Der lange Kampf um die Einführung von Witwen- und Witwerrenten: Analyse der sozialpolitischen Diskussionen von 1890 bis 1911 [1 ed.]
 9783737006019, 9783847106012, 9783847006015

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Beiträge zu Grundfragen des Rechts

Band 21

Herausgegeben von Stephan Meder

Frank Weidner

Der lange Kampf um die Einführung von Witwen- und Witwerrenten Analyse der sozialpolitischen Diskussionen von 1890 bis 1911

Mit 4 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5405 ISBN 978-3-8471-0601-2 ISBN 978-3-8470-0601-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0601-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Graf im Barte« – Graf Arthur von Posadowsky-Wehner. Nach der neuesten photographischen Aufnahme von Reichard u. Lindner in Berlin 1897. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Greta

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . A. BVerfGE 97, 271ff. als Bruch mit der historischen Kontinuität B. Ziel und inhaltliche Beschränkung der Untersuchung . . . . C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil: Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902 . . . . . . . . . . A. Historische Vorläufer der Hinterbliebenenversicherung . . . . . . . I. Collegia tenuiorum im Altertum . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Knappschaften des Bergbaus im Mittelalter . . . . . . . . . . . III. Zunftkassen des Handwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Hülfskassen sonstiger Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Witwen- und Waisenpensionsanstalten der Gelehrten . . . . . B. Bismarcks Sozialgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage: Soziale Notlage von Arbeiterwitwen, Versicherungslücke auch bei Angestellten . . . . . . . . . . . 1. Keine Hinterbliebenenrenten für Arbeiterwitwen, Fürsorge unzureichend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kaum private Mildtätigkeit Ende des 19. Jahrhunderts . . . 3. Stadtwitwen nur augenscheinlich notleidender als Landwitwen, junge Witwen mit Kindern in größter Not . . 4. Messbare Folgen: Überlebenskampf der Arbeiterwitwen in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erhöhte Sterblichkeit und hohe Krankheitsquote . . . . b) Erhöhte Suizidquote und hohe Quote an Vermögensdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

II. Erste Initiativen im Reichstag 1869–1879 . . . . . . . . . . . . III. Kaiserliche Botschaft 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesetz betreffend die Krankenversicherung . . . . . . . . . . V. Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Invaliditäts- und Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung, Ausgangslage 1890 . . . . . . . . . . . . . C. Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs« . . . . . . . . . . . . I. Dringende Forderungen nach einer Einführung von Hinterbliebenenrenten im Reichstag . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortgesetzter Einsatz des Eisenindustriellen Stumm-Halberg für eine Hinterbliebenenfürsorge der Industriearbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forderung von Witwen- und Waisenrenten als wichtigste Leistung der Rentenversicherung überhaupt . . . . . . . . . 3. Votum der Sozialdemokraten für die Herabsetzung des Rentenalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frage der Finanzierung als Hauptargument . . . . . . . . . II. Die ablehnende Haltung des Staatssekretärs des Innern von Boetticher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abspaltung der Seefahrt von der allgemeinen Invaliditätsversicherung und Übernahme der Witwen- und Waisenversicherung durch die Seeberufsgenossenschaft 1897 . IV. Noch keine Hinterbliebenenrenten in der versuchten Reform 1897 vorgesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899 . . . . . . . . . I. Rote Zahlen in den ostpreußischen Versicherungsanstalten; Ablehnung grundsätzlicher Änderungen . . . . . . . . . . . . II. Reaktionen im Reichstag: Politische Anschauungen im Spiegelbild gesellschaftlicher Kritik . . . . . . . . . . . . . . . 1. »co0te que co0te«: Sofortige Einführung von Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zentrum: Hinterbliebenenrenten nur für Fabrikarbeiter . . 3. Für die Aufschiebung einer Einführung von Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis: Hinterbliebenenrenten durch Rentennovelle 1899 in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Reichstagsresolution 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eröffnungsrede Stumm-Halbergs . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verteidigung des Resolutionsantrags des Zentrums durch Franz Hitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Posadowsky-Wehner und die deutsch-konservative Partei für die Ablehnung beider Resolutionsanträge . . . . . . . . . . . . IV. Linksliberale Parteien gespalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Roesicke für Resolution Stumm-Halbergs . . . . . . . . . . 2. Antrag des Abgeordneten Eugen Richters: Kommission . . V. Nationalliberale und Sozialdemokraten unterstützen Stumm-Halberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fraktionslose Forderung: Breite Schichten des Mittelstandes statt Fabrikarbeiter zu versorgen . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ergebnis: Resolution Stumm-Halberg und erste Anzeichen für die Forderung nach dem späteren Angestelltenversicherungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Reaktionen auf die Resolution Stumm-Halbergs . . . . . . . . 1. Reaktionen im Reichsamt des Innern . . . . . . . . . . . . . 2. Reaktionen der Öffentlichkeit: Pressespiegel . . . . . . . . . 3. Veröffentlichung Prinzings: Die soziale Lage der Arbeiterwitwe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. »lex trimborn«: Zolleinnahmen als Finanzierungsgrundlage für eine »Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge« . . . . . . . . . . . . . . . I. Erste Ideen zur Verknüpfung des neuen Zolltarifes mit einer Witwen- und Waisenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erste Überlegungen zur Ausgestaltung einer Hinterbliebenenfürsorge: Prinzing und Düttmann im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Versorgter Personenkreis und Höhe der Kosten . . . . . . . 2. Höhe des Witwengeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Finanzierung: Arbeitnehmer-/ Arbeitgeberbeiträge und/ oder Reichszuschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beginn der Rentenzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sonstige berücksichtigungswürdige Gesichtspunkte . . . . . III. Der neue Zolltarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Posadowsky-Wehner und das Zentrum entwickeln lex trimborn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pressestimmen und die unentschiedene Haltung der »Sozialen Praxis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schamtuch des Zentrums zur Verdeckung »brodvertheuernde(r) Blöße« . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verteidigungsversuche des isolierten Zentrums . . . . . c) Die »Sociale Praxis«: Ziel gebilligt aber Weg nicht gangbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.

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Inhalt

IV.

3. Kommissionsverhandlung über den Zolltarif im Sommer 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Carl Trimborn begründet den Zentrumsantrag von Dr. Heim und Genossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Molkenbuhr für Eventual-Antrag der Sozialdemokraten . c) Konservative, Nationalliberale und Freisinnige gegen eine Verknüpfung der Zolltarife-Reform mit der Witwen- und Waisenversicherung . . . . . . . . . . . . . d) Bundesrat und Staatssekretär des Reichsschatzamt warnen vor noch nicht absehbarer Belastung des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis: Äußerst knappe Mehrheit für Zentrumsantrag in zweiter Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. lex trimborn: Kompromissvereinbarung von Zentrum, Freikonservative und Reichsregierung . . . . . . . . . . . . a) Streichung der Positionen Gerste und Hafer . . . . . . . b) Mehreinnahmen pro Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zweite Beratung zum Zolltarifgesetz im Reichstag . . . . . . a) Kompromissvorschlag Trimborns: Einschränkungen durch lex trimborn ermöglichen volle Zustimmung aus der eigenen Fraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Argumente gegen den Einwand zu schwankender Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freisinnige und Soziale Praxis gegen lex trimborn . . . . d) Sozialdemokraten hielten Antrag für falsch, stimmen jedoch zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis: Einführungszeitpunkt geregelt . . . . . . . . . . . .

Dritter Teil: Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG . A. 1903: Hinterbliebenenversicherung als Wahlkampfthema . . . . . . I. Sozialdemokraten tragen »lex trimborn« in die Öffentlichkeit . II. Carl Trimborn verteidigt »lex trimborn«; Unterstützung aus der nationalliberalen Fraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorwürfe: Einführung erst 1910 zu spät, Finanzierungsfrage ungeklärt, Lücke für spätere Angestellte bleibt . . . . . . . . . IV. Deutsche Reichspartei für zeitlichen Aufschub über 1910 hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Erste Denkschriften ab 1903 von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschränkung auf Renten an invalide Witwen . . . . . . . . . II. Höhe der Renten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Finanzierung der Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . IV. Beitragsrückerstattung, Witwengeld . . . . . . . . . . . . . . . C. Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anspruchsberechtigter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . 1. Versicherungspflicht von Industriearbeitern und Arbeitern der Land- und Forstwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausschluss der Angestellten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Invalidität als Anspruchsvoraussetzung . . . . . . . . . . . a) Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ablehnung der Beschränkung auf Invalidenrenten . . . . c) Definitionsvorschläge zum Invaliditätsbegriff . . . . . . 4. Bedürftigkeit des Witwers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Besonderheiten: Witwengeld, Versorgungsehe und Wiederheirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Witwengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versorgungsehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wiederheirat der Witwe . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unverhältnismäßigkeit von Beitrags- und Rentensätzen . . . . 1. Benachteiligung der oberen Lohnklassen . . . . . . . . . . . 2. Missverhältnis der Hinterbliebenenrenten im Vergleich zur Invalidenrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reichsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heranziehung der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rentenversicherungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . I. Mathematische Berechnungen im Reichsamt des Innern . . . 1. Kalkulationen und Aussagen während der Amtszeit Posadowsky-Wehners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Detaillierte Berechnungen und Vorlage in der Amtszeit Bethmann Hollwegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entwicklung der lex trimborn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Weniger als 10 Prozent der erhofften Zollmehreinnahmen . 2. Kürzung der Beitragserstattung höher als ausgezahlte Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Öffentliche Diskussion über Rentenhöhen und den anspruchsberechtigten Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geringe Frauenbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Soziale Praxis für Begrenzung auf invalide oder mindestens 70 Jahre alte Witwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kleeis und andere Stimmen fordern weiteren Kreis anspruchsberechtigter Personen . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mindesthöhe der Renten auf Niveau der Armenpflege . . . . F. Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG . . . . . . . . . . . . . . I. Klassendenken war Leitgedanke beider Entwürfe . . . . . . 1. Die Frage der Privatbeamten in den Debatten zum E-RVO 2. Die Gründe für unterschiedliche Regelungen in RVO und AVG; Doppelversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rentensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Weitere Anspruchsvoraussetzungen: Invalidität und Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der Invalidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Witwerrenten bei Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verabschiedung von RVO und AVG . . . . . . . . . . . . . . II.

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Vierter Teil: Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenverzeichnis (alphabetische Anordnung) . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015/2016 von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover als Dissertation angenommen. Angeregt wurde die Anfertigung dieser Arbeit von meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hermann Butzer, dem ich hierfür und für die Förderung und Unterstützung, die er mir stets hat zuteil werden lassen, herzlichst danke. Ebenfalls danke ich Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf für die Erstellung des Zweitgutachtens. Weiterhin gilt mein Dank dem Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund (FNA), das die Entstehung dieser Arbeit durch ein Forschungsstipendium gefördert hat. Schließlich möchte ich meiner Familie für die Geduld und Nachsicht danken, die mir auch in den schwierigen Phasen der Dissertation immer zur Seite stand. Nicht zuletzt gilt mein Dank all denen, die sich mit meiner Arbeit beschäftigt haben, für die vielen Anregungen und Vorschläge. Hannover, im März 2016 Frank Weidner

Abkürzungsverzeichnis

Abg Anh Anl BA Bd d DFoP DFrP DkoP DNVP DRP DV DVP E-AVG E-RVO f/ ff FkP FoVp FrVg FrVp Geh. Jg Leg. Per LRP LV MdR

NDB No Quellensammlung GDS RS

Abgeordneter Anhang Anlage Bundesarchiv Band der / des Deutsche Fortschrittspartei Deutsche Freisinnige Partei Deutschkonservative Partei Deutschnationale Volkspartei Deutsche Reichspartei Demokratische Vereinigung Deutsche Volkspartei Einführungsgesetz zum Angestelltenversicherungsgesetz Entwurf einer Reichsversicherungsordnung folgende (1 Seite)/folgende (mehr Seiten) Freikonservative Partei Fortschrittliche Volkspartei Freisinnige Vereinigung Freisinnige Volkspartei Geheimer Jahrgang Legislaturperiode Liberale Reichspartei Liberale Vereinigung Mitglied des Reichstags des Norddeutschen Bundes (1866– 1871), des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), der Weimarer Republik (1918–1933) Neue Deutsche Biographie Nummer Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914 Rückseite

16 RT RVO S Sess

SPD Sten.Ber Sten.Ber. RT d. Norddt. Bundes Th Verh Verh. d. RT v vgl WV

Abkürzungsverzeichnis

Reichstag Reichsversicherungsordnung Satz / Seite Sessionen 1869–1871 des Reichstags des Norddeutschen Bundes, danach in arabischen Zahlen des Reichstags des Kaiserreichs (1871–1918) Sozialdemokratische Partei Stenografische Berichte Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Norddeutschen Bundes Theil, altdeutsch für Teil Verhandlungen Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags von / vom vergleiche Wirtschaftliche Vereinigung

Erster Teil: Forschungsgegenstand

A.

BVerfGE 97, 271ff. als Bruch mit der historischen Kontinuität

Am 18. Februar 1998 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts1 dazu Stellung genommen, ob im Falle der Ehegatten-Hinterbliebenenrenten der Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG greift. Streitgegenständlich war die Frage, ob die durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz vom 11. Juli 1985 (HEZG) neu eingeführten Bestimmungen über die Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen auf die Ehegatten-Hinterbliebenenrenten mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Entgegen der vorher überwiegenden Ansicht in der Literatur2 hat das Gericht diese Frage bejaht und den Ehegatten-Hinterbliebenenrenten den Eigentumscharakter abgesprochen; die Entscheidung ist dabei auf Halb- und Vollwaisenrenten voll übertragbar. Ehegatten-Hinterbliebenenrenten seien den Rentenversicherten weder privatnützig zugeordnet noch beruhten sie auf zurechenbaren Eigenleistungen des Rentenversicherten. Gerade die Aussage des Beschlusses, die Hinterbliebenenrente sei »eine vorwiegend fürsorgerisch motivierte Leistung«3, hat sich als eine Art von Dammbruch erwiesen und ein Signal an den Rentengesetzgeber gegeben, dass ihm zu den Hinterbliebenenrenten freie Fahrt gewährt werde und er diese Rentenart als finanzpolitische Manövriermasse nutzen könne.4 Der Gesetzgeber hat auch schnell reagiert, wie das alsbald nach dem Beschluss ergangene Altersvermögensergänzungsgesetz 2001 mit den gegenüber dem HEZG 1985 weiter verschärften Anrechnungsvorschriften (§ 97 SGB VI i. V. m. §§ 18a bis e SGB IV)

1 BVerfGE 97, 271 (283ff.). Einstimmend auf dieses Entscheidungsergebnis war bereits BVerfGE 87, 1 (35ff.) – Kindererziehungszeiten. 2 Nachweise zu der überaus intensiven Diskussion vor und nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 1998 bei Mielke, S. 39ff. 3 BVerfGE 97, 271 (285). 4 So die Bewertung bei Butzer 2006, S. 667, 685f.

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Forschungsgegenstand

gezeigt hat. Weitere, in jüngerer Zeit erwogene Änderungen5 – sollten sie vom Gesetzgeber aufgenommen und umgesetzt werden – würden diesen Trend der sukzessiven Umpolung der Hinterbliebenenversicherung zu einer Hinterbliebenenversorgung fortsetzen. Zu der Entscheidung ist aber auch bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht mit ihr nicht nur eine grundlegende Neuregelung der Renten wegen Todes verfassungsrechtlich gebilligt, sondern auch einen Teil des über Jahrzehnte von RVO und SGB VI geschnürten Leistungspakets aus dem Kernsystem der gesetzlichen Rentenversicherung herausinterpretiert hat. Es geht um einen Teil, der nunmehr vor ziemlich genau 100 Jahren, im Jahre 1911, durch die Reichsversicherungsordnung (RVO)6 zum einen und durch das Versicherungsgesetz für Angestellte (AVG)7 zum anderen im System der Sozialversicherung verankert worden ist. Die neuen Waisenrenten- und Witwen- und Witwerrentenleistungen galten für die Arbeiter ebenso wie für die neu definierte Gruppe der Angestellten und damit für einen großen Teil der Bevölkerung des deutschen Kaiserreiches. Mit der Einführung dieser Hinterbliebenenrenten wurde eine Lücke geschlossen, die die ersten Reichsgesetze zur gesetzlichen Rentenversicherung, nämlich das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 18898 und das nachfolgende Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 18999, gelassen hatten. Diese enthielten noch keine Renten für Ehegatten und Kinder verstorbener Versicherter. Immerhin regelten diese Gesetze aber schon einen Anspruch der Hinterbliebenen auf Rückerstattung der gezahlten Beiträge, wobei diese Rückerstattungsregelung 1889 von der Reichstagskommission aus dem Gesichtspunkt geschaffen worden war, dass sich eine Familie im Todesfalle des Ernährers in größter Not befände.10 Ansonsten sahen bis 1911 nur das Unfall- und das Krankenversicherungsgesetz Leistungen an Hinterbliebene vor.11 Schon der 5 Siehe etwa Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten (JG) 2005/2006, 2006, S. 372 (Tz. 553), S. 386 (Tz. 573); konkretisiert in: ders., Widerstreitende Interessen – ungenutzte Chancen, JG 2006/2007, 2007, S. 254ff. (Tz. 335ff.). Siehe ferner eine Kleine Anfrage von 40 Abgeordneten sowie der Fraktion der FDP zu »Bestand und Entwicklung bei den Hinterbliebenenrenten« auf BT-Drucks. 16/1191 (vom 6. 4. 2006); Antwort der Bundesregierung auf BT-Drucks. 16/1274 (vom 24. 4. 2006). 6 RVO vom 19. 07. 1911, RGBl., S. 509; Regelungen zu Hinterbliebenenrenten in §§ 1252ff. RVO. 7 AVG vom 20. 12. 1911, RGBl., S. 989; Regelungen zu Hinterbliebenenrenten in §§ 28ff. AVG. 8 RGBl. S. 97. 9 RGBl. S. 393. 10 Bericht der VI. Kommission v. 19. 03. 1889 über den derselben zur Vorberatung überwiesenen Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters= und Invaliditätsversicherung, Sten. Ber. RT, VII. Leg. Per., 4. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 141, S. 898. 11 Ausführlich zu den Regelungen der Witwen- und Waisenversicherung in den Sozialversi-

Ziel und inhaltliche Beschränkung der Untersuchung

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Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes aus dem Jahr 1882 enthielt insoweit Bestimmungen über die Gewährung eines sogenannten »Sterbegeldes«12, mit dem Ziel, so ein anständiges Begräbnis zu gewährleisten. Man übertrug den Krankenkassen mithin zugleich die Funktion von Sterbekassen.13 Und auch die Unfallversicherung regelte von Anfang an die Fürsorge für Hinterbliebene durch Ersatz der Beerdigungskosten und zudem durch Gewährung von Hinterbliebenenrenten.14

B.

Ziel und inhaltliche Beschränkung der Untersuchung

Vor dem Hintergrund der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung von 1998 und des damit ermöglichten breiten Reformspielraums für Hinterbliebenenleistungen hat sich die vorlegende Untersuchung zum Ziel genommen, die Entstehensbedingungen und die politische Diskussionsgeschichte der Hinterbliebenenrenten zu erforschen und nachzuzeichnen. Sie hofft damit, auch für die Gegenwart helfen zu können, die Funktionen der Hinterbliebenenrenten und ihre systematische Einordnung – ob als Fürsorge- oder als Versicherungsleistung – besser zu verstehen. Sie begreift sich insofern als ein Beitrag zur historischen Auslegung der heutigen Regelungen in §§ 46–48 SGB VI. Bei der anzustellenden historischen Forschung und Analyse sollen indes zwei inhaltliche Begrenzungen vorgenommen werden. Zunächst soll die Entstehung einer Hinterbliebenensicherung in der Seefahrt (weithin) außen vor gelassen werden; hier hat die Interessenvertretung der Seefahrer bereits 1906 eine Hinterbliebenenversicherung durchgesetzt.15 Ebenso wenig soll die Entstehung der Hinterbliebenensicherung in der Beamtenversorgung hier näher betrachtet werden. Beide Bereiche sollen vielmehr nur beleuchtet werden, soweit sie die sozialpolitische Diskussion um die Hinterbliebenenversicherung von Arbeitern und Angestellten beeinflusst haben. Ansonsten bedürften sie je eigener historischer Untersuchungen. Ferner soll der Untersuchungszeitraum beschränkt werden. Als (Kern-)Un-

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cherungsgesetzen vor 1911 sowie zu den Motiven der Gesetzgeber siehe Wagner 1906, S. 213ff. § 16 Nr. 2 des Entwurfes eines Krankenversicherungsgesetzes, Sten. Ber. RT, V. Leg. Per., 2. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 14, S. 127. Begründung zum Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes, Sten. Ber. RT, V. Leg. Per., 2. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 14, S. 147. § 6 Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, RGBl., S. 69. Vgl. hierzu Zweiter Teil, C., III., S. 60f. dieser Arbeit. Die Versicherung wurde von der Seeberufsgenossenschaft verwaltet und nicht in die gemeinsame Versicherung für Fabrikarbeiter, Landwirtschaft und Angestellte mit einem Verdienst von bis zu 2.000 Mark einbezogen.

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Forschungsgegenstand

tersuchungszeitraum für die Untersuchung bietet sich aus verschiedenen Gründen der Zeitraum von 1890 bis 1911 an: Im Jahre 1890 war nämlich einerseits der Diskussionsprozess bis zur Schaffung des ersten Rentenversicherungsgesetzes von 1889 mit der Entscheidung, auf die Einführung einer Hinterbliebenensicherung zu verzichten, abgeschlossen. Andererseits kam es bereits 1890 durch den »Fall« des Sozialistengesetzes am 25. Januar, durch die ohne Gegenzeichnung Bismarcks am 4. Februar 1890 veröffentlichten Februarerlasse16 – zwei Dokumenten, mit denen Kaiser Wilhelm II. einen Ausbau des Arbeiterschutzes ankündigte17 – und wenig später durch die Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. (20. März 1890) zu einem Wendepunkt in der Sozialpolitik und mithin in der Sozialgesetzgebung. Seither wurde wieder über die Hinterbliebenenabsicherung diskutiert, obwohl man eigentlich hätte annehmen können, dass nach der politischen Entscheidung von 1889 erst einmal eine längere Diskussionspause eintreten würde.

C.

Forschungsstand

Zu der nun einsetzenden und letztlich bis 1911 währenden gut 20-jährigen Diskussion über die Einführung von Hinterbliebenenrenten ist kaum Literatur vorhanden. Zu nennen ist bislang nur eine Untersuchung von Wolfgang Dreher18, nämlich seine für das Thema pionierhafte Freiburger Dissertation von 1977. Diese ist allerdings beschränkt auf die Arbeiterwitwenversicherung, und sie konnte die damals noch in der früheren DDR in Potsdam gelagerten Akten des Reichsamtes des Innern sowie des Reichversicherungsamtes nicht auswerten; eine umfassende Sicht auf die regierungsamtliche Diskussion war damit für Wolfgang Dreher noch nicht möglich. Mittlerweile befinden sich beide Aktenbestände im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde und sind dort gut zugänglich. Zwar ist in der Zwischenzeit, nämlich im Jahr 2000, eine erste Auswertung dieser Akten durch Marlene Ellerkamp19 erfolgt. Doch dürfte es sich bei dieser Aus-

16 Vgl. Quellensammlung GDS, Abt.II , 1. Bd. 1, S. 14ff. m.w. N. 17 Die Zeit bis zu den Februarerlassen und die Umstände des Zusammenschlusses verschiedener Berufsgruppen zur neu definierten Angestelltenklasse sind Gegenstand einer Münchener Dissertation von Barbara Bichler aus dem Jahre 1996 (Die Formierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, erschienen 1997). 18 Wolfgang Dreher, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland (Diss. iur., Freiburg 1977), 1978. Dreher ist heute Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht. 19 Marianne Ellerkamp, Die Frage der Witwen und Waisen. Vorläufiger Ausschluß aus dem Rentensystem und graduelle Inklusion (1889–1911), in: Stefan Fisch/ Ulrike Haerendel, Ulrike (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge

Forschungsstand

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wertung angesichts ihrer Länge von 16 Druckseiten nur um eine erste Sichtung des Materials gehandelt haben, das neben den Dokumenten zur Gesetzesentstehung auch aus einer Vielzahl von gesetzeshandschriftlichen Verfügungen, Äußerungen der verbündeten Regierungen, wissenschaftlichen Aufsätzen sowie Zeitungsausschnitten besteht. Marlene Ellerkamp gibt in dieser Untersuchung immerhin einen verdienstvollen Überblick zu den politischen Argumentationslinien 1889 bis 1911 und geht hierbei vor allem auf die Grundvorstellungen ein, welche in Form einer Denkschrift von 1903 vom Reichsamt des Innern allen verbündeten Regierungen zur Stellungnahme übersandt wurde. Bereits die (Gegen-)Äußerungen der verbündeten Regierungen sind aber nicht ausgewertet, geschweige denn der gesamte Diskussionsprozess innerhalb der Regierung, im Reichstag und in der sozialpolitisch interessierten zeitgenössischen Öffentlichkeit. Im Folgenden wird dazu eine weitaus detailliertere Auswertung angestrebt. Nur sie vermag ein genaues Bild über die Leitmaßstäbe und konzeptionellen Vorstellungen zu liefern, welche bei der Einführung von Witwen- und Witwerrenten im Jahre 1911 mit ihrem 20-jährigen Vorlaufprozess maßgebend waren. Dieses Forschungsvorhaben wurde auf Beschluss der Gremien der Deutschen Rentenversicherung Bund nach Empfehlung des Beirats des Forschungsnetzwerks Alterssicherung mit Fördergeldern für einen Zeitraum von zwei Jahren unterstützt. Die Förderung erwies sich dabei als notwendig, weil es sich bei den erwähnten Aktenbeständen um zum großen Teil handschriftlich verfasste Schreiben des Reichsamtes des Innern, der verbündeten Regierungen, der Reichsversicherungsanstalt sowie der Landesversicherungsanstalten handelt. Neben mehreren 100-seitigen Denkschriften finden sich im Aktenbestand eine große Anzahl von Vermerken und Verfügungen, u. a. mit handschriftlichen Aufzeichnungen von Arthur Posadowsky-Wehner20 (seit 1897 Staatssekretär im zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000, S. 191–206. 20 Dass Hinterbliebenenrenten in die Arbeiterversicherung aufgenommen wurden, ist, wie noch zu zeigen sein wird, besonders dem Einsatz Posadowsky-Wehners zu verdanken. Arthur Graf Posadowsky-Wehner entstammte einem niederschlesischen Uradelsgeschlecht, dessen Wurzeln bis in das 14. Jahrhundert nachgewiesen sind (Henning, S. 646f.). Er begann sein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften im Alter von 19 Jahren, schloss es bereits nach 3 Jahren ab und promovierte im Anschluss (Born, S. 211). Posadowsky-Wehners starkem Bezug zum katholischen Glauben entspricht auch seine Themenwahl für eine Dissertation, die er im Alter von 22 Jahren verfasste. Er beleuchtete die Lehre von den zwei Schwertern (Born, S. 211). Born zufolge beruhte diese Dissertation, welche PosadowskyWehner in lateinischer Sprache verfasste, auf gründlichem Studium und kritischer Interpretation eines umfänglichen und schwierigen Quellenmaterials und ragte über das übliche Niveau der damaligen Doktorarbeiten weit hinaus. Sie wurde auch von der Breslauer juristischen Fakultät mit dem damals sehr seltenen Prädikat »magna cum laude« bewertet. Seine diplomatischen Fähigkeiten wurden geschult, als er in der Provinz Posen als Vorsitzender

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Forschungsgegenstand

Reichsamt des Innern), von Franz Caspar21 (in seiner Funktion als Direktor der sozialpolitischen Abteilung im Reichsamt des Innern), Adolf Beckmann22, Paul Kaufmann23 sowie weiteren im Reichsamt des Innern beschäftigten Referenten und Korreferenten.24 Neben diesen in Kurrentschrift25 verfassten Akten waren aber auch zeitgenössische Presseäußerungen sowie ebenfalls in Kurrentschrift verfasste Petitionen in Bezug auf die Einführung von Hinterbliebenenrenten auszuwerten. Die Auswertung erfolgte, indem in einem ersten Arbeitsschritt das System der Aktenführung im Reichsamt des Innern und im Reichsversicherungsamt nachvollzogen, die noch vorhandenen Akten im Bundesarchiv Berlin gesucht und aus über 10.000 Blatt vorhandenen Aktenmaterials das für diese Forschungsarbeit Wesentliche ausgewählt wurde. Im zweiten Schritt wurden über eine Fachfirma für Archivdienste Akteninhalte im Umfang von insgesamt nahezu 3.000 Blatt reproduziert. Die Transkription von über 600 – teilweise schwer zu lesenden, handschriftlich verfassten – Aktenauszügen erfolgte durch fast einjährige Unterstützung des öffentlich bestellten und vereidigten Sachverstän-

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sämtlicher Kommissionen arbeitete und einstimmig den Posten des Landesdirektors erhielt, nachdem im Wege der Kommunalreform eine einheitliche Provinzialverwaltung geschaffen wurde. Vor seiner Zeit im Reichsschatzamt hatte Posadowsky-Wehner an der administrativen und finanziellen Organisation der Provinz Posen gearbeitet (von Wiese, S. 44). PosadowskyWehners Fähigkeit zur soliden Finanzplanung – er hatte den Haushalt als Landrat konsolidiert – führte dazu, dass Kaiser Wilhelm II. auf ihn aufmerksam wurde und das wiederum dazu, dass er einen steilen beruflichen Aufstieg nahm (1885: Leiter der provinzialständischen Verwaltung Posen, 1889: Landesdirektor, 1893: Staatssekretär im Reichsschatzamt, 1897: Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers). In seinem nur zehn Minuten dauerndem Vorstellungsgespräch mit Kaiser Wilhelm II. unterhielten beide sich über die von Posadowsky-Wehner in seiner Zeit als Landrat maßgeblich beeinflusste Reorganisation der Posenschen Provinzialverwaltung. Martin (S. 193f.) zufolge antwortete »der Mann mit dem großen Bart und den schönen blauen Augen von seltener Größe und den kleinen Händchen, die ab und zu den langen Bart ordnen […], ruhig, bestimmt und in höflicher Ehrerbietung.« Für Wilhelm II. habe nach dieser Begegnung die Ernennung Posadowsky-Wehners bereits festgestanden, sei es zum preußischen Minister, sei es zum Staatssekretär. Vgl. nochmals Martin, S. 193f., der die Begegnung und das im Übrigen später distanzierte Verhältnis zwischen Kaiser Wilhelm II. und Posadowsky-Wehner ausführlich beschreibt. Franz Caspar wurde im zeitgenössischen Schrifttum als »Schöpfer der Reichsversicherungsordnung« bezeichnet, siehe über ihn Tennstedt, Caspar – RVO, S. 2ff. Adolf Beckmann (Versicherungsmathematiker) galt als »Vater der Angestelltenversicherung« (Tennstedt, RVA-Mitglieder, S. 55f.). Paul Kaufmann war von 1886 bis 1896 im RVA tätig gewesen, bevor er 1896 ins Reichsamt des Innern berufen wurde. Ab 1907: Bernhard Jaup, siehe über ihn Tennstedt – RVA – Mitglieder, S. 70–72. Die Kurrentschrift war die deutsche Schreibschrift, aus der die Sütterlinschrift entwickelt wurde, welche an deutschen Schulen gelehrt wurde, bevor 1941 die lateinische Schreibschrift als »Normalschrift« festgelegt wurde. Um eine bessere Leserlichkeit herbeizuführen, wurde zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Ablösung der Kurrentschrift durch die Antiqua (Druckschrift) für den Schulunterricht diskutiert (Messerli, S. 320).

Gang der Untersuchung

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digen für alte deutsche Handschriften Michael Nülken aus Magdeburg. Um den Ansatz der politischen Diskussion verstehen und ihren Verlauf im Kernzeitraum 1890 bis 1911 nachzeichnen zu können, sind zudem die Parlamentsprotokolle des Norddeutschen Bundes von 1869 bis 1871 und des Deutschen Reichstags von 1871 bis 1890 ausgewertet worden, wofür die Digitalseiten der Bayerischen Staatsbibliothek26 genutzt werden konnten. Die Auswertung dieser bisher kaum genutzten Quellen aus der 100-JahrPerspektive ergibt, wie hier schon einmal vorweggenommen werden soll, dass die damals geführte Diskussion erstaunlich aktuell geblieben ist und viele der vorgebrachten Argumente auch heute noch zum tieferen Verständnis von Hinterbliebenenrenten führen können.

D.

Gang der Untersuchung

Der Gang der Untersuchung ist wesentlich ein zweigeteilter. Nach dieser Einleitung und Darstellung des Forschungsgegenstandes einschließlich des Forschungsstandes (Erster Teil, S. 9–15) wird es zunächst um die Phase von 1890 bis 1902 gehen (Zweiter Teil, S. 16–113). Wie sich zeigen wird, war nämlich in den 1890er Jahren der Haupthinderungsgrund, Witwen-, Witwer- und Waisenrenten einzuführen, ein finanzieller. Es fehlten die Mittel, um die für die Gewährung von Renten wegen Todes erforderlichen staatlichen Zuschüsse gewähren zu können. Den Durchbruch brachte die lex trimborn. Das war ein Antrag des Zentrumsabgeordneten Karl Trimborn, gewisse Mehrerträge der Zölle aufgrund des neuen Zolltarifgesetzes 1902 als Finanzierungsgrundlage für eine »Arbeiter-Wittwenund Waisenvorsorge« einzusetzen. Trimborn gelang es, die Zustimmung der Zentrumspartei zum Zolltarifgesetz von diesem Zugeständnis abhängig zu machen. Nachdem auf diese Weise die Finanzierung gesichert war, begann eine neue, nunmehr konkretere Diskussion über die Ausgestaltung der neuen Renten. Diese darzustellen, ist Aufgabe des Dritten Teils der Untersuchung (S. 114–173). Wie schon angedeutet, kommt hier dem Reichsamt des Innern unter Staatssekretär Posadowsky-Wehner eine Schlüsselrolle zu, wenngleich dieser die schließliche Verabschiedung der Reichsversicherungsordnung mit den Hinterbliebenenrenten im Jahre 1911 nicht mehr im Amt erlebte. Ein kurzes Resümee und einige Ergebnisse, die als historische Auslegung für heutige Diskussionen Berücksichtigung finden können, bildet dann den Schluss der Arbeit (Vierter Teil; S. 174–179). 26 In drei Projektphasen digitalisierte die Bayerische Staatsbibliothek von 1997 bis 2009 insgesamt über 500 Bände (fast 300.000 Seiten) Protokolle und Handbücher des Norddeutschen Bundes und des Reichstages aus der Zeit von 1867 bis 1918.

Zweiter Teil: Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

A.

Historische Vorläufer der Hinterbliebenenversicherung

I.

Collegia tenuiorum im Altertum

Der Gedanke zur Hinterbliebenenvorsorge wurde bereits im Altertum mit der Ehe verknüpft.27 Die donatio propter nuptias (= Schenkung auf den Verehelichungsfall) war ein Geldkapital, welches der Mann seiner künftigen Ehefrau vor der Heirat übergab, um hieraus Unterhalts- und Haushaltskosten für ggf. Hinterbliebene zu zahlen. Im Gegenzug hatte die Frau eine in die Ehe einzubringende Mitgift zu übergeben. Rein auf den Todesfall bezogen war die Organisation von collegia tenuiorum, in der monatlich Beiträge eingezahlt und im Todesfalle ein Sterbegeld ausgezahlt wurden.28 Auch ist bekannt, dass sich schon im 8. Jahrhundert Gildenmitglieder gegenseitig für die Gefahren Brand oder Tod absicherten.29 Jedoch wurden Renten an Hinterbliebene von Gilden nicht gezahlt.30 Ebenso weiß man, dass bereits Karl der Große (768–814) eine öffentliche Armenpflege anstrebte und die Kirche veranlasste, den »Zehnten« für Wohlfahrtszwecke zu verwenden; hier regte er unter anderem fürsorgliche Bestimmungen auch für die Witwen an.31 Konkrete Wurzeln hat die gemeinschaftliche Versicherung zur Versorgung der Witwen im Mittelalter.32 Seinerzeit etablierten sich versicherungsgleiche Regelungen mit Beitrittszwang in verschiedenen Berufszweigen. Zu nennen sind 27 Hierzu und zum folgenden Braun, Erster Teil, S. 3ff. 28 Heinrich Braun, Erster Teil, S. 4f., welcher aus der Inschrift des 133 n. Chr. gestifteten Vereines zu Lanuvium (Civita Lavigna bei Rom) zitiert. 29 Zur historischen Entwicklung von Gilden vgl. Schewe, S. 25ff. 30 Für den Todesfall von Mitgliedern sahen Gildenstatute nur vor, Begräbniskosten zu erstatten, Schewe, S. 64. 31 Kleeis, S. 22. 32 Zur Versorgung von Witwen im Zeitraum von 1250–1500 vgl. Kruse, S. 244ff.; zu Organisationsformen von Witwenkassen vgl. Kruse, S. 221ff.; eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung in Pfarrwitwenkassen in Ingendahl, S. 240ff.

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

etwa der gesamte Bergbau- und Handwerksbereich, die Seefahrt und das Beamtentum.33 Bemerkenswert ist sodann, dass eine umfangreiche Diskussion über »allgemeine Wittwen=Verpflegungs=Anstalten« bereits im 18. Jahrhundert geführt wurde.34 Das zeitigte auch Ergebnisse: So eröffnete die 1775 gegründete königlich Preußische allgemeine Wittwen-Verpflegungs-Anstalt neben Staatsdienern auch Privaten die Möglichkeit zur Absicherung ihrer Hinterbliebenen.35 Unmittelbarere Anknüpfungspunkte ergeben sich für die Regelungen zu Witwen- und Witwerrenten in RVO und AVG jedoch aus den soeben erwähnten Institutionen zur Witwenabsicherung im Bergbau und im Handwerk. Im ersten Abschnitt dieser Untersuchung soll daher auf die historischen Vorläufer aus eben diesen Berufsgruppen eingegangen werden.

II.

Knappschaften des Bergbaus im Mittelalter

Knappschaften werden zu Recht als die unmittelbaren Vorläufer der heutigen Sozialversicherung verstanden.36 Ursprüngliche Motivation für die Bildung von 33 Die Kassen von Pfarrern und Lehrern gehören zu den ältesten Witwenkassen, und in vielen deutschen Staaten wurden erst nach 1750 spezifische Witwenkassen u. a. für Beamte, Angehörige des Militärs und Universitätsprofessoren begründet, Kruse S. 248. 34 Vgl. nur Michelsen, Professor der Mathematik und Physik und Ehrenmitglied der General=Direktion der allgemeinen Wittwen=Verpflegungs=Anstalt zu Berlin, der in der Einleitung seines Versuches »zur Berichtigung, Ergänzung, und Vervollkommnung der Theorie und Praxis allgemeiner Wittwen-Cassen« – wie der Titel seiner Monografie lautet – auf S. 5ff., mit detaillierten Nachweisen auf über ein Dutzend weiterer Monografien zu allgemeinen Wittwen=Verpflegungs=Anstalten vieler »Schriftsteller selbst vom ersten Range« hinweist und sich – zwar zunächst erfolgreich, doch letztlich vergeblich – nicht nur mit Worten, sondern maßgeblich mit aufwendigen Berechnungstabellen für den Erhalt der Zugangsmöglichkeit Privater einsetzt. Mit der auf Grundlage seiner Berechnungen 1796 folgenden Reform hoffte man, die Einrichtung langfristig wirtschaftlich zu gestalten, doch wurde der Zugang durch königliche Verordnung vom 27. Februar 1831 auf Zivilbeamte, für die gleichzeitig ein Zwang zum Eintritt eingeführt wurde, beschränkt, da immer »ein drohender Nachtheil für den Staat« verblieb, Preuß, S. 82f. 35 Satzung abgedruckt in Novum Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 5, 1775, No. 63; zur Entstehung der »Witwenverpflegungsanstalt« unter Friedrich II., Preuß, S. 82; zur Geschichte dieser Einrichtung vgl. Sten.Ber. preuß. Landtag. Haus d. Abg. 1856, Bd. 4, Erster Th., No. 77, S. 274, Bericht der Kommission für Finanzen und Zölle über den Entwurf eines Gesetzes, einiger Abänderungen des Allerhöchsten Patents über die Errichtung der Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt vom 28. Dezember 1775 betreffend; zur Entwicklung der Regelungen bzgl. der potentiell versicherten Personenkreise vgl. ebenda, No. 76, S. 258, Motive zu dem Gesetz-Entwurf, einige Abänderungen des Allerhöchsten Patents über die Errichtung der Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt vom 28. Dezember 1775 betreffend. Ursprünglich mit der Errichtung der Witwenpensionsanstalt verfolgtes Ziel war die Förderung der Eheschließungen, um durch die dadurch erhoffte Vergrößerung der Kinderzahl eine Bevölkerungsvergrößerung zu erreichen, Braun, S. 172. 36 So schon Bergmann, S. 38 ff; Manes, S. 180f.; Richter, S. 14; zitiert nach Ponfick, S. 18.

Historische Vorläufer der Hinterbliebenenversicherung

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Knappschaften war die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz.37 Bergarbeiter waren seit jeher einem hohen Risiko ausgesetzt, an ihrem Arbeitsplatz zu verunglücken. Hinzu kam, dass es sich bei den Bergwerken bereits im 13. Jahrhundert um erste (kapitalistische) Großbetriebe handelte.38 Dass diese Bedingungen in ein organisiertes Absicherungssystem führten, ist insofern nicht überraschend. Bemerkenswert ist aber, wie sehr die damaligen sogenannten Knappschaftskassen der heutigen Sozialversicherung in ihrer Organisation ähnelten.39 Es handelte sich um Einrichtungen mit Beitrittszwang, zu denen neben der Einzahlung sog. »Büchsengelder« durch die Bergarbeiter auch der Bergwerkseigentümer als Arbeitgeber Beiträge zu leisten hatte. Neben kranken und invaliden Bergleuten wurden nach den Bergordnungen übrigens auch oft Witwen und Waisen von Bergleuten aus diesen Kassen unterstützt.40 Das zeigt bereits, dass die Leistung der Witwenrenten schon systemimmanent war, bevor die ersten Sozialversicherungsgesetze im Deutschen Kaiserreich erlassen wurden. Wenngleich der Fortschritt der Versicherungsmathematik im 13. Jahrhundert präzisere Berechnungen ermöglichte, waren im 16. und 17. Jahrhundert noch Zahlenaberglaube, Glücksspiele und Wettversicherungen verbreitet.41 Es fehlte den ersten Knappschaften daher noch an einer soliden finanziellen Grundlage. Geregelt wurden die Leistungen der Knappschaften in Bergordnungen, welche an zunächst gewohnheitsrechtlich geltenden Normen anknüpften, die für innungsartige Verbindungen von Knappen galten und nach denen die wirtschaftliche Sicherstellung bei Unglücks- oder Krankheitsfällen gewährleistet werden sollte.42 Ein die unterschiedlichen Regelungen der einzelnen Bergordnungen vereinheitlichendes Gesetz wurde erst 1854 erlassen.43 Danach wurde die Errichtung von Knappschaftsvereinen, denen alle Arbeiter beizutreten hatten, für alle Bergwerke, Hütten, Salinen und Aufbereitungsanstalten vorgeschrieben und unter anderem auch Unterstützungen an Witwen auf Lebenszeit als Mindestleistung festgeschrieben. Durch das Allgemeine Berggesetz von 1865 wurde bestimmt, dass die Kassenbeiträge der Werksbesitzer mindestens die Hälfte der 37 Ponfick, S. 18f. 38 Hierzu und zum Folgenden von Loeper, S. 22, mit weiteren Nachweisen zur Entwicklung dieses Bestandteils deutschen Wirtschaftsgeschichte. Ursprünglich war der Bergbaubetrieb dem Regalherren, also dem Landesherren, welcher das Regalrecht, d. h. das Vorrecht auf Bodenschätze hatte, vorbehalten. Hierzu sowie zu den sich aus dem Regalrecht ergebenen Befugnissen und deren Grenzen sehr ausführlich, Wachler, S. 523ff. 39 Vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen Rückert, S. 38f. 40 Siehe hierzu Arndt, S. 120ff. 41 Zur Entwicklung des Rentenwesens im Mittelalter s. Heinrich Braun, Zweiter und Dritter Teil. Zum Aufkommen der Lohnarbeit im Bergbau siehe Schwarz, S. 26ff. 42 Ponfick, S. 19f. 43 Siehe hierzu Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 27.

28

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Arbeiterbeiträge betragen mussten.44 Außerdem wurde es auch Werksbeamten und den Beamten des Knappschaftsvereins ermöglicht, den Kassen beizutreten. In Bezug auf Hinterbliebenenunterstützungen blieb es im Wesentlichen bei diesen Regelungen bis zum Ende des Jahrhunderts.45

III.

Zunftkassen des Handwerks

Das Handwerk des Mittelalters kennzeichnend ist die Organisation in Zünften. Ziel des Anschlusses an diese »Corporationen, in welche sich auch selbst Gelehrte aufnehmen ließen« war ursprünglich, einen gerade für die Handwerksausübung benötigten Schutz vor Überfällen, aber auch vor den Rittern der Landesherren, deren Entscheidungen oft willkürlich waren, zu schaffen.46 Gerade aus diesem Zweck ergab sich bald der Gedanke, dass Zunftmitglieder einander ähnlich wie Familienmitglieder in allen Notlagen des Lebens beistanden.47 Die Pflicht hierzu wurde in den Zunftrollen festgehalten, welche auch alle sonstigen Regelungen enthielt, nach denen sich das Verhältnis der Zunftmitglieder zueinander bestimmte. Diese Regelungen waren freilich keine Versicherung im technischen Sinne, doch wurden immerhin auch Witwen von Handwerksmeistern wirksam abgesichert, indem sie das Recht hatten, das Geschäft des Mannes fortzusetzen.48 Dieses Recht wurde teilweise von den Bedingungen abhängig gemacht, dass aus der Ehe Kinder hervorgegangen waren oder dass die Frau wiederheiratete.49 Teilweise wurde es nur befristet solange gewährt, bis die Rohstoffe aufgebraucht waren.50 In der Praxis gestaltete sich die Ausübung dieses Rechtes oftmals schwierig, weil eine Frau als Arbeitgeberin im Handwerk oft nicht akzeptiert wurde.51 Einige Witwen übernahmen das Geschäft des Mannes aber nicht, 44 Von Loeper, S. 25. 45 Vgl. hierzu und auch zu außerpreußischen Regelungen Peters, S. 35ff. 46 An diese Ursprünge erinnert Michelsen, Christian Friedrich, S. 3f., S. 15ff. und zeigt auf, wie letztlich alle Zünfte als »Handlung unlautere[r] Eigenmacht gegen Andere« den Zunftzwang bestimmten, S. 18ff. 47 Übersichtlich zur Entstehung der Kranken- und Armenfürsorge vom Mittelalter bis zu ihrer gesetzlichen Förderung Peters, S. 19ff. 48 Zum sogenannten »Witwenrecht« siehe Lesermann mit Nachweisen für das frühneuzeitliche Hildesheimer Handwerk. Siehe auch Kruse, S. 257. Verwirkt hatte dieses Recht jedoch eine Frau, welche »ihren Wittwenstuhl verrückte, d. h. der Unzucht sich hingab« (Abbruch und Neubau der Zunft in Deutsche Vierteljahrs Schrift, Erstes Heft 1856, 173–208 [177], Verfasser unbekannt.) Vgl. auch Ingendahl mit zahlreichen aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Beispielen, S. 107ff. 49 Werkstetter, S. 144ff. 50 Krebs, S. 139. 51 Ausführlich hierzu Werkstetter, S. 154ff.

Historische Vorläufer der Hinterbliebenenversicherung

29

sondern beantragten das »Bürgerrecht«, um eine andere Erwerbstätigkeit aufzunehmen.52 Für Witwen von Gesellen wurden Unterstützungen aus den sich nach Vorbild der Knappschaftskassen entwickelten Zunftkassen gewährt.53 Bereits im 17. Jahrhundert wurden zunehmend spezielle Witwen- und Sterbekassen eingerichtet. Diese Kassen wurden auch nach Aufhebung des Zunftzwanges beibehalten, und in Preußen wurde die Fürsorge für die Witwen als Aufgabe der Innungen in der Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 festgeschrieben. Ab 1849 konnten die Gemeinden in Preußen einen Beitrittszwang neben den Krankenkassen u. a. auch zu den Witwenkassen regeln, wenn es in ihrem Bezirk solche Kassen gab. Den Gemeinden wurde 1854 ermöglicht, einen Beitrittszwang für selbstständige Gewerbetreibende auch dann aufzustellen, wenn keine Innung vor Ort vorhanden war. Außerdem wurde auch die Regierung ermächtigt, einen solchen Beitrittszwang zu bestimmen. Der Zwang zum Beitritt konnte sich danach auch auf eine »Hülfskasse«, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird, beziehen.

IV.

Hülfskassen sonstiger Arbeiter

Die zunehmende Lebenserwartung brachte für körperlich arbeitende Menschen die Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, was häufig Armut und Existenzbedrohung bedeutete. Gegen das »Risiko« Alter wollte man sich daher versichern. Arbeiter in der Landwirtschaft fanden ihre Versorgung im Alter überwiegend in den Familien, bevor die meisten Bauern in Leibeigenschaft und Frondienst sanken.54 Besonders alte Menschen litten unter der sich hieraus ergebenden Abhängigkeit und Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Dies begünstigte die Abwanderung in die Stadt. Hier haben sich im Arbeiterstand – auch aus dem Motiv heraus, sich im Alter und Todesfalle unterstützen zu wollen – Kasseneinrichtungen entwickelt, welche dem Prinzip der Zunftkassen folgten.55 Vorgänger dieser Hülfskassen waren die sogenannten »Gesellenladen«, eine Verbindung von Gesellen einer Zunft zur gegenseitigen Unterstützung in Notla52 Oftmals handelten sie mit Lebensmitteln, siehe hierzu mit Nachweisen aus Leipzig Schötz, S. 324ff. 53 1736 wurde in Meißen für Mitarbeiter der Porzellanmanufaktur eine Sterbekasse eingerichtet, welche der Witwe ermöglichte, ein angemessenes Begräbnis zu finanzieren. Der Einsicht folgend, dass diese Leistungen nicht ausreichten, wurden ab 1756 erste Witwen- und Waisenkassen von Malern gegründet. 1766 schufen sich nach gleichem Vorbild die Dreher, Former und Bossierer solche Kassen. Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen aus Sachsen und Thüringen siehe Weinhold, S. 213f. 54 Vgl. zu dieser Entwicklung Hübner, S. 42ff. 55 Vgl. Gall, 2004, S. 37; Rückert, S. 40f.

30

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

gen.56 Auch zu diesen Hülfskassen konnten nach der Allgemeinen Gewerbeordnung Preußens von 1845 durch die Gemeinden ein Beitrittszwang geregelt werden. Neuerrichtungen wurden ausdrücklich auch für Fabrikarbeiter zugelassen, bedurften aber jedenfalls der Genehmigung der Regierung. Neben dem bereits genannten Wegfall der Voraussetzung, dass eine Innung vor Ort vorhanden sein musste, wurde 1854 die Bildung neuer Kassen mit Beitrittszwang durch Gemeinden und durch die Regierung ermöglicht. Dies führte dazu, dass zahlreiche Kassen gegründet wurden, die häufig auch »Beihülfen für die Hinterbliebenen« gewährten. Neben diesen Kassen mit Beitrittszwang wurden auch sogenannte freie Hülfskassen gegründet. Bereits 1848 forderte der Allgemeine deutsche Gesellen- bzw. Arbeiterkongreß in Frankfurt a. M. die Ablösung dieser auf sehr kleine Räume begrenzten Kassen durch eine Zentralkasse und machte Vorschläge für eine beitragsfinanzierte »Pensionskasse« bzw. eine »PensionsCentralkasse für Deutschland«.57

V.

Witwen- und Waisenpensionsanstalten der Gelehrten

Neben den dargestellten berufsbezogenen Kassen haben sich im Zeitalter der Aufklärung regional unterschiedlich organisierte Vereine gegründet, um einen beitragsfinanzierten Fond zu bilden, aus dem Hinterbliebene versorgt werden sollten.58 Gerade Familienvätern des Standes der Gelehrten, wozu Beamte, Geistliche, Lehrer, Anwälte und Ärzte gezählt wurden, war es oftmals nicht möglich, ein ausreichend großes Kapital aufzubauen, welches die Hinterbliebenen ausreichend absichern würde.59 Weil in diesen Berufsfeldern anders als im Handwerk, in der Landwirtschaft oder im Handel keine Möglichkeit für die Witwen bestand, das Erwerbsgeschäft des verstorbenen Mannes fortzusetzen, war hier der Absicherungsbedarf besonders groß. Dies erkannten auch Fürsten, die Witwenkassen teilweise durch finanzielle Zuwendungen, teilweise durch Steuerbefreiungen unterstützten und durch ihre Organe beaufsichtigen ließen.60 Sie folgten hierbei dem sozialen Motiv, das Wohl der Bevölkerung zu sichern und 56 Vgl. zur Entwicklung von Gesellenladen Reininghaus, S. 6ff. Gesellenladen bestanden auch noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts parallel zu Hülfskassen. Vgl. hierzu sowie zur Formenvielfalt dieses ursprünglichen Kassenwesens Reidegeld, S. 157f. 57 Dowe/Offermann, S. 178ff. Der Forderung nach einem umfangreichen Unterstützungswesen entspricht ebenfalls der Vorschlag, eine Verpflichtung aller Bürger aufzustellen, »sich mit einem Minimum bei Wittwen-, Waisen- und Alterskassen zu betheiligen«, ebenda. 58 Das Casselsche Wittwen=Institut (1750), die Wittwen=Gesellschaft zu Lippe (1752), die Wittwen=Versorgungs=Societät zu Bremen (1754), Alte und neue Wittwen=und Waisen=Casse in Weimar (1757) und die Calenbergische Gesellschaft (1767). 59 Siehe auch Ponfick, S. 54f. 60 Ponfick, S. 55.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

31

materielle Hemmnisse für Eheschließungen und für das Wachstum der Bevölkerung zu beseitigen, wie aus den Präambeln der von Landesherren erlassenen Statuten ergab.61 Die deshalb gegründeten Witwen- und Waisenpensionsanstalten hatten sich aber in vielen Fällen verkalkuliert und wurden zahlungsunfähig.62 Nach welchen Grundsätzen Witwen- und Waisenkassen zu führen seien, wurde deshalb in Monografien63 und Aufsätzen64 schon im Zeitalter der Aufklärung ausführlich diskutiert.65 Hierbei wurden noch heute aktuelle Fragen, etwa zur Scheidung66 oder zur Wiederheirat der Witwe67 erörtert.

B.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

I.

Ausgangslage: Soziale Notlage von Arbeiterwitwen, Versicherungslücke auch bei Angestellten

Dass die durch die Industrialisierung stark geprägte gesellschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zu Versorgungslücken für die Witwen fast aller Berufsstände68 führte, wurde zumindest für den Bereich der Industrie erkannt. Diese Lücken zu schließen war indes ein von verbündeten Regierungen und Reichsleitung nur halbherzig verfolgtes Ziel. Ein wesentliches Motiv für diese Sozialgesetzgeber war unter anderem, die aufkommende Sozialdemokratie in ihrem Einfluss zu schwächen.69 Eine Reichsregelung auch zur Versorgung der Witwen 61 Ponfick, S. 55ff., m. w. N. 62 Vgl. zu den Problemen dieser ersten Organisationen Gebhard, S. 4–10. 63 Erste Literatur erschien mit folgenden Titel: Ökonomisch politische Auflösung verschiedener, die Wittwencassen betreffenden Fragen (Johann Augustin Kritter 1768), Juristische und ökonomische Rechenkunst (Joh. Andr. Christian Michelsen 1772), Entwurf zu einer allgemeinen sichern Wittwen- und Waisen-Verpflegung (Johann Friedrich Langner 1777). 64 Kürzere aber gehaltvolle Aufsätze erschienen im hannövrischen Magazine 1768, im neuen hamburgischen Magazine 1772, in den Oldenburgischen wöchentlichen Anzeigen 1780 sowie in dem Göttingischen Magazin für Wissenschaft und Literatur 1781. 65 Einen umfassenden Überblick über den Stand der Literatur 1844 gibt Gebhard, S. 114–121. 66 Vorgeschlagen wurde, der »von ihrem Manne böslicher Weise« verlassenen Frau eine Rente zu zahlen, Gebhard, S. 29. 67 Gebhard schlug vor, der wieder verheirateten Witwe eine gekürzte Rente zu zahlen, die nach Scheidung der neuen Ehe wieder zur vollen Rente aufleben würde, Gebhard, S. 29. 68 Versorgt waren nur in großen Bereichen die Hinterbliebenen der Beamten durch Pensionen, im Bergbau- und Eisenbahnwesen durch Unterstützungen aus Kassen und seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Volksschullehrer. In den wohlhabenderen Klassen konnten private Lebensversicherungen abgeschlossen werden, welche sich insbesondere die Arbeiter nicht leisten konnten. 69 Gerade in kleinen und mittleren Betrieben aber auch von Aktiengesellschaften wurden Arbeiter skrupellos ausgenutzt ohne dass man sich für die infolge der schweren körperlichen

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wurde offenbar als hierfür weniger relevant eingeschätzt und vermochte gegen das starke finanzielle Argument gegen die Einführung von Witwenrenten nicht zu überzeugen.70 Immerhin wurde eine Absicherung der Witwen verunfallter Arbeiter durch Hinterbliebenenrenten geregelt. Die im Ergebnis als ungerecht empfundene Unterscheidung, ob der Ehemann einer Frau durch Arbeitsunfall ums Leben kam oder in sonstiger Weise, z. B. gerade auch aufgrund einer Erkrankung, zu der es auf der Arbeitsstelle kam, wurde bewusst in Kauf genommen. Einen Ausgleich führte man in der Alters- und Invaliditätsversicherung über die Beitragserstattung herbei, obwohl man sah, dass diese Leistung kaum ausreichte, die Hinterbliebenen auch nur annähernd zu versorgen. Diese Regelung führte außerdem zu dem ungerechten Ergebnis einer willkürlich erscheinenden Differenzierung. Die Witwe, deren Ehemann vor Rentenbescheidung verstarb, erhielt ein Sterbegeld in Form der Beitragsrückerstattung. Demgegenüber erhielt diejenige Witwe, deren Ehemann nur einen Tag danach verstarb, gar keine entsprechende Unterstützung aus der Versicherung. Wie dramatisch sich die Situation der Hinterbliebenen im Deutschen Kaiserreich und insbesondere die der Arbeiter darstellte, veranschaulicht eine im Jahre 1900 veröffentlichte statistische Auswertung Friedrich Prinzings.71 Er entwarf ein ziemlich genaues Bild von der sozialen Lage der Witwe anhand der deutschen Berufsstatistik von 1895.72 Nach Prinzing belief sich die Gesamtzahl der Witwen in Deutschland auf rund 2,2 Millionen, von denen nur rund 920.000 »gut situirt« erschienen.73 Etwas weniger, nämlich rund 890.000 Witwen, verdienten »eben das zum Unterhalt Nötige«74. Das galt freilich nur, solange sie gesund blieben. Die große Gruppe von 400.000 Witwen hatte nicht ausreichend

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Arbeit invalide gewordenen Arbeiter verantwortlich führte. Die sozialen Missstände wuchsen mit zunehmender Industrialisierung. Siehe hierzu und zu den Einflüssen der Industrie auf die Sozialversicherungsgesetzgebung Vogel, S. 34f. Auch die Arbeiterschutzgesetzgebung sollte zur Bekämpfung der Demokratie beitragen, Born, S. 217. Auch wenn mit dem Reichstag des Norddeutschen Bundes und ab 1871 des Deutschen Kaiserreiches die ersten vom Volk gewählten Gesetzgebungsorgane in den jeweiligen Verfassungen geregelt wurden, hatte Bismarck als Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und als Reichskanzler des Deutschen Kaiserreiches nahezu freie Hand in Bezug auf die Militärausgaben. Siehe hierzu Winkler, S. 46f. Friedrich Prinzing (Arzt und Medizinstatistiker) gilt als Begründer der wissenschaftlichen medizinischen Statistik und erarbeitete möglichst exakte zahlenmäßige Untersuchungen der pathologischen Erscheinungen der modernen Gesellschaft, Labisch/Tennstedt, S. 371. Am 14. 06. 1895 wurden im Rahmen einer Berufszählung in Deutschland Daten über die Bevölkerung erhoben, und zwar zum Alter, Familienstand und Beruf. Verwitwete und Geschiedene wurden derselben Gruppe zugeordnet. Den Anteil der Geschiedenen rechnete Prinzing heraus, indem er auf Daten der Volkszählung von 1890 zurückgriff. Prinzing, Die sociale Lage, S. 98, 107f. Ebenda, S. 107.

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finanzielle Mittel zum Leben. Ihr Schicksal war es, auf private Mildtätigkeit oder öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein.75 1.

Keine Hinterbliebenenrenten für Arbeiterwitwen, Fürsorge unzureichend

Im Falle der Bedürftigkeit, wie sie bei Arbeiterwitwen regelmäßig gegeben war, wurde öffentliche Unterstützung im Kaiserreich kommunal als Armenpflege gewährt. Diese Aufgabe der damaligen Gemeinden wurde durch das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 geregelt, welches darauf verzichtete, den Umfang der Unterstützungspflicht näher zu bezeichnen.76 Darüber, dass diese Armenpflege nicht ausreichte, ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, bestand allerdings Einigkeit und wurde in der Diskussion um den Bedarf nach Hinterbliebenenrenten selbst von Staatssekretär Posadowsky-Wehner im Jahr 1900 zugestanden.77 Posadowsky-Wehner äußerte sich zur näheren Ausgestaltung von Arbeiterwitwer- und Witwenrenten auch bereits 1884 in der Position eines Landrates. Die Hinterbliebenenfürsorge sei »unbedingt erforderlich«. Zur näheren Ausgestaltung schloss sich Posadowsky-Wehner den Ausführungen Kretschmanns an. Maßgeblich für die Dringlichkeit der Einführung von Witwenrenten war die an vielen Orten unzureichende Armenpflege. Zunächst waren die Mittel, die gewährt wurden, nicht ausreichend, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Hinzu kam aber auch das Verfahren der Gewährung dieser unzureichenden Unterstützung. Torad Göbel78 forderte schon 1882 in einer Monografie eine Witwenversorgung der Arbeiter und schrieb über das Verfahren der Armenunterstützung: Wenn jemand sie beantragt, »so wird er in der Regel erst einigemale zurückgewiesen, dann aber erhält er eine vorübergehende oder fortlaufende Unterstützung, welche so gering ist, daß er davon den nothdürftigsten Unterhalt kaum bestreiten kann; es wird nur dafür gesorgt, daß ein Mensch nicht d i r e k t verhungert, erfriert oder sonst ums Leben kommt.«

Insgesamt beschrieben als »das Drückende der Armenpflege« konnte in dieser Leistung nicht eine geeignete Lösung gesehen werden, den bedürftigen Witwen 75 Ebenda, S. 107–109. 76 §§ 28 und 60 des Gesetzes regeln nur, dass jeder hilfsbedürftige Deutsche und Ausländer unterstützt werden muss und außerdem in § 30, dass die Höhe der aufzuwendenden Kosten sich nach den am Orte stattgehabten Unterstützung über das Maß der öffentlichen Unterstützung Hilfsbedürftiger geltender Grundsätze bestimmen soll. Die nähere Ausgestaltung erfolgte über »Landesgesetzgebung«, also durch die verbündeten Regierungen des Kaiserreichs. Preußen beispielsweise bestimmte in § 1 des Preußischen Ausführungsgesetz vom 8. März 1871, dass jedem Hilfsbedürftigen neben der erforderlichen Pflege in Krankheitsfällen Obdach und der unentbehrliche Lebensunterhalt gewährt werden. 77 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 3491 über den Umfang der Armenpflege, von der er »gern zugestehe, daß sie vielfach vollkommen ungenügend« sei. 78 Göbel, S. 5f.

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aus ihrer Notsituation zu helfen. Es wurde nicht nur vom Empfänger, sondern in der Gesellschaft allgemein als demütigend angesehen, diese Form der staatlichen Unterstützung in Anspruch nehmen zu müssen. Entsprechend war denn auch zentrales Argument für die Einführung speziell einer Witwen- und Waisenversorgung,79 die Witwen »von dem Odium, um Armenunterstützung einkommen und solche in Empfang nehmen zu müssen, [zu befreien].«

Auf dem Land wurden viele Frauen überdies schon dem Grunde nach mit ihren Unterstützungswunsch abgewiesen. Die Witwen nämlich, welche zuvor ihrem Mann vom Land in die Stadt gefolgt waren, wo dieser in der Industrie Arbeit finden konnte, konnten nach dessen Tod nicht mehr auf das Land zurück, ohne den Anspruch auf staatliche Unterstützung zu verlieren. Nach dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz hatten sie gleichzeitig mit der Begründung eines Rechts auf Unterstützung am neuen Wohnsitz eben dieses Recht gegenüber der Heimatgemeinde verloren. 2.

Kaum private Mildtätigkeit Ende des 19. Jahrhunderts

Wer weder seinen Lebensunterhalt durch eigenes Einkommen bestreiten konnte noch sich an die kommunale Armenpflege wenden wollte, war auf private Mildtätigkeit angewiesen. Die individuelle Bereitschaft, Bedürftige aus dem eigenen privaten Vermögen zu unterstützen, ist zum Ende des 19. Jahrhunderts auch infolge der bis dahin eingeführten Sozialgesetzgebung kaum noch vorhanden gewesen. Nachdem Steuern und Beiträge gezahlt werden mussten, damit Sozialleistungen gewährt werden konnten, zeichnete sich ein Bild vom verantwortlichen Staat, an den man sich in Lebensnotlagen zu wenden habe.80 Von »empörender Gleichgültigkeit« berichtete die Zeitzeugin Agnes Jaeckel.81

79 Carl Trimborn sprach sich für die Bereitstellung finanzieller Mittel für Hinterbliebenenrenten aus, um für die Witwen, den Waisen und den Kindern der Witwen einen Rechtsanspruch auf Unterstützung zu schaffen und sie so vom Odium, auf kommunale Armenpflege angewiesen zu sein, zu befreien. Sein Vorschlag war die Finanzierung aus Zolleinnahmen, welche an die Arbeiter in Form einer Versorgung ihrer Hinterbliebenen zurückfließen sollten, nachdem die Zollerhöhungen auf Lebensmittel ihr Brot verteuern würden, Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6490. 80 Agnes Jaeckel, Brief von Juli 1895 an Kaiser Wilhelm II, BA R 1501 100972, fol. 6–19, hier 15. Agnes Jaeckel, die ihre Petition unter dem Pseudonym Elisabeth Reuter schrieb, sah in der Entwicklung einen kulturellen Rückschritt. Man stifte »lauter öffentliche Anstalten für Almosenempfänger um den Einzelnen von der Last der Ausübung persönlicher Nächstenliebe ja zu befreien!«. Man sei in Wahrheit zurück hinter den »alten und uncivilisirten Völkern, welche Gastrecht und Gastfreundschaft als etwas Heiliges gehalten« hatten. 81 Ebenda, Agnes Jaeckel vermisst in der Gesellschaft Berlins 1895 Bescheidenheit und Fleiß.

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In der Landwirtschaft konnte man auf private Mildtätigkeit durch den Gutsherren hoffen. Hier war es noch weit verbreitet, dass Witwen auf dem Hof blieben, auf dem der verstorbene Mann gearbeitet hatte. Dort halfen sie nach ihren Fähigkeiten mit und wurden mitversorgt. Durch zunehmend kurzfristigere Arbeitsverträge wurde aber auch diese Tradition aufgeweicht. Für den Saisonarbeiter fühlte sich der Gutsherr weniger verantwortlich. 3.

