Das Bildliche und das Unbildliche: Nietzsche, Wagner und das Musikdrama 3770559932, 9783770559930

In Nietzsches Geburt der Tragödie wird der »apollinischen« Kunst des Bildners die »dionysische«, unbildliche Kunst der M

122 108 21MB

German Pages 168 [169] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Bildliche und das Unbildliche: Nietzsche, Wagner und das Musikdrama
 3770559932, 9783770559930

Table of contents :
Das Bildliche und das Unbildliche. Nietzsche, Wagner und das Musikdrama
Inhalt
Vorwort
Das Loch in der Tapete. Hörbarkeit und Sichtbarkeit bei Wagner und Nietzsche
In den Strudeln der Einbildungskraft. Philosophische Imagination bei Fichte, Schiller und Nietzsche
Must one be silent about that whereof one cannot speak? Remarks on the first scene of Die Walküre
»Der widerwärtige Anblick des Sängers«. Nietzsches und Wagners Traum-Theater
Parsifal und die Transzendenz der Kunst
»Geistersehen« in der »Schallwelt«. Anti-Theatralität und Meta-Theater in Wagners Schriften und im Parsifal
Nietzsches Ästhetik der Intermedialität
»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«. Friedrich Nietzsche, Gustav Mahler und der schöpferische Tanz des Dirigenten. Eine phänomenologische Skizze
Wagner, Nietzsche und – Böcklin. Ein »Stimmungsbild« der Böcklin-Rezeption um 1900
Autorinnen und Autoren
Siglenverzeichnis

Citation preview

Das Bildliche und das Unbildliche. Nietzsche, Wagner und das Musikdrama

Matthias Schmidt, Arne Stollberg (Hg.)

eikones Herausgegeben vom Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik an der Universität Basel

Das Bildliche und das Unbildliche. Nietzsche, Wagner und das Musikdrama Matthias Schmidt, Arne Stollberg (Hg.)

Wilhelm Fink

Schutzumschlag: 2010 Jill Ruskamp, Nebraska, Vereinigte Staaten von Amerika. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn). Internet: www.fink.de eikones NFS Bildkritik, www.eikones.ch. Die Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) sind ein Förderinstrument des Schweizerischen Nationalfonds. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds und des Fonds zur Förderung der Geisteswissenschaften der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel. Lektorat: Stephan E. Hauser, Basel Gestaltungskonzept eikones Publikationsreihe: Michael Renner, Basel Layout und Satz: Mark Schönbächler, Morphose, Basel Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5993-0

Inhalt

9

Vorwort

Matthias Schmidt 13

Das Loch in der Tapete. Hörbarkeit und Sichtbarkeit bei Wagner und Nietzsche

Andreas Dorschel 29

In den Strudeln der Einbildungskraft. Philosophische Imagination bei Fichte, Schiller und Nietzsche

Karol Berger 43

Must one be silent about that whereof one cannot speak? Remarks on the first scene of Die Walküre

Arne Stollberg 59

»Der widerwärtige Anblick des Sängers«. Nietzsches und Wagners Traum-Theater

Tobias Janz 79

Parsifal und die Transzendenz der Kunst

Nicola Gess 95

»Geistersehen« in der »Schallwelt«. Anti-Theatralität und Meta-Theater in Wagners Schriften und im Parsifal 5

Federico Celestini 117

Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

131

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«. Friedrich Nietzsche,

Silvan Moosmüller Gustav Mahler und der schöpferische Tanz des Dirigenten. Eine phänomenologische Skizze

Andrea Gottdang 147

Wagner, Nietzsche und – Böcklin. Ein »Stimmungsbild« der Böcklin-Rezeption um 1900

