich daher, die Ausgangsfrage, warum Multiethnizität im Rigaer Fall zu einer so weitgehenden Nationalisierung der städtischen Gesellschaft führte, in einen weiteren europäischen Rahmen zu stellen.4 Ein Vergleich mit Prag und Odessa ermöglicht es, klarer herauszukristallisieren, ob Multiethnizität in urbanen Räumen notwendigerweise konfliktauslösend wirkte, oder ob sich auch friedliche Formen multiethnischen Zusammenlebens beobachten lassen. Die hier herangezogenen Städte teilen mit Riga das Strukturmerkmal der Multiethnizität, variieren aber hinsichtlich ihrer imperialen Zugehörigkeit und räumlichen Lage in Osteuropa und Ostmitteleuropa. Ein solcher Vergleich, so partiell und skizzenhaft er auch bleiben muß, trägt dazu bei, Ähnlichkeiten und Unterschiede multiethnischer Koexistenz innerhalb Europas deutlicher zu erkennen, die Reichweite des Rigaer Erklärungsmusters zu überprüfen und schließlich strukturelle Merkmale zu benennen, die Ostmitteleuropa als eigenständigen historischen Raum konstituieren. Gerade mit Blick auf die Verengung, welche mit ›Ostforschung‹ und dem methodischen Nationalismus der ostmitteleuropäischen Historiographie verknüpft war und noch immer ist, muß es heute darum gehen, Wege aus dieser methodischen Einbahnstraße und räumlichen Provinzialisierung zu beschreiten. Neben dem Vorschlag einer interethnischen Verflechtungsgeschichte erscheint auch der Vergleich, welcher der singulären Entwicklung ihre Selbstverständlichkeit nimmt und die Perspektive konstruktiv verfremdet, als ein sinnvoller Zugangsweg zu einer modernen Geschichtsschreibung Ostmitteleuropas. Das Interesse dieser Studie galt erstens dem Phänomen der Multiethnizität. Ethnizität war in Riga zunächst ein Ausweis ständischer Zugehörigkeit gewesen, welche sich in den baltischen Provinzen des russischen Zarenreichs bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Leitprinzip gesellschaftlicher Ordnung erhalten hatte. Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung, der Ausweitung politischer Partizipation und der Entwicklung nationaler Kulturen begannen die Zeitgenossen seit den 1860er Jahren mit Ethnizität politische Forderungen und kulturelle Deutungsmuster zu verbinden, artikulierten sich weniger als Bauer oder Bürger, denn als Lette, Russe oder Deutscher. 4 Vgl. Haupt u. Kocka, Geschichte und Vergleich; S. 9–46; Kaelble, Vergleich.

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Die Politisierung von Ethnizität führte in Riga zur Formierung ethnischer Milieus, denen spezifische Leitvorstellungen Kohärenz nach innen und Abgrenzung nach außen ermöglichten. Alle Milieus zogen zur Begründung dieser variierenden Leitvorstellungen historische Deutungskategorien heran. Ob man wie die Deutschen Identität aus der Vorstellung einer bruchlosen historischen Kontinuität zog oder wie die Letten die eigene Rolle als Bruch mit der Geschichte begriff, immer war die Deutung der Vergangenheit vom Bezugsrahmen und den Anforderungen der Gegenwart geprägt. Bei der Konstruktion des passenden Geschichtsbilds griffen alle Milieus zu etwa gleichen Teilen auf die Realität wie auf Erfindung zurück, blieb auch die Strategie solcher Konstruktionen – Selektion und Erfindung – ähnlich. Eine vergleichbare Entwicklung ließ sich in Prag beobachten, dessen Bevölkerung sich aus Tschechen, Deutschen und Juden zusammensetzte.5 Die Politisierung von Ethnizität und ihre Verknüpfung mit einem langen Gedächtnis führte hier ebenfalls zur ethnischen Segmentierung der städtischen Gesellschaft. Ein maßgeblicher Katalysator war auch hier die Überschneidung von sozialer und ethnischer Zugehörigkeit. Tschechen hatten bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die soziale Unterschicht ausgemacht, Deutsche die Mittel- und Oberschicht gestellt. Die soziale Aufwärtsmobilität der Tschechen führte seit der Jahrhundertmitte dazu, daß soziale Zugehörigkeit sich zunehmend von Ethnizität löste. Dennoch blieb auch in Prag die eindeutige Überrepräsentation der Deutschen im gehobenen Bürgertum bestehen. Juden akkulturierten sich in beiden Fällen zunächst in die deutsche Kultur, wobei sich Unterschiede zeigten. In Riga blieben sie trotz ihrer Identifikation mit der deutschen Kultur scharf vom deutschen Milieu getrennt, wogegen sie in der Habsburgermonarchie, wo die rechtliche Emanzipation bereits vollzogen war, einen festen Teil des deutschen Milieus Prags konstituierten.6 Im Zuge der Nationalisierung wurden ethnische Mischformen wie die häufige Akkulturation von Tschechen in das deutsche Milieu Prags immer seltener, die Grenzen der Milieus nach 1900 immer undurchlässiger. In Odessa lässt sich eine so eindeutige Überschneidung von Ethnizität und Klasse nicht beobachten.7 Hier fanden sich Russen, Juden und partiell auch Ukrainer, welche die dominierenden Bevölkerungsgruppen der Stadt bilde5 Prag wies 1869 eine Bevölkerung von 204 000 auf, die sich bis 1910 auf 442 000 vergrößerte. Um 1880 bestand diese Bevölkerung zu 85% aus Tschechen, zu 8% aus Deutschen und zu 7% aus Juden, vgl. Kieval, S. 14ff., S. 61ff.; Cohen, Ethnic Survival, S. 92ff.; Cohen subsummiert die Juden unter den Deutschen und folgt damit den zeitgenössischen Statistiken, die alle Jiddisch-Sprechenden den Deutschen zurechneten. Dies entsprach zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr der Realität. Kieval filtert die jüdischen Anteile unter den Tschechen und Deutschen heraus und kann die Juden daher gesondert nennen. 6 Vgl. Cohen, Ethnic Survival, S. 76–85; Kieval, Kap. 6. 7 Die Bevölkerung Odessas betrug 1867 rund 128 000, im Jahr 1910 rund 620 000, vgl. Herlihy, S. 234; Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft, S. 52. 1897, in der ersten

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ten, zunehmend auf allen Stufen der sozialen Leiter. Da die Politisierung in Odessa vergleichsweise schwach war und wegen des jungen Alters der 1794 gegründeten Stadt auch kaum durch lange Erinnerungen dynamisiert werden konnte, bildeten weniger Ethnizität als vielmehr Klasse und Konfession den dominanten Gruppierungsmodus.8 Vor dem Hintergrund der erheblichen Konflikte in Riga und Prag deuten diese Befunde daraufhin, daß die Konfliktanfälligkeit multiethnischer Gesellschaften in jenen Fällen, wo die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gruppen nicht nur einfach, sondern mehrfach markiert waren, beispielsweise durch die Gleichzeitigkeit sozialer, ethnischer und politischer Differenz in Riga und Prag, besonders ausgeprägt erscheint. Wie sehr Multiethnizität in Riga zu mobilisieren, zugleich aber zu polarisieren vermochte, zeigte sich zum einen auf der kommunalpolitischen Ebene. Die Wähler gruppierten sich ausschließlich nach ethnischen Kriterien und begriffen die städtische Lokalpolitik weniger als Regelungsraum lokaler Angelegenheiten, sondern als Austragungsort nationaler Interessen. Wahlbeteiligungen zwischen 60% und 80% waren ein Ausfluß dieser Nationalisierung politischer Kultur. Eine ähnliche Mobilisierung zeigte sich in Prag, wo die Wähler ebenfalls in ethnischen Lagern gegeneinander antraten und lokale Anliegen national aufgeladen wurden. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag hier bei 55%.9 In Odessa dagegen blieb die politische Kultur schwach ausgeprägt. Hier wurden politische Interessen kaum mit ethnischer Zugehörigkeit verknüpft, zumal die ukrainische Nationalbewegung erst im Entstehen war, und die Wahlberechtigten gruppierten sich überwiegend nach ständischen, nicht nach ethnischen Kriterien.10 Weil Multiethnizität hier nicht in konkurrierende nationale Anliegen mündete, blieben es lokale Argumente, nicht nationale Interessen, welche den kommunalen Schauplatz prägten, und die Wahlbeteiligung zwischen 1870 und 1914 scheint bei etwa 30% gelegen zu haben, wie sie auch im übrigen Zarenreich an der Tagesordnung war.11 Allrussischen Volkszählung, bezeichneten sich davon 49% als Russen, 9% als Ukrainer, 31% als Juden und 11% als Sonstige, vgl. Hausmann, ebd., S. 46ff.; Herlihy, S. 232ff. 8 Auf das Phänomen der wiederkehrenden Pogrome kann hier nicht eingegangen werden; die Forschung betont jedoch, daß es sich vor der Jahrhundertmitte eindeutig um religiös geprägte Konflikte, danach um religiöse wie sozioökonomisch gefärbte Auseinandersetzungen handelte, vgl. Zipperstein; Weinberg; Aronson. 9 Vgl. Melinz u. Zimmermann, S. 126. 10 Vgl. Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft, S. 468. 11 Für Odessa liegen keine genauen Angaben zur kommunalen Wahlbeteiligung vor. Häfner, Stadtdumawahlen und soziale Eliten, S. 251, nennt jedoch Durchschnittswerte einer Reihe russischer Städte, die alle um die 30% liegen. In Kazan waren es 1890 sogar nur 9%, 1905 33%. Angesichts der Beschreibung der städtischen Wahlen und der Wahlmotivation in Odessa bei Hausmann, Universität und Gesellschaft, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß diese Schätzung – eine niedrige Wahlbeteiligung als gesamtrussisches Phänomen – auch auf Odessa zutrifft.

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Der komparative Blick auf die politische Kultur in Riga, Prag und Odessa zeigt, daß die Rigaer Auseinandersetzungen um die Sprache von Justiz, Verwaltung und Schule durchweg typische Konflikte in jenen urbanen Räumen darstellten, wo Multiethnizität mit Mehrsprachlichkeit einherging. Dieses Konfliktpotential wurde von feudalen Residuen im ländlichen Raum häufig noch aufgeheizt. Ideen einer Deeskalierung, oft in Form liberaler oder sozialistischer Entwürfe, wie beispielsweise der supranationale Liberalismus Paul Schiemanns oder der Austromarxismus Karl Renners, blieben meist erfolglos. Die genannten Probleme ließen sich erst durch radikale Änderungen staatsrechtlicher Art – neue Nationalstaaten im lettischen und tschechischen Fall – lösen, die ethnische Minderheiten indes häufig benachteiligten. Die Herausforderung von Multiethnizität führte in Riga zu einer überaus fortschrittlichen Kommunalpolitik, die 1908 in der ersten städtischen Sozialversicherung des gesamten Zarenreichs kulminierte. Diese Reformpolitik ging auf die Tradition ständischer Selbstverwaltung zurück, welche bis ins Mittelalter reichte. Indem das deutsche Stadtbürgertum die überkommene Denkfigur vom städtischen Gemeinwohl in die Verpflichtung zu einer kommunalen Sozialpolitik umdeutete, die dem Gabenempfänger einen Rechtsanspruch gab, wurde die korporative Tradition der ständischen Gesellschaft – ähnlich wie in den alten deutschen Reichs- und Hansestädten – auch im nichtständischen Gewande fortgesetzt. Begünstigt wurde dieser Reformimpetus von den engen Verbindungen in den Westen Europas. Die deutsche Elite Rigas verfolgte die sozialpolitischen Experimente in der Schweiz, in Deutschland und in England mit großer Aufmerksamkeit und suchte sie auf den Nordwesten des Zarenreichs zu übertragen. So führte die Orientierung an westeuropäischen Vorbildern 1866 zur Gründung eines Statistischen Amts, dessen Arbeit auch hier die Grundlage jener ›Verwissenschaftlichung des Sozialen‹ abgaben, die im Westen Europas zur Basis kommunaler Reformbereitschaft wurde. Als stärkster Reformhebel erwies sich jedoch die multiethnische Konkurrenz. Je lauter die russische Presse den vermeintlichen Separatismus der Deutschbalten anklagte, je mehr die Letten politische Teilhabe forderten, desto überzeugender mußten die deutschen Kommunalpolitiker ihre Leistungsbereitschaft unter Beweis stellen, um die deutsche Führung der multiethnischen Kommune zu rechtfertigen. Dieser Legitimationsdruck führte zu einer besonders reformorientierten Sozialpolitik, die Riga von osteuropäischen Städten unterscheidet und durchweg in die Tradition west- und mitteleuropäischer Großstädte stellt. Auch in Prag trieb die tschechische Stadtverwaltung die Modernisierung der böhmischen Metropole voran, obgleich ideologische Konflikte zwischen Jung- und Alttschechen eine noch effektivere Lösung der kommunalen Aufgaben verhinderten.12 Gas- und Wasserversorgung, Kanalisation in den mei12 Vgl. Melinz u. Zimmermann, S. 30ff.