Stadtwitwen nur augenscheinlich notleidender als Landwitwen, junge Witwen mit Kindern in größter Not

Insgesamt lässt sich nach Prinzing in der Gruppe der 400.000 Witwen eine Gruppe ausmachen, deren Lage er als besonders ungünstig bezeichnet. Es sind die Frauen, welche in jüngeren Jahren Witwe wurden und die – wie es die Regel bildete – kleine Kinder zu versorgen hatten.82 Ohne Ersparnisse zu haben und das Einkommen des Mannes verlierend, standen diese Frauen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land vielfach in der Situation, gleichzeitig für die Kindererziehung verantwortlich zu sein und trotz harter Arbeit kein Einkommen zu erhalten, das gerade einmal ein Überleben hätte ermöglichen können. Auch waren die für Frauen in der Stadt in Betracht kommenden Berufszweige, beispielsweise Büglerinnen, Wäscherinnen, Näherinnen, Schneiderinnen, Botengängerinnen und Zeitungsausträgerinnen unterdurchschnittlich entlohnt. Zudem konnten verwitwete Frauen mit Kindern auf eine feste Beschäftigung mit regelmäßigem Einkommen kaum hoffen. Auf dem Land waren die Lebenshaltungskosten geringer. Hinzu kam die Möglichkeit zur Selbstversorgung durch Urproduktion für den eigenen Bedarf. Beides machte das Überleben auf dem Land einfacher, so dass sich die 180.000 Witwen vom Land in günstigerer Lage zu befinden schienen als die in der Stadt verwitweten Frauen.83 Diese Annahme trog aber. Zwar ging es rund 45.000 landwirtschaftlichen Tagelöhnerinnen recht gut, weil sie eigenes Land besaßen.84 Gerade die älteren unter ihnen konnten mit Hilfe ihrer älteren Kinder eigenes Land bewirtschaften und lebten in relativ guten Verhältnissen. Im Allgemeinen recht günstig standen auch die 8.800 landwirtschaftlichen Mägde da. Beide Gruppen stellten aber nur den kleinen, einigermaßen gesicherten Anteil der Witwen auf dem Land dar. Auch wenn die übrigen auf dem Land »Erwerben, Besitzen und Genießen« sei das gewöhnliche Prinzip, und die Klügeren seien die Verantwortlichsten und begnügten sich mit Achselzucken. 82 Prinzing, Die sociale Lage, S. 97. 83 Bereits im späten Mittelalter gab es daher die Tendenz, Witwen wegen der geringeren Lebenshaltungskosten auf dem Land anzusiedeln. Vgl. hierzu und sehr ausführlich zu den Erwartungen, wie sich Witwen selbst helfen sollten, Kruse, S. 250ff. Vgl. hierzu bereits oben, S. 20f. 84 Ebenda, S. 98.

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lebenden Witwen leichter Arbeit finden konnten, als dies in der Stadt der Fall war, seien die 121.000 Tagelöhnerinnen ohne Land und die 4.800 Arbeiterinnen aus anderen Betrieben der landwirtschaftlichen Gewerbe »wohl der ärmsten Kategorie zuzurechnen.«85 Jedoch wird in einer Monografie bereits 1874 darauf aufmerksam gemacht,86 dass »die Differenz zwischen den Verhältnissen der in der Großindustrie und in dem Kleingewerbe, sowie in der Landwirthschaft beschäftigten Arbeiter [täglich mehr schwinde,] weshalb für alle Arbeiter das Gleiche [zu] fordern [sei].«

4.

Messbare Folgen: Überlebenskampf der Arbeiterwitwen in Zahlen

Das wichtigste Forschungsergebnis des Statistikers Prinzing bestand indes nicht darin, die sozialen Lebensverhältnisse der Witwen zu beschreiben, sondern deren unmittelbare Folgen darzulegen. Zwar wies Prinzing zu Recht darauf hin, dass dies nur die der Statistik zugänglichen Symptome gewesen seien, welche sich aus den traurigen Verhältnissen ergäben, in denen Witwen zu leben hätten.87 Die meisten Folgen entzögen sich nämlich jeder zahlenmäßigen Darlegung, wie beispielsweise die zwingende Vernachlässigung der Kinder und das sorgenvolle tägliche Leben. Doch lieferten die mit Zahlen bewiesenen Folgen dieser Armut reichlich Stoff für die Presse und Fachöffentlichkeit, Forderungen nach einer Hinterbliebenenabsicherung volksnah zu begründen. a) Erhöhte Sterblichkeit und hohe Krankheitsquote Nach den Auswertungen Prinzings, welche er in seinem zweiten Aufsatz in der Zeitschrift für Sozialwissenschaften mit Zahlen aus dieser Statistik belegte, war die Sterblichkeit der Witwen im Erhebungszeitraum 1895 erheblich größer als die der verheirateten Frauen.88 Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten würden 85 Ebenda, S. 101, 102. 86 Kalle, S. 8. Interessant ist sein in der späteren Diskussion nie wieder aufgegriffener Gedanke, »eine Classificirung nach der Gefährlichkeit der verschiedenen Gewerbe« vorzunehmen, um dann den »Beitrag umso höher« festzusetzen, »je größer die Wahrscheinlichkeit, daß der Beitragende durch seine gewerbliche Thätigkeit früher Invalide wird oder aber stirbt.« Jedoch sah er auch die große Schwierigkeit einer solchen Klassifizierung, aber auch die »wünschenswerthe Folge, daß die Löhne bei den gefährlichen Arbeiten steigen würden.«, S. 14. 87 Prinzing, Die sociale Lage, S. 205. Die meisten Folgen entzögen sich der statistischen Berechnung. Hierzu zählte Prinzing neben der Vernachlässigung der Erziehung der Kinder vor allem die traurigen Wohnungsverhältnisse und die Abnahme der Arbeitskraft der Witwe, ebenda. 88 Dies war in fast allen Altersklassen der Fall. Auch wenn Prinzing selbst auch anderen Ursachen als der typischen Notlage des Witwenstandes fand, beispielsweise das höhere Risiko, von dem verstorbenen Ehegatten mit Tuberkulose angesteckt zu werden, blieb ein berei-

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häufig die Gesundheit der Witwen untergraben und so die erhöhte Sterblichkeit bedingen. Erhöht war nach Auswertungen Prinzings auch die Sterblichkeit den Witwern. Die Ursachen hierfür sah er aber nicht in der Not, sondern im unregelmäßigen Leben und dem Mangel an Pflege.89 Viel häufiger als bei Ehefrauen würden bei Witwen außerdem Geisteskrankheiten auftreten, wobei diese nach dem 50. Lebensjahr seltener würden.90 Im Reichstag schloss sich die Regierungspartei, das katholische Zentrum, dieser Auswertung im Ergebnis vage an, indem erklärt wurde,91 man wolle »beobachtet haben, daß gerade in den Kreisen der Wittwen eine höhere Sterblichkeit obwaltet, daß sogar die Fälle von Irrsinn in den Kreisen dieser Wittwen sich häufiger zeigen als anderwärts.«

b) Erhöhte Suizidquote und hohe Quote an Vermögensdelikten Die Selbstmordrate bei den Witwen war im Vergleich zu den verheirateten Frauen fast doppelt so hoch.92 Doppelt so hoch war auch die Kriminalitätsrate der Witwen in den Altersklassen bis zum vierzigsten Lebensjahr, allerdings einschließlich der Geschiedenen. Bis zum sechzigsten Lebensjahr war die Kriminalitätsrate auffällig höher im Vergleich zu Verheirateten. Bezüglich der Kriminalität ist bemerkenswert, dass hier die Vermögensdelikte den weitaus größten Anteil an den begangenen Straftaten darstellen. Auf die große Kriminalität der Witwen wies Prinzing schon in einem vorhergehenden Aufsatz über »die Erhöhung der Kriminalität des Weibes durch die Ehe« hin und macht dieses zum Gegenstand genauerer Untersuchungen. Die Feststellung, die erhöhte Deliktquote sei je prägnanter, in »je jüngeren Jahren der Frau die Trennung vom Manne erfolgt«, führte zu der Schlussfolgerung, dass jüngere Witwen sich in einer wirtschaftlich ungünstigeren Lage befänden als die älteren.93

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nigter Anteil, der auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen sei, Prinzing, Die sociale Lage, S. 199–201. Prinzing, Die sociale Lage, S. 200. Dies war für Prinzing leicht erklärlich: »Das Gefühl der Verlassenheit, der Schmerz über den Verlust des Gatten, die Sorge, wie es ihr und ihren Kindern in Zukunft gehen wird, all das stürmt auf das Gemüt der von Natur mit minderwertigem Nervensystem ausgestatteten Frauen, die in erträglichen Verhältnissen sich ganz wacker halten« ein, Prinzing, Die sociale Lage, S. 201–202. Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6489. Prinzing erklärte diese hohe Selbstmordrate mit Ursachen, die auch zu dem angeblich erhöhten Risiko von Geisteskrankheiten führen würden. Es sei »nicht die traurige ökonomische Lage, welche die Witwe zum Selbstmord treibt«, sondern »das Gefühl der Vereinsamung und der Schmerz um den Verlust des Gatten.« was Prinzing daraus schloss, dass die Selbstmordrate gerade unter den kinderlosen Witwen viel höher war. Auch sei nach der preußischen Statistik das Selbstmordmotiv viel öfter Lebensüberdruss als Nahrungssorgen, Prinzing, Die soziale Lage, S. 201–202. Prinzing, Die sociale Lage, 203.

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Eine weitere Folge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Witwen sei die häufigere Verurteilung wegen Kuppelei, weil Witwen häufig veranlasst seien, Zimmer an Prostituierte zu vermieten.94 In den deliktischen Folgen der wirtschaftlichen Notlage sah Prinzing95 den Beweis für die Richtigkeit der »durch v. Liszt vertretenen Anschauung, dass der Kampf gegen das Verbrechen nicht nur durch Bestrafung, sondern auch durch sociale Reformen geführt werden müsse.«

Seit wann gab es Initiativen, die Regelung einer Hinterbliebenenversicherung vom Deutschen Reichstag aus anzuregen? In welchen Zweigen der Sozialversicherung konnte man sich Regelungen zu Hinterbliebenenrenten vorstellen? Und wie begründete man letztlich die Zustimmung oder Ablehnung solcher Regeln?

II.

Erste Initiativen im Reichstag 1869–1879

Mit der Frage nach der Einführung einer Witwenunterstützung für Fabrikarbeiter hatte sich bereits der Reichstag des Norddeutschen Bundes befasst.96 Es waren nicht etwa Interessenvertreter der Arbeiter oder Vertreter der Zentrumspartei, von denen die ersten Initiativanträge ausgingen. Es war der Eisenindustrielle Freiherr Carl Ferdinand von Stumm-Halberg97, der schon im Jahre 1869 im Rahmen der Reformierung der Gewerbeordnung vorschlug, Kassen ähnlich der Knappschaftskassen für Fabrikarbeiter zu gründen, um so die Zukunft ihrer Witwen und Waisen zu sichern. Stumm-Halberg, der bereits mit 22 Jahren die Werksleitung des Neunkirchner Eisenwerkes von seinem verstorbenen Vater übernahm und 1867 die Freikonservative Partei mitbegründete, hatte Leistungen im Sinn, welche jede Fabrikkasse zu gewähren haben sollte, und zwar unter anderem die Unterstützung von Witwen auf Lebenszeit.98 Die Werksbesitzer sollten ein Drittel der Beiträge aufbringen und die Arbeiter zwei Drittel zahlen, indem wie heute ein gewisser Prozentsatz vom Bruttolohn festgesetzt werden

94 Ebenda. 95 Ebenda, S. 204. 96 Die Idee zur Förderung der Gründung von Altersversorgunganstalten und Invalidenkassen von Staatswegen äußert Bismarck bereits 1863, was Pense mit Quellen belegt und kommentiert, S. 16ff. 97 Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (Eisenindustrieller) war Gründungsvorsitzender der Deutschen Reichspartei. Er war einer der einflussreichsten Männer in Preußen und setzte sich politisch als auch als Industrieller in soziale Fragen ein. Siehe über ihn Hellwig. 98 Sten.Ber. RT d. Norddt. Bundes, I. Leg. Per., Session 1869, Bd. 3, Anl. Nr. 132, Verbesserungsantr. v. 24. 04. 1869, § 162 S. 1 Nr. 5.

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sollte.99 Die näheren Regelungen sollten den Statuten der Fabrikkassen vorbehalten sein. Gegen diesen Versuch Stumm-Halbergs, eine Ausdehnung der Bestimmungen über die Knappschaftsversicherungen von 1854 auf sämtliche gewerbliche und industrielle Arbeitnehmer zu erreichen, wurde massive Kritik ausgesprochen. Mehrere tausend Arbeiter unterschrieben eine Petition,100 in der sie sich gegen einen Beitrittszwang zu den Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen aussprachen, da ein solcher ihre Selbstständigkeit zu sehr einschränke. Die Errichtung von Zwangskassen stelle als Ausfluss polizeilicher Bevormundung und lokaler Abschließung die Entziehung des Rechtes auf freie Wahl in den wichtigsten Lebensfragen sowie des Rechtes auf Selbstverwaltung der eigenen Geldmittel dar. Problematisch an der Versicherung bei einem örtlichen Träger war der Anwartschaftsverlust auch in Bezug auf die Witwenrente, der mit einem Arbeitgeberwechsel und mithin der Hilfskasse einhergingen, was auch von Abgeordneten im Reichstag gerügt wurde.101 Stumm-Halberg war diese durch Gebrauch des Freizügigkeitsrechts geschaffene Problematik bewusst.102 Immerhin würde der Arbeiter aber keine Beiträge ohne Gegenleistung erbracht haben, wenn man wie Stumm-Halberg davon ausginge, dass der Arbeiter mit seinen Beiträgen nur die laufenden Leistungen finanziere, allein der Arbeitgeber hingegen darüber hinaus die Leistungen, welche durch einen Arbeitgeberwechsel entfallen würden.103 Obwohl sich keine Mehrheit im Reichstag für den Stummschen Antrag gewinnen ließ,104 ist er nicht nur von besonderer Bedeutung für die spätere Einführung von Witwen- und Witwerrenten, sondern für die gesamte weitere Entwicklung der Sozialversicherung, denn mit ihm wurde zum ersten Mal105 die Regelung eines umfassenden Versicherungszwanges aller gewerblichen und industriellen Arbeitnehmer im Reichstag vorgeschlagen.106 Im Jahre 1875 war es der Präsident des Reichskanzleramtes und in dieser Funktion der »tatsächliche Vizekanzler Bismarcks«,107 Staatsminister Rudolph von

99 Sten.Ber. RT d. Norddt. Bundes, I. Leg. Per., Session 1869, Bd. 3, Anl. Nr. 132, Verbesserungsantr. v. 24. 04. 1869, § 166. 100 Aus dieser Petition zitiert Abg. Maximilian Duncker (altliberal) in Verh. d. RT d. Norddt. Bundes v. 01. 05. 1869, S. 725. 101 Verh. d. RT v. 01. 05. 1869, Maximilian Duncker, S. 724; Hermann Schulze, S. 731. 102 Verh. d. RT. v. 01. 05. 1869, Stumm, S. 726. 103 Ebenda. 104 Stumm sah sich »durch die damalige Geschäftslage genöthigt, auf die Berathung« seines Antrages zu verzichten, wie er 10 Jahre später im Reichstag erinnert, vgl. Verh. d. RT. v. 27. 02. 1879, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 156. 105 Pense, S. 18; Quandt, S. 37ff.; Stolleis 1976, S. 32. 106 Pense, S. 18; Umlauf, S. 47f.; Die Vermutung Penses, der Antrag habe einen besonderen Einfluss auf Bismarcks folgende Sozialpolitik, wird von Umlauf nicht geteilt. 107 Heffter, S. 579. Rudolph von Delbrück war nach seiner Dienstzeit im preußischen Verwal-

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Delbrück, der dem Reichstag in Vertretung für Reichskanzler Bismarck den Entwurf eines Gesetzes über die gegenseitigen Hülfskassen vorlegte.108 Es wurde den Hülfskassen hiernach freigestellt, ob sie Beihilfe an die Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder gewährten.109 Eine gewisse Rentenhöhe durfte allerdings nicht überschritten werden. Beihilfen durften nur bis zum maximalen Betrag vom zehnfachen der wöchentlichen Unterstützung, auf welche das verstorbene Mitglied Anspruch hatte, gewährt werden.110 In den Motiven, welche der Vorlage beigefügt wurden, wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Entwicklung der Altersversorgungs- sowie der Witwen- und Waisenkassen fast noch in den ersten Anfängen begriffen war, das Bedürfnis einer gesetzlichen Regelung hierzu »gleichwohl für alle Kassen anerkannt werden müsse.«111 Die zurückhaltende Regelung entsprach indes den Gedanken, dass zwingende Gründe für einen unverzüglichen Abschluss der gesetzlichen Regelungen über Witwenkassen nicht gegeben seien, vielmehr ein Aufschub als ratsam erschien.112 Mit zwei Anträgen, 1878 und 1879, setzte sich erneut Stumm-Halberg für die Bildung von Altersversorgungs- und Invalidenkassen für alle Fabrikarbeiter ein.113 Diese Kassen sollten hiernach ausdrücklich wie bergmännische Knappschaftsvereine ausgestaltet werden. Gegen die so geplante Errichtung obligatorischer Altersversorgungs- und Invalidenkassen für Fabrikarbeiter wurde eine Resulution von den Berliner Ortsvereinen gefasst. Diese vertraten als Teil der Allgemeinen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine Arbeiterinteressen und forderten,114 »der Antrag Stumm und Genossen [sei] als ungerecht und gemeinschädlich zu verwerfen«.

Begründet wurde dies u. a. damit, dass die ausschließliche Mehrbelastung einer einzelnen Klasse den Grundsatz der »Gleichberechtigung aller Staatsbürger« verletze und den größten Teil der Fabrikarbeiter »geradezu erdrücken« würde.115

108 109 110 111 112 113 114 115

tungsdienst (1842–1876) liberaler Reichstagsabgeordneter (1878–1881) und kritisierte den Bismarckschen Schutzzolltarif, NDB 3 (1957), S. 579f. Sten. Ber. RT, II. Leg. Per., 3. Session, Bd. 3, Anl. Nr. 15, Entwürfe eines Gesetzes, betreffend die Abänderung des Titels VIII, der Gewerbeordnung und eines Gesetzes über die gegenseitigen Hülfskassen, nebst Motiven. Sten. Ber. RT, II. Leg. Per., 3. Session, Bd. 3, Anl. Nr. 15, hier Entwurf eines Gesetzes über die gegenseitigen Hülfskassen, § 12 III, S. 52. Ebenda. Sten. Ber. RT, II. Leg. Per., 3. Session, Bd. 3, Anl. Nr. 15, hier Motive zum Entwurf eines Gesetzes über die gegenseitigen Hülfskassen, S. 54f. Ebenda. Antrag No 9. vom 11. 09. 1878 in BA R 101 31903, 4; Antrag No. 16 vom 12. 02. 1879 in BA R 101 31903 fol. 7. Zitiert aus der Rede Stumms in Verh. d. RT. v. 27. 02. 1879, S. 156. Ebenda.

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Außerdem stünde diese neue Beschränkung und Bevormundung der Arbeiterklasse »im Widerspruch mit den Prinzipien der Selbsthilfe und Selbstverantwortlichkeit«.

Auf die Stummschen Anträge folgten Kommissionsverhandlungen,116 in denen zunächst auch darüber gestritten wurde, ob der Kreis der Fabrikarbeiter überhaupt ein dringenderes Bedürfnis nach der Hilfe der Gesetzgebung im Versicherungswesen hätten, als die der übrigen Arbeiter in Handwerk, Hausindustrie und Landwirtschaft und letztlich der keinem bestimmten Gewerbe angehörenden Tagelöhner.117 Hauptstreitpunkt war indes, ob die angestrebte Altersund Invalidenversorgung auf dem Wege des Zwanges oder durch gesetzliche Förderung des freien Kassenwesens erreicht werden sollte. Von den Gegnern obligatorischer Kassen wurde unter anderem geltend gemacht, es werde »eine Steigerung der Produktionskosten herbeigeführt, welche die Konkurrenz mit dem Auslande erschwere. [Außerdem werde] in den Arbeitern der ohnehin geringe Trieb, selbständig Ersparnisse zu machen, noch mehr geschwächt.«

Die Mehrheit der Kommission argumentierte daraufhin, dass nicht eine Steigerung der Produktionskosten, sondern eine gerechtere Verteilung eben dieser zu erkennen sei, denn für den Unterhalt der durch Alter oder Invalidität verdienstlos gewordenen Fabrikarbeiter müsse, wenn Kassenleistungen nicht gewährt würden, die Armenpflege aufkommen, und so fände eine Abwälzung dieses Teils der Produktionskosten auf völlig Unbeteiligte statt. Es sei daher eine Forderung der Gerechtigkeit, »daß auch dieser Theil aus dem Erlös des Arbeitsprodukts durch Beiträge des Fabrikanten und Lohnquoten der Arbeiter gedeckt werde.«

Gegen eine Schwächung des eigenen Ansammlungstriebes ließen sich aus dem Bereich der Knappschaften zahlreiche Beispiele anführen, »wie Arbeiter neben der pflichtgemäßigen Beisteuer zur Kasse beträchtliche Ersparnisse, namentlich zum Erwerbe eines eigenen Hauses, gemacht hätten.« 116 Im Folgenden zitiert aus dem Kommissionsbericht vom Juni 1879 in Bundesarchiv R 101 31903 fol. 24ff. Die Kommissionsberatungen waren vertraulich, Publikum und Presse waren ausgeschlossen und die dort abgegebenen Äußerungen durften nicht mit der Nennung des Namens in der Öffentlichkeit zitiert werden. Vgl. zum Sinn der Vertraulichkeit und zur praktischen Umsetzung ausführlich Hatschek, S. 233–238. 117 Zur gescheiterten Revolution siehe Schieder, S. 18f. Nachdem man dem liberalen Bürgertum vorwarf, für das Scheitern der Revolution 1848 verantwortlich zu sein, verfestigten sich Stände, die ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Die Arbeiter, Bauern und Kleinbürger fühlten sich verraten. Die Wortführer der bürgerlichen Opposition blieben bei ihren liberalen Forderungen und versuchten Mehrheiten durch Resolutionen, Petitionen und Volksversammlungen zu schaffen, Schieder, S. 25.

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Außerdem habe sich das Gesetz nicht an den intellektuell und moralisch hochstehenden Arbeiter zu richten, welcher aus eigener Initiative den Mehrerwerb der guten Jahre auf die Zeit der Verdienstlosigkeit überträgt. Vielmehr sei Adressat der Arbeiter »der Durchschnittsqualität, welcher hierzu des äußeren Antriebs bedürfe.«

Im Ergebnis wurde von der Kommission die Empfehlung beschlossen, Zwangskassen für Fabrikarbeiter zu errichten, welche neben der Pensionierung der Arbeiter auch deren Witwen und Waisen unterstützen sollten. Diese Empfehlung wurde jedoch im Reichstag nicht weiter verfolgt.

III.

Kaiserliche Botschaft 1881

Um soziale Notstände zu beseitigen, welche in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts industrialisierungsbedingt beherrschten,118 eröffnete Kaiser Wilhelm I. am 17. 11. 1881 die erste Session der 5. Legislaturperiode des Reichtags mit der programmatischen Botschaft, man werde zur Heilung sozialer Schäden nicht nur sozialdemokratische Ausschreitungen unterdrücken sondern gleichzeitig das Wohl der Arbeiter fördern.119 In Bezug auf die später eingeführte Alters- und Invalidenversicherung führte Kaiser Wilhelm I. aus, dass »diejenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig [würden,] der Gesammtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maaß staatlicher Fürsorge«

als bisher hätten.120 Die folgende Sozialgesetzgebung sollte die »soziale Frage«121 entschärfen, wobei das Deutsche Reich in Europa bekanntermaßen eine Vorreiterrolle einnahm.122 Als Reichskanzler Otto von Bismarck unter Kaiser Wilhelm I. im Zuge der Sozialgesetzgebung Kranken-, Unfall- sowie Invaliditäts- und Altersversicherung, die Vorläufer der heutigen Rentenversicherung, jeweils als Zwangsversi118 Vgl. zu den Motiven der kaiserlichen Botschaft vom 17. 11. 1881 Bosse/v. Woedtke, Einleitung S. 1f. 119 Sten. Ber. RT, V. Leg.Per., 1. Session, Bd. 1, S. 2; zur »sozialen Frage« vor Einführung der Krankenversicherung sowie zur Beeinflussung der ersten Sozialgesetzgebung vgl. Tennstedt, Sozialgeschichte -SV, S. 385f. Zu Bismarcks Motiven bei der Sozialgesetzgebung siehe Gall, 1980, S. 648ff. 120 Diese wenn auch schwierige Aufgabe sei eine der »höchsten« Aufgaben des Staates, und sie beruhe sittlichen und christlichen Grundsätzen, Sten. Ber. RT, V. Leg.Per., 1. Session, Bd. 1, S. 2. 121 Siehe zu den Hauptursachen der sozialen Frage als Arbeiterfrage Lampert, S. 49ff. 122 Vgl. hierzu Schöllgen, S. 29.

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cherung der Arbeiter einführte, wurden umfassende Hinterbliebenenrenten zwar nicht eingeführt, doch hatten sämtliche Sozialgesetze deutliche Berührungspunkte zu dieser späteren Versicherungsleistung. Die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführte und noch heute in ihren Grundzügen bestehende Sozialversicherung erfolgte sukzessiv.123 Der erste Schritt wurde 1883 mit dem Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, gemacht. Ein Jahr später wurde das Unfallversicherungsgesetz und schließlich 1886 das Gesetz betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung von Kaiser Wilhelm I. verordnet.124 Eine Versorgung an Hinterbliebene in Form von Rentenzahlungen wurde nur aus der Unfallversicherung gewährt, und zwar nur dann, wenn der Tod der versicherten Person aufgrund eines Betriebsunfalles erfolgt war. Weder aus der Krankenversicherung noch aus der Rentenversicherung wurden den Hinterbliebenen der versicherten Mitglieder Renten gewährt. Doch wurde der Bedarf nach einer solchen Leistung keineswegs übersehen. Vielmehr wurde die Aufnahme einer Hinterbliebenenrente auch in den letztgenannten Versicherungszweigen diskutiert. Ein ganzer Zweig der heutigen Sozialversicherung wurde, so wie die heutige Witwen- und Witwerrente, erst deutlich später eingeführt: Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. In den folgenden Jahren wurden beide Lücken immer wieder vergleichend im Zusammenhang mit dem notwendigen Ausbau der Sozialversicherung genannt, um festzustellen, dass der Bedarf nach einer Hinterbliebenenversicherung ein dringender sei und daher gegenüber der Einführung einer Arbeitslosenversicherung Vorrang hätte.

IV.

Gesetz betreffend die Krankenversicherung

Im ersten Schritt der Sozialgesetzgebung wurde ein »Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter« von Theodor Lohmann entworfen.125 Als 123 Vgl. zur Entwicklung der Altersversorgungs- und Invalidenkassen von 1867–1881 sowie zum Folgenden Quellensammlung GDS, Abt. I, 6. Bd., Einleitung. Vgl auch Quellensammlung GDS, Abt. I, 1. Bd., Einleitung, zur Diskussion der Arbeiterfrage bis zur Reichstagswahl von 1881. 124 Die Reichsgesetzgebung wurde nach Art. 5 der Verfassung des Deutschen Reiches durch den »Bundesrath« und den Reichstag ausgeübt. Nach Art. 6 der Verfassung bestand der »Bundesrath« aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes (sogenannte verbündete Regierungen). Von insgesamt 58 Stimmen hatte Preußen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt 17 Stimmen, Bayern hatte 6 Stimmen, Sachsen und Württemberg jeweils 4 Stimmen und alle anderen Mitglieder 3 oder weniger Stimmen. Vgl. hierzu auch vom Bruch/Hofmeister, S. 29ff. 125 Vgl. Tennstedt, Sozialgeschichte – SV, S 385. Theodor Lohmann war maßgeblich mit der Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung betraut. Im Unterschied zu Bismarck

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Träger der im Jahr 1883 eingeführten Krankenversicherung wurden die OrtsKrankenkassen bestimmt.126 Dass für die Bildung der Bezirke von zu errichtenden Krankenkassen die Abgrenzungen der jeweiligen Gemeindebezirke maßgeblich waren, entsprach dem Recht der Gemeinden, Orts-Krankenkassen zu errichten. Von der Größe entsprachen diese neuen Kassen also den bisher bestehenden freien Hilfskassen. Zählten Hinterbliebenenrenten aber bisher bereits zum Leistungspaket einiger Hilfskassen, so lag es nahe, diese Leistung zur Pflichtleistung aller Orts-Krankenkassen zu bestimmen. Man entschied sich nicht nur dagegen, sondern es wurde den Orts-Krankenkassen sogar verboten, Renten an Hinterbliebene von Mitgliedern zu gewähren. Man schätzte das Risiko sehr hoch ein und nahm an, kleine Kassen würden es nicht tragen können. Gleichwohl wurde den neuen Kassen »mit Rücksicht auf die bisherige Entwicklung des Krankenkassenwesens«127 zugleich die Funktion von Sterbekassen übertragen. Begründet wurde dies damit, dass die Krankenversicherung von jeher der Regel nach mit der Sterbegeldversicherung verbunden gewesen war und die Gesetzgebung diese Verbindung bis dahin stets, wenn auch meist nur als fakultative, aufrecht erhalten hatte und schließlich damit, dass »die unteren Volksklassen [erfahrungsmäßig] auf die Sicherung eines anständigen Begräbnisses einen gleich hohen, ja meist höhren Werth, als auf die Sicherung einer Unterstützung in Krankheitsfällen [legten].«

Außerdem gestattete man den Krankenkassen grundsätzlich, ihren Mitgliedern auch noch andere als die gesetzlich vorgeschriebenen Unterstützungen zu gewähren. Leistungen einer Invaliden-, Witwen- und Waisenversicherung durften sie aber nicht gewähren, was wie folgt begründet wurde. Zunächst wurde ein Argument angeführt, welches bereits gegen die von Stumm-Halberg vorgeschlagene knappschaftlich organisierte Hinterbliebenenversicherung sprach. Jeder Orts- und Berufswechsel des Arbeiters würde nämlich das Ausscheiden aus der Kasse zur Folge gehabt haben, selbst wenn der Arbeiter »diesen Wechsel wider Willen vornehmen« gemusst hätte. Dadurch würde er seine aufgrund bisher geleisteter Beiträge erworbenen Anwartschaftsrechte verloren haben. Da ein Zwang zu dieser Versicherung »zu erheblichen Beiträgen nöthigen« würde, sah man hierin unzulässige Härten und Unbilligkeiten. Als versicherungstechnisches Argument gegen die Aufnahme von Leistungen wollte Lohmann die Arbeiterrechte stärken. Die Beteiligung der Arbeiter an der Selbstverwaltung der Krankenkassen entspricht diesem Ziel. Lohmann war gegen die Invaliditätsund Altersversicherung. 1883 kam es zum Bruch zwischen Bismarck und Lohmann. Lohmann wechselte zurück ins preußische Handelsministerium. Siehe hierzu Tennstedt – Lohmann, S. 91ff. Vgl. auch Vogel, S. 3f., Nipperdey, Bd. 1, S 346f. 126 Tennstedt, Sozialgeschichte – SV, S. 389f. 127 Im Folgenden zitiert aus Sten. Ber. RT, V. Leg. Per., 2. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 14, Entwurfes eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter/Begründung, S. 139ff.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

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an invalide Versicherte oder Hinterbliebene von Versicherten kam die im Vergleich zur heutigen Zeit dramatisch höhere Wahrscheinlichkeit des Ausbruches von Epidemien hinzu,128 ein Problem, welches auch private Lebensversicherer bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise vergeblich zu lösen versuchten.129 Es musste von dem Risiko extrem hoher punktueller Sterblichkeitsverluste ausgegangen werden, welches auszugleichen eine relativ kleine Versicherungsorganisation u. U. nicht in der Lage gewesen war, wenn nicht zuvor überhohe Beiträge festgesetzt wurden.

V.

Unfallversicherung

Nach der Krankenversicherung erfolgte der Ausbau der Sozialversicherung zunächst durch das Unfallversicherungsgesetz.130 Hiernach wurden auch die Witwen des Arbeiterstandes131 bedacht. Für Witwen eines bei Betriebsunfall verunglückten Arbeiters wurde eine Versorgung geschaffen, die in Abkehr von den zuvor geltenden privatrechtlichen Grundsätzen132 unabhängig von einem Verschulden der Unternehmer und sogar trotz Verschuldens des Verunglückten gewährt wurde. Dies allein stellte bereits eine wesentliche Verbesserung der Situation der Arbeiterwitwen dar.133 Hinzu kam, dass die Zahlungen der Renten

128 Die Krankheiten Cholera, Typhus, Pocken und Tuberkulose konnten noch nicht wirksam genug bekämpft werden, so dass sich Ausbrüche von Epidemien nicht verhindern ließen. 129 Das deutsche Lebensversicherungswesen wies Defizite auf dem Gebiet der Erkennung und Einschätzung von Krankheitsrisiken auf. Nach einer Cholera-Epidemie gingen im Jahr 1866 die Sterblichkeitsverluste in mehreren Unternehmen über 50 Prozent der Risikoprämie hinaus. Hierzu Ehler, S. 1f., welcher eine gute Zusammenfassung der internen Probleme privater Lebensversicherungsgesellschaften in Deutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts gibt. 130 Unfallversicherungsgesetz vom 06. 07. 1884 (RGBl., S. 69). Die bereits geleisteten Vorarbeiten für die Alters- und Invalidenversorgung stellte Bismarck zunächst zugunsten der Unfallversicherung zurück, was dem Montanindustriellem Baare zu verdanken sei, Quandt, S. 12, der das Motiv Bismarcks für die Sozialreform, »der sozialistischen Agitation den Boden zu entziehen«, mit Quellen belegt, S. 18. 131 Ergänzt wurde die Unfallversicherung durch Regelungen für Personenkreise, die nicht der Versicherungspflicht unterlagen. Zu nennen sind das Unfallfürsorgegesetz für Beamte u. für Personen des Soldatenstandes v. 15. 03. 1886, das preußische Gesetz betreffend die Fürsorge für Beamte in Folge von Betriebsunfällen v. 18. 06. 1887 und das Reichsgesetz betreffend die Unfallfürsorge für Gefangene v. 30. 06. 1900, zitiert nach von Loeper, S. 13, mit Quellenangaben. 132 Zur Entwicklung der Arbeiterversicherung im Allgemeinen und der Hinterbliebenenversorgung des Unfallversicherungsgesetzes im Besonderen aus dem Haftpflichtrecht ausführlich Dreher, S. 18–31 mit weiteren Quellen. 133 Zu dieser Bewertung gelangt von Loeper, S. 13. Einer glaubwürdigen Schätzung zufolge seien danach nur 20 Prozent aller Betriebsunfälle auf Verschulden des Unternehmers,

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nunmehr völlig sicher waren und Hinterbliebene nicht wie vorher zunächst erfolgreich den Prozessweg gehen mussten. Mag dieser Ausbau der Hinterbliebenenrenten noch so groß gewesen sein, er konnte keine Sicherheit schaffen. Ob ein Ehepartner während eines Betriebsunfalles oder auf andere Weise sein Leben verlor, war vom Zufall abhängig. Mithin war es vom Zufall abhängig, ob die Hinterbliebenen versorgt waren. Dass mit dieser Regelung kein zufriedenstellender Zustand erreicht worden war, liegt auf der Hand.

VI.

Invaliditäts- und Rentenversicherung

Das durch die Rentenversicherung abgesicherte Altersrisiko unterschied sich im 19. Jahrhundert deutlich von dem heutigen, weil die Wahrscheinlichkeit, ein Renteneintrittsalter zu erreichen, viel geringer war. Zum einen waren die zu leistenden körperlichen Tätigkeiten des Arbeiters zu Beginn des Zeitalters der Industrialisierung deutlich schwerer als heute.134 Außerdem wurde erst ein mit dem 70. Lebensjahr beginnendes Alter als Risikofall angesehen wurde. Es lag nahe, diese zwei vergleichbaren Lebenssituationen gleichzeitig zu regeln, nämlich die eine, ein Alter von 70 Jahren erreicht zu haben, und die andere, invalide geworden zu sein. Am Jahrestag der Kaiserlichen Botschaft von 1881, dem 17.11., veröffentlichte das Reichsamt des Innern 1887 »Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, nebst einer Denkschrift«.135 Mit dem sogenannten »Aprilentwurf« wurde das Gesetzgebungsverfahren im Bundesrat 1888 eingeleitet und als sogenannter »Herbst- oder Novemberentwurf » am 22. 11. 1888 in den Reichstag eingebracht.136 Von Anfang an waren der unbedingte Versicherungszwang und die Ausgestaltung als subjektives Recht gewollt,137 um von den »bloßen Almosen der Armenpflege« abzugrenzen.138 Versicherungspflichtig waren nach dem »Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung« (IAVG) vom 22. 6. 1889139, alle »Personen, welche als Arbeiter, Gehülfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden« vom vollendeten 16. Lebensjahr an140, also auch landwirtschaftliche Arbeiter, die vorher noch nicht sozialversicherungspflichtig waren.

134 135 136 137 138 139 140

30 Prozent auf Verschulden des Arbeiters und 50 Prozent auf allgemeine Betriebsgefahr zurückzuführen. Vgl. Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 10f. Vgl. hierzu und zur öffentlichen Kritik Rückert, S. 6ff. Ausführlich zum Gesetzgebungsverfahren: Rückert, S. 7ff. Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 30ff. Theodor Lohmann hielt dagegen die Einrichtung selbständiger Kassen für geboten, ebenda. Hierzu mit weiteren Nachweisen: Rückert, S. 13f. RGBl. S. 97ff. § 1 Nr. 1 IAVG.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

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Für kleine Betriebsunternehmer und Hausgewerbetreibende bestand die Möglichkeit, sich freiwillig zu versichern.141 »Betriebsbeamte« und »Handlungsgehülfen« waren nur bis zu einem Jahresarbeitsverdienst von 2000 Mark versicherungspflichtig.142 Die Versicherung regelte einen »Anspruch auf Gewährung einer Invaliden- beziehungsweise Altersrente«143, wobei Altersrente ab Vollendung des 70. Lebensjahres gewährt wurde.144 Für eine Aufnahme von Hinterbliebenenrenten in die Invaliditäts- und Rentenversicherung sprach zunächst, dass das versicherte Risiko, einen Verdienstausfall zu erleiden, sich ähnelte. Hinterbliebene verloren durch den Tod des Ehemannes und den hierdurch bedingten Wegfall seines Arbeitsverdienstes ebenso ihre finanzielle Grundlage, wie auch der Versicherungsnehmer durch den invaliditäts- oder altersbedingten Verdienstwegfall. Das Risiko Tod des Versicherungsnehmers stand also sachlich eng neben Invalidität oder Alter. Mit dem Gesetz betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung145 fand die Gesetzgebung zur Sozialversicherung letztlich zunächst ihren Abschluss, so dass sich die vorerst letzte Möglichkeit bot, eine Hinterbliebenenversicherung einzuführen. All diese Gründe sprachen bereits 1889 für die Einführung. Die Begründung des dem Reichstag vom Bundesrat zur Zustimmung vorgelegten Gesetzentwurfs verneint allerdings ausdrücklich die Vorfrage, ob mit der Fürsorge für alte oder erwerbsunfähige Arbeiter gleichzeitig die Fürsorge für die Witwen und Waisen verstorbener Arbeiter zu regeln sei.146 Eine Aussetzung der Regelung der Witwen- und Waisenversorgung sei – obwohl für Witwen und Waisen noch nicht ausreichend gesorgt sei – aus praktischen Gründen empfohlen.147 Genannt wurde die Ungewissheit darüber,148 141 142 143 144 145 146 147

148

§§ 2, 8 IAVG. § 1 Nr. 3 IAVG. § 9 Abs. 1 IAVG. § 9 Abs. 4 IAVG. Zur Höhe der Renten, die so niedrig waren, dass sie für niemanden alleinige Lebensgrundlage sein konnten, siehe Köhler, S. 56f. Gesetz, betreffend die Invaliditäts= und Altersversicherung vom 22. 06. 1889 (RGBl., S. 97). RT-StenBer VII. LegPer, 4. Session, Bd. 4, Anl. Nr. 10 Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters= und Invalidenversicherung v. 22. 11. 1888/Begründung, S. 49. Ebenda; dass die gesamte Sozialversicherungsgesetzgebung nach Bismarcks Planung schrittweise erfolgen sollte, belegt Pense, S. 22f. Einflussreiche Fürsprecher von Witwenrenten fehlten, so dass zu der Zeit noch kein massiver politischer Druck gegeben war, Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 34. Wie Fn. 41, bei einer überschlägigen Ermittlung der Mehrbelastung wurde u. a. von 60 Mark Rente für Witwen ausgegangen. Als Schwerpunkt einer Darstellung »Der Frage der Witwen und Waisen« untersucht Marlene Ellerkamp sehr ausführlich auch die der Begründung zu Grunde liegende Denkschrift vom 06. 07. 1887 sowie die folgenden Beratungen im Reichstag, Ellerkamp 2000, S. 191ff. Neben der fehlenden Regelung einer Witwenrente stellt sie die Regelungen zu Beitragserstattungen bei Heirat und bei Tod in den Fokus; Noch 1880 sprachen die hohen Kosten für Bismarck zwingend gegen die gesamte Zwangsversicherung gegen Alter. Auf eine Vorlage des Handelsministeriums über die Versicherung gewerblicher

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»ob die Industrie und die sonst in Betracht kommenden Berufszweige die mit der Wittwen= und Waisenversorgung nothwendig verknüpfte Mehrbelastung zu tragen im Stande sind«.

Obwohl der Abgeordnete Grillenberger (SPD) »den völligen Mangel einer Wittwen= und Waisenversorgung, die unbedingt mit diesem Gesetzentwurf hätte verknüpft sein müssen«

bereits in der ersten Beratung des Reichstags sehr deutlich beklagte,149 äußerten sich weder der für die Gubernative des Kaiserreiches im Reichstag sprechende Staatssekretär des Innern von Boetticher noch der vom Bundesrat bevollmächtigte Freiherr von Marschall in ihren Reichstagsreden zum Gesetzesentwurf hierzu.150 Franz Hitze, Mitglied des Zentrums, hielt eine gleichzeitige Einbeziehung dieser Leistung nur dann für möglich, wenn das von ihm befürwortete Umlageverfahren zur Finanzierung der gesamten Rentenversicherung eingewählt würde.151 Man entschied sich jedoch für das Kapitaldeckungsverfahren. Immerhin ging Hitzes unbedingt geäußerter Wunsch, zumindest eine Beitragsrückzahlung in Form eines Sterbegeldes zu regeln,152 letztendlich in Erfüllung. Nachdem der Entwurf zur weiteren Vorberatung einer Kommission überwiesen wurde, und in der Diskussion mehrfach der dringende Wunsch nach einer Witwen- und Waisenversicherung geäußert wurde, hatte man diese ursprünglich im Entwurf noch nicht vorgesehene Beitragsrückerstattung an die Witwe erdacht, auf die dann ein Anspruch bestand, wenn der Versicherte starb, ohne zuvor einen Rentenbewilligungsbescheid erhalten zu haben.153

149 150 151

152 153

Arbeiter gegen Unfälle schrieb er : »Zum Zwang ist die allgemeine Altersversorgung unerschwinglich teuer.«, von Poschinger, Fürst Bismarck und die Arbeiterfrage. Die ArbeiterVersorgung, 1910, Nr. 16, S. 362, zitiert nach Pense, S. 30. Verh. d. RT v. 06. 12. 1888, Karl Grillenberger, S. 148. Siehe über ihn Fricke, S. 285ff. Grillenberger war 1878–1897 Geschäftsführer und Redakteur der Fränkisches Tagespost und 1879 nomineller Miteigentümer des Zentralorgans »Der Sozialdemokrat«. Verh. d. RTv. 06. 12. 1888, Karl Heinrich von Boetticher, S. 139 und Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, S. 161. Verh. d. RT v. 07. 12. 1888, Franz Hitze, S. 178. Franz Hitze war Priester und hatte bereits 1875 Vorträge über die Soziale Frage gehalten, die später berühmt wurden. Er kritisierte die weithin katastrophalen sozialen Verhältnisse der Industriegesellschaft. Siehe hierzu Morsey, S. 18f. Zu Hitzes Bestrebungen, im Katholizismus Lösungen zur Sozialen Frage zu finden siehe Gabriel, S. 84f. Hitze gilt als bedeutenster Sozialpolitiker des Zentrums. Siehe über ihn Hainbuch/Tennstedt, S. 125. Ebenda. Sten. Ber. RT, VII. Leg. Per., 4. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 141, Bericht der VI. Kommission v. 19. 03. 1889 über den derselben zur Vorberatung überwiesenen Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Alters= und Invaliditätsversicherung, S. 898. Es wurde auch der Kompromiss zwischen Sterbegeld und Witwenrente vorgeschlagen, nach dem eine Witwe mit Kindern 20 Prozent der Invalidenrente des versicherten Mannes erhalten sollte, wenn dieser starb, »ohne wenigstens 3 Jahre Alters= und Invalidenrente bezogen zu haben«, siehe ebenda.

Bismarcks Sozialgesetzgebung

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Noch während der Reichstag sich auf den Kommissionsbericht hin zum zweiten Mal über den Entwurf des Gesetzes betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung beriet,154 wandten sich Arbeitervertreter155 an Bismarck persönlich mit der »ehrfurchtsvolle[n] Bitte darauf hinzuwirken, daß beim Abschluß des Alters und Invalidengesetzes für den baldmöglichsten Anschluß der Wittwen- u. Waisenversicherung Vorsorge getroffen wird [denn] die Sorge für die Wittwen u. Waisen [sei] für die große Mehrzahl der Arbeiter eine noch viel größere u. schmerzlichere als diejenige um das Alter und die Arbeitsunfähigkeit.«

Zwar blieb die nach dritter Beratung des Gesetzentwurfes im Reichstag verabschiedete Regelung156 insofern hinter dem Antrag157 zurück, als dass von der bis seinem Tode vom Versicherten erbrachten Beitragssumme lediglich die Hälfte und nicht wie beantragt die volle Summe zurückerstattet wurde und zuvor mindestens für fünf Beitragsjahre Beträge entrichtet worden sein mussten. Immerhin stand die Witwe in diesen Fällen nicht plötzlich völlig mittellos dar. Begründet158 wurde diese Regelung mit der beabsichtigten Linderung der »gerade nach dem Tode des Ernährers in der Regel [bestehenden] größte[n] Noth«,

wobei auch gegen diese Bestimmung Bedenken wegen der Belastung von Vertretern der Regierungen geltend gemacht wurden,159 »die zu übersehen oder zu berechnen man nicht im Stande sei.«

VII.

Zusammenfassung, Ausgangslage 1890

Die Entstehungsgeschichte der ersten Sozialversicherungsgesetze zeigt, dass auf Regelungen zu Hinterbliebenenrenten in der Alters- und Invalidenversicherung bewusst verzichtet wurde, weil man die Kosten scheute, welche eine solche 154 29. 03. 1889–11. 05. 1889, 47. bis 65. Sitzung des Reichstags. 155 Schr. v. 01. 04. 1889 mit Unterschriften von Ludwig Schmidt (Werkführer der Württ. Metallwarenfabrik Geislingen) G. Haug (Metalldrücker u. Sekr. der Gewerkvereine) Osw. Eberhardt (Metalldrücker u. Vorstand der Gewerkvereine) und Bernhard Müller (Flaschnermeister in der Württ. Metallwarenfabrik), Schreiben befindet sich im Bestand BA R 1501 100968 fol. 4–5 RS, Dokument. Anh. I Nr. 1. 156 § 31 S. 1 Alt. 1 Gesetz, betreffend die Invaliditäts= und Altersversicherung. Für den Fall, dass eine Witwe nicht vorhanden war, stand der Anspruch den hinterlassenden ehelichen Kindern unter fünfzehn Jahren zu. Vaterlosen Kindern stand ein solcher Anspruch auch bei Versterben einer weiblichen versicherten Person zu. 157 Sten. Ber. RT, VII. Leg. Per., 4. Session, Bd. 5, Anl. Nr. 141, Bericht der VI. Kommission v. 19. 03. 1889, S. 942; Antrag Nr. 85, § 17 b. 158 S. 943 des genannten Berichtes. 159 Ebenda.

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Versicherung mit sich brächte. Zudem stellte sich die Frage, von wem diese Kosten zu tragen wären. Ein Vergleich mit europäischen Ländern zeigt, dass sich die Situation ähnlich darstellte.160 Die soziale Notlage von Arbeiterwitwen war messbar. Die Aufnahme einer Hinterbliebenenabsicherung in die Altersversicherung versprach man für die Zukunft, hielt sie aber zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt für undurchführbar. Die Unterschiede von Stadt- und Landbevölkerung machten die Frage nach der Ausgestaltung noch schwieriger. Eine statuserhaltende Wirkung hatte man im Rahmen dieser Diskussion noch nicht im Sinn. Es ging darum, Arbeiterwitwen das Überleben zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund sprachen die unterschiedlichen Lebensumstände von Arbeiter- und Landwitwen161 gegen eine Gleichbehandlung. Verschiedenhohe Lebenshaltungskosten (Wohnung, Nahrungsmittelpreise), Erwerbsmöglichkeiten und die Möglichkeit zur Ernährung aus dem eigenen Garten machten eine einheitliche, reichsweite Hinterbliebenenfürsorge schwierig. Eine für Land- und Industriearbeiter unterschiedliche Regelung widersprach aber dem System der einheitlichen Sozialversicherung für alle Arbeiter. Als Ergebnis konnte sich für eine einheitliche Hinterbliebenenversicherung für alle Arbeiter keine Mehrheit bilden. Die Aufnahme von Hinterbliebenenrenten in die Alters- und Invaliditätsversicherung wollte man im Rahmen des sukzessiven Ausbaus der Sozialgesetzgebung herbeiführen. Berechtigt war die Hoffnung, dass die sich für die unversorgten Witwen dramatisch auswirkende Versorgungslücke zeitnah geschlossen werden würde.

C.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

Der ab 1890 eingeschlagene »Neue Kurs«162 führte bekanntermaßen auch zu erheblichen Änderungen der Rahmenbedingungen für die Sozialpolitik.163 Nachdem Kanzler Leo von Caprivi die Geschäfte des von Kaiser Wilhelm II. 160 Einen Überblick über die Entwicklung der Arbeiterversicherung in den europäischen Staaten gibt Tonio Bödiker. In Schweden wurde ein Gesetzentwurf von 1893, welcher Witwenrenten vorsah, abgelehnt. Weitere Versuche zur Einführung von Witwenrenten gab es nicht. Bödiker, S. 13ff. Zur historischen Entwicklung der Hinterbliebenensicherung in Frankreich, Schweden, Großbritannien und der Schweiz siehe Jaenecke, S. 90ff., 126ff., 151ff. und 175ff. 161 Siehe ausführlich hierzu Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 19ff. 162 Vgl. zum Schlagwort »Neuer Kurs« Halder, S. 97. Über den – auch außenpolitischen – neuen Kurseinschlag siehe Craig, S. 210ff. 163 Von dem »Neuen Kurs« erhoffte sich Wilhelm II., dass sich die innenpolitische Lage nach Bismarcks Ausscheiden wieder beruhigen würde, was nur für kurze Zeit gelang, Berghahn, S. 282f. m.w. N.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

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entlassenen Bismarcks übernahm, wurden die Sozialistengesetze164 fallengelassen, womit sich die Frage nach dem gebotenen Umgang mit Sozialdemokraten stellte.165 Die bisherige Sozialpolitik hatte das Wachstum der Sozialdemokratie nicht verhindern können.166 Andererseits profitierten das gewerbliche Bürgertum und die Landwirtschaft von den bisherigen Sozialversicherungsgesetzen kaum. Man wollte die Sozialpolitik – um diese natürlichen Anhänger der Monarchie nicht zu verlieren – nicht mehr auf die Arbeiter, sondern auf den bürgerlichen und bäuerlichen Mittelstand ausrichten. Die Bekämpfung der Sozialdemokratie sollte durch die »Sammlung der bürgerlichen Kräfte« erfolgen. Um diesen Plan umzusetzen, wurde Posadowsky-Wehner als Nachfolger von Boettichers ins Amt des Staatssekretärs des Innern berufen.167 Nachdem nunmehr Arbeitervereinigungen erlaubt waren, sollte gleichwohl – um dem Zustrom zu den Sozialdemokraten entgegenzuwirken – die Reichsgesetzgebung zum Wohl der Arbeiter fortgesetzt werden, was mit den »Februarerlassen«168 bekundet wurde. Caprivi war offen für eine sachorientierte Zusammenarbeit mit allen Parteien außer der Sozialdemokratie.169 Die Sozialgesetzgebung für Arbeiter wurde mit dem »Neuen Kurs« aber vorerst nicht weiter ausgebaut. Zur Lösung der »Sozialen Frage«170 beschritt man nunmehr ein Feld, 164 Zu den Wirkungen der Sozialistengesetze auf die Sozialdemokratie siehe Mehring 1909, S. 153f. »Am 21. Oktober 1878 wurde das Sozialistengesetz im Reichsanzeiger veröffentlicht, und sofort begann die Niedermetzelung der sozialdemokratischen Blätter, Schriften und Vereine.«, ebenda. 165 Zum Verhältnis Bismarcks zur Sozialdemokratischen Partei und deren Entwicklung nach »ihrem Sieg über Bismarck 1890« siehe Craig, S. 239ff. 166 Hiervon ging der preußische Finanzminister Miquel aus, der den Kurswechsel der staatlichen Sozialpolitik zugunsten des Bürgertums forderte. Die Verfechter der Sozialpolitik für die Arbeiter, nämlich der preußische Handelsminister v. Berlepsch und der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern v. Boetticher mussten aus ihren Ämtern ausscheiden. Siehe hierzu Born, S. 217f. 167 Reichskanzler Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst wollte eigentlich Miquel berufen und Posadowsky-Wehner sollte zum Reichsschatzamt noch das preußische Finanzministerium übernehmen, was Miquel jedoch ablehnte, um seine feste Position als preußischer Finanzminister nicht aufgeben zu müssen. Siehe hierzu Born, S. 217. 168 Vgl. zur Entstehung der ersten kaiserlichen Ausarbeitungen und Bismarcks Widerstand, Sellier, S. 135ff. 169 Halder, S. 97f. 170 Zur Bildung der Arbeiterklasse vgl. Schmoller 1918, S. 36–43; zu den Ursachen und zur Entwicklung hin zur Arbeiterfrage, für welche die Industrialisierung erkannt wird, übersichtlich Sellier, S. 21ff.; vgl. hierzu auch Gladen, S. 4–11. Zeitgenössisch beleuchtet Adler die wachsende Arbeiterbewegung, die er mit der Ungleichheit der Einkommensverteilung begründet. Deutschland habe sich vom Agrarstaat in den 1840ern mit vereinzelter Industrie in Schlesien, Sachsen, Westfalen und der Rheinprovinz hin zu einem Getreide importierenden Land und kolossal gewachsener Industrie entwickelt: »Deutsche Fabrikate nehmen in allen Teilen des Erdballs die Konkurrenz mit den Produkten britischer Arbeit auf und

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welches bisher vernachlässigt worden war. Statt die soziale Absicherung und mittelbar hierdurch die finanzielle Besserstellung der als »Vierte Klasse«171 bezeichneten Arbeiter per Reichsgesetz herbeizuführen, standen die schon seit Jahren maßgeblich auch vom Reichstagsabgeordneten Franz Hitze geforderten Regelungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen172 zur Debatte. Die Beratungen zur Gewerbeordnung, in der die sogenannte Arbeitsschutzgesetzgebung umgesetzt wurde, nahmen in der ersten Legislaturperiode des kurz nach Verkündung der Februarerlasse173 am 20. Februar 1890 neu gewählten Reichstags gleich in seiner ersten Session viel Raum ein.174 Hiervon überlagert wurde es um die Arbeiterversicherungsgesetze, insbesondere um die gescheiterte Einführung von Hinterbliebenenrenten durch das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 indes still. Erwähnung finden die Witwen und Waisen der Arbeiter erst wieder ein halbes Jahrzehnt später.

I.

Dringende Forderungen nach einer Einführung von Hinterbliebenenrenten im Reichstag

Erst ab 1895 wurden Forderungen nach der Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge im Reichstag wieder ausgesprochen. Es blieb bei den bekannten Wortführern, dem Frei-Konservativen Freiherr von Stumm-Halberg und dem Zentrumspolitiker Franz Hitze.

171

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haben die letzteren bereits an vielen Orten verdrängt. Ganze Reihen von Fabrikstädten sind entstanden, in denen rastlos von früh bis spät mit allen Hilfsmitteln der modernen Technik gearbeitet wird.« Adler, S. 295f. Hitze, Die sociale Frage, S. 23f., der die »sociale Frage« 1877 als ständig wiederkehrende beschrieb und vom »Vierten Stand« sprach. Der »Dritte Stand« sei nach Geistlichkeit und Adel das Bürgertum, welches durch Aufblühen von Städten des Mittelalters erwachsen sei und sich in der französischen Revolution 1789 vom Adel befreit habe. So wie der dritte Stand einst vom Adel unterdrückt worden sei, unterdrücke er jetzt den vierten Stand. Zur Gesellschaftsgruppe des dritten Standes zählte man Mittelstand, Landwirtschaft, Gewerbe, Beamtenschaft und die Kapitalisten. Zum vierten Stand zählten die Besitzlosen, welche zu ihrem Fortkommen nur ihre persönliche Arbeitskraft hatten. Zwischen 1870 bis 1913 stieg die Gesamtproduktion der Industrie auf das 5fache, wobei die Anzahl der Kleinbetriebe sank und sich Großunternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten bildeten, Bruch/Hofmeister, S. 98. Die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung im Deutschen Reich bis zum Erlass der Gewerbeordnungsnovelle vom 01. 06. 1891 wird ausführlich dargestellt von Sellier, S. 60ff., der einen deutlichen Focus auf christliche Agitatoren und die Zentrumspartei richtet. Die beiden von Hans Hermann von Berlepsch entwickelten Februarerlasse waren an den Reichskanzler Leo von Caprivi und an ihn selbst als preußischen Handelsminister gerichtet. Vgl. hierzu Quellensammlung GDS, Abt. II, 3. Bd., S. 20ff.; Bruch/Hofmeister, S. 203ff. Zum Gesetzgebungsprogramm nach dem Februarerlass Wilhelms II. vgl. von Bruch/Hofmeister, S. 204. Zur Arbeiterschutzgesetzgebung im Handwerksbereich siehe Teuteberg, S. 58f.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

1.

53

Fortgesetzter Einsatz des Eisenindustriellen Stumm-Halberg für eine Hinterbliebenenfürsorge der Industriearbeiter

Ohne sachnahen Anlass nutzte Freiherr Stumm-Halberg als einziger Reichstagsabgeordneter bereits im Januar 1895 die Gelegenheit der Beratung über einen Antrag Hitzes zur besseren Umsetzung der Vorschriften des Arbeiterschutzes zur wiederholten Frage nach der Hinterbliebenenfürsorge. Noch einmal hob er hervor, wie wichtig es ihm sei,175 »der Invalidenversicherung die Fürsorge für die Wittwen und Waisen hinzuzufügen.«

Er beklagte aber die einheitlichen Regelungen für die Berufsgruppen aus Landwirtschaft, Handwerk und Industrie. Die Hinterbliebenenfürsorge sollte nämlich nach seiner Vorstellung ausschließlich für die Fabrikindustrie gelten. Höhere Rentenversicherungsbeiträge, welche zur Finanzierung zu erbringen sein würden, wollte er Handwerk und Landwirtschaft nicht aufbürden. Die Berufsstände des Handwerks und der Landwirtschaft sollten nämlich seiner »Ansicht nach nicht noch mehr belastet werden, sondern sie sollten entlastet werden.«176 Im Gegensatz zu Landwirtschaft und Handwerk stellte sich dies anders für seinen Geschäftsbereich dar. Der Großindustrielle und als solcher auch »König der Saar« genannte Oligarch war der Ansicht, nur die Industrie wäre Beitragserhöhen zu tragen imstande. Im Reichstag stellte er ein Jahr später klar,177 dass er »unter keinen Umständen die Hand bieten werde, auch nicht für die Wittwen und Waisen, diese beiden Berufsstände [gemeint sind die Landwirtschaft und das Handwerk] noch stärker zu belasten, als sie das schon sind.«

Sehr zweifelhaft ist, ob auch kleinere Arbeitgeber aus der Industrie der Meinung waren, durchaus höhere Beiträge und mithin höhere Löhne zahlen zu können. Freiherr von Stumm-Halberg sah in den Knappschaften des Bergbaus das Vorbild für die Organisation der Hinterbliebenenfürsorge für Industriearbeiter und setzte sich in Reichstagsreden leidenschaftlich für deren Einführung ein.

175 Verh. d. RT v. 15. 1. 1895, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 346. 176 Ebenda, S. 346, »Ich halte das [gemeint ist das Hinzufügen der Fürsorge für die Wittwen und Waisen zur Invalidenversicherung] fast für wichtiger als die Invalidenversicherung selbst.« 177 Verh. d. RTv. 25. 01. 1896, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 562, er sprach sich für die Trennung der Industrie von den übrigen Berufszweigen aus.

54 2.

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Forderung von Witwen- und Waisenrenten als wichtigste Leistung der Rentenversicherung überhaupt

Zur Begründung seiner Interpellation,178 in der er nach der Umsetzung der in den Februarerlassen in Aussicht gestellten Einführung von Interessenvertretern der Arbeiter fragte, forderte der Zentrumspolitiker Franz Hitze u. a.,179 »daß auch die Wittwen und Waisen der Arbeiter versorgt werden. Solange wir dies gesetzlich nicht thun, müssen wir um so mehr ermöglichen, daß die Arbeiter selbst solche Wittwen= und Waisenkassen, wenigstens die Fürsorge durch Sterbekassen sich schaffen.«

Die Einrichtung solcher Kassen stellte eine Alternative zur Einbeziehung der Hinterbliebenenfürsorge in die staatliche Zwangsversicherung dar. Diskutiert wurde sie im Reichstag jedoch nicht. Zwei Wochen nach Hitzes Interpellationsbegründung wurde im Reichstag der Reichhaushalts-Etat (und hier diejenige zum Kapitel »Reichs=Versicherungsamt«180) debattiert. Dieser Anlass wurde von einigen Reichstagsabgeordneten genutzt, Anträge zum Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung zu stellen181. Als diese diskutiert wurden, sprachen sich die Antragsteller auch für die Einbeziehung der Hinterbliebenenrenten aus. Als wichtigste Leistung aus der heutigen Rentenversicherung überhaupt sah auch Franz Hitze im Anschluss an Stumm-Halberg die Hinterbliebenenfürsorge an. Wie Stumm-Halberg sah allerdings auch Hitze ein Problem darin,182 dass »alle möglichen Berufsgruppen in denselben Anstalten vereinigt [seien und es so nicht möglich sei] zu individualisiren und die Organisation dem einzelnen Beruf anzupassen«.

178 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 3. Session, Bd. 4, Anl. Nr. 121, Interpellation Dr. Hitze und Dr. Lieber (Montabaur) v. 31. 01. 1895. 179 Verh. d. RT v. 06. 02. 1895, Franz Hitze, S. 691. 180 Kapitel 13 a, vgl. Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 3. Session, Bd. 4, Anl. Nr. 133, Mündlicher Bericht der Kommission für den Reichshaushalts-Etat überwiesene Teile des Etats für das Reichsamt des Innern für das Etatjahr 1895/96 – Anlage IV –. 181 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 3. Session, Bd. 4, hier Anl. Nr. 144, Antrag der Sozialdemokraten v. 12. 02. 1895 (die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage noch in dieser Session den Entwurf eines Gesetzes zugehen zu lassen, wodurch u. a. die Anforderungen zum Vorliegen der Invalidität gesenkt werden). Anl. Nr. 157, der am 19. 02. 1895 vom Reichstag angenommene Antrag einiger Zentrumsabgeordneten, u. a. Franz Hitze, v. 17. 02. 1895 (unter Ablehnung des Antrags Nr. 144 die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Vorlage der in Aussicht gestellten Novelle zur Abänderung des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts= und Altersversicherung, möglichst zu beschleunigen). 182 Verh. d. RT v. 18. 02. 1895, Franz Hitze, S. 953.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

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Bei der von ihm befürworteten berufsgenossenschaftlichen Organisation183 hätte im Falle einer Einigung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Beitragserhöhungen »die Fürsorge weiter ausgedehnt werden können, sie hätten z. B. auch die Waisen= und Wittwenfürsorge wohl bald aufnehmen können, kurz und gut, jede Berufsgruppe hätte sich ihren besonderen Verhältnissen entsprechend einrichten können.«

Im Ergebnis sprach sich Franz Hitze klar für die »Wittwen= und Waisenversicherung« aus, da der »Nothbehelf, daß den Wittwen und Hinterbliebenen die von den Versicherten bezahlten Beiträge zurückerstattet werden« nicht das leiste, »was bezweckt wird«. Er stellte die Frage,184 »ob die heutigen Beiträge nicht vielleicht schon die Einbeziehung der Wittwen= und Waisenversicherung ermöglichen«.

Auf die u. a. auf »Einbeziehung der Wittwen= und Waisen=Fürsorge« gerichtete und schließlich vom Reichstag angenommene Resolution des Zentrums, von Franz »Hitze und Genossen«,185 folgten zahlreiche Unterstützungen im Reichstag. Für eine Ausdehnung, die indes bei Beibehaltung der Reservefonds, also des Kapitaldeckungsverfahrens möglich sei, kam für den Nationalliberalen Enneccerus186 »in erster Linie die Einführung einer Wittwen= und Waisenversicherung und zwar im Anschluß an die Alters= und Invaliditätsversicherung [in Betracht und er glaubte], daß wir [gemeint ist der Reichstag] ohne erhebliche Beitragssteigerung mit der Wittwen= und Waisenversorung in nicht allzu ferner Zeit vorgehen können.«

183 Ebenda. 184 Verh. d. RTv. 18. 02. 1895, Franz Hitze, S. 955. Als weiteres, moralisches Argument gegen die Beitragsrückerstattung beschrieb Hitze, wie diese »einer niedrigen Spekulation Vorschub« leisten könne: »Wenn z. B. der Mann krank, schwindsüchtig ist, dann wird die Frau sich vielleicht vergegenwärtigen: wird der Mann noch so lange leben oder so lange? Lebt er voraussichtlich nur kurze Zeit, so wird sie nicht um Invalidenrente für ihren Mann einkommen, sondern auf die Rückzahlung der Beiträge spekulieren. Wird aber der Mann längere Zeit krank bleiben, dann wird sie besser stehen, wenn sie auf die Gewährung der Invalidenrente drängt. Das ist höchst peinlich, setzt vielen Aerger ab in den betreffenden Kreisen, kann sogar mißbraucht werden in einer Weise, die wirklich nicht schön ist.« 185 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 10, hier Anl. Nr. 100, Resolution Dr. Hitze und Genossen v. 23. 01. 1896, »die verbündeten Regierungen zu ersuchen, bei der in Aussicht gestellten höchst dinglichen Revision des Invaliditätsgesetzes in besondere Erwägung darüber einzutreten: inwieweit innerhalb der bestehenden Beiträge resp. bei Einstellung weiterer Ansammlungen zu den Reservefonds (…) eine Einbeziehung der Wittwen= und Waisen=Fürsorge möglich und zweckmäßig ist.« 186 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Ludwig Enneccerus, S. 580. Enneccerus war Geheimer Justizrat und Professor der Rechte in Marburg, Kalkoff, S. 71.

56

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Einen neuen Aspekt für die Versorgung der Witwen und Waisen, welchen er ebenfalls für wichtig hielt,187 brachte der konservative Graf von Roon ein, indem er beklagte, dass die in der Hausindustrie beschäftigten Arbeiter, die sog. Privatarbeiter, nicht zum versicherten Personenkreis gehörten.188 Hierunter litten gerade »auch die Wittwen, welche nicht Arbeiterinnen gewesen sind, weil sie häuslich beschäftigt waren und nach dem Tode ihres Ernährers ohne alle Hilfe sind.«

Hitze selbst begründete seinen gegen einen Antrag der Sozialdemokraten189 gerichteten Vorschlag u. a. damit, dass die »Einbeziehung der Wittwen= und Waisenverorgung« seines Erachtens dringlicher als die Herabsetzung des Lebensalters sei. Er ging dabei von Kosten in Höhe von »60 Mark jährlich für die Wittwe« aus.190 Gegen den Antrag der Sozialdemokraten, das Rentenalter herabzusetzen, führte er das Gefühl der Arbeiter an, welches er wie folgt beschrieb:191 »Wenn mir die Sorge für Frau und Kinder abgenommen wird für den Fall, daß ich vorzeitig sterbe, will ich gern ein großes Opfer bringen.«

3.

