Der Briefwechsel 1953-1983 und weitere Materialien
 9783518587416

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Reinhart Koselleck Carl Schmitt ·

Der Briefwechsel Suhrkam

Das Briefgespräch zwischen einem der be­ deutendsten Historiker des 20. Jahrhun­ derts, Reinhart Koselleck, und dem so um­ strittenen wie wirkmächtigen Staatsrechtier Carl Schmitt - ein faszinierendes Kapitel der deutschen Ideengeschichte nach 1945

Drei Jahrzehnte lang, von 1953 bis 1983, :Cor­ respondienen der Staatsrechder Carl Schmitt

(1888-1985) und der Historiker Reinhart Koselleck (1913-2006) miteinander. Der Aus­

tausch zwischen dem ehemaligen"Kronjuristen

des Dritten Reiches« und dem späterhin •be­ deutendsten deutschen Historiker des 20. Jahr­

hunderts« (DIE ZEIT) behandelt nicht nur die zentralen Schriften der beiden Protagonisten, sondern auch Kosellecks Werdegang im west­ deutschen Lage

arn

Hochschulbetrieb

und

Schmitts

Rand des akademischen Feldes. Maß­

gebliche Zeitgenossen wie Blumenberg, Haber­ mas

und Heidegger finden darin ebenso ihren

Plarz wie historische Fragen und Begriffe und aktuelle polirische Entwicklungen. Eine Ge­ lehrtenkorrespondenz im Zeichen von »Kritik

und Krise(( - und zugleich ein wichtiges Kapitel der bundesrepublikanischen Ideengeschichte.

Die Edition gilt einerseits Reinhart Kosetlecks

bedeutendstem Briefwechsel, dem

an

Umfang,

Dauer und Intensität kein anderer gleich­ �ommt - eine zemrale Quelle für die intellek­

:uelle Biographie des Historikers. Aufder ande­ :en Seite gewährt sie neue Einblicke in Leben .md Werk Carl Schmitts, eines Juristen und po­ irischen Theoretikers, an dem das öffentliche

>historischer« Betrachtungsweisen, an denen die heutige Historie in so hohem Grade krankt- man den­ ke nur an die Trennung von Soziologie und Historie!- sind mir in verschärftem Masse klar geworden, und ich bin Ihnen für die strenge Mahnung dankbar, die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen. Es liegt in diesem Ansatz zweifellos der einzige Ausweg für die Ge­ schichtswissenschaft, wenn sie überhaupt bestehen will, aus dem

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KoseHeck an Schmitt

Historismus, soweit man unter ihm die Wissenschaft von der >>Re­ lativierung der Werte« versteht. Diese Relativierung (die auch Meinecke vor Augen hat) konnte natürlich nur dann zu einem »Problem« werden, wenn man die einzige Relation, ohne die es keine Historie gibt, nämlich die des »Betrachters« zum histori­ schen »Stoff«, gerade ignoriert. Dieser vermeintlichen Isolation des Historikers entspricht, dass man die »Werte« - immer noch ein Erbe des Naturrechts aus dem 18.ten Jahrhundert, wie an Meinecke zu sehen ist- als eigentlich »an sich« bestehende Grös­ sen aufgefasst hatte. Die meisten neuzeitlichen Werte waren in einem geschichtsphilosophischen Jenseits zur Geschichte entstan­ den und verloren ihre Geltung, im Masse als sich die konkrete Ge­ schichte gewandelt hat, d. h. im Masse als die den Werten vorge­ ordnete Geschichtsphilosophie ihres konkreten Sinnes, den sie in der Situation des achtzehnten Jahrhunderts hatte, beraubt wurde. Die Rückbeziehung der Werte auf die Geschichte als einen sich wandelnden Prozess, wie sie die Historiker- zum Teil im Gegen­ zug gegen den »Marxismus«- dann vollzogen haben, bleibt solan­ ge eine unzureichende Auskunft, als die stillschweigenden Voraus­ setzungen der Geschichtsphilosophien nicht gebrochen sind. Die sogenannte Relativierung der Werte durch ihre Einordnung in den geschichtlichen Prozess ist in hohem Masse geschichtsphilo­ sophisch vorbelastet und spezifisch ungeschichtlich, da sie nur

durch einen unendlichen, in der Vergangenheit verschwimmen­ den Fluchtpunkt ermöglicht wird. Die Werte verflüchtigen sich zu schemenhaften Tendenzen, die aus irgendwelchem Dunkel emporsteigen, um sich zu verfilzen, ihre Vorzeichen einzutauschen und was dergleichen mehr geschieht. Immer aber bleiben diese Tendenzen und auch ihre Rückbeziehung auf den geschichtlichen »Prozess« (im eingebürgerten naturalistischen Sinne) gebunden an die linienhafte Zeitkonstruktion der Geschichte, deren Evi­ denz mathematisch und geschichtsphilosophisch ist. Der Abbau der fortschrittlichen Zukunft hat die Historie nicht davor be­ wahrt, eine linienhafte Vergangenheit beizubehalten, in der jede

Januar 1953

IT

Situation, die eigene sowohl wie die »betrachtete«, verschwimmt. Der Historismus ist so sehr eine historistische Erscheinung, dass er selber seine geschichtliche Grundlage in einer Geschichtsphilo­ sophie hat, die der Situation des Bürgertums im 18.ten Jh. zuge­ ordnet ist, nicht aber seiner eigenen. Er ist ein Restprodukt, das Macht und Dauer der bürgerlichen Denkform manifestiert, und nicht wie Meinecke meint, eine genuine Leistung. Er ist so wenig eine Antwort auf unsere Situation, als er vielmehr selbst ein Teil dieser Situation ist, da er sie nicht, wie es seine Aufgabe wäre, zum Begriff erheben kann. Infolgedessen fällt er unter die geistigen Tätigkeiten, die zu Recht ideologisiert werden können. Der Historismus ist bei der resignierenden Feststellung angelangt, dass die Relativität aller geschichtlichen Ereignisse und Werte als »Relativität« absolut anzusetzen sei. Hier setzen- soweit ich sehe­ alle Analysen der Geschichdichkeit ein. Man sollte durch diese immer noch sehr historiegraphische Einsicht endlich durchsros­ sen zu einer Geschichtsontologie, die nicht mehr methodisch letz­ te Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben, und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann. Das Fehlen einer solchen Ontologie - in Hinblick auf die historische Begriffsbildung- verhinderte dauernd einen sicheren Zugriff auf meinem Studiengebiet. Freyer hat mit seiner »Weltge­ schichte Europas« in dieser Richtung viel geleistet, und besonders liegt natürlich Ihren Schriften und Büchern eine solche Ontologie der Geschichte zugrunde, die von Golo Mann nur deshalb ver­ kannt werden konnte, weil er die juristischen Begriffe als einen im­ manent wissenschaftsgebundenen Überbau auffasste. Oie Reduktion aller geistigen Äusserungen auf die Situation setzt allen weiteren Relativierungen nach vorne und hinten, nach oben und nach unten ein absolutes Ende. Oie Endlichkeit des geschicht­ lichen Menschen wäre also in den Blickpunkt zu rücken, nicht in Hinsicht auf das individuelle Dasein und auch nicht in Hinsicht auf eine unendlich ferne Grenze, an der die »Totalgeschichte« ein-

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KoseHeck an Schmitt

mal ein Ende nehmen wird (und an der der Historiker jetzt schon seine »Grenzerfahrungen« sammelt), sondern in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also in Hinsicht auf die Struk­

turen einer >>Situation«, ohne die es soecwas wie Geschichte gar

nicht gibt. Die Geschichte ist dem Menschen nicht transzendent, weil sie weitergeht, wenn dieser oder jener Mensch stirbt, sondern es durchherrscht eine Endlichkeit die menschlichen Dinge, die den Geschichtsraum, der den jeweiligen Menschen zugeordnet ist, dauernd in Frage stellt. Die Lehre von dieser Endlichkeit ist als Eschatologie auch aller Geschichtswissenschaft ontologisch vor­ zuordnen. »Herr und Knecht«, »Freund und FeindTatsachenWeltgeschichte

Europas< ein grosser W urf>Examinatoren«. -Rhadamanchys ist in der griech. Mythologie ein kretischer Herrscher und Totenrichter in der Unterwelt (Hades). In Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924) wird Hofrat Bebrens häufig als »Rhadamanth« oder auch »Rha­ damanthys« beuichnet. WC�t du, daß du schon ein halber Freimaurer bist?: Diese Frage stellt der

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Freimaurer Falk dem jüngeren und wißbegierigen Ernst im zweiten Gespräch von Gotthold Ephraim Lessings Werk Ernst und Falk. Ge­ spräche für Freimaurer (1778). In KoseHecks Dissertatonsschrift ist die Freimaurerei das zentrale Thema des zweiten Kapitels über den »Dualismus von Moral und Politik als Voraussetzung und als Aus­ druck einer indirekten Gewaltnahme« (Kritik und Krise [1954D. S. 57-92). Don wird auchjene Frage ritiert (S. 83). im Januar I Plettmberg: Siehe Nr. 5 und 7-9. Collingwood: Bei den genannten Werken des englischen Geschichtsphilo­ sophen R.[obin) G.[eorge) Collingwood (1889-1943) handelt es sich um: An Autobiography, London: Oxford University Press 1939; The New Leviathan: or Man, Society, Civilisation and Barbarism, Oxford: Clarendon Press 1942. Hobbes: Der für Schmins wie Kosetlecks politisches Denken zentrale eng­ lische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) floh 1640 nach Frank­ reich. Nachdem er sich auch dort von politischer Verfolgung bedroht sah, kehrte er 1651 nach England zurück, wo er sich mit seinem im seihen Jahr erschienenen staatstheoretischen Hauptwerk Leviathan er­ neut Feinde schuf. Nach der Restauration des Stuan-Königtums 166o geriet er unter noch stärkeren Druck. Schmirc bezieht sich auf einen Passus in KoseHecks Doktorarbeit, wo Hobbes als »ein zwiefa­ cher Emigrant der inneren sowohl wie der äusseren Emigration« be­ zeichnet wird (Kritk und Krise [1954), S. 27). Locke: Der englische Philosoph John Locke (r632-1704) lebte zwischen 1683 und 1688 im hoiJändischen Exil. Nach dem Sieg der protestan­ tisch-bürgerlichen Partei, der Glorious Revolution (1688/89), erfreute er sich in seinem Heimatland großer Wertschätzung. - In der Charak­ terisierung Lockes als »siegreicher Remigrant« klingt die ablehnende Haltung des •Besiegten< Schmitt gegenüber Remigranten in der frü­ hen Bundesrepublik an.

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Kosetleck an Sehrniet KOSELLECK AN SCHMITT

Bristol, 29. November 1953

43, Sylan Way Sea Mills Bristol 29.11.53. Sehr verehrter Herr Professor, Mit grosser Freude habe ich Ihren Brief erhalten, für den ich Ih­ nen herzlich danke. Mit sehr unterschiedlicher Spannung warte ich nun auf das Gespräch, das ich mit Ihnen führen darf, und auf den Ablauf der Heidelberger Promotionsmaschine. Die War­ nung Lessings wird mir niemand zurufen. Wohl aber wird man sich auf die vermeintliche Neutralität einer wissenschaftlichen Methodik berufen können, um mir im Namen eines methodisch jeweils anderen Zugriffs Unwissenschaftlichkeit vorwerfen zu können. Und zweifellos habe ich mich taktisch zu wenig darauf eingestellt. - Professor Kühn ist wesenhaft so tolerant, dass er mei­ ne Fragestellung gelten lässt, aber ich fürchte, dass ich mit der vor­ liegenden Arbeit seine Toleranz schon so sehr ausgelastet habe, dass er keinen Schritt darüber hinaus unternimmt, wenn es nötig sein sollte, (In dem Urteil über Meinecke weiss ich mich übrigens

mit ihm einig). So bleibt das Referat von Professor Löwith noch

abzuwarten, zu dessen geschichtsphilosophischer Skepsis -wenn sie nicht der Emigration entspränge! - meine Arbeit keineswegs in notwendigem Widerspruch stehen muss. Vorläufig scheinen beide Referate noch auszustehen, und ich bin mir über den Termin einer mündlichen Prüfung noch völlig im Ungewissen. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass das Rigorosum noch vor Weihnachten angesetzt wird, andererseits die Prüfung vielleicht in der ersten Januarwoche stattfindet, habe ich die Frage, ob ich Sie, sehr verehrter Herr Professor, anstatt im Januar kurz

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vor Weihnachten besuchen darf? Ich werde zwischen dem 17. und 20. Dezember über Westfalen nach Hause fahren und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir schreiben würden, ob ich Sie etwa in diesen Tagen einmal besuchen darf. Wenn die Prüfung im Januar angesetzt werden sollte, gerate ich vielleicht in Zeitknappheic, da das Semester hier am r5. Jan. beginnt. Ich habe gerade die hervorragende Einleitung zu Hobbes' Levia­ than von Michael Oakeshott (London 1946) in die Hand bekom­ men, die Sie ja wahrscheinLich kennen. Die entscheidenden Un­ terschiede von Autorität und Macht, von Natur-und-Staatsrecht, die vor allem rationale Konstruktion und die Bedeutung des christlichen Staates bei Hobbes werden sehr scharfherausgearbei­ tet. Sollten Sie diese Ausgabe noch nicht kennen, oder nicht besit­ zen, aber Wert darauf legen, würde ich sie gerne für Sie erwerben; (in Bristol ist die Oakeshottsche Edition z. Z. nicht zu haben) . Das Gleiche gilt natürlich fürjedes andere Buch, das Sie vielleicht aus England brauchen. Mit herzlichen Grüßen bin ich in Verehrung Ihr Reinhart KoseHeck

ÜBERLIEFERUNG 0: Ts.; mit Notiz Schmitts; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Sylan Ulay: Korrekt lautet der Straßenname »Sylvan Way«. lhrm Brief Nr. 6. das Gespräch: Siehe Nr. 9 · Ularnung Lessings: Siehe Nr. 6 und Anm. Urteil über Meinecke: Siehe Nr. 6. Einleitung zu Hobbes' Leviathan: Thomas Hobbes, Leviathan. Edited with an introduction by Michael Oake shott, Oxford: BlackweiJ 1946.

Schmitt an Koselleck

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SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg, 2. Dezember 1953

Prof. Dr. Carl Schmitt

Plectenberg II (Westf.) Brockhauserweg ro

2. 12.53

Lieber Herr Koselleck, natürlich sind Sie mir auch n i der Zeit vom

17. bis 20. Dezember hier willkommen. Die Leviathan-Ausgabe von Michael Oakeshott besitze ich. Nachdem ich auch die beiden Bücher von Collingwood (Autobiography und The New Levia­ than) erhalten habe, brauche ich im Augenblick kein englisches

Buch. Vielen Dank für Ihr freundüches Angebot! Auf ein gutes Wiedersehen stets Ihr Carl Schmitt. Kleine, praktische Reiselektüre folgt gleichzeitig als Drucksache!

ÜBERLIEFERUNG 0: Ts.; gedruckter Briefkopf; mit hs. Ergänzung; DLA Marbach, Nachlaß Reinhart Koselleck.

Ltviathan-Ausgabe: Siehe Nr. 7 und Anm. Bücher von Collingwood: Siehe Nr. 6 und Anm.

Reiselektüre: Carl Schmitt, •>Nehmen I Teilen I Weiden. Ein Versuch, die

Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen«, in: Gemeinschaft und Politik r (1953), H . 2, S. I 7änger von Freiexemplaren, 27 (laut Schmitts Verzeichnis der Empf Sonderdrucken u. ä. in: LAV NRW, RW 265-196oo). In Kosetlecks Bibliothek (BRK) ist der Sonderdruck nicht überliefert.

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KOSELLECK AN SCHMITT

Hannover, 30. Dezember 1953

Hannover-Waldheim Brandensteinsu. 37 30. 12. 1953·

Sehr verehrter Herr Professor, für die freundliche Aufnahme, die ich bei Ihnen gefunden habe, danke ich Ihnen herzlich. Auf meiner Heimfahrt erfuhr ich von Kestings unglücklicherweise z u spät, daß Ihnen der Sonnabend eigendich gelegener war. So hoffe ich nun, daß meine unsicher ge­ meldete Ankunft Sie nicht allzusehr gestört hat. Wenn man aus dem grünen Einerlei der englischen Atmosphäre zurückkehrt, ist es beruhigend zu wissen, daß die Spannungen, denen man sich als Deutscher und Kontinentaleuropäer ausge­ setzt sieht, ihren geschichtlichen Ort haben und nicht »abstrakt«

sind, wozu sie der »Common Sense« zu stempeln sucht. Und wenn man zu diesem Ort - gleichsam persönlich in Ihrem Hau­ s e - Zutritt findet, dann darf ich darin einen zusätzlichen Grund erblicken, Ihnen, sehr verehrter Herr Professor, dankbar zu sein. Einen besonderen Dank möchte ich hinzufügen für die Kritik, der Sie meine Dissertation unterworfen haben. Ihr Hinweis auf die Priorität des Historischen vor dem Systematischen in meiner Arbeit, die ich im Aufbau nicht genügend berücksichtige habe, trifft eine Hauptschwäche meiner ganzen Dissertation. Ich habe im Stillen dauernd mit dieser Schwierigkeit gerungen, und an meiner eigentlichen Intention gemessen habe ich unentwegt Kon­ zessionen an die Historie gemacht, ohne mir das so recht einzuge­ stehen. Es fehlt eben an einer klaren Grundlegung der ))Geschicht­ lichkeit«, um das Problem der Differenz zwischen Geschichte als

Historie und Geschichte als der eschatologischen Struktur mensch-

Koselleck an Schmitt

Iichen Handeins und Leidens ungehindert umgehen bzw. hinter­ fragen zu können. Ihr zweiter Einwand, daß ich zuviel ausgesprochen habe und zu unvorsichtig war in der Niederschrift, hängt mit dem ersten eng zusammen, denn was heißt er anderes, als das zu verschweigen, was man - gleichsam systematisch - in der Geschichte erfahren hat und was man durch die Historie nicht erlernen kann. Dieser Einwand hat mich während der Niederschrift ständig begleitet und verfolgt. Und ich habe meine ganze Energie darauf verwandt, meine Skrupel niederzuhalten, um überhaupt zu einer Aussage zu kommen, anstatt meine Feststellungen durch die Skrupel zu regu­ lieren. lch scheine noch etwas von jener unreifen Penetranz an mir zu haben, die sagen zu müssen glaubt, was sie weiß. Freilich verbirgt sich dahinter die ganze Frage nach der Wissenschaft­ lichkeit der >>Geschichte>immer zu spät« sei. Stichfragen nach konkretem Wissen und Beurteilungen geschichtlicher Probleme, z. B. der Rolle der Reformation für die verschiedenen europäi­ schen Staaten, hielten einander die Waage. Ich habe die Examina, wie ich von Forsthoff selber und sonst von vierter Seite erfuhr, mit zwei »magna« und in Geschichte mit »Summa« passiert und darf also inoffiziell mit einer gewissen Zufriedenheit auf sie zurückbli­ cken.