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sten Stadtteilen und elektrische Straßenbahnen gehörten seit 1900 zur Normalität, und in der Sozialpolitik griff man zunehmend zu modernen präventiven Methoden.13 Im Gegensatz zu Riga, wo die deutsche Stadtverwaltung nach der Jahrhundertwende auch das lettische Schulwesen ausbaute, suchte die tschechische Verwaltung jedoch den kulturellen Handlungsraum der Deutschen, zum Beispiel durch die Senkung deren Schulbudgets, radikal zu beschneiden.14 In Odessa gelang die kommunale Bewältigung des Städtewachstums und seiner Probleme dagegen nicht. Vor allem nach der Jahrhundertwende dominierte hier eine reaktionäre Stadtverwaltung, die primär Eigeninteressen verfolgte und weder den notwendigen Hafenausbau vorantrieb noch die sozialen Folgen von Zuwanderung und Urbanisierung zu bewältigen versuchte.15 Ein direkter Zusammenhang von multiethnischer Ausgangslage und fortschrittlicher Kommunalpolitik lässt sich also nicht nachweisen, trifft vielmehr nur unter den spezifischen Bedingungen Rigas zu. Im Vergleich gewinnt jedoch ein anderer Zusammenhang an Gewicht, der eine fortschrittliche Kommunalpolitik zu begünstigen schien. Eine moderne Kommunalpolitik scheint vor allem dort mit viel Engagement und Erfolg betrieben worden, wo der Blick nach Westen gerichtet war und die sozialpolitischen Experimente im deutschen Kaiserreich, in der Schweiz oder in England ins Visier genommen wurden.16 Wo solcher Wissenstransfer schwach war oder auf wenig Resonanz stieß, blieben tendenziell auch die Herausforderungen von Migration, Urbanisierung und Industrialisierung unbewältigt. Mithin erweist sich das Ausmaß westlicher Einflüsse für die ost- und ostmitteleuropäische Städtelandschaft als Barometer kommunaler Modernisierungsfähigkeit. In welchem Ausmaß Multiethnizität mobilisieren wie polarisieren konnte, zeigt zum anderen die differenzierte Vereinslandschaft Rigas. Die Entfaltung eines städtischen Assoziationswesens ging auf die Ideen der europäischen Auf klärung zurück, welche das deutsche Stadtbürgertum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hier umzusetzen suchte. Seit den 1860er Jahren begannen Letten, Russen und Juden das deutsche Muster nachzuahmen und sich in Vereinen, Assoziationen und Klubs zu organisieren, die zum Rückgrat der Milieus wurden. Für das deutsche Assoziationswesen war zunächst die Gleichsetzung von »Geselligkeit und Bürgertugend« signifikant gewesen,17 weshalb karitative Zwecke im Vordergrund gestanden hatten. Die Politisierung von Ethnizität führte aber dazu, daß sich die städtischen Vereine zunehmend als 13 Vgl. ebd., S. 140–176. 14 Vgl. ebd., S. 185–200. 15 Vgl. Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft, S. 462–503; Herlihy, S. 168ff.; Brower, Russian City. 16 Vgl. eine ähnliche Argumentation bei Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung, S. 73. 17 Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie, S. 12.

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Foren partikularer, nationaler Interessen verstanden. Die hohe Selbstorganisation der multiethnischen Gesellschaft Rigas belegt eine Dichte von nahezu 700 Vereinen, welche die Halbmillionenstadt am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufwies. Zugleich trat die polarisierende Wirkung von Multiethnizität besonders deutlich zutage. Denn die Zeitgenossen entschieden sich durchweg dafür, die Grenzen ihrer Geselligkeit ethnisch zu markieren. Weder Gemeinwohl noch Kultur, weder berufliche noch sportliche Interessen konnten seit der Jahrhundertwende dort verbinden, wo Ethnizität trennte. Ein vergleichbares Muster kennzeichnete Prag. Das öffentliche Leben war hier seit den 1860er Jahren in ausgeprägtem Maße ethnisch segmentiert, während es im privaten Bereich noch Kontakte zwischen Deutschen und Tschechen gab.18 Ihre jeweiligen Leitvorstellungen setzten beide Gruppen vor allem im Vereinswesen durch, das sich mit wachsender ethnischer Konkurrenz immer dichter entfaltete und gleichsam zum klassischen Erfahrungsraum von ethnischer Selbstvergewisserung und Abgrenzung, und damit von Identität und Alterität wurde. Auch der Versuch der intellektuellen Avantgarde um Max Brod und Franz Kafka, die ethnischen Grenzen zu überwinden, blieb hier, wo Multiethnizität mit Mehrsprachigkeit einher ging und Sprache dadurch national aufgeladen wurde, ein erfolgloses Unterfangen. Mit mindestens 700 Vereinen wies Prag einen Grad an Vergesellschaftung aus, welcher den von der Forschung bisher kaum beachteten Zusammenhang von Multiethnizität und Mobilisierung für die Städtelandschaft Ostmitteleuropas deutlich belegt.19 Auf Odessa trifft dieser Zusammenhang hingegen nicht zu. Zwar wurden seit den 1860er Jahren eine Reihe von Klubs und Vereinen gegründet, die berufliche, kulturelle oder soziale Zwecke verfolgten, doch stellte das insgesamt ein begrenztes Phänomen dar. Das Konfliktpotential von Multiethnizität kam deshalb viel weniger zum Tragen, weil kulturelle Anliegen, anders als in Riga oder Prag, hier nicht mit ethnischer Zugehörigkeit per se verknüpft wurden. Außerdem benutzten Russen, Ukrainer und gebildete Juden dieselbe Sprache, weshalb Sprache sich hier kaum als Nationalisierungsinstrument heranziehen ließ. So gab es in Odessa durchweg auch ethnisch gemischte Vereine, blieb Geselligkeit unpolitisch und vermochte ethnische Unterschiede immer wieder zu überbrücken. Ein Vergleich dieser Beobachtungen erlaubt die These, daß Multiethnizität in erheblich politisierten Räumen zu einer ausgeprägten politischen und gesellschaftlichen Mobilisierung führte, daß dieser hohen Selbstorganisation aber ähn18 Vgl. Cohen, Ethnic Survival. 19 Diese Schätzung bei Cohen, Ethnic Survival, S. 159. Hoffmann, Politik der Geselligkeit, S. 76, nennt in Anlehnung an die Prager Adressbücher 1 600 Vereine; dies erscheint zu hoch gegriffen und mag an der großen Zahl sogenannter Hilfskassen liegen, die in den Adressbüchern unter ›Vereinen‹ verzeichnet wurden, nicht aber im eigentlichen Sinne Assoziationen darstellten.

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lich hohe ethnische Grenzziehungen gegenüberstanden, welche die Zivilgesellschaftlichkeit solcher Räume erheblich beschränkten. In Riga war schließlich auch die kulturelle Praxis der städtischen Gesellschaft ethnisch segmentiert. Weder führte die Abschaffung des muttersprachlichen Schulunterrichts, von der Deutsche wie Letten betroffen waren, zu einer gemeinsamen Front, noch konnte die gemeinsame evangelische Konfession verbinden. Denn mit Schule wie mit Kirche waren unterschiedliche Erfahrungen und Erwartungen verbunden. Dienten sie den Deutschen als Mittel kultureller Herrschaftsdurchsetzung, wurden sie von den Letten im Zuge ihrer Nationsbildung immer mehr als repressive Institutionen wahrgenommen. Doch auch der Versuch des Staates, seine kulturellen Präferenzen pädagogisch zu vermitteln, schlug fehl und trug vielmehr dazu bei, die Identität als Deutscher oder Lette noch zu festigen. Ebenso wenig vermochten integrativ gedachte Inszenierungen, die auf das gemeinsame städtische Erbe oder die Loyalität zur Dynastie rekurrierten, noch zu integrieren. Vielmehr erlaubte die Deutungsoffenheit von Fest und Denkmal konkurrierende Lesarten desselben Symbols. Ebenso bot das gemeinsam bewohnte Territorium immer weniger einen Anknüpfungspunkt. Grenzen wurden unterschiedlich gezogen, waren historisch oder ethnisch definiert, bezeichneten ›baltische Provinzen‹ oder ›Lettland‹, so daß auch die Kategorie des gemeinsamen Raumes eher spaltete als vereinte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich für Prag beobachten. Auch hier hatten bereits die Schillerfeiern der 1860er Jahre nicht mehr gemeinsam zelebriert werden können, da die Symbolfigur des toten Dichters für unterschiedliche Zwecke in der Gegenwart stand. 1882 musste die Prager Universität in eine tschechische und eine deutsche Hochschule geteilt werden, um eine konfliktfreie Lehre zu gewährleisten.20 Auch Raumbegriffe waren nicht mehr eindeutig konnotiert, sondern mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt und wurden als Waffe im Kampf um die Vorherrschaft eingesetzt. Während die böhmischen Deutschen auf das dynastisch-historisch legitimierte Kronland Böhmen zurückgriffen, diente den Tschechen der Entwurf eines ethnisch möglichst homogenen Territoriums mit eigenem Rechtsstatus als mobilisierende ›Karte im Kopf‹. Anders sah es in Odessa aus. Hier war weder die kulturelle Praxis der städtischen Gesellschaft sonderlich entlang ethnischen Trennlinien segmentiert, noch mündeten politische Interessen in die Konstruktion einer neuen Kartographie. Eine Ausnahme war der jüdische Arzt Leon Pinsker, der in seiner 1881 erschienenen Schrift »Auto-Emanzipation« noch vor Theodor Herzls 1896 erschienenem Werk ›Der Judenstaat‹ die Idee eines eigenen jüdischen Territoriums skizzierte.21 20 Vgl. Teilung der Prager Universität. 21 Vgl. Pinsker; Zipperstein, S. 141. Theodor Herzl, »Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen«. Altneuland – Der Judenstaat, hg. und eingeleitet von Julius Schoeps, Kronberg 1978.