Votum der Sozialdemokraten für die Herabsetzung des Rentenalters

Die sich als eigentliche Interessenvertreter der Arbeiter bezeichnenden Sozialdemokraten standen einer solchen Erweiterung des Leistungspaketes der Rentenversicherung keineswegs entgegen. Sie hielten die Versicherungsleistungen im Verhältnis zu den Beiträgen ohnehin für viel zu gering. Indes konzentrierten sie sich – auch in ihren Anträgen zur Beschlussfassung über entsprechende Resolutionen – im Wesentlichen auf die Herabsetzung des Renteneintrittsalters von 70 auf 60 Jahre. Zudem plädierten sie auch für einen weiteren Begriff der Invalidität als Rentenanspruchsvoraussetzung. Abgeordneter Kühn verteidigte den entsprechenden Antrag,192 machte aber ebenfalls deutlich, dass seine Genossen natürlich »absolut nichts gegen« die Einbeziehung der Witwen und 187 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Graf von Roon, S. 582. 188 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Graf von Roon, S. 581. 189 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 10, hier Anl. Nr. 99, Resolution Auer und Genossen v. 22. 01. 1896. 190 Verh. d. RT v. 25. 01. 1896, Franz Hitze, S. 559, bei 60 Mark jährlich pro Witwe errechnete er für die Jahre 1897 bis 1900 die Gesamtsumme von 349 Millionen Mark und stellte dieser die Kosten für die Herabsetzung des Lebensalters gegenüber, nämlich bei Herabsetzung auf 65 Lebensjahre 389 Millionen Mark, auf 60 Lebensjahre »gar 755 Millionen Mark, also mehr resp. das Doppelte als die ganze Wittwen= und Waisenversorgung.« 191 Ebenda. 192 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 10, hier Anl. Nr. 99, Resolution Auer und Genossen v. 22. 01. 1896.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

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Waisen in die Rentenversicherung hätten. Ein solcher Ausbau sei aber vorzunehmen, ohne die Beiträge zu erhöhen.193 4.

Frage der Finanzierung als Hauptargument

Natürlich führte die Frage nach dem Ausbau der Leistungen des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung auch und im Wesentlichen zur Kostenfrage. Vielfach wurde unterstellt oder zumindest gefragt, dass bzw. ob die derzeitigen Beiträge bereits ausreichten, um auch die Leistungen zur Hinterbliebenenfürsorge zu erbringen. Hitze argumentierte – wie im Übrigen auch die Sozialdemokraten an anderer Stelle – gegen das für die gesamte Invaliditäts- und Altersversicherung geregelte Kapitaldeckungsverfahren. Das von ihm präferierte Umlageverfahren würde es bereits bei den bestehenden Leistungen ermöglicht haben, die Leistungen zur Hinterbliebenenfürsorge von Anfang an zu erbringen. Je mehr Zeit verging, desto dringender wurden die Anfragen, ob nicht auch im bestehenden System Überschüsse vorhanden seien, die für die Zahlung von Witwen- und Waisenrenten ausreichen würden. Spätestens Hochrechnungen von 1896 wiesen nach, dass dies tatsächlich der Fall war. Es entsprach dem parteiübergreifenden Willen der breiten Mehrheit im Reichstag, diese Überschüsse zur Einführung von Leistungen zur Hinterbliebenenfürsorge in das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung einzuführen. Als 1896 über den Reichsetat und in diesem Zusammenhang erneut über den Reichszuschuss zur Invaliditäts- und Altersversicherung diskutiert wurde, schienen die Umstände zur Einführung der Hinterbliebenenrenten für Arbeiter günstig zu sein. Der Reichszuschuss war erneut gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Ausgaben für Invalidenrenten blieben aber, wie Enneccerus feststellte194 »nicht bloß jetzt, sondern auch dauernd sehr erheblich hinter den früheren Anschlägen [zurück, so dass] sehr erhebliche Mittel frei [würden, die zur Senkung der Anspruchsvoraussetzungen für Invalidenrente oder, was er] persönlich noch höher schätze [zur] Einführung einer Wittwen= und Waisenversorgung der Arbeiter«

eingesetzt werden könnten. Für die nationalliberale Fraktion hielt Abgeordneter Hofmann nur knapp fest, 193 Verh. d. RT v. 25. 01. 1896, August Kühn, S. 571, plädierte für die Einführung eines Reichszuschusses, ohne diesen bereits so zu benennen. Er brachte ins Bewusstsein, »daß der Durchschnittsbetrag der Rente in der That noch nicht 35 Pfennig pro Tag beträgt«. Provozierend fragte er nach der Menschenwürde, wenn gleichzeitig »mancher unserer Edelsten und Besten es als schwerste Beleidigung empfinden [würde], wenn man ihm zumuthete, daß einer seiner Stuben= oder Jagdhunde mit einigen 30 Pfennigen pro Tag unterhalten werden sollte«. 194 Verh. d. RT v. 10. 12. 1895, Ludwig Enneccerus, S. 44, bereits in der ersten Beratung betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Etatjahr 1896/ 1897.

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dass »- die Mittel natürlich vorausgesetzt – eine Einbeziehung der Wittwen= und Waisenfürsorge herbeizuführen« sei.195 Dass die derzeitigen Beitragseinnahmen dazu genügen würden, »eine einigermaßen brauchbare Wittwen= und Waisenversorgung einzuführen« seien nach Ansicht des nationalliberalen Abgeordneten Enneccerus »sehr, sehr zweifelhaft«, aber wenn sie genügen würden und wenn »die verbessernde Hand« angelegt würde, dann hielt er es für richtig, ihre Einführung »zu allererst in den Vordergrund« stellen zu sollen, zumal seine Partei »von jeher außerordentlich hohen Werth auf die Wittwen= und Waisenversorgung« gelegt habe.196 Die deutsch-konservative Fraktion lehnte Beitragserhöhen ab. Diese würde »die gegenwärtige Lage der Landwirthschaft, namentlich des kleinen Grundbesitzes« nicht erlauben, so der deutsch-konservative Landschaftsdirektor von Staudy. Weil aber die derzeitigen Beträge für eine »Reliktenversorgung« nicht ausreichten, müssten zunächst die erforderlichen Mittel »flüssig gemacht werden«, so von Staudy weiter.197 Die Gelegenheit abzuwarten, »die verbessernde Hand« anlegen zu können, bedeutete nichts anderes, als dem Reichsamt des Innern die Vorarbeiten zur Korrektur des Gesetzes zu überlassen. Als nächsten Schritt hatten die verbündeten Regierungen die vom Reichsamt des Innern vorbereiteten Grundlagen zu beraten, bevor sie dem Reichstag einen Entwurf vorlegen konnten.

II.

Die ablehnende Haltung des Staatssekretärs des Innern von Boetticher

Die entscheidende Initiative für den Erlass u. a. von Gesetzen aus dem Bereich der Sozialversicherung ging von den Staatsministerien aus. Die Akten »betreffend die reichsgesetzliche Regelung der Wittwen= und Waisenfürsorge« führte das Reichsministerium des Innern in der Abteilung II, Sozialpolitik.198 Erst wenn hier die erforderlichen Vorarbeiten, nämlich das Entwerfen einer – üblicherweise mit einer Denkschrift begleiteten – Gesetzesvorlage, abgeschlossen waren, konnte der Bundesrat über einen den Reichstag vorzulegenden Entwurf beschließen. Diesem Gesetzgebungsverfahren entsprach auch der ausdrückliche Appell vom Staatssekretär des Innern von Boetticher, jetzt keine Anträge bezüglich Detailfragen zu stellen, sondern auf die »sorgfältig vorbereiteten und gut

195 Verh. d. RTv. 25. 01. 1896, Heinrich Christian Wilhelm Hofmann, S. 560; Schreibweise in den Protokollen des Reichstages: »Hofmann (Dillenburg)«. 196 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Ludwig Enneccerus, S. 955. 197 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Ludwig von Staudy, S. 577. 198 BA R 1501 100969 und 100970.

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fundirten« Vorschläge zu warten,199 auf die er freilich selbst den maßgeblichen Einfluss ausübte. Von Boetticher war zuständig für die Vermittlung zwischen Reichstag und die den Bundesrat bildenden verbündeten Regierungen. Er leitete die an den Bundesrat gerichteten Ersuche des Reichstags an diesen weiter. Die Reformierung der Sozialversicherung ging von ihm aus. Hierzu legte er schon unter seiner Leitung vorbereitete Denkschriften dem Bundesrat vor und hatte bei dessen Beschlussfassung auch die Aufgabe, die beschlossenen Gesetzesentwürfe dem Reichstag vorzulegen und vor diesem zu vertreten.

Das Reichsamt des Innern und in Person der Staatssekretär, dessen Leitung es unterstand, stellten so neben Reichstag und Bundesrat ein gewichtiges Machtzentrum im Kaiserreich dar, welches freilich den Weisungen von Kaiser und Reichskanzler unterworfen war. Von Boetticher lehnte die Einbeziehung einer Hinterbliebenenfürsorge in das Leistungspaket der Rentenversicherung tendenziell ab, wie seinen Äußerungen 199 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 972.

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im Reichstag zu entnehmen ist.200 Die befürwortenden, im Reichstag immer lauter werdenden Stimmen versuchte er zu beruhigen, indem er auf die fortlaufenden Reformbemühungen im Reichsamt des Innern und im Bundesrat verwies. Für die Invaliditäts- und Altersversicherung konkretisierte er im Februar 1895,201 die Verwaltung habe »die Vorarbeiten für eine Korrektur des Gesetzes eingeleitet [und ergänzte zum aktuellen Stand, es läge] bereits eine Denkschrift vor, und ich hoffe, daß im nächsten Jahr auch der Reichstag sich mit dieser Korrektur beschäftigen wird.«

Auf die erneute Thematisierung der Rentenreform ein Jahr später, wieder anlässlich der Debatte über den Reichshaushaltsetat, reagiert er, indem er den Verfahrensstand mitteilt, nämlich dass die verbündeten Regierungen u. a. die Einbeziehung der Witwen- und Waisenversicherung fortgesetzt in Erwägung ziehen und daher »nicht mehr aufgefordert zu werden nöthig haben.«202 Hauptgrund gegen die Einbeziehungen von Renten an Hinterbliebene in die Rentenversicherung dürfte die unsichere Finanzierung gewesen sein. Zu Beitragserhöhungen hätten sich die verbündeten Regierungen – selbst wenn von Boetticher sich hierfür im Bundesrat stark gemacht hätte – kaum bereit erklärt, und auch im Reichstag wäre es unwahrscheinlich gewesen, eine Mehrheit hierfür zu gewinnen. Der vorgegebene Finanzrahmen hätte zwar, wie er auch selber einräumt, vielleicht ausreichen können, um auch diese Leistungen zu gewähren. Jedoch schienen die Prognosen bezüglich der Kosten einer Witwen- und Waisenversicherung zu unsicher, weil bereits die zugrunde liegenden Zahlen als ungewiss, darüber hinaus aber auch die Berechnungsmethoden als unzuverlässig galten. Das Risiko, am Ende einen Fehlbetrag in der Rentenversicherung zu erzeugen, schien daher zu groß. Es ist belegt, dass von Boetticher sich 1895 über die finanziellen Rahmenbedingungen einer reichsgesetzlichen Regelung der Witwen- und Waisenfürsorge informierte, indem er sich ein versicherungstechnisches Gutachten über die »Brandenburgische Wittwen- und WaisenVersorgungsanstalt« besorgte203. In diesem Gutachten warnte ein Versicherungsmathematiker davor, von falschen Annahmen auszugehen, was ein oft

200 So im Erg. auch Freiherr von Stumm-Halberg 1897 im Rückblick: »Es ist keine Frage, daß auch bei der Regierung noch erhebliche Bedenken obwalten gegen die Einführung der Wittwen= und Waisenversorgung, wie ich sie mit meinen Freunden schon im Jahre 1869 verlangt hatte.«, Verh. d. RT v. 26. 01. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 4315. 201 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 971. 202 Verh. d. RT v. 25. 01. 1896, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 560. 203 Anschreiben von Dr. Schmerler, Versicherungs-Mathematiker an »Herrn Staatssekretär des Innern Dr. von Boetticher« v. 07. 05. 1895, BA R 1501 100974 fol. 3. Per Verfügung v. 21. 05. 1895 leitet dieser es weiter an das Reichsversicherungsamt, BA R 1501 100974 fol. 12.

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gemachter Fehler sei204. Er widerlegte die Berechnung eines Kollegen, welcher zuvor zum Ergebnis kam, dass ein Beitragssatz von drei Prozent des Einkommens zur Gewährung von Witwen- und Waisengeldern, wie sie den Reichs- und preußischen Staatsbeamten zustehen, ausreichen könnte.205 Von Boetticher ging deshalb den sicheren Weg, weiter Kapital anzusammeln und sich nicht für die Einführung einer staatlichen Hinterbliebenenfürsorge stark zu machen. Erst am Ende einer Debatte zum Reichshaushaltsetat, in der die Frage nach der Aufnahme von Renten an Hinterbliebene tiefgehender diskutiert wurde als es ihm recht war, beantwortete er die Frage, ob die bisherigen Überschüsse bereits zur Auszahlung von Hinterbliebenenrenten ausreichen würden, und zwar positiv unter Benennung der entsprechenden Zahlen.206 Für die Zukunft würde aber,207 »um die Wittwen= und Waisenversicherung weiter durchführen zu können, eine nicht unerhebliche Erhöhung der Beiträge ganz unerläßlich sein.«

Erneut schloss er ab mit der Aussicht auf die Reform des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung und erklärte,208 dass »in der Denkschrift resp. in der Begründung, die der Gesetzesvorlage beigegeben wird, auch dieser Punkt eine ausreichende Würdigung finden [werde].«

Hierin wurde eine Verzögerungstaktik gesehen und offen beklagt. Der Abgeordnete Grillenberger unterstellte, aus den gegenwärtigen Beiträgen könne man »auch noch die Wittwen= und Waisenversicherungen« bestreiten209 und wirft von Boetticher die beabsichtigte »Stagnation der Sozialgesetzgebung« vor, da man befürchte, weiteres »Wasser auf die Mühle der Sozialdemokratie zu leiten.«210 Tatsächlich legte von Boetticher dem Reichstag eine Denkschrift und einen Gesetzesentwurf erst Ende Februar 1897 vor. Der Ausbau von Leistungen an Hinterbliebene findet allerdings in beiden Vorlagen keine Erwähnung.211 Wegen 204 Versicherungstechnisches Gutachten über die Brandenburgische Wittwen- und WaisenVersorgungsanstalt, S. 1f., BA R 1501 100974 fol. 4. 205 Ebenda, S. 7ff., BA R 1501 100974 fol. 7ff. 206 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 585. Verfügbar seien für die 4 Jahre 1897–1900 Beiträge i. H. v. 433 Mio. Mark. Die Rentenzahlung für diesen Zeitraum i. H . v. 60 Mark an jede Witwe und 36 Mark an jede vaterlose Waise ergäben 236 Mio. + 113 Mio., insgesamt 349 Mio. Mark. 207 Ebenda. 208 Ebenda. 209 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Karl Grillenberger, S. 979, unter Berufung auf Meinungen Angehöriger des Nautischen Vereines. 210 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Karl Grillenberger, S. 975. 211 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 14, Anl. Nr. 696, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes und Anl. Zu Nr. 696, Denkschrift, betreffend die finanzielle Entwicklung

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des bis zu den Neuwahlen im Juni 1898 verbleibenden zu kurzen Zeitraumes fand sich im Reichstag keine Mehrheit für die Überweisung der Vorlage in eine Kommission.

III.

Abspaltung der Seefahrt von der allgemeinen Invaliditätsversicherung und Übernahme der Witwen- und Waisenversicherung durch die Seeberufsgenossenschaft 1897

»Zu meiner großen Freude ist der Seeberufsgenossenschaft das Recht gegeben, aus der allgemeinen Invaliditätsversicherung auszuscheiden und die Invaliditätsversicherung neben der Wittwen= und Waisenversicherung zu übernehmen.«

Mit dieser Aussage wurde von Franz Hitze212 in der ersten Beratung zum Entwurf zur Reform der Unfallversicherungsgesetze213 im Januar 1897 nicht nur seine eigene, sondern auch die Stimmung vieler Reichstagsabgeordneter beschrieben.214 Wer in den vorangegangenen Jahren die Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge für Arbeiter gefordert hatte, konnte in dieser Neuregelung einen ersten großen Fortschritt sehen. Freiherr Stumm-Halberg bat darum, auch darauf zu achten, dass nicht solche Beschlüsse gefasst würden, welche der Einführung der »Wittwen= und Waisenversorgung« für alle Arbeiter, wenigstens für alle Industriearbeiter, Hindernisse in den Weg legen würden. Hiermit meinte er die Erhöhung der Rentensätze. Wegen des insgesamt sehr engen finanziellen Rahmens würden sie die Aufnahme von Witwen- und Waisenrenten erschweren.215 Als besonderen Erfolg stellte sich aber die Einführung von Witwen- und

212 213 214

215

der Invaliditäts= und Altersversicherungsanstalten und der zugelassenen besonderen Kasseneinrichtungen. Verh. d. RT v. 25. 01. 1897, Franz Hitze, S. 4300. Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 13, hier Anl. Nr. 570, Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze v. 17. 11. 1896, hierzu Anlage 4., See-Unfallversicherungsgesetz, S. 2516ff. Der nationalliberale Ökonom Hermann Paasche beschrieb für seine Partei »Mit besonderer Freude sehen meine politischen Freunde darauf, daß es hier zum ersten Mal gelungen ist, daß ihr [gemeint ist die Berufsgenossenschaft] weiter die Möglichkeit gegeben ist, auch die Wittwen= und Waisenpensionen diesen berufsgenossenschaftlichen Organen zu übertragen.«, Verh. d. RT v. 26. 01. 1897, S. 4302. Verh. d. RT v. 26. 01. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 4315: Während »den Wittwen und Waisen der Unfallverletzten 60 Prozent des Lohns des Verunglückten« gewährt würde, bekämen »die Wittwen und Waisen der anderen Invaliden gar nichts«. Und 60 Prozent war für von Stumm-Halberg ein bemerkenswerter Betrag, denn mehr sei ihnen auch zu Lebzeiten des Arbeiters nicht zugekommen. Hierzu führte er aus: »Sie werden mir zugeben: mehr als 60 Prozent seines Lohns wird kaum ein Arbeiter für seine Familie ausgeben«.

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Waisenrenten in der Seefahrt für den Reichstagsabgeordneten Kruse216 dar. Bereits 1895 hatte der Nationalliberale für den Bereich der gesamten Fischerei in der Begründung seines u. a. auf Aufnahme der Seefischerei in die Unfallversicherung gerichteten Antrages217 hervorgehoben, dass für die Hinterbliebenen der Verunglückten eine Fürsorge dringend notwendig wäre, da sie »zweifellos eins der allergefährlichsten Gewerbe« sei.218 Für eine besondere Behandlung der Hinterbliebenen von Seefahrern sprach zusätzlich das hohe Risiko, an einer der bei Seefahrern verbreiteten Krankheiten zu sterben. Dieses Risiko entsprach nämlich gerade dem Risiko der übrigen Arbeiter, am Arbeitsplatz durch Unfall zu verunglücken.219 Deren Hinterbliebene waren aus der Unfallversicherung rentenberechtigt. Gleichwohl hing die für Seeleute eingeführte Hinterbliebenenversicherung nicht vom Vorliegen bestimmter Todesursachen ab, so dass sie als ein Modell auch für die übrigen Berufsgruppen dienen konnte.

IV.

Noch keine Hinterbliebenenrenten in der versuchten Reform 1897 vorgesehen

Der dem 9. Reichstag 1897 vorgelegte Entwurf zur Reform des Gesetzes, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung nebst Denkschrift220 mit mathematischen Grundzügen221 enthielt trotz Zusage von Boettichers keine Ausfüh-

216 Kruse war »Sanitätsrath, königlicher Badearzt, zu Norderney«, Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., IV. Session, Bd. 9, Verzeichnis der Mitglieder des Reichstages nach den einzelnen Fraktionen, Fraktion der Nationalliberalen, S. 41. 217 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 3. Session, Bd. 4, Anl. Nr. 145 v 12. 02. 1895. 218 Verh. d. RT v. 19. 02. 1895, Ernst Kruse, S. 959 und ebenda: Es verginge »kein Jahr, daß nicht eine kleine oder größere Anzahl von Fischern verunglückt; und wir, weil keine Fürsorge für die Hinterbliebenen dieser Fischer besteht, betteln gehen müssen, um nur die allernothwendigsten Bedürfnisse für die Hinterbliebenen zu decken.« Den speziellen Bedarf nach einer »Wittwen- und Waisenversicherung« in der Schifffahrt macht der fraktionslose, später freisinnige Richard Roesicke unter Hinweis auf den tragischen Untergang der »Elbe« am 30. 01. 1895 und der hart betroffenen Familien der Verunglückten deutlich, Verh. d. RTv. 19. 02. 1895, S. 982. Roesicke »war einer der eifrigsten und kenntnisreichsten Arbeiten auf sozialpolitischem Gebiet.«, Ernst Francke, Richard Roesicke, in: Soziale Praxis, 12. Jg., Nr. 44, 30. 07. 1903, S. 1155, zitiert nach Tober, S. 223 m.w.N.; zum beruflichen und politischen Werdegangs Roesickes vgl. Strunkeit m. w. N. 219 Diese Argumentation verwendete indes Stumm-Halberg auch für die Industriearbeiter, indem er beschrieb, »daß beispielsweise ein Mann an der Schwindsucht stirbt, weil er durch die Temperaturdifferenz, namentlich im Winter, zwischen der Hitze an einem Ofen und der Eiskälte draußen, zu Schaden kommt«, Verh. d. RTv. 26. 1. 1897, Carl Ferdinand von StummHalberg, S. 4315. 220 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 14, Anl. Nr. 696, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, S. 3462ff. 221 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 14, zu Anl. Nr. 969, Denkschrift betreffend die

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rungen zu Hinterbliebenenrenten.222 Gleichwohl stieß er, auch wenn die Änderungen als noch nicht ausreichend erachtet wurden, im Reichstag auch auf positive Reaktionen, weil die erstrebte Vereinfachung der Sozialversicherung gefördert wurde.223 Zur weiteren Beratung wurde sein Entwurf jedoch nicht angenommen, da man für eine umfassende Reform in der auslaufenden Session zu wenig verbleibende Zeit zu haben glaubte. Deshalb wurde vorgeschlagen, nur einige Punkte aus der Vorlage herauszugreifen.224 Einen Versuch hierzu machte der damals noch fraktionslose Unternehmer Richard Roesicke,225 indem er die isolierte Beratung über ausgewählte Regelungen aus der Vorlage in einem Antrag anregte.226 Doch auch dieser teilweise als unterstützenswert anerkannte Einfall des als Förderer von Arbeitsschutz und Sozialversicherungen bekannten Mit-

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finanzielle Entwicklung der Invaliditäts= und Altersversicherungsanstalten und der zugelassenen besonderen Kasseneinrichtungen, S. 3577ff. Zu den organisatorischen Problemen, welche eine Revision der Alters- und Invalidenversicherung erforderlich machte, und zu deren Lösungsansätzen mit Focus auf die Stellung der liberalen Parteien hierzu Tober, S. 136f. Verh. d. RT v. 28. 04. 1897, Berthold von Ploetz, S. 5625, erkannte für die deutsch-konservative Fraktion, »daß manches Gute darin [gemeint ist die Vorlage] gebracht wird – dem stimmen wir bei, aber stehen auf dem Standpunkt, daß die Abänderungen noch lange nicht ausreichend sind«; Richard Roesicke, S. 5629; Georg Friedrich von Hertling erkannte auch im Namen der Zentrumspartei an »daß der Entwurf der verbündeten Regierungen nach mehrfachen Richtungen hin gute Vorschläge enthält.«, S. 5661. Verh. d. RT v. 29. 04. 1897, Georg Friedrich von Hertling, S. 5661 Er sagte: »in den Kreisen meiner Freunde [gemeint sind die Parteigenossen des Zentrums] ist der Gedanke erwogen worden, ob man nicht mit Rücksicht auf unsere Geschäftslage gewisse Bestimmungen Zusammenfassungen und die Verabschiedung der ganzen Vorlage für spätere Zeiten versparen sollte.« Hermann Molkenbuhr, S. 5657, schlug für die Sozialdemokraten vor, dass »die große Reform ein wenig hinausgeschoben wird«. Gegen die Beratung überhaupt sprach sich für die Reichspartei Karl von Gamp-Massaunen aus, Verh. d. RTv. 28. 4. 1897, S. 5645: »bei der Lage unserer geschäftlichen Verhältnisse [wird] es nicht möglich [sein], zur Verabschiedung dieses Gesetzes zu kommen.« Gamp war seit 1886 Geheimer Oberregierungsrat, vgl. Quellensammlung GDS, II. Abt., Bd. 1, S. 417. Er sah zudem einen Fehler darin, dass »Gesetze viel zu sehr in der Studierstube gemacht [würden], ohne Mitwirkung praktischer Leute« und er erwartete, dass »in der Presse eingehend erörtert und den Betheiligten Gelegenheit gegeben werde, zu der Sache [gemeint zur Reform der Invaliditäts- und Altersversicherung] Stellung zu nehmen.« Gegen eine Verschiebung sprach sich demgegenüber Heinrich Christian Willhelm Hofmann aus, Verh. d. RT v. 29. 4. 1897, S. 5661, weil »das Ganze sehr leicht verzögert wird«. Für eine Verschiebung verbunden mit der Hoffnung, dass »im nächsten Herbst eine bessere Vorlage« gemacht werde, plädierte Freiherr Otto von Manteuffel, Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, S. 5694. Das bereits von seinem Vater betriebene Brauereigewerbe führte Richard Roesicke sehr erfolgreich fort und baute es erheblich aus, indem er weitere Unternehmen aufkaufte. Sein älterer Bruder, der Agrarpolitiker Gustav Roesicke, war ebenfalls Reichstagsabgeordneter, anders als Richard Roesicke aber nicht freisinnig, sondern als Mitglied der Deutsch-konservativen Partei, NDB 21 (2003), S. 739–740. Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 15, Anl. Nr. 776, Antrag Roesicke und Genossen, im Wesentlichen der Fraktion der freisinnigen Vereinigung.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

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begründers des »Vereins für Socialpolitik«227 fand letztlich keinen ausreichenden Zuspruch im Reichstag und wurde nicht zur weiteren Beratung angenommen. Mit der Vorlage und dem Antrag Roesickes wurde im Reichstag auch noch der Antrag des deutsch-konservativen Abgeordneten von Ploetz beraten. Von Kritikern wurde behauptet, sein Antrag sei als Vorschlag des Bundes der Landwirte zu betrachten, den von Ploetz ehemals mitbegründet hatte. Von Ploetz habe einseitig die Interessen der Agrarier berücksichtigt.228 Eine Regelung zu Hinterbliebenenrenten enthielt dieser Antrag nämlich nicht. Es entsprach den Interessen der Landwirte, möglichst geringe Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten. Nicht nur die Interessenvertreter der Agrarier wollten die Invalidenversicherung zu einem großen Teil aus der Erhöhung der Einkommensteuer finanzieren und so die Beitragspflicht in weiten Bereichen aufheben. Auch der freisinnige Abgeordnete Eugen Richter229 lehnte einen entsprechenden Ausbau der Sozialversicherung ab und verwies auf den Fürsorgecharakter von Witwen- und Waisenrenten. Er stellte fest, es sei »unzweifelhaft, daß eine öffentliche Fürsorge für Wittwen und Waisen sich viel mehr begründen läßt als eine Invalidenversicherung«

und fragte rhetorisch:230 »Wie will man es nun ablehnen, daß auch die Wittwen= und Waisenversorgung auf Reichsmittel und auf Mittel der Allgemeinheit übernommen wird?«

Die Hinterbliebenenfürsorge wurde also nicht zwingend als potentielle Leistung der Sozialversicherung gesehen. Vielmehr war auch die Ausgestaltung als Für227 NDB 21 (2003), S. 740; zur Bandbreite des Vereins für Socialpolitik v. Bruch 1980, S. 302ff. 228 Verh. d. RT v. 28. 04. 1897, Richard Roesicke, S. 5631. 229 Richter war als Haushaltspolitiker gegen eine expensive Haushaltspolitik. Als Finanzexperte und Journalist gründete er 1885 die »Freisinnige Zeitung« und »beherrschte« die sich 1893 von der Deutschen Freisinnigen Partei abgespaltete linksliberale Freisinnige Volkspartei. Auch Richter sprach sich für die Beschränkung der Versicherungspflicht auf die Arbeiter der Großindustrie aus und sah es als großen Fehler des Gesetzes betreffend die Alters= und Invaliditätsversicherung an, »daß es eine identische Schablone auf verschiedene Erwerbskreise anwendet, bei denen die Alters= und Invaliditätsverhältnisse durchaus verschieden sind«, Verh. d. RT v. 30. 04. 1895, S. 5681f., und er konkretisierte, dass landwirtschaftliche Arbeiter durchschnittlich älter werden und im Gegensatz zu Industriearbeitern auch noch wenn sie halbinvalid geworden sind in einer »erprießlichen Weise« beschäftigt werden könnten. Vergleiche über ihn als Parlamentarier Klein-Hattingen, S. 421ff. 230 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Eugen Richter, S. 5683. Richter ging so weit, die Hinterbliebenenversicherung für wichtiger als die Invalidenversicherung zu halten, indem er ausführte, »wenn man im Versicherungszwang rationell hätte vorgehen wollen, so wäre es viel richtiger gewesen, an diesem Punkt [gemeint ist die Fürsorge für Witwen und Waisen] anzufangen als bei der Invalidenversicherung.«

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sorgeleistung im heutigen Sinn vorstellbar, was den unterschiedlichen Charakter zu den bis dahin geregelten Sozialversicherungsleistungen deutlich macht. Beide Anträge, sowohl Roesickes als auch von Ploetzes, waren schließlich für den stellvertretenden Bevollmächtigten zum Bundesrat und Direktor im Reichsamt des Innern Erich von Woedtke nicht annehmbar,231 und auch von Boetticher waren beiden Anträge unsympathisch.232 Gleichwohl bat er um die Überweisung in eine Kommission und stellte in Aussicht, »die Berathungen dieser Kommission nach Kräften zu fördern.«233 Weshalb die Vorlage mit keinem Wort auf die Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge einging, begründete er nicht. Die Anträge wurden nicht überwiesen, so dass die Diskussion im Reichstag endete. Dass die Einführung von Hinterbliebenenrenten nach der vom Bundesrat vorgeschlagenen Reform der Alters- und Invalidenversicherung nicht erfolgen sollte, wurde erst am letzten Tag der Beratung bedauert. Es war Stumm-Halberg, der an seine »Hauptforderung , zu einer Versorgung der Wittwen und Waisen zu gelangen«, erinnerte und den »Hauptfehler« der Versicherungsgesetzgebung darin sah,234 »daß wir für alle möglichen Leute gesorgt haben, nur nicht für diejenigen, die es am nöthigsten haben.«

Er behauptete,235 »daß die Wittwen und Waisen die Unterstützung meist noch nöthiger haben als die Arbeiter selbst, und ich könnte das aus meiner Erfahrung beweisen.«

Dann aber ging auch Stumm-Halberg mit keinem Wort auf das dem Reichstag noch Anfang 1896 gegebenen Versprechen von Boettichers ein, »in der Denkschrift resp. in der Begründung, die der Gesetzesvorlage beigegeben wird« werde die Witwen- und Waisenversicherung »eine ausreichende Würdigung finden«.236 Stattdessen brachte Stumm-Halberg ein Dilemma auf den Punkt. »Für die Landwirthschaft und das Handwerk« könne man die Aufnahme von Hinter231 Verh. d. RT v. 28. 04. 1897, Erich von Woedtke, S. 5642. 232 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 5686, der von Ploetzsche Antrag erschüttere den Grundsatz, »daß der Arbeiter selber für die Sicherstellung seiner Zukunft sorgen soll, und daß der Arbeitgeber die Verpflichtung hat, für die Sicherstellung der Zukunft der Arbeiter zu sorgen.« Der Antrag von Roesicke nehme »die Korinthen aus dem Platz« mit der Folge, »daß dann das Andere umso weniger schmackhaft ist«, also nur noch schwer durchzusetzen wäre. 233 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 5685. 234 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 5681. 235 Ebenda. 236 Verh. d. RT v. 28. 01. 1896, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 585.

Kaiser- und Kanzlerwechsel: Der »Neue Kurs«

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bliebenenrenten »wenigstens zur Zeit« nicht bestimmen, da in diesen Bereichen die Mehrbelastungen nicht tragbar seien.237 »Die Industrie würde und müßte dies tragen können«.238 Anders als die Zentrumspolitiker Freiherr von Hertling239 und Hitze240 glaubte Stumm-Halberg jedoch, dass für die Beschränkung des Versicherungszwanges auf den Bereich der Industrie »weder bei den verbündeten Regierungen noch auch hier im Hause noch eine Majorität zu haben sein würde.«241 Mit dieser Einschätzung sollte er Recht behalten. Bereits in der ersten Beratung glaubte Staatssekretär von Boetticher versichern zu können,242 »daß die verbündeten Regierungen zu der Beschränkung auf die Landwirthschaft ihre Zustimmung nicht geben werden«.

Eine aus diesem Dilemma führende Kompromissregelung war nicht ersichtlich. Stumm-Halberg zog den vor diesem Hintergrund zustimmungswürdigen Schluss, dass »es jetzt sehr schwer sein wird, zu einer Versorgung der Wittwen und Waisen zu gelangen«, plädierte aber dafür, die Vorlage zur Beratung in die Kommission zu überweisen.243 Nach der ersten Beratung in drei Sitzungen stimmte die Mehrheit gegen die Überweisung der Vorlage und der Anträge an eine Kommission, womit die Reform zunächst gescheitert war. Eine zweite Beratung fand nicht statt. Unbehandelt blieb daher der Zentrumsantrag, wonach die verbündeten Regierungen aufgefordert werden sollten, eine neue Reformvorlage vorzubereiten, die u. a. auch die Gewährung von Hinterbliebenenrenten berücksichtigen sollte.244 Auch 237 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 5681. 238 Ebenda. 239 Verh. d. RT v. 29. 04. 1897, Georg Friedrich von Hertling, S. 5663. Er stellte den zur zweiten Beratung vom Zentrum vorbereiteten Antrag Nr. 784, Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 15, in Aussicht, zu dessen Diskussion aufgrund des Abbruchs nach der ersten Beratung nicht mehr kam. 240 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Franz Hitze, S. 5689, ohne seinen leidenschaftlichen Einsatz für die Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge an dieser Stelle fortzusetzen. 241 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 5675, freilich unter Hinweis darauf, er habe von Anfang an befürwortet, die ganze Versicherungsgesetzgebung zunächst auf die Industrie zu beschränken. 242 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Karl-Heinrich von Boetticher, S. 5687, und begründete dies mit dem Motiv für die sozialpolitische Gesetzgebung, »dem Arbeiter das drückende Gefühl, der Armenunterstützung anheimzufallen, nehmen zu wollen ihm die Sicherheit geben zu wollen, die er aufgrund eigener Leistungen haben sollte, daß für seine alten Tage gesorgt werden wird.« 243 Verh. d. RT v. 30. 04. 1897, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 5681. 244 Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 15, Anl. Nr. 784, Antrag zur zweiten Beratung eines Invalidenversicherungsgesetzes – Nr. 696 der Drucksachen –, gestellt von Graf v. Hompesch und Genossen, hier Nr. 2 d), außerdem ist die Versicherungspflicht auf Arbeiter in Bergwerken, Fabriken und sonstigen großgewerblichen Betrieben zu beschränken, der Versicherungszwang für die Arbeiter der Land- und Forstwirtschaft, des Handwerks, der

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

wenn dieser Antrag im Reichstag nicht diskutiert wurde, nahm man ihn im Reichsamt des Innern zu den Akten.245 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Einführung von Hinterbliebenenrenten im Reichstag davon abhängig gemacht wurde, dass diese auf Industriearbeiter zu beschränken wäre, damit sich keine Mehrbelastung der Landwirtschaft ergäbe. Einer ungleichen Regelung von Industrie, Landwirtschaft und Handwerk stand jedoch der Bundesrat entgegen. Insgesamt scheute man sich vor den hohen Kosten, welche die Einführung von Hinterbliebenenrenten mit sich bringen würden. Auch wenn die Notwendigkeit einer solchen Versicherungsleistung sowohl für Industriearbeiter also auch für Arbeiter in der Landwirtschaft anerkannt wurde, schien eine baldige Einführung aus diesen Gründen unwahrscheinlich.

D.

Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899

Nachdem der Entwurf zur Reform des Gesetzes betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung 1897 vom Reichstag nicht zur weiteren Beratung angenommen wurde, war eine erneute Vorlage in der 1898 beginnenden Legislaturperiode zu erwarten.246 Die Feder des Reichsamts des Innern führte inzwischen der neue Staatssekretär des Innern, Arthur Graf Posadowsky-Wehner, welcher später mit politischem Geschick die Grundsteine für die Einführung der Hinterbliebenenversicherung 1911 legte. Zunächst aber hatte der Wechsel an der Spitze des Reichsamtes des Innern auf die Einführung von Hinterbliebenenrenten keine fördernde Wirkung. Es blieb im Wesentlichen bei den schon 1897 vorgelegten Regelungen. Gegen das politisch starkgewichtige »Centrum«, mit dem Posadowsky-Wehner während der »Ära Posadowsky« 1897 bis 1907 zusammenarbeitete, war eine beitragsfinanzierte Hinterbliebenenversicherung für landwirtschaftliche Arbeiter nicht denkbar. Auch der nunmehr vorgelegte Entwurf247 enthielt also keine entsprechenden kleingewerblichen Betriebe und für das Gesinde aufzuheben. Bereits in der ersten Beratung argumentierte Freiherr Otto von Manteuffel gegen diesen in Aussicht gestellten Antrag, er sei »nicht nur arbeiterfeindlich, sondern er ist auch ganz direkt der Landwirthschaft feindlich«, worauf ihm ein »sehr richtig« von rechts zugerufen wurde. Die landwirtschaftlichen Arbeiter würden danach »eine Klasse schlechter als die anderen Arbeiter« stehen, diese würden deshalb zur Industrie wechseln und »die Landwirthschaft [würde] ganz zu Gunsten der Industrie« ruiniert werden, Verh. d. RT v. 30. 4. 1897, Otto von Manteuffel, S. 5693. 245 BA R 1501 100968 fol. 94 RS. 246 Vgl. zum Gesetzgebungsprozess 1887 und 1889 Haerendel, S. 49ff. 247 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes (E-IVG).

Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899

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Regelungen. Im Reichstag warb Posadowsky-Wehner für die Vorlage mit den geringen materiellen Verbesserungen wie der Verkürzung von Wartezeiten248 und der Ausdehnung auf den Personenkreis der Privatlehrer249 sowie damit, dass durch die Übertragung bestimmter Aufgaben auf örtliche Rentenstellen250 eine Organisation geschaffen werde, welche »durchsichtiger, einfacher, handlicher« sei.251 Das zentrale Motiv Posadowsky-Wehners wie auch der verbündeten Regierungen für die Vorlage bestand aber darin, einer Fehlentwicklung in den Trägern der Rentenversicherung zu begegnen. Begründete man die beabsichtigte Revision mit »verschiedene[n] in der Praxis hervorgetretene[n] Unzuträglichkeiten«,252 meinte man die finanzielle Lage einiger Versicherungsanstalten, welche zunehmend schwieriger wurde, während in den übrigen Anstalten Überschüsse erwirtschaftet wurden. Obwohl die sozialpolitische Erforderlichkeit offensichtlich war253, enthielt der Entwurf wiederum keine Hinterbliebenenleistungen.

I.

Rote Zahlen in den ostpreußischen Versicherungsanstalten; Ablehnung grundsätzlicher Änderungen

Unterdeckung verzeichnete neben einer bayerischen Versicherungsanstalt besonders die ostpreußische Versicherungsanstalt. Hätten die Überschüsse der Versicherungsanstalten in einigen anderen Ländern ausgereicht, die Leistungen der Hinterbliebenenfürsorge bereits ohne Beitragserhöhung aufzunehmen, stand diese Entwicklung der Aufnahme von Hinterbliebenenrenten in die Invaliditäts- und Altersversicherung massiv entgegen. Ein übergroßer Reformbedarf wurde darin gesehen, die unterschiedliche Kassenlage zu beseitigen, um auch für die Zukunft gleiche Versicherungsleistungen bei gleichen Versicherungsbeiträgen in allen Bundesstaaten und Regionen zu sichern. 248 Für die Leistungen der Alters- und Invalidenrente gemäß § 16 des Entwurfes. Eine auch für Witwen und Witwer vorteilhafte entsprechende Regelung stellte die vorgesehene Verkürzung der Wartezeit für die Beitragserstattungen nach §§ 30 und 31 des Entwurfes von fünf Beitragsjahren auf 200 Wochen dar. Eine solche Regelung sah bereits die Vorlage von 1897 vor, Sten. Ber. RT, IX. Leg. Per., 4. Session, Bd. 14, Anl. Nr. 696, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, S. 3474. 249 § 22 I S. 4 des Entwurfes. Die Versicherungspflicht wurde auf Werkmeister und Techniker, Lehrer und Erzieher, Schiffsführer sowie sonstige Angestellte ausgedehnt, wobei es bei der 2000-Mark-Grenze blieb, § 1 Nrn. 2 u. 3 Invalidenversicherungsgesetz. 250 §§ 51ff. des Entwurfes. 251 Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 811, 813. 252 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, Begründung S. 657. 253 So zusammenfassend Köhler, S. 65.

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Posadowsky-Wehner begründete den von der Vorlage vorgesehenen Vermögensausgleich zwischen den Versicherungsanstalten damit,254 »daß eine Anzahl von Anstalten in absehbarer Zeit ihre Beiträge verdoppeln oder vervierfachen [müssten], während andere Anstalten ihre Beiträge auf ein Minimum ermäßigen oder ganz aufheben [würden]«,

wolle man auf diesen Ausgleich verzichten. Der Vermögensausgleich stelle eine gemeinschaftliche Rückversicherung als Korrelat der allgemeinen Freizügigkeit dar.255 In der von Posadowsky-Wehner vorbereiteten und von den verbündeten Regierungen beschlossenen Vorlage wollte man sich bezüglich des Leistungsausbaus und der Versicherungspflicht auf die »sorgfältige Verbesserung der Einzelbestimmungen« beschränken und rechtfertigte in der Entwurfsbegründung die ablehnende Haltung grundsätzlichen Änderungen damit, dass »Verwirrung und berechtigter Mißmut« in der Bevölkerung »schwerwiegende Folge« sein würden.256 Ausdrücklich erklärte man konkretisierend, dass ein Ausscheiden der Land- und Forstwirtschaft aus der Pflichtversicherung ausgeschlossen sei.257 Ohne ein Wort zur Hinterbliebenenversicherung zu verlieren konnte so ausgeschlossen werden, dass eine große Mehrheit im Reichstag die Annahme des Invalidenversicherungsgesetzes von der gleichzeitigen Einführung einer Regelung über Hinterbliebenenrenten abhängig machte. Für das Zentrum, stärkste Fraktion im Reichstag, waren Hinterbliebenenrenten nämlich nur unter Ausschluss der Landwirtschaft denkbar.258 In Reichstagsdebatten machte Posadowsky-Wehner deutlich, dass Renten an alle Hinterbliebenen derzeit nicht finanzierbar seien, und geschickt versuchte der Direktor im Reichsamt des Innern, Erich von Woedkte, deren Bedeutung herunterzuspielen, indem er die bergrechtlichen Leistungen der Witwen- und Waisenfürsorge neben dem Schulgeld als schöne und anerkennenswerte Wohlfahrtseinrichtung beschrieb.259 Eine dennoch »hervorragend arbeiterfreundliche Tendenz« der Reformbestrebungen wollte man u. a. mit der Erweiterung des pflichtversicherten Personenkreises um Lehrer und Erzieher260 und mit der Verkürzung der Wartezeiten261 zum Ausdruck bringen.262 Auch wenn die neuen Regelungen zur Bei254 Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 815 in seiner Eröffnungsrede zur Vorlage des Entwurfes eines Invalidenversicherungsgesetzes. 255 Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 816. 256 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, Begründung S. 658. 257 Ebenda. 258 Diese Auffassung mündete in eine Reichstagsresolution, vgl. Abschnitt G II, S. 54ff. 259 Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Erich von Woedkte, S. 888. 260 § 22 I S. 4 des Entwurfes. 261 §§ 16, 30 und 31 des Entwurfes.

Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899

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tragserstattung an Hinterbliebene kaum zu einer Verbesserung der Lage der Arbeiterwitwen führten, erhielt diese doch im vorgesehenen § 31 Abs. 2263 eine bemerkenswerte Neuerung. Es wurden Leistungen an hinterbliebene Ehemänner aufgenommen und so der Weg hin auch zu Witwerrenten bereitet. Begründet wurde dieser Leistungsausbau mit der Erkenntnis,264 dass »die Frau wegen Erwerbsunfähigkeit des Ehemanns die Ernährerin der Familie sein kann.«

In einer solchen Lebenslage solle dem Witwer ein Erstattungsanspruch zustehen, denn ein solcher sei ebenso begründet,265 »wie in dem durch Abs. 1 geregelten regelmäßigen Falle, wo der Mann der Versorger der Familie ist«.

Für die Bereitschaft zu dieser Erweiterung wird maßgeblich gewesen sein, dass ihr kaum finanzielle Relevanz zugemessen wurde. Die »Mehrbelastung wird sich voraussichtlich in mäßigen Grenzen halten«,

wird in der Begründung hierzu festgehalten.266

II.

Reaktionen im Reichstag: Politische Anschauungen im Spiegelbild gesellschaftlicher Kritik

Im Reichstag wurde der Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes trotz weiterhin bestehender Versorgungslücke für Witwen und Witwer mit einem durchwachsenen Stimmungsbild angenommen. Darüber, wie der Ausgleich zwischen der ostpreußischen Versicherungsanstalt und den übrigen Versicherungsanstalten stattfinden könnte, gab es »so viel Köpfe auch Sinne«.267 Es hatte jede Fraktion unterschiedliche Vorstellungen. Der vorgesehene Finanzausgleich stieß auf massiven Widerstand in industriellen Kreisen. Von der landwirtschaftlichen Lobby wurde er indes als berechtigt empfunden. Wer im deutschen Reichstag um Wähler in Industriezentren warb, kämpfte daher dafür, dass dem 262 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, Begründung S. 658. 263 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, § 31 II. 264 Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, Begründung S. 710. 265 Ebenda. 266 Ebenda. 267 Verh. d. RT. v. 15. 02. 1899, Friedrich von Payer, S. 865 am dritten von vier Tagen der ersten Beratung rückblickend und zusammenfassend.

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Entwurf »die argraischen Krallen« abgehackt würden. Dies bedeutete einen Einsatz für Regelung, die einen möglichst geringen Finanzfluss zwischen den Versicherungsanstalten mit sich bringen würde. Die dominierenden Interessenvertreter der Landwirte setzten die Einführung der Unterteilung in Gemeinund Sondervermögen der Versicherungsanstalten durch. Für Parteien, die sowohl in städtischen, als auch in ländlichen Gebieten gewählt wurden, war die Gefahr groß, auf beiden Seiten Wähler zu verlieren. Dieser Umstand führte zur Spaltung politischer Grundrichtungen und zu einer taktischen Zurückhaltung. Die Einrichtung örtlicher Rentenstellen konnte indes Interessen sowohl der Landwirtschaft als auch der Industrie bedienen und wurde daher von vielen Seiten als Fortschritt gelobt, zum Teil aber auch kritisiert. Finanzausgleich und Einführung örtlicher Rentenstellen dominierten die Debatte. Die Frage nach der Einführung von Hinterbliebenenrenten konnte den Interessenkonflikt zwischen Industrie und Landwirtschaft nur noch schüren, und wer für alle Seiten wählbar bleiben wollte, äußerte sich diesbezüglich diplomatisch und inhaltsleer. Die 1899 im Reichstag geäußerten Meinungen zur Einführung einer Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter können in drei Grundhaltungen zusammengefasst werden. 1.

»coûte que coûte«: Sofortige Einführung von Hinterbliebenenrenten

Wenn auch nicht ausdrücklich, sprach sich der linksliberale Vizepräsident des Reichstages und Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei, Reinhart Schmidt, doch immerhin im Ergebnis seiner Argumentation dafür aus, dass Hinterbliebenenrenten sofort eingeführt werden sollten. Die Kapitalansammlung der meisten Versicherungsanstalten würde »es ermöglichen, die weitergehende, durchaus nothwendige Versicherung der Wittwen und Waisen einzuführen.«268 Es würde möglich sein, die Versicherung auf die Witwen und Waisen ohne eine wesentliche Beitragserhöhung auszudehnen.269 Nachdem weder aus der Entwurfsbegründung noch aus der Eröffnungsrede Posadowsky-Wehners etwaige Ausführungen zu Hinterbliebenenrenten erfolgt waren, brachte Schmidt das Thema als erster Redner in die Diskussion. Auch wenn sich niemand gänzlich gegen die Einführung von Hinterbliebenenrenten aussprach, hielten doch, neben dem ewigen Kämpfer für die Hinterbliebenenversicherung, Freiherr Stumm-Halberg, nur wenige Abgeordneten deren sofortige Einführung für möglich oder geboten, wenn sie auch alle einen dringenden Bedarf anerkannten.

268 Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Reinhart Schmidt, S. 815; Schreibweise in den Protokollen des Reichstages: »Schmidt (Elberfeld)« . 269 Ebenda.

Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899

73

Die Inkonsequenz dieser Haltungen legte von Stumm-Halberg offen, indem er forderte:270 Wenn »es wahr ist, daß die Wittwen- und Waisenversicherung wichtiger ist als jede andere Form der Versicherung, dann muß auch co0te que co0te dazu übergegangen werden.«

Auch für die Sozialdemokraten stand fest, dass die Witwen- und Waisenversorgung sofort eingeführt werden müsse. Dass die Einführung von Witwen- und Waisenrenten »dringend nothwendig« seien, wurde vom Abgeordneten Wurm damit begründet, dass diese »nach unserer Meinung eine ganze Summe von Elend hinwegschaffen« können würde.271 Man dürfe allerdings nicht ohne Rücksicht auf die Kosten hierzu übergehen und insbesondere nicht die Lasten auf die armen Arbeiter abwälzen.272 Die Löhne würden nämlich hierzu nicht ausreichen, und es würde im besten Falle »wieder eine Bettelsuppe« herauskommen. Die Sozialdemokraten, welche 1889 wegen einer Vielzahl beklagter Mängel, zu denen auch die fehlende Versorgung der Witwen und Waisen zählte, gegen das Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz gestimmt hatten, stellten sich letztlich in Opposition zum vorliegenden Entwurf, indem sie zugleich Reformen der Krankenversicherung verlangten. Ohne diese zeitgleich erfolgende Reform würden sie der Vorlage nicht zustimmen. Auch waren die Sozialdemokraten gegen alle Vorschläge zum Vermögensausgleich der Rentenversicherungsanstalten. Abgeordneter Molkenbuhr sah hierin eine Umverteilung von der Industrie hin zur Landwirtschaft. Nach seinem agitatorisch vorgetragenen Vorwurf, der Entwurf enthalte »argrarische Krallen«, erklärte er für die Sozialdemokratische Fraktion, man werde »gegen das ganze Gesetz stimmen.«273 Letztlich stimmte auch der Abgeordnete Braesicke (Freisinnige Volkspartei) für die sofortige Einführung. Auch für ihn sei die »Ausdehnung der Wohltaten des Gesetzes auf die Wittwen und Waisen viel wichtigter als die Herabsetzung der Altersgrenze [und er wage es, noch weiter zu gehen:] Man möge lieber die [Höhe der] Altersrente herabsetzen«,

um die Witwen- und Waisenversicherung finanzieren zu können.274 270 Verh. d. RT. v. 16. 02. 1899, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 905. Dass die Witwenund Waisenversicherung wichtiger als jede andere Form der Versicherung sei, hoben auch Hitze für das Zentrum und Gamp, wie von Stumm-Halberg Abgeordnete der Reichspartei, hervor. Verh. d. RT. v. 13. 02. 1899, Franz Hitze, S. 828, der diese jedenfalls für dringlicher hielt, als die Herabsetzung des Renteneintrittsalters; Verh. d. RT. v. 14. 02. 1899, Karl von Gamp-Massaunen S. 855, der im landwirtschaftlichen Bereich das im Vergleich zur Altersfürsorge dringendere Bedürfnis nach einer Hinterbliebenenfürsorge sah. 271 Verh. d. RT. v. 15. 02. 1899, Emanuel Wurm, S. 884. Der Chemiker sprach ausdrücklich für alle Sozialdemokraten. 272 Ebenda. 273 Verh. d. RT. v. 13. 02. 1988, Hermann Molkenbuhr, S. 835. 274 Verh. d. RT. v. 16. 02. 1899, Rudolf Braesicke, S. 900. Die Idee zur Kürzung der Altersrente zur

74 2.

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Zentrum: Hinterbliebenenrenten nur für Fabrikarbeiter

Das katholische Zentrum bemühte sich um eine Position, die arbeiterfreundlich erschien, ohne finanzielle Nachteile für Landwirte auszulösen. So wollte auch der Zentrumsabgeordnete Franz Hitze ein »warmes Wort« für die Witwen- und Waisenfürsorge aussprechen und argumentierte damit, dass ihm die »Arbeiter am Herzen« lägen. Außerdem würde die örtliche Armenpflege entlastet werden, was Kommunalpolitiker überzeugen konnte und eine mögliche Steuerentlastung andeutete.275 Aus Gegenkurs zu den Sozialdemokraten ging er mit der Bewertung, die sofortige Einführung sei noch dringlicher als die Herabsetzung der Altersgrenze.276 Zahlenbeispiele, in denen er den Monatsbetrag einer Witwenrente von 60 Mark nannte, sollten belegen, dass diese auch weniger kosten würde.277 Doch stellte er klar, dass dies nur für Fabrikarbeiter, nicht aber für Arbeiter in der Landwirtschaft möglich sei.278 Eine Beschränkung der Versicherungspflicht jenseits der Landwirtschaft hätten aber weder PosadowskyWehner noch die verbündeten Regierungen mitgetragen, wie sich bereits unmissverständlich aus der Begründung zum betreffenden Entwurf ergab,279 so dass im Ergebnis die Stimme Hitzes gegen die sofortige Einführung von Witwenund Waisenrenten sprach. Eine solche Versicherungsleistung konnte auch nicht nur aus Beiträgen finanziert werden, so dass ihre Einführung einen Reichszuschuss erforderlich gemacht hätte. Weil sie gegen die Finanzierung über Reichsmittel waren, stimmten Zentrumsabgeordnete bereits 1889 gegen das Alters- und Invalidenversicherungsgesetz. Jetzt zehn Jahre später werden sich die Meinungen im Zentrum insgesamt ungünstig auf eine zeitnahe Einführung von Hinterbliebenenrenten ausgewirkt haben.

3.

Für die Aufschiebung einer Einführung von Hinterbliebenenrenten

Für die deutschkonservative Fraktion, welche zusammen mit den nationalliberalen Regierungspartnern und Teilen des Zentrums das Alters- und Invaliditäts-

275 276 277 278

279

Finanzierung von Leistungen an Witwen und Waisen wurde vom Reichsamt des Innern markiert, BA R 1501 100968, fol. 114. Verh. d. RT v. 13. 02. 1899, Franz Hitze, S. 827. Ebenda, S. 828. Ebenda. Ebenda. Dass der zwangsversicherte Personenkreis schon bei Einführung der Versicherung gegen Invalidität und Alter nach Zentrumsvorstellungen hätte enger gezogen werden sollen, führte Hitze gleich zu Beginn seiner Rede aus. Das Zentrum sei auch nach wie vor dieser Meinung. Dies gelte gerade auch in Bezug auf die Einbeziehung des Handwerker- und des Kaufmannsstandes, da Handwerksgesellen und junge Kaufmänner die spätere Selbstständigkeit anstrebten, ebenda, S. 824. Vgl. hierzu auch Schulz, S. 24. Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 8, Anl. Nr. 93, Entwurf eines Invalidenversicherungsgesetzes, Begründung S. 658.

Kaum Fortschritt in der großen Rentenreform 1899

75

versicherungsgesetz auf den Weg gebracht hatten, und die ursprünglich eine Gleichbehandlung aller Arbeiter durch Gewährung von »Einheitsrenten« vertreten hatte, war eine Hinterbliebenenversicherung zwar wünschenswert, aber deshalb zurückzustellen, weil sie eine übermäßige Belastung der Arbeiterklasse erfordert hätte.280 Freiherr von Richthofen-Damsdorf hegte nur die Hoffnung, dass deren Einführung ebenso wie auch das Herabsetzen der Altersgrenze in Zukunft möglich sein würde.281 Eine Aussage darüber, welche von beiden Interessen wichtiger sei, machten deutschkonservative Politiker nicht. Für einen Ausschluss landwirtschaftlicher Arbeiter aus der Versicherungspflicht waren sie nicht zu haben: Dieser sei sozialpolitisch unmöglich.282 Damit folgten sie der Auffassung Posadowsky-Wehners und jener der verbündeten Regierungen. 4.

Ergebnis: Hinterbliebenenrenten durch Rentennovelle 1899 in der Diskussion

Die Rentennovelle von 1899 kann man somit als herben Rückschlag für die Befürworter einer Hinterbliebenenversicherung bewerten. Die Hoffnung auf eine solche wurde in weite Ferne gerückt. Dennoch wurde vom Deutschen Reichstag einmal mehr ein deutliches Signal gesetzt: Dem politischen und gesellschaftlichen Willen entsprach eine sofortige Einführung von Hinterbliebenenrenten. Während das Reichsamt des Innern und besonders die verbündeten Regierungen auf zeitlichen Aufschub plädierten, brachten sowohl Freiherr Stumm-Halberg als auch das Zentrum per Resolutionen zum Ausdruck, dass die baldige Einführung als dringlich empfunden wurde. Die Verhandlungen über ihre Anträge wurden indes aus praktischen Gründen auf die nächste Session verschoben. Die Zeit vor der Sommerpause war zu knapp, um sie noch vor Sessionsschluss im Reichstag zu debattieren. Die nationalliberale »Kölnische Zeitung« berichtete hierüber und erklärte, dass der politischen Streit lediglich um die Kostenfrage gehe und hier die europäische Konkurrenzfähigkeit zu beachten sei:283 »Wie hoch belaufen sich die durch die Einführung der Witwen= und Waisenversicherung entstehenden Kosten? [Die Kostenfrage bedürfe] im Interesse der Concurrenzfähigkeit unserer Industrie mit dem Auslande und damit auch im Interesse der einheimischen Arbeiter einer sorgfältigen Prüfung«.

Die Kostenberechnung Posadowsky-Wehners sei grob fehlerhaft, weil die durch die Zahlung von Witwenrenten eingesparten Leistungen, nämlich u. a. die Bei280 281 282 283

Verh. d. RT v. 12. 02. 1899, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 828. Ebenda. Ebenda, S. 829. Kölnische Zeitung vom 26. 07. 1899.

76

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

tragsrückerstattung im Todesfall, welche dann abzuschaffen wäre, als Abzugsposten fehlten. Im Reichsamt des Innern wurde diese Bemerkung im Zeitungsausschnitt deutlich markiert und zu den Akten genommen.284 Ein weiterer, nicht markierter Punkt zur Kostenfrage betraf den Gesamtüberschuss der Invalidenversicherungsanstalten. Am 1. Januar 1900 würde dieser rund 450 Millionen betragen. Diese Summe würde man für die Schaffung einer »doch immerhin beachtenswerte[n] Grundlage« nutzen können, wenn alle Versicherungsanstalten zu einer Reichsanstalt zusammengefasst würden.285 Es sei auffallend,286 »daß das Centrum dieser Nutzbarmachung des Ueberschusses aller Anstalten für die Zwecke der Wittwen= und Waisenversicherung dadurch entgegentritt, daß es einer Individualisirung der Anstalten das Wort redet, indem jede Anstalt befugt sein soll, ihre Ueberschüsse zum Besten ihrer Versicherten auszugeben.«

Die liberal-konservativ ausgerichtete »Berliner Zeitung« widmete sich knapp zwei Monate später ebenfalls der Berechnung der »finanzielle[n] Tragweite einer solchen großen und allgemeinen Maßregel« und stellte fest, dass auch bei der Nutzbarmachung dieses Überschusses noch eine Beitragserhöhung erforderlich sei, um »nur die geringfügige Gabe von 60 Mark« gewähren zu können.287 Es sei »indessen sehr die Frage, ob es angängig wäre, die Wittwen= und Waisenversicherung einfach durch Invaliden=Versicherungs=Zusatzmarken einzuführen«.

Der Artikel schloss mit der Prognose, dass sich der Reichstag von der »ablehnenden Haltung der Regierung nicht davon abhalten lassen [würde], im Herbst den Resolutionen zuzustimmen«.

E.

Reichstagsresolution 1900

Auch wenn mit der Einführung von Hinterbliebenenrenten aus der Alters- und Invalidenversicherung in den nächsten Jahren nicht mehr zu rechnen war, konnte der Deutsche Reichstag doch eine öffentliche Diskussion entfachen, welche den Druck auf Reichsleitung und die verbündeten Regierungen deutlich erhöhte. Jede Partei nahm Stellung. Posadowsky-Wehner, der auch für die verbündeten Regierungen sprach, machte differenziertere Ausführungen als bisher. Zum Teil neue Gesichtspunkte wurden von allen Parteien angeführt. Eugen Richter (Parteivorsitzender der Freisinnigen Volkspartei) sprach sich dafür aus, 284 285 286 287

BA R 1501 100975, fol. 11. Kölnische Zeitung vom 26. 07. 1899. Ebenda. Berliner Zeitung vom 14. 09. 1899.

Reichstagsresolution 1900

77

die Materie an eine Kommission zur Beratung abzugeben.288 Die Diskussion wurde während des wirtschaftlichen Aufschwunges geführt, insbesondere ging es der Industrie sehr gut und die Lebenshaltung war, wie Richard Roesicke erklärte,289 auf die bisherige Sozialversicherung zu einem erheblichen Teil zurückzuführen. Die Landwirtschaft indes klagte über den zunehmenden Arbeiterabzug hin in die Städte. Die Initiative ging wie schon seit 1869 von Freiherr Stumm-Halberg aus, der das Thema schnell wieder auf die Tagesordnung brachte, nachdem die Reform der Rentenversicherung von 1899 keinen Fortschritt für die Hinterbliebenenversicherung bewirkt hatte. Er beantragte im Reichstag den Beschluss folgender Resolution:290 »Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen im Anschluß an die Invalidenversicherung die Wittwen= und Waisenversicherung für die versicherten Personen eingeführt wird.«

Bis auf die konservative Volkspartei stimmten die Parteien der Abgabe einer Resolution zu. Es war wahltaktisch opportun, für die Hinterbliebenenversicherung zu stimmen. Die verbündeten Regierungen zeigten sich durch ihr Sprachrohr Posadowsky-Wehner befremdet von diesem Vorgehen. Sie befürchteten, am Ende den Zorn des Volkes über die weitere Verschleppung auf sich zu ziehen. Auf deutliche Ablehnung auch bei den Parteien stieß indes der Zentrumsantrag. Dieser beschränkte das Begehren nach baldiger Einführung einer Hinterbliebenenversicherung auf den Personenkreis der Fabrikarbeiter. Vorbild hierfür war die Unfallversicherung, die ebenfalls für industrielle Arbeiter früher galt als in der Landwirtschaft. Diese Beschränkung wurde in allen anderen Parteien und auch vom Staatssekretär strikt abgelehnt. Sie sei praktisch und sozial unmöglich. Die nachfolgend dargestellte Debatte wurde im Reichsamt des Innern aufmerksam ausgewertet. Auch wenn die ablehnende Haltung deutlich gemacht wurde, das Signal war gesetzt: Einer Einführung von Hinterbliebenenrenten konnte man sich nicht mehr lange verschließen. Es standen sich die beiden Resolutionen No. 283 von Freiherr v. Stumm-Halberg291 und No. 321 von Dr. Schaedler, Dr. Hitze und Genossen292 gegenüber. 288 289 290 291

Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Eugen Richter, S. 3500. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Richard Roesicke, S. 3499. Siehe Fußnote 204. Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 10, Anl. Nr. 283, »Abänderungs=Anträge zur zweiten Berathung des Entwurfs eines Invalidenversicherungsgesetztes. Freiherr v. Stumm=Halberg. Der Reichstag wolle beschließen: 3. folgende Resolution anzunehmen: Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage einen Gesetzesentwurf vor-

78 I.

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Eröffnungsrede Stumm-Halbergs

Die Witwen- und Waisenversicherung sei »der Schlußstein, die eigentliche Krönung« des Gebäudes der Versicherungsgesetzgebung und vielleicht »das nothwendigste Schlußglied unserer ganzen Wohlfahrtsgesetzgebung.«293 Den Wert dieser Rentenversicherungsleistung konnte Stumm-Halberg wie kein anderer mit warmen Worten beschreiben. Und dies tat er, wie er gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede erklärte, auch »im Namen [s]einer politischen Freunde«.294 Um der Einführung den Weg zu bereiten, gab er im Gegensatz zu den Zentrumspolitikern die Hürde seines vorherigen politischen Standpunktes auf, die Sozialversicherung sei auf Fabrikarbeiter zu beschränken und beugte sich so der Einsicht, dass diese Vorstellung sich gesellschaftlich nicht mehr durchsetzen lassen würde. Die Trennung zwischen Fabrikarbeitern und Arbeitern der Landwirtschaft sei nicht mehr durchführbar, weil man sonst »Arbeiter erster und zweiter Klasse« schaffen würde.295 Hinzu käme die zu befürchtende Verschärfung des Arbeitermangels auf dem Land. Arbeiter würden ohnehin schon »die Neigung haben, in die großen Städte, in die Industriezentren zu strömen«, und durch eine Bevorzugung der Fabrikarbeiter bei der Hinterbliebenenabsicherung würde diese Neigung »noch ganz erheblich vermehrt werden«, worauf im Reichstag laute Zustimmung von der rechten Seite erfolgte.296 Die Idee des Zentrums zur freiwilligen Versicherung stellte für Stumm-Halberg einen »Schlag ins Wasser« dar.297 Für Arbeitnehmer sei die freiwillige Versicherung ungeeignet. Damit die Höhe der erforderlichen Beiträge von den

292

293 294 295

296

297

zulegen, durch welchen im Anschluß an die Invalidenversicherung die Wittwen= und Waisenversicherung für die versicherten Personen eingeführt wird.« vom 10. 05. 1899. Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 1. Session, Bd. 10, Anl. Nr. 321, »Resolution zur zweiten Berathung des Entwurfs eines Invalidenversicherungsgesetzes. Dr. Schaedler. Dr. Hitze und Genossen. Der Reichstag wolle beschließen: die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage thunlichst bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen im Anschluß an die Invalidenversicherung die Wittwen= und Waisenversicherung für die in Fabriken beschäftigten Personen unter entsprechender Erhöhung der Beiträge (Zusatzmarke) eingeführt, und den übrigen Versicherten die Betheiligung im Wege der freiwilligen Versicherung ermöglicht wird.« vom 18. 05. 1899. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 3486. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 3485. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 3488; Kritik für diese Argumentation erfährt Stumm-Halberg hauptsächlich vom Zentrumsabgeordneten Stötzel, der richtig feststellt, dass es unter Hinweis auf die knappschaftliche Sozialversicherung verschiedene Arbeiterklassen im Hinblick auf die Hinterbliebenenabsicherung ohnehin bereits seit langer Zeit gäbe, Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Gerhard Stötzel, S. 3500. Ebenda; Ablehnung dieser Argumentation wiederum von Stötzel: »Ja, meine Herren, ich habe viel Verkehr mit Arbeitern, aber ich habe noch keinen getroffen, für den irgend eine Versicherung ein Grund gewesen wäre, nach den Industrieorten hinzuziehen.«, Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Gerhard Stötzel, S. 3500. Ebenda.

Reichstagsresolution 1900

79

einzelnen Arbeitern und von Arbeitgebern noch geleistet werden könnten, müssten alle gleichmäßig herangezogen werden, »Gesunde und Kranke, Junge und Alte«.298 Die einseitige Heranziehung von Arbeitgebern zur Beitragsleistung würde außerdem für diejenigen Arbeitgeber, welche ihre Arbeiter freiwillig versichern würden, einen doppelten Nachteil bringen. Für die Absicherung der Hinterbliebenen von Arbeitern seines Konkurrenten, welche durch die Armenpflege unterstützt würden, würde er zusätzlich zu den Beiträgen für die eigenen Arbeiter noch Steuern an die Gemeinde zahlen müssen. Diesen doppelten Nachteil könne man »dem ländlichen Arbeitgeber nicht zumuthen.«299 So arbeiterfreundlich Stumm-Halbergs Gesinnung auf den ersten Blick scheinen mag, so erstaunlich ist sein Vorschlag zur Finanzierung. Neben der Beitragserhebung schlug er vor, den für die Witwenversorgung erforderlichen Betrag noch erheblich zu ermäßigen, indem man »einfach auf die Altersversicherung verzichtet«. Er nahm diesbezüglich wie folgt Stellung:300 »Ich für meine Person würde kein Bedenken tragen, um das große Ziel zu erreichen, die Wittwen und Waisen zu versorgen, die Altersversicherung, die ja ganz nützlich, aber gewiß nicht nothwendig ist, fallen zu lassen oder wenigstens auf den Aussterbeetat zu setzen.«

II.