Ich muss noch eine meiner letzten Äusserungen in unserem Plet­

tenberger Gespräch berichtigen: Professor Kühn kennt sehr wohl Ihren »Nomos der Erde« und beruft sich in seiner neuesten Veröf­ fentlichung ausdrücklich auf das Werk im ganzen und zitiert die

>>zwei Wahrheiten« über das Völkerrecht und die Frage der Ab­ schaffung des Krieges (S. 219 Mitte) im besonderen. Das Zitat be­ findet sich in einem Aufsatz über >>Das Geschichtsproblem der Toleranz« in einer internationalen Gedenkschrift: »Autour de Mi­ chel Server et de Sebastien Castellion«, Recueil publ. sous la dir. de B. Becker, Prof. a l'univ. d'Amsterdam, H. D. Tjeenk Willink

u. Zoon N.V. Haarlern 1953 p. 28, und zwar insofern an exponier­ ter Stelle, als es zur Unterstützungdes letzten Satzes herangezogen wird. Dieser Satz butet: »Jeder Versuch, ein Zeitalter reinen Gel-

Koselleck an Schmin tenlassens mit Gewaltmassnahmen heraufzuführen, führt zu neu­ er Zerstörung und Unterdrückung«, und ist für Kühn bezeich­ nend, da er echte geschichtliche Einsichten (»Geschichte duldet keine Dauersicherheit«, 14) immer mit neukantianischen Termini auffrisiert. Der Begriff der Toleranz ist für ihn »das Ertragen des Anderen. Besser noch (weil positiver): das Geltenlassen des >Ande­ renFreizeit« und in bezahlten Ferien, ein englisches Thema zu behandeln, das ich in Amerika, wohin man vielleicht durch ein Stipendium gelangen könnte, fonsetzen kann. Ich könnte dann in beiden folgenden Jahren aufden Spuren meiner bisherigen Arbeit versuchen, die Fortschritts (und Kreis­ lauf-) Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts mit ihren politi­ schen und geschichtlichen lmplikationen zu untersuchen. Ich weiss freilich nicht, ob in diesem Fragenkreis: England-Kontinent, Europa-Amerika, Welteinheit und Revolution, über Ihre Feststel­ lungen hinaus im Augenblick Neues gesagt werden kann, wenn mir auch eine entsprechende Quellendurchsicht und Materialan­ ordnung viel Freude machen würde. Es fragt sich für mich, ob ich auf diesem Gebiet, das mir relativ wenig Vorarbeit kosten würde, eine Habilitationsschrift zusammenzustellen versuchen soll. Es gäbe natürlich noch eine FüUe anderer Themen, die wie ich glaube noch keine sachgerechte Darstellung gefunden haben, z. B. die zu­ nehmende »Demokrarisierung« Englands und die diesem Vorgang korrespondierende Rolle des Empires, oder Disradi und Marx. Mit solchen Fragen kann ich mich gut beschäftigen, wenn ich in England bleibe. Dem gegenüber steht die Anfrage oder der Vorschlag, den Popitz in den Weihnachtstagen mir machte, ob ich nicht Lust habe, im Dortmunder Institut mitzuarbeiten. Obwohl ich mit den Einzel­ heiten der dortigen Arbeit natürlich nicht vertraut bin, glaube ich doch, dass ich nach dem, was ich von ihr gesehen habe und soweit ich auch durch Herrn Kesting Einblick in sie gewonnen habe, an dem Dortmunder Institut eine sinnvolle und zufriedenstellende Tätigkeit leisten könme. Im Augenblick jedenfalls bin ich noch unsicher (bis zum April muss ich mich entscheiden), ob ich noch für ein weiteres Jahr in England bleiben soll. Die Assistentenstelle für neuere Geschichte in Heidelberg, in der

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KoseHeck an Schmitt

mich Kühns Kollege für mittelalterliche Geschichte, Prof. Ernst­ wie er mir sagte - gerne gesehen hätte, steht mir sicher nicht offen, da Kühn nichts davon sagte und zudem kurz vor seiner Emeritie­ rung steht. Jetzt habe ich Ihnen etwas unvermittelt meine augenblickliche La­ ge und einige Fragen, die durch sie gestellt werden, dargestellt, und indem ich Sie bitte, darin mehr ein Zeichen meines Vertrauens zu erblicken, möchte ich die Bitte hinzufügen, mir Ihren guten Rat zu erteilen, falls und wo er Ihnen angebracht scheint. Jetzt möchte ich Ihnen noch die versprochenen Hobbes-Stellen zur Frage der Endlichkeit der Erde nennen. Ich habe zwei notiert. Die eine befindet sich in Oe cive (Werke Lat. li, 137, Ep. ded.): Wenn die menschlichen Handlungen mit der gleichen Gewissheit wie geometrische Figuren erkannt würden, sei Friede gewiss »fruereturque gens humana pace adeo constante, ut non videatur, nisi de loco, crescente scilicet hominum multitudine, unquam pugnandurn esse«; und die andere steht im Leviathan li, c. 30: Man müsse die anwachsende Zahl der Armen in siedlungsarme Gebiete verpflanzen . . . »And when all ehe world is overcharched with Inhabitants, then ehe last remedy of all is Warre: which pro­ videm for every man, by Victory, or Death«. (Ob Hobbes hier das Bild eines siegreich kämpfenden und eines untergehenden Schif­ fes vor Augen gehabt hat?). - Die Engländer, zu deren Standard­ lektüre, wie ich mir habe sagen lassen, bis vor zwanzigJahren das Werk von Malthus gehörte, haben nicht nur in ihrer eigenen Ge­ schichte (bes. z. Z. der Kontinentalsperre), sondern vor allem in der Geschichte der irischen Insel ein ständiges Beispiel vor Augen für Übervölkerung und Hungersnot. 1821 betrug die irische Be­ völkerung 7 Mill., d. h. fast die Hälfte der Kopfzahl Englands; 1846/7 sank die irische Bevölkerungszahl aufGrund der Kartoffel­ missernte von Acht auf Viereinhalb Mill. Ich kann im Augenblick nicht feststellen, wieviel Millionen durch Hunger umgekommen und wieviel ausgewandert sind. Vielleicht interessiert Sie in die­ sem Zusammenhang eine Literaturangabe : S. Talbot Grifflth: Po-

Februar 1954

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pulation Problems of the Age of Malthus, Cambridge 1926 (Ich kenne das Buch nicht). Der Gebrauch statistischer Methoden be­ ginnt in England mit einer Bevölkerungszählung 1801, die in einer Zeit sozialen Massenelends endlich Klarheit in der seit den siebzi­ ger Jahren heiss diskutierten Frage schaffen sollte, ob die Bevölke­ rung nun wirklich zu-oder-abnimmt. Mit diesem Hinweis möchte ich mich für heute verabschieden und verbleibe mit freundlichen Grüssen, auch an Ihre Tochter in Ergebenheit Ihr Reinhart KoseHeck Den Aufsatz von Hume, den ich Ihnen mit der gleichen Post über­ sende, habe ich erst jetzt (durch Bestellung) erhalten. ÜBERLIEFERUNG 0: Ts.; mit hs. Korrektur KoseHecks sowie Notizen und Ansueichungen Schrnitts; LandesarchivNRW, Nachlaß Carl Schrnitt.

Rigorosum: Vgl. zu KoseHecks mündlicher Prüfung am 21. Januar 1954 auch: Dankrede, S. 52. Dekan: Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Erich Preiser (19001967) war von 1947 bis 1956 o. Prof. für Sozialwissenschaften an der Universität Heidelberg und 1953/54 Dekan der Philosophischen Fa­ kultät.

»Nomos der Erde«: Siehe auch Nr. 1, II, 13, 14, 21, 31, 32, 79, 83 und 89. Aufsatzüber »Das Ge.schichtsproblem der Toleranz«: Johannes Kühn, »Das Geschichtsproblem der Toleranz«, in: Autour deMichel Servet et de Se­ bastien Castellion, recueil publie sous Ia dlrcction de Bruno Becker, Haarlem: Willink & Zoon 1953, S. 1-28.

NZ: Neuzeit.

Taubes: Der Rabbiner und ReligionsphilosophJacob Taubes (1923-1987) wurde 1947 in Zürich mit »Studien zur Geschichte und System der abendländischen Eschatologie« promoviert und nach Lehrtätigkeiten in den USA und Israel 1966 o. Prof. fürJudaistik und Hermeneutik an der FU Berlin. Seine wichtigste Publikation, die wohl auch KoseHeck

KoseHeck an Schmin im Kopf hat, blieb die aus der Dissertation hervorgegangene Mono­ graphie: Abendländische Eschatologie, 1. Aufl Bern: Francke 1947 (zu­ letzt 3· Aufl. Berlin: Matches & Seitz 2007, mit einem Nachwort von Mactin Treml). Mit Kosetleck kam Taubes ab 1964 bei Tagungen der Forschungsgruppe >Poetik und Hermeneutik< (siehe Nr. 94) näher in Kontakt (vgl. v. a. Jacob Taubes, >>Geschichtsphilosophie und Histo­ rik. Bemerkungen zu KoseHecks Programm einer neuen Historik>Benito Cereno«. Das geplante Gespräch Schmim im HR-Abendstudio wurde, nachdem nach Raymond Aron auch Helmut Schelsky und Arnold Gehlen abgesagt hatten, am 21. Ju­ ni 1954 von zwei professionellen Sprechern eingesprochen, am Tag da­ rauf unter dem Titel »Prinzipien der Macht« gesendet und dann auch publiziert. Vgl. Carl Schmitt, Gespräch überdie Macht und den Zugang

zum Machthaber, Pfullingen: Neske 1954 (Neuausgabe mir einem Nach-

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wort von Gerd Giesler, 3· Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2017). Siehe Nr. 13-16.

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KOSELLECK AN SCHMITT

Bristol, 2 8 . Mai 1954

Bristol, 28. Mai 1954 43, Sylvan Way, Sea Mills Sehr verehrter Herr Professor, Ihre beiden Briefe vom 30l3. und 14l5., für die ich Ihnen herzlich danke, erinnern mich daran, dass ich ein saumseliger Briefschrei­ ber bin. Von einer längeren Krankheit abgesehen, die mich nach einer schönen Ferienwoche an der adantischen Südwestküste von Wales plötzlich überfallen hatte, weiss ich nichts zu meiner Ent­ schuldigung vorzubringen. Mit besonderer Freude empfing ich die Anzeige, die von der Neu­ auflage Ihrer Verfassungslehre kündet, - eine Nachricht, die ich kurz zuvor schon von anderer Seite erhielt. Zu diesem Ereignis möchte ich Ihnen meine herzlichen Glückwünsche aussprechen, die sich in entsprechender Weise auch auf uns Leser beziehen dür­ fen. Ich bin froh, in absehbarer Zeit ein Werk besitzen zu können, das mir in Heidelberg immer nur in einem zerlesenen Exemplar zur Verfügung stand und das ich immer mit einer gewissen Resig­ nation auf die Bücherei zurücktrug, da es sich - wie wenige Bü­ cher nur - durch keine Exzerpte bewältigen lässt. So empfinde ich es auch durchaus als sinnvoll und notwendig (von den äusse­ ren Notwendigkeiten abgesehen), dass Ihr Werk in einer unverän­ derten Auflage seinen neuen Weg antreten wird. Ferner möchte ich Ihnen danken für die verschiedenen Hinweise, die Sie mir gegeben haben. Mit Herrn Darenberg werde ich mich

Mai 1954

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in Verbindung setzen. Und die beiden Radiosendungen werde ich

versuchen, in Bristol zu hören, wenn ich auch auf Grund heidel­ berger Erfahrungen etwas misstrauisch sein muss über die Reich­ weite der Frankfurter Welle. Der Luftraum ist eben nicht unser. Meine Arbeiten sind während des zurückliegenden Trimesters in

eine etwas andere Richtung geraten, als ich mir vorgestellt hatte. Eine Wochenstunde über die »Deutsche Geschichte« kostete mich mehr Zeit, als ich zunächst glaubte. Die Kunst, für die ziemlich voraussetzungslosen Zuhörer anschaulich zu bleiben und den­ noch greifbare allgemeine Ergebnisse vorzulegen, ist gar nicht leicht;

und so bedurfte es mancher Vorarbeiten, vor allem, um Vergleiche und Komraste aus der englischen Geschichte heranzuziehen, mit der die Zuhörer fast ebensowenigvertraut waren. Schliesslich muss­ te ich eine kleine Vorlesung ausarbeiten über den sozialen und po­ litischen Hintergrund der »Goethezeit«, wobei ich mir allerhand wichtiges Material zusammengelesen habe. Goethes Verhältnis zu Napoleon ist bekannt, aber dass die zehn

klassischen Jahre in Weimar von 1795 bis 1805 in den neutralisier­ ten norddeutschen Raum fallen, der vom Baseler Frieden bis zur Schlacht von Jena aus den Revolutionskriegen ausgespart blieb, war mir noch nicht klar. Auch soziologisch betrachtet war die deutsche Klassik noch ein Ereignis des achtzehnten Jahrhunderts. Goethes souveräne »Humanität«, seine Ausgewogenheit und die Gunst des Schicksals, die er sich täglich und tätig zu erwerben wusste,

gründete sozial betrachtet in dem Vermögen, das sein Grass­

vater als barocker Damenschneider und reichsstädtischer Wein­ händler erworben hatte. Von diesem Vermögen lebte der Rat Goethe und es bot die Grundlage für Goethes Erziehung. Sogar in Weimar lebte Goethe noch von frankfurter Zuschüssen. Die »Schriftstellerei« bot keinem unserer Dichter ausreichenden Le­ bensunterhalt, wie in England etwa seit 1750: dort lebten die Poeten von dem Geld, in das sie ihre Dichtungen verwandeln konnten. Schillers Armut ist sprichwörtlich. Aber sein eiserner Aristokratis­ mus, sein Idealismus steht in direktem Zusammenhang mit dem

KoseHeck an Schmin zähen Kampf, den er von unten heraus nach oben führen musste, gegen die »Oberen«, von denen er doch nicht unabhängig wur­ de. - Dies ist so etwa der Gedankenkreis, in dem ich mich in den letzten Wochen bewegt hatte. Nun beginnen hier die leidigen Examina, in die ich nur wenig ver­ strickt bin, deren Strenge und Dauer aber bei den Studenten eine Art Massenpsychose hervorzurufen pflegen. - Ich beabsichtige in der kommenden Zeit, die Editionen der Hakluyt-Society durch­ zugehen. Was ist >>Progress>Revolution« war den Engländern längst ausgegangen: auf dem Kontinent konnten sie freilich den Fonschritt befördern, die englische Gesellschaft selber aber schien sich in Korruption ge­ festigt zu haben, die Unterschichten waren durch Wesley gezähmt und schliesslich durch die Franz. Rev. gefesselt. Man dachte an den amerikanischen Naturrechtlern gemessen sogar >>staatlich>Greater Britain«, das zwischen Amerika und Rußland als dritter Weltstaat fungieren soll. Zu die­ sem Zweck ebnet Seeley den Unterschied zwischen dem »state« England und seinen Kolonien völlig ein. Er betrachtet jede briti­

sche Besitzung als völlig gleichwertiges Staatsgebiet, wenigstens

potentiell. Für diese Betrachtungsweise hat er zwei Gründe an­ zuführen: Einmal die Technik, die den Globus unterschiedslos erfaßt und zusammenrückt, und zweitens - und dies vor allem -

das Vorbild Amerikas. Amerika habe durch die Landnahme im

Wilden Westen bewiesen, daß man, ohne in Einzelstaaten zerfal­ len zu müssen, ein Weltreich aufbauen könne. Eine interessante

KoseHeck an Schmitt Erläuterung

zu

Ihrem Kongo-Kapitel im ))Nomos der Erde«. -

Von solchen Kurzschlüssen sind die heutigen Engländer weit ent­ fernt - soweit ich sehe. Die Rolle der amerikanischen Revolution im englischen Selbstverständnis ist, wie es scheint, noch nicht ge­ schrieben. Ich bin dabei, einiges Material über diese Frage zu sam­ meln. Vor einiger Zeit erhielt ich aus Heidelberg die Nachricht über mei­ ne endgültig erfolgte Promotion. Die Gesamtbewertung ist »mag­ na cum laude«, und zwar, wie Professor Kühn meinem Vater schrieb, ein gesättigtes und allseitiges »magna«. Die Hauptkritik von Professor Kühn, wie, seinem Briefe nach, anscheinend auch von Professor Löwith, richtet sich gegen die mangelhafte Metho­ de, die zwischen drei Fachgebieten, Geschichte, Philosophie und Soziologie hin und herschwenke. Für eine eventuelle Druckle­ gung der Arbeit, die Professor Kühn sehr wünscht, hat er einige Verbesserungsvorschläge, über die ich im Einzelnen noch nicht unterrichtet bin. Für die sieben Pflichtexemplare dagegen besteht er nicht aufeiner Umänderung, was allem Ansebein nach auch für Professor Löwith gilt. Sollte es je zu einem Druck kommen, so werde ich die Arbeit selbstverständlich einer gründlichen Revi­ sion unterziehen, zu der ich mich nach dem einjährigen Abstand wohl für fähig halte. Über Professor Löwiths Gutachten weiß ich also im Einzelnen nichts; jedenfalls scheint es für das Urteil der Fakultät keine grundsätzlichen Hemmungen enthalten zu ha­ ben. - Damit wäre das Kapitel meines Heidelberger Studiums ab­ geschlossen, das, wenn irgend anders, sicher nicht ohne Ihre Wer­ ke, sehr verehrter Herr Professor, zu denken gewesen wäre. Zu meiner großen Freude sandte mir Anima Ihre dritte Strophe zu Heideggers sinnendem Sagen. Heidegger sollte dankbar dafür sein, wie philologisch getreu Sie in viermaligem Doppelsinn die ontologische Differenz zu treffen wissen. Mit herzlichen Grüssen bin ich in Ergebenheit Ihr Reinhart Kaselleck

Juli 1954 ÜBERLIEFERUNG

0: Hs.; mit Notizen undAnstreichungen Schmitts;

Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

»Gespräch über die Macht«: Siehe Nr. 12, 13, 15 und 16. Gmftr Konferenz: Auf der Genfee Konferenz vom 26. April bis 20. Juli 1954 wurde über den Ersten lndochinakrieg und die Folgen des Korea­ kriegs verhandele. Neben den Kriegsparteien Frankreich und den Vier Minh nahmen auch Vertreter Chinas, Großbritanniens, der Sowjet­ union und der Vereinigren Staaten teil. lnfolge des Genfee Abkom­ mens zog sich Frankreich aus Indochina zurück, Laos und Kambo­ dscha wurden unabhängig, und in Vietnam trat ein Waffenstillstand

in Kraft. Im Hinblick aufdie Lage in Korea konnten keine Beschlüsse gefaßt werden.

Südostasiatischer Verteidigungspakt: Die Southeast-Asia Treaty Organiz.a­ tion (SEATO) wurde im September 1954 in Manila zwecks Eindäm­

mung der kommunistischen Expansion in der Region gegründet. Mit­ gliedsstaaten der bis 1977 bestehenden Organisation waren Australien, Frankreich, Großbritannien, Neuseeland, Pakistan, die Philippinen,

Südvietnam, Thailand und die Vereinigten Staaten. Im Vorfeld kam es zu einer diplomatischen Krise zwischen den USA und Großbritan­ nien, da man sich in London durch dk amerikanischefoit accompli­ Polirik eingeengt fühlte und die Möglichkeit freier Verhandlungen mit den kommunistischen Mächten durch den geplanten Pakt be­ droht sah.

Seeley: Der englische Historiker John Roben Seeley (1834-1895), seit 1869 Prof. an der Universicy of Cambridge, legte mit seinem Werk

The Expansion ofEngland (1882) eine einschlägige historische Recht­ fertigung des britischen Imperialismus vor. Gegensatz von Land und Meer: Vgl. Carl Schmitc, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig: Redam 1942 (annotiertes Exem­ plar in BRK mit Besitzvermerk von 1950). Siehe Nr.

II,

13, 19b und 20.

Kongo-Kapitel: Vgl. Nomos, S. 188-200. endgültig erfolgte Promotion: Siehe Nr. 10 und 13. - Johannes Kühn

schloß sein ausführliches Gutachten vom 22. März 1954 wie folgt:

»Zu einem Ureeil

zu

kommen ist insofern leicht, als das Niveau

und die Stoffkenntnis und zugleich -Überlegenheit wohl zum höch-

Koselleck an Schmitt sten gehört, das bei wissenschaftlichen Erstlingsarbeiten - K. ist übri­ gens schon über 30 Jahre- überhaupt vorkommt. Andererseits ist doch nicht Alles vollendet, gereift, ausgewogen. Ich würde die Note 1-2 für gerecht halten. Summa c. I. - magna c.l.« Kar! Löwith urteilte in sei­ nem kurzen Zweitgutachten vom 5· Mai 1 95 4 sehr viel kritischer: »Die ganze Arbeit leidet, wie fast alle soziologischen Arbeiten dieserArt, an einem zweifachen Mangel: es fehlt ihren stets interessanten aber oft unverbindlichen Analysen + Konstruktionen eine gründliche histori­ sche Schulung und andrerseits eine genügend durchdachte philoso­

phische Grundlegung. Der Reichtum an Kenntnissen + das hohe Ni­ veau der sehr gewandten Darstellungrechefertigen m. A. n. noch nicht das höchste Prädikat und ich fände magna c.l. angemessener�Im •Waldgang< hat Ernst Jünger das Schiff und den Wald miteinander verglichen: >Und zwar

soll hier der Mensch auf dem Schiff an dem im Walde sich das

Maß nehmen - das heißt der Mensch der Zivilisation, der Mensch der Bewegung und der historischen Erscheinung an seinem ruhenden

und überzeitlichen Wesen, das sich in der Geschichte darstellt und ab­ wandelt.< [/] Im Gegensatz zu dieser Relation von Schiff und Wald bringen wir im Folgenden das Schiff in den Zusammenhang unserer elementaren Unterscheidung von maritimer und terraner Existenz. Das ergibt nicht einen Gegensatz von Schiff und Wald, sondern den von Schiffund Haus. Das Schiff ist der Kern der maritimen Exis­ tenz des Menschen, wie das Haus der Kern seiner terranen Existenz ist.«

Hofmannsthal: Die Hofmannsthai-Zitate stammen aus zwei verschiede­ nen Texten: Vgl. Hugo von Hofmannsthal, »Schiller«, in: Die Zeit (Wien), Nr. 926, 23. April 1905, Morgenblatt (zit. nach: Sämtliche Werke XXXIII. Reden undAufiätze 2, hg. v. Konrad Heumann und El­ len Ritter, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009, S. 72-75, hier S. 72); ders., [»Dem Gedächtnis Schillers. Beiträge zur Schiller-Feier«], in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, Nr. 18, 1. Mai 1905 (zit.

nach: Sämtliche werke XXXIII, S. 93; hier allerdings »nun« Statt »jetzt, da sie Schiffe bauenIndessen muß man nicht versäumen, Ruder und Segel und sonstige Griffe des Handwerks zu benutzen, um

über die Welle des Augenblicks wegzukommen. Als Poet denk ich im­

mer, daß aufs

strandm sich landen reime und somit Gott befohlen« (Brieft, Bd. 4 : 1821-183 2, hg. von Karl Roben Mandelkow, München:

dtv 1988, S. 444 [kursiv im Original gesperrt]).

»das«

Schiller-Bt�ch:

Siehe Nr. 23. - Der Germanist Benno von Wiese

(1903-1987) lehrte seit 1945 an der Universität Münster, bis er 1957 einen Ruf an die Universität Bonn annahm. 1959 legte er >die< große Schillerbiographie vor (Friedrich von Schiller, Stuttgart: Metzler) . Auf dem Gymnasium in Görlitt war Arno KoseHeck Benne von Wieses

Deutsch- und Geschichcslehrer.