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Im Vergleich spricht daher einiges dafür, daß Multiethnizität in Ostmitteleuropa vor allem deshalb so häufig eine ethnische Segmentierung der kulturellen Praxis bewirkte, weil Kultur, Sprache und Raum zunehmend an ethnische Zugehörigkeit und damit zugleich an politische Interessen gebunden wurden. Vor dem Hintergrund ähnlicher Entwicklungen in Böhmen, Mähren und den polnischen Teilungsgebieten scheint die Ethnisierung von Kultur tendenziell ein übergreifendes Phänomen der multiethnischen Städtelandschaft Ostmitteleuropas darzustellen.22 Die Analyse der multiethnischen Gesellschaft Rigas, zumal wenn man ihr Befunde anderer multiethnischer Städte beiseite stellt, machte zweitens auf Alternativen zu bisherigen Prämissen der Nationalismusforschung aufmerksam. So verweist in Riga bereits der zeitgenössische Diskurs um die Definition von ›Nationalität‹ auf die Variabilität dieser Zuschreibung. Denn machten die Deutschen den Begriff an Sprache und Kultur fest, verwiesen die Letten auf Abstammung als bezeichnendes Erkennungsmerkmal von ›Nationalität‹. Hinter den unterschiedlichen Füllungen des umstrittenen Begriffs standen spezifische Interessen, da jede Gruppe die ethnischen Mischformen, die typisch für die baltischen Provinzen waren, für sich verbuchen wollte. Was ›Nationalität‹ jeweils ausmachte, blieb umstritten und war Ausdruck situativer Erfahrungen, Interessen und Erwartungen. Die definitorische Mehrdeutigkeit, die der Rigaer Fall belegt, verweist auf den variablen Charakter des Begriffs ›Nationalität‹ und seine zeitliche und räumliche Gebundenheit an den jeweiligen Kontext. Das unterstreicht in besonderem Maße die Kriegswirklichkeit. Unter den Bedingungen des Krieges nahm ›Nationalität‹, die in Friedenszeiten die ethnokulturelle Zugehörigkeit des Einzelnen bezeichnet hatte, eine neue Bedeutung an und wurde zur Klassifizierungskategorie von Feind oder Freund. Der Kriegspraxis des Staates, mochte es sich um die Konfiszierung von Eigentum, um Zwangsumsiedlungen oder die Rationierung von Lebensmitteln handeln, lag allein ethnische Zuschreibung zugrunde, anhand derer ganze Bevölkerungsgruppen neu kategorisiert wurden.23 In Riga blieb die Vorstellung von der Nation nicht das einzige Deutungsangebot. Deutsche, Letten, Russen und Juden griffen auf ganz unterschiedliche 22 Vgl. Cohen, Ethnic Survival; Kren, Konfliktgemeinschaft; Kieval; King; W. Hagen, Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East 1772–1914, London 1980; Kann, S. 543–548; N. Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York 2003; J. Hensel, Polen, Deutsche und Juden in Lodz 1820–1939. Eine schwierige Nachbarschaft, Osnabrück 1999; H. Heppner (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte iner ungewöhnlichen Stadt, Köln 2000; Ch. Mick, Nationalisierung in einer multiethnischen Stadt. Interethnische Konflikte in Lemberg 1890–1920, in: AfS, Bd. 40, 2000, S. 113–146; M. Niendorf, Minderheiten an der Grenze. Deutsche und Polen in den Kreisen Flatwo und Zempelburg 1900–1939, Wiesbaden 1997. 23 Vgl. dazu Lohr.

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Leitvorstellungen und Denkfiguren zurück, die nach innen und außen stabilisieren sollten. Während die Deutschen sich der Vorstellung einer gemeinsamen Region verpflichtet fühlten, konnte im lettischen Milieu vor allem die Idee von der Nation, später auch der Klasse integrieren. Sezessionsabsichten waren damit nicht verbunden, vielmehr ging es um weitreichende Autonomie innerhalb eines reformierten Reichs. Erst im Krieg begann sich diese Vorstellung so weit zu radikalisieren, daß sie sich vom imperialen Rahmen löste und erstmals auf staatliche Unabhängigkeit zielte. Russen bekannten sich mehrheitlich zu einem föderalen Reichsverständnis, wogegen die jüdischen Orientierungsmuster von rechtlicher Emanzipation, religiöser Behauptung und kultureller Integration in die Mehrheitsgesellschaft quer zu den räumlichen Bezugsrahmen der übrigen Gruppen lagen. Die Nation stellte im multiethnischen Riga während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts somit keineswegs die einzige Gemeinschaftsvorstellung dar, denn gleichermaßen vermochten auch andere Ordnungsmodelle heterogene Gruppen erfolgreich zusammenzubinden. Der Blick auf Odessa und Prag macht deutlich, daß dieses Phänomen sich nicht auf Riga beschränkt, sondern ein übergreifendes Merkmal multiethnischer Räume darzustellen scheint. Während die Deutschen in Prag auf einen regionalen Liberalismus rekurrierten, identifizierten sich die Tschechen ganz mit dem Deutungsmuster von Nation und Demokratie. In Odessa konnte die Vorstellung von der Nation nur wenig Anziehungskraft auf die russische und ukrainische Bevölkerung ausüben, welche vielmehr die Orthodoxie und ein liberalisiertes Reich als Leitvorstellungen favorisierte. Juden verfolgten im Zarenreich, wo ihre Emanzipation bis 1914 ausstand, vor allem rechtliche Gleichberechtigung und religiöse Behauptung. In Prag, das zur Habsburgermonarchie gehörte, erschien das nicht mehr nötig, weshalb die Prager Juden meist die Leitvorstellungen desjenigen Milieus übernahmen, in das sie sich akkulturierten, nämlich das liberalisierte Reichskonzept der Deutschen oder den demokratischen Nationsbegriff der Tschechen. Der Vergleich multiethnischer Stadtgesellschaften, so skizzenhaft er auch bleiben muß, erweist, daß der Durchbruch zur industriellen Moderne unter den Bedingungen multiethnischer Koexistenz tendenziell nicht mit der Durchsetzung der Nation als alleinigem Ordnungsmodell einherging. Vielmehr traf sie auf unterschiedliche Gemeinschaftsvorstellungen wie die Region, das Reich, die Konfession oder die Klasse, die in Konkurrenz zueinander standen, und deren Durchsetzung für die entsprechende Gruppe zunächst relevanter erschien. Durch die Verengung auf das spätere Modell des Nationalstaats und seine Dominanz in der Historiographie ist die Fülle und Wirkungsmacht konkurrierender Integrationsangebote jedoch kaum mehr wahrgenommen worden. Der Blick auf multiethnische Räume innerhalb Europas kann dazu beitragen, diese Verengung aufzulösen und den Alternativen zur Nation neue Aufmerksamkeit zu schenken. 378

Neben die Pluralität von Gemeinschaftsvorstellungen trat deren heterogene Deutung. In Riga war die ideologische Unterminierung der nationalen Konzeption besonders eklatant. Zwischen den Vertretern eines bürgerlichen Nationsverständnisses und den Protagonisten eines lettisierten Klassenbegriffs ließ sich nach 1900 kaum mehr Konsens herstellen. Auch die Bezugsgröße des Reiches wurde in Riga mit divergierender Bedeutung gefüllt. Während der rechtsnationalistische Rand des russischen Milieus die Vorstellung von Rußland als weitgehend homogenem Nationalstaat zu popularisieren suchte und einer durchgreifenden Russifizierung aller Lebensbereiche das Wort redete, fühlte sich das Gros der Rigaer Russen einem föderalen Reichsverständnis verpflichtet, das die Probleme des multiethnischen Alltags am ehesten zu regeln vermochte. An welche Wirkungsgrenzen der russische Nationalismus in den ethnisch heterogenen Teilen des Reiches stieß, unterstreicht der Vergleich mit Odessa. Hier neigten die Eliten zwar keiner liberalen Reichsvorstellung wie in Riga zu, sondern präferierten Autokratie und Orthodoxie, doch das Deutungsmuster einer russischen Nation vermochte auch hier kaum Attraktion auszuüben. Mithin scheint es sich beim russischen Nationalismus eher um ein spezifisches Hauptstadtphänomen zu handeln, dessen Wirkungskraft an der multiethnischen Peripherie des Reiches seine Grenze fand. Die Konstituierung nationaler Kultur, die Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga betrieben, war kein separates Unterfangen. Entgegen der zeitgenössischen Rhetorik vom singulären Charakter der eigenen Kultur waren die ethnischen Gruppen vielmehr in einem Maße miteinander verflochten, aufeinander bezogen, voneinander abhängig, das die ethnozentrische Historiographie des 20. Jahrhunderts nicht mehr wahrnehmen wollte und das erst die methodische Prämisse einer interethnischen Verflechtungsgeschichte ans Licht bringt. So wirkte vor allem die Abwehr des entstehenden russischen Nationalismus als entscheidender Katalysator eines deutschbaltischen Regionalismus, der sich im neuen Raumbegriff ›baltisch‹ niederschlug. Eigenes entstand aber nicht nur durch Abwehr, sondern auch durch Aneignung fremder Muster. Die kulturelle Praxis der lettischen Sängerfeste, die zum zentralen Medium der lettischen Nationsbildung wurde, ging zunächst auf das Vorbild baltischer Sängerfeste zurück, mit dem die Deutschbalten einen stände- und provinzübergreifenden Regionalismus vermitteln wollten. Diese wiederum hatten damit eine Ausdrucksform der deutschen Nationalbewegung aufgegriffen und diese in den Nordwesten Rußlands zu implantieren gesucht. Bei den lettischen Sängerfesten, die bis ins 21. Jahrhundert hinein als genuin nationales Charakteristikum des lettischen Volkes gelten, handelt es sich daher um ein europäisches Transferprodukt, dessen Aufnahme und Weitergabe durch die multiethnische Struktur Rigas maßgeblich gefördert wurde. Ähnlich ging die Formierung der schlagkräftigen lettischen Sozialdemokratie auf das Vorbild der deutschen Sozialdemokraten zurück, an deren Er379

furter Programm sich die Lettischen Sozialisten in ihrem Gründungsstatut wörtlich anlehnten, das sie aber durch nationale Akzente neu imprägnierten. Vergleichbare Verbindungen bestanden zwischen der tschechischen und der österreichischen Sozialdemokratie. Und bei der Formierung eines baltischen Liberalismus blickten dessen Trägerschichten, die deutschbaltischen Eliten, lieber über den Kanal, lag doch im englischen Liberalismus mit seinem gestuften Wahlrecht und der föderalen Ausrichtung ein Modell, das ihnen auf die baltische Situation am ehesten übertragbar zu sein schien. Auch die Konstituierung einer spezifischen Gruppe ›kurländischer Juden‹, die sich durch Sprache, Habitus und Selbstverständnis dezidiert vom Typus des osteuropäischen Schtetljuden unterscheiden wollten, ging auf europäische Vorbilder zurück. Das Exempel des deutschen Stadtbürgertums vor Augen, das Bildung und Kultur vorexerzierte, und die rege Rezeption der westlichen Haskalah-Bewegung führten in Rigas jüdischem Bürgertum zunächst zu einer Akkulturation in den deutschen Kulturkreis, die bis weit in die Erste Lettische Republik hinein prägend blieb. Noch stärker war die deutsche Akkulturation des jüdischen Stadtbürgertums in Prag. Hier waren die Mitglieder des elitären deutschen Casinos zu 50% jüdisch, und die Identifikation der Prager Juden mit der deutschen Sprache und Kultur ging so weit, daß Deutsche und Juden aus tschechischer Sicht gleichgesetzt wurden.24 Doch Kultureinflüsse verliefen nicht nur von West nach Ost. In Riga präferierten viele Juden seit der Jahrhundertwende auch die russische Kultur und Sprache, versprach diese doch sozioökonomischen Aufstieg und kulturelle Integration in die Mehrheitsgesellschaft eher zu gewährleisten. Die Parallelität jüdischer Akkulturationsprozesse in den deutschen wie in den russischen Kulturkreis verdeutlicht, daß kulturelle Transfers nicht immer eine Einbahnstraße von West nach Ost darstellten, sondern vereinzelt auch den umgekehrten Weg nahmen. Insgesamt zeigen die interethnische Akkulturation und der europäische Transfer, daß es sich beim Gegenstand solcher Übertragungen weniger um genuin deutsche Errungenschaften handelte als um ausgewählte Teile eines europäischen Wissens- und Kulturbestandes. Bei der Wahl herrschte kein stabiles Leitmodell vor, sondern es dominierte eine Selektion nach Qualität und Eignung. Deutlich wurde ebenso, daß es sich bei den treibenden Kräften dieser kulturellen Übertragung keinesfalls nur um Deutsche handelte. Zwar gingen wesentliche Anstöße zunächst von den deutschen Milieus aus, doch Vermittler und Rezipienten wurden zunehmend auch Letten, Juden oder Tschechen, um nur einige zu nennen. Die Vorstellung primär deutscher Kulturvermittler, welche auch nach dem Abschied von der Ostforschung noch geläufig ist, muß daher modifiziert werden. Zu Triebfedern 24 Vgl. Cohen, Ethnic Survival, S. 239.