Verteidigung des Resolutionsantrags des Zentrums durch Franz Hitze

Franz Hitze hatte die Aufgabe, den vom Zentrum eingebrachten Resolutionsantrag im Reichstag zu begründen. Zunächst schloss er sich den Ausführungen Stumm-Halbergs an, dass die Witwen- und Waisenversicherung die Krönung der Arbeiterversicherung sei, « von ganzem Herzen ».301 Immerhin galt es, mit dem Zentrumsantrag auch um Arbeiterstimmen zu werben. Als Antwort auf die Finanzierungslösung Stumm-Halbergs, der Abschaffung der Altersrente, fragte Hitze Staatssekretär Posadowsky-Wehner nach vergleichenden Zahlen, hielt aber jedenfalls die Witwen- und Waisenversicherung für viel wichtiger als die Herabsetzung der Altersgrenze.302 Im Übrigen ging auch Hitze von einer beitragsfinanzierten Versicherungsleistung aus. Kosten für Witwen und Waisen der Arbeiter müssten durch den Arbeitslohn gedeckt werden, denn diese seien Produktionskosten der Industrie.303 Nach diesen Ausführungen stellte sich die Frage, warum das Zentrum sich 298 299 300 301 302 303

Ebenda. Ebenda. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, S. 3487. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Franz Hitze, S. 3488. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Franz Hitze, S. 3489. Ebenda.

80

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

weiter für die auf die Industrie beschränkte Einführung einer Hinterbliebenenversicherung einsetzte. Hierzu führte Hitze viele unterschiedliche Gründe an. Als bestimmendes Motiv wurde angegeben, man erhoffe sich von einem solchen Vorgehen eine zeitnähere Vorlage durch die verbündeten Regierungen. Hitze glaubte im Gegensatz zu von Stumm-Halberg nicht,304 »daß die verbündeten Regierungen sich schon bald entschließen werden, nun die ganze Wittwen= und Waisenversicherung einzuführen«,

so dass er durch die Beschränkung auf Fabrikarbeiter auf eine frühere Einführung setzte. Er stützte seine Hoffnung auch mit der für die Industrie derzeit guten Wirtschaftslage.305 Dass dieses Vorgehen schon einmal erfolgreich in der Unfallversicherung umgesetzt wurde, erläutert der nach Hitze für das Zentrum sprechende Gerhard Stötzel. Er war der erste Reichstagsabgeordnete aus der Arbeiterklasse und einziger Arbeiter in der Zentrumsfraktion.306 Stötzel erinnerte daran, dass man sich schon bei Einführung der Invalidenversicherung 1889 im Zentrum zunächst auf Industriearbeiter beschränken wollte und den pflichtversicherten Personenkreis erst sukzessive auf andere Erwerbszweige ausweiten wollte.307 Gegen die Ausdehnung auch auf die Landwirtschaft sprach aus Sicht Hitzes auch der fehlende dringende Bedarf. Während die in der Stadt lebende Witwe ganz auf die Unterstützung anderer, insbesondere auf die Armenpflege angewiesen sei, könne sich die Witwe auf dem Land durch den eigenen Anbau versorgen. Im Übrigen seien die Lebensmittel auf dem Land preiswerter. Zudem sei308 »in der Landwirthschaft das Verhältniß zwischen Arbeitnehmer und =geber, namentlich bei den festen Arbeitsverhältnissen des Ostens, ein wirklich patriarchalisches im guten Sinne des Wortes, ein viel herzlicheres; die Beziehungen der privaten Wohlthätigkeit sind viel innigere.«

Den geringeren Bedarf für Landarbeiter sah auch der fraktionslose Abgeordnete Hahn.309 Er verwies auf eigens durchgeführte, bis ins 16. Jahrhundert zurück304 Ebenda. 305 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Franz Hitze, S. 3489: »Die Industrie kann die höheren Beiträge jedenfalls eher aufbringen – ich sage: sie kann sie recht wohl aufbringen – die industriellen Arbeiter können die Beiträge auch wohl erschwingen; es geht jetzt der Industrie im großen Ganzen gut, die Tendenz der Löhne ist eine steigende«. 306 Bücker, S. 74f.; Hofmann, S. 96. 307 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Gerhard Stötzel, S. 3500. 308 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Franz Hitze, S. 3489; auch Stötzel verweist auf den geringeren Bedarf nach einer Hinterbliebenenversicherung auf dem Land, Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Gerhard Stötzel, S. 3500. 309 Christian Diederich Hahn war zunächst fraktionslos, war dann Hospitant der nationalliberalen Partei, blieb aber bis 1907 fraktionslos. Dann wurde er Mitglied der Deutschkon-

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81

reichende Quellenstudien, bei denen er unterschiedliche wohltätige Einrichtungen zur Fürsorge von Witwen und Waisen gefunden habe,310 »sei es in der Form organisierter Armenhäuser, sei es in der privaten Einrichtung einzelner Besitzer, die die Wittwen und Waisen ihrer Arbeiter nicht umkommen lassen.«

Sein historischer Rückblick mündete dann in der pauschalen Aussage, diese Fürsorge sei »ganz anders ausgebildet als in der Industrie.«311

III.

Posadowsky-Wehner und die deutsch-konservative Partei für die Ablehnung beider Resolutionsanträge

Posadowsky-Wehner sprach sich entschieden gegen die Annahme der Resolutionen aus. Es sei nämlich verfrüht, sich über die Einführung einer ArbeiterHinterbliebenenabsicherung Gedanken zu machen. Daher seien auch beide Anträge eine »plus petitio temporis«.312 Man würde durch beide Resolutionen in der Bevölkerung indes die Erwartung auf baldige Einführung einer Hinterbliebenenversicherung hegen. Das Volk würde, wenn sich die entsprechende Hoffnung nicht erfüllte,313 »das Gefühl haben, daß die Regierung engherzig und sozialpolitisch unrichtig handelt; das ganze Odium würde also unzweifelhaft auf die verbündeten Regierungen fallen [wogegen sich Posadowsky-Wehner] selbstverständlich namens der verbündeten Regierungen [zu] wehren [habe].«

Abgesehen vom Zeitpunkt der Einführung wollte aber auch Posadowsky-Wehner die Hinterbliebenenabsicherung als Versicherungsleistung aus dem Arbeitsverhältnis regeln. Eine Verknüpfung zwischen Arbeitsverhältnis und dem Rechtsanspruch auf Hinterbliebenenrenten deutete er jedenfalls an.314 Er »glaube, es wäre ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, wenn jeder Arbeiter, der seine Kraft aufgerieben hat in der täglichen Arbeit des Lebens, auch aus diesem Leben mit dem Bewußtsein scheiden könnte, daß er für seine Wittwe und seine Kinder einen unbedingten Rechtsanspruch auf angemessene Versorgung erworben habe.«

Weil es sich aus dieser Sicht um eine indirekte Leistung an den Arbeiter handelt, scheint es nur konsequent, wenn Posadowsky-Wehner zunächst die direkten Leistungen, welche an den Arbeiter unmittelbar ausgezahlt werden, umfassend

310 311 312 313 314

servativen Partei. Siehe über ihn Nipperdey, Bd. 2, S. 584. Hahn folgte einer anti-großkapitalistischen und antisemitischen Ideologie. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Christian Diederich Hahn, S. 3503. Ebenda. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 3493. Ebenda, S. 3492. Ebenda, S. 3490.

82

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regeln wollte, bevor Hinterbliebenenrenten eingeführt werden. Er war der Ansicht,315 »so sehr wünschenswerth auch die Wittwen- und Waisenversicherung ist, daß wir zunächst für den Arbeiter selbst zu sorgen haben [obwohl er einsah, dass die Armenpflege] vielfach vollkommen ungenügend ist.«

Die Kosten einer Witwen- und Waisenversorgung wären zu hoch, als dass sie von Landwirtschaft und Industrie derzeit getragen werden könnten, wobei Posadowsky-Wehner von einer Witwenrente in Höhe von 100 Mark, also ungefähr der Hälfte der Invalidenrente, ausging.316 Wie erwartet, schloss der Staatssekretär des Innern die getrennte Behandlung von Industriearbeitern und Arbeitern in der Landwirtschaft kategorisch aus und stellte sich so gegen den Zentrumsantrag. Namens der verbündeten Regierungen könne er erklären,317 »daß wir uns auf eine exzeptionelle Behandlung der landwirthschaftlichen Arbeiter auf dem Gebiete der Versicherungsgesetze in dieser Beziehung unter keinen Umständen einlassen werden«,

wofür er ein »lebhaftes Bravo« erhielt. Begründet wurde diese Haltung mit der Befürchtung, anderenfalls das Streben der Landbevölkerung in die Stadt zu begünstigen.318 Die Unterscheidung zwischen gewerblichen und landwirtschaftlichen Arbeitern sei darüber hinaus praktisch undurchführbar. Sie würde außerdem dem erklärten Ziel entgegenlaufen, die Lage des Arbeiters nach gleichen Grundsätzen zu verbessern. Die deutsch-konservative Partei, für die der Abgeordnete Freiherr von Richthofen-Damsdorf sprach, stimmte den Ausführungen Posadowsky-Wehners voll zu und erinnert daran, dass die »Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte zu erhalten« sei.319 Am Ende sprach sich Richthofen-Damsdorf aber entgegen seiner zuvor vertretenen Auffassung für die Abgabe an eine Kommission aus, weil die Frage »von so unendlicher und weittragender Wichtigkeit« sei, dass sie in einer Kommission erörtert werden müsse. Hierin wisse er sich »der Zustimmung [s]einer politischen Freunde sicher.«320

315 316 317 318 319 320

Ebenda, S. 3491. Ebenda. Ebenda. Siehe hierzu die Kritik des Zentrumsabgeordneten Stötzel, Fußnote 160. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 3493. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 3503.

Reichstagsresolution 1900

IV.

83

Linksliberale Parteien gespalten

Die linksliberalen Politiker, welche seit der Spaltung der Deutsch Freisinnigen Partei von 1893 in den Fraktionen der Freisinnigen Volkspartei und in der rechteren Freisinnigen Vereinigung vertreten waren, distanzierten sich auch in der Beratung der beantragten Resolutionen deutlich voneinander.

1.

Roesicke für Resolution Stumm-Halbergs

Der links-liberale, inzwischen der Freisinnigen Vereinigung angehörende Richard Roesicke unterstützte in seiner Rede Stumm-Halberg, ganz anders als oftmals in der Vergangenheit, wie er betonte.321 Wenn er auch gegen den Versicherungszwang in der Vergangenheit grundsätzlich Bedenken gehabt habe, würden diese Bedenken »nirgends weniger angebracht« sein als bei der Witwenund Waisenversicherung.322 Der getrennten Behandlung von Industrie- und Landarbeitern trat Roesicke wegen der bereits vorher genannten Gründe entgegen.323 Der Beitragsfinanzierung stimmte er zu. Die Industrie sei sehr wohl imstande, diese Beiträge zu leisten. Insbesondere seien keine nachteiligen Auswirkungen auf die internationale Konkurrenzfähigkeit zu befürchten. In seiner Begründung stützte er sich auf eine private Unterhaltung zweier Abgeordneter, welche dem konservativen Lager zugehörten. Roesicke berichtete von einem Gespräch zwischen seinem Bruder, dem deutsch-konservativen Gustav Roesicke, und Stumm-Halberg.324 Stumm-Halberg habe diesem gegenüber ausgeführt, wie die Auslandsabhängigkeit infolge des erhöhten Konsums in Deutschland abgeschwächt worden sei. Nach Richard Roesicke325 habe man indes den erhöhten Konsum wie auch »den Aufschwung in unseren ganzen wirthschaftlichen Verhältnissen zum erheblichen Theil der deutschen Sozialpolitik zu verdanken«.

Die Auswirkungen auf die internationale Konkurrenzfähigkeit sah Roesicke also als Argument für und nicht wie das Reichsamt des Innern und die verbündeten Regierungen gegen die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung. Nur als Krönung der Sozialversicherungsgesetze wollte er eine solche nicht verstanden wissen. Er hoffte vielmehr, dass die Reichsgesetzgebung »auch einmal in der Arbeitslosenversicherung ein Stück weiter kommen« werde, nachdem es ver321 322 323 324 325

Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Richard Roesicke, S. 3496. Ebenda, S. 3497. Ebenda. Ebenda, S. 3499 Ebenda.

84

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

einzelte Versuche gegeben habe, entsprechende Einrichtungen auf kommunaler Ebene einzuführen.326 2.

Antrag des Abgeordneten Eugen Richters: Kommission

Der Parteivorsitzende der Freisinnigen Volkspartei, Eugen Richter, plädierte gegen die Annahme beider Resolutionen. Seine parlamentarischen Erfahrungen sprächen »entschieden dagegen, in einer großen wichtigen Frage Resolutionen allgemeiner Art, die jeder Deutung fähig sind, anzunehmen. [Auch er würde nicht wünschen], daß der Gegenstand kurzer Hand von der Tagesordnung verschwindet.«

Hierfür erhielt er Unterstützung in den linken Reihen erhielt. Richter brachte deshalb noch eine dritte Alternative zur Abstimmung, nämlich das Thema zur Beratung in eine Kommission zu geben.327 Er schlug vor, zweckmäßigerweise diejenige Kommission zu bestimmen, welche demnächst die Unfallversicherungsgesetze zu beraten hätte und hoffte auf eine übereinstimmende Meinung aller Parteien und auch der Regierung.328

V.

Nationalliberale und Sozialdemokraten unterstützen Stumm-Halberg

Auch für die Nationalliberalen erklärte der Abgeordnete Heinrich Hofmann noch einmal,329 dass man es »für eine absolute Nothwendigkeit halten [würde], daß die Wittwen= und Waisenversorgung eingeführt wird.«

Er zeigte sich vom dringenden Appell des Staatssekretärs des Innern unbeeindruckt, stimmte Posadowsky-Wehner allerdings darin zu, dass »eine absolute Schädigung des jetzt schon schwer geschädigten platten Landes eintreten [würde], wenn wir die industriellen Arbeiter in dieser Weise allein berücksichtigen und besonders herausnähmen«.

Hofmann sprach namentlich auch für die Mitglieder der Landwirtschaft in der nationalliberalen Fraktion.330 Die Sozialdemokraten kamen zu der Bewertung,331 326 327 328 329 330 331

Ebenda. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Eugen Richter, S. 3500. Ebenda. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Heinrich Christian Wilhelm Hofmann, S. 3494. Ebenda. Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Hermann Molkenbuhr, S. 3495.

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»daß Freiherr von Stumm Herrn Dr. Hitze in der Arbeiterfreundlichkeit ganz erheblich übertroffen hat.«

Molkenbuhr erklärte daher im Namen seiner Fraktion, für den Antrag StummHalbergs zu sein.332 Gegen die auf Fabrikarbeiter begrenzte Einführung der Versicherung spräche zu den bis dahin genannten Gründen die kaum regelbaren Beschäftigungswechsel zwischen Landwirtschaft, Fabrik und Gewerbe.333 Der Arbeiter müsse, um keinen Nachteil von der einzuführenden Versicherung zu haben, entweder in all seinen Beschäftigungsverhältnissen versicherungspflichtig sein, um auch einen Anspruch auf Leistungen zu begründen, anderenfalls aber in allen Beschäftigungsverhältnissen versicherungsfrei sein, um keine Beiträge ohne Gegenleistung zahlen zu müssen.334 Als Alternative zur Finanzierung aus Beiträgen brachte Molkenbuhr den Vorschlag ein, sämtliche Kosten durch eine Reichssteuer aufzubringen.335 Bemerkenswert ist, dass von Molkenbuhr bereits Pläne des Zentrums bewertet wurden, nach denen die Hinterbliebenenversicherung mit erhöhten Zollsätzen in Verbindung gebracht wurde. Hitze mache die Ausdehnung der Versicherung auf landwirtschaftliche Arbeiter davon abhängig, wie die Zollsätze bei Neuregulierung der Handelsverträge ausfielen.336 Rhetorisch klug begegnete Molkenbuhr so der Zentrumsstrategie, bevor diese eine Woche später vom Zentrumsabgeordneten Carl Bachem der Öffentlichkeit erklärt wurde. Die frühe Enthüllung durch Molkenbuhr,337 mit dem Erklärungsmodell einer letztlich aus Zollerhöhungen finanzierten Hinterbliebenenversicherung würde vom Zentrum »die angebliche Arbeiterfreundlichkeit als Vorspann [benutzt werden,] um die volksfeindlichsten Zölle einzuführen.«

erfuhr heftige Reaktionen im Reichstag: »(Oh ! Oh! Rechts. Sehr richtig! Links.)«.

In den kommenden Jahren sollte die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung kaum mehr diskutiert werden, ohne auch die Verbindung mit Zollerhöhungen zu bewerten. 332 333 334 335 336 337

Ebenda. Ebenda, S. 3496. Ebenda. Ebenda. Ebenda. In der Reaktion des Zentrumsabgeordneten Stötzels wurde die Bewertung Molkenbuhrs rhetorisch als völlig überzogen dargestellt. Molkenbuhr habe in der Resolution Hitze »ganz ungeheuerliche Pläne entdeckt, sodaß man glauben sollte, dieser Antrag sei geradezu geeignet, das Reich und die Gesellschaft umzustürzen.«, Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Gerhard Stötzel, S. 3500.

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VI.

Fraktionslose Forderung: Breite Schichten des Mittelstandes statt Fabrikarbeiter zu versorgen

De Personenkreis der späteren Angestellten wurde von keiner Partei erwähnt. Es war der fraktionslose Reichstagsabgeordnete Hahn, welcher die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung für Selbstständige als ersten Schritt sah, dem die Einführung einer Arbeiterhinterbliebenenversicherung erst folgen würde. Nicht mit den Fabrikarbeitern habe man anzufangen, sondern mit den »breiten Schichten des Mittelstandes«, wie der für die niederdeutschen Bauern im Bund der Landwirte tätige Direktor erklärte.338 Für die Hinterbliebenen zehntausender »abhängiger kaufmännischer Existenzen [sei] die Noth durchweg größer als in den Kreisen der Arbeiter [weil] ein Angestellter dieses Berufs sich kaum die Mittel ersparen kann, um seinen Kindern die gleiche Bildung zu sichern.«

Diese Argumentation zeigt deutlich, dass es in den Kreisen der Angestellten von Anfang an darum ging, einen gehobenen Status abzusichern, und nicht bloß das Lebensnotwendige sicherzustellen, wie für die Hinterbliebenen der Arbeiter gefordert wurde. Offenbar ging Hahn davon aus, dass die Interessen der Angestellten an einer Statussicherung ebenso hoch zu gewichten seien, wie die der Arbeiter an einer Grundsicherung, denn er kam zu der Bewertung,339 augenscheinlich »[sei] die wirthschaftliche Lage für diese Klasse des Mittelstandes viel schwieriger als für die Arbeiter.«

Auf einen Zuruf von rechts ergänzte er, dass dies auch für Kleinbauern gelte. Für Hahn war die Frage der Hinterbliebenenversicherung zudem noch nicht spruchreif. Gleichwohl unterstützte auch er den Antrag, die Resolutionen an eine Kommission zu verweisen.340

VII.

Ergebnis: Resolution Stumm-Halberg und erste Anzeichen für die Forderung nach dem späteren Angestelltenversicherungsgesetz

Obwohl sich das deutsch-konservative Lager in letzter Minute umentschied und geschlossen dafür stimmte, die beantragten Resolutionen zur tieferen Beratung an eine Kommission zu überweisen, fand der Antrag Richters keine Mehrheit im 338 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Christian Diederich Hahn, S. 3502; Auf Wunsch seines Förderers Bismarck 1893 in den Reichstag gewählt, ist Hahn zunächst Hospitant der Nationalliberalen gewesen, NDB 7 (1966), S. 503f. 339 Ebenda. 340 Verh. d. RT v. 12. 01. 1900, Christian Diederich Hahn, S. 3503.

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Reichstag. Die von Stumm-Halberg beantragte Resolution wurde dagegen mit großer Mehrheit gefasst, so dass der Antrag des Zentrums erledigt war. Erste Politiker wollen eine umfassende Hinterbliebenenversicherung nicht für den Personenkreis der Arbeiter, sondern für die Gruppe der späteren Angestellten. Der fraktionslose Hahn sah nämlich einen höheren Regelungsbedarf darin, für den Mittelstand und die Kleinbauern eine Hinterbliebenenversicherung einzuführen. Die Industrialisierung hatte für diese Berufsstände einen hohen Wettbewerbsdruck ausgelöst. Vielfach war die finanzielle Situation so schlecht geworden, dass der angestrebte Statuserhalt über Generationen hinweg nicht mehr sicher war. Im Vergleich mit den Arbeitern sei daher nach Hahn die wirtschaftliche Lage in diesen Berufsständen viel schwieriger. Der Statuserhalt des Mittelstandes und der Kleinbauern war für ihn das höhere Ziel gegenüber der Gewährung des Lebensnotwendigen an die bedürftigen Arbeiterwitwen.

VIII.

Reaktionen auf die Resolution Stumm-Halbergs

1.

Reaktionen im Reichsamt des Innern

Über die auf Antrag Freiherr Stumm-Halbergs vom Reichstag mit großer Mehrheit beschlossene Resolution benachrichtigte der Präsident des Reichstages Graf Ballestrem den Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst schriftlich »zu geneigter weiterer Veranlassung ganz ergebenst«.341 Hohenlohe-Schillingsfürst, der als Reichskanzler gleichzeitig Vorsitzender im Bundesrat war, legte diesem das Schreiben Ballestrems am 18. 01. 1900 vor. Im Bundesrat wurde beschlossen, die Bearbeitung der Resolution dem Reichskanzler zu überweisen. Daraufhin wurde sie zu den Akten im Reichsamt des Innern genommen, dessen Staatssekretär Posadowsky-Wehner und der zuständige Direktor der sozialpolitischen Abteilung im Reichsamt des Innern, Erich von Woedtke, ebenfalls im Bundesrat als Vertreter Preußens anwesend waren. Den Wiedervorlagevermerk342 auf dem Protokollauszug des Bundesrates zeichnete bereits Franz Caspar, welcher Erich von Woedtke343 ein Jahr später als Direktor der sozialpolitischen Abteilung im Reichsamt des Innern nachfolgte.344 341 BA R 1501 1000968, fol. 130. 342 BA R 1501 1000968, fol. 131. 343 Erich von Woedtke musste als »Sündenbock« in einer Spendenaffaire in das neu gegründete Kaiserliche Aufsichtsamt für Privatversicherung wechseln, Tennstedt, Caspar – RVO, S. 524. 344 Tennstedt, Caspar – RVO, S. 524. Franz Caspar war 1880–1885 im Reich des Innern, zunächst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, ein Jahr später als Kaiserlicher Regierungsrat und ständige Hilfsarbeiter tätig und 1885 bis 1889 als erstes Mitglied und Geheimer Regierungsrat im neu gegründeten Reichsversicherungsamt, bevor er zurück ins Reichsamt des Innern wechselte. Er war zuständig für die Bearbeitung der Unfall-, Kranken-, und

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2.

Reaktionen der Öffentlichkeit: Pressespiegel

Die halbamtliche Berliner Korrespondenz berichtete zur Frage der Versicherung der Arbeiterwitwen und -waisen von einer wohlwollenden Haltung PosadowskyWehners. Dieser sei mit der großen Mehrheit des Reichstages der Meinung, »eine solche Versicherung [sei] in hohem Grade wünschenswerth«.345 Der Bundesrat sei indes darauf beschränkt, »nach der allgemeinen Lage des Reichs und seiner Gesetzgebung zur Zeit durchführbare Reformen zur gesetzlichen Festlegung zu verhelfen«.346 Die Initiativanträge und Resolutionen des Reichstages seien Anregung und Vorarbeit »auf die Gesetzgebung einer näheren oder ferneren Zukunft«.347 Für die verbündeten Regierungen aber sei es ein »Gebot der Nothwendigkeit, den Ausbau der bestehenden Versicherungsgesetze völlig zum Abschluß zu bringen und dann erst zu prüfen, ob die finanziellen Verhältnisse, die Steuerkraft und die ganze wirthschaftliche Entwicklung des Landes es erlauben, den in hohen Grade nützlichen und wünschenswerthen Schritt zu einer Wittwen= und Waisenversicherung der Arbeiter zu thun.«

In den Berliner Neuesten Nachrichten, welche dem Bund der Landwirte nahestanden, ging man nach diesen Meldungen davon aus, dass die Hoffnung, die Witwen- und Waisenversicherung sei durch die Resolution wesentlich näher gerückt, trügerisch sei. Dass der Reichstag die Resolution mit großer Mehrheit angenommen hatte, erklärte man sich mit dem bestimmenden Bestreben, »sein sozialpolitisches Ansehen nicht beeinträchtigen zu lassen.«, gerade auch, weil ein ernster Widerspruch gegen die Ansicht der verbündeten Regierungen nicht geltend gemacht wurde.348 Man hielt die Gründe gegen die unterschiedliche Behandlung der Industrie- und Landarbeiter aber für absolut durchschlagend und befürchtete insbesondere eine Zunahme des Arbeitermangels auf dem Land.349 Eine Erhöhung der Versicherungsbeiträge sei indes tunlichst zu unterlassen. »Sehr ernstlich sei daher der von Stumm-Halberg gemachte Vorschlag zu erwägen, die Altersrente auf den Aussterbeetat zu setzen« und die Hinterbliebenenrenten hieraus zu finanzieren.350

345

346 347 348 349 350

Invalidenversicherung, bearbeitete im Wesentlichen die Reichsversicherungsordnung, ebenda, S. 528. Berliner Korrespondenz, zitiert nach Berliner Neueste Nachrichten vom 17. 1. 1900. Man reagiert damit ausdrücklich auf »abfällige Kritik« der sozialdemokratischen Presse an den Redebeiträgen Posadowsky-Wehners zu den beantragten Resolutionen im Reichstag, ebenda. Ebenda. Ebenda. Berliner Neueste Nachrichten vom 02. 02. 1900. Ebenda. Ebenda.

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So zurückhaltend man sich mit der Kritik an einer Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter im Reichstag gab, so scharf waren die Töne in der Wirtschaftspresse. Die Berliner Börsen-Zeitung351 forderte: »Keine weiteren socialistischen Experimente«. Sie lehnte es entschieden ab, »neue Stockwerke auf die bestehende Arbeiterversicherung zu setzten.«352 Der Grund für diese Haltung bestand nicht etwa darin, dass man die Notwendigkeit einer Übertragung der Fürsorge für Witwen und Waisen von der Armenpflege weg auf reichsgesetzlich geregelte Institutionen negierte. Hierin stimmte man Stumm-Halberg vielmehr zu. Man war auch der Meinung, eine unterschiedliche Regelung für Industriearbeiter und Landwirtschaft komme nicht in Betracht. Doch vermisste man eine dem Sozialistengesetz entsprechende Restriktion in dieser sozialpolitischen Aktion. Hatten die ersten Sozialversicherungsgesetze noch den Zweck, den Sozialdemokraten das Wasser abzugraben, würde man nunmehr einseitig die positive Fürsorge der Arbeiterversicherung ausbauen, »ohne irgend eine Garantie zu haben, die social=revolutionäre Krankheit heilen zu sehen.« Man erreiche sogar das Gegenteil. In der Arbeiterklasse würde man die Hinterbliebenenversorgung als Abschlagszahlung empfinden, welche ihr die »Bourgeoisie aus purer Angst« vor ihnen leiste.353 Die sozialistischen Ansprüche würden immer weiter steigen, so dass inzwischen »bereits die Arbeitslosenversorgung und die Strikeversicherung auftauchten und als gleichwichtige Zweige der staatlichen Arbeiterversicherung gefordert wurden.«

3.

Veröffentlichung Prinzings: Die soziale Lage der Arbeiterwitwe

Schon drei Monate nach der öffentlichen Diskussion um die vom Reichstag beschlossene Resolution Stumm-Halbergs gab der Statistiker Prinzing wieder Anlass für die Presse, laute Forderungen nach einer Witwen- und Waisenversicherung zu wiederholen. Die von Prinzing mit Zahlen belegte Beschreibung der sozialen Lage der Arbeiterwitwen führe in wirksamer Weise den Nachweis, »daß die Lage der Wittwe eine viel traurigere ist, als gemeinhin angenommen wird«, berichtete die nationalliberale National-Zeitung und beschrieb die Zahlen über erhöhte Sterblichkeit und den großen Anteil von Selbstmörderinnen, Verbrecherinnen und Geisteskranken unter den Witwen als »grausig zu nennende Ziffern«.354 Der Druck auf Reichsamt und verbündete Regierungen wurde hierdurch noch einmal deutlich erhöht. Das freisinnige Berliner Tageblatt forderte

351 352 353 354

Berliner Börsen-Zeitung vom 18. 01. 1900. Ebenda. Ebenda. National-Zeitung vom 25. 04. 1900.

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gründliche versicherungstechnische Untersuchungen im Hinblick auf eine Hinterbliebenenversicherung.355

F.

»lex trimborn«: Zolleinnahmen als Finanzierungsgrundlage für eine »Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge«

Wer als erster den Gedanken entwickelte, man könne den neuen Zolltarif mit der Witwen- und Waisenfürsorge verbinden, ist nicht gewiss. Es war jedenfalls ein überaus geschickter Schachzug der Zentrumspolitiker Georg Heim und Carl Trimborn, dem die Einführung der Witwen- und Witwerrente für die Arbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts zu verdanken ist. Die Absichten waren aus Sicht vieler Arbeiter und der Sozialdemokraten böswillig. Einerseits würden sich die Lebensmittel durch die im neuen Zolltarif beschlossenen Zollerhöhungen verteuern. Andererseits sollten die Arbeiter nur einen Bruchteil der infolge dieser Verteuerung zu erwartenden höheren Umsätze im Wege einer Hinterbliebenenversorgung zurückerhalten. Es war eine Frist gesetzt, die es einzuhalten galt: Bis zum 1. Januar 1910.

I.

Erste Ideen zur Verknüpfung des neuen Zolltarifes mit einer Witwen- und Waisenversorgung

Wie war es zu dieser bemerkenswerten Verknüpfung zwischen Zolltarif und Witwenversicherung gekommen? Der Sozialdemokrat Molkenbuhr mutmaßte, dass es bereits früher schon Zentrumsstrategie war, die Arbeiter in der Landwirtschaft für höhere Schutzzölle auf landwirtschaftliche Produkte zu gewinnen. Dieses Ziel hätten Zentrumspolitiker nämlich schon verfolgt, als man eine Hinterbliebenenversicherung nur für Industriearbeiter einführen wollte. Noch am gleichen Tag bezeichneten Zentrumspolitiker im Reichstag diese Mutmaßung als ganz ungeheuerliche Pläne. Bereits eine Woche später wurde die Verknüpfung zwischen Zolltarif und Hinterbliebenenversicherung indes vom Zentrumsabgeordnetem Carl Bachem in der katholischen Kölnischen Volks-Zeitung ausdrücklich angeregt.356 Weil das Handwerk und der Ackerbau die Kosten einer Hinterbliebenenversicherung aus Zentrumssicht nicht aufbringen könnten, bliebe als einziger Weg die Finanzierung aus Steuermitteln. Angedeutet wurde, dass mit dem neuen Zolltarif die Getreidezölle erhöht werden sollen, was man der Landwirtschaft »auch gern gönnen« würde, und Bachem fragte, 355 Berliner Tageblatt vom 26. 04. 1900. 356 Im Folgenden zitiert aus der Kölnischen Volks-Zeitung vom 19. 01. 1900.

»Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge«

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»ob es denn nicht gerecht wäre, darauf zu sinnen, daß der finanzielle Ertrag der Erhöhung der Getreidezölle für das Reich wiederum im Reich zum Nutzen der Arbeiter verwendet werde«.

Seine optimistische Prognose lautete: »Man könnte dann die Witwen- und Waisenversicherung […] ohne erhebliche weitere Belastung der Industrie, des Handwerks und der Landwirtschaft [einführen].«

In der folgenden Zeit wurde von Zentrumspolitikern in der Bevölkerung für die Verknüpfung von Zolltarif und Hinterbliebenenversicherung geworben,357 bevor der Gedanke wieder im Reichstag diskutiert wurde. Von Anfang an wurde von Kritikern in der Presse bestritten, dass die aus dem Zolltarif erwachsenden Gewinne der Landwirte wesentlich bei den Arbeitern ankommen würden. In der liberalen Presse las man von einem Täuschungsversuch gegenüber den Arbeitern.358 Tatsächlich würden den großen Grundbesitzern hunderte von Millionen Mark in den Schoß fallen, während der auf die Begründung einer Witwen- und Waisenversicherung entfallende Anteil sehr gering sei.359

357 Der als Nachfolger im Reichstag für einen ausgeschiedenen Zentrumsabgeordneten frisch gewählte Hubert Sittart, Lehrer aus Aachen, kündigte in einer Volksversammlung in Aachen an, er könne im Namen der Zentrumspartei erklären, »daß die Erträgnisse aus den Getreidezöllen nicht auch nur zu einem kleinen Theil in den Staatssäckel fließen, sondern daß sie zur Schaffung einer Wittwen= und Waisenversicherung für unserer Arbeiter verwandt werden sollen.« Hierüber berichtete die Frankfurter Zeitung am 21. 02. 1901. Die Rede des Zentrumsabgeordneten Carl Herolds auf dem Osnabrücker Katholikentag, in der er einen angemessenen Produktionsschutz der Landwirtschaft mit den Interessen der Arbeiterschaft an billigen Nahrungsmitteln mit der angedachten Regelung im Zolltarif zum Ausgleich bringen wollte, kommentierte das freisinnige Berliner Tageblatt: »Erst vertheuert man dem Arbeiter und seiner zahlreichen Familie jedweden Bissen Brod, verschlechtert den Ernährungszustand, und dann verspricht man ihm, aus den Zollmehrerträgen für seine Hinterbliebenen zu sorgen.«, und prognostizierte einen Massenübertritt der katholischen Arbeiter in das sozialdemokratische Lager, Berliner Tageblatt vom 28. 08. 1901. 358 »Die besagte Verkoppelung ist eine Frivolität, die auf etlichen Unverstand spekulirt. Wenn die Centrumsarbeiter darauf hereinfallen, können sie Einem leid thun«, wie die Frankfurter Zeitung am 21. 02. 1901 schrieb. 359 Frankfurter Zeitung vom 21. 02. 1901: Dass mit Mehreinnahmen aus den Zollerhöhungen gar nicht zu rechnen sei, sondern vielmehr mit Mindereinnahmen hatte noch im Dezember 1899 der preußische Finanzminister von Miquel erklärt, um einen Zusammenhang zwischen dem zu der Zeit diskutierten neuen Flottengesetz und den schon angekündigten Getreidezollerhöhungen zu widerlegen. An diese Einschätzung erinnerte die von Eugen Richter herausgegebenen Freisinnigen Zeitung. Deshalb sei das Versprechen Bülows »vollständig inhaltslos und leer«, Freisinnige Zeitung vom 12. 03. 1901.

92 II.

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Erste Überlegungen zur Ausgestaltung einer Hinterbliebenenfürsorge: Prinzing und Düttmann im Vergleich

Bereits im Jahr vor Beginn der ersten Beratungen im Reichstag zum neuen Zolltarif diente die Diskussion über eine Verknüpfung von Zolltarif und Witwenversicherung als willkommener Anlass, bereits die nähere Ausgestaltung einer Hinterbliebenenversicherung zu diskutieren. Sehr detaillierte Überlegungen machte sich der Vorsitzende der Landesversicherungsanstalt Oldenburg Augustin Düttmann.360 In der katholischen Zeitschrift Arbeiterwohl361, bei der Franz Hitze Redakteur war,362 wollte Düttmann die Frage nach Kornzöllen und einer Wittwen= und Waisenversorgung in einem ursprünglich nicht zur Veröffentlichung363 bestimmten Aufsatz ohne Anspruch auf vollständige und abschließende Erörterung besprechen. Er reagierte hiermit auch auf die drei Aufsätze des Statistikers Friedrich Prinzings, die inzwischen in der Zeitschrift für Sozialwissenschaften erschienen waren und die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Arbeiter behandelten. Prinzing hatte zunächst die traurige soziale Lage der Witwen in Deutschland beschrieben, um im zweiten Aufsatz deren Folgen zu schildern. Die in vielen Pressemeldungen verkündeten Zahlen über erhöhte Sterblichkeit und hohe Selbstmordquoten bei den Arbeiterwitwen stammten von ihm. Außerdem belegte er mit Zahlen, wie hoch der Anteil der Arbeiterwitwen an den insgesamt von Frauen begangenen Vermögensdelikten und an der Zahl psychisch Erkrankter war. In dem dritten, abschließenden Aufsatz über die Grundzüge und Kosten eines Gesetzes über die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Arbeiter schilderte er seine Gedanken zur näheren Ausgestaltung. Auf diesen Aufsatz reagierte die Veröffentlichung Düttmanns. 360 Augustin Düttmann hatte sich 1901 auch durch Kommentierung des Verfahrens vor den Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung und beim Reichs-Versicherungsamt in Invaliden- und Unfallversicherungssachen, die er zusammen mit Hermann Gebhard schrieb, einen Namen gemacht. Neben anderen Veröffentlichungen erstellte er 1910 zusammen mit Theodor Bernhard einen Führer durch die Deutsche Arbeiterversicherung nach der Reichsversicherungsordnung, die einen gemeinverständlichen Leitfaden darstellen sollte. Siehe über ihn Hainbuch/Tennstedt, S. 36. 361 Der gleichnamige Verband Arbeiterwohl konstituierte sich als »Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde« am 20. Mai 1880 in Aachen. Franz Hitze war Generalsekretär von 1880–1921. Siehe zu den Zielen des Verbandes (Geistige Bildung und religiös, sittliche Erziehung der Arbeiterschaft) Böhne, S. 99ff. 362 Außerdem war Hitze auch Vorstandsmitglied im Verband »Arbeiterwohl«, Ayaß, S.53. Siehe auch Morsey, S. 21. 363 Dass Düttmann den Beitrag gleichwohl veröffentlichte, wird man im Reichsamt des Innern mit Missfallen zur Kenntnis genommen haben. Posadowsky-Wehner wollte nämlich die Diskussion um eine nähere Ausgestaltung zunächst auf den Kreis der verbündeten Regierungen und der Landesversicherungsanstalten begrenzen und zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als Düttmann 1904 die erste Denkschrift öffentlich besprechen wollte, untersagte Posadowsky-Wehner ihm dies.

»Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge«

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Beide sollen im Folgenden gegenüberstellend verglichen und bewertet werden, wobei an dieser Stelle bereits die über ein Jahr später in der »Sozialen Praxis« veröffentlichten Aufsätze Düttmanns364 und Prinzings365 berücksichtigt werden, in denen sie ihre Gedankengänge zwar im Wesentlichen nur verkürzt erläuterten, aber in einigen Punkten doch noch etwas tiefer begründeten.

1.

Versorgter Personenkreis und Höhe der Kosten

Den rentenberechtigten Personenkreis zog Prinzing deutlich weiter als Düttmann. Die voraussichtlichen Rentenzahlungen prognostizierte Prinzing daher auf das Doppelte im Vergleich zu Düttmann. Eine Witwen und Waisenvorsorge würde im Beharrungszustande jährlich rund 111 Millionen Mark, jedoch über 55 Millionen Mark erst im zehnten Jahr, kosten.366 Düttmann ging nur von jährlichen Witwen- und Waisenrentenzahlungen bis zur Höhe von 50 Millionen Mark aus und rechnete mit verwendbaren Mehrerträgen aus Zollerhöhungen von 30 Millionen bis 45 Millionen jährlich, von denen er die Hälfte der Kosten einer Hinterbliebenenversicherung finanzieren wollte.367 Eine Beschränkung auf den Kreis der bedürftigen Witwen, wie sie bei der Armenunterstützung vorgenommen wurde, lehnte Prinzing zunächst ausdrücklich ab. Es sei gerade der Zweck einer richtigen Witwen- und Waisenfürsorge, einen Notstand zu verhindern, weshalb man nicht warten dürfe, bis ein solcher Notstand eingetreten sei.368 Allerdings sollten nach Prinzings Vorstellungen die Arbeiterwitwen mit eigenem Vermögen oder einem Geschäft, welches größere Gewinne abwerfe, keine Renten erhalten, so dass das Bedürftigkeitsprinzip auch für ihn maßgeblich war. Nur die Definition für die Bedürftigkeit würde nach Prinzing anders zu fassen sein.369 Wie genau dies erfolgen könnte, ließ Prinzing allerdings offen. Auch eine Beschränkung auf erwerbsunfähige Witwen nahm Prinzing nur bedingt vor, indem er einerseits umgekehrt vorschlug, der Witwe im Falle hohen Alters oder bei Arbeitsunfähigkeit einen Zuschlag zu gewähren.370 Der unter 40jährigen Witwe wollte er dann eine Rente gewähren, wenn sie teilweise oder vollständige Arbeitsunfähigkeit nachweisen konnte. In der Regel wollte Prinzing 364 365 366 367

Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 24, 13. 03. 1902, S. 613–616. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 38, 19. 06. 1902, S. 987–991. Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 274. Düttmann, Arbeiterwohl, S. 77 und 79, unter Hinweis darauf, dass die Kostenprognose »vollends unsicher [sei], weil nicht zu berechnen ist, wie viel Wittwen in den Genuß einer Invalidenrente gelangen und deshalb Wittwengeld nicht beziehen werden.« 368 Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 270. 369 Ebenda, S. 270–272. 370 Ebenda, S. 271.

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Renten aber ausdrücklich unabhängig von der Arbeitsfähigkeit der Witwe gewähren, da es Zweck dieser Leistung sei, Notlagen zu vermeiden.371 Gleichwohl stellte auch Prinzing die Frage, ob ein Rentenanspruch der gesunden, kinderlosen Witwe im Alter von 40–50 Jahren zustehen sollte. Er bejahte dies mit dem Hinweis auf die Aussicht, dass »eine gesunde, kinderlose Witwe bald wieder zum Heiraten kommen kann«, was eine Entziehung der Rente zur Folge haben würde.372 Als Argument gegen die Beschränkung auf Witwen mit Kindern führte Prinzing an, man müsse dann den zunächst rentenberechtigten Witwen die Rente entziehen, wenn ihre Kinder verstarben. Dies stelle eine gewisse Härte dar.373 Nach Düttmann sollte nur die Witwe versorgungsberechtigt sein, welche außer Stande war, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Düttmann sah zwei Umstände, die zu dieser Lage führen konnten, nämlich die Erwerbsunfähigkeit und die Fürsorge für unversorgte Kinder.374 Eine Witwe mit unversorgten Kindern sollte aber nicht rentenberechtigt sein, wenn sie erwerbsfähig sein würde. Die Beschränkung der Leistungen auf erwerbsunfähige Witwen und solche, die das 70 Lebensjahr vollendet hätten, ergäbe sich zum einen daraus, dass »die Wittwen der hier in Frage stehenden Klassen recht wohl im Stande sind, für den eigenen und wenigstens zum Theil auch für den Unterhalt der Kinder selbst zu sorgen«.

Weil die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel beschränkt seien, hätte man sie entsprechend den Bedürfnissen zu verteilen.375 Außerdem sei der Bedürfnismaßstab eine Konsequenz aus dem empfohlenen Anschluss der Witwenund Waisenversorgung an die Invalidenversicherung.376 In der Sozialen Praxis erläuterte Düttmann zum Bedürftigkeitsprinzip,377 es würde gelten, »solange die Leistungen der Invalidenversicherung nicht eine bedeutende Erweiterung erfahren haben«.

Eine noch nicht 70-jährige, erwerbsfähige Witwe mit Kindern hätte nach diesen Grundsätzen, die Düttmann schon im Stil gesetzlicher Vorschriften verfasste, also in keinem Falle eine Rente erhalten, sondern nur ihre Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr. Die Versorgungslücke für Witwen, welche infolge der Erziehung ihrer Kinder nicht zur Erwerbstätigkeit in der Lage waren, wurde von Düttmann negiert. Es läge im Allgemeinen kein Bedürfnis für die Berück371 372 373 374 375 376 377

Ebenda. Ebenda, S. 272. Ebenda, S. 271. Düttmann, Arbeiterwohl, S. 75. Ebenda. Ebenda. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 24, 13. 03. 1902, S. 613.

»Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge«

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sichtigung erwerbsfähiger Witwen vor.378 Diese Einschränkung führte letztlich zu den gewaltigen Differenzen zwischen den Kostenprognosen Düttmanns und Prinzings. Der Vergleich zeigt deutlich, dass der rentenberechtigte Personenkreis von Düttmann sehr viel enger gezogen wurde, als dies Prinzing für geboten hielt. Düttmann, der grundsätzlich nur nach §§ 15 und 16 des Invalidenversicherungsgesetzes erwerbsunfähigen Witwen Renten gewähren wollte, ließ eine Versorgungslücke eben da, wo Prinzing den dringendsten Bedarf sah, nämlich für die Witwe mit Kindern. Für diese wäre nach Düttmanns Grundsätzen ein Fortschritt kaum vorhanden gewesen. Im Fall der Bedürftigkeit hatten sie nämlich schon bisher eine Unterstützung erhalten, wie Prinzing in der Sozialen Praxis schrieb.379 Zudem standen die Regelungen der §§ 15 und 16 des Invalidenversicherungsgesetzes bereits wegen der allzu hohen Anforderungen an die Erwerbsunfähigkeit in der Kritik. Danach waren nämlich Personen erwerbsfähig, solange sie noch in der Lage waren, ein Drittel ihrer Arbeitsleistung zu erbringen. Besonders schwierig gestaltete sich eine Übertragung dieser Regelung gerade auf Frauen, welche zuvor nicht erwerbstätig gewesen waren, sondern »zuvor nur das Hauswesen besorgt« hatten und sich plötzlich in die Lage versetzt sahen, ihren Unterhalt selbst zu verdienen, wie Prinzing richtig erkannte.380 Hier fehlte nämlich ein entsprechender Vergleichsmaßstab. Es war deshalb zu befürchten, dass in diesen Fällen sehr hohe Anforderungen an die Erwerbsunfähigkeit gestellt werden würden. Auch wenn die Grundzüge einer Witwen- und Waisenversorgung Prinzings im Hinblick auf eine zukünftige Regelung weniger ausgereift waren, vermochten sie im Gegensatz zu den Grundsätzen Düttmanns immerhin die soziale Notlage der Arbeiterwitwen nahezu umfassend zu beseitigen.

2.

Höhe des Witwengeldes

Die Höhe des Witwengeldes wollte Prinzing nicht an der Rente des verstorbenen Mannes bemessen, sondern er wollte einen festen monatlichen Betrag in Höhe von etwa 80 Mark gewähren.381 Dieser Betrag würde für auf dem Land lebende Witwen eine große Hilfe darstellen. Auch wenn 80 Mark wegen der höheren Lebenshaltungskosten in der Stadt keinen Deckungsgrad erzielen konnte, wie 378 Ebenda. Einen zukünftigen Ausbau sah Düttmann denn auch nur in der Erhöhung der Rentensätze, und zwar des Witwengeldes von 40 Prozent auf 50 Prozent der Invalidenrente des Mannes, nicht aber in der Ausdehnung auf erwerbsfähige Witwen (Düttmann, Arbeiterwohl, S. 79). 379 Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 38, 19. 06. 1902, S. 989. 380 Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 38, 19. 06. 1902, S. 989. 381 Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 271.

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dies auf dem Land der Fall war, hielt Prinzing die Gewährung des gleichen Betrages unabhängig vom Wohnort der Witwe, ob auf dem Land oder in der Stadt für gerechtfertigt. In der Stadt sei es nämlich für Witwen leichter gewesen, Arbeit zu finden, wie er als Begründung ausführte.382 Gegen eine Rente in Höhe eines gewissen Prozentsatzes des Arbeitsverdienstes des Mannes sprach aus Prinzings Sicht, dass man eine besondere Bedürftigkeit von Witwen gerade dann würde annehmen können, wenn deren verstorbene Ehemänner zuvor wenig Geld verdient hätten. Diese würden eher eine höhere als eine niedrigere Rente benötigen. Auf der anderen Seite würden Witwen von zuvor relativ gut verdienenden Ehemännern eine kleinere Rente benötigen.383 Hieraus wurde wieder deutlich, dass Prinzing sich bei seinen Überlegungen zur Witwen- und Waisenabsicherung nicht vom Versicherungsprinzip, sondern vom Fürsorgeprinzip leiten ließ. Demgegenüber wollte Düttmann die Höhe der von ihm als Witwengeld bezeichneten Rente mit 40 Prozent der Invalidenrente des Verstorbenen berechnen,384 was einem durchschnittlichen Jahresbetrag von 60 Mark entsprochen hätte.385 Dies sei zwar immer noch nicht das, »was wohl als wünschenswerth bezeichnet werden kann, aber eine sehr werthvolle Verbesserung der Lage der Hinterbliebenen«.

Eine Erhöhung auf 50 Prozent wollte Düttmann dann in Aussicht nehmen,386 sobald sich zeigen würde, »daß die Aufbringung der dazu erforderlichen größeren Mittel thunlich [sei].«

3.

Finanzierung: Arbeitnehmer-/ Arbeitgeberbeiträge und/ oder Reichszuschuss

Gänzlich verschieden beurteilten Prinzing und Düttmann schließlich auch die Frage, wie die Hinterbliebenenrenten finanziert werden sollten. Für Prinzing erschien es ganz untunlich, Arbeitgeber und Arbeiter hierzu heranzuziehen, was er einerseits mit der Ungerechtigkeit der Beitragspflicht von Witwern und Ledigen begründete, die keine entsprechende Gegenleistung erhalten würden.387 Andererseits würden diese Lasten bisher von der Armenpflege geleistet werden. Sie dürften »nicht ohne weiteres auf andere Schulter hinüber gewälzt werden«.388 382 383 384 385 386 387 388

Ebenda. Ebenda. Düttmann, Arbeiterwohl, S. 76. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 24, 13. 03. 1902, S. 613. Ebenda, S. 78 und 79. Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 275. Ebenda.

»Arbeiter-wittwen- und Waisenvorsorge«

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Gleichwohl wollte auch er die Überschüsse der Alters- und Invaliditätsversicherungsanstalten zur Finanzierung heranziehen, was einen gewissen Bruch mit dem kategorischen Ausschluss der Beitragsfinanzierung darstellte. Neben diesen Überschüssen und einem Beitrag der Gemeinden als Ausgleich für die entsprechende Befreiung von der Armenlast389 sollte im Wesentlichen eine Finanzierung aus indirekten Steuern erfolgen, welche immerhin auch die unteren Bevölkerungsschichten verhältnismäßig stärker belastetet hätte.390 Düttmann schlug vor, die Hinterbliebenenrenten zur Hälfte aus Versicherungsbeiträgen zu finanzieren, welche je zur Hälfte Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu zahlen gehabt hätten.391 Zwar ging auch Düttmann davon aus, dass die andere Hälfte aus Reichsmitteln zu finanzieren sei. Hierfür waren nach seinen Prognosen indes die sich nach Zentrumsplänen ergebenden Mehreinnahmen aus den Zollerhöhungen ausreichend.392 Düttmann deutete gar an, dass diese möglicherweise ausreichen würden, die Hälfte der von der Gesamtheit zu tragenden Last im Kapitaldeckungsverfahren finanzieren zu können.393 In diesen optimistischen Annahmen wird eine Werbung für die Zentrumsstrategie zu sehen sein. Die Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern an den Kosten der Hinterbliebenenversorgung hielt Düttmann für geboten, um diese als Versicherungsleistung auszugestalten, auf die ein Rechtsanspruch besteht.394 Eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitgeber und Versicherten untereinander käme »der großen Weiterungen wegen« indes nicht in Betracht, so dass auch ledige Versicherte Beiträge zu leisten hätten.395 Auf den Einwand Prinzings, dies sei gegenüber ledigen Versicherten ungerecht, weil diese keine Gegenleistung für ihre Beiträge erhalten würden, entgegnete Düttmann, dass diesen Personen eine Last von nur ein Viertel der Leistungen recht wohl auferlegt werden könne,396 »da sie ihrer übergroßen Mehrzahl nach später heirathen und dann an der Wittwen= und Waisenversorgung unmittelbar betheiligt [sein würden].«

389 390 391 392 393 394

Ebenda, S. 276. Ebenda, S. 275. Düttmann, Arbeiterwohl, S. 77. Ebenda, S. 81. Ebenda. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 24, 13. 03. 1902, S. 613. Außerdem hätten die Beteiligten einen Rechtsanspruch auf eine wesentliche Mitwirkung bei der Verwaltung der Einrichtung. 395 Ebenda, S. 75 und 76. 396 Ebenda, S. 76.

98 4.

Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Beginn der Rentenzahlungen

Prinzing ging von keinem bestimmten Zeitpunkt aus, ab dem eine Witwen- und Waisenvorsorge nach seinen Vorstellungen in Kraft treten konnte. Er verwies jedoch auf die aus seiner Sicht dringenderen großen Ausgaben für Heer und Flotte, welche die bedeutende Entwicklung des überseeischen Handels mit sich brächte.397 Er hielt eine sofortige Einführung also nicht für möglich. Düttmann nannte – nahezu übereinstimmend mit den Plänen des Zentrums – erstmalig das Datum 1911. Weil durch die kommende Revision des Krankenversicherungsgesetzes bereits mit einer erheblichen Beitragserhöhung zu rechnen sei, wäre eine Erhöhung der Invalidenversicherungs-Beiträge bis 1911 hinauszuschieben.398 Düttmann ließ aber offen, ob die Einführung der Witwen- und Waisenversorgung mit der ohnehin in kürzerer Zeit notwendig werdenden Erhöhung der Beiträge verbunden werden sollte. 5.

Sonstige berücksichtigungswürdige Gesichtspunkte

Der Vorschlag Düttmanns übernahm die Regelungen zu Anwartschaft und Wartezeit aus dem Invaliditätsversicherungsgesetz auch auf die Hinterbliebenenrenten, ohne dies zu begründen.399 Mit der Einführung von Witwenrenten sei die Beitragserstattung an die Witwe für den Fall, dass ihr Ehemann vor Erhalt seines Rentenbescheides versterben sollte, aufzuheben,400 denn diese Beitragsrückerstattung sollte bei ihrer Einführung das Fehlen von Witwenrenten in der Alters- und Invalidenversicherung wenigstens ansatzweise ausgleichen. Düttmann war außerdem der Ansicht, dass eine weitere Leistung durch die Einführung von Hinterbliebenenrenten entfallen würde. Auch die durch Heirat einer beitragszahlenden Frau ausgelöste Beitragsrückerstattung würde entfallen können. Anders als im ersten Fall ging es hier um die von der Frau aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung geleisteten Beiträge. Mit der Beitragsrückerstattung verlor die Frau nach bisheriger Regelung selbstverständlich auch die Anwartschaftsrechte auf die eigene Rente. Die Anwartschaft auf eine

397 Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 277. 398 Düttmann, Arbeiterwohl, S. 83. 399 Ebenda, S. 76. Ohne weitere Begründung; Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 273 und 274, sprach dies zwar nicht ausdrücklich an, ging aber in seinen Kostenberechnungen hiervon ebenfalls aus, weshalb im ersten Jahr nach Einführung der Witwen- und Waisenfürsorge nur Renten in Höhe von 7 Millionen Mark zu zahlen seien. 400 Ebenda, S. 77 und 81 Prinzing, Grundzüge und Kosten, S. 272, wollte demgegenüber diese Beitragserstattung beibehalten, aber von den zukünftig zu gewährenden Renten abziehen, was erneut einen Bruch mit dem Versicherungsprinzip dargestellt hätte.

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eigene Rente der Frau sollte aber nach den Vorstellungen Düttmanns401 solange aufrechterhalten bleiben, wie »eine weibliche Versicherte mit einem Versicherten verheirathet ist und in häuslicher Gemeinschaft mit demselben lebt oder im Wittwenstande Wittwengeld oder Waisengelder für ihre Kinder«

beziehen würde. »Damit werde die geschlechterspezifischen Rollenverteilung anerkannt, daß die Ehefrau ihren Wirkungskreis im Hause und nicht als Arbeiterin in der Fabrik hat.«

III.

Der neue Zolltarif

1.

Posadowsky-Wehner und das Zentrum entwickeln lex trimborn

Im Reichstag war es eine offizielle Erklärung des Reichskanzlers, die den Weg wies. Im Hinblick auf die zu erwartenden Verhandlungen über den Zolltarif und der mithin zu erwartenden Arbeiterproteste erklärte Graf von Bülow, dass der Zweck der geplanten Tarifreform, die für ihn auch eine Erhöhung der Zollsätze für Getreide, also insbesondere Weizen und Roggen beinhalten musste, kein finanzieller sei und schlug daher vor,402 die »Mehreinnahmen, speziell aus den Zöllen auf Lebensmittel, im wesentlichen zu verwenden zur Hebung der Wohlfahrtseinrichtungen im Reiche und zum Besten der weniger günstig gestellten Klassen der Bevölkerung.«

401 Ebenda, S. 77 und 82. 402 Verh. d. RTv. 05. 03. 1901, Bernhard von Bülow, S. 1707. Bereits 6 Wochen vorher hatte Franz Hitze im Rahmen der Beratung zum Reichshaushaltsetat im Reichstag noch einmal die Hoffnung ausgesprochen, dass im Hinblick auf die noch ausstehende Witwen- und Waisenversicherung »die Erträge der landwirthschaftlichen Schutzzölle die Mittel geben, um die Schwierigkeiten, die namentlich bei den kleinen Arbeitgebern bestehen, zu überwinden.«, Verh. d. RT v. 14. 01. 1901, Franz Hitze, S. 665. Ein Jahr später glaubt die »Soziale Praxis« in der Lage zu sein, »aus erster Quelle festzustellen, daß der Reichskanzler bei seiner Erklärung verharrt.«, Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 29, 17. 04. 1902, S. 755. Die von Eugen Richter herausgegebene Freisinnige Zeitung sah in der Strategie eine Kopie des Mittels Bismarcks zur Einführung des Tabakmonopols 1881, als erklärt wurde, »der ganze Reinertrag aus dem Tabakmonopol solle zum Besten der minderwohlhabenden Klassen, insbesondere zu Versicherungszwecken verwendet werden.« und sprach sich am Ende grundsätzlich gegen Reichszuschüsse für Privatzwecke einzelner Bevölkerungsklassen aus: »Man erweckt immer neue Ansprüche gegenüber dem Reiche, dem Staat; man schwächt dadurch die Energie für Selbsthilfe und ist schließlich doch nicht im Stande, die angeregten Erwartungen zu befriedigen.«, Freisinnige Zeitung vom 12. 03. 1901.

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Ohne genauere Beschreibung des Finanzierungszweckes403 konnte man gut eine Gewinnsituation für alle Interessengruppen erklären. Das Interesse an den Zollerhöhungen ging vor allem von den sogenannten Agrariern aus. Es waren die Landwirte, welche sich vor der ausländischen Konkurrenz fürchteten und die durch Schutzzölle vor einem Wettbewerb mit Dumpingpreisen geschützt werden wollten. Die gesamte Landwirtschaft hatte also ein Interesse daran, die Einfuhrzölle auf Lebensmittel, welche sie produzierte, zu erhöhen, um so höhere Preise im Deutschen Reich durchsetzen zu können und sich gegen die ausländische Konkurrenz bequem behaupten zu können. Vom Zentrum, das auch auf Stimmen dieser Interessengruppe angewiesen war, erwartete man somit einen politischen Einsatz, um dieses Ziel zu erreichen. Ideen, wie man den Zolltarif retten, aber den sozialdemokratischen Einfluss im Reichstag schwächen konnte, wurden von der Reichsleitung im Reichskanzleramt u. a. Bülow, Posadowsky-Wehner und weiteren Staatssekretären entwickelt.404 Um die politische Zusammenarbeit mit Zentrumspolitikern nicht zu gefährden, war eine schlichte Ablehnung des Antrages Heim nicht ratsam. Eine kontroverse Debatte führte zum Kompromiss, nicht den vollen Mehrertrag für die Witwen- und Waisenversorgung zu verwenden und außerdem die sozialpolitische Zweckbestimmung über die alleinige Versorgung der Arbeiter hinaus auf die höheren Stände sowie auf Militär-Invaliden und Veteranen zu erweitern.405 Das Zentrum war auch die Partei, mit welcher der Staatssekretär des Innern Posadowsky-Wehner zusammenarbeitete. An seinem großen Einfluss auf das Zustandekommen der lex trimborn stieß sich der bayerische Bundesrats-Bevollmächtigte Lerchenfeld: Posadowsky-Wehner habe über den Kopf der verbündeten Regierungen hinweg Methoden angewandt, die auf Dauer unerträglich sein würden, beurteilte Lechenfeld die Situation in einem Schreiben406 an die

403 Roesicke glaubt zu wissen, dass es die Witwen- und Waisenversicherung war, die der Reichskanzler im Auge hatte, Verh. d. RT v. 14. 03. 1901, Richard Roesicke, S. 1835. 404 Schmidt bezeichnet Posadowsky-Wehner als eigentlichen Vater des Zolltarifes, S. 127. In Bezug auf eine Zweckbindung von Mehrerträgen hatte er sich aber mit Bülow und Miquel abzustimmen. 405 Zilch, Nr. 35 Vertrauliche Besprechung des Staatsministeriums im Reichskanzleramt am 10. Februar 1902. 406 Bericht Lerchenfeld vom 22. 11. 1902, MH 10070, zitiert nach Dreher, Anhang 12. Nach der Entlassung Posadowsky-Wehners am 22. 06. 1907 berichtete Lerchenfeld dem bayerischen Ministerpräsidenten, dass der neue Staatssekretär von Bethmann werde nunmehr im Einverständnis mit dem Reichskanzler wohl vorsichtiger auf dem Gebiete der Sozialpolitik vorgehen würde. Er wisse von Fürst Bülow, dass bei der Reform und der Zusammenfassung der einzelnen Sozialversicherungsgesetze das Hauptgewicht auf die Krankenversicherung zu legen sei, Rassow, P. u. K. E. Born (Hrsg.): Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890–1914, Wiesbaden 1959, 270, zitiert nach Tennstedt, Caspar – RVO, S. 523.

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bayerische Regierung und vermutete sogar, dass es das Reichsamt des Innern war, welches dem Abgeordneten Trimborn »die Neuredaktion des Paragraphen […] an die Hand gegeben hat«.

Zeitzeugen führten Posasowsky-Wehners Einsatz für den Zolltarif auf dessen Ambitionen, selber Reichskanzler werden zu wollen, zurück.407 Der »Graf im Barte«, wie man ihn nannte, war bekannt als Mensch, der mit außerordentlichem Fleiß arbeitete.408 Er wurde von Ehrenberg beschrieben als ausgezeichneter Staatsmann,409 welcher »es in einer schweren Zeit des Überganges verstanden [habe], die Erfüllung der Forderungen der Gegenwart mit pietätvoller Rücksicht auf ruhmreiche Vergangenheit harmonisch zu vereinen. [Seine] glühende, von hohem sittlichen Ernst und strengem Gerechtigkeitsgefühl getragene Vaterlandsliebe [habe er] in allen Abschnitten seiner öffentlichen Wirksamkeit mit weitausschauendem Blick stets bestätigt«. 407 Martin, S. 148. 408 Martin, der Posadowsky-Wehner für politisch unfähig hielt. Dessen Motivation, Staatssekretär des Innern und damit stellvertretener Reichskanzler werden zu wollen, führte Martin auf die Verdienstaussichten zurück. 409 Ehrenberg, Vorwort.

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Für die Schlüsselrolle Posadowsky-Wehners bei der Kompromissfindung zwischen Agrariern und dem Zentrum ist auch seine Perspektive auf die Landwirtschaft interessant, die er im Alter von 25 Jahren hatte. Auf eigene Veranlassung schied er aus dem Justizdienst aus und bewirtschaftete für zwei Jahre das wenige Tage zuvor erworbene Rittergut mit seiner Frau,410 einer Witwe, die er einen Monat nach diesem Berufswechsel heiratete.411 Wenngleich PosadowskyWehner als Landwirt erfolglos war, konnte er doch zwei wichtige Lebenserfahrungen sammeln. Er lernte die Interessen der Landwirtschaft als selbst Betroffener kennen und hatte finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden. Schwierig gerade für eine Partei, die wie das katholische Zentrum auch auf Arbeiterstimmen angewiesen war, gestaltete sich der Einsatz für eine solche Regelung, weil sie die städtische Arbeiterschaft enorm benachteiligte. Zwar hatte das Zentrum ein volkswirtschaftliches Argument auf seiner Seite: Indem die mit den Zollerhöhungen beabsichtigte Abnahme der Auslandsimporte eine Produktionssteigerung im Inland bewirken würde, würden auch neue Arbeitsplätze entstehen. Dies allein vermochte indes den Unmut der Arbeiterklasse über 410 Elise geb. von Möller, Witwe des Premierleutnants Thomas und Tochter des Appelations=Gerichtspräsidenten Dr. Gustav von Möller, von Wiese, S. 43 mit weiteren Quellennachweisen zum beruflichen Aufstieg Posadowsky-Wehners. 411 von Wiese, S. 43.

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voraussichtlich steigende Lebensmittelpreise nicht zu besänftigen. Die Verteuerung der Lebensmittel, welche die Zollerhöhungen nach sich ziehen würden, hätten zu einem Großteil die Arbeiter zu tragen gehabt, was die ärmsten unter ihnen am härtesten getroffen hätte. Weil viele Arbeiter, insbesondere Witwen und Waisen, offenkundig um ihr Überleben kämpften, war diese Folgenbetrachtung ein sehr wirksames Agitationsmittel. Es wurde von den Sozialdemokraten als solches erkannt und treffsicher gegen das Zentrum eingesetzt. Wie also führte der Weg aus dem Dilemma des Zentrums? Es war die Erklärung, dass die Last, welche die Arbeiter zu tragen hätten, eben bei den Arbeitern wieder ankäme, indem »etwas Werthvolles« geschaffen werde: Die Witwen- und Waisenversicherung sollte den Ausgleich schaffen. Diese etwas aus dem Sachzusammenhang gerissene Finanzierung sollte zwar nicht deren sofortige Einführung ermöglichen, aber immerhin eine solche Grundlage darstellen. Verwendet werden sollten nach ersten Vorstellungen die Mehreinnahmen aus den Zollerhöhungen. Die deutlich höheren Mehreinnahmen der Landwirte, mit denen infolge der preissteigerungsbedingten Umsatzsteigerung zu rechnen waren, sollten freilich eben den Landwirten zufließen. In der ersten Beratung des Zolltarifgesetzes begegnete der Zentrumsabgeordnete Peter Spahn dem Vorwurf, der neue Zolltarif würde das Brot der armen

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Witwen verteuern, mit dem Hinweis, es würde sich bei der Zahlung des erhöhten Kaufpreises um einen »Sparpfennig« des Arbeiters für seine Witwen und Kinder handeln.412 Schon seit zwei Jahren sei die Strömung im Reichstag, die Erträge aus Zöllen auf landwirtschaftliche Produkte für sozialpolitische Zwecke zu verwenden, wenn es zu einem neuen Zolltarif käme, vom Zentrum »warm unterstützt« worden.413 Deshalb sollte »man hier nicht das Brot der armen Wittwen ins Gefecht führen gegen die Erhöhung der Getreidezölle.«414 Diese Argumentation offenbarte aber, wie Eugen Richter (Freisinnige Partei) feststellte, dass dem Zentrum wegen der Belastung der armen Bevölkerung mit teureren Lebensmitteln »das Gewissen schlug«. Aus seiner Sicht war es ungerecht, nur auf die Mehrerträge aus den Getreidezöllen abzustellen, denn man würde so nur ein Neuntel an die Arbeiter zurückgeben, während acht Neuntel bei den inländischen Bauern verblieben.415 Im Übrigen sei es zweifelhaft, dass es tatsächlich zu einer Regelung kommen würde, die den Geldfluss hin zu den Hinterbliebenen der Arbeiter sicherstellen könnte.416 Hierauf gab für das Zentrum der Reichstagsabgeordnete Carl Herold, der Direktor des Landwirtschaftlichen Vereines war, die im Reichsamt des Innern deutlich markierte Erklärung ab,417 man werde dafür sorgen, »daß später nicht gegen unseren Willen über diese Mehreinnahmen verfügt werden kann; daran haben wir schon früher gedacht als der Herr Abgeordnete Richter.«

Dass die Finanzierung der Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter aus Zolleinnahmen wie vom Zentrum geplant unmöglich sei, vertrat der Sozialdemokrat Albert Südekum anlässlich der einen Monat später stattfindenden jährlichen Beratung im Reichstag über den Reichshaushaltsetat, indem er fragte:418 412 413 414 415

Verh. d. RT v. 03. 12. 1901, Peter Spahn, S. 2916. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Hiergegen argumentiert der Königliche Oberzollrath zu München und Abgeordneter des Zentrums Speck, »daß ein Schutzzoll niemals in vollem Umfang auf die Preise der Produkte wirksam sein kann.«, Verh. d. RT v. 06. 12. 1901, Karl Friedrich Speck, S. 3011. 416 Verh. d. RT v. 03. 12. 1901, Eugen Richter, S. 2928. 417 Verh. d. RT v. 07. 12. 1901, Carl Herold, S. 3059, BA R 1501 100968, fol. 159. Markiert wurde auch die Prophezeiung Herolds, man werde nach Einrichtung der wohltätigen Versicherung die Arbeiter fragen: »was ist euch lieber, Zollschutz oder Wiederaufhebung der Wittwenund Waisenversicherung? Dann werden sie antworten: die Wohlthat ist so groß, daß wir nimmermehr darein willigen werden; von dem Zollschutz merken wir nichts, aber die Versicherung unserer Hinterbliebenen ist eine Wohlthat, auf die wir nicht verzichten werden, und für die wir denjenigen, welche sie geschaffen haben, für alle Zeit dankbar sein werden.«, Verh. d. RT v. 07. 12. 1901, Carl Herold, S. 3060. 418 Verh. d. RT v. 08. 01. 1902, Albert Südekum, S. 3211; Südekum studierte Staatswissenschaften und Nationalökonomie, bevor er als Redakteur, später als Leiter verschiedener sozialdemokratischer Zeitungen arbeitete und seit 1900 Chefredakteur der »Sächsischen Arbeiterzeitung« war.