Wirtragüber Schilür: Gemeint s i t wohl von Wieses Festrede bei der Schil­ ler-Gedenkfeier der Universität Münster am 9· Mai 1955, die er in Tecklenburg, Kiel, Hamburg, Düsseldorf, Berlin und anderen Städ­ ten wiederholte. Vgl. Benno von Wiese, »Der Dramatiker Friedeich Schiller und sein Verhältnis zur Bühne«, in:

Schiller. Reden zum Ge­

hg. v. Bemhard Zeller, Sruttgart: Klett 1955, S. 334365. Hier werden auch die »Entwürfe zu den sogenannten Seedramen«

denkjahr I955,

(Das Schiff, Die Filibüsriers und Das Sustück) erwähnt, »in denen das Schiff selbst, ein Kriegsschiff, sich unmittelbar in Bühne verwandelt« (S. 343).

Reclamband: Benne von Wiese, Schiller. Eine Einführung in Leben und Werk, Sruttgart: Reclam 1955. Dortmunder Institut: Siehe Nr. 10 und Anm. Prof lpsen: Der Österreichische Soziologe Gwlther Ipsen (1899-1984), promoviert und habilitiere an der Universität Leipzig, von 1933 bis

1939 o. Prof. an der Universität Königsberg und von 1939 bis 1945 an der Universität Wien, uat als Vertreter einer völkischen Agrarsozio­ logie hervor. Von 1951 bis 1961 leitete er an der Domnunder Sozialfor­ schungsstelle die Abteilung »Soziographie und Sozialscatistik«.

Gilson-Aufiatz:

Siehe Nr. 21 und 23 und Anm.

Kontroveru von Origines gegen Celsus:

Der alexandrinische Kirchen­

schriftsteller Origines (ca. 185-254) argumentierte in seiner Streit­

schrift Contra Celsum (244-249} gegen die antichristliche Streitschrift Alethes Logos (Wahre Lehre) des Platonikers Celsus (2. Jh. n. Chr.).

August 1955

101

Neue Wissenschaft: Eric Yoegelin, The New Science ofPolitics. Siehe Nr. 21 und Anm.

Augustins Konzeption der zwei Reiche: Der lateinische Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus von Hippo (354-430) enrwickelte in seiner Schrift De civitate dei (413-426) das geschichtsphilosophische Modell vom Gegensatz und sich verschärfenden Kampf zwischen Gottes- und irdischem Staat.

einen Besuch: Siehe Nr. 25.

Hamlet-Druck: Siehe Nr. 23 und Anm .

[25]

KOSELLECK AN SCHMITT Hannover, 28. Augus t 195 5

Hannover-Waldheim Brandensteinsu. 3 7 28. August 1955 Sehr verehrter Herr Professor, soeben erhalte ich aus Oxford die Nummer des Londoner Maga­ zins, in dem sich der Harnlet-Aufsatz befindet. Ich habe ihn noch einmal mit grossec Freude gelesen, und man gewinnt wirklich den Eindruck, dass eine »magische« I nterpretation des verworrenen Textes die »Unergründlichkeit« am ehesten zu benennen und da­ mit zu verstehen weiss. Ich sende den Aufsatz gleich ab und hoffe, dass Sie ihn noch rechtzeitig und auch sinnvoll verwerten können. Ein Historist könnte sich dem Urteil des Negerhäuptlings freilich nicht beugen, aber die klar vorgegebenen Familienverhältnisse und Hofbeziehungen, in denen sich das Drama abspielt, werden wohl von den Negern so einfach wie klar erkannt. Auch der »Tarn­ ruf« von Hamlet: eine Ratte!, als er Polonius ersticht, erhält als »Warnruf« einen sehr vernünftigen Sinn. Wie überhaupt überra-

102

KoseHeck an Schmitt

sehend ist, dass der Wahnsinn von Harnlet plötzlich ganz »ratio­ nalzweite Stadt< Englands«

(siehe Nr. 31a) ; ders., Rez. zu: Russell Kirk, The ConservativeMind, in:

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42 (1956), H. 1, S. 113-II6.

Schiller und den Fontane: Die Beilage zu Schiller ist nicht zu ermitteln,

bei der anderen handelt es sich um Theodor Fomanes Gedicht »Lied des James Monmouth«, das James Scott, 1. Duke ofMonmouth (16491685) zum Thema hat, einen unehelichen Sohn des Stuart-Königs Karl li., der nach dem Tod seines Vaters Anspruch auf den Thron er­

hob und erfolglos gegen KönigJakob II. rebellierte. Eine getippte Ab-

124

KoseHeck an Schmitt

schrift des Gedichtes findet sich als EinJage in Kosellecks Exemplar (BRK) von Lilian Winstanleys Hamlet-Buch (Nr. 3, Anm.); siehe DLA, C: Koselleck, Einlagen 870. im S(pt(mber: Siehe Nr. 32.

[3 I a]

KOSELLECK AN SCHMITT

[Heidelberg, 10. Juli] 1956

Widmung in: Reinhart Kose/Leck, »Bristol, die >Zweite Stadt< Eng­ lands. Eine sozialgeschichtLiche Skizze«, Sonderdruck aus: Soziale Weit 6 (I955), H 4· s. 360-374· Mit herzlichen Wünschen

zum u. Juli 1956. R. Koselleck

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

II. Juli 1956: Sehrniets 68. Geburtstag.

Juli 19 56

[3 2]

125

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg, 12. Juli 1956

Plettenberg. San Casciano 121756 Lieber Herr Koselleck, Ihre Geburcstagswünsche, die ein so schöner, langer Brief sub­ stanziierte und drei inhaltsreiche Aufsätze umrahmten, haben mich sehr gefreut. kh denke, daß Sie den Engpaß des Assistenten­ betriebes bald überwunden haben und die Erfahrungen und Exer­ zitien dieser Kasernenhofzeit Ihrer Hauptarbeit zugute kommen. Jedenfalls habe ich, trotz großer und wachsender Empfindlich­ keit, keine Spuren von Verschulmeisterung in Ihren Äußerungen entdeckt. Die Besprechung von Butterfield scheint mir trotz des teilweisen Desaveu, das Sie ihr unter dem persönlichen Eindruck des Autors zu geben suchen, richtig und notwendig, weil die Eng­ länder die spezifisch kontinentale Leistung des gehegten Land­ krieges endlich begreifen sollten und der Mißbrauch der Christ­ lichkeit als evasive Ausflucht nicht länger geduldet werden darf. Dieses C das an alles angehängt und vorgehängt wird ist das große Vehikel der Verschmierung. Ich habe es in einem Gespräch mit Toynbee aufs deutlichste so empfunden, und wenn Butterfield auch ehrlicher ist, so wird er vermutlich doch in demselben Unter­ nehmen sitzen und würden Sie wahrscheinlich eine ähnliche Er­ fahrung mit ihm machen, wie ich vor 20 Jahren mit Toynbee. Der Bristol-Aufsatz ist entzückend; auch die kleine aber treffsiche­ re Belehrung über »Konservatio«. Ihr Brief hat mich auf ein Ge­ spräch über Ihre Übungserfahrungen besonders begierig gemacht. Der Wiener Kongreß ist eines der Themen, die bei mir leider nicht zum Zuge gekommen sind, crotz zahlreicher Anläufe und Vorsät­ ze. Im Nomos der Erde ist infolgedessen eine Lücke: Zwischen III und IV fehlt einfach ein Kapitel, dessen Hauptinhalt eben eine

126

Schmirr an KoseHeck

Darstellung des Wiener Kongresses hätte sein müssen. Kurze Hin­ weise wie auf Seite 132 reichen nicht aus. Das einzige, was mich etwas beruhigt, wenn ich an diese offensichtliche Lücke denke, ist das Vertrauen, daß die innere Systematik des Buches stark ge­ nug ist, um einen Bogen zu spannen, der die Leere Stelle über­ brückt. Ihre Bemerkungen zum Thema :'Legitimität sind außerordendich treffend; hier fühle ich, daß Ihnen noch weitere Erkenntnisse zu­ kommen werden. Die heutige Diskussion über Legitimität und i t für Sie wahrscheinlich zu »görristisch«, und Joh. Win­ Legalität s ckelmann ist starker Jurist, Praktiker und dadurch für Sie viel­ leicht zu abstrakt. Eine Kritik an Max Weber ist fällig. Hoffentlich wird sie aber nicht gehässig und führt sie nicht zu neuen Feind­ schaften zwischen den Gelehrten. Darüber würden sich nur die Nutznießer der Mediokrität freuen. Auf Winckelmanns Erwide­ rung gegen Gehlen bin ich gespannt; ich kann sie mir in etwa schon ausmalen. Aber Gehlen dürfte nicht gereizt werden, sonst kann ein Unheil entstehen. Auf Ihren Besuch im September freue ich mich sehr. Die vielen Seiten des Harnlet-Problems lassen sich nicht in einem Brief und nicht einmal in einem Buch erschöpfen. Überlegen Sie nur die Reihe (die nicht erdacht, sondern abgelesen s i t): 1848: Deutschland ist Harnlet (die damaligen nationalen und libe­ ralen Deutschen) 1918: Europa ist Harnlet (Paul Valery und französische Intellek­ tuelle wie Drieu la Rochelle, mein Freund) 1958: ? Die ganze Westliche Welt ist Harnlet! Ich gebe Anima einen Artikel von Rüdiger Altmann über Harnlet als mythische Situation mit, dem Sie eine Viertelstunde Aufmerk­ samkeit widmen müssen. Nochmals vielen Dank für Ihre Wün­ sche und Ihre Arbeiten, und hoffentlich auf ein gutes Wiederse­ hen im Herbst. Ihr alter Carl Schmitt.

127 ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; DLA Marbach, Nachlaß Reinhan Kosel­

leck.

Siehe Abb.



San CaJciano: On in der Toskana, in dem Niccol6 Machiavelli sich 1513 nach seiner Exilierung aus Florenz niederließ und sein Werk I!Princi­ pe (Der Fürst) schrieb. Siehe auch Nr. 83 und 83 a.

Geburtstagswünsche I Brief: Siehe Nr. 31. Besprechung von Butterfield: Siehe Nr. 21 und Anm. Desaveu: Franz., Widerruf. Gespräch mit Toynbee: Siehe Nr. 1 1 und Anm. Bristoi-Aufiatz: Nr. 31a. Belehrung über »Konservatio«: Reinhart Koselleck, Rez. zu: Russell Kirk, The Conservative Mind (siehe Nr. 31). Nomos der Ertk: Vgl . Nomos, S. 132: ,.Aber die Bedrohung [des Gleichge­ wichts] wurde auf dem Wiener Kongreß 1814/r 5 durch eine wohlge­ lungene Restauration mit Wirkung bis

1914 überwunden. « 30 und Anm.

heutige Diskussion über Legitimität und Legalität: Siehe N r.

»görristisch«: Anspielung aufden katholischen Publizisten Joseph Görres (1776-1848).

Winckelmanns Erwiderung gegen Gehlen: Johannes Winkelmann, »Die Herrschaftskategorien der politischen Soziologie und die Legitimität der DemokratieHamlet-Problem>geistesgeschichtliche Hieroglyphe«; BW Sombart, S. 88), an Ar­ min Mohler vom 11. Juli 1956 (als »Hieroglyphe der Westlichen WeltHamlet-Kurve>Deutschland st i Hamlet!> Harnlet als mythische Situation. Zu Carl Schmitt: Harnlee oder Hekuba- Der Einbruch der

Zeit in das Spiel«, in: Civis 3 (19 56 ) , Nr. 18, S.

[33]

39 ·

KOSELLECK AN SCHMITT Heidelberg,

26. September 1956

Heidelberg, 26. IX. 1956 Sehr verehrter Herr Professor, ich möchte Ihnen das Harnlet-Sonett von B. Brecht zusenden, das ich Ihnen neulich angekündigt hatte. Das Entstehungsjahr des Sonetts - um 1940 - scheint auf die Pa­ rallele Hitler

=

Fortinbras, Clan - Partei hinzuweisen. Harnlet wä­

re dann die Widerstandsbewegung liberaler Observanz.

Es ist schade, daß der Assistent von Brecht, der mich auf das So­

nett hinwies, vergessen hatte, was ihm Brecht zur Interpretation gesagt hatte. Er glaubte sich an Folgendes zu erinnern: Harnlet würde »positiv« gesehen, solange er keinen Widerstand leiste. So­ wie er zu den Waffen greife gegen Fortinbras (= Stalin?), sei er Ver­ brecher und verloren.

September 1956

129

Das »rotsehen>Pfarrgasse 16«. Hamüt-Sonett von B. Brecht: Benolt Brecht, »Über Shakespeares Stück >Hamlet>4. Allgemeine Volksbewaffnung. Die Armeen sind in Zukunft zugleich Arbeiterarmeen, so daß das Heer nicht bloß, wie früher, verzehrt, sondern noch mehr produziert, als seine Unterhaltungs­ kosten betragen. - Dies ist außerdem ein Mittel zur Organisation der Arbeit.« Hier scheint der gemeinsame Nenner des totalen Terrorapparates jenseits der Politik und der globalen Hilfsprogramme der Welt­ mächte bereits gefunden zu sein. Jede Armee »nimmt•>In Zukunft« dient das Heer

zur Steigerung des »Mehrwertes«. Die Armee wird Produzent und erster Wirtschaftsfaktor. In diesem Zusatz, der scheinbar eine Ent­ politisierung der Armeen bedeutet, liegt defacto erhöhte Steue­ rung, Zwang und Terror. Es vollzieht sich eine Verlagerung von Nehmen und Nehmenkönnen auf das Geben und Gebenmüssen. Das Politische taucht aufneuer Ebene auf: Produktionssteigerung und Verteilungszwang machen das Geben zum Politicum ersten Ranges. Die anfangs negierte Nahme kehrt als Nahrne qua Gabe zur Hintertür wieder herein. Die gewaltigen Arbeitsorganisatio­ nen Amerikas und Rußlands sind in einen Sog hineingeraten, in den sie ihre Produktionssteigerung abfließen lassen müssen. Der Zusammenhang zwischen Terror und Verteilen scheint un­ endlich vielfältig zu sein. Jedenfalls wird eine Einebnung der Gegensätze im Besitz, in der Teilnahme an den Gaben der Produktion nur so lange stattfinden,

als sich zwei Weltmächte gegenüberstehen. Der Schluß von Koje­

ve, daß sich mit dem Ausgleich wie bei zwei kommunizierenden

Januar 1957

'33

Röhren auch die Einheit der produzierenden (+ nehmenden) Welt herstelle, widerspricht dieser Voraussetzung. Übrigens habe ich kürzlich bei Gisether Wirsing in seinem Heft »Die Menschenlawine« ein kluges Kapitel über den »Klassen­ kampf im Erdmaßstab«, das sich mit diesen Fragen beschäftigt, gelesen. In diesem Semester halte ich mein Proseminar ab über die Engli­ sche Revolution 164o-I66o. Michael Freunds Buch ist mir dabei eine gute Hilfe: rrotz des Stils, der manchmal an einen Fortset­ zungsroman in einer Illustrierten erinnert. Auch tritt in dem Buch die »Revolution« zu oft personifiziert auf. Wenn man schon den Staat personifizieren mag - als ))Ordnung« -, die Revolution zu personifizieren, um ihre >>Anatomie« liefern zu können, ist doch eine arge Konzession an naturwissenschaftliche + biologistische Terminologie. Das zu Erklärende wird dann durch die Art der Be­ griffsbildung als bereits erklärt hineingeschmuggelt. Aber sonst leitet Freund der Scharfsinn seiner Erfahrung. Den geschichtsphi­ losophisch stärksten Erklärungsversuch der Revolution liefert zweifellos Barrington in seiner Oceana. Oie der Revolution vo­ rausgegangene Landnahme der Kirchengüter erzwang eine neue politische Struktur. Dabei taucht sogar die hegel-marxsche For­ mel auf: die neuen Besitzer mussten das nur noch einsehen, um die Revolution zum Ereignis werden zu lassen. Mit herzlichen Grüssen verbleibe ich Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart KoseHeck

ÜBERLIEFERUNG

0: Hs.; mit Transkriptionen und Anstreichungen

Schmins; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Neuenheimer Landstr. 46: KoseHecks neues Domizil am der Heidelberger Altstadt gegenüberliegenden Neckarufer im Stadtteil Neuenheim.

Neujahngruß· Siehe Nr. 34 · Vierzeiler: Siehe Nr. 81.

Kosetleck an Schmirr

134

Kojhm �rtrag: Alexandre

Kojeve hielt am 16. Januar

1957, vermlttelt

durch Schmitt, einen Vonrag vor dem Rhein-Ruhr-Klub in Düssel­ dorf. Vgl. ders., »Kolonialismus in europäischer Sicht. Vonrag gehal­ ten vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 16. Januar 1957«, in: Piet Tom­ missen (Hg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk CarlSchmitts, Bd.

6, 1998, S. 126-143. Der Komakt zwischen Schmitt und Kojeve

wurde von Roman Schnur herges·tellt; vgl. auch ihren Briefwechsel in ebd.,

$. 100-124.

Professor Gollwitzer: Der Historiker Heinz Gollwitzer (1917-1999) vertrat im Wintersemester 1956/57 Johannes Kühns vakanten Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Heidelberg. Nach seiner Promotion

(1944)

an der Universität München arbeitete er zeitweise für die SS-For­ schungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe. Nach seiner Habilita­ tion

(1950) lehne er in München, von 1957 bis 1982 als o. Prof. an

der Universität Münster.

�r nimmt, gibtdem andern auf: Nicht ausgeschlossen ist die Lesan>>Wer nimmt, gibt den andern auf«.

Forderungen der Kommunistischen Parui: Vgl. Kar!

Marx und Friedrich

Engels, »Forderungen der Kommunistischen Partel in Deutschland«, in: dies., �rke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1971, S.

3-5, hier S. 3·

Gisether Wirsing: Vgl. Giselher Wirsing, Die Menschenlawine. Der Bevöl­ kerungszuwachs als weltpolitisches Problem, Stuttgart: Deutsche Ver­ lags-Anstalt

1956, S. 68-75.

MichaelFreunds Buch: Michael Freund, Die große Revolution in England.

Anatomie eines Umsturzes, Hamburg: Claassen 1951. Rarrington in seiner Oceana: Der englische Philosoph]ames Barrington (16II-1677) entwarf in seinem in der Zeit von Oliver Cromwells Commonwealth of England (1649-1660) entstandenen Hauptwerk The Commonwealth oJOceana (1 ,656) die Grundlagen einer idealen Re­ publik.

Juli

[36 ]

1957

135

KOSELLECK AN SCHMITT Heidelberg, 9 · Juli 1957

Heidelberg Neuenheimer Landstr. 46 9.VII. 1957 Sehr verehrter Herr Professor, lange habe ich nicht von mir hören lassen, aber ich freue mich, daß Ihr Geburtstag Anlaß bietet, Ihnen alle meine guten Wün­ sche für Gesundheit und Arbeit zu senden. Zugleich möchte ich Ihnen einiges von meinemTun berichten, das mich stets an unsere Gespräche erinnert. Im letzten Semester habe ich ein Proseminar zur Englischen Re­ volution abgehalten. Ich bin im Wesentlichen beim Strafford-Pro­ zeß geblieben, der ja als der Initialprozeß für das Kommende pa­ radigmatisch ist. Auffallend ist, daß das Parlament sich völlig der Argumente der Staatsräson bediente: wenigstens gegenüber dem König, der sich nicht mehr traute, Souverän zu sein. Der Anspruch auf Souveränität war offenbar mit einem epochalen Zwang ver­ bunden, bestimmte Gewissensregeln außer Kraft zu setzen, oder besser auf eine politische Tonhöhe umzustimmen. Der religiöse Eifer hat zu Anfang der Revolution sehr ideologisch-vordergrün­ dige Aspekte. Der Prozeß wirft interessante Lichter im Reflex der Historiogra­ phie: die spätere Beurteilung reicht vom Gottesurteil bis zum Mord, vom Verfassungsbruch bis zur Verfassungstreue, von der Dummheit bis zur Heldentat. Man kann den Katalog fortsetzen, und ein Psychoanalytiker könnte ihn um die Kategorie des Selbst­ mordes erweitern, denn nach der Erfahrung der russischen Pro­ zeße gewinnt Straffords Brief an den König, mit der Bitte, ihn im Namen des Staatswohls fallen zu lassen, einen neuen Akzent. Die Geschichte der Neuzeit am Leitfaden der politischen Prozesse zu

KoseHeck an Schmitt entwerfen, wäre eine dankbare Aufgabe, die ich in späterer Zeit noch einmal angehen werde. Hegels Satz von der Weltgeschichte als dem Weltgericht gewinnt dann einen ganz unmittelbaren Sinn, ohne daß die Geschichte metaphysisch aufgeladen werden muß. Die Unterscheidung zwischen politisch-justizmäßigem Urteil und dem historischen Urteil müsste im Ergebnis sichtbar werden. Die politischen Strukturen der Geschichte wären das gemeinsame Feld. Aber zunächst werde ich mich mit der politischen Prognostik seit der Französischen Revolution auseinandersetzen. Ich habe mit Professor Conze diesen Fragenkreis für eine Habilitationsschrift ausgewählt. Ich hoffe durch Querschnittsuntersuchungen des Wiener Kongresses und der Versailler Verhandlungen, vielleicht auch der 48er Revolution, den effektiven politischen Einfluß her­ ausarbeiten zu können, den die jeweiligen Zukunftskonzeptionen auf das Ergebnis gehabt haben. Der determinierende Charakter der entworfenen Möglichkeiten, den zu erfassen heißt doch der »Utopie>Die Mächtigen wollen nach ihrem Belieben befehlen

und sich dem Gesetz ganz entziehen, die Schwachen wollen, daß das Gesetz über jedermann gleich gebietet.«

]osephus: Flavius Josephus (37/38 - um 100), römisch-jüdischer Histori­ ker.