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und Vermittlern politischer Reformen, sozialer Bewegungen oder kultureller Errungenschaften wurden in der Städtelandschaft Ostmitteleuropas keineswegs nur Deutsche, sondern ein multiethnisches Bürgertum, das bei seiner Suche nach Vorbildern und Fortschritt bevorzugt nach Westen blickte. Der Versuch einer interethnischen Verflechtungsgeschichte ist drittens auch ein Versuch über das Modell der Zivilgesellschaft. Die Historisierung der zivilgesellschaftlichen Praxis, wie sie am Rigaer Beispiel gezeigt wurde, legt eine veränderte Definition des Konzepts unter den Bedingungen von Multiethnizität nahe. Drei Vorschläge erscheinen weiterführend. Zum einen erweist sich eine strikte Trennung der Zivilgesellschaft von den Bereichen des Staates und des Marktes als problematisch. Denn Zivilgesellschaft scheint in multiethnischen Räumen Europas in einem anderen Verhältnis zum Staat zu stehen als in ethnisch homogenen Nationalgesellschaften. In Riga führte gerade die große Distanz der fremdnationalen Eliten zum russischen Staat dazu, daß man sich als Gegengewicht zur Regierung verstand und staatliche Aufgaben in lokaler Eigenregie übernahm. Die fortschrittliche Kommunalpolitik der Rigaer Eliten fand deshalb in einem Raum statt, den der Staat zur Verfügung stellte. Ebenso handelte es sich bei den wiederkehrenden Volkszählungen, die durch Tausende ehrenamtlicher Mitarbeiter möglich gemacht wurden, um ein Projekt, das von der kommunalen Verwaltung und damit von einem staatlichen Akteur ausging. Oft auch waren es Agenturen der Wirtschaft, wie das städtische Börsenkomitee, das zivilgesellschaftliche Entwicklungen wie wegweisende Verbesserungen der Infrastruktur in privater Regie vorantrieb. Es erscheint daher ratsam, Zivilgesellschaft nicht allzu rigide vom Markt und Staat abzugrenzen, sondern eher durch die Inhalte des sozialen Handelns zu bestimmen. Definiert man das Konzept künftig weniger bereichs- als akteursbezogen, kann es gelingen, zivilgesellschaftliches Handeln auch dort wahrzunehmen, wo es im Rathaus oder in der Firma stattfindet, können Übergangszonen zivilgesellschaftlichen Handelns sichtbar werden, die sonst leicht aus dem Blick geraten. Zum zweiten fallen zivilgesellschaftliche Werte und zivilgesellschaftliche Praxis oft auseinander. Die deutschen Eliten realisierten in Riga eine fortschrittliche Sozialpolitik, die innerhalb des Zarenreichs Pioniercharakter beanspruchen kann. Gefördert wurde dieser zivilgesellschaftliche Impetus jedoch maßgeblich durch die Partizipationsforderung von Letten und Russen, die es zu neutralisieren galt, um die deutsche Führung der multiethnischen Kommune zu rechtfertigen. Zivilgesellschaftliche Praxis deckt sich also keineswegs immer mit zivilgesellschaftlichen Intentionen, und es hieße, die zivilgesellschaftlichen Akteure normativ zu überfrachten, erwarte man stets von ihnen eine zweckfreie Gemeinwohlorientierung. Partikulare Interessen, führen sie denn zu zivilgesellschaftlichen Handlungen, 381

müssen also nicht grundsätzlich im Widerspruch zum Bestimmungsrahmen von Zivilgesellschaft stehen. Diese gilt es vielmehr als einen historischen Ort mit unterschiedlichen Erwartungsräumen zu begreifen. Zum dritten fordert die Historisierung multiethnischer Zivilgesellschaften dazu auf, das Konzept in Zukunft konfliktorientierter zu definieren als das bisher getan wurde. Die herkömmliche Definition der Zivilgesellschaft setzt die gewaltlose Regelung von Konflikten und eine Legitimität von Vielfalt voraus. In Riga dokumentiert die kommunale Wahlbeteiligung von etwa 70% und später ein lebendiges Parteienspektrum die aktive Aushandlung politischer Differenzen. Hinzu kommt eine höchst differenzierte Vereinslandschaft, in der sich konkurrierende Interessen bevorzugt manifestierten. Doch zugleich entschieden sich die Zeitgenossen für eine Begrenzung dieser zivilgesellschaftlichen Chancen, indem sie die Grenzen ihrer Vergesellschaftung ethnisch markierten und der multiethnischen Vielfalt zunehmend ihre Legitimität absprachen. Ihren Kulminationspunkt fand das in der gewalttätigen Revolution von 1905. Ein ähnliches Doppelgesicht von Partizipations- und Gewaltbereitschaft zeigte sich in Prag, wo Straßengewalt zwischen Deutschen und Tschechen immer häufiger zur Ausrufung des Ausnahmezustands führte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts läßt sich weder in Riga noch in Prag von einer Gesamtgesellschaft sprechen, vielmehr zerfielen beide Städte in ethnisch scharf voneinander getrennte Milieus. In multiethnischen Räumen scheinen die Grenzen der Zivilgesellschaft daher stärker hervorzutreten und die Ambivalenz ihrer Verfasstheit deutlicher zu werden. Die Historisierung ihrer Praxis lässt es notwendig erscheinen, diese Spannungen, diese Ambivalenz und Exklusion vermehrt in den Blick zu nehmen und als konstitutives Element von Zivilgesellschaften zu begreifen. Verkennt man die historische Gleichzeitigkeit von Zivilität und Konflikt, gerät das Konzept in der Tat in die Gefahr, zu einer ahistorischen »Volksgemeinschaft der Gutmenschen« herabzusinken, und es läge nahe, Zivilgesellschaftlichkeit nur noch unter der Perspektive demokratischer Verfasstheit wahrzunehmen. Gerade mit Blick auf die Frage nach gemeinsamen europäischen Wurzeln muß es jedoch darum gehen, die Vergangenheit europäischer Zivilgesellschaften, nicht nur deren Gegenwart zu untersuchen und das Konzept für historische Zeiträume des 18. und 19. Jahrhunderts sowie für Gesellschaften des östlichen Europas nutzbar zu machen. Die Historisierung multiethnischer Zivilgesellschaften fordert dazu auf, die Zivilgesellschaft in Zukunft konfliktorientierter und spannungsreicher zu definieren und auch die prekäre Frage nach dem Doppelgesicht von Zivilität und Gewaltbereitschaft nicht von vornherein auszuschließen, um das Konzept weniger normativ, weniger theoretisch, sondern realer, härter und damit zu einem tauglicheren Instrument zur Erfassung historischer Wirklichkeit zu machen. 382

Die Untersuchung des multiethnischen Rigas über mehr als ein halbes Jahrhundert sowie Seitenblicke auf andere multiethnische Städte inner- und außerhalb Ostmitteleuropas erlauben schließlich eine Hypothese, welche Kriterien bei einer künftigen Definition Ostmitteleuropas als geschichtlicher Raum stärker hervortreten sollten. Wo also liegt Ostmitteleuropa, das Werner Conze noch 1986 als ›offene Frage‹ bezeichnet hatte, heute? Der Begriff Ostmitteleuropa entstand erst nach 1918 und war zur Kennzeichnung jener Zone neuer souveräner Nationalstaaten gedacht, die aus der Sicht der Alliierten einen ›Cordon sanitaire‹ gegen Deutschland und Rußland bilden sollten. Konsequenterweise verlor der Begriff diese inhaltliche Bedeutung mit der sowjetischen Besetzung der baltischen Länder und der Zwangsintegration Polens und der Tschechoslowakei in die sowjetische Machtsphäre seit 1939/45. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Zerfall des Blocksystems 1989/91 sind die Staaten Ostmitteleuropas in demokratischer Form restituiert oder neugegründet worden, ist Ostmitteleuropa als politisches Problem zu einem Abschluß gekommen. Zugleich gewinnt seine inhaltliche Definition, die von dem Eisernen Vorhang verdeckt und überschattet blieb, heute, wo die Archive des ehemaligen Ostblocks zur Benutzung einladen, wo der Zugang zu einer Welt, »die der offizielle Diskurs zum Schweigen verurteilt hatte«, offen steht, an neuer Notwendigkeit und Aktualität.25 Die einschlägigen Definitionsvorschläge, warum Ostmitteleuropa als eigenständiger historischer Raum zu betrachten ist und welche Merkmale ihn konstituieren, stammen auf deutscher Seite von Klaus Zernack (1977) und Werner Conze (1986).26 Beide Historiker gingen strukturgeschichtlich vor und bestimmten Ostmitteleuropa nicht durch naturräumliche Konstanten, sondern aufgrund historischer Merkmale. Conze grenzte Ostmitteleuropa einmal durch die Entstehung einer religiösen Grenze zwischen orthodoxem und lateinischem Christentum gegenüber Osteuropa ab. Ein weiteres dominierendes Merkmal sah er in der großen deutschen Ostwanderung im Hochmittelalter, die Landesausbau und Kulturvermittlung begünstigte und zugleich die Grundlage jener Überlagerung von Stand und Nation abgegeben habe, die im 19. Jahrhundert zum Sprengstoff des multiethnischen Zusammenlebens geworden sei. Zernack fügte dem noch das vereinheitlichende Merkmal ständischer Ordnung hinzu und verwies auf die Verwestlichung des Raums, die er primär auf den deutschen Faktor zurückführte. Schließlich gewann Ostmitteleuropa in seiner Definiti25 Baberoswki, Arbeit an der Geschichte, S. 37. 26 Vgl. Conze, Ostmitteleuropa, v.a. S. 1–13; bei Conzes Studie handelt es sich um ein aus dem Nachlaß herausgegebenes Manuskript, das zeitlich mit dem 18. Jahrhundert endet. Zernack, v.a. S. 31–66.