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»Wie kann man denn ein großes sozialpolitisches Werk, dessen Nothwendigkeit und Bedeutung kein Mensch bestreitet, begründen wollen auf die schwankenden Einnahmen aus solchen Zöllen!«

Insgesamt beklagte er, dass zu geringe Aufwendungen für sozialpolitische Zwecke gemacht würden und zählte noch vor Arbeitslosenversicherung, dem Bau- und Werkarbeiterschutz und der Wohnungsfürsorge die Wittwen- und Waisenversorgung als Lücke auf, welche es zu schließen gelte.419 Am 12. Dezember 1901 wurde der Entwurf des Zolltarifgesetzes einer Kommission zur Beratung überwiesen. 2.

Pressestimmen und die unentschiedene Haltung der »Sozialen Praxis«

Die Zentrumspläne zum Zolltarif, aber auch die Vorschläge Düttmanns und Prinzings entfachten ein Diskussionsfeuer, das auch im Reichsamt des Innern aufmerksam verfolgt wurde. Agitationsblätter, Organe verschiedener Interessengruppen, aber auch die Fachpresse und schließlich die »Soziale Praxis«, das selbstbezeichnete Zentralblatt für Sozialpolitik, seit 1897 herausgegeben von Ernst Francke, berichteten und bewerteten nicht nur die Zentrumsstrategie, sondern lieferten eine Diskussionsgrundlage für die erste reichsweite Witwenund Waisenversorgung. Es sei kein Zweifel darüber möglich, dass das Werk der Arbeiterversicherung unvollständig sei, solange nicht »die Wittwen und Waisen solcher Arbeiter, die durch einen zu frühen Tod ihren Familien entrissen sind, einen gesicherten Unterhalt finden«,

urteilte im Januar 1902 die überregional angesehene das liberale Bürgertum vertretende »Voßische Zeitung« aus Berlin.420 a) Schamtuch des Zentrums zur Verdeckung »brodvertheuernde(r) Blöße« Die liberale, demokratische und soziale Frankfurter Zeitung lehnte, wie auch die »Voßische Zeitung«, den Antrag Heim und Genossen ab. Für die Sozialdemokratie bildete der Antrag eine hervorragende Gelegenheit zur Agitation. Es sei die zynische Umsetzung katholischer Grundsätze, wie das Zentralorgan der sozialistischen Arbeiterpartei 1890 »Vorwärts« im Januar 1902 zum Ausdruck brachte und die Zentrumspläne als »Die Socialpolitik der Jesuiten!« bezeichnete.421 Diese Kritik wurde nicht nur vom sozialdemokratischen Lager geäußert. Der Vorwurf lautete, man würde die Grundnahrungsmittel verteuern und so 419 Verh. d. RT v. 08. 01. 1902, Albert Südekum, S. 3215. 420 Voßische Zeitung vom 12. 01. 1902. 421 Vorwärts vom 11. 01. 1902.

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insbesondere die ärmeren Kreise der Arbeiterklasse stark belasten. Das aber, was an Zollmehreinnahmen in Form der Witwen- und Waisenversicherung zurückfließen sollte, sei hiervon nur ein geringer Bruchteil,422 wenn überhaupt mit Zollmehreinnahmen zu rechnen sei, was wiederum bezweifelt wurde:423 Der »Antrag Heim und Genossen« sei424 »das Schamtuch, hinter dem das Centrum seine brodvertheuernde Blöße zu verstecken trachtet.«

Der Antrag würde belegen, dass Zentrumspolitiker die ungerechte Belastung unterer Volksklassen anerkannten. Durch ihn wolle man »die hierin liegende Sünde vergessen machen, indem es einen Theil des Sündenlohnes für die Arbeiter=Wittwen und =Waisen zu reserviren sucht«.

Die Berliner Zeitung urteilte: »Schaum, Ihr Herren, Schaum und Schein!« und schrieb von der schweren Schuld des Brotwuchers.425 Außerdem wurde dem Zentrum das Fehlen von Grundlinien vorgeworfen, welche hätten aufzeigen können, wie genau man sich die geplante Einrichtung vorstellen würde.426 Dass seitens der Zentrumsabgeordneten indes nicht von »Versicherung«, sondern von »Versorgung« gesprochen wurde, fiel auch den Berliner Neuesten Nachrichten auf, die vermuteten, die Versorgungsberechtigten würden im Gegensatz zu Versicherten nur nach dem Maße der vorhandenen Mittel bedacht werden. Sie sahen hierin einen misslichen Umstand.427 Gefordert wurde ein wohl überlegter, praktisch durchführbarer Plan »und daß man sich 422 Ebenda. Der Großteil fließe »in die Geldtaschen der Großgrundbesitzer«, schrieb die Berliner Zeitung vom 01. 02. 1902. 423 Voßische Zeitung vom 12. 01. 1902. 424 Frankfurter Zeitung vom 11. 01. 1902. Das Bild von der Schamdecke des Zentrums, mit der es die Blößen des Zolltarifes verdecken wolle, griff der linksliberale Richard Roesicke (Freisinnige Partei) in der letzten Beratung des Reichstags 10 Monate später auf, Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Richard Roesicke, S. 6493. 425 Berliner Zeitung vom 01. 02. 1902, die schrieb, es sei das »einzig Richtige und Wahre, den ärmeren Volkskreisen die Lebensmittel nicht zu verteuern, statt nachher durch eine sogenannte Witwen= und Waisenversorgung die schwere Schuld des Brotwuchers abzugelten«. Im Ergebnis so auch die Voßische Zeitung vom 12. 01. 1902: »Die Vertheuerung des Lebens durch Erhöhung der Preise von Brod und Fleisch ist eine furchtbar ernste Sache. Wer die Absicht hat, eine solche Maßregel durchzuführen, soll sich offen dazu bekennen und sie nicht dadurch beschönigen, daß er ein Gegengeschenk macht, das sich als ein Stein ausweist.« Jedenfalls für absolut unzulässig halten es die Berliner Neuesten Nachrichten vom 25. 01. 1902, »bestimmte Reichseinnahmen dauernd für bestimmte Zwecke festzulegen.« 426 Frankfurter Zeitung vom 11. 01. 1902. 427 Berliner Neueste Nachrichten vom 25. 01. 1902. Auch die Berliner Zeitung vom 01. 02. 1902 fragte nach der Bedeutung des vom Zentrum verwendeten Begriffes der Versorgung und befürchtet im Hinblick auf die zu erwartenden Schwankungen in den Mehreinnahmen, dass auch die Versorgung »selber etwas Schwankendes und Willkürliches« haben wird.

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von allen stümpernden Versuchen fern halten« solle.428 Den Zweck einer Versorgung der Witwen und Waisen sah die Voßische Zeitung darin,429 »dafür zu sorgen, daß solchen Kindern, die den Vater durch einen zu frühen Tod verloren haben, eine Erziehung zu Theil werde, als ob der Vater noch lebte.«

b) Verteidigungsversuche des isolierten Zentrums Bei den Erklärungsversuchen des katholischen Zentrums wurde auf die Veröffentlichung von »Regierungsrath Düttmann=Oldenburg« in der katholischen Zeitschrift Arbeiterwohl Bezug genommen.430 Es sei ein »interessanter Plan zur sofortigen Durchführung einer Wittwen= und Waisenversorgung auf Grund der Mehrerträge der neuen Lebensmittelzölle.«

Bestätigt wurde die Ausgrenzung der erwerbsfähigen Witwen bis zum Alter von 70 Jahren. Dies führe »zu einer wesentlichen Verminderung der Kosten.«431 Man würde immerhin Waisenrenten unabhängig von der Erwerbsfähigkeit der Witwen gewähren. Die vorgesehene Höhe dieser Waisenrenten war allerdings so bemessen, dass sie nicht die Witwe sondern nur die Waisen unterhalten konnten.432 Der Witwe sollte also zugemutet werden, sofern sie erwerbsfähig war, für den eigenen Unterhalt zu sorgen und zwar unabhängig davon, ob und wie viele Kinder sie gleichzeitig zu erziehen hatte. Da es sich aber ausdrücklich um eine Versicherung handeln sollte, sei diese Beschränkung konsequent. Das Ausscheiden der erwerbsfähigen Witwe unter 70 Jahren entspräche gerade dem Grundgedanken, dass Frauen in der Invalidenversicherung als mitversichert zu betrachten seien.433 Auf die Doppelbelastung aus Erziehung einerseits und Erwerbstätigkeit andererseits wurde nicht eingegangen. Unbeantwortet blieb auch die Frage, wann eine Frau als erwerbsunfähig zu betrachten sein sollte. Nachdem die Regelung des Erwerbsunfähigkeitsbegriffes der nach den Düttmannschen Plänen anzuwendenden §§ 15 und 16 des Invalidenversicherungsgesetzes auf die vorherige Beschäftigung des Versicherten abstellten und definierten, erwerbsunfähig sei die Person, welche ein Drittel der vorhergehenden Arbeitsleistung nicht erbringen könnte, stellte sich die Frage, auf welche Berufstätigkeit bei der weiblichen, vorher nicht berufstätigen Versicherten abzustellen wäre. Man erklärte aber nur allgemein, dass man sich »zunächst auf einen mäßigen 428 Voßische Zeitung vom 12. 01. 1902, die den Zentrumsantrag als solchen »stümpernden und dabei nicht einmal aufrichtigen Versuch« bezeichnete. 429 Voßische Zeitung vom 12. 01. 1902, mit dem Hinweis darauf, dass schlechte Erziehung eine der ergiebigsten Quellen für die Vermehrung von Armut und Verbrechen sei. 430 Westfälischer Merkur vom 18. 03. 1902. 431 Ebenda. 432 Kölnische Volkszeitung vom 21. 03. 1902. 433 Westfälischer Merkur vom 18. 03. 1902.

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Umfang beschränke« und dass der weitere Ausbau »einer späteren, günstigen Zeit« vorbehalten sei.434 Die Beschränkung auf erwerbsunfähige Witwen führe »zu einer wesentlichen Verminderung der Kosten.«435 Es wurde also bereits angedeutet, dass schließlich auch die erwerbsfähige Witwe Ansprüche auf Rentenzahlungen erhalten sollte. Auf den Vorwurf, die Einnahmen aus Zoll-Mehrerträgen seien zu unsicher und zu schwankend, um darauf eine Versicherung aufzubauen, schrieb die Kölnische Volkszeitung, der Zentrumsantrag wolle diese Mehrerträge nicht zur Grundlage einer Witwen- und Waisenversicherung machen und spräche deshalb auch nicht von »Kostenaufbringung«, sondern nur von »Erleichterung der Durchführung«:436 Auch dem von Düttmann erdachten Wegfall der Beitragserstattung bei Heirat versicherter weiblicher Personen wurde zugestimmt, denn damit wäre »ein beträchtlicher Beitrag zur Kostendeckung erzielt«,437 was im Reichsamt des Innern deutlich markiert wurde.438 An dem Grundsatz, dass eine verheiratete Frau keine eigenen Beiträge zu zahlen hätte, wollte man festhalten. Es wurde vorgeschlagen, dass vor Heirat von Frauen gezahlte Beiträge eine Anwartschaft auf eine Erhöhung der Witwenrente begründen würden. Diese erhöhte Rente sollte 40 Prozent der Invalidenrente des Mannes betragen.439 Diese Hinterbliebenenrenten seien für den Anfang440 »schon eine werthvolle Beihülfe, die Tausende vor dem Anheimfallen an die Armenpflege bewahrt.«

c) Die »Sociale Praxis«: Ziel gebilligt aber Weg nicht gangbar Für die »Sociale Praxis«,441 das Organ eines Zusammenschlusses bedeutender Sozialpolitiker,442 schrieb deren Herausgeber Ernst Francke,443 man würde wohl 434 Ebenda, es wäre besser, »Wenn wir diesen Sperling gleich in die Hand bekommen könnten, als die Taube einer großartigen Hinterbliebenen-Versorgung, die auf dem Dache einer fernen Zukunft sitzt.« 435 Ebenda. 436 Kölnische Volkszeitung vom 21. 03. 1902. 437 Westfälischer Merkur vom 18. 03. 1902. 438 BA R 1501 100975, fol. 50. 439 Westfälischer Merkur vom 18. 03. 1902. 440 Ebenda. 441 Zur Schreibweise: Ursprünglich »Sociale Praxis«, später und so auch nachfolgend »Soziale Praxis«. 442 Bedeutende Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, unter ihnen Gustav Schmoller, Lujo Brentano und Adolph Wagner, veröffentlichten in der Sozialen Praxis, nachdem diese von einer Gesellschaft unter Führung des ehemaligen preußischen Ministers für Handel und Gewerbe, Hans Hermann von Berlepsch und Franz von Rottenburg übernommen wurde. Die sogenannten Kathedersozialisten Brentano, Schmoller, Francke, Wagner und von Berlepsch waren auch Mitglieder des Vereines für Socialpolitik.

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das Ziel der Einführung einer Witwen- und Waisenversorgung selbstverständlich billigen, den Weg aber für nicht gangbar halten.444 Wegen der zukünftigen Kosten wurde nur die Prognose Prinzings in groben Zügen wiedergegeben, indes kein Wort zu den Vorstellungen Düttmanns verloren. Gerade gegen die Finanzierungsgrundlage sprach man sich ausdrücklich aus: Man könne nicht »dauernde Ausgaben von großem Belang« und an anderer Stelle »ein so wichtiges und nothwendiges Werk der Sozialreform« auf schwankende Einnahmen gründen.445 Wie die Kosten einer Witwen- und Waisenversorgung, welche sich als »Erweiterung der Staatshülfe« darstellen würde, aufzubringen seien, wurde nicht vorgeschlagen, sondern bestimmt gefordert: Durch eine Reichserbschaftssteuer.446 Dies war freilich nur die an den Staat gerichtete Aufforderung, sich um finanzielle Mittel zu bemühen. Gleichzeitig wendete sich die »Soziale Praxis« an die Unternehmer. Diese wurden aufgefordert, sich an den Hinterbliebenen des Herrn Julius Pfungst, Begründer des Schmirgeldampfwerkes Naxos=Union in Frankfurt a. M., ein Vorbild zu nehmen. Diese hatten eine bemerkenswerte Stiftung ins Leben gerufen.447 Von dieser Unternehmensstiftung wurden die Hinterbliebenen aller Arbeiter und Meister großzügig mit jährlichen Rentenzahlungen in Höhe von 3.000 Mark an die Meisterwitwe und 1.200 Mark an die Arbeiterwitwe versorgt, allerdings nur zwei Jahre lang.448 Die Bestimmungen der Stiftungsregelungen sahen eine Wartezeit von sechs Jahren und einen Anwartschaftsverfall von 10 Jahren nach Betriebsaustritt vor.449 War man von dem Gedanken von einer Unverfallbarkeit betrieblicher Altersversorgungen noch weit entfernt, konnte man hierin ein »Beispiel rühmlicher Arbeiterfürsorge«

443 Ernst Francke, Vetter der Ehefrau Gustav Schmollers, promovierte bei Lujo Brentano und wurde 1894 auf Anraten Schmollers durch Berlepsch zum Herausgeber der »Sozialen Praxis«. 444 Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 16, 16. 01. 1902, S. 402. 445 Ebenda. 446 Ebenda, S. 403. Düttmann glaubte demgegenüber, »daß es eines weit stärkeren Druckes bedarf, als die Forderung einer Hinterbliebenenversorgung auszuüben vermag« um die Einzelstaaten zur Einführung einer Erbschaftssteuer zu bewegen, Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 24, 13. 03. 1902, S. 615. Die katholische »Kölnische Volkszeitung« vom 21. 03. 1902 meinte, ein solches Projekt würde nötigenfalls »später größere Aussichten auf Verwirklichung haben, als gegenwärtig, wenn es sich um [die] erste Einrichtung der Versicherung handele.« 447 Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 10, 05. 12. 1901, S. 263. Ein zur Arbeiterhinterbliebenenversicherung einschlägiger Bericht, der gleichwohl im Reichsamt des Innern nicht zu den Akten genommen wurde, obwohl nahezu alle anderen Artikel dieser Zeitschrift und auch der Tagespresse bereits von den mit der Erstellung der Entwürfe zur späteren Hinterbliebenenversicherung befassten Franz Caspar, Paul Kaufmann und Adolf Beckmann gesammelt werden. Die Vorstellung auf private Altersvorsorge zog die Reichsleitung nicht in Betracht. 448 Ebenda. 449 Ebenda.

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sehen, und wünschen, dass dieses »bald von anderen Unternehmern nachgeahmt würde.«450 Zur neuen Zollbelastung wollte man indes auf ein Gegenstück für die Arbeiter nicht verzichten und deutete an,451 man halte neben der genannten Erweiterung der Staatshilfe »eine Verstärkung der Selbsthülfe der Arbeiter durch Sicherung und Ausbau des Koalitionsrechtes – auch für die landwirthschaftlichen Arbeiter – ebenso für nöthig«.

In der Sozialen Praxis veröffentlichten schließlich auch Düttmann im März 1902 und Prinzing drei Monate später. Von Düttmann distanzierte sich die Redaktion aber deutlich, hielt seine Veröffentlichung indes zur Ermöglichung einer Diskussion und mithin zur Klärung der Frage über die Ausgestaltung einer Witwenund Waisenversicherung für geboten. Ihre kurz vorher ausgesprochenen »Bedenken gegen die von der Centrumspartei beantragte Begründung der Wittwen= und Waisenversicherung auf den Lebensmittelzöllen« seien auch durch die neuen Ausführungen Düttmanns »nicht erschüttert worden«, schrieb sie in einer Fußnote zu dessen Titel »Lebensmittelzölle und Wittwen= und Waisenversorgung«. Die Redaktion behauptete, aus erster Quelle zu wissen, dass der Reichskanzler auch weiterhin an seiner Aussage festhalte, Mehreinnahmen aus den Zöllen für Lebensmittel seien ganz wesentlich zur Hebung der Wohlfahrtseinrichtungen im Reich zu verwenden. Hieran knüpfte man die Bemerkung, dass eine allgemeine Steigerung der Reichseinnahmen selbstverständlich »ganz wesentlich der Fortführung der Socialreform, insbesondere der Wittwen- und Waisenversorgung, zu gute kommen muß, wenn wir auch nach wie vor die Bindung bestimmter einzelner Zollüberschüsse für sozialpolitische Zwecke, gerade im Interesse gesicherter Fundirung der Maßnahmen und Einrichtungen als bedenklich erachten.«

Der Nationalökonom Karl Diehl schrieb in der Sozialen Praxis, eine Zuweisung der Erträge aus der Zollerhöhung an die Arbeiterklasse sei ungerecht, weil »kleine Beamte« sowie die Angehörigen des sog. Mittelstandes, u. a. »kleine Kaufleute« und »kleine Handwerker«, die Brotverteuerung nicht wie die Arbeiter durch höhere Löhne wettmachen könnten und daher die eigentlich Getroffenen sein würden.452 Auch hier konnte sich die Redaktion der Soziale Praxis »nicht mit allen ihren Ausführungen identifizieren«. Von den Ausführungen Prinzings in dem Aufsatz »Die Wittwen- und Waisenversorgung der Arbeiter«453 distanzierte sich die Soziale Praxis hingegen nicht.

450 451 452 453

Ebenda. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 16, 16. 1. 1901, S. 403. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 29, 17. 4. 1902, S. 752. Soziale Praxis, 11. Jg., Nr. 38, 19. 6. 1902, S. 987–991.

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3.

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Kommissionsverhandlung über den Zolltarif im Sommer 1902

Es war die 16. Kommission, die sich aus 28 Mitgliedern zusammensetzte und unter dem Vorsitz des Abgeordneten der Freien Reichspartei von Kardorff später dem Abgeordneten Rettich (konservativ) in drei Lesungen ganze 9 Monate bis Anfang Oktober 1902 zunächst das Zollgesetz und dann den Tarif selbst beriet. Die mit Abstand umfangreichste erste Lesung nahm 102 Sitzungen in Anspruch. Die zweite Lesung erfolgte in acht Sitzungen und die dritte nahm nur noch eine Sitzung in Anspruch, wobei man in der letzten Sitzung zu dem wesentlichen Ergebnis kam, dass die Mindestzölle für die vier Hauptgetreidearten Weizen, Roggen, Gerste und Hafer zu erhöhen seien und hohe Mindestzölle für Pferde, Vieh und Fleisch hinzugefügt werden müssten. Dass dies eine Verteuerung von Lebensmitteln nach sich ziehen würde, war nahezu unbestritten. a) Carl Trimborn begründet den Zentrumsantrag von Dr. Heim und Genossen Der Zentrumsantrag wurde von Dr. Heim454 und Genossen in die ZolltarifKommission eingebracht und am 12. 08. 1902 in der 102. Sitzung, also am Ende der ersten Lesung, im Rahmen der Verwendungsanträge beraten.455 Begründet wurde der Antrag vom Fraktionskollegen Carl Trimborn (Rechtsanwalt aus

454 Georg Heim war der Führer der extremen Richtung unter den bayrischen agrarischen Mitgliedern des Zentrums und setzte sich für noch höhere Mindestzölle ein, als dies von seiner Fraktion vertreten wurde, Bachem, S. 150. 455 Antrag Dr. Heim und Genossen, einen § 11a einzuschalten mit folgendem Inhalt:»Über denjenigen Ertrag der Zölle aus den nach den Tarifstellen 1, 2, 3, 4, 102, 103, 105, 106, 107, 132, 133, 134, 160 und 163 zu verzollenden Waaren, welcher den Durchschnittsertrag der Zölle aus den nach den Tarifstellen 9 a, 9 ba, 9 bb, 9 c, 25 f, 25 g1, 25 o, 25 q2, 37 h, 39 b, 39 c, 39 d, 39 e, 39 f, 39 g, 39 h, 39 i des Zolltarifs vom 24. Mai 1885 zu verzollenden Waaren nach dem Ergebniß der Jahre 1895 bis 1902 übersteigt, ist durch ein besonderes, spätestens bis zum 1. Januar 1910 zu verabschiedendes Gesetz zur Erleichterung der Durchführung der Wittwen= und Waisenversorgung Bestimmung zu treffen. Bis zum Inkrafttreten eines solchen Gesetzes sind diese Mehr=Erträge für Rechnung des Reichs anzusammeln und verzinslich anzulegen. Tritt dieses Gesetz bis zum 1. Januar 1910 nicht in Kraft, so sind von da ab die Zinsen der angesammelten Mehrerträge, sowie die eingehenden Mehrerträge selbst den einzelnen Invaliden-Versicherungsanstalten nach Maßgabe der von ihnen im vorhergehenden Jahre aufgebrachten Versicherungsbeiträge zum Zwecke der Wittwen= und Waisenversorgung der bei ihnen Versicherten zu überweisen. Die Unterstützung erfolgt auf Grund eines vom Reichs=Versicherungsamt zu genehmigenden Statuts.«, Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S.75. Die in Bezug genommenen Tarifstellen der neu zu verzollenden Waren entsprechen folgenden Waren: 1 = Roggen, 2 = Weizen und Spelz, 3 = Gerste, 4 = Hafer, 102 = Rindvieh, 103 = Schafe, 105 = Schweine, 106 = Federvieh, 107 = Fleisch, 132 = Butter, 133 = Käse, 134 = Eier von Federvieh und Federwild, 160 = Mehl und 163 = sonstige Müllereierzeugnisse.

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Köln), der letztlich Namensgeber der »lex trimborn« sein sollte. Er und seine »Freunde« seien der Ansicht,456 »daß die Verwendung eines Theiles der durch den Zolltarif gewonnenen Mittel zu diesem Zweck im scharfen Zollkampfe versöhnend wirken werde.«

Im Rahmen der finanziellen Erörterung ging Trimborn von einer Jahressumme von 100 Mark an jede Witwe aus und warb mit dem Argument, die Kommunen würden durch die Verminderung der Armenlasten entlastet werden.457 Bemerkenswert ist, dass die in dem von ihm begründeten Antrag bezeichneten Zollmehreinahmen nach seiner Vorstellung nur ein »Fundament« einer Wittwenund Waisenversicherung darstellen würden458 und »daß das Reich die Hälfte zuschieße, die andre Hälfte zum Teil von Arbeitgebern und Arbeitern getragen werde.«

Am Ende verknüpfte Trimborn sein Plädoyer mit einer Erinnerung an den inzwischen verstorbenen Stumm-Halberg, dessen Wunsch nach einer Hinterbliebenenfürsorge vielleicht niemals erfüllt werden würde, wenn man die sich jetzt bietende Gelegenheit nicht nutzen würde.459 b) Molkenbuhr für Eventual-Antrag der Sozialdemokraten Nach dem Eventual-Antrag der Sozialdemokraten sollte das »Gesetz zur Erleichterung der Durchführung der Wittwen= und Waisenversorgung« gleichzeitig mit dem Zolltarif in Kraft treten und erheblich mehr Tarifstellen aus dem Zolltarif in die Regelung einbeziehen.460 Molkenbuhr begründete diesen Antrag in der Kommission damit, dass die vom Zentrum vorgesehenen Beträge nicht mehr als ein Almosen darstellen würden und der Großteil der höheren Umsätze

456 Originalbericht aus der 16. Kommission, 102. Sitzung vom 12. 08. 1902 in BA R 1501 100975, fol. 75–77. Zusammenfassend in Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S. 75f. 457 Ebenda. 458 Ebenda. 459 Ebenda. 460 Eventual-Antrag der Sozialdemokraten: »Die Kommission wolle beschließen 1. in dem Antrag 1 auf Nr. 1 folgende Zusätze zu machen: a) nach Nr. 4einzuschalten: Nr. 5, 6, 9, 33 bis 36, 44 bis 48, 162. b) statt 9 a, 9 ba, 9 bb, 9 c zu setzen: 9 a bis f. c) den Nummern 25 f usw. zuzusetzen: 25 g2, 25 k, 26 k, 39 a, 39 k«. 2. statt »spätestens bis zum 1. Januar 1910« zu setzen: »gleichzeitig mit diesem Gesetz«, Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S. 77.

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den Großgrundbesitzern zufließen würde. Er glaubte daher, dass der Zentrumsantrag nicht versöhnend wirke,461 sondern »daß die Verquickung der Wittwen- und Waisenversicherung mit dem Zolltarif den Arbeitern diese Versicherung verekeln werde.«

Am wünschenswertesten sei eine Witwen- und Waisenversicherung ohne Erhöhung der Zölle auf Lebensmittel.462 c)

Konservative, Nationalliberale und Freisinnige gegen eine Verknüpfung der Zolltarife-Reform mit der Witwen- und Waisenversicherung Von der konservativen Fraktion beantragte Graf Hans von Kanitz, dass die Mehrerträge, auf die sich auch der Zentrumsantrag bezog, eingesetzt werden sollten, um die Beiträge nach dem Invaliden-Versicherungsgesetz zu ermäßigen, was er damit begründete, dass man in der Landwirtschaft die Lasten der Arbeiterversicherung verringern müsse.463 Gegen jede gesetzliche Festlegung der aus dem Zolltarif fließenden Summen wandte sich der Abgeordnete Paasche (nationalliberal), denn man wisse noch nicht, ob und welche Überschüsse sich aus dem Zolltarif ergeben würden. Im Übrigen sei auch noch ganz unklar, wie eine Witwen- und Waisenversicherung zu gestalten sei.464 Er würde den Zolltarif stützen, ohne der »Popularitätshascherei« des Zentrums zuzustimmen. Der freisinnige Abgeordnete Theodor Barth (Jurist) sah im Zentrumsantrag den Versuch zur Täuschung des Volkes darüber, »daß der Brotwucher noch so gefährlich sei«. Eine geeignete Finanzierung für die Einrichtung einer Witwenund Waisenversorgung könnte sich allerdings aus der Einführung einer Erbschaftssteuer ergeben.465 d)

Bundesrat und Staatssekretär des Reichsschatzamt warnen vor noch nicht absehbarer Belastung des Reiches Gegen die von Molkenbuhr beantragte Verpflichtung zur sofortigen Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung führten sowohl die Vertreter des Bundesrates als auch der Staatssekretär im Reichsschatzamt Freiherr von Thielmann an, es sei unmöglich, noch vor der Beschlussfassung eingehende Berechnungen 461 Originalbericht aus der 16. Kommission, 102. Sitzung vom 12. 08. 1902; Zusammenfassend in Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S. 77. 462 Ebenda. 463 Ebenda, S. 76. Hiergegen wurde insbesondere von Molkenbuhr argumentiert, hierdurch würden die Grundbesitzer entlastet und erhielten so neben dem erhöhten Zollschutz für ihre Produkte auch noch einen besonderen finanziellen Vorteil, ebenda. 464 Ebenda, S. 78. 465 Ebenda.

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über deren finanzielle Tragweite anzustellen, weshalb dieser Weg unmöglich gangbar sei.466 Der Zentrumsantrag würde den sich ohnehin in einer schwierigen Situation befindlichen Reichshaushalt in noch ungewissem Umfang zusätzlich belasten. Man warnte vor diesem Hintergrund ausdrücklich vor neuen Steuern.467 Noch konkreter wurde die finanzielle Lage vom Vertreter der bayrischen Regierung Staatsrat von Stengel, geschildert, der aus diesem Grund noch einmal »zu doppelter Vorsicht« mahnte.468 Er riet zu einer weiteren Fassung des Verwendungszweckes und zur Beschränkung auf die Formulierung »Wohlfahrtseinrichtungen für minderbegüterte Volksklassen«.469 Insgesamt sei der Antrag des Zentrums abzulehnen. Die »Wohlfahrt des Ganzen, die Wohlfahrt des Deutschen Reiches!« sei höher zu bewerten als »alle Wohlfahrtseinrichtungen für einzelne Bevölkerungsklassen«.470

e) Ergebnis: Äußerst knappe Mehrheit für Zentrumsantrag in zweiter Lesung Am Ende der ersten Lesung in der Kommission wurden alle Verwendungsanträge abgelehnt, der Zentrumsantrag gegen zwölf Stimmen der Sozialdemokraten und des Zentrums. Die Zentrumsstrategie war damit zunächst gescheitert. In zweiter Lesung wurde der Zentrumsantrag dann am 2. Oktober 1902, ohne das neue Gründe angeführt wurden, mit 14 gegen 13 Stimmen angenommen.471 Die verbündeten Regierungen fühlten sich übergangen.472 Der bayerische Bundesrats-Bevollmächtigte Lerchenfeld sprach sogar von der Schuld Posadowsky-Wehners. Man habe so getan, als sei man gegen die lex trimborn und sei sicher, dass diese im Ausschuss ohnehin keine Mehrheit finden könne. Posadowsky-Wehner habe dann aber nationalliberale Abgeordnete überzeugt, für die lex trimborn zu stimmen. Am 10. 02. 1902 hatte Bülow mit Posadowsky-Wehner und weiteren preußischen Staatsministern473 kontrovers dis466 467 468 469 470 471

Ebenda, S. 78–81. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 81–83. Ebenda. Ebenda, S. 83. Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S. 84. 472 Vgl. hierzu und im folgenden Dreher, Dokumentarischer Anhang 12, Bericht Lerchenfeld an den bayrischen Staatsminister vom 22. November 1902, in dem er sogar andeutet, dass Posadowsky-Wehner selbst die lex Trimborn erdacht und dann dem Abgeordneten Carl Trimborn an die Hand gab. 473 Anwesend waren neben Bülow und Posadowsky-Wehner noch Karl Heinrich Schönstedt (Preußischer Justizminister), Heinrich von Goßler (Preußischer Kriegsminister), Georg von Rheinbaben (Preußischer Finanzminister), Victor Adolf Theophil von Podbielski (Preußischer Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten) sowie Theodor Adolf von Möller (Preußischer Minister für Handel und Gewerbe).

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kutiert, wie sich die verbündeten Regierungen im Hinblick auf den Antrag Heim verhalten sollte. Eine schlichte Ablehnung sei nicht möglich,474 »um das Zentrum zu halten und den Zolltarif zu retten sowie gegenüber der SPD eine günstigere Position bei den Neuwahlen zu schaffen. Es soll versucht werden, nicht den vollen Mehrertrag zu binden, sondern nur jene Erträge derjenigen Zölle zu Gunsten der sozialen Hebung der minder bemittelten Volksklassen zu verwenden, durch welche letztere angeblich belastet werden, auch aus Rücksicht auf die Finanzlage der anderen Bundesstaaten.«

Posadowsky-Wehner hatte also die verbündeten Regierungen zu gewinnen, was in der zweiten Kommissionsberatung des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes am 21. 11. 1902 gelang. 4.

lex trimborn: Kompromissvereinbarung von Zentrum, Freikonservative und Reichsregierung

Im Rahmen der zweiten Beratung des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes setzte sich der Reichstag am 21. 11. 1902 mit den Anträgen zur Verwendung von Mehrerträgen für eine Wittwen- und Waisenversorgung auseinander. Unsicher war, ob sich die in der Kommission gefundene Mehrheit auch im Reichstag ergeben würde. Durch die Abänderung Trimborns gelang es, auch die Zustimmung der Reichsregierung und der Freikonservativen zu gewinnen. Die Voraussetzungen hierfür wurden schon einen Monat vorher konkret genannt. Nach der traditionellen Zeitung der freikonservativen Partei »Die Post« müsse sich der Antrag des Zentrums »in gewissen Grenzen« halten,475 welche dann von den Berliner Politischen Nachrichten, einem Organ des Centralverbandes deutscher Industrieller mit guten Beziehungen zum preußischen Ministerium,476 schon so konkret beschrieben wurde, wie sie schließlich im Abänderungsantrag von Carl Trimborn wiederzufinden waren. Die zwei im Folgenden dargestellten Änderungen Trimborns waren darauf ausgerichtet, einen geringeren Betrag für eine Witwen- und Waisenversorgung zu verwenden. An der Annahme, in den Zollmehreinnahmen würden sich die von den Arbeitern zu zahlenden höheren Preise für Lebensmittel widerspiegeln, wurde festgehalten. Obwohl der Öffentlichkeit dabei aus sozialdemokratischer Sicht ganz abwegige Gedankenspiele erläutert wurden, stimmten die Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion zu und der so gefundene Kompromiss war immerhin mehrheitsfähig.

474 Zilch, Nr. 35 Vertrauliche Besprechung des Staatsministeriums im Reichskanzleramt am 10. 02. 1902. 475 Die Post, Oktober 1902 oder früher, zitiert nach Germania vom 22. 10. 1902. 476 So jedenfalls die Bewertung der Germania vom 22. 10. 1902.

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a) Streichung der Positionen Gerste und Hafer Die erklärte Absicht des Zentrums war, die eine Brotverteuerung auslösenden Zollerhöhungen nicht zu einer Finanzquelle zu machen, sondern die Mehrerträge zum Besten der Arbeiter zu verwenden. In dem Bestreben, nicht zu hohe Beträge an die Arbeiter auszuschütten, wurden die Positionen Gerste und Hafer aus dem Antrag Heim gestrichen. Es könne nämlich kein Zweifel darüber bestehen, »daß Gerste, Hafer, Mais und sämmtliche anderen zu Futter= oder gewerblichen Zwecken verwandten Getreidearten nicht unter den Begriff des Brotgetreides fallen«.

Demzufolge sei ein Ausgleich für die Erhöhung der Zölle auf eben diese Getreidearten nicht erforderlich.477 Mit dieser auf den inzwischen untrennbar mit dem Zolltarif verbundenen Begriff der Brotverteuerung gegründeten Argumentation gelang es, den Ultramontanen des Zentrums einen Kompromiss zu unterbreiten, mit dem diese ihr Gesicht bei den katholischen Arbeitern bewahren konnten. b) Mehreinnahmen pro Kopf Aus der Vorstellung, man wolle die Brotverteuerung ausgleichen aber darüber hinaus dem Arbeiter keine Zolleinnahmen zukommen lassen, wurde eine weitere Einschränkung des Zentrumsantrages erklärt. Eventuelle Zollmehreinnahmen würden nämlich voraussichtlich auch auf ein Bevölkerungswachstum und eines damit einhergehenden größeren Verbrauchs zurückzuführen sein. Dies würde auch zu einer größeren Einfuhr an Lebensmitteln aus dem Ausland führen. Diesen Effekt wollte man aus den für eine Hinterbliebenenversicherung vorgesehenen Zollmehreinnahmen herausrechnen, indem nur der sich »pro Kopf der Bevölkerung« ergebende Mehrbetrag zu Gunsten der Witwen- und Waisenversorgung Verwendung finden sollte.478 5.

Zweite Beratung zum Zolltarifgesetz im Reichstag

Die zweite, abschließende Beratung des Reichstags über die Verwendung der Mehrerträge aus den Zollerhöhungen für eine Witwen- und Waisenversorgung fand am 21. 11. 1902 statt. Wegen Krankheit nahm Franz Hitze an der Beratung nicht teil. Für das Zentrum sprach Carl Trimborn. Er begründete zunächst die in seinem erst am selben Tag gestellten Abänderungsantrag aufgenommenen Be-

477 Berliner Politische Nachrichten, Oktober 1902 oder früher, zitiert nach Germania vom 22. 10. 1902. 478 Ebenda.

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schränkungen. Eben diese Beschränkungen wurden zuvor von den Berliner Politischen Nachrichten gefordert.479 Man wollte480 mit ihnen »den finanziellen Bedenken einigermaßen Rechnung tragen [und] damit die Bahn für die Annahme unseres Antrages mit möglichst großer Mehrheit und für die Zustimmung der Regierungen freimachen.«

a)

Kompromissvorschlag Trimborns: Einschränkungen durch lex trimborn ermöglichen volle Zustimmung aus der eigenen Fraktion Es galt, noch eine weitere Hürde aus dem Weg zu räumen, die sich in den eigenen Reihen ergab. Ein Teil des Zentrums war gegen eine beitragsfinanzierte Witwenund Waisenversicherung und befürchtete in der Regelung des Zolltarifs eine diesbezügliche Festlegung. Damit auch mit diesen Zentrumsstimmen gerechnet werden konnte, nahm Carl Trimbon von seinem noch in den Kommissionsverhandlungen ausdrücklich vertretenden Standpunkt481 Abstand, die Hälfte der Kosten einer Witwen- und Waisenversorgung seien ohne Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge aufzubringen, und relativierte:482 Dies seien »selbstverständlich ganz unverbindliche Erwägungen eines einzelnen Abgeordneten« [gewesen].«

Für die nunmehrige Erklärung, es bestünden im Gegenteil lebhafte Bedenken, »die Landwirthschaft und das Handwerk mit neuen Beiträgen für eine Wittwen= und Waisenversicherung zu belasten.« erfolgte Beifall in der Mitte des Reichstages und die Sozialdemokraten riefen »Hört! Hört!«.483 Die Haltung des Zentrums zur Finanzierungsfrage einer »Wittwen- und Waisenversorgung«,484 wie sie dessen Antrag zum Zolltarifgesetz bezeichnet wurde, offenbart, dass eine politische Festlegung bezüglich der näheren Ausgestaltung einer solchen nicht möglich war. Die wesentliche Frage nach der Finanzierung blieb noch völlig offen. Selbst die Frage, welchen Anteil die Zollmehreinnahmen an den Gesamtkosten einnehmen sollten, beantwortete man widersprüchlich. Noch in den 479 Berliner Politische Nachrichten, Oktober 1902 oder früher, zitiert nach Germania vom 22. 10. 1902. 480 Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6488. 481 In den Kommissionsverhandlungen hatte Carl Trimborn am 12. 08. 1902 noch erklärt, er würde sich die Finanzierung der Witwen- und Waisenversicherung so vorstellen, »daß das Reich die Hälfte zuschieße, die andre Hälfte zum Teil von Arbeitgebern und Arbeitern getragen werde.«, Originalbericht aus der 16. Kommission, 102. Sitzung vom 12. 08. 1902 , BA R 1501 100975, fol. 75. 482 Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6489. 483 Ebenda. 484 So bezeichnet im Antrag Heim und Genossen, Sten. Ber. RT, X. Leg. Per., 2. Session, Bd. 17, Anl. Nr. 704, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vom 06. 10. 1902, S. 75.

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Kommissionsverhandlungen wollte Trimborn die in Bezug genommenen Zollmehreinnahmen nur als erstes Fundament einer Witwen- und Waisenversorgung verstanden wissen.485 Aufgrund der Beschränkung des Antrages Heim durch den Antrag Trimborns musste man von weniger Zollmehreinnahmen ausgehen, die an Hinterbliebene der Arbeiter ausgezahlt werden konnte. Außerdem fielen die Versicherungsbeiträge, welche nach seinem Modell auf das Fundament aufbauen sollten, nach neuer Vorstellung weg. Dennoch sprach Trimborn die Hoffnung aus,486 dass »bloß durch die Ansammlung derjenigen Mittel, die aus meinem Antrage erfließen würden, sich immerhin recht fühlbare Unterstützungen für die hier in Betracht kommenden bedrängten Kreise unserer Bevölkerung erzielen lassen würden.«

Dass die zu erwartenden Leistungen an Witwen und Waisen aus der neu zu schaffenden Einrichtung höher sein würden, als sie bereits im Rahmen kommunaler Armenverwaltung erbracht wurden, behauptete Trimborn nicht und dies konnte wohl auch nicht angenommen werden. Ein Vorteil für die Witwen und Waisen hätte sich nach diesen Vorstellungen allein daraus ergeben, dass für sie ein Rechtsanspruch auf Unterstützung geschaffen würde. Den Gewinn einer solchen Leistung sah Trimborn besonders darin,487 dass Hinterbliebene von Arbeitern »von dem Odium, um Armenunterstützung einkommen und solche in Empfang nehmen zu müssen [befreit würden].«

b) Argumente gegen den Einwand zu schwankender Einnahmen Auf den Einwand der Sozialen Praxis, auf schwankenden Einnahmen könne man eine Einrichtung von der Bedeutung der Witwen- und Waisenversicherung nicht begründen, erdachte man sich die Ausgestaltung als Ausgleichsfonds. Danach sollten die Mehrerträge bis zum Jahre 1910 aufgesammelt werden, um damit die Schwankungen auszugleichen, die sich aus den wechselnden Zollerträgnissen ergeben würden.488 c) Freisinnige und Soziale Praxis gegen lex trimborn Richard Roesicke sprach sich gegen den Antrag Trimborns aus. Dieser stelle ein »Danaergeschenk schlimmster Art« dar, weil der Zolltarif eine Konsumverteuerung von 55 Mark pro Familie bewirken würde, von denen nur 7 Mark für eine Witwen- und Waisenversorgung zurückgelegt werden würden, wie er aus Er485 Originalbericht aus der 16. Kommission, 102. Sitzung vom 12. 08. 1902, BA R 1501 100975, fol. 75. 486 Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6490. 487 Ebenda. 488 Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6489.

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fahrungen der vergangenen Jahre zu schließen können meinte.489 Zu befürchten sei darüber hinaus, dass sich zukünftig gar keine Zollmehreinnahmen ergäben, weil sich der Lebensmittelimport infolge des Zolltarifes reduzieren würde.490 Dann aber wäre »für die Wittwen- und Waisenversorgung nichts vorhanden, während aber die Konsumvertheuerung eine dauernde« sei.491 Der Zentrumsantrag stelle in Wahrheit – hier fiel wieder dieses häufig in der Diskussion verwendete Wort – eine Schamdecke dar, mit der die Blößen des Zolltarifs verdeckt werden sollten.492 Die Bedenken der »Sozialen Praxis«, die Zolleinnahmen seien zu schwankend, um sie zur Finanzierung einer Witwen- und Waisenversorgung zu nutzen, teilte Roesicke, auch wenn sie nicht von ihm herrühren würden, was zuvor Trimborn angedeutet hatte. Tatsächlich seien diesbezüglichen Bedenken dadurch, dass Trimborn die Positionen Hafer und Gerste aus dem Zentrumsantrag herausgenommen habe, noch größer geworden, weil sich dadurch der zur Verfügung stehende Betrag ganz bedeutend verringern würde. Obwohl die Witwen- und Waisenversorgung nicht nur höchst wünschenswert, sondern auch notwendig sei, würden er und die Abgeordneten der freisinnigen Vereinigung aus diesen Gründen gegen den Zentrumsantrag stimmen.493 d) Sozialdemokraten hielten Antrag für falsch, stimmen jedoch zu Für die sozialdemokratische Fraktion sprach erneut Molkenbuhr und argumentierte gegen die Erhöhung der Zölle. »Jeder neue Zoll [sei] die Grundlage zu einer Forderung weiterer Zölle.«494 § 11 a sei in Wahrheit »gar nichts anderes als eine schlechte Nachahmung der Botschaft vom 17. November 1881.«495 Bismarck habe damals ganz erhebliche Zölle und Verbrauchsabgaben eingeführt und dann, um die Massen ein wenig zu beruhigen, in der Botschaft den Hinweis auf die Arbeiterversicherung aufgenommen.496 Die Modifikation des Zentrumsantrags durch die lex trimborn bewertete 489 490 491 492 493 494

495 496

Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Richard Roesicke, S. 6493. Ebenda, S. 6494. Ebenda. Ebenda, S. 6493, ein Bild, das erstmals 10 Monate zuvor von der Frankfurter Zeitung gezeichnet wurde, Frankfurter Zeitung vom 11. 01. 1902. Ebenda, S. 6491 und 6495. Verh. d. RT. v. 21. 11. 1902, Hermann Molkenbuhr, S. 6500. Die Landwirtschaft werde in Zukunft zwar in der Lage sein, »Gelder zur Wittwen- und Waisenversicherung herzugeben.« Er zweifelte jedoch sehr, »daß sie dazu bereit sein wird« und prognostizierte, dass vielmehr immer weitere Zölle aufgrund einer behaupteten »Nothlage der Landwirthschaft« gefordert werden würden, ebenda. Ebenda. Ebenda.

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Entwicklung bis zur »lex trimborn« 1902

Molkenbuhr zynisch und fragte, »wohin mit einmal die Ziffern 3 (Gerste), 4 (Hafer), 133 (Butter), 134 (Käse) und 135 (Eier) aus dem ursprünglichen Antrag verschwunden [seien]«. »In einem Orkus« gab er die Antwort selber, worauf die linke Seite des Reichtags mit »Heiterkeit« reagierte.497 Molkenbuhr rechnete vor, dass von den erhöhten Umsätzen, die sich infolge der Brotpreissteigerung ergäben, nach dem Zentrumsantrag 78,2 Prozent die Grundbesitzer erhalten würden, während das Reich noch 13,21 Prozent, die Witwen indes nur noch 8,59 Prozent erhalten würden.498 Er erklärte es zur SPD-Forderung, sämtliche Getreidezölle für eine Witwen- und Waisenversicherung zu verwenden und kam auf eine Gesamtsumme von 400 Millionen Mark, welche ausreichen würde, jeder Witwe und jeder Waise 120 Mark zu gewähren.499 Die Sätze 100 Mark pro Witwe und 33 Mark pro Waise, wie sie von Trimborn in den Kommissionsverhandlungen vorgeschlagen wurden, würden dagegen nicht ausreichen, um die notwendigen Lebensmittel und Wohnkoste zu bezahlen.500

IV.

Ergebnis: Einführungszeitpunkt geregelt

Mit der Aufnahme der »lex trimborn« wurde ein für die Aufnahme von Hinterbliebenenrenten in die Rentenversicherung entscheidendes Ergebnis erreicht. Eine Einführung wurde für das Jahr 1910 in Aussicht gestellt. Weil man zum Ausgleich der Zollerhöhungen und den daraus resultierenden Preisanstieg für Lebensmittel Gelder in Form einer Hinterbliebenenfürsorge zurückführen wollte, wurde ein enormer politischer Druck aufgebaut. Der Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge konnte man sich hiernach kaum noch verschließen. Posadowsky-Wehner nutzte diese Lage, um sofort mit Vorarbeiten zur gesetzlichen Regelung von Hinterbliebenenrenten zu beginnen.

497 Ebenda, auf seine folgende Erklärung für die Streichung von Butter, Käse, Brot und Eier, dass diese Lebensmittel nämlich nach Annahme des Zolltarifes überhaupt aus dem Haushalt der Arbeiter verschwinden würden, rufen Sozialdemokraten « Sehr gut!«, ebenda. 498 Verh. d. RT. v. 21. 11. 1902, Hermann Molkenbuhr, S. 6503. 499 Verh. d. RT. v. 21. 11. 1902, Hermann Molkenbuhr, S. 6503f. 500 Verh. d. RT. v. 21. 11. 1902, Hermann Molkenbuhr, S. 6505, tatsächlich würden diese Beträge gerade ausreichen, den Zoll auf die Mengen Fleisch und Brot zu bezahlen, »welche ein Mensch nothwendigerweise genießen muß.«, ebenda.

Dritter Teil: Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

A.

1903: Hinterbliebenenversicherung als Wahlkampfthema »Meine Herren, die künftigen Wahlen haben zweifellos die Reden, welche wir am Sonnabend und heute zu hören bekamen, stark beeinflußt.«,

so der Abgeordnete Hans Crüger (Freisinnige Volkspartei, Jurist und Publizist) am 9. Februar 1903 im Deutschen Reichstag.501 Auf die Regelung der lex trimborn folgte eine öffentliche Diskussion, die im Licht der anstehenden regulären Reichstagswahl vom 16. Juni 1903 stand. Im Licht des Wahlkampfes standen die Themen der Arbeiterwitwenversicherung, aber auch schon einer Angestelltenwitwenversicherung in ersten Ansätzen, bereits im Winter 1902. Oft waren es die Sozialdemokraten, welche in reißerischer Art insbesondere Zentrumspolitiker angriffen und sprachlich treffsicher polemisierten, wie deren Verhalten mit katholischen Grundsätzen überein zu bringen sei. Die zentrale Aussage lautete, es handele sich bei der »lex trimborn« um eine »Verhöhnung« der Witwen.

I.

Sozialdemokraten tragen »lex trimborn« in die Öffentlichkeit

Schon am 22. November 1902, also einen Tag nach der Abstimmung über den Zolltarif, titelte »Vorwärts«, das »Centralorgan der socialdemokratischen Partei Deutschlands«: »Christliche Wittwen= und Waisenverhöhnung« und griff direkt die katholische Zentrumspartei sowie den Zentrumspolitiker Carl Trimborn an: Die »Generalpächterin der christlichen Barmherzigkeit, die Centrumspartei« habe sich unchristlich verhalten.502 In Bezug auf das Zustandekommen der »lex 501 Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Hans Crüger, S. 7792. 502 Vorwärts vom 22. 11. 1902; auch im Reichstag sprechen Sozialdemokraten von einer »Verhöhnung« durch das Zentrum, so im Rahmen der Beratung über den ReichshaushaltsEtats 1903 der Abgeordnete Gustav Hoch, Verh. d. RT v. 11. 02. 1903, Gustav Hoch, S. 7843.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

trimborn« wurde behauptet und polemisch begründet, dass der ursprüngliche Antrag nur zum Schein gestellt sein würde.503 »Heute, da das Centrum selbst seinen Antrag im Stich gelassen und sich auf den Bettelpfennig des Antrags Trimborn zurückgezogen hat, ist es klar, daß da sein ursprünglicher Antrag nur dazu da war, um mit ihm großmäulige Reklame zu treiben, daß aber niemals die ernste Absicht bestand, ihn Gesetz werden zu lassen.«

Bevor über den gesamten neuen Zolltarif in der Vorweihnachtszeit, am 14. 12. 1902 endgültig beschlossen wurde, stellte Reichskanzler Graf von Bülow die Zustimmung des Bundesrates insbesondere auch zur späteren Einführung einer Witwen- und Waisenversorgung in Aussicht, worüber die Sozialdemokraten im Reichstag lachten, aus der Mitte und von rechts hingegen ein lebhaftes Bravo gerufen wurde.504 Die Reaktionen verdeutlichen die gespaltene Stimmung im Reichstag. Der neue Zolltarif und insbesondere die »lex trimborn« stelle einen »Hungerund Wuchertarif« dar und die verantwortlichen Zentrumspolitiker seien »Brotund Nahrungsmittelverteurer«, kommentierte Vorwärts.505 Auch nach der Verabschiedung des neuen Zolltarifes war es ein Sozialdemokrat, welcher im Reichstag das Thema der Arbeiterwitwenversicherung als erster wieder aufgriff. August Bebel nutzte bereits die Beratungen über einen Gesetzesentwurf zur Verwendung der Mehrerträge der Überweisungssteuern zur Schuldentilgung, um die Auswirkungen des neuen Zolltarifes auf die Lebensmittelpreise und deren Missverhältnis zur Summe, die für eine zukünftige Witwen- und Waisenversorgung reserviert wurde, an den Pranger zu stellen. Er errechnete eine Verteuerung von Brotgetreide um ca. 540 Millionen Mark, von denen nur 40 Millionen Mark in die Witwen- und Waisenkasse fließen würden.506 Reichskanzler Graf von Bülow gestand Bebel zwar zu, dass es auf sozialpolitischem Gebiet noch viel zu verbessern gäbe, richtete aber den Fokus auf die Vergangenheit und verwies auf das bereits Erreichte: Arbeiter- und Kinderschutzgesetzgebung sowie Gewerbegerichtsnovelle. Man könne freilich nicht alle Forderungen im Handumdrehen erfüllen.507 Doch sozialdemokratische Abgeordnete ließen sich von weiteren Ausführungen hierzu nicht abhalten. Die »lex trimborn« stehe im Widerspruch mit dem Grundgedanken der Arbeiterversicherung, weil sich die Lebenssituation der 503 Vorwärts vom 22. 11. 1902. 504 Verh. d. RT v. 14. 12. 1902, Bernhard von Bülow, S. 7144. 505 Vorwärts vom 19. 12. 1902. Noch vor der Reichstagswahl 1912 attackierte die Sozialdemokratische Partei die Zoll- und Steuerpolitik der Regierung und nutze den Preisanstieg für Lebensmittel, welcher allerding zu der Zeit Folge von Missernten gewesen war. Die Wahl von 1912 führte zu einem Linksrutsch, hierzu Craig, S. 259f. 506 Verh. d. RT v. 22. 01. 1903, August Bebel, S. 7476f. 507 Verh. d. RT v. 22. 01. 1903, Bernhard von Bülow, S. 7490.

1903: Hinterbliebenenversicherung als Wahlkampfthema

123

Arbeiter nicht verbessere, sondern durch den Zolltarif insgesamt verschlechtere. Ein Ausbau der Arbeiterversicherung sei daher kaum gelungen. Der Abgeordnete Gustav Hoch (Schriftsteller) verwies außerdem darauf, dass der angedachte Satz von 80 Mark jährlich kaum ausreichen könne, eine Witwe zu versorgen, weshalb die Abhängigkeit von Armenpflege bestehen bliebe. Den Arbeitern »eine kollossale Summe an Geld und Gut« abzunehmen und ihnen dann als sogenannte »Wittwen- und Waisenversorgung einen winzigen Theil« davon zurückzugeben, sei eine »Witwen- und Waisenverhöhnung«.508

II.

Carl Trimborn verteidigt »lex trimborn«; Unterstützung aus der nationalliberalen Fraktion

Als Carl Trimborn für das Zentrum in die Beratung über die Position »Reichsamt des Innern, Staatssekretär, bzw. sozialpolitische Gesetzgebung« des Reichshaushalts=Etats für das Rechnungsjahr 1903 als erster Redner einführte, widmete er sich sofort einer »Wittwen= und Waisenversicherung«. Von den Sozialdemokraten ausgelacht, fasste er die bereits vorher im Reichstag genannten Argumente für die »lex trimborn« noch einmal zusammen. Bemerkenswert ist allerdings, dass er auch noch einmal die ablehnende Haltung der Agrarier aus der Zentrumsfraktion gegenüber weiteren Versicherungsbeiträgen aufnahm und eine solche Finanzierungsgrundlage zwar nicht ablehnte, sondern als offene Frage bezeichnete. Gegen eine Beitragsbelastung der landwirtschaftlichen Bevölkerung bestünden in Zentrumskreisen aber ganz erhebliche Bedenken.509 Diese Aussage wurde dann auch in den Akten des Reichsamtes des Innern deutlich markiert und von Franz Caspar, Adolf Beckmann, Paul Kaufmann und Bockshammer510, den zuständigen Mitarbeitern für das Entwerfen einer ersten Denkschrift, zur Kenntnis genommen.511 In seinen weiteren Ausführungen, die in den Akten des Reichsamtes des Innern ebenfalls teilweise markiert werden, wies er den Vorwurf der Sozialdemokraten zurück, man habe den Arbeitern den Zolltarif bloß »schmackhafter« machen wollen, sei also an einer funktionierende Witwen- und Waisenabsicherung in Wahrheit gar nicht interessiert. Die Witwen- und Waisenversicherung sei ein uralter Wunsch seiner Parteifreunde gewesen. Man habe klug gehandelt, die Gelegenheit, die der Zolltarif bot, zu nutzen.512 Das »Rechenexempel«, nach dem der Bevölkerung letztlich 13 Mark durch die 508 509 510 511 512

Verh. d. RT v. 11. 02. 1903, Gustav Hoch, S. 7844. Verh. d. RT v. 07. 02. 1903, Carl Trimborn, S. 7746. Vorname unbekannt. BA R 1501 100968, fol. 313. Verh. d. RT v. 07. 02. 1903, Carl Trimborn, S. 7746.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Zollerhöhungen genommen würden, von denen nur 1 Mark zurückgegeben werde, bezeichnete Trimborn als falsch. Die Wählerschaft werde intelligent genug sein, nicht auf ein solch fehlerhaftes Beispiel hereinzufallen. Die Fehler in der Berechnung der Sozialdemokraten erläuterte er ausführlich, indem er eine Mehrbelastung pro Kopf und pro Jahr von 2 Mark 91 Pfennige errechnete.513 Für diese Mehrbelastung würde man »eine einigermaßen gesicherte Existenz von Frau und Kind nach dem Tode des Ernährers [eintauschen].«

Gegen die sozialdemokratischen Angriffe verteidigte auch der Abgeordnete Paasche (nationalliberal) die »lex trimborn«, obwohl er selbst gegen sie stimmte. Lebhafte Zustimmung erhielt er für die rhetorische Frage, welche Alternativen man zu bieten habe. Er sei gegen die vorzeitige Festlegung der Zollmehreinnahmen gewesen und habe deshalb in der Kommission gegen den Antrag von Trimborn gestimmt.514 Zum Vorwurf, der angedachte Leistungssatz von 80 Mark jährlich sei nicht ausreichend, führte Trimborn an, dass einerseits auch bezüglich der Leistungssätze keine Festlegung erfolgt sei, andererseits diese Sätze immerhin mehr als nichts seien, zumal Witwen auf diese Leistungen im Unterschied zur Armenpflege einen Rechtsanspruch hätten. Dass noch keine Festlegung erfolgen konnte, begründete Trimborn damit, dass die Beträge der Zollmehreinnahmen noch ungewiss seien. Durch seine Argumentation legte er sich also noch nicht einmal auf die als deutlich zu niedrig kritisierten Leistungssätze fest, sondern hielt sich im Ergebnis offen für noch geringere Sätze, ohne dies allerdings ausdrücklich auszusprechen. 80 Mark für eine Witwe sei zwar nicht viel, aber doch viel besser als nichts. Er betonte den Vorteil der Ausgestaltung als Rechtsanspruch.515

III.

Vorwürfe: Einführung erst 1910 zu spät, Finanzierungsfrage ungeklärt, Lücke für spätere Angestellte bleibt

Vorwürfe, eine Einführung erst für das Jahr 1910 anzuberaumen und dazu noch nicht einmal grundlegende Bestimmungen wie die Finanzierungsfrage geklärt zu haben, wurden nicht nur von sozialdemokratischer Seite laut. Die freisinnigen Parteien, aber auch der nationalliberale Abgeordnete Hilbck (Bergwerksdirektor) forderten die Klärung der Finanzierungsfrage und eine frühere Ein513 Verh. d. RT v. 07. 02. 1903, Carl Trimborn, S. 7746. 514 Verh. d. RT v. 11. 02. 1903, Hermann Paasche, S. 7851. 515 Verh. d. RT v. 12. 02. 1903, Carl Trimborn, S. 7872.

1903: Hinterbliebenenversicherung als Wahlkampfthema

125

führung. Übereinstimmend wurde hierbei davon ausgegangen, dass hierzu entsprechende Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge erforderlich sein würden. Als erstes äußerte sich in entsprechender Weise der freisinnige516 Sozialpolitiker Richard Roesicke. Er erklärte zunächst, dass er mit »Herrn Kollegen Trimborn« auch die Einführung der Witwen- und Waisenversicherung erhoffe und wünsche. Dann distanzierte er sich aber doch deutlich von der Erklärung Trimborns und legte die seines Erachtens bestehenden Schwächen am Zentrumskonzept bloß. Die Finanzierung sei sehr unsicher und weitgehend ungeklärt. Roesicke warf dem Zentrum außerdem eine zu landwirtschaftsfreundliche Politik in der Frage einer Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung vor und verglich die Landwirte mit kleinen Gewerbetreibenen, denen es oft nicht besser als den Landwirten ginge: »Wenn wir überhaupt eine Wittwen= und Waisenversicherung einführen, dann haben wir alle Veranlassung, nicht bei den Landwirthen Halt zu machen, sondern diese Wohlthat auch den Arbeitern und Arbeiterinnen der Landwirthschaft zu gewähren, um so mehr als doch zugegeben werden muß, daß es auch in den übrigen Erwerbskreisen, namentlich unter den kleinen Gewerbetreibenden, eine große Zahl von Unternehmern giebt, die nicht besser gestellt sind als die große Masse der Landwirthe.«

Übereinstimmend mit Richard Roesicke sprach sich der Abgeordnete Hans Crüger (Freisinnigen Volkspartei) gegen eine Verschiebung der Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung auf 1910 aus und bemängelte ebenfalls auch die ungeklärte Frage der Finanzierung im bisherigen Konzept. Ganz deutlich forderte er aber auch eine Absicherung der Witwen und Waisen aus den Handwerker- und dem Mittelstand. Letztlich stellte auch Crüger fest, dass ein Ausgleich der durch die Erhöhung der Zolltarife eingeschränkten Arbeiterinteressen über die lex trimborn nicht gelungen sei. Zusammenfassend erklärte er sich mit den sozialpolitischen Forderungen Richard Roesickes »im großen und ganzen durchaus einverstanden«.517 Gegen die Finanzierung aus Zollmehreinnahmen argumentierte er wie folgt:518 »[…] bekanntlich können die Wittwen und Waisen von den zurückgelegten Zöllen frühestens im Jahre 1910 etwas bekommen – wenn überdies bis dahin die Frage gelöst ist. Bis zum Jahre 1910 kann unmöglich also Herr Kollege Trimborn die Zolltarifvorlage und diese Gesetzbestimmungen als eine weise Maßnahme bezeichnen, in der die Interessen der einen und die der anderen ausgeglichen werden. Herr Kollege Trimborn hat gemeint, 516 Richard Roesicke gehörte bis kurz vor seinem Tod am 21. 07. 1903, also noch vor Einberufung des neuen Reichstags, keiner Fraktion an, trat im Juni 1903 dann der Freisinnigen Vereinigung bei, Roesicke, Richard, Amtliches Reichstags-Handbuch, XI. Leg.per., Bd. 11, S. 305. 517 Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Hans Crüger, S. 7793. 518 Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Hans Crüger, S. 7792.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

für die Zollerhöhungen sei eingetauscht die Sicherstellung der Hinterbliebenen. Da lege ich ihm die Frage vor : was tauscht man bis 1910 für die Zollerhöhung ein? Und will er wirklich ernsthaft behaupten, daß allein mit den Beträgen, die aus den dafür in Betracht kommenden Zöllen zurückgelegt werden sollen, die Wittwen= und Waisenpensionsfrage gelöst werden kann? Er hat gesagt, es wird eingetauscht die Sicherstellung der Hinterbliebenen – ich frage ihn: wie wird es denn mit den Wittwen und Waisen aus dem Handwerkerstande und dem Mittelstande, der ja heute schon viele Erörterungen hat über sich ergehen lassen müssen? Werden die Wittwen und Waisen aus diesen Ständen auch sicher gestellt? Liegt für die auch ein Eintausch vor gegen die Zollerhöhungen, deren Folgen sie zu tragen haben?«

Die Kritik der Beschränkung einer Witwen- und Waisenvorsorge auf die Arbeiterklasse wurde auch von nationalliberaler Seite geäußert, wobei als weitere Personengruppe mit großem Bedarf die »Unterbeamten« genannt wurden, welche ebenfalls nach dem späteren AVG versichert waren.519 Die Beschränkung auf Arbeiter wurde von Hermann Paasche als weiterer Grund dafür angegeben, dass er in den Kommissionsverhandlungen gegen die »lex trimborn« gestimmt hatte. Hauptgrund sei aber gewesen, dass er gegen die finanzielle Festlegung gewesen sei. Paasche sagte:520 »Wir haben ebenso die Verpflichtung, für die Wittwen und Waisen unserer Unterbeamten besser zu sorgen, als es heute geschieht, (sehr richtig!) auch zu sorgen für die Witwen und Waisen unserer höheren Beamten, die oft schlechter gestellt sind, weil sie wohl mit guter Bildung, aber ohne allen Besitz, von Vater und Mutter verlassen werden. (Sehr wahr! rechts.) Da geht mir der Antrag in der Beziehung nicht weit genug«.

Alexander Hilbck (nationalliberal) forderte die sofortige Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung für alle Arbeiter. Welche finanziellen Mittel dazu aufzubringen seien, erklärte er anhand der Witwen- und Waisenversicherung im Bergbau durch die Knappschaftskassen.521 Sodann äußerte er sein Unverständnis darüber, wie man einerseits eine Festlegung auf zukünftige Versicherungsbeiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausschließen und zugleich so unbestimmte Einnahmen wie die Zollmehreinnahmen als Finan519 Zuvor war man davon ausgegangen, dass es sich bei der Ausübung von Schreibtätigkeiten nur um ein Zwischenstadium handeln würde, welches durchlaufen würde, um den Schritt in die Selbstständigkeit zu gehen. Eine Altersabsicherung würde sich aus der Ansparung eines Kapitals ergeben, Schulz, S. 24. 520 Verh. d. RT v. 11. 02. 1903, Hermann Paasche, S. 7851. 521 Als Bergwerksdirektor und – nachdem er sowohl Rechts- als auch Bergwissenschaft studierte – war Hilbck Fachmann auf diesem Gebiet.

1903: Hinterbliebenenversicherung als Wahlkampfthema

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zierungsgrundlage bestimmen könne. Die im Bergbau gewährten Renten von 200 Mark jährlich hielt er für noch zu gering. Er sprach sich für einen Reichszuschuss von 50 Mark aus, was er wie folgt begründete:522 »Diese Witwen= und Waisenversorgung [gemeint: Im Bergbau durch die Knappschaftskassen] hat im vorigen Jahre, wie ich schon sagte, 16,30 Mark auf jeden Kopf der Arbeiter gekostet, und Sie müssen sich klar machen – ich bedaure, daß Herr Trimborn das nicht gethan hat -, daß wir so viel auch im Reiche aufzubringen haben, und daß das Reich allein das nicht aufbringen kann. Das Reich kann nach meiner Meinung nicht mehr und nicht weniger thun, als einen Zuschuß geben, etwa in derselben Wiese und Höhe wie bei der Invalidenversicherung, und das übrige müssen die Arbeitgeber und die Arbeiter aufbringen. Ich habe in der That nicht recht verstanden, weshalb der Herr Kollege Trimborn sich davor scheut, das hier offen auszusprechen. Man kommt daran gar nicht vorbei. Wenn die Witwenversicherung begonnen werden soll, so müssen die Arbeitgeber recht tief in den Beutel greifen, sowohl wir in der Industrie wie Sie in der Landwirthschaft, und ich hoffe, Sie werden dann recht freigebige Hände haben und dafür sorgen, daß man nicht bis 1910 zu warten braucht, bevor die Versicherung beginnt. Ich habe ja gegen den Antrag Trimborn gestimmt, nicht weil ich gegen die Witwenversicherung wäre, sondern, einmal, weil ich nicht bestimmte feste Ausgaben auf so unbestimmte Einnahmen anweisen wollte, dann, weil ich die Sache nicht bis 1910 verschoben haben möchte. Mir würde es weitaus am angenehmsten sein, wenn schon der nächstjährige Reichstag mit dieser, wie ich anerkenne, allerdings sehr schwierigen Materie sich beschäftigen wollte.«

IV.