6

167

Autorinnen und Autoren

168

Siglenverzeichnis

7

Vorwort Matthias Schmidt und Arne Stollberg

Friedrich Nietzsche war 24 Jahre alt, als er Richard Wagner im Leipziger Heim von dessen Schwager Hermann Brockhaus kennenlernte. Die hier angebahnte Freundschaft, in deren Verlauf sich Nietzsche vom leidenschaftlichen Künder zum schärfsten Kritiker Wagners wandelte, war menschlich ebenso verwickelt wie kulturgeschichtlich folgenschwer. Knappe acht Jahre währte der persönliche Kontakt – die Nachwirkungen der Begegnung des Philosophen mit dem Künstler reichten aber erheblich weiter. Die unwiderstehliche Anziehungskraft der beiden Denker aufeinander lässt allein schon der imaginäre Dialog zwischen Nietzsches Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 (inklusive ihrer Vorstudien) und Wagners Beethoven-Aufsatz von 1870 erahnen, in denen auf je eigene Weise die Erfahrung der Kompositionen jener Zeit, insbesondere des Tristan und der Meistersinger, ihren Niederschlag fand. Griechisches Theater und Wagner’sches Musikdrama werden in Nietzsches Tragödienbuch ausdrücklich ineinander gespiegelt. Und eine der Pointen dieses Denktableaus ist die mediale Zuordnung, die Nietzsche in Bezug auf die konkreten Künste vornimmt: Der »apollinischen« Kunst des Bildners steht die »dionysische«, unbildliche Kunst der Musik gegenüber. Die dichotomischen Begriffe des Bildlichen und des Unbildlichen treten dabei in engster Verbindung auf. Denn für Wagner und Nietzsche bringt die Musik – nach der Auffassung Arthur Schopenhauers – das Wesen der Dinge zum Ausdruck, während sich die Malerei in bloßer Abbildlichkeit erschöpft. Zugleich aber ist auch die Musik an die Welt der Erscheinungen gebunden und auf sie angewiesen, um sich überhaupt wahrnehmbar machen zu können. Das 9

Verhältnis zwischen dem nach innen gewandten und dem äußeren Bewusstsein, bei Wagner und Nietzsche metaphorisch als Opposition von Bild und Musik, Tag und Nacht, Wirklichkeit und Traum oder Licht und Schall gegenwärtig, bildet den Ausgangspunkt einer weitverzweigten Konfiguration ästhetischer Positionierungen, die noch in der Zeit um 1900 unter Malern und Komponisten erhebliche Wirkung entfaltet. Zwar ist Nietzsche überzeugt vom ontologischen Primat des Dionysos gegenüber Apoll, und Wagner betont etwa den Vorrang des Musikalischen vor dem SprachlichBildlichen oder des Orchesters vor der Bühnenhandlung. Doch anders als bei Wagners Suche nach philosophischen Idealen sowie nach der Transzendenz nationaler oder christlicher Mythen steht für Nietzsche die Immanenz einer weitestmöglichen Realisierung des Lebens als Kunst im Mittelpunkt. Der vorliegende Band unternimmt einerseits den Versuch, Nietzsches und Wagners Standpunkte in ihrer Entwicklung des Mit- und Gegeneinanders vor dem Hintergrund der Musikdramen Wagners sowie einige der daran geknüpften Rezeptionsstränge historisch zu rekonstruieren, folgt aber andererseits auch dem Ziel, dies auf eine aktuelle Theorie und Praxis der Intermedialität von Bild und Klang beziehbar zu machen. Versammelt sind hier die Beiträge eines Symposions, das am 23. und 24. April 2013 an der Universität Basel als Veranstaltung von eikones – Nationaler Forschungsschwerpunkt Bildkritik in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar stattfand. Neben den Herausgebern zeichnete Matteo Nanni für die Konzeption der Tagung verantwortlich, wofür ihm an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Bereits in die Durchführung der Konferenz und nachfolgend weiter in die redaktionelle Betreuung des Bandes, von der ersten Texteinrichtung bis zur Erstellung von Notenbeispielen, waren – als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Basel – Julia Beier, Florian Henri Besthorn, Alexandra Gronwald und Madita Knöpfle involviert. Ihnen gilt ein großes Dankeschön für die geleistete Arbeit, ebenso allen Personen, die an der Gestaltung und Endredaktion des Buches innerhalb der eikones-Publikationsreihe beteiligt waren, namentlich Stephan E. Hauser, Janina Müller und Mark Schönbächler. Basel, im Frühjahr 2015

10

Das Bildliche und das Unbildliche

11

Das Loch in der Tapete. Hörbarkeit und Sichtbarkeit bei Wagner und Nietzsche Matthias Schmidt