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on auch als historischer Expansionsraum der europäischen Großreiche ein eigenes Profil. Die Resultate der vorliegenden Studie sowie vergleichende Blicke auf andere multiethnische Städte regen vor diesem Hintergrund zu einer veränderten Akzentuierung jener Merkmale an, die Ostmitteleuropa als neuzeitlichen Geschichtsraum kennzeichnen können. Ein markantes Definitionskriterium dieser europäischen Großregion zwischen Elbe, Donau, Dnepr und dem Peipussee sollte zum einen weniger im genuin deutschen Einfluß gesehen werden als vielmehr im strukturellen Merkmal von Multiethnizität. Denn es ließ sich zeigen, daß die Träger jener kulturellen Errungenschaften, die Ostmitteleuropa so eng mit dem westlichem Europa verbanden, keineswegs immer nur Deutsche waren, sondern ebenso Juden, Letten oder Tschechen, um nur einige zu nennen. Auch bei den Transferprodukten, mochte das die Verwissenschaftlichung des Sozialen, jüdische Auf klärung oder die Programmatik der Sozialdemokratie sein, handelte es sich weniger um genuin deutsche Phänomene als vielmehr um ausgewählte Teile eines europäischen Kultur- und Wissensbestands, dessen intensive Übertragung und Realisierung Ostmitteleuropa markant von Osteuropa abgrenzt. Zum anderen begünstigte Multiethnizität zivilgesellschaftliche Entwicklungen in einem Maße, das erst die Öffnung der Archive in dieser Form überhaupt erkennen läßt. Die hohe Selbstorganisation der städtischen Gesellschaften und eine überaus rege politische Kultur gingen sowohl auf das Mobilisierungspotential von Multiethnizität zurück, waren aber ebenso Ausfluß der ständischen Ordnung, der frühneuzeitlichen ›libertas‹, welche Ostmitteleuropa eng mit Mittel- und Westeuropa verband und zugleich vom Osten Europas, dem die ständegesellschaftliche Tradition fehlte, trennte. Mithin scheinen in Multiethnizität und Zivilgesellschaftlichkeit strukturelle Merkmale zu liegen, die konstitutiv für die zukünftige Definition dieses historischen Raums in der Neuzeit sein können. Das ausgeprägte Strukturmerkmal der Multiethnizität unterscheidet Ostmitteleuropa einerseits vom Westen Europas, wenngleich sie auch dort ein maßgebliches, oft übersehenes Kriterium darstellt. Zivilgesellschaftlichkeit grenzt Ostmitteleuropa andererseits von Osteuropa ab, wo sich bei aller im Gang befindlichen Suche kein solches Ausmaß zivilgesellschaftlicher Muster abzeichnet, wie es die hochmobilisierten Städte Ostmitteleuropas prägt. Zivilgesellschaftlichkeit als Strukturmerkmal läßt Ostmitteleuropa damit näher an Mittel- und Westeuropa heranrücken, als ein historisches Denken in nationalstaatlichen Kategorien das bislang erkennen ließ. Ostmitteleuropa kehrt als Kernraum europäischer Kultur in die Geschichte zurück.

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Abkürzungen

AfS

Archiv für Sozialgeschichte

AHR

American Historical Review

apr.

apraksts (Findbuch)

BM

Baltische Monatsschrift

GG

Geschichte und Gesellschaft

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

HZ

Historische Zeitschrift

JbbGOE

Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas

JBS

Journal of Baltic Studies

JCEA

Journal of Central European Affairs

LAB

Latvijas Akademiskas Bibliotēkas Archivs (Archiv der Lettischen Akademischen Bibliothek)

LNB

Latvijas Nationāla Bibliotēka (Lettische Nationalbibliothek, Riga)

LVVA

Latvijas Valsts Vēstures Archivs (Lettisches Staatsarchiv, Riga)

MEL

Museums Ebreju Latviā (Museum Juden in Lettland, Riga)

NPL

Neue Politische Literatur

RGIA

Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (Russländisches Staatliches Historisches Archiv)

RR

Russian Review

VSWG

Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

ZfO

Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung

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Quellen und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Baltische Zentralbibliothek, Riga (Baltijas Centrāla Bibliotēka) Nachlaß Paul Schiemann (in Kisten ohne Nummerierung)

Archiv der Lettischen Akademischen Bibliothek, Riga (Latvijas Akadēmiskas Bibliotēkas Arhīvs, LAB) Nr. 5935,73, J. Līgotnis, Baumaņu Kārlis tautas atmodas rītā. Viņa 35 gadu nāves dienas atcerei [Karlis Baumanis am Vorabend des nationalen Erwachens. In Erinnerung an seinen 35jährigen Todestag] Nr. 1138, 48, »Austras« krājuma teksti no K. Baumaņa arhīva [Texte aus »Austra« aus dem Archiv von K. Baumanis] N. Purins, Baltijas Vēstnesa vēsture [Die Geschichte des Baltischen Boten] Rīgas Latviešu biedrība locekļu klades [Mitgliederverzeichnis des Lettischen Vereins], Riga 1888.

Lettische Nationalbibliothek, Rara-Abteilung (Latvijas Nationāla Bibliotēka, Rara, LNB) J.Asars, Elku pastari [Der Enkel der Helden], Handschrift, o.J.

Lettisches Staatsarchiv, Riga (Latvijas Valsts Vēstures Arhīvs, LVVA) Fonds 11 Fonds 223 Fonds 224 Fonds 233 Fonds 1397 Fonds 1429 Fonds 1873 Fonds 2016

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Behörde für Presseangelegenheiten Große Gilde Kleine Gilde Livländisches evangelisch-lutherisches Konsistorium Rigaer städtische Töchterschule Alte Gertrudkirche Baltische Konstitutionelle Partei Rigaer Filiale der Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Rußlands

Fonds 2088 Fonds 2557 Fonds 2724 Fonds 2736 Fonds 2765 Fonds 2791, 3076 Fonds 2800 Fonds 2821 Fonds 2962 Fonds 2963 Fonds 3076 Fonds 3746 Fonds 4038 Fonds 4196 Fonds 5540 Fonds 6056 Fonds 6834

Gesellschaft Ressource Literärisch-praktische Bürgerverbindung Rigaer Stadtamt Rigaer Stadtverordnetenversammlung Fabrikantenverein Statistisches Amt der Stadt Riga Rigaer Lettischer Wohltätigkeitsverein Korrespondenz zum Denkmal Peter des Großen Jüdischer Hilfsverein Bikur-Cholim Jüdische Mädchenschule Statistisches Amt Russischer Klub Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde in den Ostseeprovinzen Jüdische Gewerbeschule Deutscher Verein in Livland Gesellschaft Musse Jüdische Gewerbeschule

2. Gedruckte Quellen a) Periodika1 Baltische Frauenzeitung, 1907–1914 Baltische Monatsschrift, 1859–1915 Baltische Monatshefte, 1932–1939 Baltische Post, 1906–1914 Baltische Wochenschrift für Landwirthschaft, Gewerbefleiß und Handel, Programm, 1863 Baltijas Almanahs [Baltischer Almanach], 1901 Baltijas Vēstnesis [Baltischer Bote], 1877–1906 Balss, 1878–1906 Deutsche Monatsschrift für Russland, 1912–1915 Dienas Lapa [Tagesblatt], 1886–1897 Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1864 Düna-Zeitung, 1888–1909 Dzimtenes Vēstnesis [Heimatbote], 1906–1914 Das Inland, 1859 Jaunas Dienas Lapa [Neues Tageblatt], 1906–1914 Latvija [Lettland], 1907–1914 Mājas Viesis [Hausbote], 1910 1 Die Jahrgangszahlen beziehen sich auf die hier benützten Ausgaben, nicht auf den gesamten Erscheinungszeitraum des jeweiligen Blattes. Meist überschneiden sich beide Zeiträume jedoch.

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Mitauische Zeitung, 1918 Livländische Gouvernementszeitung, 1889 Pribaltijskij Kraj [Das Baltische Land], 1900–1906 Rigaer Handelsarchiv, 1874–1914 Rigaer Stadtblätter, 1817–1916 Rigaer Tageblatt, 1877–1914 (1876–1882 Neue Zeitung für Stadt und Land) Rīgas Avīze [Rigaer Zeitung], 1902–1914 Rīgas Lapa [Rigasches Blatt], 1877–1880 Rigasche Neueste Nachrichten, 1907–1911 Rigasche Rundschau, 1895–1915 Rigasche Stadtblätter, 1860–1907 Rigasche Zeitung, 1860–1889, 1907–1915 Rigascher Almanach, 1858–1914 Rigasches Kirchenblatt, 1870–1913 Rižskaja Mysl’ [Rigaer Gedanke], 1906–1916 Rižskij Vestnik [Rigaer Bote], 1869–1914 Rižskie Vedomosti [Rigaer Nachrichten], 1898–1907 Segodnja [Heute], 1931 Zeitung für Stadt und Land, 1867–1894

b) Zeitgenössische Literatur 2 Adamovičs, L., Dzimtenes baznicas vēsture [Geschichte der vaterländischen Kirche], Riga 1927. –, Die Letten und die evangelische Kirche, Riga 1930. –, Die lettische Brüdergemeine 1739–1860, Riga 1938. Adolphi, H., Leben, Gedanken, Weltanschauung eines Kurländers 1841–1922, Riga 1923. Adreßbücher Rigas 1869–1914. Agthe, A., Ursprung und Lage der Landarbeiter in Livland, Tübingen 1909. Aidnik, E.-E., Zur nationalen und sozialen Lage des deutsch-baltischen Handwerkerstands. Einseitige Betrachtungen eines Handwerkersohns, in: Baltische Monatshefte, 1934, S. 243–257. Album academicum des Polytechnikums zu Riga 1862–1912, Riga 1912. Alunans, J., Kopoti raksti [Gesammelte Werke], Bd. 2, Riga 1931. Amicus, J., Der Nationalitätenhader im allgemeinen und in den Ostseeprovinzen im besonderen, Riga o.D. Die Anfänge der Baltischen Monatsschrift, in: BM, Bd. 31, 1884, S. 541–552. Anrep, F. v., Briefe einer Livländerin aus den Jahren 1873–1909, Landshut 1990. Arbusov, L., Grundriß der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands, Riga 31908. Armitstead, G., Über die bisherigen Arbeiten und Einrichtungen der Rigaschen Stadtverwaltung auf sozialpolitischem Gebiet, Riga 1907. 2 Hierunter wurden Titel bis 1945 aufgenommen, da die baltische Literatur der Zwischenkriegszeit aufgrund ihrer teils apologetischen Ausrichtung eher als Quelle zu betrachten ist. Lettische und russische Titel werden auch in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

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Register 1. Personenregister Asars, Jānis 129, 234 Adam v. Bremen 344 Afrossimov, P.M. 320 Agthe, Adolf 51 Aidnik, Erwin-Erhard 225 Albert, Bischof v. Bremen 11, 318 Aksakov, Ivan 121 Alunans, Juris 352 Auseķlis 352 Aleksandrov, Konstantin A. 245 Alexander II. 206, 205 Alexander III. 66, 106, 274f., 305, 307 Armitstead, Alfred 72 –, George 65, 110–114, 120, 146, 183, 185f., 188f., 217, 284, 331 –, John 72 Bagration, Fürst 104 Bakunin, Michail 162 Baumanis, Jānis 227 Baumanis, Karlis 231 Bielenstein, August 231 Beljawski, J.W. 281 Bergmann, Rudolf 307 Bergs, Arveds 121, 299, 360, 364 Bergs, Kristaps 43, 44 Berkholz, Georg 344, 350, 352, 358 Bistram, Hartwig, Baron 70 Blumenbach, Eugen 88 Büngner, Peter Raphael 102 Büngner, Robert 102–107, 113, 117, 120, 178, 181 Berlin, Isaiah 45 Berlin, Leib 73 Berlin, Schaje 43, 77 Brennsohn, Isidor 219, 272 Brivzemnieks, Fricis 294 Brod, Max 375

Brunstermann, Friedrich 320 Bunge, Friedrich Georg v. 102 Burckhardt, Jacob 199 Carlberg, Nicolai 212 Cielēns, Fēlikss 187, 188, 297 Češichin, Evgraf Vasil’evič 139–141, 245 Češichin Vassilij 91 Češichin, Vsevolod 253 Cummings, James Maurice 71 Deglavs, Augusts 52f. Delbrück, Hans 118 Dinsberģis, Ernests 23, 353 Dīriķis, Andrejs 350f. Dīriķis, Bernhard 227, 238 Dombrowsky, Augusts 82 Drekslers, Michaels 249, 250 Dubnov, Simon 268 Dumas, Alexandre 251 Eckhardt, Julius 22, 61, 293, 343, 349 Ehrlich, Adolf 156 Ejzenštejn, Michail 253 Eliasberg, Julius 265 Eliasstamm, O.E. 247 Endzēlins, Jānis 229 Erhard, Robert 70, 196 Ewers, Gustav v. 102 Friedman, Isidor Moritz 265 Friesendorff, Ernst 279 George, Lloyd 199 Gerstfeldt, Philipp 179, 278f. Gesellius, Hermann 40 Graetz, Heinrich 268 Grebenčikov 45, 137, 328