Deutsche Reichspartei für zeitlichen Aufschub über 1910 hinaus

Für den Juristen Freiherr von Richthofen-Damsdorf, welcher als Reichstagsabgeordneter der Deutschen Reichspartei auch Mitglied des Ausschusses Invalidenversicherung war, war der gebotene Zeitpunkt für die Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung noch nicht gekommen, weil weder die erforderliche Leistungsfähigkeit der Arbeitgeber noch die Reichsfinanzen ausreichen würden. Etwas anderes hätte gegolten, wenn man, der Deutschen Reichspartei folgend, höhere Zolltarife beschlossen hätte, was er allerdings nur andeutete.523 Auch wenn eine frühere Einführung durchaus wünschenswert sei, könne er doch die in einigen Kreisen aufgekommene Besorgnis verstehen, dass die Sozialgesetzgebung »ein etwas zu rasches Tempo habe.«524 Die Frage nach dem Zeitpunkt, zu welchem ein Gesetz über eine Witwen- und Waisenversicherung ins Leben treten könnte, sei daher noch nicht spruchreif.525 522 523 524 525

Verh. d. RT v. 12. 02. 1903, Georg Friedrich Alexander Hilbck, S. 7879. Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 7799. Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 7799. Verh. d. RT v. 09. 02. 1903, Karl Friedrich von Richthofen-Damsdorf, S. 7800.

128

B.

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Erste Denkschriften ab 1903 von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann

Erst nach der Reichstagswahl wurden erste konkrete Vorarbeiten im Reichsamt des Innern zur Einführung einer umfassenden Arbeiterwitwenversicherung in die Akten aufgenommen. Eine erste Denkschrift, die der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner in veränderter Form mit Datum vom 1. März 1904 den verbündeten Regierungen mit der Bitte um Stellungnahme zukommen ließ, ist datiert vom 25. Juni 1903.526 Die Überlegungen Posadowsky-Wehners begannen, wie die Vorbemerkungen aus dieser Denkschrift ausdrücklich einleiten, schon früher. Zuvor war man noch von deutlich höheren Reichsbeiträgen ausgegangen, wie die Vorbemerkungen der Denkschrift einleiten.527 Ursprünglich hatte man mit einem jährlichen Reichsbeitrag von 140 Millionen Mark kalkuliert. Jetzt erwartete man nur noch einen Reichszuschuss in Höhe der entsprechend im Zolltarif geregelten Mehreinnahmen, die auf jährlich 35– 40 Millionen geschätzt wurden.528 Nach altem Finanzierungsmodell sollten die Mittel zur Hälfte durch das Reich und zur anderen Hälfte durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber übernommen werden. Renten, wie sie durchschnittlich in der Unfallversicherung gewährt wurden, nämlich 150 Mark jährlich sollten danach bewilligt werden, um so eine Absicherung der Witwe zu regeln, die unabhängig davon griff, ob der Versicherte infolge Unfalls oder natürlichen Todes verstarb.529 Die mit § 15 Zolltarifgesetz inzwischen erfolgte Festlegung hinsichtlich der Finanzierungsfrage einer Witwen- und Waisenfürsorge, nach der nur noch mit einer jährlichen Reichsbeteiligung von 35–40 Millionen zu rechnen sei, machte eine Modifikation der Vorarbeiten erforderlich. Weil eine Abwälzung der verbleibenden 35–40 Millionen auf die Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht in Betracht komme, müsse man von einer ausgiebigen Hinterbliebenenfürsorge, wie zuvor in Aussicht genommen, absehen.530 Nunmehr ging man von einem Grundbetrag von 60 Mark aus, zu dem ein Reichszuschuss von 50 Mark hinzu kam.531 Zur Grundrente von 110 Mark sollte ein nach Lohnklasse und Beitragswochen berechneter Steigerungsbetrag kommen, so dass die Renten 113,75 Mark bis 155 Mark betragen konnten.532 Die spätere Ausgestaltung in der Reichsversicherungsordnung sah geringere Leistungssätze in den unteren Lohnklassen, nämlich Renten von 72,60 Mark, aber höhere Sätze in den obersten 526 527 528 529 530 531 532

R 1501 100968, fol. 326ff. Ein Hinweis auf eine zeitliche Einordnung dieser Überlegungen war nicht zu finden. R 1501 100968, fol. 327. Ebenda. R 1501 100968, fol. 328. R 1501 100968, fol. 335. Ebenda.

Erste Denkschriften ab 1903 von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann

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Lohnklassen, nämlich bis 170,40 Mark jährlich vor.533 An dem Reichszuschuss von 50 Mark wurde bis zur Umsetzung in der RVO jedoch festgehalten. Zur Höhe der Witwenrente und deren Berechnung sprach man sich in der Denkschrift (S. 14) wie folgt aus:534 Es »müßte durch die Witweninvalidenrenten eine auch für die unteren Lohnklassen einigermaßen auskömmliche Fürsorge geschaffen werden. Beiden Gesichtspunkten könnte Rechnung getragen werden, wenn in der Lohnklasse Vals Witweninvalidenrente die Beträge der bei gleicher Beitragsdauer zu gewährenden reichsgesetzlichen Invalidenrente nach Lohnklasse I und in den übrigen Lohnklassen entsprechend niedrigere Beträge festgesetzt würden. Indessen müßte auch in der Lohnklasse I die Witweninvalidenrente noch so hoch sein, daß sie annähernd den Mindestbetrag der reichsgesetzlichen Invalidenrente in dieser Lohnklasse (116 M nach 200 Beitragswochen) erreicht. Ein der reichsgesetzlichen Invalidenrente entsprechender, nach Lohnklasse abgestufter Grundbetrag (§ 36 Absatz 2, 3 I.V.G.) würde deshalb für die Witweninvalidenrente nicht in Aussicht zu nehmen sein. Vielmehr müßte für alle Lohnklassen ein der Invalidenrente der Lohnklasse I entsprechender Grundbetrag von 60 M angesetzt werden. Um auch die Höhe und Dauer der Beitragsleistung des verstorbenen Ehemanns der Witwe zugute kommen zulasten, wäre dem festen Grundbetrage von 60 M ein Viertel des Anspruchs des verstorbenen Ehemanns auf Rentensteigerung hinzuzufügen. Zu diesem Betrage träte ein Reichszuschuß in Höhe von 50 M.«

I.

Beschränkung auf Renten an invalide Witwen

Die Denkschrift vom Juni 1903 wurde von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann erstellt und sah anders als ihre und Posadowsky-Wehners vorangegangene Überlegungen vor, die Leistungen nur auf die dringendsten Notfälle zu beschränken und deshalb die Invalidität der Witwe als Voraussetzung für den Anspruch auf Witwenrente zu bestimmen.535 Wie dieser Invaliditätsbegriff definiert werden konnte, wurde zunächst offengelassen. Erst mit der schwierigen und heftig umstrittenen Beschränkung auf Renten an invalide Witwen konnte man schlüssig die Finanzierung durch einen Reichszuschuss erklären, welcher in der Gesamthöhe den Einnahmen aus dem Zolltarif entsprach. Besonders augenfällig sind die Schwerpunktsetzung der Hinterbliebenenrenten auf die Waisenfürsorge und der starke Einfluss eines Fürsorgeprinzips. Beides entsprach Franz Hitzes Äußerungen im Reichstag und zeigt Posadowsy-Wehners Kooperation mit dem Zentrum. Auch wenn man die Fürsorge für alle Witwen für wünschenswert hielt, schloss man erwerbsfähige Witwen aus, selbst wenn diese 533 RVO vom 19. 07. 1911, RGBl., S. 509; Regelungen zu Hinterbliebenenrenten in §§ 1252ff. RVO. 534 R 1501 100968, fol. 334f. 535 R 1501 100968, fol. 328.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Kinder zu erziehen hätten. Eine Zuwendung an die Witwe hielt man bei ausreichender Bemessung der Waisenunterstützung entbehrlich, denn sie könne das zu ihrem eigenen Unterhalt Erforderliche durch Lohnarbeit beschaffen.536 Zuvor war Posadowsky-Wehner stets davon ausgegangen, dass Witwenrenten auch an arbeitsfähige Witwen gezahlt werden müssten, und er setzte sich früh in seinem beruflichen Aufstieg für die Einführung von Witwenrenten ein. 10 Jahre, bevor Kaiser Wilhelm II. Posadowsky-Wehner zum Staatssekretär des Reichsschatzamtes berief, warb Posadowsky-Wehner schon 1883 für die Einführung von ausreichenden Witwenrenten für alle Arbeiterwitwen, und dies vor Bevölkerungskreisen, aus denen sich der größte Widerspruch erhob, den sogenannten Agrariern. 1883 war Posadowsky-Wehner bereits im Alter von nur 38 Jahren schon seit 10 Jahren Landrat und seit einem Jahr freikonservativer Landtagsabgeordneter, als er einen Vortrag über die Altersversorgung der Arbeiter im »landwirthschaftlichen Haupt=Verein der Kreise Kosten, Fraustadt und Kröben« hielt.537 In diesem Vortrag lehnte er sich in seinen Vorstellungen zur Ausgestaltung einer späteren Witwenversicherung denen des Regierungsrates aus Königsberg, Kretschmann, an und verfolgte das Ziel, das Interesse für die Altersversorgung der Arbeiter in landwirtschaftlichen Kreisen wachzurufen. Für die Witwenversicherung sprach er sich so vor eben der Gruppe aus, von der der größte Widerstand zu erwarten war. Die Landwirte versuchte PosadowskyWehner also schon früh davon zu überzeugen, dass man eine Hinterbliebenenversorgung als Versicherung mit Mitgliedszwang ausgestalten sollte.538 »Kommende Generationen [würden] die Realisirung dieses Gedankes sicherlich als einen Fortschritt auf dem Wege nationaler Gesittung willig anerkennen!«

Zunächst ging Posadowsky-Wehner 1883 von der Möglichkeit aus, dass auch Frauen ein Rentenanspruch aus einer eigenen versicherungspflichtigen Beschäftigung zustehen konnten.539 Jedoch hielt er eine sich hieraus voraussichtlich ergebende Rente der Höhe nach für kaum ausreichend. Dies führte er zum einen auf den geringen Kassenbeitrag, welcher aus ihre »naturgemäß geringeren Arbeits- und Erwerbsfähigkeit« geleistet werden konnte, zurück. Zum anderen ergab sich dies auch aus der Annahme, dass verheiratete Frauen ausschließlich beitragsfrei zu beschäftigen seien, damit die Familie insgesamt nicht mit übermäßig hohen Beiträgen belastet würde. Die Vorstellung vom Mann als Ernährer der Familie war also grundlegend. 536 R 1501 100968, fol. 328. 537 Die Situation von Landwirten konnte Posadowsky-Wehner sehr gut verstehen, da er selber zuvor für zwei Jahre ein Rittergut bestellt hatte. 538 Posadowsky-Wehner, Über die Altersversorgung der Arbeiter, S. 22. 539 Siehe hierzu und zum Folgenden Posadowsky-Wehner, Über die Altersversorgung der Arbeiter, S. 19f.

Erste Denkschriften ab 1903 von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann

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Als Konsequenz aus diesen Überlegungen ergab sich der Bedarf nach einem Anspruch auf Witwenrenten als Versicherungsleistung, welcher durch die versicherungspflichtige Tätigkeit des Mannes begründet wurde. Zur genauen Ausgestaltung, die bereits einen Reichszuschuss voraussetzte, unterbreitete 1882 Franz Kretschmann540 (Königlich Preußischer Regierungsrath und Direktor der ostpreußischen ländlichen Feuersocieatät) einen Vorschlag schon in Form von Paragraphen. Der hier einschlägige § 5 der von ihm zusammengestellten »Grundzüge des Gesetzesentwurfs für die Altersversorgung der Arbeiter in Deutschland« sah vor, dass Witwen ab einem Alter von 55 jährlich 72 Mark in Monatsraten erhielten, wenn sie selbst vor Vollendung des 27. Lebensjahres mindestens Beiträge in Höhe von 15 Mark eingezahlt hätten und mit dem verstorbenen Ehemann mindestens 10 Jahre verheiratet waren. Kretschmann bemaß die Witwenrente nur auf zwei Drittel der Altersrente, weil von der letzteren regelmäßig Mann und Frau leben müssten, während verwitwete Frauen ihre eigenen häuslichen Verrichtungen selbst besorgen könnten und leichter als Männer von Familien aufgenommen würden.541 Die Mindesteinzahlung von 15 Mark sei so mäßig bemessen, damit er über mehrere Jahre hinweg auch bei niedrigen Löhnen aufzubringen sein würde. Die Forderung des zehnjährigen Bestehens der Ehe berücksichtigte bereits den Gedanken, dass anderenfalls die Begründung bloßer Versorgungsehen zu befürchten sei. Den Überlegungen Kretschmanns schloss sich Posadowsky-Wehner im Hinblick auf eine einzuführende Witwenrente in vollem Umfang an. Weil aber der Beitrag von 15 Mark zur Finanzierung einer jährlichen Rente von 72 Mark nicht ausreichen würde, müsse der »Ausfall vom Staate übernommen werden«.542 Nach der vorgelegten Denkschrift543 wollte man die Gewährung von Witwenrenten an die Voraussetzung knüpfen, dass die Witwe invalide war. Zwar sei es ein sozialpolitisch zu begrüßendes Ziel, wie die Denkschrift klarstellte, auch an erwerbsfähige Witwen Renten zu zahlen, um ihnen so zu ermöglichen, »sich mehr wie bisher von einer Erwerbstätigkeit fern zu halten und der Sorge für die Kinder und den Haushalt zu widmen.«

In Anbetracht der begrenzten finanziellen Mittel sei die neue Versicherung aber zunächst auf die Befriedigung der dringendsten Fürsorgefälle zu beschränken. Ein unbedingtes Fürsorgebedürfnis erkannte man aber nur bei erwerbsunfähigen Witwen. Erwerbsfähige Witwen würden im gleichen Umfang Beschäftigungsverhältnisse aufnehmen wie ledige Frauen. Für einige Tätigkeiten »(Auf540 541 542 543

Kretschmann, S. 31. Vgl. hierzu und zum Folgenden Kretschmann, S. 14. Posadowsky-Wehner, Über die Altersversorgung der Arbeiter, S. 22. BA R 1501 100969, fol. 79 RS.

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wartefrauen, Kinderfrauen usw.)« würde die kinderlose Witwe sogar eher angestellt als eine ledige Frau. Auch wenn eine erwerbsfähige Witwe Kinder fürsorgebedürftigen Alters hatte, hielt man eine Unterstützung für entbehrlich, weil man von einer für den Unterhalt der Waisen ausreichende Bemessung der Waisenunterstützung ausging und die Witwe nur das zu ihrem eigenen Unterhalt Erforderliche durch Lohnarbeit zu beschaffen haben würde. Seine bisherige Haltung, dass eine ausreichende Fürsorge auch allen arbeitsfähigen Witwen in Form von Witwenrenten zu zahlen sei, musste Posadowsky-Wehner also aufgeben, weil die erforderlichen finanziellen Mittel nicht zu beschaffen waren. Mit der Gewährung von Renten an erwerbsunfähige Witwen wollte er immerhin eine sozialpolitisch wirksame Hinterbliebenenversicherung schaffen,544 berief sich auf den schwedischen Pensionsgesetzentwurf sowie auf die durch den Zentrumsabgeordneten Trimborn geäußerte Ansicht545, eine Beschränkung auf Witweninvalidenrenten gebiete auch der beabsichtigte Schwerpunkt auf die Waisenfürsorge. Die Hilflosesten seien Vollwaisen. Wenn die Mutter noch leben würde, wäre die Fürsorge für das Kind wichtiger als für die Witwe. Es läge, »[…] wenigstens zunächst, keine Veranlassung vor […]«, auch erwerbsfähige Witwen zu unterstützen. Die Frage, unter welchen Umständen eine Witwe erwerbsunfähig sein würde, thematisierte die Denkschrift noch nicht. Ein Abstellen auf die bisherigen Definition des Invalidenversicherungsgesetzes, nicht mehr ein Drittel der bisherigen Beschäftigung ausüben zu können, konnte nicht alle Fälle lösen, weil die Witwe oftmals nie einer Erwerbstätigkeit nachging, so dass hier noch eine Lücke zu schließen war. Eine weitere Lücke ließ die Denkschrift für den Fall, dass die hinterbliebene Witwe wieder heiratete.

II.

Höhe der Renten

Die in der Denkschrift zur Finanzierung vorgeschlagene Erhöhung der Versicherungsbeiträge zur Invaliditätsversicherung um ein Drittel war schon sehr hoch kalkuliert. Hinzu kamen die begrenzten zu erwartenden Einnahmen aus dem Zolltarif. Die Finanzierung durch Matrikularbeiträge scheiterte an der Weigerung der verbündeten Regierungen, einer solchen Vorlage zuzustimmen. Posadowsky-Wehner stand also vor der Aufgabe, eine Hinterbliebenenversicherung mit geringen finanziellen Mitteln zu gestalten. Nachdem er den Grundsatz, auch erwerbsfähige Witwen zu unterstützen, aufgab, hielt er an 544 BA R 1501 100969, fol. 79 RS. 545 Verh. d. RT v. 21. 11. 1902, Carl Trimborn, S. 6487.

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einem anderen Grundsatz fest: Die niedrigsten Rentensätze sollten mindestens so hoch sein, dass sie eine Armenpflege ersetzen konnten. Dieses Gebot entsprach dem im Reichstag so oft ausgesprochenem Motiv, man wolle den Witwen das – in der Diskussion um die Ausgestaltung einer Hinterbliebenenversicherung häufig so formulierte – »Drückende der Armenpflege« ersparen. Weil die Sozialversicherungsbeträge der unteren Lohnklassen aber selbst bei Gewährung eines Reichzuschusses von einem Drittel nicht ausreichen konnten, um Sätze von 100 Mark jährlich zu finanzieren, nahm man an zwei Stellen Anpassungen zu Lasten der höheren Lohnklassen vor. So sah die Denkschrift zum einen in höheren Lohnklassen kaum höhere Rentensätze vor, als in den unteren.546 Zum anderen schlug man in der Denkschrift Erhöhung die Versicherungsbeiträge in den höheren Lohnklassen III–Vum 40 Prozent vor, während man die Beiträge in den Lohnklassen I und II um nur 30 Prozent erhöhen wollte.547 Die Höhe der Renten wurde dabei gegenüber Vorüberlegungen noch nach unten korrigiert, erreichte aber auch in den unteren Lohnklassen Beträge, die für eine Versorgung der Leistungsempfänger hätten ausreichen können.

III.

Finanzierung der Hinterbliebenenrenten

Um die Hinterbliebenenrenten zu finanzieren, sah die Denkschrift vor, die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern um rund ein Drittel zu erhöhen, wobei die angedachte Beitragserhöhung in den höheren Lohnklassen relativ höher war.548 Der sachliche Grund für Arbeitnehmerbeiträge wurde in der sittlichen Verpflichtung gesehen,549 »für den Unterhalt ihrer Hinterbliebenen auch persönlich, nach dem Masse ihrer Kräfte, Vorsorge zu treffen.«

Die Beitragspflicht der Arbeitgeber hielt man für gerechtfertigt,550 weil diese »an der Sicherstellung des Loses der Hinterbliebenen ihrer Arbeiter wesentliches Interesse haben.«

Weil man die Beiträge der Mitglieder aus den unteren Lohnklassen in ihrer Summe zur Finanzierung von Rentenleistungen an die Hinterbliebenen dieser Lohnklasse für nicht ausreichend hielt, kalkulierte man hier auch mit den Bei546 547 548 549 550

R 1501 100968, fol. 335. Ebenda. R 1501 100968, fol. 330. Ebenda. Ebenda.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

trägen von Mitgliedern höherer Lohnklassen.551 Die Hinterbliebenenrenten sahen für Versicherte aus höheren Lohnklassen gegenüber den Renten in unteren Lohnklassen kaum Steigerungen vor.552 Ohne die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, also nur durch Reichsmittel hielt man Hinterbliebenenrenten nicht für finanzierbar.553 In der Denkschrift ging man ausdrücklich auf den zuvor im Reichstag vom Abgeordneten Trimborn geäußerten Wunsch ein, von weiteren Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen abzusehen. Auch im Rahmen »[…] des dringendsten Bedürfnisses […]« ließe sich eine Hinterbliebenenversicherung dann aber nicht durchführen. »Zudem verlören Zuwendungen an die Hinterbliebenen, welche lediglich aus Reichsmitteln gewährt würden, den Charakter der durch eigene Leistungen erworbenen Rechtsansprüche und würden sich von Armenunterstützungen nicht mehr wesentlich unterscheiden.«

IV.

Beitragsrückerstattung, Witwengeld

Für den Fall, dass eine versicherte Frau erstmalig heiratete, sollten ihr nach der Denkschrift die zuvor geleisteten eigene Beiträge zur Invaliditätsversicherung zurückerstattet werden. Auch dies entsprach den ursprünglichen Gedankens Kretschmanns, die Posadowsky-Wehner 1883 teilte. Für eine notwendige Rückerstattung der von der Frau geleisteten Beiträge wurden zwei alternative Zeitpunkte für maßgeblich gehalten. Die Beitragsrückerstattung sollte entweder daran geknüpft werden, dass die Frau heiratet, oder aber spätestens an den Zeitpunkt, in dem ihrem Ehemann eine Altersrente gewährt würde.554 Auch die Denkschrift wollte aufgrund des Anspruches auf die höhere Witweninvalidenrente den eigenen Rentenanspruch der Witwe fortfallen lassen.555 Die hieraus resultierende Ersparnis für die Träger der Versicherung sollte durch eine Beitragsrückerstattung ausgeglichen werden, dem sogenannten Witwengeld, welches in der Höhe der jährlichen Beitragszahlung entsprechen sollte.556 Wenn die 551 Vgl. hierzu auch die Kritik der verbündeten Regierungen, B, I., 2., Unverhältnismäßigkeit von Beitrags- und Rentensätzen. 552 R 1501 100968, fol. 335. 553 R 1501 100968, fol. 330. 554 In seinem Vortrag vor Landwirten 1883 sagte Posadowsky-Wehner: »Will man dagegen auch hier das Princip, daß nur eine aus dem eigenen Arbeitslohne der Arbeiter bestrittene Rente gewährt werden kann, nicht durchbrechen, so müßte man den weiblichen Arbeitern die bereits gezahlten Beiträge entweder bei ihrer Verheirathung oder zu dem Zeitpunkte, wo ihre Ehemänner in den Genuß der Altersrente treten würden, als einfache Kapitalsanlage mit Zinseszins zurückerstatten.« 555 R 1501 100168, fol. 339f. 556 R 1501 100168, fol. 341.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

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eigene Rente der Witwe höher als die Witweninvalidenrente sein würde, würde nach der Denkschrift die letztere wegfallen. Auch in diesem Fall sollte ein Witwengeld gezahlt werden.557 Es wurde als ungerechtfertigt empfunden, trotz doppelter Einzahlung von Leistungen nur eine Rente auszuzahlen. Als »Gebot der Gerechtigkeit« empfand man auch eine Regelung, nach der eine beitragszahlende Witwe höhere Leistungen erhielt und schlug vor, dass ihr »[…] zu einem für ihre Lebenshaltung besonders wichtigen Zeitpunkt ein Kapital als Gegenleistung der Versicherungsträger gewährt wird.«

Begründet wurde das Witwengeld aber nicht nur mit den Ausgleichsgedanken. Ähnlich wie das heutige Sterbevierteljahr sah die Denkschrift Leistungen vor, um sich unmittelbar nach dem Tod des Ehepartners ergebenden finanziellen Problemen zu begegnen. Die Denkschrift wollte aber anders als das Sterbevierteljahr nicht nur zur finanziellen Überbrückung der drei Monate nach dem Tod des Ehepartners beitragen, sondern optimaler Weise einer Witwe die Möglichkeit der Schaffung einer selbstständigen Einkommensquelle ermöglichen, indem diese etwa Arbeitsgeräte wie Nähmaschine vom Witwengeld anschaffte. Als Nachweis für das dringende Bedürfnis einer großen Summe Geld, welches unmittelbar nach dem Tod des Ehemannes bestünde, führte man die steigenden Zahlen privater Lebensversicherungen an. Die Policenzahl habe im Jahr 1900 schon 3,6 Millionen betrogen.558

C.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

Am 22. Dezember 1903 erbat Posadowsky-Wehner von Reichskanzler Bülow schriftlich dessen Einverständnis zur Weiterleitung der Denkschrift an die verbündeten Regierungen. Im Entwurf seiner Bitte – für die er die weihnachtliche Stimmung wählte – schrieb Posadowsky-Wehner, dass er es aus sozialpolitischen Gründen für ratsam halte,559 »diese bedeutungsvolle und schwierige Arbeit schon jetzt in Angriff zu nehmen.«

Er stellte in Aussicht, »demnächst die Ausarbeitung eines diesen Vorschlägen entsprechenden Gesetzentwurfs in die Wege [zu leiten].«

557 R 1501 100168, fol. 340. 558 R 1501 100168, fol. 340 + RS. 559 BA R 1501 100969, fol. 131–132 RS.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Die Antwort aus der Reichskanzlei mit einem knappen Einverständnisvermerk Bülows ging am 30. 12. 1903 im Reichsamt des Innern ein. Von der Denkschrift wurden nach einer Überarbeitung von Direktor Caspar sowie von Beckmann und Kaufmann 250 Exemplare hergestellt und an die verbündeten Regierungen sowie an den preußischen Handelsminister Theodor Adolf von Möller und den Präsidenten des Reichsversicherungsamtes Otto Gaebel verschickt. Das eigenhändige auf den 01. 03. 1904 datierte Anschreiben Posadowsky-Wehners an die verbündeten Regierungen lautete:560 »Um für die Erörterungen über die Einführung einer gesetzlichen Wittwen- und Waisenversicherung eine Unterlage zu schaffen, habe ich sind vorläufige Grundzüge für den Entwurf eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes auszuarbeiten lassen. Von der bezüglichen Denkschrift, die den verbündeten Regierungen zugeht, übersandt ist, lasse ich Ew. H. zur streng vertraulichen Kenntnisnahme zwei Exemplare mit dem Ersuchen ergebenst zugehen, nach Anhörung geeigneter ständiger Mitglieder des Reichs-Versicherungsamts sich über die Grundzüge gefälligst gutachtlich zu äußern.«

Für den Minister für Handel und Gewerbe von Möller schrieb in Vertretung Unterstaatssekretär Theodor Lohmann, welcher zu der Zeit Leiter der Handelsabteilung im preußischen Handelsministerium war, dass er die Überlegungen Posadowsky-Wehners für verfrüht hielt.561 Zunächst sei eine durchgreifende Reform der ganzen Arbeiterversicherung, möglichst bis zum 1. Januar 1910 durchzuführen. Im Reichsamt des Innern wollte man eine Regelung der Hinterbliebenenversicherung aber finden, bevor man an die Reform der ganzen Arbeiterversicherung herantrat.562 Das Reichsversicherungsamt antwortete, trotz wiederholter und im Ton strenger werdender Erinnerungen Posadowsky-Wehners nicht während der Amtszeit Otto Gaebels. Dass die Denkschrift hier über Jahre unerledigt blieb, kann durchaus als beabsichtigte Verzögerung der Umsetzung PosadowskyWehners Pläne verstanden werden. Erst als im Jahr 1906 Paul Kaufmann als Nachfolger Gaebels Präsident des Reichsversicherungsamtes wurde, bearbeitete er die Anfrage nach der Äußerung und zwar im März 1907. Diese Äußerung erstellten Regierungsräte Dr. Lehmann und Dr. Pietsch sowie der Senatsvorsitzende, Geheimer Regierungsrat Hanow. Man erklärte sich mit den in der Denkschrift vorgesehenen Grundlagen einer Hinterbliebenenfürsorge im All560 BA R 1501 100969, fol. 142 + RS. 561 Schreiben vom 16. 06. 1904 des preußischen Ministers für Handel und Gewerbe, in Vertretung Lohmann, an den Reichskanzler (Reichsamt des Innern), BA R 1501 100973, fol. 3, Lohmann war zur Zeit der Einführung der ersten Gesetze zur Sozialversicherung, Vortragenden Rat der Wirtschaftsabteilung im Reichsamt des Innern, Tennstedt, RVA-Mitglieder, S. 49f. Er hielt die Einführung einer Zwangsinvaliden- und Altersversicherung insgesamt für einen sozialpolitischen Fehler, Quellensammlung GDS, Abt. II, 6. Bd., Einleitung, S. 22. 562 So der Vermerk Otto Bockshammers auf dem Schreiben Lohmanns, BA R 1501 100973, fol. 3.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

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gemeinen einverstanden, wenn auch ein Missverhältnis zwischen Beitragshöhe und Leistungshöhe zulasten der höheren Lohnklassen gerügt wurde.563 Erst kurz vor Ende der Amtszeit Posadowsky-Wehners gingen alle erforderlichen Stellungnahmen ein, deren Kritik vom Direktor für die sozialpolitische Abteilung, Franz Caspar, als auch von Adolf Beckmann und Paul Kaufmann zeitnah ausgewertet wurde.564 Als 1907 Bülow die Zusammenarbeit mit der Zentrumspartei beendete und den Reichstag auflöste, endete die »Ära Posadowksy«.565 Weil die gesetzgeberische Pflicht zur Einführung einer Hinterbliebenenfürsorge aus dem Zolltarif bestand, sahen die verbündeten Regierungen in der Denkschrift, soweit sie Renten an invalide Witwen vorsahen, überwiegend eine in den Grundzügen geeignete Vorlage.566 Allerdings wurde von vielen Seiten bezweifelt, ob die in der Denkschrift erwähnten Leistungen finanzierbar seien. Auch wenn die verbündeten Regierungen der Finanzierung in ihren Grundzügen überwiegend zustimmten, wurde doch sehr deutlich gefordert, dass Hochrechnungen anhand von statistischen Zahlen erstellt würden. Besondere Zweifel betrafen die Frage, ob die Zollmehreinnahmen aus dem Zolltarifgesetz zur Deckung des Reichszuschusses zu den Hinterbliebenenrenten ausreichen konnten. Um jeden Preis wollte man die Finanzierung durch zusätzliche Matrikularbeiträge verhindern. Ohne genauere Berechnungen wollten viele verbündete Regierungen noch keine Zustimmung in Aussicht stellen. Alle verbündeten Regierungen bis auf das Königlich Bayerische Staatsministerium antworteten bis Juni 1905. Es wurden teilweise gutachtliche Äußerungen der jeweiligen Landesversicherungsämter beigefügt. Das Königlich Bayerische

563 BA R 1501 100973, fol. 31. Kaufmann fand erst im September 1906 in den Akten des Reichsversicherungsamtes einen vom damaligen Senatsvorsitzenden, dem Geheimen Regierungsrat Isenbart, erstatteten Bericht vom 23. 04. 1904, welcher im wesentlichen zustimmende Bemerkungen zu der Denkschrift enthielt, aber unerledigt blieb, BA R 1501 100969, fol. 201ff. und inzwischen nicht mehr aktuell war, weil Isenbart ausgeschieden war und jetzt die Meinung anderer Mitglieder des RVA maßgebend war. Noch am 06. 02. 1907 und am 13. 03. 1907 erinnerte Caspar an die Erledigung, BA R 1501 100969, fol. 226 und R 1501 100970, fol. 5. 564 Vgl. die zitierten Aktenauszüge, die durchgängig Handzeichen Caspars, Beckmanns und Kaufmanns zeigen. Als Paul Kaufmann 1906 Präsident des RVA wurde, wurde vertretungsweise Regierungsrat Dr. Pachler Referent. Ab Oktober 1906 folgte diesem Dr. von Grimm und ab Februar 1907 zeichnete Geheimer Regierungsrat Bernhard Jaup als Referent. 565 Zu den Gründen und der Bildung des »Bülow-Blockes«, vgl. Gorges, S. 395ff. 566 Sehr pauschal einverstanden erklärten sich die Regierungen der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont in Arolsen, Reuß-Plauen in Greiz, Reuß in Gera, Schaumburg-Lippe in Bückeburg und Lippe in Detmold, BA R 1501 100973, fol. 167ff. Eine insgesamt ablehnende Haltung nahmen nur das Königlich Bayerische Staatsministerium in München, das Herzoglich Anhaltische Staatsministerium in Dessau, der Senat der Freien und Hansestadt Lübeck und der Statthalter in Elsaß-Lothringen in Straßburg ein, BA R 1501 100973, fol. 17ff., 154, 173 RS, 200 + RS.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Staatsministerium des königlichen Hauses des Äußern in München teilte erst im März 1906 seine »Bemerkungen« zu der Denkschrift mit567 und ergänzte die »Einwendungen, welche die Bayerische Regierung gegen die beabsichtigte Gestaltung der Hinterbliebenenversicherung in einzelnen Hauptpunkten erheben zu sollen glaubt«

noch um eine in der Argumentation weitgehend übereinstimmende gutachtliche Äußerung des Königlich Bayerischen Landesversicherungsamtes vom Oktober 1904568. Die späten Antworten des Reichsversicherungsamtes (1907) und des Königlich Bayerischen Staatsministeriums (1906) verzögerten die nächsten Schritte, nämlich die Zusammenstellung aller Äußerungen und die Einholung von mathematischen Gutachten, so dass sie nicht mehr während der Amtszeit Posadowsky-Wehners gemacht werden konnten.

I.

Anspruchsberechtigter Personenkreis

Nach den Grundzügen der Denkschrift Posadowsky-Wehners sollten die Witweninvalidenrenten auch für die unteren Lohnklassen eine »einigermassen auskömmliche Fürsorge« schaffen.569 Sie sahen vor, den Arbeiter der untersten Lohnklasse zulasten der oberen Lohnklassen und zulasten der nicht der Versicherungspflicht unterliegenden, späteren Angestellten zu begünstigen. Die Rentensätze in den unteren Lohnklassen seien im Vergleich zu den oberen viel zu hoch, so dass die Arbeiterwitwe ihren Status erhalten könne, während dies der Witwe des höher entlohnten Arbeiters nicht gelänge. Bei den späteren Angestellten, welche der Versicherungspflicht nicht unterliegen würden, bestünde das Bedürfnis nach Witwenrenten ebenso. Die Forderung nach einer Versicherungspflicht auch für die späteren Angestellten wurde auch damit begründet, dass der vorgesehene Reichszuschuss auch dieser Personengruppe zustehen müsse. Von der Einzahlung in den Zolltarif seien sie ebenso betroffen wie die Arbeiter, indem sie ebenso hochpreisige Lebensmittel konsumierten. Nicht überzeugen konnte die in der Denkschrift vorgeschlagene freiwillige Versicherung, weil sie wegen eines Missverhältnisses zwischen Leistungen und Beiträgen, mit denen nur wieder der Arbeiter subventioniert werden würde, keine vorteilhafte Anlagemöglichkeit böte. Außerdem wurde die Anspruchsvoraussetzung der Invalidität in vielen Stellungnahmen kritisiert.

567 Schreiben des Königlich Bayerischen Staatsministeriums des Königlichen Hauses des Äußern vom 10. 03. 1906, BA 1501 100973, fol. 4. 568 Schreiben vom 27. 10. 1904, BA 1501 100973, fol. 6ff. 569 R 1501 100968, fol. 334.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

1.

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Versicherungspflicht von Industriearbeitern und Arbeitern der Land- und Forstwirtschaft

Die beschränkte Einführung nur auf die Kreise der Industriearbeiter wurde kaum noch gefordert. Ausdrücklich gegen eine Herausnahme der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter sprach sich – im Gegensatz zur Zentralstelle für Landwirtschaft570 – das Königlich Württembergische Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten aus.571 Es stünden erhebliche praktische Bedenken entgegen, die unter anderem mit dem oft üblichen Wechsel zwischen der Arbeit im land- und forstwirtschaftlichen und in gewerblichen Betrieben begründet wurden. Wegen Abgrenzungsschwierigkeiten sei auch eine Beschränkung der Hinterbliebenenversicherung auf die Großindustrie »untunlich«.

2.

Ausschluss der Angestellten

Die Gewährung eines Reichzuschusses zu den Renten machte nicht nur eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitern der Industrie einerseits und der Landwirtschaft andererseits schwierig. Sie wurde auch als zwingendes Argument für die Erweiterung auf Angestellte genannt. Im Namen der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte schrieb der Vorsitzende der Hanseatischen Versicherungsanstalt für Invaliditäts- und Altersversorgung in Lübeck Direktor Gebhard.572 Für ihn hatte die Einführung einer Versicherungspflicht von Kleinunternehmern und Hausgewerbetreibenden gegenüber der Begründung weiterer Reichzuschüsse Vorrang.573 Er kritisierte, dass es Personen gäbe, die zwar wirtschaftlich auf einer Stufe mit dem Lohnarbeiter stünden, von der 570 Diese Zentralstelle hatte zuvor dem genannten Ministerium gegenüber Stellung genommen und die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung entschieden abgelehnt, und zwar u. a. weil »[…] der Landwirtschaft sofortige direkte Leistungen aufgebürdet würden, die zu tragen sie nicht im Stande sei […]. Sie hielt die Armenpflege für ausreichend und befürchtete, dass »[…] geradezu ein Übermaß öffentlicher Fürsorge für eine einzelne Bevölkerungsschicht eintrete, das die Rentensucht großziehe und das Bewußtsein der eigenen Fürsorgepflicht ersticke.«, BA 1501 1900973, fol. 85f. 571 Schreiben des Königlich Württembergischen Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten vom 22. 03. 1905, BA R 1501 100973, fol. 89f. 572 Siehe über ihn Hainbuch/Tennstedt, S. 58. Herman Gebhard engagierte sich bei der sozialpolitischen Gesetzgebung in Ausschüssen und im Plenum. Er begründete 1891 eine gemeinsame Geschäftsstelle der norddeutschen Versicherungsanstalten für die Invalidenversicherung der Seeleute in Lübeck, war im selben Jahr Mitbegründer und Vorsitzender des Nordwestdeutschen Konferenzverbands der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalten und 1896 Teilnehmer der sogenannten Novemberkonferenz zur Reform der Arbeiterversicherung im Reichsamt des Innern. 573 Schreiben der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, Herman Gebhard, vom 10. 06. 1904, BA R 1501 100973, fol. 173 RS f.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Zwangsversicherung für Invalidität und Alter aber ausgeschlossen waren und so auch nicht vom Reichzuschuss profitieren konnten. Diese »Personenkreise (Kleinunternehmer, Hausgewerbetreibende und dgl.) sollen nach der Denkschrift auch von der Hinterbliebenenversicherung ausgeschlossen bleiben. Es heißt das so viel, als daß diese in ihrer Lebenslage im Verhältnisse zu der der Lohnarbeiter noch weiter herabgedrückt werden würden als es schon jetzt durch ihren Ausschluß von der Invalidenversicherung geschieht. Wenn man nicht die Klassen der Kleinunternehmer und Hausgewerbetreibenden als solche betrachtet, deren wirtschaftliche Hebung durch derartige Mittel, wie sie die die sozialpolitische Versicherung für die Lohnarbeiter an die Hand gegeben hat, sich nicht lohnt und deshalb bei Seite gelassen werden muß, so ist es meines Erachtens notwendig, daß der Einführung der Zwangsversicherung für die Hinterbliebenenfürsorge die Ausdehnung der Invalidenversicherung auf die den Lohnarbeitern wirtschaftlich gleichstehenden Kreise vorhergeht und daß die Hinterbliebenenversicherung alsdann auf die Gesamtheit der der Invalidenversicherung unterstellten Kreise ausgedehnt wird. Die Gewährung eines Reichszuschusses zu den Invalidenrenten und Altersrenten hätte m. E. schon längst dazu führen müssen, die Kleinunternehmer und Hausgewerbetreibenden in den Kreis der gegen Invalidität zu versichernden Personen einzubeziehen; die Gewährung neuer Reichszuschüsse – und zwar, wie sich aus dem folgenden (Ziffer 4 a. E.) ergibt, solcher von weit höherem Betrage als ihn die bisherigen hatten – zu Witwen und Waisenrenten und insbesondere noch die Gewährung von Reichszuschüssen, die ausdrücklich auf die Erträgnisse verwiesen werden, welche aus den im § 15 des Zolltarifgesetzes vom 25. Dezember 1902 aufgeführten Tarifstellen entstehen, zwingt nach meinem Dafürhalten mit Notwendigkeit dazu, zuvörderst den Kreis der Versicherungspflichtigen anders, als bisher geschehen, festzustellen, also die Versicherungspflicht tunlichst auf alle mit den Lohnarbeitern auf gleicher Wirtschaftsstufe befindlichen Personenkreise zu erstrecken. An der Aufbringung der in Rede stehenden Zollerträgnisse nehmen die Kleinunternehmer und Hausgewerbetreibenden in gleicher Weise Teil wie die Lohnarbeiter. Ich vermag nicht abzusehen, wie es zu rechtfertigen wäre, da ihre wirtschaftliche Lage nicht günstiger ist als die der letzteren, sie auch jetzt wieder von der vom Staate zu treffenden Fürsorge auszuschließen.«

Die für die späteren Angestellten zunächst vorgesehene freiwillige Versicherung könne keine zufriedenstellende Lösung darstellen. Die Beitrittsbereitschaft sei zu gering, wie Direktor Gebhard argumentierte und sich deutlich für die Ausdehnung des Versicherungszwanges aussprach:574

574 Schreiben der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, Herman Gebhard, vom 10. 06. 1904, BA R 1501 100973, fol. 174 RS; hingegen das Königlich Württembergische Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten: »Es ist zu hoffen, daß die neue Versicherung namentlich auch für die Angehörigen des Mittelstandes ein weiterer Ansporn zur Selbstversicherung und Weiterversicherung werden wird.«, Schreiben vom 22. 03. 1905, BA R 1501 100973, fol. 90.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

141

»Es fehlt in den betreffenden Kreisen an demjenigen wirtschaftlichen Verständnisse, das erforderlich ist, um von dem Institute der Versicherung in ausreichendem Maße Gebrauch zu machen. Daran wird nichts geändert werden, wenn neue Vorteile hinzugefügt werden; die erforderlichen höheren Beiträge werden vielmehr den Personen, auf deren wirtschaftliche Einsicht man glaubt rechnen zu können, noch mehr abschrecken als die bisherigen schon taten. Das Ergebnis würde nach meinem Dafürhalten genau dasselbe sein als das bisherige. Wäre es aber auch doppelt oder dreifach oder zehnmal so günstig, so wäre der Erfolg immer noch ein höchst geringfügiger gegenüber dem bestehenden Bedürfnisse. Diesem kann nur im Wege der Ausdehnung der Zwangsversicherung genügt werden. Darüber darf man sich durch Ausführungen über die Möglichkeit freiwilliger Beteiligung an der Versicherung nicht hinwegtäuschen.«

Dass ein Bedürfnis nach einer Hinterbliebenenversicherung gerade für sächsische Hausgewerbetreibende so groß sei, dass die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf diese Personen zu einer spürbaren Entlastung der Armenfürsorge führen würde, argumentierte das Königlich Sächsische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten.575 Gerügt wurde, dass »ein Tagelöhner oder Knecht zu höherer Beitragsleistung verpflichtet ist, als sein Meister oder Arbeitgeber bei freiwilligem Eintritt in die Versicherung.«

Man sprach sich für die Aufnahme von Handwerkern in die Zwangsversicherung und die Aufsetzung einer weiteren oberen Lohnklasse für diese aus. Außerdem wurde die Ausdehnung der Versicherung auf Hausgewerbetreibende und für diese die Erhöhung der Rentensätze gewünscht: »Wenn einer Ausdehnung des Versicherungszwanges näher getreten und sie nicht blos, wie jetzt in § 2 des Invalidenversicherungsgesetzes, dem Bundesrate überlassen, sondern im Gesetze selbst ausgesprochen werden soll, so würde sie in erster Linie für die Hausgewerbetreibenden mit Rücksicht auf deren wirtschaftliche Lage und Abhängigkeit – ohne Beschränkung auf bestimmte Industriezweige – in Betracht zu ziehen sein und bei der Ausbreitung der Hausindustrie in Sachsen gerade hier dem Fürsorgebedürfnis weiter Kreise besonders Rechnung tragen, nebenbei auch dazu führen, daß die von der sächsischen Arbeiter- und Unternehmerschaft aufgebrachten Versicherungsbeiträge zu Gunsten jener reichlichere Verwendung von Rentenzahlungen im Inland fänden und mittelbar den jetzt vielfach zur Unterstützung von Hausgewerbetreibenden oder deren Familien veranlaßten Gemeinden beziehentlich dem Landarmenverband zu gute kämen.«

Auch das Großherzoglich Badische Ministerium des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten betonten den Wunsch nach Ausdehnung

575 Schreiben des Königlich Sächsischen Ministeriums der auswertigen Angelegenheiten v. 05. 06. 1905, BA R 1501 100973, fol. 50ff.

142

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

auf »Hausgewerbetreibende«, weil die freiwillige Versicherung nicht ausreichend sei:576 »Wünschenswert wäre es, wenn es möglich wäre, auch die Hausgewerbetreibenden der Versicherungspflicht zu unterwerfen. Die Selbstversicherung bietet keinen genügenden Ersatz, da die Erhöhung der Beiträge für die weitere Einbürgerung der Selbstversicherung vielleicht ein stärkeres Hemmnis sein wird als der in der Fürsorge für die Hinterbliebenen liegende neuerliche Ansporn.«

3.

Invalidität als Anspruchsvoraussetzung »Die Einschränkung, daß nur die erwerbsunfähige Witwe fürsorgeberechtigt sein soll, ist wohl schon durch die Schwierigkeit, die erforderlichen Mittel für die Hinterbliebenenversicherung aufzubringen, geboten.«577

a) Zustimmung Für eine große Mehrheit der verbündeten Regierungen war die Beschränkung auf die Einführung von Witweninvalidenrenten obligatorisch,578 wenn auch die einhergehenden praktischen Schwierigkeiten erkannt wurden.579 Finanzielle Bedenken bestünden ohnehin, ob die vorgeschlagene Finanzierung aufgehen und keine weiteren Matrikularbeiträge notwendig würden. Dass finanzielle Gründe den Ausschluss erwerbsfähiger Witwen aus dem bezugsberechtigten Per-sonenkreis auch sozial rechtfertigten, weil nur bei diesen ein unbedingtes Fürsorgebedürfnis zu sehen sei, überzeugte deshalb viele.580 Die Beurteilung der 576 Schreiben des Großherzoglichen Badischen Ministeriums des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten vom 17. 01. 1905, BA R 1501 100973, fol. 121. Auch das Königlich Sächsische Ministerium hielt eine Ausdehnung des Versicherungszwanges auf die Hausgewerbetreibenden für geboten und begründete dies mit deren wirtschaftliche Lage und Abhängigkeit und verwies auf die Ausbreitung der Hausindustrie in Sachsen, BA R 1501 100973, fol. 50f. 577 Herzogliches Staatsministerium Sachsen-Meiningen, BA R 1501 100973, fol. 148. 578 So im Ergebnis das Königlich Sächsische Ministerium, BA R 1501 100973, fol. 57, das Königlich Württembergische Ministerium, BA R 1501 100973, fol. 92 und die Großherzoglichen Ministerien Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, Mecklenburg, Oldenburg, BA R 1501 100973, fol.123, 126 RS, 138, 134, 140. Ebenfalls für die Beschränkung auf Leistungen an invalide oder alte Witwen die Herzoglichen Staatsministerien Braunschweig-Lüneburg, Sachsen und Sachsen-Meiningen, 141 RS, 148. 579 Die Beschränkung auf eine Witweninvalidenversicherung sei vom finanziellen Standpunkt aus wünschenswert, wenngleich die Feststellung dieser Erwerbsunfähigkeit sehr schwierig sein würde, wie das Großherzoglich Hessische Staatsministerium hervorhob, Schreiben vom 05. 04. 1905, BA R 1501 100973, fol. 126 RS. Eine besondere Härte erkannte das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten namentlich bei Witwen, die niemals Lohnarbeit verrichtet hatten, sprach sich aber wegen der anderenfalls eintretenden außerordentlichen Belastung gleichwohl für die Beschränkung auf Invalidenrenten aus, Schreiben vom 22. 03. 1905, BA R 1501 100973, fol. 92. 580 Ausdrücklich so der Argumentation der Denkschrift folgend das Königlich Sächsische

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Erwerbsunfähigkeit war indes schwierig, denn ein Abstellen auf eine zuvor ausgeübte Tätigkeit anknüpfend an § 5 Abs. 4 IVG kam in den Fällen nicht in Betracht, in denen Witwen niemals berufstätig waren.581 Deshalb wurde auch vorgeschlagen, die Voraussetzung der Bedürftigkeit an die Stelle der Erwerbsunfähigkeit zu setzen, auch wenn die Witwenrenten hierdurch den »Geschmack einer Armenunterstützung« erhalten würden.582 Das Großherzogliche Badische Ministerium des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten befürchtete, dass die Landesversicherungsanstalten bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit einen Beurteilungsspielraum haben und ohne Anreiz eine großzügige Gewährung von Witwenrenten veranlassen würden.583 Um einen Anreiz zur zurückhaltenden Auslegung dieses Begriffes zu geben, sei es daher geboten, die Zahlungen von Witwenrenten zumindest teilweise der Sonderlast zuzuordnen.584 Mit Blick auf die Kosten sprach sich auch das Reichsversicherungsamt für die Beschränkung auf Invalidenrenten aus, wenngleich die Nachteile insbesondere in den Fällen, dass eine Witwe Kinder zu erziehen hätte, erkannt wurden.585 Durch großzügige Bemessung der Waisenrenten würden diese Nachteile aber ausgeglichen werden können: »Die Beschränkung der Witwenfürsorge auf die erwerbsunfähigen Witwen ist zu billigen. Der Ehemann wird zwar in den meisten Fällen der hauptsächliche Ernährer der Familie sein, und sein Tod dann für die Witwe, auch wenn sie noch erwerbsfähig ist, einen wirtschaftlichen Nachteil bedeuten; auch wird eine Witwe, die Kinder hat, häufig infolge des Vorhandenseins der Kinder in der Aufsuchung und Übernahme gewinnbringender Tätigkeit behindert sein. Indessen können diese Erwägungen nicht dazu

581 582 583 584 585

Ministerium, BA R 1501 100973, fol. 57. Die Senatskommission für Reichs- und auswärtige Angelegenheiten der Hansestadt Bremen regte wegen der unsicheren Finanzierung an, die Einführung der Hinterbliebenenversicherung um weitere 5 Jahre, also bis 1915, hinauszuschieben, hielt anderenfalls die Beschränkung auf erwerbsunfähige Witwen trotz großer Schwierigkeiten in der Durchführung für geboten, weil »der erste Schritt auf dem neuen Gebiete sozialer Fürsorger mit der äußersten Vorsicht zu tun« sei, Schreiben vom 06. 06. 1905, BA R 1501 100973, fol. 196 RS f. Dieses Problem sah auch das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Schreiben vom 22. 03. 1905, BA R 1501 100973, fol. 92. Schreiben des Herzoglichen Staatsministeriums Braunschweig-Lüneburg, BA R 1501 100973, fol. 141 RS, 142. Schreiben des Großherzoglichen Badischen Ministeriums des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten vom 17.01–1905, fol. 123, wobei nicht der Begriff des Beurteilungsspielraumes sondern »Ermessen« gebraucht wurde. Die von der Denkschrift angedachte Übernahme der ganzen Hinterbliebenenversorgung als Gemeinlast wurde vor diesem Hintergrund als bedenklich bezeichnet, ebenda. Schreiben vom 27. 03. 1907 unterschrieben von Dr. Sarrazin unter Benennung der Berichterstatter Regierungsrat Dr. Lehmann, Regierungsrat Dr. Pietsch und Senatsvorsitzender, Geheimer Regierungsrat Hanow, BA R 1501 100970, fol. 31 RS ff. Über Richard Sarrazin, s. Tennstedt, RVA-Mitglieder, S. 59.

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führen, schlechthin auch den erwerbsfähigen Witwen Renten zu gewähren. Bei einer reichlichen Bemessung der Bezüge der Waisen, wie sie die Denkschrift vorsieht, werden die durch den Tod des Familienhauptes verursachten Nachteile zum größten Teile ausgeglichen. Es muß auch ganz abgesehen davon, daß die Kosten einer Fürsorge für alle Witwen von Versicherten wohl kaum zu beschaffen sein würden – erwartet werden, daß erwerbsfähige Personen selbst das für ihren Unterhalt Erforderliche erwerben. Die geplante Witwenfürsorge wird auch in der Beschränkung auf die erwerbsunfähigen Witwen, in Verbindung mit der Waisenfürsorge einen großen Fortschritt darstellen.«

b) Ablehnung der Beschränkung auf Invalidenrenten Es gab aber auch deutliche Kritik an der Beschränkung auf Invalidenrenten. Wenn obligatorische Arbeitnehmerbeiträge erhoben würden, müsse auch die Garantie gegeben werden, dass die versicherten Hinterbliebenen vor allen Fällen äußerster Not geschützt seien, so das Herzoglich Anhaltische Staatsministerium in Dessau.586 Es würde den Versicherten nämlich die Möglichkeit erschwert, eine entsprechende Absicherung etwa durch privaten Abschluss einer Versicherung auf den Todesfall aus den eigenen Ersparnissen zu schaffen.587 Auch das Königlich Bayerische Staatsministerium des königlichen Hauses des Äußeren in München forderte die Schaffung einer allgemeinen Absicherung gegen alle wirtschaftlichen Notlagen, in welche Hinterbliebene des Versicherungsnehmers durch dessen Tod geraten konnten. Wenn nicht auch die arbeitsfähige Witwe, die z. B. als Mutter den Haushalt zu besorgen habe und nicht nebenher arbeiten könne, eine ausreichenden Rente erhalten würde, würde die Hinterbliebenenversicherung zum einen ihren Zweck nicht erfüllen und den Charakter einer Versicherung ganz verlieren.588 Zum anderen würde aber auch den Erwartungen der versicherten Personen nicht entsprochen, so dass die Akzeptanz dieser Versicherung gefährdet wäre.589 Zur schwierigen Frage nach dem Beurteilungsmaßstab für die Erwerbsunfähigkeit einer Witwe wurde vorgeschlagen, auf den Beruf des verstorbenen Mannes abzustellen.590 Wie sonst wolle man die Witwen »eines Betriebsbeamten, Werkmeisters oder besser bezahlten Handlungsgehilfen und von selbst versicherten Personen«

zu Witwen von einfachen Lohnarbeitern abgrenzen? Besondere Definitionsnormen wurden als unerlässlich angesehen. 586 Herzoglich Anhaltisches Staatsministerium in Dessau, BA R 1501 100973, fol. 154. 587 Herzoglich Anhaltisches Staatsministerium in Dessau, BA R 1501 100973, fol. 154 RS. 588 Schreiben des Königlich Bayerischen Staatsministeriums des Königlichen Hauses des Äußern in München, BA R 1501 100973, fol. 17 RS. 589 Ebenda. 590 Schreiben des Königlich Sächsischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten vom 05. 06. 1905, BA R 1503 100973, fol. 57 RS.

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Bedenken äußerte auch der kaiserliche Statthalter in Elsass-Lothringen, Max von Schraut, welcher die Voraussetzung der Invalidität ablehnte und in dem Abstellen auf den Beruf des verstorbenen Mannes einen Bruch mit dem Versicherungsprinzip sah:591 »Die erwähnten Nachteile, an denen die vorgeschlagene Regelung leiden würde, sind in erster Linie die Folge des meines Erachtens zu dem Charakter der »Hinterbliebenenversicherung« nicht passenden Grundsatzes, daß nur der erwerbsunfähigen Witwe eine Rente zustehen soll. Ganz abgesehen von den außerordentlichen Schwierigkeiten der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit in zahlreichen Fällen und den unvermeidlichen Härten, die mit der Durchführung einer derartigen Vorschrift verbunden sein würden, besonders nachdem jetzt Kreise von Arbeitnehmern, deren Frauen zu Lebzeiten des Mannes einem Erwerb nicht nachgegangen sind, in die die Versicherung einbezogen worden sind, wird eine derart bedingte Hinterbliebenenversicherung, für welche von den Versicherten Beiträge geleistet worden sind, in breiten Schichten der Bevölkerung nicht verstanden werden und – ich möchte fürchten – geradezu Abneigung finden.«

Von Schraut prognostizierte, dass das Argument von nur beschränkt zur Verfügung stehenden Mitteln die Beteiligten nicht überzeugen würde. Eine Hinterbliebenenversicherung müsse »von dem allgemeinen Grundsatz ausgehen, daß der Tod des Familienhauptes für die Angehörigen in wirtschaftlicher Hinsicht ein Verlust bedeutet, und dieser Verlust gegebenenfalles tunlichst auszugleichen ist.«

Weil sich die wirtschaftlichen Nachteile in jedem einzelnen Fall unterschiedlich darstellen würden und beispielsweise von der bisherigen Lebensweise der Hinterbliebenen, ihrer sozialen Stellung, ihrer Vermögenslage und etwaige Unterhaltsansprüche an vermögende Verwandte abhingen, würde oftmals die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Witwe als Indikator für die Bewertung des wirtschaftlichen Verlustes in den Hintergrund treten. Bei der Gewährung von Hinterbliebenenrenten dürfte es auf diese Faktoren wegen der Unterschiedlichkeit aller Fälle nicht ankommen. »Andernfalls würde die Versicherung ihren Charakter als soziale Versicherung verlieren und denjenigen einer Armenfürsorge annehmen. Eine Hinterbliebenenversicherung, für welche der Einzelne Beiträge zahlt, sollte den Eintritt des Versicherungsfalles überhaupt nicht von außerhalb seiner Person liegenden und nicht von anderen Umständen abhängig machen, als von dem Tode des Familienhauptes und davon, daß dieses zu Lebzeiten die Bedingungen für die Versicherung seiner Angehörigen erfüllt hat.«

Die Rücksicht auf die finanziellen Lasten dürfe nicht die Art der Anspruchsvoraussetzungen bestimmen. Vielmehr schlug von Schraut einfache und klare Regeln nach Vorbild der Invalidenrente vor : Anspruchsberechtigt sollten 591 Schreiben vom 21. 12. 1904, BA R 1501 100973, fol. 199 RS – 202 RS.

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»die Hinterbliebenen eines jeden Arbeiters [sein], welcher bei seinem Tode entweder im Bezug der Invalidenrente stand oder im Falle seiner Erwerbsunfähigkeit gestanden haben würde.«

Die Höhe der Renten solle sich nach der Rente des Verstorbenen, die er bezogen hat oder bezogen haben würde, richten. Als besonders unbillig wurde es empfunden, der arbeitsfähigen Witwe mit Kindern eine Rente zu verwehren.592 Eine Witwe mit Kindern könne neben Kindererziehung und Haushaltsbesorgung keine Erwerbstätigkeit ausführen, weshalb auch ihr eine Rente zu gewähren sei. Das Königlich Bayerische Staatsministerium schlug umgekehrt außerdem vor, erwerbsunfähigen Witwen eine erhöhte Rente zu gewähren:593 »Hierin [Gemeint: Einer erwerbsfähigen Witwe mit Kindern keine Rente zu gewähren] liegt eine Unbilligkeit, die umso härter in die Erscheinung tritt, als der Ehemann bei Lebzeiten in beiden Fällen die gleichen Beiträge geleistet hat. Zwingt man nun die erwerbsfähige Witwe, durch Aufnahme einer Beschäftigung ihren Haushalt zu vernachlässigen, so ist die Folge Verwahrlosung der Kinder und Schädigung des allgemeinen Interesses. Man könnte wohl die kinderlose erwerbsfähige Witwe vom Rentengenusse ausschließen; dem stünde jedoch die rechtliche Erwägung entgegen, daß auch für die kinderlose Witwe der verstorbene Ehemann seine Beiträge geleistet hat. Dagegen könnte sich fragen, ob der erwerbsunfähigen Witwe in schweren Fällen (gänzliche Hilflosigkeit) nicht eine Erhöhung der Rente zuzubilligen sei.«

Auch das Königlich Bayerische Landesversicherungsamt rügte die Beschränkung auf Invalidenrenten und begründete dies insbesondere damit, dass in Familien mit Kindern die Mutterpflichten nicht berücksichtigt würden.594 Durch die Beschränkung auf erwerbsunfähige Witwen verlöre die zu schaffende Einrichtung ihren Versicherungscharakter und würde weder ihren eigentlichen Zweck noch den allseits gehegten Erwartungen entsprechen. »Es dürfte sich daher dringend empfehlen, die Ehefrauen nicht nur gegen Invalidität, sondern allgemein gegen die wirtschaftliche Notlage zu versichern, in welche sie durch den Tod des Familienhauptes geraten können. Eine das Eingreifen der Hinterbliebenenversicherung erheischende Notlage der Witwe dürfte nun nicht nur dann als gegeben zu erachten sein, wenn diese infolge körperlichen Leidens erwerbsunfähig ist, sondern in gleichem Maße auch dann, wenn dieselbe durch ihre häuslichen Pflichten als Mutter und Führerin des Haushaltes davon abgehalten wird, dem Erwerbe nachzugehen. In noch höherem Grade erscheint die Hilfsbedürftigkeit einer durch die Pflege und Erziehung ihrer Kinder beanspruchten Witwe dann gegeben, wenn diese zwar noch nicht invalide im Sinne des Gesetzes, aber doch bereits arbeitsbeschränkt ist.« 592 Mit Verweis auf die den Schwerpunkt auf die Waisenfürsorge wurde eine solche Regelung aber auch ausdrücklich akzeptiert. 593 Schreiben vom 10. 03. 1906, BA R 1501 100973, fol. 9f. 594 Schreiben vom 27. 10. 1904, BA 1501 100973, fol. 17 RS ff.

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Zu berücksichtigen sei außerdem, dass eine erwerbsfähige Witwe mit Kindern unter Umständen keine Arbeit finden würde: »Ebensowenig aber dürfte es dem Gerechtigkeitsgefühle des Volkes entsprechen, die durch ihre Mutterpflichten am Erwerb gehinderten und deshalb normaler Weise in empfindlicher wirtschaftlicher Notlage befindlichen Witwen trotz der Beitragsleistung ihrer Ehemänner lediglich deshalb von den Wohltaten des Gesetzes auszuschließen, weil ihnen noch ein gewisses Maß von Erwerbsfähigkeit verblieben ist, das aber nur theoretisch besteht, praktisch jedoch nicht verwertet werden kann.«

Letztlich verwies das Königlich Bayerische Landesversicherungsamt darauf, dass Kindererziehung und –pflege vernachlässigt würden, wollte man einer Witwe mit Kindern die Gewährung einer Rente verwehren: »Zudem möchte es auch von anderen, insbesondere ethischen Gesichtspunkten aus keineswegs angezeigt sein, eine Witwe von der Erfüllung ihrer vornehmsten Aufgabe der Pflege und Erziehung ihrer Kinder dadurch abzudrängen, daß man ihr die benötigte Rente vorenthält und sie auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft zum Gelderwerbe verweist. Ein solches Verfahren würde sicher die erhofften guten Wirkungen des Gesetzes ganz erheblich beeinträchtigen und zu einer allgemeinen tiefgreifenden Unzufriedenheit berechtigten Anlaß geben.«

Gegen ein Abstellen auf die Erwerbsunfähigkeit einer Witwe sprach aus Sicht des Königlich Bayerischen Landesversicherungsamtes letztlich die Erwägung, dass es erwerbsunfähige Witwen mit großem Vermögen gab, welche nicht den bedürftigsten Fällen zugerechnet werden könnten. Man sprach sich gleichwohl ausdrücklich gegen eine Vermögensanrechnung aus, weil die Bedürftigkeitsfrage mit der vorherigen Pflicht zur Beitragsleistung in Widerspruch stünde: »Umgekehrt ist die Erwerbsunfähigkeit einer Witwe für sich allein noch keineswegs für deren unbedingte Hilfsbedürftigkeit entscheidend, da letztere durch den Besitz von Vermögen oder das helfende Eingreifen erwachsener Kinder ausgeschlossen werden kann. In letzterem Falle die Rente vorzuenthalten, dürfte nun allerdings untunlich sein, da der Eintritt der gesetzlichen Fürsorge nur nach allgemeinen Gesichtspunkten geregelt, nicht aber davon abhängig gemacht werden kann, daß auch in jedem einzelnen Falle eine besondere Hilfsbedürftigkeit gegeben ist. Außerdem würde die Vorenthaltung der Rente im Falle mangelnder Hilfsbedürftigkeit auch mit Rücksicht auf die Beitragsleistung des verstorbenen Ehemannes unbillig sein.«

Auch das Herzoglich Anhaltische Staatsministerium in Dessau hielt es für unvereinbar, Arbeitnehmerbeiträge zu erheben und erwerbsfähige Witwen vom Rentenbezug auszuschließen.595 Die Verpflichtung der Arbeitnehmer, Versicherungsbeiträge für eine Hinterbliebenenversorgung zu leisten, müsse eine Garantie geben, dass ihre Hinterbliebenen vor allen Notfällen und nicht nur vor 595 Schreiben vom 04. 05. 1904, BA R 1501 100973, fol. 154ff.

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den durch Erwerbsunfähigkeit bedingten geschützt würden. Diese Garantie müsse man gerade deshalb geben, weil die Beitragspflicht es erschweren oder sogar unmöglich machen würde, private Vorsorge zu betreiben. Es schlug daher vor, auf Arbeitnehmerbeiträge zu verzichten und bei alternativer Finanzierung nicht auf die Erwerbsunfähigkeit, sondern auf die Bedürftigkeit der Witwe abzustellen: »Sofern daher die Finanzverhältnisse des Reiches und die gebotene Rücksichtnahme auf die ausländische Konkurrenz es irgend zulassen, möchte es sich empfehlen, die Kosten der Hinterbliebenen-Versicherung ausschließlich dem Reiche – eventl. unter Mitheranziehung der Arbeitgeber – aufzuerlegen. In diesem Fall dürfte jedoch in eine erneute Prüfung des Vorschlages einzutreten sein, die durch die Einnahmen aus den Getreideund Viehzöllen nicht gedeckten Kosten der neuen Versicherung durch eine besondere, lediglich für diesen Zweck bestimmte indirekten Steuer auf Artikel des Massenkonsums (Bier, Tabak oder dergl.) aufzubringen, deren Höhe nach dem voraussichtlichen Bedarf für Witwen- und Waisenrenten zu bemessen wäre. Sofern von einer Heranziehung der Arbeitnehmer abgesehen werden sollte, würde die Gewährung der Hinterbliebenenrenten nicht lediglich von der Erwerbsunfähigkeit, sondern ferner noch von der Bedürftigkeit derart abhängig gemacht werden können, daß die Gewährung von Witwengeldern und Hinterbliebenenrenten auch dann und insoweit nicht stattzufinden hätte, als die Beteiligten ein zum Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen aus sonstigen Quellen (Privatvermögen u. s. f.) beziehen.«

c) Definitionsvorschläge zum Invaliditätsbegriff Das Reichsversicherungsamt, welches sich für die Beschränkung auf Invalidenrenten aussprach, sah in den Waisenbezügen einen ausreichenden Ausgleich in den Fällen, in denen der Ernährer einer Familie mit Kindern verstarb, widmete sich ausführlich der Frage des Invaliditätsbegriffes teilte das Reichsversicherungsamt die teilweise geäußerte Vorstellung596, dass auf eine zuvor von der Witwe ausgeübte Tätigkeit nur abzustellen sei. Es stellte aber auch die Frage nach der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit einer Witwe, die niemals einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Für diese Fälle schlug es vor, auf die Tätigkeit des verstorbenen Mannes und begründete dies wie folgt:597 »Erwägt man, daß die hauptsächlichste Lebensaufgabe der Frau und die ihre gesellschaftliche Stellung bestimmende Tätigkeit ihre Eigenschaft als Ehefrau ist, auch wenn sie während der Ehe oder nach dem Tode des Mannes eine Erwerbstätigkeit ausübt, und daß sie die Witwenrente nicht auf Grund ihrer eigenen zur Versicherung verpflichtenden oder berechtigenden Tätigkeit erhalten soll, sondern auf Grund der Beiträge ihres 596 Diese Ansicht blieb im Bereich der Arbeiterversicherung eine Einzelmeinung, wurde aber in der späteren Angestelltenversicherung oft vertreten und damit begründet, dass der Status der Witwe abzusichern sei. Vorbild sei die Versicherung der Reichs- und Staatsbeamten gewesen, Clemens Delbrück, Reichstagssitzung vom 19. 10. 1911, S. 7436. 597 Schreiben vom 27. 03. 1907, BA R 1501 100970, fol. 31 RS ff.