Wagner träumt »R. schrie auf diese Nacht«, so heißt es im November 1881 in Cosima Wagners Tagebuch, »und teilte mir am Morgen mit, er habe wiederum geträumt, ich verließ ihn mit irgendeinem verwünschten Maler, keinem bekannten, nachdem in seiner Stube ein Bild herausgenommen worden war und ein Loch in die Tapete gemacht, worüber er nichts zu sagen gehabt. Er habe das Gefühl großer Ungezogenheit seinerseits dabei gehabt und habe es auch dazu gebracht, daß ich zurückkäme, um mich mit ihm zu erklären! Er wisse, was das heiße, er sollte aufwachen, und da nähme der Traum das Gräßlichste vor.«1 Ein eigenartiger Wettstreit der Künste zwischen Komponist und Maler spielt sich im Alptraumbericht Wagners vor den Augen des Lesers ab. Es ist zugleich der Traum eines Musikers von einem gemalten Bild und einer – unbildlichen – Leerstelle (dem »Loch in der Tapete«). Und Wagners Reflexion über das »Aufwachen« macht den Traum zugleich zu einem solchen über das Träumen selbst – die Mitteilung Cosimas über den Schrei des Schlafenden verbürgt dabei die Wirklichkeit der Traumbilder in der Wachwelt. Ob es, wie Johanna Dombois vermutet hat, eine körperliche, »pathogen insomnische Disposition« Wagners war oder einfach die unwiderstehliche Anziehung eines »surrealistischen Tonus«,2 der die Häufung phantasmagorischer Zustände und Traumdramaturgien in Wagners Werk begünstigte: Träume sind in seinen stets fließend inszenierten Übergangsdramaturgien zwischen Leben und Schaffen ein zentrales Ausdrucksmittel. Über 500 von ihnen erscheinen akribisch dokumentiert vor allem in Cosima Wagners Tagebüchern; noch nicht einmal mitgezählt sind dabei 13

diejenigen wiederkehrenden Träume wie der gerade mitgeteilte, auf dessen repetitive Qualitäten das »wiederum« im ersten Satz hindeutet. Die Traumdeutungen, die Wagner mit der Selbstdarstellung seiner Innenwelt bei einer intimitätssüchtigen Nachwelt hervorrief,3 haben freilich vor allem gelehrt, dass sich das Geträumte dem, der es erzählen will, ebenso entzieht wie dem, der dieses Erzählte aufzuschreiben versucht, oder gar dem, der das Aufgeschriebene lesen und interpretieren möchte. Es ist also ein Problem der Darstellung, welches die Lücken der Traumbeschreibung Cosima Wagners mit dem ominösen »Loch in der Tapete« in Kontakt bringt – und damit ins Thema des vorliegenden Textes führt. In Wagners obsessivem Öffentlichmachen seiner Träume ebenso wie beispielsweise in der nachdrücklichen Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauers Traumtheorie verrät sich eine Beschäftigung mit dem Träumen, von dessen »Möglichkeiten ohne Grenzen«4 sich der Komponist kaum zufällig Einblick in wesentliche Fragen der Musik versprach. Denn anhand der flüchtigen und introspektiven Qualitäten des Träumens, zugleich aber auch anhand der in Träumen auftretenden Relikte einer Wirklichkeit der Wachwelt, hat Wagner selbst das Verhältnis von ungegenständlichen Klängen und der gegenständlichen Bildwelt des Musikdramas zu erklären versucht. Friedrich Nietzsche, Wagners »Erden-Feind« inmitten einer »Sternen-Freundschaft«,5 sein zunächst größter Künder und später größter Kritiker, wurde nicht zuletzt durch Wagners (und Schopenhauers) entsprechende Einlassungen zur intensiveren Beschäftigung mit der Macht und Bedeutung von Träumen angeregt – und stellte hierbei zeitweise ebenfalls die Thematik von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit beziehungsweise Hörbarkeit in den Mittelpunkt seines Denkens. Dieser Zusammenhang ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen: Zunächst sollen Wagners Gedanken zum musikdramatischen Verhältnis von Hören und Sehen mit Hilfe seiner theoretischen Überlegungen zu Träumen nachvollziehbar gemacht werden. Im Mittelpunkt des Textes wird danach eine kursorische Betrachtung der Eingangsszene aus Tristan und Isolde stehen. Dabei sollen Nietzsches im Dialog mit Wagner entwickelte Ideen zur Musik und den Bild-Künsten zur Verdeutlichung, aber auch zur kritischen Befragung des Wagner’schen Denkens herangezogen werden. Hören und Sehen Eigentlich hätte Wagner keinen Grund gehabt zu fürchten, dass seine durchaus wählerische Gattin ausgerechnet mit einem Maler durchbrennt. Denn immerhin hatte er sich, nach seinen Phantasien zur Gleichberechtigung der Künste als Utopie einer künftigen Gesellschaftsordnung aus der unmittelbaren Nachrevolutionszeit um 1850, zunehmend davon überzeugt gezeigt, dass die Musik einen deutlichen Vorrang vor den anderen Künsten genießen müsse. Bei der Schärfung seiner Gedanken halfen ihm dabei zunächst Ideen Arthur Schopenhauers. Was bei Schopenhauer die Hierarchie der Künste zugunsten der Musik fundiert, ist die Feststellung, dass die Wirklichkeit ein Trugbild unserer Sinne sei, welches, so übernimmt es Wagner 1870 in seinem Beethoven-Aufsatz, von der Außenwelt und dem »Sehen« im »Scheine des Lichtes« ihren Ausgang nehme. Die Bildkünste bemühten sich zwar auch um eine 14