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Grenzstein, Ado 313 Grosvalds, Fricis 335 Gusev, Andrej Ivanovič 82, 143, 149–150, 191 –, Grigori Ivanovič 82 Hahn, Traugott 308 Heinrich der Lette 351 Hellmann, Theodor 307 Herder, Johann Friedrich 106 Hertling, Georg Graf v. 363 Herzl, Theodor 376 Heyking, Edmund v. 358 Hirschfeld, Nicolai (Noah) 153 Hoerner, Rudolf v. 363–365 Hollander, Eduard 103, 177, 215, 219 Holst, Johann v. 307 Hugo, Victor 251 Hume, David 14 Humüller, Ivan 227 Ivan IV. 339 Ivanov, N.N. 320 Jansons-Brauns, Jānis 239 Jeftanovič, Wjateslav 82 Jensen, Hans 320 Joffe, Isaak 152 Kaehlbrandt, Emil 307, 313 Kaf ka, Franz 375 Kalniņš 238 Kapustin, Michail 281f., 285, 294f. Katharina II. 136 Katkov, Michail 121, 151, 249, 345 Kaudzīte, Matiss 62f., 230 –, Reiniss 62f. Kautsky, Karl 251 Kerkovius, Ludwig 181 Klimov, S.P. 320 Klot, Nikolai v. 320 Kohl, Johann Georg 343 Kronvalds, Atis 125, 238, 353 Kuznecov, Matvej Sidorovič 45, 82 Laškov, Ivan Grigor’evič 246 Lassalle, Ferdinand 251 Laube, Eižens 40f. Lavrovsky 282 Lederer, Hugo 331

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Lenné, Peter 37 Lenin, V.I. 162 Lieven, Paul Fürst 347 Lifschitz, Leib 180f. Lilienthal, Max 156 Ljubomudrov, Sergej Ivanovič 286 Lomonosov, G.S. 233f., 244f. Lovis, C. 320f. Lütkens, Johannes 307 Luntz, Wolf 159 Maikapar, Samuel Abramovič 247 Makarov, Kiprijan Grigor’evič 246 Maklakov, V.M. 205 Manasein, Nikolai A. 122, 147, 233, 281, 354 Mansyrev, Serafim Fürst 19, 258 Marx, Karl 251 Maters, Juris 235 Maurach, Carl Peter 306 Meinecke, Friedrich 118, 363 Meisel 83 Merkel, Garlieb Helwig 125–127, 138, 229f. Meyer, Bernhard 265 Meyendorff, Alexander Baron 205–207 Michelsohn, Dietrich 154f. Michelsohn, Emma 153–160, 162f., 264 Michelsohn, Max 153, 162 Michelson, Max 64, 153, 159 Milenbahs, Karlis 126, 229 Miljukov, Pavel 205f., 251 Mill, John Stuart 199 Mintz, Paul 73, 153, 160–163, 260 Minuth, Nicolai 320 Moritz, Erwin 196 Möller-Sakomelsky 145 Naumann, Friedrich 115 Nikolai II. 114, 307, 328 Nikon, Patriarch 66 Ohneseit 186 Olavs, Vilis 129–133, 360 Osipov, Evtichij Jakovlevič 245 Ostwald, Wilhelm 72 Pekšens, Konstantins 40f. Peter der Große 12, 33, 167, 273, 328–340 Pinsker, Leon 261, 376

Plawneeks, Nicolai 320 Pleve, V.K. 265 Pobedonoscev, Konstantin 304 Pogodin, M.P. 142 Priedkalns, Andrejs 356 Puriškevič, V.M. 206

Šutov, Ignatij Alekseevič 136–139, 142, 147, 173, 245

Rabinowitsch, Abraham 265 Renner, Karl 373 Rohrbach, Paul 362 Rozentāls, Jānis 41 Ruckij, Petr 211, 253 Ruhtenberg, Alexander 70

Ullmann, Karl Christian 351f., 351f. Uvarov, Sergej Graf 156

Samarin, Jurij 107, 126, 138, 141f., 144, 248, 280, 346 Saarinen, Eliel 40 Šafranov, Semjon Nikolaevič 245 Shalit, E. 73 –, Leib 73, 260, 265 Schiemann, Paul 114–120, 146, 148, 162, 194, 196, 205, 207, 299, 334, 340, 364 Schiemann, Theodor 115, 118, 362, 364 Schiffer, Eugen 363 Schirren, Carl 103, 107, 138, 146, 248, 346 Schmid-Cassel, Gustav 332 Schönfeldt, Max 26, 161 Schrenck, Burchardt v. 53, 89 Schulze-Delitzsch, Hermann 215 Schwartz, Johann Christoph 107–110, 112f., 117, 120, 178, 283 Schweinfurth, Alexander 216 Schweder, Gustav 285f. Seraphim, Ernst 225 Siemens, Friedrich 363 Silinš, M. 355 Stērste, Andrejs 233 Stolypin, Peter A. 124, 144, 205–207, 328 Štučka, Peteris 241

Tocqueville, Alexis de 199 Tomsons, Rihards 227, 230f. Trotzki, Leo 162

Valdemars, Krišjanis 62, 123, 130, 145, 234f., 295 Valters, Mikelis 129, 132f., 294, 355 Van de Velde, Henry 40 Vebers, Alexanders 124–129, 229, 238 Veinbergs, Fricis 121–125, 128f., 192, 227, 242, 335, 353 Virchow, Rudolf v. 54 Vitvickij, Leonid Nikolaevič 118, 143, 145–150 Vysockij, Ivan 143–145, 191, 254, 299, 339 Wagner, Richard 155 Walden, Paul 288 Walter, Carl 307 Weber, Alfred 118 –, Max 118 Werbatus, Magnus 310 Wilhelm II. 115, 341, 363f. Witte, Sergeij J. 73f., 81, 294, 323 Wittram, Alfred 44 –, Johann Friedrich 37 –, Reinhard 114, 211, 226, 276, 359 Wittrock, Viktor 303 Zinov’ev, Michail 106, 123, 178, 277, 280, 282 Zimse, Johann 22, 238 Zvegincev, Nikolaj 272, 331

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2. Ortsregister Baden-Baden 155 Baltische Provinzen, baltische Region 22f., 25, 28, 33, 50f., 59, 66, 95, 103, 106, 108, 136, 138, 141, 145, 148, 166, 168, 186f.,195, 197f., 200f., 203, 208, 233f., 245, 248, 253, 274f., 280f., 294, 297, 300f., 304f., 307, 310, 315f., 326, 334, 339–351, 355–357, 359, 362–364, 367, 370, 376, 383 Basel 260 Bauske 262 Berlin 38, 109f., 115, 118, 156, 163, 186, 215, 363 Breslau 163 Böhmen 198, 376f. Bonn 115 Budapest 40 Deutschland, Deutsches Reich 14, 16, 22, 33, 40, 49f., 57, 71, 75, 77, 109, 115, 128, 155, 191, 199, 211, 218, 222, 228, 267– 269, 280, 293, 301, 303, 341, 345, 349, 359, 362f., 365, 367f., 383 Dnepr 11, 384 Donau 11, 384 Dorpat 102, 103, 107, 118f., 125, 129, 134, 160, 177, 281, 303, 310, 331, 347, 363f. Düna 39, 179, 181, 191 Dünaburg 38, 69, 76 Dvinsk 160 Elbe 11, 384 Elberfeld 115 England, Engländer 65, 71, 75, 199, 218f., 350, 365, 373, 374, 380 Erlangen 303 Estland, Estländer 12, 24, 51, 103, 118f., 200, 227, 234, 241, 281, 290, 294, 301, 303, 333, 339, 341, 343, 345–349, 354– 356, 358f. Europa 14, 21f., 25, 34, 39, 60, 67, 196–198, 203, 208f., 220, 240, 332, 336, 339, 378, 384 Fellin 331 Finnland, Finnen 40, 204–208, 274, 333f., 340

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Flandern 198 Frankfurt 38 Frankreich 16, 22, 201 Genf 119, 133 Greifswald 115 Griechenland 344 Großbritannien 16 Grobin 152, 262 Grodno 152, 158 Habsburgermonarchie 40, 371, 378 Halle 110 Hamburg 214 Helsinki 40 Irland 199 Italien 16 Kazan 176, 178 Kiev 43, 267 Königsberg 38 Kovno 38, 40, 152, 350 Kurland, Kurländer 12, 24, 49–51, 64f., 103, 121, 124, 152, 154f., 163, 200, 205, 231, 233, 235, 262f., 268f., 281, 290, 294, 301, 341, 343, 346, 348f., 353, 355f., 358f., 360, 362, 367, 380 Lateinamerika 17 Latgalen 130, 235, 351, 353 Leipzig 107 Lettland, Latvija 20, 29, 33, 114, 118, 119, 133, 135, 152, 159, 163, 187, 201, 231, 234, 241, 337, 341, 350–357, 359–366, 376, 380 Libau 132 Litauen, Litauer 49, 57, 66, 152, 206, 290, 351 Livland, Livländer 12, 24, 49–51, 64f., 72f., 103, 106f., 152, 187, 200, 203, 223, 231, 233, 235, 262, 268f., 280f., 290, 293f., 301, 303, 306, 328, 330, 333, 337, 339, 341, 343, 346–349, 353, 355f., 358f. Mähren 377 Marburg 115

Minsk 158 Mitau 38, 69, 115, 121, 125, 129, 153 Mohilev 158 Moskau 25, 39, 48–50, 53, 69, 121, 123, 137, 145, 151, 186, 245, 250, 280 Odessa 34, 43, 48, 68, 79, 155, 260, 267, 370–376, 378f. Oslo 40 Ostmitteleuropa 11, 17f., 20, 22, 28, 83, 135, 194, 212f., 242, 370, 375, 377, 381, 383f. Osteuropa 14, 38, 82, 149, 201, 212f., 268, 329, 370, 382–384 Ostseeprovinzen siehe baltische Provinzen Oxford 110 Paris 133, 324 Peipussee 11, 384 Pleskau 39, 69 Polnische Provinzen, Polen, 49, 57, 66, 144, 152, 274, 290, 334f., 383 Prag 34, 163, 370–373, 375f., 378, 380, 382 Pskow 35 Reval 40, 115, 349 Rom 133 Russland, russisches Zarenreich 12, 16, 25f., 29, 31, 33, 39f., 48, 50, 56, 66, 71–73, 75, 79, 89, 102, 106, 110, 112, 116, 119f., 133, 136, 140, 144, 147, 151f., 165f., 177, 190, 197f., 201, 204, 206, 208, 211–213, 216, 225, 234, 244f., 274f., 288, 315, 318, 322, 329, 333, 337–339, 345f., 349f., 355f., 359, 361–365, 367f., 370, 372f., 378f., 381, 383

Schottland 199 Schwarzes Meer, Schwarzmeergebiet 39, 78 Schweden 12, 40 Schweiz 132, 216, 218, 355f., 373f. Sowjetunion, Sowjetrepublik 14, 20f., 30f., 276, 383 St. Petersburg 25, 35, 38, 48f., 68f., 77, 79, 104, 107f., 125, 137, 141, 148, 151, 156, 160, 167, 176, 186, 188, 244f., 250, 259f., 265, 276, 280, 360, 363 Tirol 198 Tomsk 176 Tsaritsin 39, 69 Tschechoslowakei, Tschechen 371, 373–376, 368, 380, 382, 382–384 Tver 149 Ukraine, Ukrainer 57, 206f., 259, 290, 333, 371, 375, 378 Ungarn 198 Venedig 324 Vitebsk 49, 130, 152, 235 Warschau 38, 48, 69, 133 Weißrußland, Weißrussen 49, 57, 66, 152, 206f., 259, 290, 333 Westeuropa 38, 69, 77f., 82, 96, 110, 112, 135, 149, 152, 176f., 185, 187, 189, 193, 195, 199, 201, 367, 369, 343, 373, 384 Wilna 49, 152, 267 Windau 262 Zürich 110, 132, 288, 355