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Ehemannes und als Ersatz für den Verlust dieses Ernährers, so kommt man zu dem Schlusse, nicht die von der Witwe selbst früher oder zur Zeit der Erhebung des Rentenanspruchs ausgeübte Erwerbstätigkeit als Maßstab für die Prüfung ihrer Erwerbsunfähigkeit zu nehmen, sondern die soziale Stellung des Mannes entscheiden zu lassen. Hiernach wird vorgeschlagen, für die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit der Witwe, soweit der Anspruch auf Witwenrente in Frage steht, die Verdienstgrenze und die der Witwe noch zuzumutende Tätigkeit nach derjenigen Berufsstellung zu bestimmen, nach der sich beides für den Ehemann bestimmt hat, falls er in den Genuß der Invalidenrente gelangt ist, oder nach der sich beides für den Ehemann bestimmt hätte, falls er zur Zeit seines Todes einen Anspruch auf Invalidenrente erhoben hätte.«

Das Reichsversicherungsamt schlug vor, den auf die berufliche Stellung des verstorbenen Ehemannes abstellenden Erwerbsunfähigkeitsbegriff auch für Witwen anzuwenden, die ihre Erwerbstätigkeit nach Eheschluss aufgegeben hatten: »Aber auch bei den nur bis zur Eingehung der Ehe versicherungspflichtig gewesenen Witwen wäre die Anwendung der angeführten Bestimmung bedenklich und nicht zu empfehlen. Eine solche Frau und eine andere niemals erwerbstätig gewesene entstammen vielleicht derselben sozialen Schicht, während die erfolgte oder nicht erfolgte Ausübung eines Erwerbsberufs durch äußere Umstände, wie die spätere oder frühere Eingehung der Ehe, größere oder geringere Entbehrlichkeit im elterlichen Haushalte bedingt war; es wäre unbillig, in solchen Fällen einen verschiedenen Maßstab für die Erwerbsunfähigkeit anzuwenden. Ist etwa, was weiter in Betracht kommt, die vor der Ehe als Dienstmädchen oder Arbeiterin beschäftigt gewesene Frau mit ihrem Ehemanne in eine höhere Gesellschaftsklasse emporgestiegen, so wird auch darauf bei der Beurteilung des Witwenrentenanspruchs Rücksicht genommen werden müssen, wie auch bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit der nach dem Invalidenversicherungsgesetze versicherten Personen das Aufsteigen in eine höhere Berufsstellung berücksichtigt wird.«

4.

Bedürftigkeit des Witwers

Dass die Gewährung von Witwerrenten anders als bei Witwenrenten von der Voraussetzung der Bedürftigkeit abhängig gemacht werden sollte, wurde in vielen Stellungnahmen kritisiert, weil dies einen deutlichen Bruch mit dem Versicherungsprinzip darstellen würde und es zudem zu kompliziert sei,598 die Bedürftigkeit des Witwers festzustellen. Vorgeschlagen wurde deshalb, (zumindest) vorläufig auf die Leistung der Witwerrente ganz zu verzichten599, oder aber die Witwerrente, so wie die Witwenrente, unabhängig von der Bedürftigkeit zu gewähren. 598 Die Witwerrente erscheine zu umständlich und sei deshalb nicht bedenkenfrei, Herzoglich Braunsch. Lüneb. Staatsministerium, BA 1501 100973 fol. 143. 599 Grosherzoglich Mecklenburgisches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, BA 1501 100973, fol. 134: Die Bestimmungen seien nicht einfach genug. Wegen der erheblichen finanziellen Belastung der Arbeitgeber wurde eine Hinterbliebenenversicherung in engerem Rahmen nämlich unter Verzicht auf die Witwerrente angeregt. Auch das Reichsversicherungsamt schlug vor, auf die Witwerrente zu verzichten, BA R 1501 100970, fol. 40 RS.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte kritisierte, dass die Grenzen zwischen kommunaler Armenpflege und Sozialversicherung durch die Voraussetzung der Bedürftigkeit nicht eingehalten würden.600 Die Voraussetzung der Bedürftigkeit sei mit dem Wesen der Versicherung unvereinbar. Eine Versicherung »soll Rechtsansprüche auf Renten und Kapitalzahlungen gewähren, die von festen Voraussetzungen abhängig sein müssen; »Bedürftigkeit« aber ist ein viel zu flüssiger, nach örtlichen Verhältnissen viel zu verschieden aufgefaßter Begriff, als daß davon ein Rechtsanspruch abhängig gemacht werden könnte.«

Ob »Bedürftigkeit« vorläge, könne überdies nur von Kommunen geprüft werden, weil nur diese den betreffenden Personen örtlich nahe stünden und »deren Verhältnisse genau und in allen Beziehungen zu übersehen vermögen.«

Das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten teilte die Einschätzung, dass die beabsichtigte Regelung einer Bedürftigkeit als Anspruchsvoraussetzung dem Versicherungsprinzip widersprechen und auch dass deren Beurteilung nur vor Ort möglich wäre.601 Sie wäre außerdem geeignet, »der Gewährung einer Rente in diesem Falle den Stempel der Armenunterstützung aufzudrücken.«

Die Gemeinden würden ohnehin keine hohen Anforderungen an die Bedürftigkeit von Witwern stellen. Vielmehr würden sie das Vorliegen großzügig bejahen, um die Gewährung von Armenunterstützung aus eigenen Mitteln entbehrlich zu machen. Man könne also konsequenterweise gleich auf die Prüfung der Bedürftigkeit verzichten. Das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten sprach sich – abgesehen von der Voraussetzung der Bedürftigkeit des Witwers – für die Gewährung von Witwerrenten aus, und begründete dies wie folgt: »Wenn die Ehefrau an die Stelle des erwerbsunfähigen Ehemanns tritt, so ist es eine natürliche Folge, daß dem Ehemann die Wohltaten zufließen, die normalerweise der Ehefrau zukommen. Da nun die Ehefrau Beiträge für die Hinterbliebenenversicherung entrichtet hat, wie sie der Ehemann im Falle der Erwerbsfähigkeit leisten muß, so entspricht es nur der Billigkeit, daß diesen Beiträgen hinsichtlich des erwerbsunfähigen Mannes die gleichen Wirkungen zukommen, wie unter gewöhnlichen Verhältnissen denjenigen des erwerbsfähigen Ehemanns.« 600 Herman Gebhard, Schreiben vom 10. 06. 1904, BA R 1501 100973 fol. 182. Mit einem Randhinweis wurde diesem Argument entgegnet, Voraussetzungen der Bedürftigkeit seien auch in der Unfallversicherung geregelt. 601 Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, Schreiben vom 22. 03. 1905, BA R 1501 100973 fol. 99ff.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

5.

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Besonderheiten: Witwengeld, Versorgungsehe und Wiederheirat

a) Witwengeld Das von der Denkschrift vorgeschlagene Witwengeld stieß überwiegend auf Zustimmung der verbündeten Regierungen.602 Kaum bestritten wurde, dass die Witwe anders als heute nicht gleichzeitig eine Invalidenrente aufgrund eigener Beiträge und zusätzlich die Witweninvalidenrente beziehen sollte, weil die jeweils höhere Rente die andere »unnötig erscheinen« lasse.603 Der Bezug der Invalidenrente aufgrund eigener Beiträge sollte nach der Denkschrift nur dann in Betracht kommen, wenn diese höher als die Witweninvalidenrente sei. Dass der Witwe ein Ausgleich für die eigene Beitragsleistung, die in keinen Rentenanspruch mehr münden könne, zu gewähren sei, überzeugte deshalb.604 Um Kosten zu sparen, wollte das Großherzoglich Hessische Staatsministerium die Gewährung des Witwengeldes in der Situation, dass die Invalidenrente der Witwe höher als die Witwenrente war und deshalb nur erstere beansprucht werden konnte, an die Voraussetzung der Invalidität der Witwe knüpfen.605 Es würde nämlich für den Versicherungsträger keine Ersparnis durch die neben der Invalidenrente nicht zu gewährende Witwenrente eintreten, wenn die Witwe sterbe, ohne erwerbsunfähig zu sein.606 Für ein Witwengeld für alle Hinterbliebenen von Versicherungsnehmern, also nicht nur für diejenigen, welche auch selbst Versicherungsbeiträge geleistet hatten, argumentierte das Königlich Sächsische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten und schlug ein erhöhtes Witwengeld als Ausgleich von eingezahlten Versicherungsbeiträgen ohne Rentenanspruch vor.607 Nach dem Tode eines Ehemannes würden seine Hinterbliebenen regelmäßig sofort Geld benötigen, so dass dies eine wünschenswerte Erweiterung der in der Denkschrift vorgesehenen Hinterbliebenenfürsorge sei.

602 Von nur wenigen wurde das Witwengeld angesprochen, so dass von deren Zustimmung auszugehen ist. Ablehnend äußerte sich nur die Hansestadt Hamburg ohne Begründung, BA R 1501 100973, fol. 197 sowie das Großherzogliche Badische Ministerium, welches die durch den Wegfall des Witwengeldes freiwerdenden Mittel darauf verwenden wollte, die Renten in den oberen Lohnklassen zu erhöhen, BA R 1501 100973, fol. 122 RS. 603 So noch einmal hervorgehoben vom Königlich Sächsischen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten im Schreiben vom 05. 06. 1905, BA R 1501 100973, fol. 57. 604 Ebenda. 605 BA R 1501100973, fol. 131 RS. 606 Ebenda. 607 Schreiben des Königlich Sächsischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten vom 05. 06. 1905, BA R 1501 100973, fol. 57f. Das Landesversicherungsamt führt hierzu aus, der Rentenempfänger stelle nicht mehr ein Risiko dar, sondern bereits eine Belastung, und hätte es in der Hand, diese Belastung zu vergrößern, BA R 1501 100970, fol. 35.

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Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

b) Versorgungsehe Nach der Denkschrift sollte eine Witweninvalidenrente auch dann gewährt werden, wenn der verstorbene Ehemann bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung invalide war, worin ein Bruch mit dem Versicherungsprinzip gesehen wurde.608 Vorgeschlagen wurde zudem, den Rentenanspruch von dem Bestand der Ehe für einen Mindestzeitraum von drei Monaten abhängig zu machen, um so diejenigen Witwen vom Leistungsanspruch auszuschließen, deren Ehen nur zur Versorgung geschlossen wurden. Unklar blieb, ob kumulativ zur Unterschreitung der drei Monate noch der Versorgungszweck hinzukommen sollte oder ob dieser widerlegt werden konnte. Hierzu das Reichsversicherungsamt:609 »Es besteht weiter die Gefahr, daß ein Versicherter, um einer nahen Verwandten oder seiner Wirtschafterin oder der ihn bis zu seinem Tode pflegenden Person die Witwenrente zu verschaffen, auf dem letzten Krankenlager eine Ehe eingeht, die er unter anderen Verhältnissen nicht geschlossen haben würde. Auch einem solchen Verfahren wird vorgebeugt werden müssen. Die bezeichneten Pensionsgesetze [Gemeint: Unfallversicherungsgesetze des Gewerbes, für Land- und Forstwirtschaft, für die Seefahrt und für Beamte und Personen des Soldatenstandes, Anm. des Verf.] suchen dies zu erreichen, indem sie den Pensionsanspruch der Witwe ausschließen, wenn die Ehe innerhalb dreier Monate vor dem Tode des Staatsdieners geschlossen ist und die Eheschließung den Zweck verfolgte, der Witwe den Bezug des Witwengeldes zu verschaffen.«

c) Wiederheirat der Witwe Bedenken wurden auch gegen die von der Denkschrift vorgesehene Belassung der Rente im Falle der Wiederheirat einer Witwe geäußert.610 Es bestünde nämlich die Gefahr, dass die Witwe ihrer Rente wegen geheiratet würde.611 Würde der Grund für den Rentenbezug mit Wiederheirat wegfallen612, könne man die Beträge besser darauf verwenden, in den oberen Lohnklassen höhere Renten zu gewähren.613 Das Reichsversicherungsamt schlug deshalb vor, die Witwenrente bei Wiederheirat gegen eine einmalige Abfindung wegfallen zu 608 So die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, BA R 1501 100973, 182 RS. 609 Schreiben vom 27. 03. 1907, BA R 1501 100970, fol. 35 RS. Ähnlich äußerte sich das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, BA R 1501 100973, fol. 91. 610 Es sei »sehr unzweckmäßig«, wie sich die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte einließ, BA R 1501 100973, fol. 182 RS. Ähnlich das Herzoglich Braunschweigisch Lüneburgische Staatsministerium, BA R 1501 100973, fol. 142 RS. 611 So das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, BA R 1501 100973, fol. 98. 612 Großherzoglich Badisches Ministerium des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten, BA R 1501 100973, fol. 121 RS. 613 Großherzogliche Gerneraldirektion der Badischen Eisenbahnen, BA R 1501 100973, fol. 124 RS.

153

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

lassen.614 Sollte die Witwe aus mehreren Ehen Anspruch auf Witwenrente haben, sei ihr nur die höhere Rente zu gewähren, so das Reichsversicherungsamt weiter.

II.

Unverhältnismäßigkeit von Beitrags- und Rentensätzen

In fast allen Stellungnahmen wurde ein Missverhältnis zwischen den Rentensätzen untereinander sowie in Beziehung zu den Beitragssätzen erkannt. 1.

Benachteiligung der oberen Lohnklassen

Dass sich die in der Denkschrift vorgesehenen Beitragssätze der Lohnklassen untereinander im Missverhältnis befänden und außerdem ein grobes Missverhältnis zwischen Beitrags- und Rentensätzen insbesondere in den oberen Lohnklassen vorläge, bildete den Hauptkritikpunkt an den Vorüberlegungen des Reichsamtes des Innern. Die vorgesehene Erhöhung der Versicherungsbeiträge um ein Drittel sollte nämlich in den oberen Lohnklassen um mehr als 33 Prozent ansteigen,615 während die vorgesehenen Rentensätze selbst in der höchsten Lohnklasse kaum höher waren als in der ersten Lohnklasse. Dies verstieße gegen das Versicherungsprinzip und den ausdrücklich von der Denkschrift aufgestellten Grundsatz, dass die Renten nach den Beiträgen des verstorbenen Ehemannes zu berechnen wären.616 Für die Landesversicherungsanstalten der Hansestädte errechnete Direktor Gebhard das Verhältnis der Beiträge zwischen erster und fünfter Lohnklasse, nämlich 100:257, und stellte diesem das Verhältnis der entsprechenden Renten gegenüber, nämlich 100:117, und rügte, dass die höheren Lohnklassen gegenüber der jeweils niedrigeren in hohem Maße 614 Schreiben vom 27. 03. 1907, BA R 1501 100970, fol. 37. 615 Die Erhöhung der Versicherungsbeiträge erfolgte nicht um ein Drittel, wie es die Denkschrift beschrieb, sondern in den höheren Lohnklassen um teilweise 41,6 Prozent, während eine Steigerung in der ersten Lohnklasse von 28,5 Prozent vorgesehen war. Diese Benachteiligung der höheren Lohnklassen zeigte die Berechnung des Großherzoglich Badischen Ministeriums des Großherzoglichen Hauses der auswärtigen Angelegenheiten, BA 1501, 100973, fol. 122 RS: Lohnklasse I II III IV V

Jetziger BeitragPf. 14 20 24 30 36

Erhöhung um 1/3 = 33 1/ 3 ProzentPf. + 4 2/3 6 2/3 8 10 12

Erhöhung umPf. +4 6 10 12 14

Nach dem Entwurf somit um 28,5 30,0 41,6 40,0 39,0

616 So ausdrücklich die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, BA 1501 100973, fol. 179.

154

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

benachteiligt würden.617 Es sei ein Irrtum anzunehmen, dass das Bedürfnis nach Fürsorge bei Hinterbliebenen unterer Lohnklassen ein größeres sei, als dies bei Hinterbliebenen oberer Lohnklassen der Fall sei. Aufgabe der sozialpolitischen Versicherung sei nicht nur die Fürsorge für die Hinterbliebenen von Mitgliedern unterer Lohnklassen sondern die Fürsorge für alle Versicherten in gleichem Maße zu regeln. Im Reichsamt des Innern hielt man die vorgenommene Subventionierung der unteren Lohnklassen durch die oberen aber für zwingend und vermerkte in den Akten zu den entsprechenden Stellungnahmen:618 »Die niedrigen Lohnklassen bringen doch nie große Summen von Beiträgen auf.«

Überwiegend wurde von den verbündeten Regierungen angeregt, in den höheren Lohnklassen deutlich höhere Renten zu gewähren. Man begründete dies damit, dass hier ein anderer gesellschaftlicher Status abzusichern sei. Typische Berufe von Versicherungsnehmer unterer und höherer Lohnklassen wurden gegenübergestellt. Es wurde so die »Verschiedenheit der Lebenshaltung« betont, weshalb der gleiche Geldbetrag für die Familien dieser Klassen von Versicherten einen verschiedenen Wert habe.619 Verglichen wurden polnische Tagelöhner der unteren Lohnklasse mit hochentlohnten Arbeitern, Betriebsbeamten, Handlungsgehilfen, Lehrern, Erziehern und sonstige Angestellten der oberen Lohnklasse.620 Dass in den unteren Lohnklassen oftmals auch gar kein so großes Bedürfnis an Fürsorge gegeben sei, argumentierte die Landesversicherungsanstalt der Hansestädte, indem auf die Verschiedenheit des ortsüblichen Tagelohns abgestellt wurde.621 Eine Subventionierung der unteren Lohnklassen zulasten der oberen Lohnklassen könne nämlich dazu führen, dass Hinterbliebene der oberen Lohnklassen sogar ungünstiger gestellt seien, weil an ihrem Wohnort die Mieten deutlich höher seien.622 Auch waren in der Landwirtschaft Beschäftigungsverhältnisse üblich, in denen dem Arbeiter zum großen Teil Deputate zustanden, auf die keine Beiträge zu leisten waren. Auf diesen Umstand wies das 617 Schreiben der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte v. 10. 06. 1904, BA R 1501 100973, fol. 176 RS f. 618 BA 1501 100973, fol. 176 RS. 619 So der Vorstand der Thüringischen Landes-Versicherungsanstalt, BA R 1501 100973, fol. 161, auf dessen Gutachten das Fürstlich Schwarzburgische Ministerium in Rudolstadt verweist, BA R 1501 100973, fol. 158. 620 Ebenda. 621 Schreiben der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte v. 10. 06. 1904, BA R 1501 100973, fol. 177 RS f. 622 Ebenda. Die Bemessung der Witwenrente in der fünften Lohnklasse »müßte als eine völlig willkürliche und durchaus ungerechtfertigte empfunden werden.«, BA R 1501 100973, fol. 178.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

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Königlich Sächsische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten hin, indem es einen landwirtschaftlichen Arbeiter mit einem Fabrikarbeiter verglich, jeweils typische Lebensläufe zugrunde legte und feststellte, dass die Witwe eines Fabrikarbeiters deutlich schlechter versorgt sei, obwohl dieser mehr Beiträge in die Versicherung eingezahlt hatte als der landwirtschaftliche Arbeiter.623 Die Witwe eines landwirtschaftlichen Arbeiters mit festem Arbeitsvertrag (Instmann) würde mit den Waisenrenten den Unterhalt ihrer Kinder voll bestreiten, sich selber aus einer eigenen kleinen Landwirtschaft versorgen und sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmern können. Die Witwe eines Fabrikarbeiters würde die Waisenrenten in einer Großstadt bereits ganz oder zum großen Teil für die Wohnraummiete aufzuwenden haben. Den Unterhalt für sich und ihre Kinder müsse sie durch eigene Erwerbstätigkeit verdienen. Ihre Kinder würde sie – wenn sie Lohnarbeit findet – sich selbst zu überlassen oder anderen Personen gegen Bezahlung anzuvertrauen haben. »Fehlen ihr dazu die Mittel oder zu ausreichendem Erwerb die Kräfte, Fähigkeiten und Gelegenheit, so ist sie auf die öffentliche Armenpflege oder private Wohltätigkeit angewiesen, obwohl ihr Ehemann wesentlich mehr zu der die Hinterbliebenenfürsorge bezweckenden Versicherung beigetragen hat, wie der Instmann.«

Die Schlechterstellung der oberen Lohnklassen würde dazu führen, dass die freiwillige Versicherung – anderes als in der Denkschrift dargestellt – wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre.624 2.

Missverhältnis der Hinterbliebenenrenten im Vergleich zur Invalidenrente

Die in der Denkschrift vorgesehenen Hinterbliebenenrenten standen aber nicht nur im Missverhältnis untereinander, sondern auch zur Invalidenrente des Versicherten. Es war nämlich bewusst keine Regelung vorgesehen, nach welcher die Summe der Hinterbliebenenrenten auf die Invalidenrente beschränkt werden sollte, welcher der verstorbene Versicherungsnehmer bezogen hatte oder bezogen hätte. So konnte es, wie es u. a. die Regierung von Mecklenburg errechnete, dazu kommen, dass eine erwerbsunfähige Mutter mit fünf rentenberechtigten Kindern einen Rentenanspruch von 450 Mark hatte, während die Invalidenrente des verstorbenen Mannes nur 170 Mark betrug. Eine solche 623 Schreiben des Königlich Sächsischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten v. 05. 06. 1905, BA R 1501 100973, fol. 55f., zur Beschreibung der Lebensläufe BA R 1501 100973, fol. 54f. 624 Schreiben der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte v. 10. 06. 1904, BA R 1501 100973, fol. 177.

156

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Regelung konnte nicht befriedigen,625 war sie doch »aus ethischen Gesichtspunkten kaum wünschenswert«626 Aus diesem Grund wurde teilweise die Erhöhung der Invalidenrentensätze gefordert, überwiegend jedoch eine Regelung, nach der die Rentensätze so zu kürzen waren, dass sie in ihrer Summe die Invalidenrente, welcher der verstorbene Versicherungsnehmer bezogen hätte, nicht überstiegen.

III.

Finanzierung

Neben dem Vorwurf der ungleichen Beitragserhöhung zulasten der höheren Lohnklassen wurde bezweifelt, ob sich aus der beabsichtigten Erhöhung der Versicherungsbeiträge um ein Drittel zuzüglich der Mehreinnahmen aufgrund der Erhöhung des Zolltarifes ausreichende Summen ergeben konnten. Nachprüfbare Berechnungen würden fehlen. Erst wenn diese noch folgten und die Finanzierungsfrage schlüssig geklärt sei, wollten die verbündeten Regierungen zustimmen. Ihre Befürchtung war, dass man Matrikularbeiträge erheben würde, wogegen sie sich verwehrten. Auch gegen die Bezuschussung durch Reichsmittel hatte man Bedenken. Weil die schwankenden Mehreinnahmen aus dem Zolltarif nicht ausreichen würden, müssten weitere Quellen erschlossen werden.

1.

Reichsmittel

Für die Bezuschussung der Hinterbliebenenrenten aus Steuereinnahmen sprach vor allem das Argument, dass Rentenversicherungsbeiträge insbesondere in den unteren Lohnklassen nicht in einer Höhe geleistet werden konnten, welche Rentensätze in Höhe der Armenpflege ermöglichen konnten. Dass aber die Zollmehreinnahmen reichen würden, den vorgeschlagenen Reichszuschuss in Höhe von 60 Mark pro Witwen- und Witwerrente zu finanzieren, wurde mit Blick auf deren Unkalkulierbarkeit weitgehend abgelehnt. Zu den alternativen Vorschlägen zählte die Einführung einer Erbschaftssteuer. Auch indirekte Steuern auf Artikel des Massenkonsums, etwa Bier- oder Tabaksteuern, wurden vorgeschlagen, weil man so auch die Bedürftigkeitsvoraussetzung erklären könne.627 625 Schreiben des Grosherzoglich Mecklenburgischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten v. 03. 11. 1904, BA R 1501 100973, fol. 135. 626 Schreiben des Großherzoglich Sächsischen Staatsministeriums vom 08. 12. 1904, BA R 1501 100973, fol. 137. 627 Schreiben des Herzoglich Anhaltischen Staatsministeriums in Dessau vom 04. 05. 1904, BA R 1501 100973, fol. 155.

Beteiligung der verbündeten Regierungen mit Bülows Einverständnis

2.

157

Heranziehung der Gemeinden

Überwiegend folgte man der Denkschrift darin, dass die Gemeinden nicht herangezogen werden sollten,628 wenn sie auch durch die Einführung von Hinterbliebenenrenten entlastet würden,629 da diese Einsparungen in der öffentlichen Armenfürsorge bedeuteten.630 Die öffentliche Armenfürsorge sei eigentlich Sache der Allgemeinheit und den Gemeinden ursprünglich nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen zugewiesen worden.631 Es sei auch völlig gleich, ob man eine Gemeindeumlage erhöbe, welche nach der Steuerkraft ihrer Einwohner bemessen würde, oder ob man unmittelbar eine Steuer erhöbe.632 Drei Stimmen sprachen sich hingegen für eine gewisse Kostenübernahme durch die Gemeinden aus.633 Um die Erhebung von Matrikularbeiträgen zu verhindern, unterbreitete das Grossherzoglich Hessische Staatsministerium einen Vorschlag, nach welchen Maßstäben die Heranziehung erfolgen könne.634 Zwar sei es schwierig, eine gleichmäßige Heranziehung aller Gemeinen zu erreichen, wie der Denkschrift zugestanden wurde. Ein Schlüssel könne sich aber aus der Zahl der Versicherten und den Ausgaben einer Gemeinde für die Armenpflege ergeben. 3.

Rentenversicherungsbeiträge

Die Frage nach der Finanzierung aus Rentenversicherungsbeiträgen, welche nach der Denkschrift paritätisch von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geleistet werden sollten, wurde kontrovers diskutiert. Viele verbündete Regierungen stimmten der vorgeschlagenen Regelung zu,635 hielten die Erhöhung um ein Drittel zwar nicht für ausreichend, wollten aber weder Industrie noch Land628 Ohne weitergehende Begründung ablehnend das Fürstlich Schwarzburgische Ministerium in Sondershausen im Schreiben vom 22. 02. 1905, BA R 1501 100973, fol. 156 RS. 629 Wenn überhaupt käme eine Beteiligung der Gemeinden nur in dem Umfang in Betracht, in welchem eine Minderung der Ausgaben für Armenzwecke tatsächlich eintreten würde, was indes nicht sicher zu bestimmen sei. Das Herzogliche Staatsministerium äußerte Zweifel, ob überhaupt eine Minderung der Ausgaben für Armenzwecke erfolgen würde, Schreiben vom 11. 03. 1905, BA R 1501 100973, fol. 146. 630 Als Ablehnungsgrund wurde angeführt, dass angesichts »der jetzigen Verschiedenheit der Staats- und Gemeindesteuerveranlagung und nach der sonst in Betracht zu ziehenden Verhältnisse ein gerechter und praktisch verwendbarer Maßstab kaum zu finden sein werde.«, BA R 1501 100973, fol. 60 RS. 631 BA R 1501 100973, fol. 25. 632 Für letzteres fol. 25. 633 BA R 1501 100973, fol. 126 RS, 171 und 129. 634 Schreiben des Grossherzoglich Hessischen Staatsministeriums vom 05.041905, BA R 1501, fol. 129f. 635 Ausdrücklich für die hälftige Beitragspflicht von Arbeitnehmer und Arbeitgeber : Oldenburg, BA R 1501 100973, fol 140.

158

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

wirtschaft eine stärkere Erhöhung zumuten.636 Es seien daher »neue, ergiebige Einnahmen« erforderlich, welche die Einführung von Hinterbliebenenrenten überhaupt erst ermöglichen könnten.637 Kaum bestritten wurde, dass Arbeitnehmerbeiträge zumindest teilweise die Hinterbliebenenrenten finanzieren sollten.638 Allerdings wurde von vielen Seiten gefordert, dass die Hinterbliebenenrenten so hoch zu bemessen sein würden, dass sie mindestens der ortsüblichen Armenunterstützung entsprächen.639 Wenn man den Arbeitnehmern weitere Pflichtbeiträge auferlegen würde, so die Argumentation, würde man ihnen insbesondere in den unteren Lohnklassen gleichzeitig die Möglichkeit nehmen, darüber hinaus Rücklagen für die Absicherung ihrer Hinterbliebenen zu schaffen. Für die Versicherungsnehmer der höheren Lohnklassen habe man das Interesse an dem Statuserhalt ihrer Hinterbliebenen zu berücksichtigen. Ihrem Bedürfnis nach Absicherung ihrer Hinterbliebenen könne deshalb nur in der Gewährung deutlich höherer Renten entsprochen werden. Angesichts der deutlich höheren Beitragssätze in den höheren Lohnklassen nehme man den Versicherten nämlich ebenfalls die Möglichkeit zur privaten Absicherung. Trotz Bedenken, ob die Arbeitgeber die Beitragserhöhungen würden leisten können, sei es im landwirtschaftlichen oder im industriellen Bereich, hielt man überwiegend eine Beteiligung der Arbeitgeber an der Aufbringung der Kosten für eine Hinterbliebenenversicherung für geboten und stimmte auch der Beibehaltung des Grundsatzes, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge jeweils zur Hälfte zu leisten hatten, zu. Teilweise wurde vorgeschlagen, nur große Arbeitgeber zur Finanzierung heranzuziehen. Kleinere Arbeitgeber, insbesondere im mittelständischen Bereich, würden die Beiträge nicht aufbringen können, zumal dies immerhin auch zu Lasten ihrer eigenen Hinterbliebenen ginge. Wie könne man es rechtfertigen, einen Arbeitgeber zur Finanzierung von Renten an die Hinterbliebenen seiner Arbeiter zu verpflichten, wenn dies be636 So Baden, BA R 1501 100973, fol. 122 RS, Oldenburg, BA R 1501 100973, fol. 140, Braunschweig, BA R 1501 100973, fol. 141 und Sachsen mit dem Hinweis darauf, dass die Beiträge bereits bei derzeitiger Regelung kaum reichen würden, BA R 1501 100973, fol. 61 RS ff. 637 Sachsen-Meiningen, BA R 1501 100973, fol. 146. In welcher Höhe weitere Einnahmen erforderlich seien, ließ man offen und rügte gleichzeitig, dass der Denkschrift nachvollziehbare Berechnungen fehlten. Vgl. hierzu Hessen, BA R 1501 100973, fol. 126 RS f., Braunschweig Lüneburg, BA R 1501 100973, fol. 141. Eine Zustimmung der verbündeten Regierungen scheiterte letztlich an diesem Punkt. 638 Das bayerische Staatsministerium forderte eine grundsätzliche Entscheidung, ob es sich bei den einzuführenden Hinterbliebenenrenten um Versicherungs- oder Fürsorgeleistungen handeln solle. Im ersteren Fall sollten Arbeitnehmer allein für die Finanzierung aufkommen. Anderenfalls wären die Leistungen allein aus Steuergeldern zu finanzieren. Die vorgeschlagene Kombination wurde deutlich abgelehnt, BA R 1501 100973, fol. 25. 639 Schreiben des kaiserlichen Statthalters in Elsaß-Lothringen vom 2112.1904, BA R 1501 100973, fol. 205f.

Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung

159

deute, dass ihm für seine eigene Vorsorge keine Mittel mehr verblieben? Mit dieser Argumentation deutete sich bereits an, dass eine gleichzeitige Hinterbliebenenversicherung für die späteren Angestellten erfolgen musste: Wenn Renten für Hinterbliebene von Arbeitern eingeführt würden, müsse das erst recht für deren Vorgesetzte gelten. Es gab aber auch Stimmen, die eine Beteiligung der Arbeitgeber grundsätzlich ablehnte. So argumentierte sowohl die bayerische Regierung als auch die bayerische Landesversicherungsanstalt, es gäbe keinen rechtfertigenden Grund hierzu. Ob der Arbeitnehmer heirate oder nicht, sei ein Risiko, welches dem Arbeitgeber nicht angelastet werden könne. Andere Stimmen wollten eine Beteiligung der Arbeitgeber nur für den Bereich gefährlicher Arbeitsverhältnisse einführen.

D.

Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter »Die weiteren Fragen betreffs der Beitragspflichtigen, der Höhe der Renten und des Kreises der unterstützungsberechtigten Witwen und Waisen hängen hauptsächlich von der Erwägung ab, welche Mittel zur Finanzierung der Witwen= und Waisenversicherung zur Verfügung stehen.«640

I.

Mathematische Berechnungen im Reichsamt des Innern

Nach Eingang der letzten Stellungnahmen der verbündeten Regierungen stand fest, dass deren Zustimmung ohne gründliche Kostenkalkulation nicht herbeizuführen war.641 Neben der lex trimborn erzeugten auch die Anfragen des Reichsschatzamtes nach einer Schätzung der voraussichtlichen jährlichen Belastung des Reichs durch die Rentenzuschüsse Ende 1906 Zeitdruck im Reichsamt des Innern.642 640 Unger, S. 718. 641 Die Zusammenstellung der Äußerungen der verbündeten Regierungen und einzelner Behörden zu der Denkschrift betreffend den Entwurf eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes erfolgte im Januar 1907, BA R 1501 100973, fol. 215ff. 642 Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Hermann Freiherr von Stengel schrieb schon am 26. 06. 1905, dass sich aufgrund der finanziellen Situation des Reiches »das Maß der den Versicherten zu gewährenden Leistungen in tunlichst engen, den Zweck der Versicherung noch eben erfüllenden Grenzen« zu halten habe und fragte, wie Posadowsky-Wehner zu den eingegangenen Antworten der verbündeten Regierungen stehen würde, BA R 1501 100969, fol. 180–181. Nachdem von Stengel sich am 03. 12. 1905 in Erinnerung brachte, antwortete Posadowsy-Wehner mit Schreiben vom 15. 01. 1906, er könne sich »erst nach eingehender

160 1.

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Kalkulationen und Aussagen während der Amtszeit Posadowsky-Wehners

An der Beschränkung von Witwenrenten an erwerbsunfähige Witwen musste Posadowsky-Wehner festhalten und erläuterte im Februar 1906 im Reichstag,643 man müsse »eine Wittwen- und Waisenversicherung […] auf einer sehr schmalen Grundlage errichten [sonst koste sie] schon annähernd so viel, wie die Invalidenversicherung, [und ihre finanzielle Ausführbarkeit würde sehr fraglich werden können].«

Der Zentrumsabgeordnete, Matthias Erzberger, forderte darauf »ein rascheres Tempo in der Durchführung der Wittwen- und Waisenversicherung« und befürchtete, dass ansonsten die Zollmehreinnahmen zu anderen Zwecken verwendet würden.644 Diese Befürchtung war berechtigt, denn tatsächlich regte der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Freiherr von Stengel, an, die entsprechend der lex trimborn für die Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung angesparten Zollmehreinnahmen für die Einkommensverbesserung der Beamten – »wenn auch nur vorschußweise« zu verwenden.645 Hierauf stellte Posadowsky-Wehner fest, dass etwaigen Versuchen, diese Gelder zu anderen Zwecken zu verwenden, »seitens der Regierung auch fernerhin auf das Entschiedenste entgegenzutreten« sei.646 Darauf wiederum wandte sich der Allgemeine Handwerkerverein mit der Petition an den Reichstag, die geplante Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung abzulehnen, weil eine Neubelastung der Arbeitgeber nicht zu tragen sei, namentlich Industrie, Gewerbe und vor allem das Handwerk seien an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt.647 Auf Nachfragen zum Stand der Arbeit im Reichstag gab sich PosadowskyWehner noch am 11. April 1907 optimistisch, die Zusammenlegung der Sozialversicherungsgesetze, die dann auch die Witwen- und Waisenversicherung

643

644 645 646 647

versicherungstechnischer Prüfung […] schlüssig machen«, welche Änderungen vorgeschlagen wurden, wozu er erst in einigen Monaten in der Lage sein werde, BA R 1501 100969. Verh. d. RT v. 03. 02. 1906, Arthur von Posadowsky-Wehner, S. 980. Diesen Vergleich erarbeitete Adolf Beckmann umgehend, BA R 1501 100969, fol.185–186 RS, nachdem August Pauli, Abgeordneter der Deutschkonservativen Partei im Reichstag zwei Tage zuvor von 175 Millionen E sprach, die mindestens notwendig seien, um die Kosten einer Witwen- und Waisenversicherung zu decken, Verh. d. RT v. 01. 02. 1906, August Pauli, S. 966f. Verh. d. RT v. 05. 02. 1906, Matthias Erzberger, S. 1004. BA R 1501 100970, fol. 18f.. von Stengel berichtete, dass dieser, aus seiner Sicht berechtigter Gedanke, sich auf nationalliberaler und freisinniger Seite entwickelt habe. BA R 1501 100970, fol. 20f. Einen Monat später stellte von Stengel fest, dass für das Rechnungsjahr 1906 »voraussichtlich nichts oder doch jedenfalls kein erheblicher Betrag« an den Hinterbliebenenfond abzuführen seien, BA R 1501 100970, fol. 22. Siebenundzwanzigster Bericht der Kommission für die Petitionen vom 08. 05. 1907. Die Kommission beschloss, die Petition den Reichskanzler zur Kenntnisnahme zu überweisen, Reichstagsprotokolle, Band 242, S. 2337.

Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung

161

enthalten würde, noch im Jahr 1907 erarbeitet zu haben, trat aber bekanntermaßen am 24. Juni 1907 zurück. Im November 1907 berichtete Jaup zur Lage der Vorarbeiten zur Durchführung der Witwen- und Waisenversicherung, dass noch umfassende Berechnungen erforderlich seien.648 Molkenbuhr ging zu der Zeit im Reichstag von 1,8 Millionen leistungsberechtigten Witwen aus, bemaß eine Rente mit 180 Mark und kam so auf Gesamtkosten für Witwenrenten von 874 Millionen Mark.649

2.

Detaillierte Berechnungen und Vorlage in der Amtszeit Bethmann Hollwegs

Nach Posadowsy-Wehners Rücktritt wurden die Arbeiten an der Witwen- und Waisenversicherung vom nachfolgenden Staatssekretär im Reichsamt des Innern Theobald von Bethmann Hollweg zunächst kaum fortgeführt. Im Preußischen Staatsministerium diskutierte man die Umwandlung der schwankenden Mehreinnahmen aus den Lebensmittelzöllen in einen Fixbetrag.650 Erst als der nunmehrige Staatssekretär des Reichsschatzamts, Sydow, im Dezember 1908 um tunlichste Beschleunigung der Angelegenheit bat,651 erstellte Adolf Beckmann eine finanzielle Begründung, in der er auch noch im fünften Jahr nach Einführung der Witwenrenten von nur 40.000 leistungsberechtigten Witwen ausging.652 In einer hierauf aufbauenden Denkschrift betreffend die Höhe der Beiträge für die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung legte Beckmann für die Jahre 1906–1909 Zollmehreinnahmen von durchschnittlich 45 Millionen Mark zugrunde und errechnete einen zur Verfügung stehenden Gesamtbetrag zum Stichtag 1. Januar 1910 von 200 Millionen Mark. Er berechnete aber auch die Fälle, dass statt 200 Millionen Mark nur 100 Millionen bzw. keine Beträgen angesammelt würden.653 Man war also durchaus darauf eingestellt, dass ein geringerer oder gar kein Reichszuschuss gewährt würde. Die Kosten der Einführung einer Arbeiterhinterbliebenenversicherung kalkulierte Beckmann 1908 wie folgt:654 »Nach den für die Berechnungen gewählten technischen Grundlagen werden an Witwenrenten im ganzen Jahresbetrage zu zahlen sein 648 BA R 1501 100970, fol. 85. 649 Verh. d. RT v. 22. 11. 1907, Hermann Molkenbuhr, S. 1692. 650 Sitzung des Staatsministeriums am 12. 06. 1908, Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Band 9, Nr. 190 / 1908, bearbeitet von R. Zilch. 651 BA R 1501 100970, fol. 113. 652 Finanzielle Begründung Beckmanns vom 30. 12. 1908, BA R 1501 100970, fol. 114–117. 653 BA R 1501 100970, fol. 155. 654 Finanzielle Begründung von Beckmann vom 30. 12. 1908, Anzahl der renten-anspruchsberechtigten Witwen, R 1501 100970 fol. 116 RS.

162

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Anzahl der Renten aus Todesfällen von Personen im welche vor Eintritt der Jahre Invalidität verstorben sind 1 2 1910 3.158 1911 9.552 1912 16.107 1913 22.822 1914 29.699

welche nach dem 1. Januar 1910 invalid zusammen geworden und alsdann verstorben sind 3 369 1.678 3.911 6.755 10.058

4 3.527 11.230 20.018 29.577 39.757

[Für Witwengeld schätzte Beckmann für die Jahre 1910 (185 Fälle) 1911(534 Fälle), 1912 in (865) Fälle, 1913 (1208 Fälle) 1914 (1558 Fälle).] Die voraussichtlichen Ausgaben des Reichs Rechbetragen in den nebenbezeichneten Rechnungsjahren für nungsWitwenrenten Witwengeld Waisenrenten Waisenaussteuer Zusammen jahr M M M M M 1 2 3 4 5 6 1910 176.350 9.250 2.328.850 105.760 2.620.210 1911 561.500 26.700 7.109.150 235.280 7.932.630 1912 1.000.900 43.250 12.010.450 383.786 13.438.386 1913 1.478.860 60.400 16.857.500 545.306 18.942.056 1914 1.987.850 77.900 21.572.000 719.334 24.357.084

Auf Grund dieser Zahlen stellen sich die tatsächlichen Aufwendungen des Reichs für Hinterbliebenenbezüge in den Jahren 1910 bis 1914 wie folgt: Um die von Beckmann aufgestellten technischen Unterlagen und Berechnungen zu begutachten, suchte Bethmann Hollweg – erst ab 1909 – mathematische Sachverständige.655 Wegen der Terminsetzung der Witwen- und Waisenversicherung auf den 1. Januar 1910 hielt Bethmann Hollweg die Ressortvertreter dazu an, nur grundsätzliche Kritik und diese nur mündlich zu äußern, um so die Vorlage allein mit dem preußischen Handelsminister detailliert zu beraten.656 Die Bundesratsfassung wolle er vorzeitig veröffentlichen, um so der zu erwartenden Kritik des Reichstags wegen einer verspäteten Vorlage im Vorfeld 655 BA R 1501 100970, fol. 261. 656 Dem widersprach der preußische Finanzminister Georg Rheinbaben wegen der großen Tragweite des Gesetzes in finanzieller und politische Hinsicht, Sitzung des Staatsministeriums am 06. 01. 1909, Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Band 9, Nr. 204 / 1909, bearbeitet von R. Zilch.

Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung

163

zu begegnen.657 In den Arbeiten an dieser Fassung wurde das Augenmerk darauf gelegt, kein finanzielles Risiko einzugehen. So wurde etwa dem Vorwurf, in den Statistiken veraltete Sterbetafeln zu verwenden, mit dem Einwand der noch höheren Sicherheit begegnet.658 Unter Franz Caspar wurde Paul Kaufmann die Aufgabe übertragen, »die Tätigkeit der LVAen und der staatlichen Verwaltungsbehörden bei Bewilligung der Invaliden- und Altersrenten zu kontrollieren.«659

Hierin hatte sich Kaufmann bewährt und wurde 1906 Nachfolger von Otto Gaebel Präsident des RVA.660

II.

Entwicklung der lex trimborn

1.

Weniger als 10 Prozent der erhofften Zollmehreinnahmen

Nachdem im Zeitraum von 5 Jahren nur 10 Prozent der ursprünglich angenommenen 300 Millionen aufgesammelt wurden, hob man die Verbindung zu den Zollmehreinnahmen auf. Die Verwaltung der bis Januar 1911 aufgesammelten Zollmehreinnahmen i. H. v. 51,5 Millionen Mark wurden Reichskanzler von Bethmann Hollweg daher ohne weitere Einschränkung übertragen. »Es kommt weniger darauf an, ob die Berechnung über die Ertragsfähigkeit der lex Trimborn stimmt oder nicht. Man sollte recht froh sein, daß aus der lex Trimborn sehr wenig herausgekommen ist. Denn das ist ein Beweis dafür, daß Deutschland selbst die entsprechenden Brotfrüchte produziert und wir nicht nötig haben, aus dem Auslande noch Getreide zu beziehen (Sehr richtig! in der Mitte und rechts) und so das Geld, das wir sonst nach dem Auslande abführen, in Deutschland bleibt. Dadurch wird unsere ungünstige Handelsbilanz verbessert, und eine Verbesserung der Handelsbilanz kommt doch auch unserer Arbeiterschaft zu gute. 657 Ebenda. 658 Verhandlungen über die Prüfung der finanziellen Begründung zum Entwurf der Reichsversicherungsordnung vom 28. und 29 Mai 1909, S. 6, BA R 1501 100971, fol108 RS, statt der neuen deutschen Sterbetafel aus den Sterblichkeitserfahrungen 1891–1900 anzuwenden, behielt man die alte Tafel 1871/81 bei. 659 Tennstedt, RVA-Mitglieder, S. 55. Weil nach den 1900 erfolgten Änderungen des Invaliditätsbegriffs im IVG seien mehr Invaliditätsrenten bewilligt worden, als dies zuvor prognostiziert wurde, so dass »die Jahre die Jahre 1904 bis 1908 sehr stark im Zeichen des »Einschleifens- eines restriktiv konstruierten Invaliditätsbegriffs und einer dazu »passenden« Gutachtermedizin bzw. von Klagen wegen allseitiger »Rentendrückerei«» gestanden hätten, ebenda. 660 Tennstedt, RVA-Mitglieder, S. 56.

164

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

(Sehr richtig ! in der Mitte. – Zuruf von den Sozialdemokraten Einfuhrscheine!)«

Der Zolltarif, durch welchen sich Lebensmittel verteuerten661 und so die prekäre Lage von Hinterbliebenen zuspitzte, erweckte durch die »lex trimborn« auch die Hoffnung auf eine baldige »Fürsorge«.662 Indes standen 1910 nur 42 Mio. Mark statt der zuvor kalkulierten 500 Mio. Mark zur Verfügung. Was das Zentrum zunächst ausgeschlossen bzw. offen gelassen hatte, wurde nun zur einzigen Quelle: Sozialversicherungsbeiträge. Eine versteckte Gegenfinanzierung wurde in der Reichstagsdebatte aufgedeckt: Die Abschaffung der Beitragsrückerstattung mit der Begründung, sie sei Konsequenz der Einführung von Witwenrenten. Berücksichtige man die hohen Anforderungen an die Voraussetzung der Invalidität sowie die Übergangsregelungen, die dazu führten, dass volle Renten erst 30 Jahre nach Einführung ausgezahlt wurden, konnte in der Abschaffung der Beitragsrückerstattung eine vollständige Gegenfinanzierung gesehen werden. Die Reichszuschüsse konnten also quasi genutzt werden, um die fällige Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge abzumildern.

2.

Kürzung der Beitragserstattung höher als ausgezahlte Hinterbliebenenrenten

Die relativ geringen Zollmehreinnahmen i. H. v. 42 Mio. im Jahr 1907 flossen somit nicht einmal den Hinterbliebenen zu, sondern wurden genutzt, um die anstehende Beitragserhöhung abzufangen. Die Hinterbliebenen Anfang des 20. Jahrhunderts hatten vielmehr die Beitragsrückerstattung verloren, aber keine Hinterbliebenenrenten erhalten, so dass sich ihre Lage nach Einführung der Hinterbliebenenrenten verschlechtert hatte. Hierauf wies Molkenbuhr in der dritten und abschließenden Beratung des EG-RVO darauf hin. An Beitragserstattungen seien immer erhebliche Summen ausbezahlt worden. Molkenbuhr nannte für 1902 und 1903 ca. 8 Mio. Mark und für 1912 prognostizierte er 10 Mio. Mark.663 Es sei ungerecht, wenn nicht den Hinterbliebenen, an denen 10 Mio. Mark gespart wurden, nicht auch durch Rentenleistungen ausgezahlt werden:664 »Aus diesem Gesichtspunkt heraus halte ich es für eine große Ungerechtigkeit, daß Sie nun gerade den Wittwen und Waisen in der Übergangszeit ihre Bezüge kürzen wollen, 661 Zum Anstieg der Preise für Lebensmittel und den hiermit verbundenen Forderungen nach Lohnerhöhungen siehe Quellensammlung GDS, Abt. IV, 2. Bd., Einleitung, S. 2. 662 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg hätte nicht von einem Segen der Witwen- und Waisenversorgung sprechen dürfen, so der freisinnige Wiemer, Verh. d. RT v. 10. 12. 1910, Otto Wiemer, S. 356. 663 Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Hermann Molkenbuhr, S. 7324. 664 Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Cuno, S. 7324.

Finanzierbarkeit und Einführungszeitpunkt einer Hinterbliebenenversicherung

165

und diese Übergangszeit dauert, wie nachgewiesen ist, 30 bis 40 Jahre. (Hört! Hört! links.)«

Diese Ansicht wurde vom Abgeordneten Cuno (freisinnig) geteilt. Franz Caspar bestritt den eingesparten Betrag nicht, relativierte nur die lange Übergangszeit mit dem Argument, dass Renten doch von 1912 an gezahlt würden, räumte aber auch ein, dass es sich um sehr geringen Renten handele.665 Zudem stellte er schlicht fest, dass ein Anspruch auf Hinterbliebenenversicherung auch aus der Abschaffung der Beitragserstattung nicht erwachse.666 1913, 1914 und 1915 thematisierte Hermann Molkenbuhr »Die Rechenfehler in der Witwen- und Waisenversicherung.« in drei Artikeln667 und versuchte mit Zahlen nachzuweisen: »Die durch Beiträge aufgebrachten Beträge sowie die als wahrscheinliche Ausgaben für Reichszuschuß in Aussicht gestellten Summen werden nicht annähernd für Hinterbliebenenunterstützung verbraucht! […] a) Beiträge b) Zinsen der angelegten Beiträge c) Ersparte Beitragserstattung

54.045.217 700.000 8.500.000

Mk. ’’ ’’

Die Ausgaben betrugen im Jahre 1912: Witwen= und Witwerrenten Witwenkrankenrenten Waisenrenten Witwengeld Waisenaussteuer Waisenhauspflege

163.450 3.812 628.943 296.654 2.371 340

Mk. ’’ ’’ ’’ ’’ ’’

Von diesen Ausgaben wurden 776 454 Mark durch den Reichszuschuß gedeckt, so daß die Versicherungsträger nur 319116 Mark zu zahlen hatten. Sie begannen das neue Geschäftsjahr mit einem großen Ueberschuß.«

Für das vierte Geschäftsjahr 1915 prognostizierte Molkenbuhr, dass der Überschuss insgesamt schon fast auf 200 Mio. Mark angewachsen sein würde und stellte fest, auch wenn die Ausgaben für Waisenrenten trotz Ersten Weltkrieges bereits 1914 gestiegen seien, »dass die Renten erheblich erhöht werden können, wenn man annähernd die Summen ausgeben will, die bei der Schaffung der Reichsversicherungsordnung als wahrscheinliche Ausgabe in Aussicht gestellt und eigentlich vom Reichstage bewilligt wurden.« 665 Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Franz Caspar, S. 7323. 666 Ebenda. 667 Hierzu und zum Folgenden: Die Neue Zeit, Nr. 25 vom 31. 03. 1913; Nr. 6 vom 08. 05. 1914; zitiert nach Nr. 7 vom 14. 05. 1915, BA R 1501 101241, fol. 22–24 RS.

166

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Viele lange Debatten drehten sich um den Termin der Einführung von Hinterbliebenenrenten,668 denn stets musste das Zolltarifgesetz abgeändert werden. So wurde der Termin am zunächst auf den 1. April 1911669 und am 21. März 1911 auf den 1. Januar 1912670 hinausgeschoben. Die Sozialdemokraten warfen dem Zentrum vor, gegen alle in Betracht kommenden Finanzierungsmöglichkeiten zu sein, und zählten die Erbschaftssteuer und die Beitragsfinanzierung auf.671 Schließlich wurden die Zollmehreinnahmen als besonderen Fonds direkt vom Reichskanzler (Reichsschatzamt) unter Aufsicht der Reichsschuldenkommission verwaltet,672 »um daraus bis zu seiner Erschöpfung die Reichszuschüsse für die Hinterbliebenenbezüge zu leisten.«

Einige verbündete Regierungen wollten ihre Zustimmung zur Hinterbliebenenversicherung geben, wenn für alle Zeit versichert werde, keine Matrikularbeiträge zu erheben und lehnten Delbrücks Kompromiss, dies für die ersten fünf Jahre zu versichern, ab. Insbesondere die Bayerische Regierung bestand darauf, dass der Aufwand für die Hinterbliebenenversicherung bis 1913 in den Reichstagsverhandlungen nicht mehr erhöht würde, sowie dass eine Erhöhung für die Zeit hiernach durch die Verminderung oder Beseitigung bisheriger Ausgaben erklärt werden müsse.673 In der letzten Debatte über das Einführungsdatum erklärte Franz Caspar, dass weder die Versicherungsanstalten noch das Reich die Mittel zur Verfügung hätten, um bis zum 01. 01. 1910 rückwirkende Renten auszahlen zu können.674

668 In den Beratungen des E-RVO, des E-EG-RVO und zudem in den Etatberatungen und den Beratungen zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die Abänderung des § 15 des Zolltarifgesetzes vom 25. 12. 1902, forderte Otto Mugdan, die Hinterbliebenenversicherung aus der Reichsversicherungsordnung auszugliedern, damit die Witwen- und Waisenversicherung noch 1911 gesichert sei, am Verh. d. RT v. 21. 03. 1911, Otto Mugdan, S. 5702. Eine Heraustrennung aus der RVO sei aber, wie Delbrück antwortete, völlig unmöglich, Verh. d. RT v. 21. 03. 1911, Clemens Delbrück, S. 5703. 669 6. Sitzung vom 07. 12. 1909, S. 8139 670 Der Minderheitsantrag welcher stattdessen den 01. 10. 1911 bestimmen sollte, wurde abgelehnt, 153 Sitzung vom 21. 03. 1911, S. 5704. 671 Verh. d. RT v. 03. 12. 1909, Hermann Molkenbuhr, S. 29. 672 Art. 3 S. 1 EG-RVO. 673 Protokoll der 13. Sitzung des Bundesrates vom 07. 03. 1910, BA R 1501 100971, fol. 147. Diese Haltung wurde auch von dem konservativen Schickert eingenommen, der für die Konservativen in der ersten Beratung des E-RVO sprach, Verh. d. RT v. 18. 04. 1910, Schickert, S. 2465. 674 Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Caspar, S. 7329. Der entsprechende sozialdemokratische Antrag wurde darauf abgelehnt, ebenda.

Öffentliche Diskussion über Rentenhöhen

E.

167

Öffentliche Diskussion über Rentenhöhen und den anspruchsberechtigten Personenkreis

Posadowsky-Wehner wurde für seine Politik der Geheimhaltung sowohl im Parlament als auch in der Fachöffentlichkeit und der Presse kritisiert.675 Tatsächlich richteten er und auch Caspar ihre Aufmerksamkeit darauf, dass der Inhalt der den verbündete Regierungen und Landesversicherungsanstalten übersandten Denkschrift nicht öffentlich bekannt wurde. Am 29. 04. 1904 verfasste Posadowsky-Wehner an das Königlich Württembergische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten eine aufschlussreiche Antwort. Dieses hatte nach 27 weiteren Exemplaren der Denkschrift vom 01. 03. 1904 gefragt, um hierzu alle in Betracht kommenden staatlichen Behörden zu hören. Er nannte den Vorstand der Versicherungsanstalt Württemberg, die Handels- und Handwerkskammern sowie die Vorstände der landwirtschaftlichen Gauverbände.676 Eigenhändig schrieb Posadowsky-Wehner auf diese Anfrage:677 »Ich lege Werth darauf, daß die Erörterungen über die Denkschrift, betreffend den Entwurf eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes, zunächst noch vertraulich behandelt werden. Es müßte deshalb davon abzusehen sein, außer den in Betracht kommenden staatlichen Behörden noch weitere Amtsstellen über die Vorschläge der Denkschrift gefälligst zu hören. Zudem dürften diese Stellen bei der besonderen Schwierigkeit der Materie zweckmäßig erst dann mit der Angelegenheit befasst werden, wenn ein, in 675 Stier-Somlo schrieb, es sei ein »nicht zu billigendes, geheimnisvolles Vorgehen«, dass die ausgearbeitete Denkschrift nicht veröffentlicht wurde, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 09.1906, S. 665; zu den spärlichen Informationen PosadowskyWehners auch Kleeis, S. 226. Zur ausgebliebenen Verständigung der verbündeten Regierungen mit den Parteien über den Entwurf der RVO, die Otto Mugdan dem späteren Staatssekretär des Innern Delbrück vorwarf, entgegnete dieser, es sei »vollständig unmöglich, sich mit einem Parlament, dessen Parteien so verschiedener Meinung sind wie die des Reichstags, im Voraus über einen so komplizierten Gesetzesentwurf zu vereinbaren, sondern die verbündeten Regierungen tun ihre Pflicht, wenn Sie nach Maßgabe der verfügbaren Mittel […] eine Vorlage machen und diese Vorlage vertreten.« , Verh. d. RTv. 21. 03. 1911, Clemens Delbrück, S. 5703. 676 Schreiben des Königlich Württembergischen Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten v. 25. 03. 1904, BA R 1501 100969, fol. 147f. 677 Schreiben des Reichskanzlers Posadowsky-Wehner v. 29. 04. 1904. Caspar schrieb dem Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen eigenhändig und übersandte 3 weitere Exemplare der Denkschrift mit folgendem, von Paul Kaufmann korrigierten und Adolf Beckmann gegengezeichnetes Anschreiben »Euer Durchlaucht beehre ich mich in Folge des Ersuchens der Registratur IA des Kaiserlichen Ministeriums für Elsaß-Lothringen, Abteilung des Innern, vom 23. v. M. anbei 3 weitere Exemplare der mit meinem Schreiben vom 1. März d. J. – II 513 mitgeteilten Denkschrift, betreffend den Entwurf eines Hinterbliebenen-versicherungsgesetzes, mit der Bitte um zur vertraulichen Behandlung Kenntnisnahme ergebenst zu übersenden.«

168

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

den Grundzügen von den verbündeten Regierungen gebilligter Entwurf eines Hinterbliebenenversicherungsgesetzes ausgearbeitet sein wird.«

Trotzdem beabsichtigte Regierungsrat Düttmann (Vorstandsvorsitzender der Landesversicherungsanstalt Oldenburg), die Denkschrift auf der Allgemeinen Konferenz der deutschen Versicherungsanstalten, die am 27. und am 28. Mai 1904 stattfand, zu besprechen. Eigenhändig schrieb Posadowsky-Wehner, als er hiervon erfuhr, an das Großherzoglich Oldenburgische Staatsministerium in Oldenburg eine Woche vor dieser Veranstaltung mit Wiedervorlageverfügung nach acht Tagen:678 »Ich lege besonderen Werth darauf, daß die Erörterungen der verbündeten Regierungen über die Vorschläge der Denkschrift zunächst noch vertraulich behandelt werden. Verhandlungen der Anstaltsvorstände über diesen Gegenstand dürften sind deshalb durchaus unerwünscht sein und nachteilig. Sie wären auch gegenwärtig noch völlig verfrüht und müssen für den mir hierzu geeigneten Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Die Initiative zu diesen Erörterungen kann den Anstaltsvorständen selbst nicht überlassen bleiben. Der Unterzeichner würde sich durch eine baldgefällige Mittheilung über das in der Sache Veranlaßte zu Danke verpflichten.«

Eine Diskussion der Fachöffentlichkeit ergab sich gleichwohl.

I.

Geringe Frauenbeteiligung

Auch wenn die Frauenrolle zum Ende des 19. Jahrhunderts schon eine von Männern dominierte Diskussion vermuten ließ, war die Beteiligung von Frauen in der Debatte um die Ausgestaltung einer Hinterbliebenenversicherung bemerkenswert gering, zumal es sich um ein Thema handelte, welches Frauen in besonderer Weise betraf. Es sind aber zwei Frauen in Erscheinung getreten, deren Einsatz für eine Unterstützung gerade von Arbeiterwitwen besonders auffällig ist: Sophie Susmann und Agnes Jaeckel. Susmann schrieb zwei zusammenhängende Aufsätze in der Sozialen Praxis679 und 7 Jahre später noch einmal für die Zeitschrift »Die Heimarbeiterin«680, dem Organ der christlichen Heimarbeiterinnen-Bewegung. Sie sprach sich für Altersrenten an Witwen ab dem 70. Lebensjahr ohne Rücksicht auf ihre Erwerbsunfähigkeit und für einen weiter gefassten Begriff der Arbeitsunfähigkeit für die Invalidenrenten aus.681 678 Schreiben des Reichskanzlers Posadowsky-Wehner v. 20. 05. 1904, BA R 1501 100969, fol. 150f. 679 Soziale Praxis, 13. Jg., Nr. 2, 08. 10. 1903, S. 36ff., Nr. 3, 15. 10. 1903, 64ff. 680 Die Heimarbeiterin, 10. Jg., Nr. 10, 07. 10. 1910, S. 1ff. 681 Die Heimarbeiterin, 10. Jg., Nr. 10, 07. 10. 1910, S. 4. Ein Anspruch auf Invalidenrenten sollte schon bestehen, wenn die Arbeitsfähigkeit unter die Hälfte gesunken ist.

Öffentliche Diskussion über Rentenhöhen

169

Die Höhe der Renten würde überall die Leistungen der öffentlichen Armenpflege überschreiten und ein einmaliges Witwengeld allen Witwen zustehen.682 Jaeckel wandte sich in langen Schreiben683 direkt an den Kaiser und an preußische Minister und setzte sich für die Begründung eines »Allgemeinen Deutschen Frauen-Pensions-Reichsfonds« ein, aus dem alle besitzlosen Witwen »mit guter Vergangenheit die vom 16ten bis zum 30ten Jahre treulich gearbeitet, von diesem Alter an – je nach ihrem Stande – eine Sicherheit beziehen können, welche die nothwendigen Bedürfniße sorgenfrei deckt!«.684

Auf die Notlage unversorgter Witwen und Frauen seien »zwei Drittel aller socialen Übelstände« wie »Entsittlichung und Verrohung jugendlicher Gemüther« zurückzuführen.685 Jaeckel stellte sich zur Beseitigung dieser Notlage monatliche Renten von 40 bis 100 Mark vor. Beide, Susmann und Jaeckel, stritten für das Recht der Frauen, Mutter zu sein. Sie erkannten beide einen moralischen Verfall, den sie auf den fehlenden mütterlichen Einfluss in der Familie zurückführten. In Erziehungsfragen vertrat Jaeckel durchaus heute noch moderne Thesen und wagte es zudem, den Materialismus in der industrialisierten Gesellschaft als unchristlich zu verurteilen. Die Forderung von gleichen Rechten für Frauen und Männer686 teilte sie aber nicht. Zwar unterstrich sie, wie wichtig Bildung auch für Arbeiterkinder sei, doch sei »die Hochschule und der Doctorgrad« für Frauen nicht nötig, denn früher oder später würden sie sich doch wieder in den Kreis der Familie sehnen.687 Außerdem wäre es nach Jaeckels Ansicht wünschenswert 682 Ebenda. 683 Schreiben an Kaiser Wilhelm II im August 1895, im November 1896, im Juni 1897 und im Dezember 1898 mit angehängten Schreiben an das Kultusministerium vom Juli 1895 mit entsprechenden Antwortschreiben in BA R 1501 100972, fol. 6–46. Die Schreiben Jaeckels haben insgesamt einen Umfang von über 10.000 Wörtern. 684 Neben dem Schreiben an Kaiser und hohe Regierungsbeamte warb sie auch an anderen Stellen z. B. bei den Vorsitzenden der 1896er Berliner Gewerbeausstellung und Stiftungsverwaltern teilweise erfolgreich um Gelder, übernahm unter dem Pseudonym »Elisabeth Reuter« die Schriftleitung für die Bildung eines deutschen Frauen-Pensions-Fond, für dessen Verwaltung sie die Kur und Neumärkische Ritterschaftliche Darlehnskasse gewinnen konnte. Am 07. 02. 1900 beschäftigte sich die Kommission für die Petitionen im Reichstag mit ihrem Vorschlag zur staatlichen Begründung eines allgemeinen deutschen Frauen-Pensions-Reichsfond, indem ihre edlen Absichten gewürdigt wurden. Ihr Vorschlag habe sich aber durch die Annahme der Resolutionen der Abgeordneten Stumm-Halberg, Schädler und Hitze über die Witwen- und Waisenversicherung erledigt, BA R 1501 100972, fol. 47f. 685 BA R 1501 100972, fol. 30 RS. Jaeckels Bewertung deckt sich mit der auch heute vertretenen Einschätzung, vgl. Biermann, S. 39 m.w.N. 686 So etwa Flora Tristan als Vertreterin der französischen Frauenbewegung, Szymanksi, S. 59f. Vgl. auch Holland-Cunz, S. 26f. Wie Tristan hat auch Jaeckel den Zusammenhang zwischen Arbeiter- und Fraueninteressen erkannt. So beschreiben sie einen ähnlichen »Teufelskreis im Leben der Proletarierin«, Szymanski, S. 61 und BA R 1501 100972, fol. 14 RS. 687 BA R 1501 100972, fol. 43.

170

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

gewesen, wenn sich der Arbeitsmarkt dadurch entspannte, dass Männer nicht mit Frauen um Arbeitsplätze konkurrierten.688

II.

Soziale Praxis für Begrenzung auf invalide oder mindestens 70 Jahre alte Witwen

Ferner wurden weiterhin Überlegungen zur Ausgestaltung einer Hinterbliebenenversicherung veröffentlicht. Für die Soziale Praxis hatte Sophie Susmann schon vor Veröffentlichung der RVO-Vorlage in, wie Stier-Somlo meinte, gehaltvollen, wenn auch kurzen Beiträgen689 1903 schlüssig dargelegt, dass sich eine »Hinterbliebenenfürsorge« auf erwerbsunfähige Witwen zu beschränken habe, und bildete »Kategorien von Hinterbliebenen«.690 »So [stünde] die gesunde, alleinstehende Witwe ebenso gut da wie die ledige Arbeiterin, vor der sie noch den Vorzug [habe], eigenen Hausrat zu besitzen. Ein großer Teil der alten und invaliden Witwen, die schon bei Lebzeiten des Mannes oder nach seinem frühen Tode für den Lebensunterhalt arbeiten mußten, [würde] durch die Alters= und Invalidenversicherung versorgt; nur für diejenigen unter ihnen, bei denen das nicht [zuträfe], die daher der öffentlichen Armenpflege verfallen würden, [sei] die Versicherung ein dringendes Bedürfnis.«

Zur Höhe der Renten forderte Susmann, die Renten müssten wenigstens auf dem Niveau kommunaler Armenunterstützung liegen, sonst sei »materiell wenig gewonnen und ideel gar nichts«, wobei Susmann den Schwerpunkt auf Waisenrenten legte. Das wichtigste Argument für die Einführung von Hinterbliebenenrenten war für Susmann ein familienpolitisches,691 nämlich »daß die Frau auch nach dem Tode des Vaters die Mutter ihrer Kinder sein kann«.

Im Hinblick auf die Finanzierung sprach sie sich auch für die Heranziehung von Kommunalverwaltungen aus, die im Übrigen weithin für die Fürsorge der Waisen zuständig sein würden und Regierungsrat Hugo von Loeper schlug als weitere kommunale Leistungen in diesem Zusammenhang die Hilfe für Wöchnerinnen, erhöhtes Waisengeld für Säuglinge, Krankenbehandlung und Sterbegeld sowie Übergangshilfe für erwerbsfähige Witwen vor. 1907 veröffentlichte Regierungsrat Hugo von Loeper das Werk »Die Versicherung der Arbeiter-Witwen und -Waisen«, welches von Ernst Francke in der von ihm herausgegebenen 688 Damit unterschied sich Jaeckel von den Forderungen der Vereine aus der Frauenbewegung, die für die Mitarbeit der Frauen an der kommunalen Fürsorge eintraten, Bergler, S. 97. 689 Soziale Praxis, 13. Jg., Nr. 2, 08. 10. 1903, S. 36ff., Nr. 3, 15. 10. 1903, S. 64ff. und 15. Jg., S. 551ff.; hieraus im Folgenden nur nach Seitenzahl zitiert. 690 Susmann, S. 36. 691 Susmann, S. 37.