Matthias Schmidt

»Enttäuschung« der Trugwelt durch darstellerische Klarheit im Hinblick auf das »Erschauen der Ideen« und könnten so zu einem »höchst besonnenen Spiel mit diesem Scheine« genutzt werden.6 Doch einzig die Musik, die nach Schopenhauer vom »Wesen« der Dinge und nicht nur von ihren »Schatten« zu künden vermöge, könne ein »unmittelbare[s] Bewußtsein der Einheit unsres inneren Wesens mit dem der äußeren Welt« geben.7 Was sich solchermaßen im Beethoven-Aufsatz als Zusammenhang andeutet, wird wenig später systematisch in Friedrich Nietzsches Tragödienschrift entfaltet. Bekanntlich hat Nietzsche seinen 1872 veröffentlichten und Wagner gewidmeten Text in bewusst enger Bindung, aber auch in einer Art »geistigem Wettkampf«8 mit Wagner verfasst.9 Der von ihm mit interpretatorischen Freiheiten verhandelte Rückgriff auf die antike Tragödie erkennt in den plastischen Formen eine apollinische Täuschung, die den gestaltlosen Klang und seine dionysisch-rauschhafte Gewalt ordnend überlagere.10 Auch Nietzsche lässt dabei eine klare Hierarchie walten: Alle Bilder seien nur »gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen« und nicht etwa »die nachgeahmten Gegenstände der Musik«; »Vorstellungen« also, »die über den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können«.11 Das Sichtbare spiele im Bereich des musikalischen Dramas dementsprechend zwar nicht die Rolle eines gleichberechtigten Partners, doch sei es ungeachtet dessen notwendiger Bestandteil seines Gelingens. Denn die anschauliche Formung schütze das Publikum davor, in einem Meer von Klängen verlorenzugehen. Ziel sei es dabei, die »Naturmacht« der Klänge in eine »rein menschliche Kunst« umzuwandeln, sie »aus ihrem eigenen maßlosen Grunde« zu einer »endliche[n] Erscheinung« zu gestalten.12 Die Musik sei umgekehrt nachgerade dazu verpflichtet, »zum gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit« anzuregen und »sodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeit hervortreten« zu lassen, so hält Nietzsche in der Tragödienschrift fest: Sie müsse versuchen, »in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten Verbildlichung zu kommen«.13 Die Musik selbst brauche »in ihrer völligen Unumschränktheit« das Bild nämlich nicht, sie »erträgt« es bestenfalls »neben sich«;14 umgekehrt müsse das Bild die »Gewalt der Musik an sich« »erleide[n]«.15 Die Musik »erträgt«, das Bild »erleidet«: Indem solche Begrifflichkeit gerade der trügerischen Zielvorstellung einer harmonischen Synthese der Künste entgegentritt, markiert sie die ihrem Wesen nach widersprüchliche, wiewohl unhintergehbare Verschränktheit von Musikalischem und Bildlichem. Traumtheorien Wagner zufolge ist es die Aufgabe der Musik, die Anschaulichkeit der äußeren Erscheinung für ein inneres Verstehen empfänglich zu machen. Und kaum zufällig führt er hierbei die »Analogie des Traumes«16 ins Feld, für deren theoretische Voraussetzungen er sich erneut Ideen Schopenhauers zu eigen macht.17 Während das Sehen durch äußere Eindrücke einer Wach- oder »Lichtwelt« angeregt werde, vermöge das Hören als Medium der »Schallwelt« das innere Erleben des Traums zu berühren.18 Im Hinblick auf die menschlichen Empfindungen spricht Wagner von einem »nach Das Loch in der Tapete