Trevelyan: Vgl. George Macaulay Trevelyan, History ofEngland. With Maps,

August 1957

141

London: Longmans 1926 (in BRK), S. 385. - Der englische Historiker George Macaulay Trevelyan (!876-1962) war ein typischer Vertreter der von Herben ButterfJeld kritisierten Whig-History. Gunpowder Komplott: Gunpowder Plot, Bezeichnung für das gescheiter­ te Vorhaben von Katholiken, den protestantischen englischen König Jakob I. bei der Parlamentseröffnung am 5· November 1605 durch einen Sprengstoffanschlag zu ermorden. Prozeßgegen Garnet S.J: Der englische Jesuit Henry Garnet (1 5 55-1606) wurde, obwohl er sich auf das Beichtgeheimnis berief, als Mitwisser des Gunpowder Plots wegen Hochverrates verurteilt und hingerichtet. Lady Winstanley: Lilian Winstanley, Autoein des Werkes Hamlet, Sohn der Mara i Stuart. Siehe Nr. 3, 4 und 11. Aufsätze überAdams + Harrington: Reinhart Koselleck, »Die Wiederent­ deckung von John Adams«, in: Neue Politische Literatur 1 (1956), H. 2, S. 95-104; ders., »Zwei Denker der puritanischen Revolution«, in: Neue Politische Literatur 2 (1957), H. 4, S. 288-293.

[3 7)

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg,

23. August 1957

Prof. Carl Schrnitt Plettenberg Herrn Dr. Reinhard KoseHeck

Beideiberg I

Neuenheimerlandsu. 46 Lieber Herr Koselleck, eben höre ich, dass Sie für das Arch Rphi einen Aufsatz über König und Mensch schreiben wollen. Das ist grossartig und macht mich sehr neugierig, besonders nach Ihren drei erstklassigen B esprechungen, die überaus inhaltreich sind und

Schmirr an Koselleck

von denen ich nur bedaure, dass sie nicht an weithin siehebarer Stelle stehen. Aber das soll meine Freude nicht schmälern. Ein junger Amerikaner von der Colu mbia U. New York will (gegen Leo Strauss, letztes Heft des Pol. Sc. Review, Aufsatz über Ma­ chiaveUi) einen Aufsatz schreiben mit dem Titel: homo homini homo, alterum non datur (Leo Strauss hatte gesagt: h. h. Deus, oder h. h . Lupus, tercium non dat�r). Lassen Sie sich durch diesen Plan nicht aufhalten, sondern antreiben, ihren Aufsatz bald zu ver­ öffentlichen! Alle guten Wünsche für die Ferien und herzliche Grüsse Ihres alten Carl Sehrniet

23/8 57

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; Postkarte m. Absenderstempel ; DLA Mac­

bach, Nachlaß Reinhart Koselleck.

Arch Rphi: Oie ZeitschriftArchivfür Rechts- und Sozialphilosophie. Siehe Anm. ZU Nr. 28. Auflatz über König und Mensch: Der Aufsatz wurde nicht veröffendicht und auch nicht fertiggestellt. In KoseHecks Nachlaß findet sich ein größeres Konvolut mit Materialien zum Thema >>Mensch und Kö­ nig«, das u. a. Oiskussionssprotokolle der im September 1972 stattfm­ denden 6. Tagung der Forschungsgruppe >Poetik und Hermeneutik< (siehe Nr. 94) enthält. Zur Gegenüberstellung von Mensch und Kö­ nig vgl.: Reinhart Koselleck, >>Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, in: Harald Weinrich, Positionm der Negativität (= Poetik und Hermeneutik VI), München: Fink 1975, S. 65-104, hier S. 97-100 (siehe Nr. 78, 82, 84, 86 und 86a; auch in: �rgangme Zukunft, S. zn-277, hier S. 250-253). drei erstklassige Besprechungen: Reinhart Koselleck, Rez. zu: Christopher Morris, Political Thotlght in England, Tyndale to Hooker, in: Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 4r (1954), H. 1, S. 136f.; Rez. zu: Her­ ben Butterfield, Christianity, Dipkmacy and war (siehe Nr. 13); Rez. zu: Russell K.irk, The Conservative Mind (siehe Nr. 31).

August 1957

143

jungerAmerikaner: George D. Schwab (geb. 1931), Politikwissenschaftler und Übersetzer mehrerer Werke Schmins, traf im April 1957 zu sei­ nem ersten längeren Besuch in Pieteenberg ein. Er schloß 1955 sein

Studium an der Columbia University ab und wurde 1968 ebenda pro­ moviert. Danach lehrte er als Professor ofHistory am City College of

New York. Siehe auch: Glossarium, S. 362 und 366. Leo Strauss!Aufiatz über Machiavelli: Lco Strauss, »Machiavelli's Inten­

tion: The Princt«, in: American Political Science Review 5 1 (1957),

H. I, S. 13-40. Dort heißt es aufS. 34: »We may note here that Ma­ chiavelli is our most imporrant wirness to the truth that humanism is not enough; since man must understand hirnself in the Uglu of the whole or the origin of the whole which is not human, or since man is the being that must try to transcend humanity, he must trans­ cend humaniry in ehe direction of the sub-human ifhe doesn't trans­ cend it in the direction ofthe super-human. Ttrtium, i. e. humanism,

non datur«. homo homini homo, alterum non datur: Lat., »Der Mensch ist dem Men­ schen ein Mensch, ein anderes ist nicht gegeben«. Anspielung auf die von Hobbes popularisierten Formeln >�Homo homini deus« (»Der Mensch ist dem Menschen [ein) Gott«) und >�Homo homini Iupus« (»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«). Vgl. Thomas Hobbes, >.Vom Bürgeu, in: ders., \lOm Bürger. Dritte Abteilung der Ekmmtt

der Philosophie I Vom Menschen. ZweiteAbteilung der Elemente der Phi­ losophie, übers. und hg. v. Lotbar R. Waas, Hamburg: Meiner 2017, S. 3-348, hier S. 3 (Widmungsschreiben) : »Nun sind sicher beide Sät­ ze wahr: Homo homini Deus, & Homo homini Lupus jener, wenn -

man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten mitein­ ander vergleicht.«

144

[38)

KoseHeck an Schmitt

KOSELLECK AN SCHMITT Heidelberg, 6. Juli 1958

Sehr verehrter Herr Professor, wenn ich Ihnen zu Ihrem siebzigsten Geburtstag heute meine herzlichen Wünsche übersende, so'me ich es mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit Ihnen gegenüber, Ihrer Lehre und Ihrem schriftli­ chem Werk. Täglich weiß ich mich in meiner Arbeit Ihnen verpflich­ tet. Und so möchte ich zu Ihrem hohen Feiertage die Hoffnung aussprechen, daß Sie uns noch lange erhalten bleiben mögen, daß Sie die Ruhe, Kraft und Zeit finden mögen, uns mit der Klar­ heit Ihrer Gedanken anzuregen und zu geleiten. Meine eigenen Arbeiten schreiten im Dickicht der Seminararbei­ ten langsam vorwärts. Die größeren Themen, für die ich ständig sammele, und die mich stets begleiten sind die politische Progno­ stik und eventuell einmal eine Geschichte der politischen Prozesse als Endergebnis. Bei dem Prognosenthema geht es mir um eine polirische Handlungs-Theorie, die die Geschichte in actu erfassen soll. Also Historie, die nicht danach fragt, wie es eigentlich gewe­ sen, sondern wie es eigentlich geworden ist. Daneben arbeite ich in den Archiven Westdeurschlands, um aus den preußischen Verwaltungsakten die Spannung zwischen »Staat« und »Gesellschaft« m i preußischen Vormärz zu untersuchen. Die Beamten suchten beides zu integrieren, wodurch die Verwaltung gezwungen wurde, polirischer zu sein, als es nach Hardenbergs Abgang die Berliner Spitzen wahrhaben wollten. Unter anderem fand ich ein Rundschreiben von Hardenberg aus dem Jahre 1816, das die Gefahren einer Proletarisierung weitsichtig zu be­ kämpfen auffordert. Später scheinen mir noch die unteren und mittleren Beamten den sicheren Blick von Hardenberg zu haben, während Berlin sich um polirische Entscheidungen drückt. Leider bin ich hier auf Indizienbeweise angewiesen, da die Ostzone die Archive in Potsdam + Merseburg sperrt. Dafür hoffe ich, wenig-

Juli 1958

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stens die Provinzarchive in Danzig, Posen und Breslau einsehen zu können; aber die jüngsten Ereignisse im Ostblock scheinen auch die polnische »Toleranz« zu hemmen. - Das genannte The­ ma stammt von Professor Conze, der die sozialgeschichtliche Richrung im Seminar stärker betont. Er will mich mit der Arbeit gegebenenfalls habilitieren. - Für den Druck meiner Dissertation hat er mir übrigens den Alber-Verlag vermittelt, der die Arbeit un­ ter dem Titel »Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« im kommenden Frühjahr herausbringen wird. Ich habe noch einiges umgearbeitet: vor allem den Weg von der Kritik zur Hypokrisie aufgezeigt, was mir seinerzeit gar nicht so klar geworden war. Die Anregung zu dieser These verdanke ich einem Buch von Merleau-Ponty. Die Quellen stoßen den Sehen­ den geradezu auf diesen >>Fortschritt« der Kritik. Außerdem habe ich noch zehn Seiten über Rousseau hineingearbeitet und bin ge­ spannt auf Ihr Urteil.

Im Seminar habe ich infolge der geburtenreichen Jahrgänge 193 5 ff. jetzt glücklich über xoo Teilnehmer, was mich hindert, die Studie­ renden überhaupt noch kennenzulernen. Mit die besten Studen­ ten sind übrigens zwei ehemaligeJuristen. Der bewußte Fakultäts­ wechsel garantiert was sonst meistens fehlt: Selbständigkeit. Im übrigen ist die sogenannte Skepsis der neuen Generation eher eine geschichtliche Indifferenz. - Meine letzten Übungsthemen waren Robespierre- vor allem seine Stellung zu den französischen Kolo­ nien und ihrer Emanzipation - und jetzt: der Beginn des U-Boot­ Krieges im 1. Weltkrieg.

Die beste »QueUe« zu den Kolonien in der Französischen Revolu­ tion war Kleists Erzählung über »Die Verlobung in St. Domingo«. Aus ihrem geschichtlichen Verständnis lassen sich alle weiteren Ein­ sichten ableiten. Übrigens leistet mir auch für die U-Boot-Übung eine Dichtung Hilfe-Stellung (freilich nur das) : die Erzählung von Conan Doyle: »Danger! A Story

of Englands Perik Sie erschien einen Monat

vor Kriegsausbruch und schildert, wie England durch acht Tauch-

KoseHeck an Schmitt

boote zur Kapitulation gezwungen wird. Doyle erkannte als Kri­ minalist lange vor dem deutschen Admiralstab, daß mit U-Boo­ ten Handelskrieg zu führen sei. Seine als Warnung gedachte Uto­ pie ist von den deutschen Admirälen als mögliche Wirklichkeit aufgefaßt worden: 1915, als technisch und politisch gar keine Chan­ ce bestand, den Krieg im Sinne Conan Doyles zu führen. Man möchte beinahe sagen: Der Engländer wurde Utopist, um die Wirklichkeit zu entdecken, die Deutschen suchten (1915) die Uto­ pie zu verwirklichen, um einer Utopie zu erliegen. Oie wichtigtue­ rische Ahnungslosigkeit des Admirals von Pohl, der im Februar 1915 zum ersten Mal den uneingeschränkten U-Bootkrieg durch­ setzte, spottet jeder Beschreibung. Er scheint Doyle aufden Leim gekrochen zu sein: als habe der englische Kriminalbeamte dem »Verbrecher« eine Falle gestellt. Morgen wird im Max-Planck-Institut für Völkerrecht Truyol y Serra über »Die Völkerrechtsordnung bei den spanischen Klassi­ kern« einen Vortrag halten. Ich bin sehr gespannt. Mit herzlichen Grüssen an Anima bleibe ich in Verehrung Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart KoseHeck Heidelberg am 6. Juli 1958.

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; mitAdressenvermerk, Notizen und Ansrrei­ chungen Schmitts; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

siebzigster Geburtstag: Am u. Juli 1958. politische Prognostik: Siehe Nr. 36. »Staat" und »Gesellschaft" impreußischen \.1Jrmärz: Vg!.

Reinharr Kosel­

leck, »Staat und Gesellschaft in Preußen r815-1848«, in: Werner Con­ ze

(Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen

\10rmärz, Stuttgart: Klett­

Cotta 1962., S. 79-n2.. Hier wird auch das Rundschreiben des preußi­ schen Reformers und (seit r8ro) Staatskanzlers Karl August von Har­ denberg (1750-1822.) thematisiert (S. 105f.). Siehe Nr. 58a.

Juli 1958

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jüngsu ErtigniJse im Ostblock: Nach der Niederschlagung des Volksauf­ standes in Ungarn durch die Sowjetarmee im November 1956 kühlte das Tauwetter in den Staaten des Warschauer Paktes wieder ab.

Druck meiner Dissertation: KoseHecks Dissertation (siehe Nr. 3-5, 7, 9, 10, u, 13, 14, r6, 20 und 20a) erschien 1959 unter dem Titel Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen weit beim Verlag Kar! Alber (Freiburg und München) in der von Fritz Wagner im Ver­ ein mit Werner Conze und Joseph Höffner herausgegebenen Reihe »Orbis Acadernicus. Geschichte der politischen Ideen in Dokumen­ ten und Darstellungenaktuelle< politische >Freund­ Feind>Darüber hinaus möchte ich meinen Dank aussprechen Herrn Professor Dr. Carl Schmitt, der mir in Gesprächen Fragen stellen und Antworten suchen half« (S. VII).

Ungarn:

Im November 1956 schlug die Sowjetarmee den ungarischen

Volksaufstand nieder.

Tibet: Im März 1959

schlug die chinesische Volksbefreiungsarmee den

Aufstand im besetzten Tibet nieder.

Yalta oder Suez: Auf der Konferenz von Jalta (4.-II. Februar 1945) berie­ ten Winsron Churchill, Franldln D. Roosevelt und Josef Stalin über die Aufteilung Deutschlands nach dem absehbaren Kriegsende. In der Suezkrise vom Oktober 1956 griffen Großbritannien, Frankreich und Israel

Ägypten an, nachdem dieses die Suezkanal-Gesellschaft verstaat­

licht hatte, wurden dann aber durch eine von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion herbeigeführte UN-Resolution zum Rückzug von der Sinai-Halbinsel gezwungen.

sieben Wbchen in Polen: Zum Anlaß der Archivreise siehe Nr. 38. Hamlet-Aufführung: Am Powszechny Theater in Warschau unter der Re­ gie von Irena Babel.

Das »Hist. Pol Buch« V/!, 2: Siehe Nr. 43· GerhardHergt: Gerhard Hergt (1925-2008), neben Hanno Kesting und Nicolaus Sombart einer der drei Studienfreunde, denen KoseHeck im Vorwort von Kritik und Krise (1959) dankt, wurde 1959 an der Univer-

Schmitt an Koselleck

162

sicät Beideiberg mit der Arbeit Studien zum Problem der Erkenntnis beiMax Scheler promoviert. Hergt war nach der Promotion zunächst Asss i tent bei Hans Paul Bahrdt an der Technischen Hochschule Han­ nover und arbeitete später bei diversen Forschungsvorhaben von Willi Pöhler in Dortmund mit. Freudenberg: Chemieunternehmen in Weinheim an der Bergsuaße. domnunder Institut: Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund. Siehe Nr. 10. Professor Schäfer: Hans Schäfer (1906-1961), seit 1941 o. Prof. für Alte Ge­ schichte an der Universität Heidelberg. Sehe/er: Der Philosoph Max Scheler (1874-1928) trat als Begründer einer materialen Wertethik und einer philosophischen Anthropologie her­ vor.

[45]

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg, 9· Juni 1959

Pieteenberg

916 59 Lieber Herr Koselleck, über das schöne Buch und Ihre Widmung habe ich mich sehr ge­

freut; vielen herzlichen Dank! Ich habe es natürlich gleich gelesen,

mit grösster Spannung, und überlege, wie ich den engen Raum für [die] Besprechung (30 Zeilen; es kann natürlich ein paar Zeilen mehr werden, aber eben doch kein Aufsatz!) am besten ausnutze. Das Besprechungsexemplar, das ich erhalten werde, schicke ich

Ihnen, weil Sie wahrscheinlich nicht zuviele Freiexemplare erhal­ ten haben. Wegen Dr. Hergt habe ich an Prof. Papalekas vom Institut für So­ zialforschung geschrieben. Vielleicht sehe ich P. auch bald, weil er mich gelegentlich hier besucht [und] im Juni zu einem Wochen-

Juni 1959 ende kommen wollte. Ich kenne sonst niemand mehr an diesem Institut. Herr Jüres ist zwar noch in Dortmund, aber nicht mehr am Institut; doch will ich auch ihn für die Sache interessieren. Für Ihre Mitteilung über Harnlet in Warschau ganz herzlichen Dank! Das Thema bleibt aktuell; vielleicht erwähne ich es auch in einem vom WDR geplanten Gespräch zwischen Raymond Aron und mir über die heimadose Intelligenz. Darfich Sie bei die­ sem Anlass fragen, ob Sie mir nochmals eine Abschrift des Bert­ Brecht-Sonnettes über Harnlet besorgen könnten; ich habe die Abschrift von 1956 leider verloren. Zu dem Stichwort »Hamlet« (aber auch, weil Sie meine Meinecke-Besprechung S. 158 Anm. 4

erwähnen) schicke ich Ihnen die Abschrift eines Briefes an Dr. Wal­ demac Besson. Ich kenne Besson nicht. Wissen Sie etwas von ihm? Vielleicht war es Torheit ihm zu schreiben, aber ich darfmir wohl auch eine Torheit leisten.

Nun aber noch ein Wort über das neue Buch! Ich kann Ihnen nur

Einiges aus der Fülle der Eindrücke schreiben, weil ich beim Schreiben leicht ermüde und mich lieber im Gespräch äussere. Den Text Ihrer Dissertation von Januar 1955 besitze ich noch. Ein Vergleich mit dem gedruckten Text ist lehrreich, aber ich habe ihn noch nicht ganz durchgeführt. Ob der jetzige Untertitel (mit dem Wort: Pathogenese) gut ist, weiss ich noch nicht; besser als der erste (politische Funktion des dualistischen Weltbildes) ist er jedenfalls. Dass Sie jetzt nicht mehr mit Schiller einsetzen (son­ dern diese Stelle an ihren richtigen Zeitpunkt verlegt haben) ist eine grosse Verbesserung. Aber ich will nicht aufsolche Einzelhei­ ten eingehen. Das Buch hat eine starke, innere Spannung, so stark, dass man

am

Schluss bedauert, nicht weiter ins 19. Jahrhundert

geführt zu werden. Ferner vermisse ich bis jetzt (d. h. bei erster Lektüre) die deudiche Herausarbeitung der religiösen Frontrich­ tung, die natürlich auch eine politische ist, aber aussenpolitisch: gegen die katholischen Weltmächte und deren »Geheimorgani­ sation«, die Jesuiten. Das erstaunlichste Ereignis bleibt doch die A.ufhebung des Jesuitenordens durch den Papst, 1773. Ich sage

Schmitt an KoseHeck dies allerdings unter dem Eindruck der spanisch-portugiesischen

Geschichte des 18. Jahrhunderts, die Sie nicht in das Thema ein­ beziehen können, die aber als Gegenbild

-

ohne Kritik und ohne

Krise - vielleicht das Bild noch überzeugender gestalten würde. Vorzüglich ist die Entwicklung aus der Situation heraus. Das ist eine nicht-marxistisch-dialektische Leistung, von der man nur hoffen kann, dass unsere braven Meinecke-Provinzler sie eines Ta­ ges doch noch kapieren werden. Sie schreiben mir: >>Erst langsam begreife ich, wie hintergründig manche der Einsichten sind, die in meinem Buch niedergelegt sind«. Das ist ein Zeichen, dass Ihnen etwas Lebendiges gelungen ist. >>Und was du tust, sagt erst der andre Tag.« Auch was du sagst. Ich sehe es an meinen Verfassungsrechtlichen Aufsätzen von 1930/

32, die heute, 1959, aktueller sind als vor 30 Jahren. Das absurde >>Mehr«, das den Menschen nötig ist, wird nur durch blinde Vor­ gebote erbracht. In Münster habe ich hervorragende junge Leute kennen gelernt. Roben Spaemann, E. Wolfgang Böckenförde, Marquard (dessen Skeptische Methode im Hinblick aufKant, ebenfalls bei Albert in >>Symposion« erschienen, Sie unbedingt ansehen müssten) einen Assistenten von Gollwitzer namens Vierhaus und andere. Aus Bonn schrieb mir ein junger Mann: je mehr man Lessing liest, umso sympathischer wird einem der Pastor Goetze. Was bedeutet das? Was arbeitet Gere Kalow eigentlich jetzt? Diese Empfangsbestätigung ist etwas lang geraten. Haben Sie für meine geplante Besprechung einen bestimmten Gesichtspunkt, der Ihnen wichtig ist? Angesichts des erwähnten knappen Rau­ mes, den ich zur Verfügung habe, wäre mir ein solcher Hinweis sehr nützlich. Über das Buch selbst und seine Thesen werde ich noch viel nachdenken. Heute also nur diese Zeilen meines herz­ lichen Dankes und meiner aufrichtigen Wünsche für einen guten Erfolg Ihres Buches! Stets Ihr Carl Schmitt.

Juni 1959 *

Bei Schiller wird das Moralische vom Aesthecischen her antithe­

tisch überspiele: was bedeutet das für Ihren Zusammenhang?