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3. Sachregister Im Sachregister wird vor allem auf jene Begriffe verwiesen, die sich nicht bereits aus dem Inhalts- und Tabellenverzeichnis ergeben. Zeitschriften werden im Original, ggf. mit der deutschen Übersetzung in Klammern wiedergegeben. Ausstellung 112, 179, 317, 320–327 Abstammung, Abstammungsglaube 23, 28, 59f., 223, 293, 377 Adel, Aristokratie 50, 51, 198f., 201, 220, 222, 233f., 293, 330, 335, 337, 341, 343– 345, 347, 354, 363 Agrarfrage, Agrarreformen 49, 51, 198, 200f., 229, 233, 345 Akkulturation, Assimilation 17, 59–65, 67, 140, 154, 158, 180, 219, 224, 228, 230, 238, 260–262, 265–267, 269, 272, 371, 380 Aktiengesellschaften 69f., 72, 77f., 80, 83 Alphabetisierung 50, 280 Angestellte 87–89, 93, 189, 203, 253, 256, 261 Ansiedlungsrayon, jüdischer 152, 158–160, 197, 260, 269 Altgläubige, Alter Glaube 45, 66, 244f., 259, 304, 331 Antisemitismus 93, 124, 130, 143f., 181, 254, 265 Arbeiter, Arbeiterbewegung 44, 69–70, 74, 77f., 82–84, 92, 124, 128, 132, 134, 163, 186f., 189, 203, 215, 222, 228, 234–237, 239f., 256, 269 Architektur 40f. Auf klärung 156, 211, 214, 230, 269, 374 Augsburger Allgemeine 251 «Autonomie» 83, 103, 106–108, 111, 117, 119f., 177f., 182f., 187, 194, 199, 204, 224, 241, 248, 253, 276, 279–282, 288f., 292, 298, 326, 333f., 336f., 339f., 355f., 360–363, 369, 378 Balss (Die Stimme) 125, 129 Baltische Konstitutionelle Partei 70, 112f., 116, 120, 150, 195–209 Baltische Monatsschrift 343–345, 358 Baltisches Conseil 115 Ballotage 117, 171

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Baltijas Vēstnesis (Der Baltische Bote) 121f., 351 Baltijas Zemkopis (Baltischer Landwirt) 235, 351 Bauer, bäuerliche Bevölkerung 51, 53, 86, 91, 101, 124, 130, 132, 134, 219, 233– 235, 345, 370 Beamte, Bürokratie 86, 89–92, 109, 121, 131, 151, 202, 206, 216, 228, 233, 243, 252f., 256f., 292, 358, 368 Besatzung, Okkupation 31, 119, 133, 163 Berufsstruktur 85–94, 97–99, 177 Bildung 23, 58, 124, 129–131, 134, 154, 174, 180, 196, 199, 205, 224, 246f., 261f., 264f., 267f., 277f., 297 Börse, Börsenkomitee 69, 75, 112, 179, 320, 381 Bolschewismus 369 Bürgerkrieg 369f. Bürgerliche Gesellschaft 18, 99, 121f., 128 Bürgertum, Stadtbürgertum, Wirtschaftsbürgertum 18, 59, 62, 65, 67, 70–73, 78, 81, 83–85, 87–90, 94, 99, 105f., 110, 115, 119f., 129f., 134, 139, 143, 149, 151, 155f., 158, 162f., 180, 184, 192, 203, 211, 214f., 217–221, 226, 233f., 236f., 247, 256f., 259–261, 264, 267, 269f., 293, 364, 370f., 373f., 380 Bürgerlichkeit 87–89, 93, 108, 165, 212, 243, 317, 323, 325f., 327 Bürokratie siehe Beamte Bund, jüdischer 161, 187, 242 Chassidismus 158 Cheder 158, 263 Chemie, chemische Industrie 72, 75–78, 81, 92, 110 Demokraten, Demokratisierung 116, 124, 132–134, 161, 163, 185, 192, 195f., 198,

200f., 208, 212f., 238f., 241, 336f., 340, 355, 365, 378 Denkmal 273, 328–340, 376 Deutscher Orden 12, 167 Deutscher Verein 222–226, 293, 335 Dezentralisierung siehe Föderalismus Dynastie siehe Monarchie

»Gleichberechtigung der Nationalitäten« 116, 117f., 120, 147–151, 184, 193, 198, 202, 206, 253 Golos (Die Stimme) 245, 251 Gymnasium 89, 134, 146, 245, 253, 277f., 285–287, 290

Eisenbahnen 36, 38f., 41, 69, 72, 74, 78, 110, 186, 348, 350, 367 Emanzipation 23, 31, 51, 121f., 125, 128, 133, 156, 160, 175, 197, 223, 228, 233f., 240, 246, 369, 274, 371, 378 Ethnizität 24, 27f., 32–34, 54, 58, 93–95, 99, 101, 122, 160, 163, 166–168, 172, 180, 195, 213, 218f., 240, 242, 247, 255, 272, 276, 292, 300f., 311, 313, 316, 340, 354, 368–372, 374 Ethnozentrismus 17, 24, 108, 143, 334, 340f., 357, 364f., 379

Handel, Handelskammer 52, 68f., 78f., 81, 83, 86f., 90–92, 170, 177, 179, 203, 202, 222, 228, 243, 246, 261, 319 Handwerk 52, 68, 78, 81–84, 86f., 89–92, 97, 170, 177, 179, 218, 222, 224f., 228, 236f., 256, 261, 319 Hanse, Hansestadt 35, 167, 194, 373 Haskalah 155, 380 »Heimat« 109, 231, 294, 344, 357–360 Herrnhuter Brüdergemeine 303 Holocaust 29, 152 Homogenität, Homogenisierung 13, 200, 214, 242, 275, 280, 286

Familie 102, 250f., 297 Flucht 130, 360f. Fraternitas Rigensis 103, 107 Fraternitas Baltica 110 Frauen, Frauenbewegung 132, 124, 200, 221, 223, 236, 239, 242, 250, 259, 261, 264f. Freie Berufe siehe Intelligenz Freimaurer 214 Föderalismus, Föderalisierung 112, 117, 148, 151, 196f., 201, 204–206, 226, 239, 333, 336, 340, 378 Fortschritt 23, 184, 191, 193, 228, 269, 327, 345

Imperialismus 200 Industrie, Industrialisierung 12, 44, 48, 51f., 67–84, 86f., 90–92, 94, 97, 99, 111, 128, 149, 170f., 179, 181, 183, 190, 197, 202f., 222, 266, 287f., 293, 319, 321, 326, 326, 335, 364f., 367, 370, 374 »Integration« 33, 59, 63, 106, 138f., 141, 143–145, 147, 150f., 154, 160, 162, 178, 248, 252, 260, 269, 274–276, 282, 293, 298, 316, 323, 345, 349, 378, 380 Intelligenz, freie, freie Berufe 86f., 90–92, 95, 103, 130, 134, 150f., 168, 170f., 177, 185, 202, 220–222, 228, 246, 253, 256f., 261, 319

Gemeinwohl 19, 33, 56, 105f., 108, 112, 120, 166, 172, 182–185, 193–195, 213– 219, 222, 246, 373, 375 Gemeinde 26, 152, 302–304, 309, 313f. Gewerbe 52, 75, 78, 84, 87, 90, 92, 112, 168, 170, 177, 185, 202, 222, 224, 228, 243, 246, 261, 264–267, 319 Geschlecht (siehe auch Frauen) 250, 259, 292 Gesellschaft für die Verbreitung von Bildung unter den Juden Russlands 153, 161f., 247, 259–272, 328, 331 Gesellschaft für kommunale Sozialpolitik 112, 221

Jauna strava (Neue Strömung) 134f., 239– 242 Jüdische Allgemeine 155 Jugendstil 35, 40 Kadettenpartei, Kadetten 19, 147f., 150, 161, 195, 200, 204–209, 253, 258 Katholiken, Katholizismus 16, 27, 65f., 130, 134, 290, 303 Kirche 33, 274f., 277, 300–316, 328, 376 Klasse, Klassenzugehörigkeit, Klassengesellschaft 13, 23, 27, 44, 47, 85, 87f., 94, 97, 99, 128, 132, 168, 202, 238f., 241f., 258, 326, 369, 371, 378f.

427

Kolonialismus 12, 127 Konfession 27, 33, 62, 64–67, 130, 135, 156, 213, 219, 235, 244, 255, 258f., 280, 290, 301, 303, 307f., 311, 313, 315, 358, 372, 376, 378 Konfessionalismus, Konfessionalisierung 66, 102, 301, 309f., 315f. Konservative 91, 97, 109, 111, 115, 117, 124, 126, 129–133, 143, 146, 149, 171, 185, 192, 195, 200f., 225, 241f., 253, 255, 259, 317–319, 322, 327, 393, 334f., 336f., 339f., 358, 363 Konstitution, Konstitutionalisierung 120, 195f., 201, 204, 294, 329, 334f., 356 Konversion, Rekonversion 156f., 300, 303– 308, 315 »Kultur« – (allgemein) 16f., 22, 33, 58f., 87f., 258, 273f., 370, 375, 377, 379f., 404 – politische Kultur 32, 124, 165–210, 372, 384 – »deutsche Kultur« 63f., 102, 106, 108f., 112, 117, 119f., 154–156, 160–163, 177, 179.f., 198, 216, 219, 222–226, 230, 260, 276–280, 282, 291–293, 296, 308, 326, 332, 343, 346, 349f., 356–359 – »lettische Kultur« 62, 121f., 125f., 128, 134, 180, 228, 350, 356f., 365 – »russische Kultur« 139, 142, 144, 148, 156, 162f., 253, 258–261, 296, 356, 380 LeMonde 251 Lettisch-literärische Gesellschaft 228, 238 Lettischer Verein 123, 126, 128–130, 132, 173, 182, 187, 215, 218, 225, 227–242, 250, 261, 294, 298, 318f., 325, 328, 335, 355 Lettonija 125 Literärisch-praktische Bürgerverbindung 214–220, 250 Liberalismus 32, 111, 113, 115f., 118, 121, 126, 128, 146, 148–150, 165f., 190, 194– 209, 211, 228, 239, 255, 259, 272, 317, 338f., 343–346, 349, 357f., 373, 378f. Marxismus 128, 132, 239, 241, 356, 373 Migration, Wanderung 13, 47–53, 69, 99, 128, 254, 254, 374 Militär 86, 115, 206, 243 Mobilisierung 25, 31, 34, 139, 175, 375

428

Mobilität, sozioökonomischer Aufstieg 24, 84, 92–94, 111, 154, 158, 160, 162f., 180, 228, 254, 260, 288f., 302, 354, 371, 380 Modernisierung, Modernisierungsprozeß 13, 31, 89, 91, 98, 110, 122, 252, 274, 321, 338, 343, 348, 354, 373 Modernisierungstheorie 13, 18, 275 Monarchie 103, 204f., 208, 239, 274, 329, 332, 335–337, 340, 354, 363, 365 Moskovskie Vedomosti (Moskauer Nachrichten) 147, 245, 297, 345 Multiethnizität 12–15, 17, 19, 22, 28, 33f., 83, 134, 148, 165f., 194f., 201, 209, 212, 214, 340, 370–375, 377–379, 381–384 Munizipalsozialismus siehe Sozialpolitik Musse 117f., 150, 219 »Nation«, Nationalismus, Nationsbildung – (allgemein), 12, 15–17, 20, 22f., 26–28, 73, 116, 176f., 184, 191, 196, 208f., 246, 274, 365, 370, 375, 377f., 383 – deutsche(r), 201, 222–226, 231, 294, 379 – jüdische(r) 261f., 267, 269 – lettische(r) 23–25, 62, 120–135, 138, 144, 147, 180, 184–187, 193, 200–202, 222, 227, 242, 250, 293f., 296f., 310, 318f., 335f., 342, 350–357, 364f., 376, 379 – russische(r) 25, 138, 141–147, 150f., 207, 248, 253f., 297, 300, 356, 379 »Nationalität« 19, 23–26, 54, 58–61, 63–65, 67, 148, 173–175, 184, 192, 195, 197f., 202, 204, 218, 222f., 226, 253, 258, 290, 377 Nationalisierung 22, 30, 67, 83, 118, 124, 135, 150, 159, 165, 172, 193, 195, 218, 222, 226, 240, 277, 293, 300, 303, 307f., 313, 316, 323, 327, 358f., 367–373, 378f., 383 Nationalstaat 13, 15, 113, 140, 197, 207, 373, 378f., 383 Öffentlichkeit 151, 166, 176, 196, 223, 231, 243, 248, 252f., 258f., 275, 279, 297, 299, 307, 322, 331f., 337f., 343–345, 347, 368 Oktobermanifest 124, 143, 195f., 255, 329, 333 Oktobristen, Oktoberverband 150, 195, 204–208, 253f.