15

innen gewendete[n] Auge, welches nach außen gerichtet zum Gehör« werde.19 Dies sei, so zitiert er Schopenhauer, insbesondere der Fall, »wenn sein Inhalt dem Träumenden sehr angelegen ist« und »dieser sich eine Erinnerung« in »den Traum des leichtern Schlafs, aus dem sich unmittelbar erwachen läßt, hinübernimmt«: »mittelst Uebersetzung des Inhalts in eine Allegorie«, in deren Gewand er einer »Auslegung, Deutung« bedürfe.20 Zu diesem Zweck der Deutung aber schaffe sich »der Wille für das unmittelbare Bild seiner Selbstschau [mit der Musik] ein zweites Mitteilungsorgan, welches, während es mit der einen Seite seiner inneren Schau zugekehrt ist, mit der anderen die mit dem Erwachen nun wieder hervortretende Außenwelt« durch den Ton berührt.21 Diese Brückenfunktion der Musik als »Medium des allegorischen Traums«22 hat Nietzsche selbst nach seiner früheren Unterscheidung zwischen dem »apollinischen Traum« und dem »dionysischen Rausch« 1876 besonders hervorgehoben:23 » […] in Wagner will alles Sichtbare der Welt zum Hörbaren sich vertiefen und verinnerlichen und sucht seine verlorene Seele; in Wagner will ebenso alles Hörbare der Welt auch als Erscheinung für das Auge an’s Licht hinaus und hinauf, will gleichsam Leiblichkeit gewinnen. […] er ist fortwährend gezwungen – und der Betrachtende mit ihm, – die sichtbare Bewegtheit in Seele und Urleben zurück zu übersetzen und wiederum das verborgenste Weben des Inneren als Erscheinung zu sehen und mit einem Schein-Leib zu bekleiden. […] Das bisher Unsichtbare, Innere rettet sich in die Sphäre des Sichtbaren und wird Erscheinung; das bisher nur Sichtbare flieht in das dunkle Meer des Tönenden […]«.24 Die Wortwahl des »Sich-Rettens« und des »Fliehens« deutet allerdings schon an, dass Nietzsche kaum mehr von einem souveränen Verfügen Wagners über sein Material ausging. Bereits zur selben Zeit hob er an einer künstlich produzierten Ambivalenz zwischen Hören und Sehen auch problematische Seiten hervor: Wagner »schaut die verklärte Welt der Bühne und verneint sie doch. […] Er begreift bis in’s Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet sich gern in’s Unbegreifliche. […] Er schaut mehr und tiefer als je und wünscht sich doch erblindet«.25 Mit der zunehmenden Ablösung von Wagner hat Nietzsche solche Beobachtungen in den 1880er Jahren dann als Kritik an der stilisierten Nachtsichtigkeit und »Traumbesessenheit«26 Wagners formuliert und diese zu einer Krankheitsdiagnose für Décadents, Hysteriker und Neurastheniker verallgemeinert. Isolde träumt Das mitunter gewaltsam verschränkte Ineinander von textlich evozierter oder szenischer Bildlichkeit und Musik muss Beachtung bis hinein in musikalische Kompositionsdetails finden. Gemeint ist damit eine klanglich sedimentierte Plastizität, die für Nietzsche und Wagner als gestaltbildendes Element in Erscheinung tritt. So wird Wagner zufolge die »Harmonie der Töne«, welche »weder dem Raume 16