ÜBERLIEFERUNG K: Hs.; mit Notizen Kasellecks und nicht klar zu­ zuordnenden Unterstreichungen; Landesarchiv NRW, Sammlung Carl Schmier.

das schöne Buch und Ihre Widmung: Das Schmitt mit Widmung zugeeig­ nete Exemplar von KoseHecks Kritik und Krise (1959) ist in Schmitts Nachlaß nicht überliefert. In seinem Exemplar (BRK) des Schmitt­ Nachlaß-Verzeichnisses notierte KoseHeck neben den Titel der Erst­

ausgabe: »I Exemplar verkauft mit Anm v CS!«

(Nachlass Carl Schmitt. Verzeichnis dts Bestandes im Nordrhein-Wmfolischen Hauptstaats­ archiv, bearb. v. Dirk van Laak und Iogeborg Villinger, Siegburg: Respublica-Verlag 1993, S. 449).

für die Besprechung: Siehe Nr. 43

und 44· - Auf der Kopie fehlt das Zei­

lenende; möglich wäre auch die Lesart "für eine Besprechung«.

Prof Papalekas: Der griechisch-deutsche Soziologe Johannes (Jannis) Pa­ palekas (1924-1996), seit 1963 o. Prof.

an

der Ruhr-Universität Bo­

chum, war von 1955 bis 1963 Abteilungsleiter an der Dortmunder So­ z.ialforschungsstelle.

{und] im]uni: »und« eingefügt (Zeilenende fehlt auf der Kopie). Herr ]üres: Der Soziologe Ernst August Jüres (1920-2012), seit 1973 o. Prof.

an

der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg,

war von 1952 bis 1958 an der Dorernunder Sozialforschungsstelle tätig.

Harnlet in Warschau: Siehe Nr. 44· Gespräch zwischen RaymondAron und mir: DerWestdeutsche Rundfunk (WDR) hatte im April 1959 wegen eines Radiogespräches mit Ray­ mond Aron zum Thema »Europäische Linke - heimatlos geworden?«

bei Schrnitt angefragt, sagte ihm dann aber im Juli wieder ab.

Abschrift dts Bert-Brecht-Sonnettes: Siehe Nr. 33· Meinecke-Beprechung: Carl Schmitt, »Zu Friedeich Meineckes >ldee der StaatsräsonTragik< (aufS. 127h8 lhres Aufsatzes) erinnere ich mich einer Äußerung von Kierkegaard (Vigilius Hauf­ niensis): für das Tragische und das Kornische gibt es im Grund keinen Feind, nur einen Popanz zum Weinen und einen Grund zum Lachen. Das Thema hat mich seitdem nicht mehr losgelassen; es führte mich zu der kleinen Schrift >Harnlet oder Hekuba - der Einbruch der Zeit

in das Spiel>Pathogenese der bürgerlichen Welt« wurde Kaselleck nach eigener Auskunfr unter dem Eindruck von Vor­ lesungen des Mediziners und Anthropologen Viktor von Weizsäcker

Juni 1959

(I 886-1957) bewogen (Dankrede, s. 3 s). Weizsäckerlehne von 1945 bis 1952 als o. Prof. für Allgemeine Klinische Medizin an der Universität Heidelberg.

,,Undwas dutust. . >I1 menau. Am 3· Septem­ ber 1783« (»Wer kennt sich selbst? Wer weiß, was er vermag? I Hat nie .

der Mutige Verwegnes unternommen? I Und was du tust, sagt erst der andre Tag, I War es zum Schaden oder Frommen«). Siehe auch die Anm. »Vorgriff auf die Zukunft« zu Nr. 8o KoseHeck zitierte den -

Goethes unzeitgemäße Geschichte, Heidel­ berg: Manutius 1997, S. 31 {auch in: �m Sinn und Unsinn, S. 286305, Zitat S. 300). Verfassungsrechtliche Auflätze von 1930!32: Siehe Nr. 39 und Anm. Das absurde »Mehr«: Formulierung Kose11ecks; siehe Nr. 44· In Miinster: Wahrscheinlich im Oberseminar (>>Collegium Philosophi­ cum«) des Philosophen Joachim Ritter (1903-1974). Robert Spaemann: Roben Spaemann (19Z7-2018), Philosoph, Schüler Vers Jahrzehnte später in:

und Assistent Joachim Ritters, später o. Prof. in Stuttgart, Heidelberg und München.

E Wolfgang Böclunforde: Der Staatsrechder Ernst-Wolfgang Böckenförde

(1930-2019),

o. Prof. in Heidelberg (1964-69), Sielefeld

(1969-77)

und Freiburg (1977-95) und von 1983 bis 1996 Richter am Bundesver­ 1959 bis 1964 Assistent am Instirut für Öf­ fentliches Recht und Politik an der Universität Münster und gehörte zum Kreis um Joachirn Ritters Collegium Philosophicum. Böckenför­ fassungsgericht, war von

de zählte auch zu den engsten späten Schülern Schrnins, seit er ihn

1953 erstmals in Flettenberg besucht hatte. Vgl.

Dieter Gosewinkel,

»>Beim Staat geht es nicht allein um Macht, sondern um die staatliche Ordnung als Freiheitsord.nungSchwarzen Buch>Der Beitrag der Wissenschaf­ ten für die Erkenntnis unserer Zeit''· Der Titel von Kosellecks Vomag lautete: »Methodische Bemerkungen zur Außenpolitik von 1919-

1945"· Neben Schmitt und Kose!leck nahmen u. a. auch der Philosoph Diecer Henrich, Ernst-WolfgangBöckenförde und Joachim Ritter teil.

H Dieckmanns Buch: Hitdemarie Dieckmann, johannes Popitz. Entwick­ Lung und Wirksamkeit in der wtimarer Republik, Berlin: Colloquium­

Verlag 1960. Popitz: Der Verwaltungsjurist Johannes Popirz (1884-1945), Vater des So­ ziologen Heinrich Popitz und Freund Schmitts, seit 1933 preußischer Finanzminister und Staatsrat, engagierce sich nach seinem abgelehn­ ten Rücktrittsgesuch (1938) im Widerstand. Er wurde am 21. Juli 1944 verhaftet und im Februar 1945 gehenkt. E. R. Hubers Deutsche Verf Geschichte: Ernst RudolfHuber, Deutsche

�r­

fossungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampfum Einheit und Freihet i

1830 bis I8JO,

Stuttgan u. a.: Kohlhammer 1960 (annotiertes Exem­

plar in BRK).

SCHMITT AN KOSELLECK o.

0., 1 0 . Oktober 1960

Et verum est

somnium, et fidelis imerpretatio eijus Daniel 2, 45· »Und der Traum ist gewiss, und die Deutung ist recht«

Diesen lächelnden Propheten Daniel (aus dem Portico der Kathe­ drale in S antiago de Compostela; u8o), der auf das Gelächter Ge-

Schmitt an KoseHeck

limers (von 534) zu antworten scheint, schicke ich Reinhart Kosel­ Ieck mit herzlichen Grüssen und Wünschen zur Erinnerung an unsere Begegnung in Ebrach. ro. Oktober 1960 Carl Sehrniet ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; PhotO graphiedes P ropheten Daniel am Portico De La Gloria, Kathedrale von Santiago de Compostela; DLA '

Marbach, Nachlaß Reinharr Koselleck. Gel ächter Gelimers: Siehe Nr. 43 und Anrn.

unsere Begegnung in Ebrach: Siehe Anm.

[53 ]

zu

Nr. 52·

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg, 16. Dezember 1960

Pieteenberg den 16. Dezember 1960 Lieber Herr Koselleck, dieses Buch wollte ich Ihnen schon in Ehrach schenken; es hat aber einige Zeit gebraucht, ehe ich es beschaffen konnte. Jetzt bit­ te ich Sie, es Ihrer Frau als Weihnachtsgruss von mir aufden Weih­ nachtstisch zu legen. Es ist ein Buch, das sich langsam erschliesst; aber nach 40 Jahren Bekanntschaft darf ich sagen, dass es über­ reich an Schönheit und wirklich eine »kleine Schöpfung« ist. Der aufSeite 26 angemerkte Vers hat für mich eine besondere Be­ ziehung; aber das muss ich Ihnen einmal mündlich erzählen. Heute sende ich Ihnen meine herzlichen Grüsse und Wünsche zum Weihnachtsfest und zum Neuen Jahr, für Sie, Ihre Frau Fe­ licitas und Ihre Tochter Bettina. Ich habe vor, Sylvester in Heide!-

Dezember 1960

berg zu sein, wo ich mich verabredet habe. Wenn ich anl ässlich dieses Aufenthaltes Sie un d Ihre Frau besuchen könnte, wäre das für mich eine besondere Freude. Alles Gute für Ihre Arbeit und Ihre Gesundheit! Ich bleibe stets Ihr alter Carl Schmitt.

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; DLA Marbach, Nachlaß Reinhart Kosel­ Ieck

dieses Buch: Konrad Weiß, Die kleine Schöpfung (1926). Ausgabe nicht zu ermitteln. Das Erzählgedicht für Kinder trägt die gedruckte Wid­

mung: »Gewidmet dem Kind Felizitas«. - Den zeitlebens von ihm bewundenen Dichter Konrad Weiß

(x880-1940), von 1904 bis 1920 Redaktionssekretär der Zeitschrift Hochland, von 1920 bis 1940 Kunst­ referent der MünchmerNeuesten Nachrichten, lernte Schmitt während des Ersten Weltkrieges in München persönlich kennen. Nach dem Zweiren Weltkrieg identifiziene er sich mit der von Weiß beschwore­

Figur des »christlichen Anm., I14, rr4b sowie II.2. Ebrach: Siehe Anm. zu Nr. 52. nen

[54]

Epimetheus«. Siehe dazu

Nr. II3 und

KOSELLECK AN SCHMITT

Heidelberg, 26. Dezember 1960

REINHART KOSELLECK

HEIDELBERG NEUENHEIMER LANDSTRASSE

46

Sehr verehrter Herr Professor für Ihre liebe Wei hnachtssendung danken meine Frau Felidtas und ich Ihnen herzlich . Die Legende von Konrad Weiß hat -

r86

Kosetleck an Schmin

uns große Freude bereitet. >>Die kleine Schöpfung« erfordert stän­ digen Umgang, und ich kann mir denken, daß das Buch zu den wenigen Büchern gehört, die den Leser verändern, der sich in sie einläßt. Und das ist nicht leicht. Die Anstrengung auf dem Wege zur kindlichen Aussageform ist völlig in dem Sinn aufge­ gangen. Die Leistung ist gleichsam verschwunden und die Sätze sprechen unvermittelt. Auch inso(ern ist die Legende eine ))Schöp­ fung((. Eine kleine Gegengabe, die ich seit Wochen bestellt habe - den Prognostiker Kornmann -, ist noch nicht eingetroffen. So lege ich als Zeichen dessen ein Stück Heidelberger Backwerk bei.

Meine Frau und ich freuen uns sehr, Sie bald als Gast bei uns be­

grüssen zu dürfen. (Unsere Telefonnummer ist 25769). Wir sind in jedem Fall zuhau­ se und dürfen Ihnen völlig die Zeitwahl überlassen. Ein Abend wäre uns, wenn ich diesen Vorschlag hinzufügen darf, am ge­ nehmsten, da dann Bettina vergleichsweise weniger Zeit auf sich »akkumuliert«. Den Freund-Aufsatz habe ich mit großem Interesse gelesen, er ist ganz hervorragend, die aristotelische Bildung nicht verleugnend,

was für die politische Bewußtheit offenbar sehr wichtig ist. Ich

darf bis zur mündlichen Unterhaltung weiteres zu diesem Thema aufsparen: die Vorträge von Lübbe und Habermas in München

auf dem Philosophenkongress zum gleichen Thema. Und die An­ trittsvorlesung von Sternherger zum »Begriff des Politischen« in unserer alten Aula. Sternhergers Vortrag erlag der Freund-Feind­ Antithese, indem er gegen sie anging: den »wahren« Frieden be­ schwörend. Viel Bildung wurde darauf verwandt, um den wahren Frieden zu defmieren, aber die asiatische Welt mit keinem Wort erwähnt. Mein Vater schrieb mir kürzlich: »Wir verleugnen nicht die Politik, wir verleugnen uns selber.« Ein gutes Motto zu dem Gehörten. Ein Hamlet-Hinweis fällt mir dabei ein: er ist in Diecer Groh's

Textedition zu lesen. Von Bruno Bauer aufS. 404. Wie fern ist al-

Dez.ember 1960

les Hamlet-Gleiche dem wissenden Daniel, den Sie mir gesandt haben. Haben Sie ganz besonderen Dank dafür! In Erwartung Ihres Besuches grüßen Sie herzlich Ihre Ihnen sehr ergebenen Reinhart KoseHeck und Felicitas 26.XII. 6o.

NB: Die Adresse von Focke-Tannen Hinrichs: Oldenburg

Etzhornerweg u 7

OBERLIEFERUNG 0: Hs.; mit gedrucktem Briefkopf; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmin.

Weihnachtssendung: Siehe Nr. 53· kIeine Gegengabe: Hugo Lang, DerHistiJriker alsProphet. Leben undSchrif ten desAbtes RupertKornmann (IJ5J-I8IJ), Nürnberg: Sebaldus 1947

Ihre liebe

(annotiertes Exemplar in

BRK). - Kornmann war der letzte Abt des 1803 säkularisierten Benediktinerklosters Prüfening bei Regensburg. Freund-Aufiatz: Siehe Nr. 52.

Wirträge von Lübbe und Habermas: Vgl. Hermann Lübbe, "Typ ologie der politischen Theorie«, in: Helmut Kuhn und Franz Wiedmann (Hg.), Das Problem der Ordnung (Sechster Deutscher Kongreß für Philoso­ phie, München 1960), Mei senheim am Glan: Hain 1962, S. 77-94; Jürgen Habermas, »Über das Verhältnis von Politik und Moral«, in:

94-II7 (zu Schmin S. ro8). - Der Kongreß fand vom 23. bis 26. Oktober 1960 statt.

ebd., S. zum

Antrittsvorlesung von Sternberger: Der Politikwissenschaftler und Journa­ list Dolf Sternherger (1907-1989), Herausgeber der Zeitschriften Die Wandlung (1946-49) und Die Gegenwart (1950-58), wurde 1960 zum ao. Prof. an der Universität Heidelberg ernannt (1962 zum o. Prof.) . In seiner Antrittsvorlesung am 23. November 1960 bezog er ausdrück­

lich Stellung gegen Schmitt. Vgl. DolfSternberger, ,.Begriff des Politi­

schen>De causis

injustis« [Über ungerechte Gründe]) des 2. Buches von Hugo Gro­

tius' Werk De iure belii ac pacis [Über das Recht des Krieges und des Friedens] (1625). Der erste bezieht sich auf die Inhaltsangabe zu

Abschnitt XV (»ltem voluntatem implendi vaticinia, sine Dei manda­ ro«): »Ungerechter Grund = das Verlangen, Prophezeiungen ohne den Auftrag Gottes zur Erfüllung zu bringen«; der zweite ist ein Zitat aus der Anm. 9 im selben Abschnitt: >>Hütet euch vor allzu Verwegenen, Theologen: hütet euch vor allzu verwegenen Theologen, Politiker«.

204

[66]

Schmitt an Koselleck

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg, 28. Juli 1966

Brockhauserweg 10 597 Pieteenberg Herrn Professor Dr. Reinhart Kosetleck 6901 Dossingen bei Heidelberg Schauenburgstrasse 20 L. H. K. Hoffentlich ist Ihre Fahrt von Pieteenberg nach Wein­ heim und Dossenheim gut verlaufen. Ich schreibe Ihnen (ehe ich es vergesse) einige Notizen auf: 1) G. Mattingly, The defeat of the Armada, 1959, bes. Kap. XV: The ominous year 1588 (Prophezeiungen des Regiomontanus, Melanchthons (dieser liess die lettte Phase - 70 Jahre - der Welt­ geschichte 1588 beginnen (70 Jahre nach 1518), Volkssagen (Mer­ lin), Daniel Kap 12 etc. etc. Astrologie etc. 2) Johannes Friedrich (1836-1917) (der grosse Freund Döllingers, Altkatholischer Kirchenhistoriker) hat (1870?) eine Schrift über den durch astrologische Berechnungen bewirkten Ausbruch des Bauernkrieges im Frühjahr 1525 geschrieben; ich erinnere mich an sie (ich habe sie 1919 gelesen) als an eine der aufregendsten hi­ storischen Darstellungen, die mir je begegnet sind. 3) Meine Politische Romantik, 1925, S. 94 Anm. r; darüber hatte ich ein Gespräch mit Meinecke (der die 1. Aufl. der Pol. Romantik von 1919 sehr günstig besprochen hatte) ; steril leider. Herzlich Ihr c.s.

Juli 1966

205

P. S. Den gestern ohne Widmung überreichten Sonderdruck aus dem »Staat« IV 1 (Rezensionsaufsat7. Hobbes' Leviathan) besit7.en Sie schon; wenn Sie ihn mir gelegentlich zurückgeben, wäre ich Ihnen sehr dankbar (ich hatte Ihnen in Ehrach ein Exemplar mit Widmung überreicht). C.S.

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; Postkarte; DLA Marbach, Nachlaß Rein­ hart Koselleck. Im Konvolut >>Zettelkasten >Antrittsvorlesung 1965«Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose>Natur« der Menschen-Typen und Perio­ dizität der Ereignisse sind die beiden »Wissenschaftlichen(< Elemente der astrologischen Zukunfts-Berechnung). EW. Böckenförde hat mir Grüsse von Ihnen bestellt; vielen Dank und herzliche Erwide­ rung! Ihr alter c.s.

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs. ; Postkarte; mit nicht klar zuzuordnenden Unterstreichungen; DLA Marbach, Nachlaß Reinhart Koselleck. Im Konvolut »Zettelkasten >Antrittsvorlesung 1965>strukturellen(( Aussagen eine Mitte einzuhalten gesucht, ebenso zwischen der temporalen Einmaligkeit bestimmter Situationen und transperso­ nalen Dauerhaftigkeiten, die ich aufeinander bezog. Für das Ganze freilich gilt das Wort meines Freundes Gerhard Hergt: ich müsse nun noch den >Roman des Romans< schreiben. Das Bedürfnis empfinde ich auch. Es war mir schon nicht mehr gelungen, ein Schlußwort schriftlich zu fixieren: ein Schlußwort, das mir mündlich schon in einigen Vorträgen gelungen ist. So be­ darf es noch der Distanzierung zur Masse der von mir geschaufel­ ten •Quelleneine gewisse Halbheit, ein Gespaltenes und Doppeltes im Bewußtsein von den öf­ fentlichen Dingen, in den Begriffen von Recht, Eigentum und Besitz. In diesen Regionen sind die Stifter der neueren deutschen Familie sämtlich entwickeltere oder unterentwickeltere HamletsPreu­ ßisch oder nicht preußisch ist ein wahres Hamlet'sches Sein oder Nichtsein gewordennach dem Muster der spanischen Guerillas< (§ 52) der Landsturm or­ ganisiert wurde, da mußten alle Besitzer und Inhaber von Grundstük­ ken einen Ausschuß wählen, die sogenannte Schurzdeputation. Die­ sem Ausschuß wurde eine Strafgewalt über Tod und Leben delegiert.«

Juni 1968

[70]

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KOSELLECK AN SCHMITT Dossenheim, 29. Juni 1968

Sehr verehrter Herr Professor bevor Sie zur Feier Ihres Geburtstages nach Spanien fahren, möchte ich Ihnen zwei kleine Arbeiten senden, die zu lesen Sie vielleicht Interesse haben. Die Sendung ist begleitet von meinen herzlichen Wünschen für Ihre Gesundheit als Voraussetzung Ih­ rer Schaffenskraft - und zugleich von meinem anhaltenden Dank für die zahlreichen Anregungen, die ich im Laufe meiner bisheri­ gen geschichtlichen Studien von Ihnen erhalten durfte. Meine Rückkehr nach Heidelberg ist verbunden mit einer Fülle mehr oder minder unwichtiger Arbeiten, die die Freude am Unter­ richt verzehrt und die Zeit zu eigenem Studium vernichtet. Dazu kommen die Srudemenunruhen, die utopisch durchsetzt sind und sich daher oft dem Zugriffauf der herkömmlichen akademischen Ebene entziehen. Im Ganzen sind die ))linken« Studenten sehr in­ telligent und es besteht kein Zweifel daran, daß hier Versäumniße vorliegen, die zu Lasten von uns Universitätslehrern gehen - auch wenn wir nicht allzuviel unmittelbar ändern können. Das utopi­ sche Erbe war eben schon in die Wiege der Bundesrepublik ge­ legt, und gepflegt worden. So werden heute lang gehegte Fiktionen von »Fiktionären« ent­ larvt. Eine bittere Ironie, die nicht weiterführt. Meiner Familie geht es gut: vor allem die Kinder, mit denen zu­ sammen wir jeweils die alte Welt neu entdecken dürfen. Meine Frau hat freilich viel Plackerei, vor allem jetzt, wo wir vor einem Umzug stehen, leider zurück nach Heidelberg, weil wir in Dossen­ heim keine geeignete Wohnung finden konnten. Wir ziehen in vierzehn Tagen in die Moltkestr. 8 - in die Nähe des Hauses, wo Hans Schäfer gewohnt hatte. Mit den besten Wünschen für eine gute Reise und vielen Grüssen an Anima bin ich Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart KoseHeck

Schmitt an KoseHeck

216

Dossenheim, 29. Juni 1968

ÜBERLIEFERUNG 0:

Hs.; mit Unterstreichung Schmitts; Landesar­

chiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Feier Ihres Geburtstages: Schmitt wurde am u. Juli 1968 8o Jahre alt. zwei kleine Arbeiten: Wahrscheinlich handelt es sich um die beiden fol­ genden Sonderdrucke: Reinhart Koselleck, »Historia Magisua Vit.ae.

Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Ge­ schichte«, in: Hermann Braun und Manfred Riede! (Hg.), Natur und

Geschichte. Kar/ Löwith zum 70. Geburtstag, Sruttgan : Kohlhammer 1967, S. 196-219 (annotiertes Exemplar in BCS); »Der Zufall als Mo­ tivationsrest in der Geschichtsschreibung«, aus: Hans Roben Jauss (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästheti­ schen (= Poetik und Hermeneutik Ill), München: Fink 1968, S. 129-

141.

(annotierres Exemplar in BCS).

Rückkehr nach Heide/berg:

Seit dem r. April 1968 lehrte Koselleck als

o. Prof. für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Univer­ sität Heidelberg.

Moltkestr. 8: Im Stadtteil Neuenheirn.

[71]

SCHMITT A N KOSELLECK

Plettenberg, r8. Januar 1969

Plettenberg,

den r8. Januar 1969 Lieber Herr Koselleck, seit fast einem Jahr bin ich Ihnen einen substanziierten Dankbrief für Ihr grosses Preussen-Werk schuldig; seit einem Vierteljahr den Dank für Ihren herrlichen Beitrag zu der Festschrift »Epirrhosis«.

217

Diesen letzten, besonderen Dank hoffte ich im Oktober 1968 mündlich bei der Überreichung der Festschrift in Düsseldorf aus­ sprechen zu können. Nachdem das nicht möglich war, wollte ich mehrmals schreibe n. Das Echo auf diesen Aufsatz, soweit es zu mir in meine Einsamkeit dringt, ist ganz ausserordencich. l Heute fmde ich endlich einen äusserlichen Anstoss, um aus dem Bereich erdachter Gespräche zu der besser verifizierbaren Welt des geschrie­ benen Wortes vorzudringen. Ich will diesen Anlass (es gibt ja kei­ ne Kausalität mehr, sondern nur noch occasiones, worüber uns Rainer Specht belehren sollte) schleunigst wahrnehmen, um nicht noch länger im Verzug zu bleiben. Von Johannes Gross, dem Chefredakteur der »Deutschen Welle« erhielt ich ein Schreiben über die Festschrift Epirrhosis, über die er eine Rezension veröffentlichen will. Darin rühmt er (aus dem Band II) Julien Freund über Häresie, Joseph Kaiser über Gross­ raum, Rainer Spech.t über den Anti-Lucretius des Kardinals Polig­ nac, und fährt dann fort: »Am interessantesten von allen fand ich Koselleck; seinetwegen benutze ich das Briefpapier des Ullstein­ Verlages«. Gross ist nämlich im Beirat des Ullstein Verlages GmbH. und hat mit seiner Begeisterung andere Herren vom Verlag angesteckt. Ih­ re Bemerkung zu Anfang des Aufsatzes in der Fussnote, insbeson­ dere der Hinweis, dass es sich um die Skizze eines Buches über die Temporalstrukturen der Geschichte handelt, legte ihnen den Ge­ danken nahe, »ein solches Buch, elegant und würdig ausgestattet, der weiteren Mitwelt zu präsentieren und es nicht im interven­ tionsfeindlichen akademischen Raum verschwinden zu lassen«. Damit richtet er an mich die Frage, ob Sie das Buch wohl dem Propyläen-Verlag geben würden. Ich gebe die Frage gerne weiter, schon deshalb, weil ich Gross als zuverlässigen und klugen Mann kenne und weil ich Ihrer Arbeit jede Förderung wünsche, die ihr in der Welt des freien Marktes nützlich sein kann. Meine Briefschuldenlast ist damit nicht einmal mit einer kleinen

Schmier an Kaselleck

218

Rate abgezahlt. Doch darf ich den Anlass benutzen, um Ihnen und Ihrer sehr verehrten Frau meine herzlichsten Wünsche auszu­ sprechen und Sie freundschaftlich zu grüssen als Ihr alter Carl Schmitt. PS. Eine Frage aus Anlass von C�ristian Meiers Aufsatz Ciceros

Konsulat: wer bearbeitet in Ihrem Lexikon »Proletariat« in der An­ tike? Catilina war natürlich kein Proletarier, Cicero ein >>inquili­ nus« und Spartakus ein König oder Sklave. Also?

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; DLA Marbach, Nachlaß Reinhart Kosel­ Ieck

Ihrgrosses Preussen-Werk: Siehe Nr. 69a. Beitrag zu der Festschrift: Reinhart Koselleck, .Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit«, in: Epirrhosis. Festgabefür Carl Schmitt, hg. v. Hans Barion u.a., 2. Teilband, Berlin: Duncker & Hurnblot 1968, S. 549566. Überreichung der Festschrift: Die Festschrift wurde arn 19. Oktober 1968 in Anwesenheit von 24 Personen im Industrie Club Düsseldorf über­ reicht. Kausalität: Vgl. Rainer Specht, Commercium mentis et corpofis. Über Kau­ salvorstellungerz im Cartesianismus, Stuttgart: Frommann 1966. - Rai­ ner Specht (geb 1930), seit 1967 o. Prof. für Prulosophie an der Uni­ versität Mannheim. ]ohannes GrossIRezension IPropyläen-Verlag: Der Publizist Johannes Gross (1932-1999), von 1968 bis 1974 Chefredakteur der Deutschen Welle, danach Chefredakteur und Herausgeber des Magazins Capitalund Mo­ derator der ZDF-Sendung »Bonner Runde«, stand seit Mitte der 195oer Jahre in engem Kontakt mit Schmitt. Zu der von Grass arn 4· Dezember 1968 (LAY NRW, RW 265-5307) angekündigten Bespre­ chu ng für den S piegelkam es nicht. - Im Hinblick aufdie Buchpläne mit Kaselleck bezieht Schmitt sich auf ein Schreiben Grass' vom 14. Januar 1969 (LAV NRW, RW 265-5308; nurzur Hälfte überliefert). .

219 Band II: Bei den genannten Beiträgen handelt es sich um: Jullen Freund,

»Die HäresieProletariat, Pöbel, Pauperismus«, in: GG, Bd. 5·• 1984, S. 27-68, hier S. 27f.). In seinem von Schmitt erwähnten Auf­ satz bezeichnet Meier den nicht in Rom geborenen (inquilinus civis Romae) Cicero - dessen Selbstcharakterisierung folgend -wiederholt als »homo novus« (S. 62, 95 und 1 1 5). Der Verschwörer Catilina ist bei Meier zwar kein Proletarier, zeichnet sich aber durch eine ••bei Außen­ seitern nicht seltene •plebejische< Konsequenz« aus; seine >>sozialen Pa­ rolen, die offene Ankündigung, er werde sich an die Spitze der Not­ leidenden stellen«, hätten ihm die »entschiedene Gegnerschaft des Consuls Cicero, vieler Senatoren und besonders der ritterlichen Bour­ geoisie« eingebracht (S. 97f.). Der Sklavenaufstandsführer Spartacus wird nur am Rande erwähne und nicht weiter charakterisiert (S. 84).

220

[7 2]

KoseHeck an Schmitt

KOSELLECK AN SCHMITT Heidelberg, 20. September 1969

Heidelberg Moltkestr. 8 20. September 1969 Selu verehrter Herr Professor Schmitt, seit vielen Monaten schiebe ich eine Antwort auf Ihren letzten Brief vor mir her, für den ich mich herzlich bedanken möchte. Bisher hegte ich die vergebliche Hoffnung, Ihnen einen gründ­ lichen Briefsenden zu können. Je melu Zeit verstreicht, desto mehr erweist sich der Wunsch als Illusion. Das Dasein eines Professors bewegt sich in einer fiktiven Zeit. Die tatsächlich ablaufende Zeit läßt von einem Professor nichts mehr übrig. Nun gibt es einen Anlaß, Ihnen schnell zu sclueiben: die Aussicht, daß ich Ihnen in Ehrach begegnen kann. Ich würde mich für mich selber wie für die Teilnehmer am Ferienseminar - sehr freuen, wenn Sie es möglich machen könnten, nach Ehrach zu kommen. Mit dieser Bitte möchte ich meinen Dank für Ihren Brief in jedem Fall vorwegnehmen. Daß mein Beitrag zu Iluer Festschrift Anklang gefunden hat, freut mich natürlich zu hören. Gleichwohl bitte ich Sie, Herrn Gross noch keine Zusagen für das geplante Buch zu machen. Ich bin noch nicht soweit, um an einen Verleger herantreten zu kön­ nen. Der laufende Betrieb, das Lexikon, dessen erster Band sich in der Schlußredaktion befindet, und die Planung für Sielefeld ver­ zehren meine Kräfte. Dabei wird mir immer deutlicher, daß ich sinnvoll nur weiterarbeiten kann, wenn ich endlich die Untersu­ chungen über die Zeitstrukturen der Geschichte »abzustoßen« ha­ be. Ungedruckte Arbeiten blockieren den >>Geist«. In Ehrach bat mich Herr Forsthoff, über meine Dissertation zu referieren. Nach fünfzehn Jahren eine schwierige Aufgabe. Die Zweitauflage, die gerade gedruckt wird, habe ich (von Äusserlich-

September 1969

221

keiten abgesehen) unverändert gelassen. Der aufgewiesene Zu­ sammenhang ist in sich zu schlüssig, als daß man ihn verändern könnte: auch wenn neue Fragestellungen daraus hervorgegangen sind. Oie wachsende begriffsgeschichtliche Exaktheit zwingt dazu, eine Theorie der modernen Geschichte und ihrer Zeit zu entwik­ keln, ohne die man als His toriker ersticken müsste . Den letzten Ebracher Vortrag lege ich Ihnen bei. Ein Band der Hobbes-Forschungen wird Ihnen zukommen, so­ bald Herr Schnur aus seinen Ferien zurück ist. Es grüßt Sie herzlich Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart Koselleck

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Ihren letzten Brief: Nr. 71. daß c i h Ihnen in Ebrach begegnen kann: Carl Schrnitt kam

die Aussicht,

nach 1967 altersbedingt nicht mehr nach Ebrach. Koselleck, >Ne rgangene Zukunft der frühen Neuzeit«; siehe Nr. 71. das geplante Buch: Siehe Nr. 71. das Lexikon: Geschichtliche Grundbegriffe; siehe Nr. 61, 67 und 69. BieLeftld: KoseHeck war seit 1965 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates für die Gründung der Universität Bielefeld und löste 1968 Werner Conze im Gründungsausschuß ab. Untersuchungen über die Zeitstrukturen der Geschichte: Die erste Veröf­ fentlichung in diesem Zusammenhang seit »Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit« (siehe Nr. 71) ist: Reinhart Koselleck, »Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen«, in: ders. und Wolf- Diecer Stempel {Hg.), Geschichte, Ereignis und Erzählung (= Poetik und Her­ meneutik V), München: Fink i973 , S. zn-222 (später auch in: �rgan­ gene Zukunft, S. 130-143); siehe Nr. 78 und 83. Ebrach: Das Ebracher Ferienseminar {siehe Anm. zu Nr. 52) des Jahres 1969 mit dem Thema »Wesen und Funktion der ÖffentlichkeitPoetik und Hermeneu­ tik< (siehe Nr. 94) näher in Kontakt. Ihre in Blumenbergs Nachlaß (DLA) überlieferte Korrespondenz umfaßt acht Briefe Blumenbergs und 14 Schreiben KoseHecks aus den Jahren 1968 bis 1983; einige Aus­ züge bietet: Annette Vowinckel, »>Ich fürchte mich vor den Organisa­ tionslustigenBund der Auserwählten)Bund« nannte, nur >Nerstand« oder »Vereinigung« und ähnlich, - Bund blieb ein theologischer Termi­ nus -; er erreichte auch, daß nur der Glaubensschutz Zweck der Schmalkaldener sein sollte, aber nicht verhindern konnte Luther, daß es der Glaubensschutz sein sollte, und alles, was daraus »folgt«. Das aber waren die strittigen Besitztitel der säkularisierten Güter. Um diese wurde schließlich gekämpft. Eines hat aber Luther wirkungsgeschichtlich sicher unterbunden: daß sich im Bereich des Luthertums die Lehre der (calvinisti­ schen) covenants ausbreitete, die die angelsächsische Geschichte bis zu Wilson so wirksam beeinflußt hat. Im Sinne lutherischer Rechtgläubigkeit wäre das die Geschichte einer Häresie gewesen

(und so haben es auch deutsche Theologen im ersten Weltkrieg gedeutet).

Augusr 1971

237

Die Grundfrage lautete demnach: Gibt es überhaupteine Theolo­ gie, die bündig jene Schwelle bezeichnen könnte, jenseits derer politische Positionen theologisch als illegitim zu bezeichnen wä­ ren? Sie lösen diese Frage auf zugunsren der jeweiligen Situations­ frage, wie sich Theologie und Politik von Epoche zu Epoche neu aufeinander zuordnen. Als Historiker finde ich diese Aussage bündig. Dementsprechend lese ich auch die Aufsätze von Metz als historische und politische Zeugnisse. Aber so will er natürlich nicht verstanden sein. Kennen Sie seine Äußerung zu Peterson in den Stimmen der Zeit Nov. 1969 Bd 184 S. 299? Metz liest die christlichen Bekenntnisformeln in ihrer »kritisch­ befreienden, aber auch erlösenden Gefährlichkeit«. »So kann man z. B. die Interpretationen Erik Petersons als Versuch verstehen, die Glaubensformel von der Trinität herrschaftskritisch zu wen­ den und sie gerade so in ihrer befreienden und erlösenden Gefähr­ lichkeit sichtbar zu machen - vor allem dann, wenn man die in dieser triniearischen Formel enthaltene Kritik eines monarchischen Herrschaftsbegriffs auch (was E. Pecerson unterläßt) kritisch auf die Verfassung der Kirche selbst bezieht.politischen Theologie< zu erweisen« (S. 99f. und 1 5 8) . Eusebius: Der griechische Bischofund Kirchenvater Eusebius (auch Eu­ sebios) von Caesarea (z6o oder 264-359/6o) war Verfasser der ersten Kirchengeschichte und Verehrer von Kaiser Konstantin, dessen christ­ liche Wende er heilsgeschichtlich deutete. - Schmitt wurde von sei­ nem früheren Freund Peterson nach 1933 mit Eusebius verglichen. In

Politische Theologie !I (1970)

behandelt Sehrniet den Bischof als »Pro­

totyp Politischer Theologie« ($.

54 f.), wobei er zu seiner Wirkungsge­

schichte bemerkt: >>Seine Bewunderung für Konstantin den Großen wird benutzt, um ihn als Cäsaropapisten hinzustellen, als einen Byzan­ tiner im übelsten Sinne des Wortes, einen Fürstendiener, oder, nach dem von uns bereits zitierten Wort des Baseler Theologen [Franz] Over­ beck, als >hoftheologischen Friseur der kaiserlichen Perückeder Gott der wandernden Völken [/] KaTexwv [Katechon]u.

/ortragaus dem VorjahrIPassagen IAugustin: Gemeint ist wahrscheinlich :

Kosetleck an Sehrniet Reinhart Koselleck, »Hinweise auf eine Theorie geschichtlicher Zei­ ten8-140). SieheNr. 83 undAnm. und Sehrniets Brief an Felictias Kaselleck (Nr. r) vom 26. Dezember 1971. - In Kosetlecks ebenfalls 1970 (in erweiterter Fassung) gehalte­ nem Vortrag >>W02u noch HislOrie« (siehe Nr. 78a) wird Augustinus nur gan2 kun erwähnt (S. r6). Augustin-Papiere: Siehe das Konvolm >>Augustin und Gilson« in Kosel­ Iecks Nachlaß. Stelle des Celsus IAnna Miura-Stange: Der Hinweis aufdie Celsus-Stelle ist nicht überliefert. Vgl. aber Reinhart Koselleck, »Zur historisch-po­ litischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, in: Harald Wein­ eich (Hg.), Positionen der Negativität (= Poetik und Hermeneutik VI), München: Fink 1975, S. 65-105, hier S. 84; auch in: vergangene Zu­ kunft, S. 211-259, hier S. 234 (siehe Nr. 82, 84, 86 und 86a); sowie An­ na Miura-Stange, Celsus und Origines. Das Gemeinsame ihrer Weltan­

schauung nach den achtBüchern des Origines gegen Celsus. Eine Studie zur Religions- und Geistesgeschichte des 2. und 3· Jahrhunderts, Gießen: Töpelmann 1926, S. 43ff.

StreitLuther-MüntzerIderSchmalkaldische »Bund« I»verstand«: Vgl. Rein­ hart Koselleck, »Bund«, in: GG, Bd. 1, 1972, S. 582-671, hier S. 604609. Auf S. 6o8 auch die Erklärung für den im heutigen Sprachge­ brauch unüblichen Terminus »Verstand« anstelle von »Bund«. Wilson: Woodrow Wilson (1856-1924), Sohn eines presbyterianischen Pfarrers und von 1913 bis 1921 Präsident der Vereinigten Staaten, regte 1918 die Gründung des Völkerbundes an. Metz: Der katholische Theologe Johann Baptist Metz (geb. 1928), von 1963 bis 1993 o. Prof. an der Universität Münster, trat als Begründer einer »neuen Politischen Theologie« hervor. Kosetleck bezieht sich auf: Johann Baptist Metz, »>Politische Theologie< in der Diskussion«, in:

August 1971 Stimmen der Zeit, Jg. 94, Bd. 184 (1969), H. II, S. 289-308, hier S. 299. Sehrniet kommt in Politische Theologie 11 (1970) an zwei Stellen (S. 26f. und 30f.) auf Mett zu sprechen. Legitimitätsbegriff: Vgl. Louis Bergeron, Fran>Albericus Genriis l erhielt erst 1908, zum 300. Todestage, ein Denkmal in seiner Geburtstadt San Ginesio.«

[8o]

KOSELLECK AN SCHMITT Nussloch, 14. Juli

1973

Nussloch Markgrafenstr.

34

14. 7- 73· Sehr verehrter Herr Professor Schmitt, es ist längst überfa.llig, dass ich mich bei Ihnen herzlich bedanke: für Ihre Karte zum Lexikon und vor allem für Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft in Pasel. Das letzte Halbjahr war für mich turbulent. Ich musste die Ent­ scheidung zwischen Heidelberg und Bielefeld treffen. Die abzu­ wägenden Vor- und Nachteile waren nicht vergleichbar, sodass der Entschluss letztlich in einem Vorgriff auf die Zukunft bestand. Ob ich mich zurecht für Bielefeld entschieden habe, werde ich erst in ein-zwei Jahren wissen. Die von der $PD-Regierung for­ cierte Gesamthochschule wird alle Professoren zu Studienräten im Hochschuldienst machen. Die Gleichheit wird dann neue Blü­ ten treiben - die Oberstudienräte, dje Oberststudienräte, Ge­ neralstudienräte, Generaloberst - usw. Ausserdem wird das Aus­ bildungsniveau zugunsten der Lehrerbildung in sechs Semestern gesenkt werden, das Latein für Historiker wird sich nicht mehr halten lassen, sodass vor 1789 Ignoranz, danach Ideologie obwaltet. Ob es gelingt, das Konzept einer forschungsintensiven Universität gegen diesen Ansturm zu halten, erscheint mir immer fraglicher, seitdem ich in Bielefeld bin. Immerhin sind die Fakultätskollegen

KoseHeck an Schmitt erfreulich, die Auseinandersetzungen sind noch offen, der Um­ gang nicht >verbiestertLeviathan< habe ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen.

Juli T973

2.47

Zum >Bund< fand ich kürzlich einen Beleg, der gut in meine Dar­ stellung des 19. Jahrhunderts passt. Kurt Eisner interpretierte 1896 Paul Singers >Einbund der internationalen Arbeiterschaft< - gegen den Zwei- und Dreibund gerichtet. Es sei ein Wort von »grösster agitatorischer Triebkraft((. »Einbund - das klingt in der Tat zu­ gleich wie eine Erlösung und ein Weckruf. Der Begriff kennzeich­ net keine Tatsache, er ist eine Hoffnung, und gerade deshalb wohnt ihm die Schöpferkraft des Zukunftsgebärenden inne. Denn arn Anfang war die Zukunft, und Zukunft schaffen ist der Zweck des Menschen«. Auffallend die kritisch-beobachtende und doch zustimmende Deftnition von Eisner. Kürzlich las ich die Kriegsbücher von Remarque undJünger noch einmal. Aus Jünger kann man die Disposition zum zweiten Weh­ krieg ableiten, aus Remarque nicht. Und was hat Jünger mit sei­ nen Stahlgewittern usw. in der Neuauflage bei Klett gemacht? Er hat alle Reflexionen über Blut, Eisen, Rasse, Vaterland usw. ge­ strichen, die ihn damals berühmt gemacht hatten; die unter die Haut gehende Darstellung des Frontkampfes selber hat er huma­ nisiert und durch sanftere Worte verschönt. Dabei stammt doch wohl von Jünger die Wendung: Wer sich selbst interpretiert, be­ gibt sich unter sein Niveau? So scheint es, dass wer früher schon Jünger für unerträglich gehalten hat, recht behalten oderex post recht bekommen hat. Welche Variante stimmt wohl? Ich werde nie vergessen, was unser Schuster sagte, alswir 1932/3 aus dem Film >Im Westen nichts Neues< kamen: »Jungs, so ist es gewe­ sen«. Und doch wird der erste Weltkrieg zugleich so >erlebt< worden sein, wie es Jünger geschildert hat. Oieses >Erlebnis< hat er nun re­ voziert. So leiehr lässt sich heute Geschichte umschreiben. Ich lege Ihnen einiges bei: Meine Dissertation, um die Sie mich gebeten hatten. Eine zweite Auflage des Alber-Verlages geht nur stockend ab. Nun will Unseid eine dritte auf den Markt werfen. Das Buch von Eppelsheimer fand ich an einem Stand der Heilig­ Geist-Kirche in Heidelberg. Ich nahm es wegen des Titels für Sie mit. Das Buch scheint im Germanistischen steckenzubleiben.