Orthodoxie 66, 163, 202, 244, 250, 259, 264, 290, 300f., 303–307, 312, 378f., 383 Ostforschung 21, 370, 380 Parteien 19, 132f., 143, 148, 161, 195–197, 200, 204, 255, 258, 344f., 356, 361, 364, 382 Partizipation 23, 31, 51, 167–172, 176, 180, 196, 200, 213, 259, 218, 327, 341, 357, 370 Peterburgskaja Žizn’ (Petersburger Leben) 251 Petersburger Zeitung 251 Polytechnikum, Baltisches 71f., 78, 105, 110, 129, 146, 154, 277, 288–290, 319f. Pogrom 152, 267 Pribaltiskij Listok (Baltischer Bote) 149 Protestantismus, Protestanten 16, 65f., 70, 250, 290f., 296, 300f., 305, 346 Raum, Raumbegriff 274, 341–366, 376f., 379 Region, Regionalismus 16, 32, 54, 103, 110, 117, 122, 126, 138, 141–143, 179, 196f., 200, 248, 252, 273, 293f., 317f., 321, 326f., 329, 335f., 337, 343, 345f., 348f., 352, 354, 362, 364f., 378 Religion 13, 26, 28, 45, 64, 66f., 137, 157– 159, 163, 246, 264, 269, 272, 300–316, 383 Reich, Reichsbegriff 16f., 22, 32, 103, 110, 117, 140, 187, 207, 222, 239, 261, 280, 321, 323, 326f., 329, 334–340, 348, 362, 369, 378f. Revolution 115, 128, 135, 161, 186–189, 192, 194–197, 201, 213, 218f., 222f., 226, 231, 240, 242, 250, 255, 298, 312, 329, 335, 355f., 359, 361, 365, 368–370, 382 Rigasche Rundschau 114, 116, 119, 155 Rigasches Tageblatt 225 Rīgas Avīze (Rigaer Zeitung) 121, 124 Rīgas Lapa (Rigasches Blatt) 24, 121 Ritterschaft 233, 289, 328, 330f., 347 Rižskaja Mysl’ (Rigaer Gedanke) 118, 143, 147–149, 338 Rižskij Vestnik (Rigaer Bote) 118, 137, 139, 141, 143f., 146f., 191, 245, 253, 323 Rižkie Vedomosti (Rigaer Nachrichten) 147 Russifizierung, administrative, kulturelle 25, 30, 33, 81, 91, 108f., 122, 133, 142f., 155, 171, 180, 188, 192, 222–224, 250,

252, 273–300, 321, 326, 354f., 357, 359, 362, 379 Russischer Klub 19, 137, 142, 146, 149, 173, 243–259, 261 Russkoe Bogatsvo (Russischer Reichtum) 251 Sängerfest 230–233, 235, 238, 242, 296, 312, 318f., 335, 337, 349, 352, 379 Schule, Schulwesen (siehe auch Gymnasium, Volksschule) 33, 50, 66, 108, 147f., 155, 178f., 188f., 199f., 214, 216f., 222, 224, 233, 253, 261–266, 275–287, 290–292, 294, 296–300, 328, 332f., 367, 373, 376 Selbstverwaltung 56, 71, 107, 122, 133, 134, 168, 171, 176, 198–200, 206, 211, 241, 320, 336, 340, 346, 358, 373 Selbständigkeit, wirtschaftliche 87–88, 93 Sozialdemokraten, Sozialdemokratie, Sozialismus 16, 124, 128f., 131–133, 135, 161–163, 186f., 192, 195, 197, 200f., 239–242, 255, 272, 298, 312, 319, 337, 355f., 379f. Sozialer Aufstieg siehe Mobilität Sozialstruktur 84–94, 202, 222, 228, 236f., 256f. Sozialpolitik 112f., 133, 185, 189–191, 194f., 215, 218, 373f., 381 Staat 33, 68f., 73f., 81, 83, 107, 110, 116, 131f., 134, 144, 178, 181, 188, 207–209, 211–213, 216f., 240, 248, 272, 274, 276f., 296, 300f., 304, 306, 320, 326, 329–331, 333, 343, 359, 365, 368, 376, 381 Stadtverordneter, Stadtverordnetenversammlung 39, 124, 137, 144, 149, 168f., 171, 174, 176–178, 181, 183–185, 191, 283, 319, 330 Städteordnung 31, 105, 111, 106, 120, 122, 125, 149, 151, 165–172, 178, 184, 252 Stand, Standeszugehörigkeit, ständische Herrschaft 24, 38, 69f., 84–90, 92, 94, 98f., 101–105, 107f., 111, 117, 119f., 165– 170, 174f., 177, 182–184, 189, 194, 198f., 201, 211f., 222, 225f., 234, 244, 277, 292, 295, 304, 320, 326, 333, 335, 339, 346, 349, 370, 383f. Statistisches Amt 29, 42, 54f., 60, 85, 93, 96, 214, 373 Steuer, Steuerauf kommen, Einkommenssteuer 89, 95, 190, 197, 333

429

Symbole 229, 316, 319, 322–327, 338, 376 Synagoge 43, 157–159 The Times 251 Theater 112, 115, 146, 162, 179, 182, 184, 189, 228, 251, 261, 293 Transfer 17, 22, 71, 189, 211, 218, 230f., 301, 379f., 384 Transsibirische Eisenbahn 39, 69 Unternehmer, Industrieller 70–74, 79–82, 97–99, 111, 114, 149, 157, 159, 181f., 185, 191, 203, 235, 253, 256, 260f., 319 Urbanisierung 12f., 18, 36, 39, 41, 47–49, 84, 94, 165, 170, 181–183, 190f., 370, 374 Vereine, Vereinswesen 19, 29, 31, 33, 52, 64, 105f., 108, 125, 134, 137, 148, 159, 211–272, 293, 296, 319, 328, 338, 374f., 382 Verfassung siehe Konstitution Verflechtungsgeschichte 21f., 273, 370, 379 Vermögen, Vermögensverteilung 50, 85, 94–99 Vestnik Evropy (Europäischer Bote) 251 »Volk« 23–26, 67, 160f., 188, 225, 227, 231, 238, 240, 336f., 341, 360f., 368f. Volksgeschichte 21

430

Volksschulen 112, 123, 179, 188, 190f., 197, 224, 238, 277–279, 282–284, 290–292, 294–296, 298, 302, 354 Volkszählung 29, 42, 46, 50, 54–61, 67, 85–87, 93, 162, 179, 243, 381 Wahlen, Wahlkämpfe 24, 29, 32, 105, 121, 124, 128, 142, 146f., 161, 165, 167–177, 180, 182–185, 191–194, 224, 372, 382 Wahlrecht , Wahlberechtigte 95f., 116, 124, 132, 167–172, 186, 196, 198–200, 203, 206–208, 239, 241, 253, 333, 339, 356, 372 Weltkrieg, Erster 31, 33, 46, 48, 114, 121, 130, 135, 148, 150, 163, 182, 215, 226, 258, 265, 274, 299, 341f., 359–369, 375, 377f. Wohltätigkeit siehe Gemeinwohl Zarentum, Zar 103, 117, 119, 178, 190, 204f., 222, 225f., 233, 274, 280, 292, 305, 328f., 332, 335, 337, 338, 340, 362, 368 Zemstvo 122, 126, 142, 206, 233, 354 Zentralismus 126, 133, 146, 204, 234, 274, 300, 348 Zionismus 26, 161, 260, 269 Zivilgesellschaft, zivilgesellschaftliche Entwicklung 17–20, 32f., 55f., 102, 106, 108, 120, 166, 194f., 211, 213f., 320, 331, 349, 376, 381f., 384

Zum Weiterlesen empfohlen Miroslav Hroch Das Europa der Nationen

Till van Rahden Juden und andere Breslauer

Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich Aus dem Tschechischen von E. und R. Melville. Synthesen, Band 2. 2005. 279 Seiten, kart. ISBN 10: 3-525-36801-1 ISBN 13: 978-3-525-36801-5

Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 139. 2000. 382 Seiten mit 47 Abb., kart. ISBN 10: 3-525-35732-X ISBN 13: 978-3-525-35732-3

Das Buch analysiert die Nationalbewegungen und Nationsbildungen Europas in einer vergleichenden Perspektive, die erstmals das westliche und östliche Europa gleich gewichtet. Dieses Werk erhielt den Preis »Das Historische Buch 2005» (H-Soz-u-Kult) in der Kategorie »Europäische Geschichte«.

Katrin Steffen Jüdische Polonität Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939 Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 3. 2004. 422 Seiten, gebunden ISBN 10: 3-525-36981-6 ISBN 13: 978-3-525-36981-4

»This book is a model for the writing of a local social history that provides a broad conceptual framework and extends our understanding of major political issues.« Journal of Modern History

Bianka Pietrow-Ennker (Hg.) Kultur in der Geschichte Russlands 2006. Ca. 320 Seiten, kartoniert ISBN 10: 3-525-36293-5 ISBN 13: 978-3-525-36293-8 Der Band gibt einen Überblick über Themen und wissenschaftlichen Konzepte, die die osteuropabezogene Kulturgeschichtsforschung gegenwärtig prägen.

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»Die Autorin liefert mit dieser Studie eine eindrucksvolle Untersuchung jüdischer Identitätsentwürfe, die einmal mehr verdeutlichen, dass Diversität und Hybridität keineswegs nur modische Floskeln, sondern auch in der Geschichte zu finden sind.« Werkstatt Geschichte

Zwischen Sehnsucht und Phobie: Die Deutschen und ihr Blick auf den Osten.

Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert 2006. 215 Seiten mit 19 Abb., kartoniert ISBN 10: 3-525-36295-1 ISBN 13: 978-3-525-36295-2

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 174: Regula Argast Staatsbürgerschaft und Nation Ausschließungs- und Integrationsprozesse in der Schweiz 1848–1928 2006. Ca. 384 Seiten, kartoniert ISBN 10: 3-525-35155-0 ISBN 13: 978-3-525-35155-0

173: Thomas Kühne Kameradschaft

169: Wolfgang Hardtwig Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters 2005. 387 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 10: 3-525-35146-1 ISBN 13: 978-3-525-35146-8

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167: Uffa Jensen Gebildete Doppelgänger

Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich 2006. 384 Seiten, kartoniert ISBN 10: 3-525-35152-6 ISBN 13: 978-3-525-35152-9

Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert 2005. 383 Seiten mit 3 Abb., kartoniert ISBN 10: 3-525-35148-8 ISBN 13: 978-3-525-35148-2

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166: Alexander Nützenadel Stunde der Ökonomen

Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929 2006. 411 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 10: 3-525-35151-8 ISBN 13: 978-3-525-35151-2

Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974 2005. 427 Seiten, kartoniert ISBN 10: 3-525-35149-6 ISBN 13: 978-3-525-35149-9