Matthias Schmidt

noch der Zeit« angehöre, durch eine gesetzmäßige rhythmische Anordnung in einer anschaulichen »Verständigung« überhaupt erst wahrnehmbar.27 In diesem Zusammenhang hat Arne Stollberg schlüssig aufgezeigt, dass Wagner insbesondere auf das Gebärdenhafte der Musik als Zwischenglied einer visuellen Präsenz von Körperlichkeit hier und der musikalischen Form dort setzt: Eine musikalische Gebärde gehöre zwar der trügerischen Sphäre der Dingwelt an, da sie sich an das Auge, nicht an das Ohr adressiere und somit über den blinden Willen hinwegtäusche.28 Wagner löse aber den entstehenden Widerspruch, indem die Musik »die ihr verwandtesten Momente der Erscheinungswelt in ihr[en] […] Traumbereich«29 ziehe und Gebärden »nach Analogie der Körperbewegungen« in Tonfolgen verwandle,30 um sie zu »verstehen, ohne sie selbst zu sehen«.31 Dies kann anhand eines Beispiels aus Tristan und Isolde, jenem ›opus metaphysicum‹, das die Fragen nach Hören und Sehen für Nietzsche beispielhafter als jedes andere Werk der abendländischen Kunst verdeutlicht hat, aufgezeigt werden. Die Strategie des Tristan ist es, eine ausgesprochen verknappte äußere durch eine reiche innere Handlung zu kompensieren. Dem durch die beständigen Sprachnöte der Protagonisten gehemmten Wort steht eine höchst eloquente Musik gegenüber, welche die herkömmliche Theaterdramaturgie vollständig umkehrt. Denn erst die Musik verleiht dem Text Bedeutung, und kaum zufällig ist gerade die instrumentale Einleitung des Tristan jener Ort, an dem das eigentliche innere Drama stattfindet, dem später nur mehr eine Handlung von karger Lakonie folgt, eine Handlung, die das reiche Geschehen ihrer Vorgeschichte nicht ausblendet, aber immer nur erinnert und dadurch – ohne auf der Bühne ausdrücklich bildhaft zu werden – vor das innere Auge führt. Während sich die Bühnenaktion auf die konfliktuöse Dreiecksgeschichte zwischen Tristan, Isolde und Marke beschränkt, liegen die Begegnung der Titelfiguren, die Gründe für ihre Liebe und die Brautwerbung bereits in der Vergangenheit. Entsprechend hat Wagner die Gesamthandlung bereits in der instrumentalen Einleitung gleichsam in nuce vorweggenommen, indem er, wie er selbst beschreibt, hier eine musikalische Dramaturgie aus »Verlangen«, »Bekenntnis«, »Wonnen und Qualen« und »Ahnung des Erreichens« Gestalt werden lässt.32 Dabei markiert das Ende dieser instrumentalen Einleitung die Scharnierstelle zwischen Innen und Außen, zwischen Traum und Wirklichkeit, Nacht und Tag – als Beginn der sichtbaren Bühnenhandlung mit dem Erwachen Isoldes [Notenbeispiel 1]. Die von Wagner selbst so prominent gemachte »Kunst des Übergangs«, die kleinteilig schattierende Vermittlung von Gefühlsentwicklungen durch die Musik, dient vor allem einer Verdeutlichung der inneren Handlung; sie hat zur Folge, dass hör- und sichtbare Ereignisse dicht miteinander verschränkt sind und sich der Wahrnehmungswelt der Protagonisten erst allmählich enthüllen. Ulrich Siegele spricht dabei von »einer Art Verwischungs- oder Überblendtechnik« Wagners, die sich etwa darin zeigt, dass die Musik in dem Moment, als der Vorhang aufgeht, harmonisch bereits den Gestaltungskontext des ersten Aufzugs erreicht hat, während sie motivisch noch in der Welt des Vorspiels verharrt. Es erklingt der »Tristanakkord«, der genauso rhythmisiert ist wie das sogenannte »Blick-Motiv«, was die musikalische Präsenz der Das Loch in der Tapete

17

Notenbeispiel 1 (Schluss).