KoseHeck an Schmitt

Der Aufsatz. zur Begriffs- und Sozialgeschichte reflektiert die Er­ fahrungen des ersten Bandes des Lexikons. Schliesslich gestatte ich mir, Ihnen die Gedenkworte b eizulegen,

die ich zum Tod meines Lehrers Johannes Kühn gesprochen habe. Er war mein Patenonkel und sein Tod bedeutete für meine Eltern wie für mich und meine Famil ie einen tiefen Einschnitt. Mit herzlichen Wünschen und Grüssen auch meiner Frau

verbleibe ich Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart Kosetleck

ÜBERLIEFERUNG 0: Ts.; mit hs. Korrekturen KoseHecks sowie Rand­ bemerkungen und Anstreichungen Schmitts; Landesarchiv NRW, Nach­ laß Carl Schmitt.

Nußloch: Südlich von Heidelberg an der Bergstraße gelegene Gemeinde. Seit Herbst 1971 Wohnort der Familie Koselleck.

IhreKarte zum Lexikon: Siehe Nr. 79· Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft in Pasel: Koselleck besuchte Schmitt

wahrscheinlich im Januar 1973. Terminabsprachen sind nicht überlie­

fert.

Entscheidung zwischen Heidelberg undBieLifeld: Am 10. April 1973 wurde

KoseHeck zum o. Prof. für Theorie der Geschichte an ddr Universität Sielefeld berufen.

Dem

Heidelberger Rektor Hubert Niederländer

hatte er arn 8. März geschrieben: »Ich gestatte mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich mich entschlossen habe, den an mich ergangenen Ruf an die Universität Sielefeld anzunehmen. Es fällt mir schwer, den alt vertrau­ ten und eingespielten Arbeitskreis der Heidelberger Universität zu

verlassen. Es sind, das darf ich erwähnen, nicht die Srudentenunru­ hen, die meinen Weggang motivieren. Vielmehr hoffe ich in Sielefeld an

einer von mir selbst mit aufgebauten Fakultät einige Reformansät­

ze

zu verwirklichen, obwohl sich die hochschulpolitische Lage auf­

kosten der Forschung und zugunsren einer staatlich gesteuerten Leh­ re zunehmend zu verändern droht« (UAH, PA 4616). Siehe auch

Nr. 72 und Anrn.

Vogri r ffaufdie Zukunft: Schrnitt unterstrich sich diese Formulierung und

Juli 1973 notierte am Rand daneben: »blindes Vorgebot (!] Dezisionismus [/] Und was du rust sagt erst der andre Tag«; z.u m Goethe-Zitat »Und was du tust . « siehe Nr. 45 und Anm. Gesamthochschule: An Hans Blumenberg schrieb Kosetleck am 18. Juli 1973 (DLA, NL Blumenberg) in ähnlicher Weise: »[ . . . ] die geplanten Vorzüge von Sielefeld schrumpfen dahin. Dauernd werden neue Re­ fomen über die noch nicht angelaufenen gestülpt und wenn sich alles unter dem Dach einer Gesamthochschule versammelt hat, werdenwir alle Studienräte im Hochschuldienst sein. Eine neue Hierarchie des Ehrgeizes wird gezüchtet werden, es werden Oberstudienräte im Hoch­ schuldienst wachsen, Oberst-, -General - Generaloberststudieruäte, alles unter dem Deckmantel paritätischer Professoren. Die Studieren­ den werden in Klassen gezwängt und nach suengen Lehrpänen l für die Praxis präpariert. Oie verkürzten Studiengänge werden bei uns Hisrorikern das Latein ausschliessen, mit dem Ergebnis, dass vor 1789 Ignoranz, danach Ideologie proportional zur Ignoranz herrschen wird. Das ist etwa meine Prognose, auch wenn ich alles versuchen wer­ de, iru Eintreten zu verzögern.« Henrich: Der Philosoph Diecer Henrich (geb. 1927), von 1981 bis 1994 o. Prof. an der Universität München, lehrte von 1965 bis 198r als o. Prof. an der Universität Heidelberg und war 1972/73 Dekan der Philoso­ phisch-Historischen Fakultät. Lexikon: Geschichtliche Grundbegriffe (GG; siehe Nr. 61), Bd. I, 1972. Registerband: Vgl. G G, Bd. 8 (in zwei Teilbänden), 1997.- Schmitt unter­ strich das Wort und vermerkte am Rand daneben: »wie bei einer Sammlung von Aufsätzen: Sach- und Namensregister«. Seine darun­ terstehende Notiz »Z. B. LegitimitätSartelzeit< ein, in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt. Entsprechende Begriffe tra­ gen ein Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und poli­ tische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommenrar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutun. .

KoseHeck an

Sehrniet

gen gewonnen, die zwar erläutert werden

können, die aber auch un­

mittelbar verständlich zu sein scheinen. Begriffiichkeit und Begreif­ barkeit fallen seitdem für uns zusammen«

XXVII, hier S. XV).

(GG, Bd.

I,

1 972, S. XIII­

Bundesartikel: Reinhart Koselleck, >>Bund«, in: GG, Bd. I, 1972, S. 582-671.

calvinistische Fötkraltheologie I Hobbes-Interpretationen I Koda/Je I Levia­ than: Siehe Nr. 79 und Anm.

BelegIKurt Eisner: Vgl. Kurt Eisner, >>Provinzialbriefe. lV. Der Einbund«, in: Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens, 3· Jg., Nr.

97.

8. August 1896, S. 1471-1478, hier S. 1473. Kriegsbücher von Remarque undjünger: Erich Maria Remarque, Im �­ sten nichts Neues, Berlin: Propyläen 1929 (annotiertes Exemplar in BRK); Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoß­

truppführm, Leisnig: Robert Meier 1922 (zuerst 1920 im Selbstverlag

des Verfassers erschienen, dann noch sechs Neufassungen in zahlrei­

chen Auflagen; kein Exemplar in BRK); vgl. Ernst Jünger, In Stahlge­

wittern. Historisch-kritische Ausgabe,

2

Bde., hg. v. Helmuth Kiesel,

Stuttgart: Klett-Cotta 2013.

Neuauflage bei Klett: Ernst Jünger, In Stahlgewittern,

26., vom Autor er­

neut durchgesehene Auf!. Stuttgart: Klett 1961.

Film >Im �sten nichts NeuesErlebnisBegeisterung< hat er re­

voziert. Weh uns, daß wir begeisten waren! Für Jünger war es nur ein Erlebnis!«

Dissertation Izweite Auf!. desAlber-Verlages I Unseld: Reinhart Koselleck,

Krtik i und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese tkr bürgerlichen �lt, 2. Aufl. Freiburg und München: Alber 1969 (siehe Nr. 72). - Kosel­ Erstauflage seiner

Ieck schickte Schrnitt ein weiteres Exemplar der

Dissecration (vgl. Schmitts Besittvermerk in LAV NRW, RW

265-

24802). Auf Veranlassung von Siegfried Unseid erschien 1973 im Suhrkarnp Verlag (Frankfurt a. M.) eine weitere Ausgabe mit dem leicht veränderten Umertirel Eine Studie zur Pathogenese tkr bürger­

lichen �lt.

Juli 1973 Buch von Eppelsheimer: Rudolf Eppelsheimer, Mimesis und lmitatio Christi bei Loerke, Däubler, Morgenstern, Hölderlin, Bern und Mün­ chen: Francke 1968 (Exemplar in BCS). Aufiatzzur Begriffs- und Sozialgeschichte: Siehe Nr. 8oa. Gedenkworte: Siehe KoseHecks unbetiteltes Ts. vom 28. Februar 1973 in Schrnitts Nachlaß (LAV NRW, RW 265-20030; mit Randbemerkun­ gen Schmitts). Der publizierte Nachrufweist gegenüber der Gedenk­ rede starke Veränderungen auf. Vgl. Reinhart Koselleck, »Zum Tode vonJohannes Kühn«, in: Ruperto Carola 25 (1973), Nr. 51, S. 143f. ­ Johannes Kühn war am 24. Februar 1973 in Heidelberg versrorben.

[8oa]

KOSELLECK AN SCHMITT

[Nussloch, 14.] Juli 1973

Widmung in: Reinhart Kose/leck, »Begriffs- und Sozialgeschichte«, Sonderdruck aus: Soziologie und Sozialgeschchte. i Apekte und Pro­ bleme (Sonderheft 16der KölnerZeitschriftfür Soziologie und Sozial­ psychologie), hg.

v.

Peter Christian Ludz, Opladen: Westdeutscher

Verlag 1971, S. II6-IJI.

Herrn Professor Carl Sehrniet als Ergänzung zum Lexikon von Reinhart Kosetleck

Jul i 1973· ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt. Lexikon: Geschichtliche Grundbegriffe (GG; siehe Nr. 61), Bd. 1, 1972.

252

(81]

Schmin an KoseHeck

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg-Pasel, 29. September 1973

597 Plettenberg-Pasel den 29. September 1973

Anlage 1 Fotokopie aus dem Jahre 1918 (vor 55 Jahren! als Material für Ihr Archiv!) Lieber Herr Koselleck, ich bin wirklich tief in Ihrer Schuld; Hauptgrund ist die kom plette Entscheidungsunfähigkeit des ho­ hen Alters, ein elender Zustand: Soll er gehen, soll er kommen? Der Entschluss ist ihm genommen; Auf gebahnten Weges Mitte Wankt er tastend halbe Schritte, ecc. etc. Offensichtlich: der bestrafte Dezisionismus. Werden Sie mich noch einmal besuchen? Ich empfinde oft den lebhaften Wunsch, nach einem »Wortwechsel« mit Ihnen, vor al­ lem dann, wenn ich bei Jacob Taubes oder bei Hans Blumenberg einem Zitat aus Ihren Publikationen begegne. H. D. Sander schrieb mir, Sie hätten die Frage gestellt: warum hat es in Deutschland keinen Disradi gegeben? Das möchte ich Ihnen gern beantwor­ ten, zumal es einen gegeben hat, oder doch zwei halbe. Für die mir zugesandten Sonderdrucke herzlichen Dank! Von der Erwiderung Taubes' aus dem Band >>Geschichte, Ereignis und Er­ zählung« habe ich mir eine Fotokopie machen lassen (S. 490-499) und daraus neue Impulse gezogen. Ich bleibe dabei: der Besiegte schreibt die Geschichte: das Alte Testament, Thukydides, Poly­ bius, Tacitus, Otto von Freysing, Tocqueville (ich hatte Hans Schäfer für diese These schon gewonnen); der Ansross kann nur ein Trauma sein. Soviel ich weiss, habe ich Ihnen s. Z. den ))Neu-

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jahrsgruss I957((• Links und Rechts, geschickt, mit dem Rüdiger

Altmann seinen Aufsatz über Wirtschaft und Politik im »Merkur« (S. 71 1) neulich geschlossen hat. Damals haben Sie mir geantwor­ tet: Mitte Und wir sind die Geteilten Entbeutet alle beide Modell der Ausgeheilten Parat auf fetter Weide. Horst Ehmke hat mir damals geantwortet (prompt): Jawohl, du bist beklommen, Ihr seid ja eingekeilt, Von Euch wird jetzt genommen Was man heut neu verteilt Sie sehen: es bedarfnur des Bewusstseins der politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz: Armer Allende! Herzlich Ihr Carl Schmitt Ganz besonderen Dank für den Nachruf auf Joh. Kühn! ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; mit nicht klar zuzuordnender farbiger Un­

terstreichung; DLA Marbach, Nachlaß Reinhart Koselleck.

29. September I9JJ: In Schmins Nachlaß Hndet sich noch ein stenogra­ phischer Briefentwurfvom selben Datum (LAV NRW, RW 265-21223). Anlage: Kopie von: Carl Schmitt, ))Die Buribunken. Ein geschichtsphi­ losophischer Versuchunausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns«; vgl. v. a., mit direktem Bezug auf Schmitt und die von ihm erwähnten Klassiker der Geschichtsschreibung: »Erfahrungswandel und Methodenwech­ sel. Eine historisch-anthropologische Skizze«, in: Christian Meier und Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode, München: drv 1988, S. 13-61, hier S. 51-61, Zitat S. 61 (auch in: Zeitschichten, S. 27-77, hier S. 67-

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77, Zitat S. 77). VgJ. auch KoseHecks Brief an Helmut Quaritsch vom

7· Januar 1991 (Materialien, Nr. 2).

»Neujahrsgruss I957«: Siehe Nr. 34· Rüdiger Altmann I ,>Merkur«: Rüdiger Altmann,

politischen Par­ teien und die Wirtschaft«, in: Merkur 300, Jg. 27 (1973), S. 701-7u. Altmann leitet den als solchen nicht deklarierten »Neujahrsgruss« am Ende seines Plädoyers für fmanzpolitische Autorität wie folgt ein: >>Sehrschön drückt Erich Strauß(ein unter diesem Namen selten her­ vortretender Kenner der Lage aus San Casciano, dem die Arcana noch zugänglich sind) die gemischten Gefühle der Beteiligten und Benach­ teiligten aus.« Nach dem Zitat schließt er den Text mit der Bemer­ kung: »Weiter sind, das wird auch ein gemäßigter Futurist vom Niveau des Jahres 1973 aus zugeben, die Reformen noch nicht gekom­ men.« Damals haben Sie mir gtantwortet: Siehe Nr. 35· Horst Ehmke: Horst Ehmke (1927-2017), Staatsrechder und Politiker (SPD), seit 1963 o. Prof. an der Universität Freiburg, 1969 Bundesmi­ nister der Justiz, 1969 bis 1972 Bundesminister für besondere Aufga­ ben und Chef des Bundeskanzleramtes, 1972 bis 1974 Bundesminister für Forschung und Technologie sowie für Post- und Fernmeldewesen. Sehrniet bezieht sich auf einen BriefEhmkes vom 29. Dezember 1956 (LAV NRW, RW 265-3079). Alleruk: Salvador Allende (1908-1973), seit 1970 Präsident der Republik Chile, nahm sich am rr. September 1973 während des Militärputsches unter Führung von General Augusto Pinochet das Leben. NachrufaufJoh. Kühn: Siehe Nr. 8o. »Die

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[8z)

Kosetleck an Sehnlitt KOSELLECK AN

o. 0.,

30.

SCHMITT Dezember 1973

30. 12. 1973

Sehr verehrter Herr Professor Schi'I·ütt zum Neuen Jahr wünschen meine Frau und ich Ihnen alles Gute­ vor allem Gesundheit. Wir sind im November nach Sielefeld ge­ zogen und haben uns gerade eingerichtet in der westfälischen Pro­ vinz. Ich hoffe, daß ich mich im Januar bei Ihnen anmelden kann, denn ich freue mich sehr auf ein Gespräch, zu dem Sie mich so freund­ lich eingeladen haben. Die zwei ))halben Disraelis« in Deutschland sind wohl Stahl und Rathenau? Neulich sprach ich bei Taubes über die politischen Gegenbegrif­ fe in der Weltgeschichte (Hellene - Barbar I Christ - Heide I Mensch - Unmensch und auch Freund und Feind). Darüber will ich Ihnen gerne berichten. Ihre Satire über die Buribunkologie ist so aktuell wie vor fün&.ig Jahren und verdiente neu gedruckt zu werden! Haben Sie beson­ deren Dank dafür! Es grüßt Sie herzlich Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart Kosel­ Ieck

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; mit Notizen Schmitts; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Bitlifeld: Siehe Nr. 8o. freundlich tingeladen: Siehe Nr. 8r. Die zwei »halbm Disratlis«: Siehe Nr. 8r. Stahl und Rathenau: Sowohl der Jurist und konservative Politiker Fried

-

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rich Julius Stahl (x8o2-186r) als auch der Industrielle, Schriftsteller und liberale Politiker Walther Rathenau (1867-1922), im Jahr seiner Ermordung Reichsaußenrninister, wurden als einflußreiche Persön­ lichkeiten jüdischer Herkunft von Schmier seit den 30er Jahren als Feinde identifiziert. Sehrniets antisemitische Auseinandersetzung mit Stahl, etwa in uviathan (S. 106-110), nahm dabei obsessive Züge an. Sein Verhältnis zu Rathenau war ursprünglich ambivalenter gewe­ sen. Vgl. Schmitts Briefe an Rathenau vom 12. und vom 24. April 1912 in: Watther Rathenau. Brieft, Teilband 1: 1871-1913, hg. v. Alexander Jaser u.a., Düsseldorf: Droste 2006, S. 1079-1081 und S. 1083-1085, seine Besprechung von Rachenaus Kritik der Zeit in: Die Rheinlande 22 (1912), H. 9, S. 3 23f., und sein Ratbenau-Porträt in dem 1913 un­ ter Pseudonym veröffentlichten Band Schattenrisse (lngeborg Villin­ ger, CarlSchmitts KuLturkritik derModerne. Text, Kommentar undAna­ lyse der »Schattenrisse«, Berlin: Akademie-Verlag 1995, S. 18-20 und 191-201). bei Taubes: Jacob Taubes' »Hermeneutisches Kolloquium« an der FU Berlin (WS 1973/74). Gegenbegriffe in der Weltgeschichte: Zu diesem Themahatte KoseHeck be­ reits im September 1972 aufder 6. Tagung der Forschungsgruppe >Poe­ tik und Hermeneutik• (siehe Ne. 94) in Bad Hornburg gesprochen. Vgl. Reinhart Koselleck, nZur historisch-polirischen Semantik asym­ metrischer Gegenbegriffe«, in: Harald Weineich (Hg.), Positionen der Negativität (= Poetik und Hermeneutik VI), München: Fink 1975, S. 65-105 (auch in: Vergangene Zukunft, S. 21I-259); siehe auch Nr. 78, 84, 86 und 86a. Vgl. zur Thematik ferner: Reinhart Koselleck, »Feind­ begriffe«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahr­ buch 1993, Göttingen: Wallstein 1993, S. 83-90 (auch in: Begri.ffige­ schichten, S. 275-284). Ihre Satire über die Buribunkofogie: Buribunken; siehe Nr. Sr und Anm. sowie Nr. 110, 115 und u8.

Schmitt an Kosetleck

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[ 83]

SCHMITT AN KOSELLECK

Plettenberg-Pasel, 30. Januar 1974

Plettenberg-Pasel I I c

3 0irl74

Lieber Herr Koselleck, Ihr Weihnachtsgeschenk von 1970, die südafrikanische Blume, die Ihre Frau damals schickte, hält sich unentwegt lebendig und mahnt mich an meine Briefschulden, wie der Sklave, der den Xer­ xes täglich an die Athener mahnte, und dessen Name »die« Ge­ schichte nicht nennt. Warum wird dieser Name von Historikern

verschwiegen? Hatte er, als Sklave, keinen Namen? Hatte er, als Funktion, nur eine Ziffer? Ich habe den Eindruck, die römischen Historiker (jedenfalls der Kaiserzeit) hatten weniger Hemmungen, einen Sklaven-Namen zu nennen, als die Griechen, die in ihrer Gesprächigkeit nicht einmal mit dem Namen des Herostrat dicht­ halten konnten, offenbar, weil er kein Sklave war. Ich bin Ihnen und Ihrer Frau einen Gruss und Glückwunsch schuldig für Ihre neue Wohnung. Diese Zeilen sind aber nur eine Bitte um Geduld. Alles geht unglaublich langsam mit mir. Seit Jahren versuche ich mein ))Nunc dimittis« zu singen. Immer wer­ de ich umerbrochen. Oft sind die Unterbrechungen so belebend, dass ich jedes Zeitgefühl verliere und meine 85 Jahre vergesse; so vor einigen Wochen, als mir ein Brief von Johannes Kühn vom Jahre 1940 (zu meiner Grossraumordnung) in die Hände fiel. Ich habe noch nicht einmal Ihre Weihnachts- und Neujahrswün­ sche erwidert. Ernst-Wolfgang Böckenförde, der mich am 18/r9 Januar hier in San Casciano besucht hat, wird Ihnen meine Grüs­ se ausgerichtet haben. Hätte ich den ))Spiegel« von Montag 28/r d . J. damals schon gehabt, so hätte ich ihm noch das Bild auf S. 32 (Nr. 5) für Ihre ikonographische Sammlung mitgegeben.