Öffentliche Diskussion über Rentenhöhen

171

»Sozialen Praxis« für die genaue Ausarbeitung hoch gelobt wurde.692 So wie auch Susmann hielt es auch von Loeper für erforderlich, Rentenzahlungen auf die Witwen zu beschränken, welche entweder invalide waren oder das siebzigste Lebensjahr vollendet hatten. Würde man nämlich erwerbsfähige Witwen versorgen, stellte dies eine Bevorzugung dieser Witwen gegenüber Ledigen dar, wenn der Witwe der Erwerb nicht ausnahmsweise schwerer fiele als den Ledigen.693 Francke unterstützte dies und argumentierte:694 »Was man durch die Begrenzung des Witwenkreises erspart, kann den Waisenrenten zugelegt werden. Es kommt dies indirekt ja doch den Müttern zugute, es bedeutet aber eine gerechtere Verteilung gerade für die Witwen mit vielen Kindern.«

Er hielt die von Loeper vorgeschlagenen Rentenhöhen695 besonders in Bezug auf die Waisenrenten, nämlich jährliche Witwenaltersrenten zwischen 60 und 180 Mark, Witweninvalidenrenten zwischen 110–150 Mark und Waisenrenten von 36–84 Mark für sehr gering.696

III.

Kleeis und andere Stimmen fordern weiteren Kreis anspruchsberechtigter Personen

Den Vorschlag Prinzings umzusetzen, also allen, auch den erwerbsfähigen Witwen, Renten in Höhe der Invalidenrente des verstorbenen Versicherten zu gewähren, hielt man für absolut unerschwinglich.697 Nachdem Friedrich Kleeis 1905 noch Rentenansprüche für alle, also auch erwerbsfähigen Witwen forderte,698 schlug um Unterschied zur Vorlage Bethmann Holwegs einen Invaliditätsbegriff vor, nach dem ein Absinken der Erwerbsfähigkeit auf die Hälfte ausreichen sollte.699 692 Soziale Praxis, 17. Jg., Nr. 2, 10. 10. 1907, S. 47f., die von Loeper vorgeschlagene Regelung, dass unehelichen Kindern keine Waisenrente zustehen soll, wenn der Vater stirbt, bezeichnete Francke indes als »etwas engherzig« und sprach sich für eine Gleichbehandlung von ehelichen und unehelichen Kindern aus. 693 von Loeper, S. 96, S. 97. 694 Soziale Praxis, 17. Jg., Nr. 2, 10. 10. 1907, S. 48. 695 von Loeper, S. 134f., bei einer geschätzten Anzahl von jährlich 400.000 zu gewährenden Witwenrenten und 900.000 Waisenrenten, S. 124. Welche jährlichen Ausgaben sich schätzungsweise hieraus ergeben würden, ließ von Loeper offen. 696 Soziale Praxis, 17. Jg., Nr. 2, 10. 10. 1907, S. 48. 697 Stier-Somlo, S. 677; so im Ergebnis auch Susmann, S. 36; von Loeper, S. 96f. und 122ff. und Francke, S. 48. 698 Kleeis, S. 160, der für die Finanzierung eine Beitragserhöhung von 15 Prozent, jährliche Zollmehreinnahmen von 60–70 Millionen Mark und einen zusätzlichen Reichszuschuss vorschlug, S. 161. 699 Kleeis, S. 1291. Für die vollkommen erwerbsunfähigen Witwen müsse die Rente auf den doppelten Betrag erhöht werden, ebenda.

172

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Für einen Fehler des Gesetzes hielt Schiele den unklaren Begriff der Invalidität. Nachdem noch 1905 die Versicherungsanstalten sündhaft großzügig entschieden hätten, prognostizierte er den auch eingetretenen Wandel hin zu hohen Anforderungen.700 Eine Beschränkung des Personenkreises wurde aber dennoch überwiegend für erforderlich angesehen, um Mindestrenten gewähren zu können. Stier-Somlo schlug hierzu eine rechtliche Formel vor, welche Einkommensund Gesundheitsverhältnisse sowie Alter der Witwen und ggf. ihrer Kinder berücksichtigte.701

IV.

Mindesthöhe der Renten auf Niveau der Armenpflege

In der Diskussion um die Rentenhöhen dominierte die Forderung nach einer gewissen Untergrenze. Es herrschte der Grundgedanke Posadowsky-Wehners, dass die zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichten, allen Witwen eine ausreichende Rente zu gewähren, weshalb nur die Bedürftigsten Witwenrente erhalten sollten, damit dir Renten über dem Niveau kommunaler Armenpflege liegen können.702 Nach von Loepers Ansicht703 dürften »nicht lächerlich geringe Summen bewilligt werden, wenn die Einrichtung überhaupt den Zweck haben soll, die Not und das Elend der Witwen und Waisen zu mildern, den Arbeiter über die Zukunft seiner Angehörigen zu beruhigen und so dem sozialen Frieden zu dienen.«

Es herrschte daher die Auffassung704, lieber solle »einer geringeren Zahl von Witwen eine einigermaßen befriedigende Rente zuteil werden, als vielen ein lächerlich minimales Almosen.«

Auf der Annahme, dass von jährlich 60.000 verwitweten Personen, von denen ein Drittel zu den »äußerst bedürftigen« gehörten, schlug Stier-Somlo vor, für 3 Mio. Mark diese 20.000 Witwen mit einer jährlichen Rente von etwa 150 Mk. auszustatten.705 Den differenziertesten Vorschlag unterbreitete von Loeper, der 700 Schiele, S. 252, es sei eine Qual für erkrankte Arbeiterwitwen, aus der Rentenbelehrung zu erfahren, dass ihr Rentenanspruch von der Voraussetzung abhängig ist, nach ärztlichem Attest ein halbes Jahr lang ununterbrochen unter ein Drittel erwerbsfähig gewesen zu sein. 701 Stier-Somlo, S. 677. 702 So von Loeper, Stier-Somlo, Düttmann und Susmann. Eine Rentengewährung an alle Witwen ohne Rücksicht auf deren Hilfsbedürftigkeit forderten Prinzing, Kleeis, S. 226 und Unger, S. 735. 703 Von Loeper, S. 127. 704 Stier-Somlo, S. 676, die Leistungen dürften nicht »auf ein gar zu kümmerliches Minimum herabsinken.« 705 Stier-Somlo, S. 678.

Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG

173

zwischen Invalidenwitwenrenten und Alterswitwenrenten unterschied.706 Den Reichszuschuss wollte von Loeper den arbeitsfähigen über 70-jährigen Witwen nicht gewähren, weil die Alterswitwenrente nicht höher als die Invalidenwitwenrente sein dürfe.

F.

Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG

Die Beratungen im Reichstag über die Entwürfe einer Reichsversicherungsordnung und eines Versicherungsgesetzes für Privatangestellte fanden in den Jahren 1910/1911 statt. Die wirtschaftliche Lage entwickelte sich nach der schweren Rezession 1908/09 noch schleppend.707 Die parlamentarische Diskussion war vom Wahlkampf geprägt, aus dem die Sozialdemokraten als klare Sieger hervorgingen. Die Verbindung zwischen Zolltarif und der Finanzierung einer Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter nutzte ihr Wortführer in den parlamentarischen Debatten, Hermann Molkenbuhr, zur Agitation. Auch wenn sich die sozialdemokratischen Anschauungen in weiten Bereichen mit denen der Freisinnigen Volkspartei708 deckten und entsprechend zum Teil inhaltsgleiche Anträge gestellt wurden, wurde Wahlkampf auch zwischen diesen Fraktionen betrieben. So warf der freisinnige Abgeordnete Mugdan den Sozialdemokraten vor, sich auf die Regelung »lex trimborn« im Zolltarif eingelassen zu haben.709 Von Zentrumspolitikern wurden die lex trimborn und der Zolltarif dagegen mit nationalen Gründen verteidigt. Insgesamt wurde von der einen Seite der Umstand gelobt, dass eine Hinterbliebenenversicherung immerhin eingeführt wurde, von der anderen Seite aber kritisiert, dass ohne gewisse Mindestleistungen kein Fortschritt gelungen sei; man fühle sich insofern durch die Vorlage 706 Von Loeper, S. 134f. 707 Siehe hierzu Quellensammlung GDS, Abt. IV, 3. Bd., 4. Teil, Einleitung, S. 21ff. 708 Für die Anträge aus den Reihen der Freisinnigen Volkspartei argumentierten überwiegend Heinz Potthoff und Otto Mugdan. Obwohl sie Fraktionsgenossen waren, stritten aber auch sie sich über die Frage der Versicherungspflicht »akademischer Kreise«. Otto Mugdan wollte an der Regelung im Entwurf festhalten, wonach auf Antrag Studenten befreit werden konnten, die für ihren künftigen Beruf beschäftigt wurden, weil diese glauben würden, niemals Geld aus der Versicherung zurück zu erhalten. Seine Begründung »Geschenke soll man nicht aufdrängen« wies Heinz Potthoff zurück. Es sei ein sozial nicht zu rechtfertigender Vorzug der Akademiker, die zudem Rechtsanwendungsfehler bereiten würde, Verh. d. RT v. 19. 05. 1911, Otto Mugdan, S. 6907f. 709 Verh. d. RT v. 18. 04. 1910, Otto Mugdan, S. 2481: »Die Herren vom Zentrum hätten sich aus Furch vor ihren Arbeiterwählern doch noch besonnen, die exorbitanten Getreidezölle mit einführen zu helfen, unter denen wir jetzt schon seit Jahren seufzen«. Tatsächlich war der Zolltarif aber schon verabschiedet, als über die »lex Trimborn« abgestimmt wurde, so dass dieser Vorwurf unschlüssig ist.

174

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

getäuscht.710 Der freisinnige Abgeordnete Mugdan erhielt Zustimmung von links, als er folgende Wahrnehmung schilderte:711 »Bei der Durcharbeitung dieses Entwurfs empfindet man ordentlich zwei Richtungen, die miteinander kämpfen die eine Richtung, die vorwärts will, die andere Richtung, die sofort hemmt. Man sieht förmlich zwei Personen, von denen die eine sagt: »es muß geschehen«, – während die andere sofort ein »Aber« entgegenwirft und ängstlich überlegt, wie es möglich ist, wenn auch nur ein Schritt nach vorwärts gemacht ist, mindestens einen Schritt, wenn ich höflich sein will, im allgemeinen sogar zwei Schritte rückwärts zu gehen. So kommt es, daß selbst diejenigen Stellen des Entwurfs, die zweifellos einen großen Fortschritt bedeuten, nicht eine allgemeine Freude hervorrufen können.«

Der Rückschritt war auch in Bezug auf die Hinterbliebenenrenten gegeben. Mit deren Einführung schaffte man nämlich die Beitragsrückerstattung ab. Delbrück war zur ersten Beratung des Entwurfs einer Reichsversicherungsordnung kurzfristig erkrankt, so dass ihn Caspar am nächsten Sitzungstag vertrat.

I.

Klassendenken war Leitgedanke beider Entwürfe

Nach dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung (§ 1212 E-RVO) waren nicht nur Arbeiter sondern auch u. a. Betriebsbeamte und Lehrer versicherungspflichtig, allerdings nur bis zur jährlichen Arbeitsverdienstgrenze von 2.000 Mark, so dass für alle Mehrverdienenden nur die freiwillige Versicherung in Betracht kam. Diese wurde jedoch als nicht ausreichend empfunden, weil gerade jüngere Personen regelmäßig nicht den Weitblick hätten, sich freiwillig für das Alter abzusichern.712 Zudem wurde hierin aber auch eine Benachteiligung der Pflichtversicherten gesehen, denn für einen Rentenanspruch bräuchten freiwillig Versicherte nach der Vorlage deutlich geringere Prämien zu zahlen als Pflichtversicherte, ohne dass sich die Höhe der Renten wesentlich unterschied. Daher stellte die Fraktion der Freisinnigen Volkspartei den Antrag, die Arbeitsverdienstgrenze ganz abzuschaffen und den mit dem Antrag der sozialdemokratischen Fraktion inhaltsgleichen Eventualantrag, die Grenze auf 2.500 Mark anzuheben. Beide Fraktionen schlugen zudem die Aufnahme weiterer, höherer Lohnklassen vor. Was die Belastung mit Sozialversicherungsbei710 In der Öffentlichkeit sei zuvor der Eindruck vermittelt worden, allein die Mehrerträgnisse aus den Zöllen würden die ganze Witwen- und Waisenversicherung decken, Verh. d. RT v. 18. 04. 1910, Otto Mugdan, S. 2483. 711 Verh. d. RT v. 18. 04. 1910, Otto Mugdan, S. 2472. 712 Hiermit wurde auch der Versicherungszwang in der Angestelltenversicherung begründen, vgl. E-AVG, S. 68. Erst ab einer Grenze von 5.000 Mark sei die Versicherungspflicht mit Hinweis auf die Möglichkeit zur privaten Altersvorsorge nicht gerechtfertigt, ebenda, S. 69.

Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG

175

trägen anging bemängelte der konservative Schickert, dass diese die »Berufsstände« ungerecht belastet werden würden:713 »Man halte nur den wohlhabenden Rentner und Bankier und den Handwerker nebeneinander, um sich dieser Unbilligkeit sofort bewußt zu werden.«

Des weiteren wurde in der Kommissionsverhandlung die Ausdehnung der Versicherung auf Hausgewerbetreibende gefordert. Hiergegen entschied man sich aber, weil Untersuchungsergebnisse zum Ergebnis geführt hatten, dass Hausgewerbetreibende selbst die Aufnahme in die Invalidenversicherung nicht wollten und zudem, weil es zu kompliziert sei, die sehr verschiedenen Verhältnisse in der Hausindustrie zu regeln.714 1.

Die Frage der Privatbeamten in den Debatten zum E-RVO

Schon in der ersten Beratung des Entwurfs einer Reichsversicherungsordnung brachte der Zentrumsabgeordnete Spahn auch die Frage der Privatangestellten in die Diskussion und forderte von Delbrück Auskunft, »inwieweit die Vorarbeiten für den Entwurf eines Privatbeamtenversicherungsgesetzes nunmehr vorangeschritten [seien].«

Nachdem zunächst Franz Caspar im Reichstag die Hoffnung aussprach, dass Delbrück einen »Entwurf zur Versicherung von Privatangestellten« noch im Herbst 1911 vorlegen würde, wurde in der zweiten Beratung des Entwurfes der Reichsversicherungsordnung der Druck so groß, dass Delbrück ihn schon im Mai 1911 vorlegte. In der Kommission war man geteilter Ansicht, ob das AVG noch in der laufenden Legislaturperiode erlassen werden könne. Richtiger sei es, die hoch gelohnten Arbeiter und Angestellten in den Anwendungsbereich aufzunehmen.715 Die Einführung höherer Lohnklassen, welche Sozialdemokraten716 und Freisinnige717 in verschiedenen Anträgen forderten, wurde im Reichstag abgelehnt.718

713 Verh. d. RT v. 18. 04. 1910, Schickert, S. 2466; Potthoff sprach sich demgegenüber für höhere Versicherungsbeiträge für höhere Renten aus, Verh. d. RT v. 20. 05. 1911, Heinz Potthoff, S. 6973. 714 Ebenda, S. 4908. Kommissare hatten sich mit Kommunalverwaltungen und ausgewählte Hausgewerbetreibende beraten, ebenda. 715 Bericht der 16. Kommission über den E-RVO, Aktenstück Nr. 946, S. 4907. 716 Molkenbuhr verteidigte den Antrag Albrecht und Genossen Nr. 1004 unter 9, der insgesamt 8 Lohnklassen vorsah, Verh. d. RT v. 19. 05. 1911, Hermann Molkenbuhr, S. 6909. 717 Antrag Dr. Potthoff und Genossen Nr. 1020 unter 7, vgl. hierzu Verh. d. RT v. 19. 05. 1911, Heinz Potthoff, S. 6910. 718 Reichstag, 179. Sitzung, S. 6913.

176 2.

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

Die Gründe für unterschiedliche Regelungen in RVO und AVG; Doppelversicherung

Delbrück719 sah in der Gruppe der Angestellten anders als in der Arbeiterklasse »keine fest abgeschlossene [Klasse. Die Grenzen seien] nach oben wie nach unten in hohem Maße flüssig. [Ein] Aufsteigen aus der arbeitenden Klasse [sei durch besondere Intelligenz, Fleiß oder Bildung möglich].«

Die Regelungen zur Hinterbliebenenversicherung in der RVO seien auf die Verhältnisse des Lohnarbeiters zugeschnitten, während sie »in keinem richtigem Verhältnis« zu Bildung, Lebensverhältnissen und sozialer Stellung vieler Angestellten stünden.720 Trotz Bedenken an der zwangsweisen Doppelversicherung, die Trimborn in erster Linie in der doppelten Erhebung der Versicherungsbeiträge sah, sprach er sich im Namen des Zentrums für sie aus, weil die Angestelltenversicherung die Halbinvalidität abdeckte, während die Arbeiterversicherung nur die volle Invalidität ausgleichen würde.721

II.

Rentensätze

Die in E-RVO vorgesehene Witwenrente in Höhe des Reichszuschusses und drei Zehntel der Invalidenrente des Mannes war bereits sehr niedrig.722 Vor dem Hintergrund der zuvor groß angekündigten Hinterbliebenenversicherung waren diese Rentensätze, die unterhalb der kommunalen Armenpflege lagen723, Wahlkampfthemen und wurden in anschaulichen Zahlenbeispielen von SozialVerh. d. RT v. 19. 10. 1911, Clemens Delbrück, S. 7432f. Verh. d. RT v. 19. 10. 1911, Clemens Delbrück, S. 7434. Verh. d. RT v. 20. 10. 1911, Carl Trimborn, S. 7440f. Für zu niedrig wurden die Sätze nicht nur von den Sozialdemokraten, vgl. Verh. d. RT v. 20. 04. 1911, Reinhart Schmidt, S. 2541; und Freisinnigen, gehalten, sondern auch die Fraktion der Polen zeigte sich enttäuscht über die geringen Rentensätze, Verh. d. RT v. 19. 04. 1910, Wiktor Kulerski, S. 2506. Die Wirtschaftliche Vereinigung hielt eine höhere Bemessung für wünschenswert, sobald die Mittel in irgendeiner Form aufgebracht werden könnten, ohne hierzu einen Vorschlag zu unterbreiten, Verh. d. RT v. 19. 04. 1910, Franz Behrens, S. 2509. Auch von rechts wurde geäußert, dass die Ausgestaltung der Witwen- und Waisenversorgung nicht ausreichend und nicht zeitgemäß sei, Verh. d. RT v. 20. 04. 1910, Friedrich Linz, S. 2546. In den Kommissionsverhandlungen erklärte Delbrück, dass die vorgesehenen Rentenhöhen wenigstens die auf dem Land gewährten Armenunterstützungen entsprechen, sie vielleicht noch etwas überstiegen und man zu bedenken habe, dass die Armenverwaltungen geneigt sein würden, ergänzend zu unterstützen, wenn die Renten nicht zum notwendigen Lebensunterhalt genügen würden, Bericht der 16. Kommission zum E-RVO, S. 4936. 723 Verh. d. RT v. 20. 04. 1910, Reinhart Schmidt, S. 2541; von Delbrück eingeräumt, dass dies in Städten der Fall sei, auf dem Land aber oftmals nicht, Bericht der 16. Kommission zum ERVO, S. 4936.

719 720 721 722

Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG

177

demokraten und Freisinnigen aufgegriffen.724 Hinzu kamen Übergangsregelungen725, wonach Hinterbliebenen einen Anspruch auf volle Rente erst 1937 erwirken konnten.726 Die freisinnige Fraktion hielt die Einkommensgrenze von 5.000 Mark für richtig, rügte aber, dass hochgelohnte Arbeiter hierdurch benachteiligt seien und sich die bevorzugte Klasse vom »neuen Mittelstand« ergäbe.727 Die Höhe der Angestelltenwitwenrente sollte nach dem E-AVG zwei Fünftel des Ruhegehalts betragen. In den Kommissionsverhandlungen wurde beantragt, die Rente auf drei Fünftel zu erhöhen, was jedoch abgelehnt wurde, weil die Leistungen nicht bewirkt werden könnten.728

III.

Weitere Anspruchsvoraussetzungen: Invalidität und Bedürftigkeit

In § 1243 S. 1 E-RVO wurde die Anspruchsvoraussetzung der Invalidität geregelt, um die Kosten der Hinterbliebenenversicherung hier gering zu halten. Dass es sich damit um keine ausreichende Absicherung der Witwen handeln würde, wurde in den Debatten um den E-AVG zugestanden. Hier argumentierte man nämlich damit, dass die Hinterbliebenenrenten für nicht ausreichend erachtet wurden. Das stieß auf Kritik. Mugdan etwa hielt es für sozialpolitisch rückständig, dass die nur teilweise arbeitsfähige Witwe mit Kindern keine Rente erhalten solle, sie deshalb arbeiten müsse und so an der Erziehung und Pflege ihrer Kinder gehindert sei.729 Auch von der Fraktion der Polen zeigte man sich

724 Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Hermann Molkenbuhr, S. 7322; Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Heinz Potthoff, S. 7326. 725 Art. 71 EG zur RVO. An eine Rückwirkung von Hinterbliebenenrenten könne aus Mangel an Mitteln nicht gedacht werden. An die rechtliche Wirkung des § 15 des Zolltarifgesetzes seien zweifellos Hoffnungen auf die tatsächliche Leistung für die Zeit vom 01. 01. 1910 erweckt worden. Diese unsichere Hoffnung könne aber unter keinen Umständen einen auch nur moralischen Anspruch begründen, Begründung zum Entwurf einer RVO, S. 364f. 726 Geregelt wurden diese Übergangsregelungen endgültig erst mit dem EG zur RVO, welches parallel zur RVO dreimal beraten und dem die Zustimmung des Reichstags am 31. 05. 1911 gegeben wurde. Sie sahen vor, dass bei der Berechnung der Steigerungssätze nicht auf die Invalidenrente des Mannes sondern auf den oftmals deutlich niedrigeren Ortslohn abzustellen sei. 727 Verh. d. RT v. 20. 10. 1911, Otto Mugdan, S. 7453f.; die Forderung des Hauptausschusses, diese Grenze zu erhöhen, hielt er für undurchführbar, denn »es würde kein Mensch verstehen, daß Direktoren der großen Aktiengesellschaften nun auf einmal versicherungspflichtige Personen sind.«, ebenda. 728 Bericht der 16. Kommission zum E-AVG, Aktenstück Nr. 1198, S. 6143. Im zweiten Anlauf wurde beantragt, die Erhöhung auf drei Fünftel der Ruhegehalts zu erhöhen, wenn die Witwe erwerbsunfähig ist, was abgelehnt wurde, S. 6168. 729 Otto Mugdan, 66. Sitzung, 18. 4. 1910, S. 2482.

178

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

enttäuscht und fragte, wie eine arbeitsfähige Witwe mit 4 bis 6 Kindern auskommen soll, ohne eine Witwenrente zu erhalten.730

1.

Begriff der Invalidität

Gegen die im E-RVO vorgesehene strenge und zudem sehr auslegungsbedürftige Definition, wonach die Witwe invalide war, die nicht mehr ein Drittel ihrer Arbeitskraft hatte,731 wehrten sich nicht nur Sozialdemokraten und Freisinnige. Man müsse überhaupt in Streitfällen, ob jemand invalide ist oder nicht, mehr Vergleiche zu Personen in ähnlicher Lage anstellen, als auf den ortsüblichen Tageslohn abzustellen.732 Wenigstens müsse die halbe Arbeitsunfähigkeit genügen.733 Außerdem müsse auch die arbeitsfähige Witwe mit Kindern im eigenen Haushalt rentenberechtigt sein.734 Schließlich wurde auch die Witwenaltersrente gefordert, wobei im Reichstag die Forderung von Sozialdemokraten735 und Freisinnigen,736 vor dem Hintergrund, dass eine Renteneinstiegsalter von 65 überhaupt gefordert wurde.737 Caspar bezifferte die Kosten dieser Forderung mit 29 Mio. Mark Mehrbelastung, zu denen der Ausfall der Beiträge, die bisher von 65 bis 70-jährigen geleistet wurden, in Höhe von 20 bis 25 Mio. Mark kämen, was nicht zu finanzieren sei.738 730 Verh. d. RT v. 19. 04. 1910, Wiktor Kulerski, S. 2506. Am Ende erklärte sich die Fraktion der Polen aber auch mit den niedrigen Leistungssätzen einverstanden, Verh. d. RT v. 27. 05. 1911, Wojciech Korfanty, S. 7185. 731 Als invalide galt die Witwe nach § 1243 S. 2 E-RVO, wenn sie nicht imstande war, durch eine Tätigkeit, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprach und ihr unter billiger Berücksichtigung ihrer Ausbildung und bisherigen Lebensstellung zugemutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Frauen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegen durch Arbeit zu verdienen pflegen. Was unter Frauen derselben Art zu verstehen sei, lässt auch Weymanns Kommmentierung von 1914 offen, Weymann, S. 291. 732 Bericht der 16. Kommission zum E-RVO, S. 4934. Ein Kommissar des Bundesrates bestritt diese Rechtsprechungspraxis des RVA, ebenda. 733 Abänderungsantrag 1063 unter 3. vom 24. 05. 1911. Vgl. auch Verh. d. RT v. 20. 04. 1911, Reinhart Schmidt, S 2541. Alternativ wurde in den Kommissions-verhandlungen vorgeschlagen, dass als invalide gilt, wer im letzten Jahr 26 Wochen an der gewöhnlichen Arbeitstätigkeit gehindert war, Bericht der 16. Kommission zum E-RVO, S. 4936. 734 Bericht der 16. Kommission zum E-RVO, S. 4934. In diesem Zusammenhang wurde gefordert, dass Witwen ab einem Alter von 60 Jahren als erwerbsunfähig gelten, ebenda. 735 Abänderungsantrag Nr. 1063 unter 4. vom 24. 05. 1911, vgl. hierzu auch Verh. d. RTv. 30. 05. 1911, Hermann Molkenbuhr, S. 6930; Verh. d. RT v. 30. 05. 1911, Heinrich Busold, S. 7297. 736 Abänderungsantrag Nr. 1057 unter 3. vom 24. 05. 1911, vgl. hierzu auch Verh. d. RTv. 19. 05. 1911, Otto Mugdan, S. 6916. 737 Vom Zentrum argumentierte man hiergegen, dass es dringender sei, Arbeiter mit unmündigen Kindern im Haushalt zu unterstützen also solche, deren Kinder schon erwachsen seien, Verh. d. RT v. 19. 05. 1911, Johannes Becker, S. 6926. 738 Verh. d. RT v. 19. 05. 1911, Franz Caspar, S. 6925.

Gesetzgebungsprozess von RVO und AVG

2.

179

Witwerrenten bei Bedürftigkeit

Sowohl nach der RVO als auch nach dem AVG sollten Witwerrenten nur gewährt werden, wenn der Witwer bedürftig ist.739 In beiden Kommissionsverhandlungen wurde gerügt, dass die Voraussetzung der Bedürftigkeit dem Versicherungsprinzip widerspräche, es gleichsam gegen die guten Sitten verstoßen würde.740 Immerhin wurde die Bedürftigkeit von Kindern als Anspruchsvoraussetzung für Waisenrenten nach dem AVG für den Fall, dass die Mutter verstarb, gestrichen.741

IV.

Verabschiedung von RVO und AVG

Am 31. 05. 1911 stimmte der Reichstag noch vor der Sommerpause742 der RVOVorlage zu. Sie wurde mit 232 gegen 58 Stimmen der Sozialdemokraten und einiger »Fortschrittler«743 bei 15 Enthaltungen angenommen. Endlich wurde der lange Kampf um die Einführung von Witwen- und witwerrenten gewonnen und die 30-jährige Forderung nach der Aufnahme von Hinterbliebenenrenten in das Versicherungspaket der heutigen Rentenversicherung erfüllt. Dies gelang allerdings nur, weil die Leistungssätze auf Minimalrenten beschränkt wurden.744 Das Hauptgegenargument der kaum möglichen Finanzierbarkeit wurde so entkräftet.745 Posadowsy-Wehners Ankündigung, man würde die Zusammenlegung aller Sozialversicherungsgesetze mit der Einführung einer Hinterbliebenenversicherung verbinden, erfüllte sich vier Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt. Dass dies möglich war, ist nicht zuletzt seiner politischen Strategie 739 § 29 S. 1 E-AVG, § 1245 E-RVO. 740 Bericht der 16. Kommission zum E-AVG, S. 6141. 741 Bericht der 16. Kommission zum E-AVG, S. 6199; anders bei Waisenrenten nach der RVO, wo die Bedürftigkeit auch der Kinder als Anspruchsvoraussetzung geregelt wurde, §§ 1260, 1261 RVO. 742 Zu den angesichts des Regelungsumfanges der RVO releativ kurzen Verhandlungen, in denen weitgehend auf die Ergebnisse der Ausschussberatungen zurückgegriffen wurde, siehe Tennstedt – RVO, S. 528. 743 So die Berliner Volkszeitung vom 31. 05. 1911. Sie schrieb zum Abstimmungsergebnis, es sei »bedauerlich, dass es Fortschrittler gibt, die für dieses traurige Gesetz gestimmt haben.« Neben den Sozialdemokraten stimmten einige Angehörige der Freisinnigen Volkspartei gegen das Gesetz. 744 So lobte auch die Coburger Zeitung: »Die Einführung der Hinterbliebenenversicherung bildet trotz der geringen Höhen der Rente eine ganz wesentliche Verbesserung«, Coburger Zeitung v. 31. 05. 1911. 745 Für die Zeit wurden durch gleichzeitigen Wegfall der Beitragserstattung im Todesfall überhaupt keine Mehrkosten durch die Einführung von Witwen- und Witwerrenten durch die RVO verursacht.

180

Wahlkämpfe, Denkschriften und Erlass von RVO und AVG

und seinem Anschub der praktischen Vorarbeiten zu verdanken. Der politischen Druck, der durch die »lex trimborn« erzeugt wurde, führte zum Durchbruch. Die AVG-Vorlage wurde ein halbes Jahr später in den letzten Tagen vor Auflösung des 12. Reichstages zum dritten und letzten Mal beraten746 und am 5. Dezember 1911 einstimmig angenommen. Für die sozialdemokratische Partei vertrat deren Reichstagsabgeordneter Hoch noch einmal den Standpunkt, die Trennung von Angestellten und Arbeitern sei völlig unbegründet und stelle einen schweren Mangel des AVG dar, zumal sich die Leistungen nach AVG und RVO fundamental in Höhe und Voraussetzungen unterschieden.747 Die Ausweitung der Versicherungspflicht und insbesondere die Einführung einer obligatorischen Hinterbliebenenversicherung für alle Personen mit einem Jahreseinkommen unter 5.000 Mark seien aber erfreuliche, wichtige Fortschritte, welche Bedeutung für die ganze Reichsversicherung hätten. Und dann sprach Hoch ein sozialpolitisches Schlusswort, das gewissermaßen den Strich unter eine über 20 Jahre lang währende intensive politische Diskussion zog, wie es sie im Kaiserlichen Reichstag 1871–1918 kaum ein anderes Mal gegeben hat:748 »Damit haben wir unserer Reichsversicherung eine größere Bedeutung gegeben. Ursprünglich war die Reichsversicherung als eine Maßnahme zur Linderung der äußersten Not solcher Personen angesehen, die sich in besonders traurigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden. Allmählich aber hat sich die Reichsversicherung ausgewachsen zu einer unser ganzes wirtschaftliches Leben beherrschenden sozialpolitischen Einrichtung, zur Ergänzung unserer heutigen Wirtschaftsordnung für die große Masse des werktätigen Volkes, zu einer Einrichtung, welche Zeugnis dafür ablegt, daß der einzelne allein in dem wirtschaftlichen Getriebe ohnmächtig dasteht, daß er seine Interessen nur wahren kann im Anschluß an die Gesamtheit, Schulter an Schulter mit seinen Berufskollegen in des Wortes weitestem Sinne.«

746 Um eine Verabschiedung in der kurzen Zeit bis zur Auflösung des 12. Reichstages zu schaffen, wurden ausführliche Stellungnahmen von keiner Partei abgegeben. Vgl. zu den Beratungen im Reichstag Bichler, S. 224. 747 Verh. d. RT v. 05. 12. 1911, Gustav Hoch, S. 8333. 748 Ebenda.

Vierter Teil: Resümee

Es ist im Jahre 1911 gelungen, eine Hinterbliebenenversicherung einzuführen, deren Grundlagen sich bis heute erhalten haben. Voran ging eine ausgedehnte Diskussion.749 Beeindruckend ist, an wie viele der Probleme, die es noch heute zu lösen gilt, schon damals gedacht wurde. Beispielsweise wurde der erst 2001 in § 46 Abs. 2a SGB VI geregelte Ausschlusstatbestand der Versorgungsehe seinerzeit schon diskutiert, wobei ein Zeitraum von 3 Monaten vorgeschlagen wurde.750 Genauso wurden bereits die Unterschiede zwischen den Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsniveaus751 von Arbeitern und Angestellten thematisiert. So stand etwa von Anfang an in der Kritik, dass einer Arbeiterwitwe eines nach der RVO versicherten Mannes Witwenrente nur im Falle der eigenen Invalidität zustand, während die Angestelltenwitwe Rente auch im Fall verbliebener eigener Erwerbsfähigkeit erhielt. Über solche und andere Unterschiede wurde noch über 90 Jahre lang weiter diskutiert752, sie wurden noch über die Zeit des Nationalsozialismus beibehalten und in weiten Teilen erst durch das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz (SVAG) vom 17. Juni 1949753 aufgehoben. Gänzlich beseitigt worden ist die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten in der Rentenversicherung je-

749 v. Bruch beschreibt die Zeit nach 1890, in der zunehmend Interesse für Sozialpolitik und Sozialwissenschaft im gebildeten Bürgertum stieg (v. Bruch 1985, S. 112f.). 750 Siehe hierzu Dritter Teil, Abschnitt C. I. Nr. 5.b). 751 Es gab nach AVG nicht nur höhere Leistungssätze, sondern auch erhebliche Abweichungen in den Regelungen zu Anwartschaft und Wartezeit. Überdies waren alle Arbeitnehmer, welche der im AVG erstmalig definierten Gruppe der Angestellten zugehörten und bis zu 2.000 Mark jährlich verdienten, sowohl nach der RVO als auch nach dem AVG versichert, mit der Folge, dass die Leistungen bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen an sie doppelt gewährt wurden. 752 Franz Caspar hielt es 1920 noch für unmöglich, die Leistungen gerade von erwerbsfähigen Witwen und mithin auch die Beiträge in der Invalidenversicherung auf die Sätze der Angestelltenversicherung zu erhöhen (Tennstedt, Caspar – RVO, S. 529). Vgl. auch Seltz, S. 290ff. 753 RGBl., S. 509.

182

Resümee

doch erst zum 1. Januar 2005754. 1911 spielte allerdings noch eine Rolle im Hintergrund, dass die sich zwischen Arbeiterschaft und Beamtentum als eigenständige, soziale Gruppe etablierenden Angestellten mit einem Verdienst von 2.000–5.000 Mark755 gegenüber den Arbeitern bessergestellt werden sollten, um sie davon abzuhalten, Sozialdemokraten zu wählen.756 Wie schon 1883, 1884 und 1889 war es also auch noch 1911 ein Nebenziel der Sozialgesetzgebung, die Gesellschaft zu stabilisieren und so das Reich zu festigen.757 Dass die Hinterbliebenensicherung den Schritt ins Gesetzblatt geschafft hat, ist – wie gezeigt – im Wesentlichen dem Einsatz Arthur Posadowsky-Wehners zu verdanken, den dieser als Staatssekretär des Innern in der Zeit von 1903–1907 geleistet hat. Posadowsky-Wehner trieb die Vorarbeiten zur Einführung einer Hinterbliebenenversicherung voran und vermittelte zwischen Reichstagsparteien und den verbündeten Regierungen.758 Erst durch die Verknüpfung mit dem Zolltarif konnte eine mehrheitliche Zustimmung und damit die Aufnahme in das Leistungspaket der damaligen Arbeiter- und Angestelltenversicherung erreicht werden. Dennoch wurden, um finanzielle Risiken zu vermeiden, Übergangsregelungen beschlossen, so dass in den Jahren 1912–1914 nur geringe Renten ausgezahlt wurden,759 obwohl Beiträge erhoben wurden. Entsprechend dem Prinzip der Kapitaldeckung konnte die Invalidenversicherung so zunächst ein Reinvermögen bilden. Durch den Ersten Weltkrieg verlangsamte sich diese Vermögensbildung zwar, stieg aber noch immer stetig von 2,1 Milliarden Reichsmark im Jahr 1913 auf 2,5 Milliarden Reichsmark im Jahr 1917 an. Jedoch

754 Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung (RVOrgG) vom 9. Dezember 2004, BGBl. I, S. 3242. Aufgrund dieses Gesetzes wurde zum 1. Oktober 2005 die Deutsche Rentenversicherung gegründet. Die Aufteilung auf unterschiedliche Rentenversicherungsträger erfolgt seither nicht mehr nach der Einordnung als Arbeiter oder Angestellter, sondern nach einem Verteilungsschlüssel. 755 Stolleis 2001, S. 263. Allein zwischen 1882 und 1907 war der Anteil der Angestellten an den Erwerbstätigen immerhin von 4,7 auf 10,7 Prozent angestiegen (Berghahn, S. 103). 756 Umland, S. 68. 757 Dazu, dass die Sozialpolitik 1881–1890 nicht von rein fürsorglichen Interessen geprägt war, siehe Umland, S. 68. 758 Dies war keine einfache Aufgabe, weil viele nur nach ständiger Erinnerung PosadowskyWehners antworteten. Posadowsky-Wehner verfügte noch kurz vor seinem Amtsrücktritt am 24. Juni 1907 die Aufgabe der Zusammenstellung der Äußerungen der verbündeten Regierungen und einzelner Behörden; die Fertigstellung dieser Zusammenstellung ist auf den 1. Juli 1907 datiert (BA R 1501 100973, fol. 83). 759 Die jährlich neu festgesetzten Leistungen der Hinterbliebenenversicherung stellten sich laut amtlicher Nachrichten des Reichsversicherungsamtes für 1912, 1913 und 1914 wie folgt dar : Witwenrenten 292.020 Mark (1912), 658.643 Mark (1913) und 775.439 Mark (1914). An Witwengeldern wurden gezahlt 311.397 Mark (1912), 617.784 Mark (1913) und 803.748 Mark (1914), zitiert nach Sozialistische Monatshefte 22. Jahrgang 1916, Heft 9, S. 501f.

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verloren diese Beträge dann durch die Inflation und Hyperinflation 1923 praktisch ihre Bedeutung.760 Die Nachzeichnung der intensiven sozialpolitischen Diskussion zwischen 1890 und 1911, die in die Nachholung der 1889 unterbliebenen Einbeziehung von Hinterbliebenenrenten mündete, hat indessen nicht nur sozialhistorischen Erkenntniswert, sondern liefert auch Einsichten und interessante Argumente für die heutige Diskussion um den Fortbestand bzw. die Reform von Witwen- und Witwerrenten. Es war insoweit bereits eingangs der Untersuchung berichtet worden, dass seit dem Hinterbliebenen- und Erziehungszeitengesetz – HEZG) vom 11. Juli 1985 die Frage nach der Einordnung von Hinterbliebenenrenten diskutiert wird. Konkret ist streitig, ob sie sich als Fremdversicherung auf die Person des ggf. überlebenden Ehegatten oder Kindes darstellen oder als Eigenversicherung des Versicherten.761 Relevant ist diese Frage für den grundrechtlichen Schutz. Unterfielen Hinterbliebenenrenten nämlich dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG, würde dies den Gesetzgeber daran hindern, aufgrund der Beitragsvorleistung der Rentenversicherten eine gewisse Höhe der Renten zu unterschreiten. Verneinte man hingegen eine Eigentumsposition, ergäbe sich ein verfassungsrechtlicher Schutz nur aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz.762 Das gestattete die Gewährung von Witwen- und Witwerrenten nach Bedürftigkeit der Witwe oder des Witwers – so wie das seit dem HEZG 1985 geschieht (heute § 97 SGB VI) und vom Bundesverfassungsgericht763 mit Beschluss vom 18. Februar 1998 als verfassungsgemäß angesehen worden ist. Die vor der Einführung von Hinterbliebenenrenten geführte Diskussion macht deutlich, dass seinerzeit die Ausgestaltung als Versicherungsleistung ausdrücklich gewollt war. Dies war ein Grund für die Beitragsfinanzierung. Als weiterer Grund hinzu trat der Versicherungszwang. Indizcharakter hat auch die 1911 weggefallene Beitragserstattung im Todesfall, wie sie 1889 eingeführt worden war. Diese Beitragserstattung schloss damals zumindest notdürftig die 760 Zur Entwicklung während und nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Hyperinflation 1923 siehe Brunner, S. 12f. 761 Begründung etwa in BSG v. 29. 1. 2004, B 4 RA 29/03 R, BSGE 92, 113, 122ff. sowie bei Hermann Butzer, Im Widerstreit: Der Eigentumsschutz von Hinterbliebenenrenten. Fremdlast oder integraler Bestandteil der Gesetzlichen Rentenversicherung, FS Josef Isensee, 2008, S. 667, 678ff.; Manuel Mielke, Verfassungsfragen des Rechts der Witwen- und Witwerrenten, Berlin 2011, S. 25ff. 762 Siehe zum Streit um die eigentumsrechtliche Qualität von Hinterbliebenenrenten mit weiteren Nachweisen Butzer in GK-SGB VI, § 46 Rn. 20ff. 763 BVerfGE 97, 271, 283ff. Siehe vorher auch schon BVerfGE 87, 1 (35ff.). Nach BVerfGE 76, 256 (301, 305) sollen auch Hinterbliebenenrenten nach Beamtenrecht vorwiegend fürsorgerisch motivierte Leistungen sein, weil sie ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt würden.

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Lücke, welche das erste Alters- und Invalidenversicherungsgesetz noch ließ, da in ihm die Leistung der Hinterbliebenenrenten fehlte. Als die Hinterbliebenenrenten dann 1911 eingeführt wurden, fiel im Gegenzug764 diese Beitragserstattung weg. Aus historischer Sicht ist daher die in der heutigen Rechtsprechung vertretene Ansicht, bei Hinterbliebenenrenten stünde der staatliche Fürsorgecharakter im Vordergrund, fraglich. Die Entscheidung für eine Beitragsfinanzierung erfolgte 1911 sehr bewusst, und zwar aus zwei unterschiedlichen Überlegungen. Für die Finanzierung der Arbeiterwitwenrente wurde die private Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für seine Arbeiter und Angestellten bemüht. Für die durch das AVG neu anerkannte, um nicht zu sagen: neu geschaffene Personengruppe der Angestellten war dagegen der genossenschaftliche Versicherungsgedanke von Anfang an leitend.765 Die Finanzierung von Hinterbliebenenrenten durch Arbeitnehmerbeiträge hatte nicht nur das Ziel, ausreichende Renten zu ermöglichen, sondern sollte den Hinterbliebenen, unabhängig davon, ob es sich um Hinterbliebene eines Arbeiters oder eines Angestellten handelte, im Unterschied zur damaligen Armenfürsorge einen Anspruch auf ausreichende Unterstützung verschaffen, um die Witwe oder (ausnahmsweise) den Witwer vom zitierten »Odium der Armenpflege« zu befreien. Von Anbeginn der Diskussion wurde deshalb trotz Kostendruckes davor gewarnt, die Rentenzahlung von der Bedürftigkeit der Witwe abhängig zu machen. Die Ausgestaltung als Versicherungsleistung solle gerade einen Kontrast zu anderenfalls zu gewährenden Sozialhilfeleistungen setzen. Argumentiert wurde dazu auch aus der Sicht des Ehegatten: Ein Ehegatte, welcher den Haushalt überwiegend finanziere, habe von sich aus das Interesse, den anderen für den Fall frühzeitigen Versterbens abzusichern und wolle diese Aufgabe nicht der Armenfürsorge überlassen. Für versicherte Mitglieder der höheren Lohnklassen sollten die Hinterbliebenenrenten folglich nicht nur einen Ersatz für die Armenfürsorge bieten, sondern auch eine statussichernde Funktion erfüllen. Das auch noch heute maßgebliche Argument der Beitragsäquivalenz hatte also schon 1911 dazu geführt, dass der umverteilenden Finanzierung von Renten an Versicherungsmitglieder der unteren Lohnklassen durch Beiträge von Versicherungsmitgliedern der höheren Lohnklassen Grenzen gesetzt wurden. Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers mussten sich 764 Das wurde damals zwar bedauert, da die finanzielle Not der Witwe unmittelbar nach dem Tod eines Ehegatten am größten sei, führte aber später zur Einführung eines sog. Sterbevierteljahres (vgl. § 67 Nr. 5, Nr. 6 SGB VI), in dem die Witwenrente übergangsweise mit dem Rentenfaktor 1,0 (statt 0,55 – große Witwenrente – oder 0,25 – kleine Witwenrente) gewährt wird. 765 Vgl. zur Darstellung der privaten Fürsorgepflicht des Arbeitgebers – in der Vorgeschichte der Reichsarbeiterversicherung also die Fürsorgepflicht der Herrschaft bzw. des Prinzipals gegenüber dem Gesinde/dem Gehilfen – Wagner 1906, S. 6ff.

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höhere Beiträge auch in höheren Hinterbliebenenleistungen widerspiegeln. Gesehen wurde auch, dass die Einsicht, sich und seine Angehörigen absichern zu müssen, oftmals nicht stark ausgeprägt sein würde. Deshalb wurde der Versicherungszwang für diesen Bereich für sinnvoll erachtet. Desgleichen wurde in der Diskussion vor Einführung der Hinterbliebenenrenten im Jahre 1911 erkannt, dass Hinterbliebenenrenten ein Mindestmaß an Absicherung gewährleisten müssen, weil es dem versicherten Mitglied durch die Pflicht zur Zahlung von Versicherungsbeiträgen erschwert werde, eine ausreichende private Absicherung zu finanzieren. Wenn inzwischen umfassende Vorschriften über die Anrechnung von Einkommen und Einkommensersatzleistungen (§ 97 SGB VI i. V. m. §§ 18a bis 18e SGB IV) dazu führen, dass sich die Höhe der Rente letztlich an der Bedürftigkeit des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners bemisst, und wenn mittlerweile der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2006/07766 die Empfehlung ausgesprochen hat, die Hinterbliebenenrenten aus dem Versicherungspaket der Gesetzlichen Rentenversicherung herauszulösen und solche »Renten« im Rahmen einer steuerfinanzierten »Hinterbliebenenversorgung« unbefristet nur noch mit Bedürftigkeitsprüfung zu gewähren, so zeigt das, dass Rentengesetzgebung und Politikberatung auf dem Weg sind, die Errungenschaft von 1911 zu Nichte zu machen. Es wäre zu wünschen, dass der heutige Gesetzgeber die hier dargestellte, langwierige Entstehungsgeschichte der Witwen-, Witwer- und Waisenrenten und die damaligen Überlegungen und Gründe für ihre Einführung zur Kenntnis nimmt und erkennt, dass er dabei ist, die historischen Wurzeln dieser Rentenart zu kappen. Die Hinterbliebenenrenten sind 1911 ganz bewusst als eine beitragsfinanzierte Leistung an die Angehörigen des verstorbenen Versicherten konstruiert worden, sie entstammten einer (Eigen-)Lebensversicherung des in der Arbeiter- oder Angestellten-Rentenversicherung Versicherten, sie sollten für die Versicherten die staatliche, steuerfinanzierte (Armen-)Fürsorgeleistung – in heutiger Terminologie: die »Grundsicherung für Hinterbliebene« – ablösen. Die historische Analyse sollte den Gesetzgeber daher mahnen, wenn er denn eine durchgreifende Umgestaltung der Hinterbliebenensicherung in Angriff nehmen möchte, diese Umgestaltung ordnungspolitisch und verfassungsrechtlich korrekt außerhalb des SGB VI und außerhalb von dessen Finanzierungswegen vorzunehmen.

766 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2006/07, S. 258ff.

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Sammlungen des Reichsamtes des Innern

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Personenverzeichnis (alphabetische Anordnung)

Name Albrecht Baare

Vorname Carl Leopold Adolph Louis

Bachem

Carl Joseph Emil Ballestrem von Franz

Barth

Wilhelm Theodor

Bebel

Ferdinand August

Becker

Johannes

Funktion / Erläuterungen Mitglied der SPD, MdR (1898–1903 und 1907–1918), Schneidermeister Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1879–1897), Berater Otto von Bismarcks, Montan-Industrieller Mitglied des Zentrums, MdR (1890–1907), Rechtsanwalt Mitglied des Zentrums, MdR (1874–1893 und 1898–1907), Präsident des Reichtages (1898–1906), Montan-Industrieller Mitglied der LV (1881–1887), der DFrP (1884–1893), der FrVg (1893–1908), der DV (seit 1908), MdR (1881–1884, 1885–1898 und 1901–1903), Jurist Mitglied der SPD, MdR (1871–1881 und 1884–1913), Drechslermeister Mitglied des Zentrums, MdR (1907–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1933), Schneidermeister

Seite 175 45

85, 90, 111, 189 87, 189

113

122 178

198

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Funktion / Erläuterungen Regierungsrat, Geh. Regierungsrat und Geh. Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern (1897–1912), Vizepräsident des Direktoriums der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (1912–1924) Behrens Franz Mitglied der WV, MdR (1907–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1930 und 1932–1933), Gärtner Berlepsch von Hans Her- Sozialpolitiker, Preußischer mann Minister für Handel und Gewerbe (1890–1896) Bethmann Theobald Preußischer Innenminister Hollweg von (1905–1907) Staatssekretär des Innern (1907–1909) Reichskanzler (1909–1917) Bieberstein Adolf Mitglied der Deutschkonservon vativen Partei, MdR (1878–1881), Badischer Gesandter (1883–1890) Staatssekretär im auswärtigen Amt (1890–1897) Bismarck von Otto Ministerpräsident von Preußen (1862–1890), Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes (1867–1871) Reichskanzler (1871–1890) Bockshammer Otto Regierungsassessor im Reichsamt des Innern (1904) Boetticher von Karl Hein- Staatssekretär des Innern rich (1880–1897), Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums (1888–1897) Braesicke Rudolf Mitglied der FrVp, MdR (1898–1903), Gutsbesitzer Busold Heinrich Mitglied der SPD, MdR (1910–1912), Schreinermeister Bülow von Bernhard Staatssekretär des Äußen Heinrich (1897–1900), Reichskanzler Martin Karl (1900–1909) Name Beckmann

Vorname Adolf Johann Heinrich

Seite 22, 109, 123, 128f., 136f., 160ff., 167

176

51f., 108f. 100, 161ff., 171

48

20, 31f., 35, 38ff., 42ff., 47ff., 86, 99, 119, 189, 191, 193, 195 123, 136 48, 51, 58ff., 63, 66f.

73 178 91, 99f., 114, 122, 135ff., 189

199

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Funktion / Erläuterungen Seite Reichskanzler (1890 bis 1894) 50ff.

Name Caprivi von

Vorname Georg Leo

Caspar

Franz Erich Regierungsrat im Reichsamt des Innern (1881–1885), Geh. Regierungsrat im Reichsversicherungsamt (1885–1889) Geh. Regierungsrat und seit 1892 Geh. Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern (1889–1901) Direktor der (II.) wirtschaftlichen Abteilung im Reichsamt des Innern (1901–1917), Unterstaatssekretär im Reichsarbeitsamt (1918), Unterstaatssekretär im Reichsarbeitsministerium (1919) Hans Mitglied der FrVp, MdR (1901–1903), Jurist Willi Mitglied der FrVp, MdR (1906–1912), Jurist Gottlieb Preußischer Handelsminister Ernst Cle(1905–1909), Staatssekretär mens des Reichsamts des Innern (1909–1916), Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums (1914–1916) , Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1921) Martin Präsident des BundeskanzFriedrich leramtes des Norddeutschen Rudolph Bundes (1867–1871), Präsident des Reichskanzleramtes (1871–1876), MdR (1878–1881) Karl Nationalökonom, Professor Maximilian Regierungsrat und seit 1861 Wolfgang vortragender Rat im preußischen Staatsministerium (1859–1867), Direktor des preußischen Staatsarchives (1867–1874), Professor Augustin Vorsitzender der LandesverBernhard sicherungsanstalt Oldenburg Theodor (1890–1924)

Crüger Cuno Delbrück von

Delbrück von

Diehl Duncker

Düttmann

22, 87, 100, 109, 123, 136f., 163, 165ff., 174f., 178, 181, 195

121, 125 164f. 148, 166f., 174ff.

39f., 192

110 39f.

92ff., 98f., 105, 107ff., 168, 172, 191

200

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Eberhardt Enneccerus

Erzberger Francke Gaebel Gamp-Massaunen von

Gebhard

Grillenberger Grimm von

Funktion / Erläuterungen Metalldrücker und Vorstand der Gewerbevereine Karl Martin Mitglied der nationalliberaLudwig len Partei, MdR (1887–1890 und 1893–1898), Jurist, Professor Matthias Mitglied des Zentrums, MdR (1903–1918), Reichsfinanzminister (1919–1920) Ernst MoHerausgeber »Soziale Praritz August xis«, Mitglied im Verein für Martin Socialpolitik, Professor Otto Johann Präsident des ReichsversiVertraugott cherungsamts (1897–1906) Karl Fried- Hilfsarbeiter, Regierungsrat, rich Oskar Geh. Regierungsrat und Geh. Oberregierungsrat im peußischen Handelsministerium (1882–1895), Mitglied der DRP, MdR (1884–1918) Hermann Mitglied der nationalliberaAugust Wil- len Partei, MdR (1884–1891), helm Karl Vorsitzender (Direktor) der Hanseatischen Versicherungsanstalt für Invaliditätsund Altersversorgung in Lübeck (1890–1906) Karl Mitglied der SPD, MdR (1881–1897), Schlosser unbekannt Referent im Reichsamt des Innern (1906–1907) Vorname Oswald

Seite 49 55, 57f.

160 63, 105, 108f., 170f. 136, 163 64, 73

31, 92, 139f., 150, 153, 189

48, 61, 191 137

Hahn

Christian Diederich

Mitglied der nationallibera- 80f., 86f. len Partei (1893), fraktionslos (1893–1907), Mitglied der DkoP (seit 1907) MdR (1893–1903 und 1907–1912), Vorstandsmitglied (Direktor) des Bundes der Landwirte (1897–1918)

Hanow

unbekannt

Geheimer Regierungsrat RVA 136, 143 (1907)

201

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Haug

Vorname G.

Heim

Georg

Herold

Carl

Hertling von

Georg Friedrich

Hilbck

Alexander

Hitze

Franz

Hoch

Gustav

Hofmann

Heinrich Christian Wilhelm Chlodwig Carl Viktor

HohenloheSchillingsfürst zu

Hompesch von Alfred Isenbart

Wilhelm

Funktion / Erläuterungen Metalldrücker und Sekretär der Gewerbevereine Mitglied des Zentrums, MdR (1897–1912), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1924) Mitglied des Zentrums, MdR (1898–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1931) Mitglied des Zentrums, MdR (1875–1890 und 1896–1912), bayerischer Ministerpräsident (1912–1917) Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident (1917–1918), Professor Mitglied der nationalliberalen Partei, MdR (1898–1903), Bergwerksdirektor Mitglied des Zentrums, MdR (1884–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1921), Generalsekretär des »Arbeiterwohl«, Professor Mitglied der SPD, MdR (1898–1903 und 1907–1918), Arbeitersekretär (1903–1919), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1928), Schriftsteller Mitglied der nationallilberalen Partei, MdR (1893–1903), Amtsrichter Bayerischer Ministerpräsident (1866–1870), Mitglied der LRP, später der FkP, MdR (1871–1881), Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident (1894–1900) Mitglied der FkP (1867–1874), danach des Zentrums. MdR (1867–1909) Geh. Regierungsrat im RVA (1889–1906)

Seite 49 90, 100, 105f., 111, 115ff.

91, 104

64, 67

124, 126f. 48, 52ff., 62, 67, 73f., 77ff., 85, 92, 99, 116, 129, 169, 189, 191ff.

121, 123, 180

57f., 64, 80, 84 51, 87

67 137

202

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Jaeckel

Vorname Agnes

Jaup

Bernhard

Kanitz von

Hans Wilhelm Alexander Paul

Kaufmann

Korfanty Kretschmann Kruse

Wojciech (Albert) Franz

Kühn

Ernst Christian Carl August

Kulerski

Wiktor

Lehmann

Richard

Lerchenfeld von und zu Köfering

Hugo

Lieber

Philipp Ernst Moritz

Funktion / Erläuterungen Pseudonym Elisabeth Reuther Referent im RVA (1887–1889 und 1894–1901), Vortragender Rat im Reichsamt des Innern (1906–1914), Präsident des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung (1914–1922) Mitglied der DkoP, MdR (1869–1870 und 1889–1913), Rittergutsbesitzer Hilfsarbeiter, Regierungsassessor, Regierungsrat, Geh. Regierungsrat im RVA (1885–1896) Vortragender Rat, Geh. Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern (1896–1906, Präsident des RVA (1906–1923) Mitglied der Polnischen Fraktion, MdR (1903–1912) Königlich Preußischer Regierungsrath Mitglied der nationalliberalen Partei, MdR (1884–1890 und 1893–1900), Arzt Mitglied der SPD, MdR (1889–1890, 1893–1907 und 1912–1916), Schneidermeister Mitglied der Polnischen Fraktion, MdR (1903–1912), Lehrer und Redakteur Regierungsrat RVA (1902–1912) Assessor und Regierungsrat im bayerischen Staatsministerium des Innern, bayerischer Berichterstatter (1904–1914)

Seite 34, 168ff. 22, 137, 161

113 22, 109, 123, 128f., 136f., 163, 167

178 33, 130f., 134, 193 25f., 28, 35, 63 56f.

176, 178 136, 143 100, 114

Mitglied des Zentrums, MdR 54 (1871–1902), Berufspolitiker

203

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Linz

Vorname Friedrich

Lohmann

Theodor Christian

Manteuffel von Otto Carl Gottlieb Marschall von Hermann Bieberstein Adolf

Michelsen

Christian Friedrich

Miquel von

Johannes Franz

Möller von

Theodor Adolf

Funktion / Erläuterungen Mitglied der DRP, MdR (1907–1912) Regierungsrat, Geh. Regierungsrat, Geh. Oberregierungsrat im preußischen Handelsministerium (1871–1881) Vortragender Rat in der II. (wirtschaftlichen) Abteilung im Reichsamt des Innern (1881–1891), Ministerialdirektor und dann Unterstaatssekretär, Leiter der Gewerbeabteilung im preußischen Handelsministerium (1892–1905), Bundesratsbevollmächtigter (1881–1905) Mitglied der DkoP, MdR (1877–1898) Gesandter und bevollmächtigter Minister für Baden am Preußischen Hof und stellvertretener Bundesratsbevollmächtigter für Baden in Berlin (1883–1890), Staatssekretär des Auswärtigen Amts und preußischer Staatsminister (1890–1897) Professor der Mathematik und Physik und Ehrenmitglied der Generaldirektion der allgemeinen WittwenVerpflegungs-Anstalt zu Berlin Mitglied der nationalliberalen Partei, MdR (1867–1877 und 1887–1890), preußischer Finanzminister (1890–1901), Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums (1897–1901) Preußischer Minister für Handel und Gewerbe (1901–1905)

Seite 176 43f., 46, 136, 195

64, 68 48

26, 28, 31

51, 91, 100

114, 136

204

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Molkenbuhr

Vorname Hermann

Mugdan

Otto

Müller

Bernhard

Paasche

Hermann

Pachler

unbekannt

Pauli

August

Payer von

Friedrich

Pfungst

Julius

Pietsch Ploetz von

unbekannt Berthold

PosadowskyWehner von

Arthur Adolf

Potthoff

Heinz

Prinzing

Friedrich

Rettich

Meno

Funktion / Erläuterungen Mitglied der SPD, MdR (1890–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1924), Zigarrenmacher, Parteisekretär Mitglied der FrVp, MdR 1903–1912, Arzt Flaschnermeister in der Württ. Metallfabrik Mitglied der LV, ab 1893 der nationalliberalen Partei, MdR (1881–1884 und 1893–1918), Vizepräsident des Reichstages (1912–1918), Professor Regierungsrat, Referent RVA (1906) Mitglied der DkoP, MdR (1898–1912), Tischlermeister Mitglied der DVP, MdR (1877–1878, 1880–1887 und 1890 bis 1918), Jurist Begründer Schmirgeldampfwerk Naxos=Union Regierungsrat RVA (1907) Mitglied der DkoP, MdR (1893–1898), Mitbegründer des Bundes der Landwirte Staatssekretär des Reichschatzamtes (1893–1897), Staatssekretär des Innern (1897–1907), MdR (1912–1918) Mitglied der DNVP, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung Hospitant der FrVg, seit 1910 Mitglied der FoVp, MdR 1903–1912, Regierungsrat im Reichsarbeitsministerium (1928–1933) Arzt und Medizinstatistiker, Begründer der wissenschaftlichen medizinischen Statistik Mitglied der DkoP, MdR (1893–1907), Gutsbesitzer

Seite 64, 73, 84f., 90, 112f., 119f., 161, 164ff., 173, 175, 177f. 166f., 173f., 177f. 49 62, 113, 124, 126

137 160 71 109 136, 143 64ff. 21ff., 33, 51, 68ff., 72, 74ff., 79, 81f., 84, 87f., 92, 99ff., 114f., 120, 128ff., 134ff., 138, 159f., 167f., 172, 182, 190ff., 194 173, 175, 177

32, 35ff., 89, 92ff., 98, 105, 109f., 171f., 193 111

205

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Reuther Rheinbaben Richter

RichthofenDamdorf von Roesicke

Roesicke

Roon von Sarrazin Schaedler Schmerler Schmidt

Funktion / Erläuterungen Pseudonym für Agnes Jaeckel Preußischer Innenminister (1899–1901), Preußischer Finanzminister (1901–1910) Eugen Mitglied der DFoP (1866–1884), der DFrP (1884–1893), der FrVP (1893–1910) und der FoVP (seit 1910), MdR (1867–1906),Finanzpolitiker, Begründer und Herausgeber der Freisinnigen Zeitung Karl Fried- Mitglied der DKoP, MdR rich (1898–1912), Rittergutsbesitzer Richard fraktionslos, später Mitglied Adolph Ma- der FrVg, MdR (1890–1903), ximilian Brauereidirektor Karl Gustav Mitglied der DKoP und seit 1920 der DNVP, MdR (1898–1903, 1907–1912 und 1914–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1924), Vorsitzender des Bundes der Landwirte (1893–1920) Waldemar Mitglied der DKoP, MdR (1893–1903), Generalleutnant und Politiker Richard Regierungsrat im RVA (1885–1917) Franz Xaver Mitglied des Zentrums, MdR (1890–1913), unbekannt Versicherungs-Mathematiker Ludwig Werkführer der Württ. Metallfabrik Gleischingen Vorname Elisabeth Georg

Seite 80, 169 114, 162 26, 65, 76f., 84, 86, 91, 99, 104

75, 82, 127 63ff., 77, 83, 100, 106, 118f., 125, 195 83

56 143 77f. 60 49

206

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Schmidt

Vorname Reinhart

Schmoller von Gustav Friedrich Schraut von Max Schulze

Hermann

Sittart

Hubert

Spahn

Peter

Speck

Karl Friedrich

Staudy von

Ludwig

Stengel von

Hermann

Stier-Somlo Stötzel

Fritz Gerhard

Stumm-Halberg von

Carl Ferdinand

Funktion / Erläuterungen Mitglied der FoVP (1881–1884), der DFrP (1884–1893) und der FrVp (1893–1909), MdR (1881–1884 und 1887–1907),1. Vizepräsident des Reichstages (1895–1898), 2. Vizepräsident des Reichstages (1898–1900), Fabrikbesitzer Professor, Mitglied des Vereines für Socialpolitik Kaiserlicher Statthalter in Elsass-Lothringen Mitglied der DFoP, MdR (1867–1883), Jurist Mitglied des Zentrums, MdR (1901–1918), Lehrer Mitglied des Zentrums, MdR (1884–1917), Vizepräsident des Reichstages (1895–1898 und 1909–1911), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1925), Jurist Mitglied des Zentrums, MdR (1898–1914), Bayerischer Staatsminister der Finanzen (1919–1920) Mitglied der DkoP, MdR (1877–1912), Rittergutbesitzer Bayerischer Ministerialrat und stellvertretender Bevollmächtigter beim Bundesrat (1881–1903), Staatssekretär im Reichsschatzamt (1903–1908) Professor Mitglied des Zentrums, MdR (1877–1893 und 1898–1905), Dreher, Redakteur Mitglied der FkP (1867–1871) und der DRP (seit 1871) MdR (1867–1901), Eisenhüttenbesitzer

Seite 72, 100, 176, 178

51, 108f., 194 145 39 91 103f., 175

104

58 114, 159f.

167, 170ff. 78, 80, 82, 85 80, 83ff., 87ff., 112, 169, 192

207

Personenverzeichnis

(Fortsetzung) Name Südekum

Vorname Albert

Sydow

Reinhold von

Thielmann von Trimborn

Max Franz Guido Carl

Wagner

Adolph

Wiemer

Otto

Woedtke von

Erich

Wurm

Emanuel

Funktion / Erläuterungen Mitglied der SPD, MdR (1900–1918), Preußischer Finanzminister (1919–1920), Journalist und Politiker Staatssekretär im Reichsschatzamt (1908–1909), Preußischer Handelsminister (1909–1918) Staatssekretär des Reichsschatzamtes (1897–1903) Mitglied des Zentrums, MdR (1896–1918), Staatssekretär im Reichsamt des Innern (1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, MdR (1920–1921), Jurist und Politiker Professor, Mitglied im Verein für Socialpolitik bis 1877 Mitglied der FrVp, seit 1912 der FoVp, MdR (1898–1918), Jurist, Publizist Geh. Regierungsrat und Geh. Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern (1884–1896), Direktor der II (wirtschaftlichen) Abteilung im Reichsamt des Innern (1896–1901) Mitglied der SPD, MdR (1890–1907 und 1912–1918), Mitglied der Weimarer Nationalversammlung, Staatssekretär der Reichsernährungsamtes (1918–1919), Chemiker, Redakteur

Seite 104f.

161

113 23, 34, 37, 90, 101, 111ff., 114ff., 121ff., 132, 134, 163, 176

19, 108, 184 164 42, 66, 87

73

Beiträge zu Grundfragen des Rechts Herausgegeben von Stephan Meder Die drei Grundfragen des Rechts, die vor gut zweihundert Jahren der Rechtsgelehrte Gustav Hugo formulierte – »Was ist Rechtens?«, »Wie ist es Rechtens geworden?« und »Ist es vernünftig, daß es so sey?« – stellen sich bis heute. Die Frage nach dem geltenden Recht zielt heute nicht nur auf dessen Prinzipien und Regeln, sondern auch auf das Verhältnis von Gesetz und Recht, juristischer Geltung und sozialer Wirklichkeit. Die Frage nach der Geschichte des Rechts betrifft auch das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Rechtsquellen sowie das Verhältnis von Tradition und Gegenwartsbezug der Rechtsinhalte. Die Frage nach den richtigen Inhalten des Rechts bezieht sich heute vor allem auf das rechtliche Verhältnis zwischen der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen und dem notwendigen Mindestmaß sozialer Gleichheit und Gemeinwohlbindung des Rechts. So sind die Grundfragen des Rechts niemals von lediglich theoretischer Bedeutung, sondern haben einen unmittelbar praktischen Bezug zur Rechtsentstehung, Rechtsauslegung und Rechtsanwendung. Antworten auf diese Fragen versuchen aus unterschiedlichen Perspektiven die Beiträge dieser Reihe zu geben.

Weitere Bände dieser Reihe: Band 20: Siegfried Großekathöfer Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau Staatliche Strukturen in der britischen Zone 1945–1949 2016, 152 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0571-8 Band 19: René Roy Die Aufgabe des Eigentums an Grundstücken gemäß § 928 BGB 2016, 173 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0555-8 Band 18: Albert Janssen Die Kunst des Unterscheidens zwischen Recht und Gerechtigkeit Studien zu einer Grundbedingung der Rechtsfindung 2016, 374 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0542-8 Band 17: Heike Krischok Der rechtliche Schutz des Wertes archäologischer Kulturgüter 2016, 266 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0534-3 Band 16: Malte Wilke Staatsanwälte als Anwälte des Staates? Die Strafverfolgungspraxis von Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik 2016, 369 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0463-6

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