Richard Wagner, Tristan und Isolde, Orchestervorspiel zum ersten Aufzug

erinnerten Traumwelt der Einleitung auf die Bühne projiziert. Hier liegt Isolde noch träumend im Schlaf.33 In etwa so sah die Bühne aus [Abb. 1], als sich der Vorhang zu den Aufführungen des Tristan im 19. Jahrhundert hob (hier zu der Erstaufführung an der Wiener Hofoper 1883):34 Man sieht im hellen Tageslicht das »Vorderdeck eines Seeschiffes«, Isolde »auf einem Ruhebett, das Gesicht in die Kissen gedrückt«, Brangäne »zur Seite über Bord« blickend. Die Szenerie ist von pointierter Kraft: Der Gegensatz von Tageshelle und nächtlichem Traum wird in einem krassen Missverhältnis zwischen der gänzlich ausgeleuchteten Bühne und der ihr Gesicht in den Kissen verbergenden, schlafenden Isolde gezeigt. Den Übergang zwischen traumentrückter Nacht und greller Realität hat das Publikum gerade selbst mit dem Wechsel vom Vorspiel zum Beginn der ersten Szene erlebt – Isolde ist erkennbar die allegorische Personifikation dieses Übergangs. Nun aber setzt, ein atemberaubender Vorgang in einer Oper, die mit einem so großen Orchesterapparat agiert, eine einzelne Solostimme ein, die zudem nur »aus der Höhe, wie vom Maste her wahrnehmbar«, nicht aber sichtbar ist: die »Stimme eines jungen Seemanns« [Notenbeispiel 2]. Das Lüften des Vorhangs eröffnet dem Auge so zwar die Szene, aber führt nicht eigentlich in sie hinein: Die ersten vier Takte des Seemanns haben wenig mit der Szene zu tun, sondern sind »Motto der ganzen Handlung«, und der Text der Handlung enthüllt sich erst sukzessiv.35 Der Text weiß alles, offenbart es aber nur allmählich. Die Worte »Westwärts schweift der Blick; ostwärts streicht das Schiff« deuten die Grundstruktur an: im Westen Irland mit Isolde als Ort des Abends und der Nacht, im Osten Kornwall mit Tristan als Ort des Morgens und des Tages.36 Dabei gibt es keine Identifikationsmöglichkeit von bildlicher Schallquelle und Melodie: Aus dem Unsichtbaren nämlich kommt die Stimme des Seemanns, die in einer nachgerade improvisatorischen, harmonisch wie rhythmisch asymmetrischen Weise (man beachte die jeweils nur in sich gegliederten Einzelphrasen und die 18

Matthias Schmidt

1 Carlo Brioschi, Bühnenbildentwurf zu Tristan und Isolde, erster Aufzug: »Auf dem Verdeck von Tristans Schiff«, um 1883 (Österreichische Nationalbibliothek, Wien).