Aufihren Besuch freue ich mich ganz ausserordenclich. Ich muss

Januar 1974

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mir einige Punkte für unser Gespräch vorbereiten; das Traurigste am Alter ist nämlich der prekäre Charakter aller Äusserungen; der Mangel an Sicherheit bezüglich der eigenen Präsenz. Deshalb bitte ich schon präventiv um Geduld, und weiss aus vie­ len Erfahrungen, dass es sich dabei um eine nicht mehr zurnutbare Erwartung handelt. Oie I I Seiten Ihrer »Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen« sind bereits durch Randbemerkun­ gen und Fragen völlig verschmiert und ganz unleserlich gewor­ den. Zu Taubes eine private und diskrete Frage: würde man mit ihm ­ ohne fortwährend allergische Reaktionen befürchten zu müssen ­ über Augustinus (C. D. XX, 19) sprechen können; ich meine im Sinne dessen, was Sie (S. 219 unten) »geschichtliche Valenz« und ))Theoriefähigkeit« nennen? Frau Kesting hat mir einen Vorschlag gemacht: nach Bietefeld zu reisen und dort an einem Gespräch teilzunehmen. Der Vorschlag hat mich sehr gerühn; ich bin aber nicht mehr reisefähig. Auch stehen einige Ebracher Erfahrungen mit Gesprächen, an denen mir persönlich nicht bekannte Zuhörer teilnahmen, hemmend im Wege; übrigens ist das eine ganz andere An Hemmung wie die gegenüber einem etwaigen Gespräch mit Taubes. Ich werde Frau Kesting noch schreiben; aber bei meinem Schnecken-Tempo vergeht möglicherweise soviel Zeit, dass ich darüber in Schwer­ mut verfalle und schreibunfähig werde. Ich habe nur noch einen Hinweis anzubringen, auf zwei Engländer: Samuel Butler, Ere­ whon (seit 30 umsonst von mir propagiert, vgl. Nomos der Erde p. 149 die beiden letzten Zeilen U-topie oder Eu-topie) und Ro­ ben Hugh Benson »Lord ofthe World« von 1907; beides Produkte des anglikanisch-katholischen 19. Jahrhunderes und von der deut­ schen Literatur hartnäckig ignoriert. Herzliche Grüsse und Wünsche für Sie, lieber Herr Koselleck, und für Ihre Frau und alles Gute für Ihre Kinder! Ihr Carl Schmitt

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ÜBERLIEFERUNG 0:

Schmier an KoseHeck Hs.; DLA Marbach, Nachlaß Reinharr Kosel­

leck.

301II74: In Sehrniets Nachlaß (Briefkonvoluc Koselleck) fi.ndec sich ein stenogr. Briefentwurf selben Datums.

Weihnachtsgeschenk von 1970: Siehe Schmircs Brief an

Felicitas KoseHeck

(Nr. 1) vom 26. Dezember 1971.

Herostrat: Der Brandstifter Herostratos zerstörte 365 v. Chr. den Tempel der Artemis in Ephesos, um seinen Namen unsterblich

zu

machen.

Das bei seiner Hinrichtung unter Todesandrohung verhängte Verbot, seinen Namen zu nennen, wurde von dem zeitgenössischen Histori­ ker Theopompos durchbrochen.

Ihre neue Wohnung: Siehe Nr. 82. »Nunc dimittis«: »Nunc dimictis servurn ruum Domine,

secundum ver­

burn ruum n i pace . . . « (lat.), »Herr, nun lä.ßt du deinen Diener in Frie­

den fahren, wie du gesagt hast . . . " Einer der drei Lobgesänge des Lukas­ Evangeliums (Luk. 2,29-32) und Teil des chrisdichen Nachtgebetes.

Briifvon johannes Kühn: Johannes Kühn an Carl Schmier, 19. Februar 1941 [nicht 1940], in: LAV NRW, RW 265-8513. Kühn gibt in dem aus­ führlichen Brief seine Übereinstimmung mit Sehrniets Aufsatz (s. u.) kund: »Auch hier wieder erhellen Sie die Welt durch Ihren scharfen

Blick. [. . . ] Vor allem aber ist die Haup((hese nichts als die reine Wahr­ heit: Ziel der englischen Politik ist >universalistische Weltherrschaft durch Methoden liberaler Weltwirtschaftspolitik< (162) unter Einstel­ lungdesverfassungsrechdichen Liberalismus in denselben Dienst (163), alles mit dem Ergebnis, dass der Charakter der angelsächsischen Poli­ tik •gleichzeitig universalistisch und anarchistisch< ist (169)«. Am En­

de bemerkt Kühn: »Ich denke, was wir heure in Europa und der hal­ ben Welt erleben, ist der alte Kampf Patriziat-Plebs, nur ins Globale und Universale gesteigert. Die Plebs, die Demokratie, hat Chancen, die sie früher nicht hatte: die Fülle von Technik und Organisation je­ der Art, materiell wie geistig. Aber sie hat auch Schwierigkeiten, die

sie früher nicht hatte: die Unendlichkeit und Unübersehbarkeit der Menge und der Räume. Auch bei unserer Revolution wird alles darauf ankommen, ob die Homogenität - Ihr Wesensbegriff-wenigstens an­ nähernd erreicht wird.«

Januar 1974

zu meiner Großraumordnung: Carl Schmitt, >>Raum und Großraum im Völkerrecht«, in: Zeitschrift für Völkerrecht 24 (1940), H. 2, S. 145179 (Sonderdruck in BRK mit der Widmung: »]oharmes Kühn mit herzlichem Dank für seine Schrift über den Sinn des gegenwärtigen Krieges! 17/9 40 Carl Schmitt.«). Schmitt bezieht sich hier auf: Johan­ nes Kühn, Ober den Sinn des gegenwärtigen Krieges, Heidelberg u. a.: Vowinckel 1940 (annotierres Exemplar in BRK).

Weihnachts- und Neujahrswünsche: Siehe Nr. 82. San Casciano: >>San CascianoEin ernster und fürchterlicher Falk Spiegel Re -

­

porter Gerhard Mauz im Prozeß gegen Erich FriedZielen und Treffen auch nochIm Felde unbesiegt< der deutschen Heimatdenkmale schon angeschlagen ist. Ansonsten unterscheiden sich die Friedhöfe der Nationen und ihre Denkmäler sehr. Die deutschen Kriegergrab­ stätten, wie sie heissen, melancholisch, mit Efeu, Heidekraut und Eichen zugewachsen. Auf den französischen Kriegerfriedhöfen für jeden Soldaten ein Kreuz und Rosen. Die englischen Friedhö­ fe perfekt gepflegt, streng militärisch die Ordnung; die amerika­ nischen schliesslich mit weissem Marmor, geschliffen und lackien,

in den Krypten siegreiche Goldpfeile gegen das schwarz darge­ stellte Nichts, den Feind, die Deutschen, versendend. überraschen­

de Varianten findet man in Flandern, wo der Erinnerungsturm zum Gedächtnis an die Toten beider Kriege gegen die Grassmäch­ te gerichtet ist, den Pazifismus für die unterdrückten und verfolg­ ten Flamen verbuchend. In Luxemburg ist ein Denkmal, das 1918

offenbar an die Toten beider Seiten erinnerte, nach 1945 umfunk-

Oktober 1975

tioniert worden für die Gefallenen der Siegerseite: aber ob diese Interpretation stimmt, muss ich noch feststellen. In Compiegne war unser westlichster Ort: wo die von Hitler ge­ sprengten Denkmale und der Wagen und was es alles an Trara drumherum gibt, wieder hergerichtet worden ist, so auch die In­ schrift, die von dem kriminellen Hochmut des Deutschen Reiches spricht, der gebrochen und besiegt worden sei. Nur von 1940 ist im Museum kein Wort die Rede. Die Differenz zwischen Gesche­ hen und Bericht, auch die zwischen Tod und Denkmal ist das ei­ gentliche Politicum. Die Toten selber, vor allem die des ersten Weltkrieges, sind wahrlich eine verlorene Generation, denn sie ha­ ben keine Eltern mehr und kaum Kinder. Die Lücke wird durch die Mahnmale geschlossen, aber was diese einmahnen, ist kaum noch verständlich. In Lüttich gibt es einen rd. 8o m hohen Erinnerungsturm, mit grosser dazugebauter Kirche und Aufmarschplätzen und derglei­ chen, in den dreissiger] ahren erbaut, heute verfallen und nicht be­ sucht. Die Denkmale des zweiten Krieges, an die Resistance erin­ nernd, stehen im Zentrum der Stadt. Die Stillage fast aller Denkmale ist etwa die von Speer und Tho­ rak und Bleeker, Ausnahmen fallen dagegen auf. Während der Fahrt las ich die Regimentsgeschichte, die mein Va­ ter geschrieben hat und die mich von Tag zu Tag durch Flandern, über die Somme und den Chemin des Dames nach Verdun führte. Die Phantasie reicht nicht aus, um für möglich zu halten, was da­ mals geschehen ist. Selbst die Bombenkriege und der Ostkrieg da­ nach reichen wohl nicht an das andauernde Inferno heran, das damals durchgestanden wurde und nur durch den Tod beendet werden konnte. So überzeugen heute noch am ehesten die erhal­ ten gebliebenen Trichterfelder, auf denen ein Obelisk steht mit der Mitteilung, dass hier- etwa im Umkreis von 300 mal 300 Me­ tern - 8ooo Tote liegen, die nicht mehr identifiziert und beigesetzt werden konnten. Solche Grabfelder tauchen entlang der Front im­ mer wieder auf. Hier hat sich offenbar etwas ereignet, was sich,

Kaselleck an Schrnitc

trotz aller Fanfaren und ideologischer Berichterstattung, jeder weiteren >Verwertung< entzieht. Aber die Verwertung wird trotz­ dem weiter versucht: in unserer Nachbarschaft liegt ein Friedhof mit rd. 8oooo russischen Toten des zweiten Weltkrieges: neulich sollten die Beschlüsse von Helsinki dort zelebriert werden, aber auf den Gräbern gab es eine Prügelei zwischen DKP und KPD. Ich glaube nicht, dass derartiges fiüher möglich gewesen ist, wohl auch nicht in den zwanziger Jahren, die ja an Borniertheit und Schamlosigkeit im politischen Nahkampfnichts fehlen Hessen. Sehr verehrter Herr Professor Schmitt, mit der Bitte, mein langes Schweigen entschuldigen zu wo1len, grüsse ich Sie herzlich ver­ bunden mit allen guten Wünschen, dass sie den Tücken des Alters entgehen mögen. Ebenso grüsst Sie meine Frau, und bitte grüssen Sie herzlich Fräulein Anni Stand Ihr Ihnen sehr ergebener Reinhart Kaselleck I.

Oktober 1975

Ich lese gerade-zum ersten Mal - Ihre Schrift über Hugo Preuss aus dem Jahre 1930, der Sie einige Absätze n i dem Aufsatz ent­ nommen haben (zum Begriff des Organischen). Der Hugo Preuss Aufsatz ist heute von einer verblüffenden Aktualität, 1975, gerade mit seinem offenen Ende. Ausserdem wirft er überraschende Schlag­ lichter auf mein Preussenbuch. Man sieht, in welchen langen Fri­ sten und Strukturen: wie langsam sich die Geschichte vollzieht, ( . . . ) I848-I87I-1890-1918-I933-1945 - ? b. W. Hat Preussen wirklich eine kirchliche Funktion ausgeübt (p. 23)? Weil der Geist beamtet wa.r? Diese Aufgabe hat sich kein Preusse gesucht, weder Friedrich der Grosse noch Bismarck, weder Kant noch Schleiermacher, auch nicht Hegel und nicht einmal Fried­ eich Wilhelm IV. Höchstens Marx + Wilhelm TI und manche im 2. Glied. *

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Oktober 1975

ÜBERLIEFERUNG 0 : Ts.; mit gedrucktem Briefkopf; mit hs. Zusatz und Korrekturen KoseHeckssowie Notizen undAnstreichungen Schmitts; Landesarchiv NRW, Nachlaß Carl Schmitt.

Aufiatz zur Semantik asymmetrischer Gegenbegriffi: Reinhart Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, in: Harald Weineich (Hg.), Positionen der Negativität ( Poetik und Hermeneutik VI), München: Fink 1975, S. 65-104 (auch in: �rgange­ ne Zukunft, S. 211-277). Siehe Nr. 86a sowie 78, 8z und 84. t:kr letzte, Ihnen gewidmet(Absatz: Schmitt und seinem Begriffdes Politi­ schen ist der vorletzte Absatz gewidmet, wo es u. a. heißt: >•Nach der inhaltlichen Entleerung der universalen und zugleich dualistischen Begriffspaare im 20. Jahrhundert war es die wissenschaftliche Lei­ stung von Carl Schmitt, die funktionalen und ideologisch gehandhab­ ten Gegensätze der Klassen und Völker, die sich jeweils substanziell artikulierten, so weit zu formalisieren, daß nur die Grundstruktur möglicher Gegensätze siehebar wurde. Das Begriffspaar Freund und Feind zeichnet sich durch seine politische Formalität aus, es liefert Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen. [. ] Wie auch immer Carl Sehrniet mit seiner eigenen Parteinahme diesen Ge­ gensatz konkretisiert hat, er hat zunächst eine Formel geprägt, die als Bedingung möglicher Politik nicht überholbar ist. Denn es handelt sich um einen Begriff des Politischen, nicht der Politik« (S. 104; in: �rgangene Zukunft, S. 258f.). Ihren Aufiatz aus der Festschrift: Carl Schmitt, »Der Gegensatz von Ge­ meinschaft und Gesellschaft als Beispiel einer zweigliedeigen Unter­ scheidung. Betrachtungen zur Struktur und zum Schicksal solcher Antithesen«, in: Estudiosjuridico-Sociales. Homenaje al Proftsor Luis LegazyLacambra, Santiago de Compostela: Universidad de Campos­ tela 1960, S. 165-178 (annotiener Sonderdruck in BRK, mit hs. Seiten­ angabe [173] von Sehrniet auf dem Titelblatt, ohne Widmung). *: Hs. Nachtrag am Seitenrand, hier am Briefende wiedergegeben. meinem Besuch bei Ihnen: Am r6./r7. März 1974. Siehe Nr. 85. tks bieleftlderZentrumsf ür interdisziplinäre Forschung: Das Zentturn für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld wurde 1968 von dem Soziologen Helmut Schelsky nach dem Vorbild der In=

..

274

Kosetleck an Schmitt

stitutes for Advanced Studies in Princeron und Stanford auf Schloß Rheda gegründet und berog 1972 einen eigenen Campus unweit der Universität. KoseHeck amtierte 1974/75 als Geschäftsführender Direk­ ror.

zweiten Band des Lexikons: Geschichtliche Grundbegriffi (GG; siehe Nr. 61), Bd. 2, 1975; darin: Reinhart Koselleck, »Emanzipation«, S. 153-197 (mit Karl Martin Grass}; »FortschrittPoetik und Hermeneutik< (siehe Nr. 94) in Bad Homburg; vgl.: »Kriegerdenkma­ le als Identitätsstiftungen der Überlebenden«, in: Odo Marquard und Karlheinz Seierle (Hg.), Identität(= Poetik und Hermeneutik VIII), München: Fink 1979, S. 255-276; hier auch Abbildungen einiger der im Briefan Schmin erwähnten Denkmäler. Auszüge des Vortrags bereits in: »Die Herausforderung der Mahnmale. Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden«, in: FAZ, 13. November 1976. tember

lmpavidus numero victus: Lat., »Tapfer, nur der Zahl erlegen«. Vgl. dazu auch: Reinhart Koselleck, Zurpolitischen Ikonologie tks gewaltsamen Tolks. Ein deutschfranzösischer Vergleich, Basel: Schwabe 1998, S. 36. Speer und Thorak und Bleeker: Albert Speer (1905-1981), Architekt Hit­ lees und von 1942 bis 1945 Reichsminister für Bewaffnung und Muni­ tion; Josef Thorak

(1889-1952), Bernhard Bleeker (r88I-I968),

Dritten Reich populäre Bildhauer.

im

Regimentsgeschichte: Arno KoseHeck diente freiwillig imErsten Weltkrieg,

seit November 1915 als Leutnant der Reserve, seit Juli 1917 als Adju­ tant in den Feldartillerie-Regimentern 2 und II2. Seine zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Saarbrückenverfaßte vierbändige Darstellung

Das Feldartillerie Regiment Nr. 112 im Weltkrieg erschien

zwischen

1941 und 1944 (ohne Verlag).

Friedhofmt i rd.

8oooo russischen Toten: Gemeint ist der Sowjetische Eh­

renfriedhof bei Stukenbrock. Dort befand sich von 1941 Stammlager

bis 1945 das 326 IV-K. Siehe zu dem im Brief geschilderten Vorfall

auch: Reinhart Koselleck, »Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden« {s.o.), S. 276.

Ihre Schrift über Hugo Preuss: Carl Schmitt , Hugo Preuß Sein Staatsbe­ griffund seine Stellung in der �kutschen Staatslehre, Tübingen: Mohr 1930. KoseHeck erbte sein Exemplar (in BRK) laut BesitzVermerk 1974 von Johannes Kühn. Auf der letzten Seite notierte er: »an es I. X. 75 Verblüffende Ähnlichkeit zu 1975 - das offene Ende und über-

Kosetleck an Schmin raschend die strukturelle Ähnlichkeit . . . «. Schmitt becom in seiner Festrede über den Vater der Weimarer Verfassung, Leben und Werk von Hugo Preuß (1860-1925) hätten jenen »Zusammenhang von freier bürgerlicher Bildung und Staarsverfassung« bewiesen, der für den bürgerlichen Rechtsstaat norwendig sei. Zugleich zweifelt er daran, »ob es in Deutschland heute noch eine von den organisierten Parteien unabhängige politische IntelligenzJ< geben könne (S. 24f.). Der Text s i t wiederveröffentlicht als Anharrg zu: Carl Schmitt, Der Hüter der

Verfassung, 5· Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 2016, S. 161-184. [. . .} 1848: Unleserliches Wort bzw. Künel. mein Preussenbuch: Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Re­ volution; siehe oben und Nr. 69 und 69a. eine kirchLiche Funktion: Zu Preußens kirchlicher Funktion bemerkt Schmitt im Hugo-Preuß-Aufsatz (s.o.) aufS. 23: »Diese eigenartige

Verbindung von Staat und Geist war im preußischen Staat des 19. Jahr­ hunderts möglich underklärlich, einmal, weilder preußische Staat kein reiner Staatwar, sondern, trotz aller konfessionellen Neutralität, in seiner geschichtlichen Wirklichkeit Funktionen einer Kirche übernommen hatte, und zweitens, weil die Bildung in Preußen (und vor allem in sei­ ner Hauptstadt Berlin) zum größten Teil Staatsbeamtenbildung war.«

Anni Stand: Nachname im Original unleserlich vertippt.

[86a]

KOSELLECK AN SCHMITT

o. 0., 1. Oktober 1975

Widmung in: Reinhart Kose/leck, »Zur historisch-politischen Seman­ tik asymmetrischer Gegenbegriffe«, Sonderdruck aus: Harald Wl>in­ rich (Hg.), Positionen der Negativität (= Poetik und Hermeneutik VI), München: Fink 1975, S. 65-104.

Für Carl Schmitt,

den fernwirkenden Anreger dieser Studie -

R. Kaselleck

November 1975

ÜBERLIEFERUNG 0: Hs.; mit eingeklebter

Visitenkarte

KoseHecks

mit dem Widmungsgruß: �Für Herrn Professor Carl Schmitt! 1. Oktober

1975«; Landesarchiv NRW,

Siehe Abb.

[87)

Nachlaß

Carl Schmitt.

6.

SCHMITT AN KOSELLECK Plettenberg-Pasel, 2 2 . November 1975

PI. Pasel, 22/n, 1975 Lieber Herr Koselleck, auf Ihre Sendung von Anfang Oktober (Sonderdruck ))Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, 2 Fotokopien Joh. Kühn-Brief 1941 mit Originalbrief, und ein inhaltreicher Begleitbrief, datiert I . Okt. 75) antworte ich erst heute. Seit dem Beginn der Sterbewo­ chen Francos wollte ich Ihnen schreiben, zumal die Gespräche mit meinem Schwiegersohn Alfonso, der im September hier war und Anfang Oktober nach Spanien zurück gereist ist, begreif­ licherweise das Th.ema Monarchie und Franeo betrafen. Damals schon, Anfang Oktober, wollte ich Ihnen schreiben, um ein Ge­ spräch über den »Tod des Diktators« mit Ihnen zu führen. Offen­ bar lässt sich eine geschichts-adäquate Reflexion über die politi­ sche Macht ebensowenig planen wie über den Zugang zur Macht oder die Nachfolge in die Macht selbst. Erbe und Eigentum, Ei­ gentumserwerb und Nachfolge in das Eigentum, d. h. der Todes­ fall des Eigentümers, lassen sich nicht trennen. Die Zerreissung solcher Zusammenhänge ist Verbrechen; die !egalitäre Umgehung des Risikos durch einen parlamentarischen Regierungswechsel ist bestenfalles pia fraus; ein Schleier um das Bild der Gorgo, von dem die Schleier-Weber profideren und mit dem die intelligenten Nutzniessec des »legalen« Machtbesitzes und Machterwerbes sich

Sehrniet an

KoseHeck

gegenseitig zu betrügen suchen, indem sie das Problem der politi­ schen Prämien auf den legalen Machtbesitz todschweigen und ta­ buisieren. Unmittelbar danach d. h. noch im Oktober d.J. erhielt ich das Heft 3 des »Staat« 1975 und das Beiheft über den deutschen Kon­ stitutionalismus des 19. Jahrhunderts; beides war ein neuer heftiger Anstoss, mich wieder mit Ihrem Preussen-Werk zu beschäftigen. E. R. Huber hat es erreicht: ich gelte nur noch als »ultra-konserva­ tiv« ; man koppelt mich mit Stahti und Gerlach zusammen und er­ spart sich das weitere Nachdenken, indem man der Schrift »Staatsgefüge und Zusammenbruch« ein Hakenkreuz auf Brust und Rücken schmiert. Das ist für mich schwer zu ertragen, weil jeder Versuch einer Richtigstellung unter Hinweis auf Leibholz­ Löwith-Löwenstein für >>unglaubwürdig« erklärt wird. Also Gnei­ senau war ultra-konservativ, die Offiziere des 20. Juli 1944 wa­ ren - wenn überhaupt Helden - Antifa-Helden, und die Offiziere in allen heutigen Ländern der »Dritten Welt«, die sich vor den Seg­ nungen des USA-Konstitutionalismus retten wollen, ohne sich an Moskau auszuliefern, sind »Ultra-Konservative