zahlreichen Taktwechsel) einen Gesang auf Isolde anstimmt, der zwischen neckender Aggressivität und ergebener Trauer changiert. Die Gestalt der sichtbaren, über Bord blickenden Brangäne ansprechend, stellt der Singende ihren »westwärts schweif[enden] Blick« zurück in die Heimat dem »ostwärts streich[enden] Schiff« gegenüber: die bewusste Entscheidung also zur Entfernung von der Heimat (entgegen ihrem inneren Willen) dem unsicher schwankenden Weg über das Meer an ein unbekanntes Ziel. Der Gesang des Seemanns verknüpft die wehe Trauer Isoldes über den Abschied mit dem rationalen Antrieb zur Entfernung, der die »minnige Maid« der Heirat mit einem Unbekannten und Ungeliebten entgegenträgt (»Sind’s deiner Seufzer Wehen, die mir die Segel blähen?«). Der letzte Ton des Sologesangs fällt mit dem »lebhaft« ausbrechenden verminderten Orchesterklang zusammen, der das »jäh auffahrende« Erwachen Isoldes markiert. Und Isolde nimmt mit ihrer sofort folgenden ersten Gesangsphrase, wie um mit den ersten Tönen ihrer Stimme den letzten Tönen des Traums nachzuspüren, die Sekundbewegung b – c – d des Seemanns zu »[I]rische Maid« bzw. »[wil]de minni[ge Maid]« auf (hier allerdings in der Mollvariante b – c – des), die bereits von den Celli und Geigen gleichsam vorimitiert wurde. Wagner vergleicht in seinem Beethoven-Aufsatz den »Übersprunge der Instrumentalmusik in die Vokalmusik«, hier am Beispiel der Neunten Symphonie, mit »dem Drange nach Erwachen aus einem tiefbeängstigenden Traume«, hervorgerufen durch das, was er bei Beethoven als »ein gewisses Übermaß, eine gewaltsame Nötigung zur Entladung nach außen« empfindet.37 Genau diesen Effekt erzielt Wagner hier mit dem druckvoll konzentrierten Übergang der Instrumental- zur Vokalstimme im Moment des Aufwachens von Isolde. Dieser Augenblick des Erwachens macht freilich nicht deutlich, ob die »wie vom Maste« ertönende Stimme des Seemanns nicht eine Traumphantasie Isoldes gewesen ist (die Stimme des Seemanns ertönt nur kurze Zeit später noch einmal, wie ein irrealer Nachklang des Geträumten, als Tristan auf der Bühne sichtbar wird, Das Loch in der Tapete

19

Notenbeispiel 2: Richard Wagner, Tristan und Isolde, erster Aufzug (Beginn). 20

Matthias Schmidt

dann nie wieder). Die Szenenanweisung der folgenden Takte jedenfalls lautet: »Sie blickt verstört um sich«. In Schopenhauers Versuch über das Geistersehn wird von der »totale[n] räumliche[n] Desorientirung«38 gesprochen, der ein Träumender im Moment des Erwachens ausgesetzt ist. Die zuvor von der Wirklichkeit abgewandten Augen Isoldes versuchen nun, diese Realität zu erfassen, denn der vorangegangene Schlaf hat sie von der sichtbaren Welt entfremdet. Isolde weiß nicht, wo sie ist. Nur gerade den Klang der Stimme des Seemanns erkennt sie beim Erwachen – durch das Gehör. Die anderen Sinne sind getrübt, nur die Töne sind musikalisch für sie identifizierbar.39 »Der Ton stammt aus der Nacht«,40 so hat Nietzsche diesen musikalischen Gedanken Wagners in Worte gefasst. Von Brangäne begehrt Isolde nun eine räumliche Verortung. Der Szenenverlauf konsolidiert sich erst allmählich. Die Fragen Isoldes werden von der vermeintlichen Unentschiedenheit eines disparaten, ja zerrissenen Orchestersatzes getragen. Zu einem rhythmisch geordneten Fluss kommt es erst, als Brangäne die Fahrt in das nach Osten gelegene »Kornwall« schildert, so als wäre Isoldes traumnahe Musik zwischen dem stilisierten Schrei des Erwachens und dem zerrissenen Versuch der Selbstverortung nun in die sicheren Bahnen der Realitätswahrnehmung einer anderen Person gelenkt worden. Wagner hat in seinem Beethoven-Aufsatz den »Schrei« als »Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör«, »in allen Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zarteren Klage des Verlangens«, mit dem man aus dem »Bedrängenden« des Schlafes, aus einem »beängstigenden« Traum erwacht, als ursprüngliche Kundgabe des Willens »nach außen« beschrieben.41 Und er kennzeichnet das jähe Erwachen Isoldes, welches sich dem – vielleicht geträumten – improvisierten Gesang des Seemanns anschließt, als Gebärde, die den Übergang zwischen dem nur gehörten »allegorischen Traum«42 eines Gesangssolos und dem sichtbaren Augenblick des Wachwerdens markiert (siehe Notenbeispiel 2, T. 135 ff.).43 Was dabei konkret im Orchester ertönt, hat die frühe Wagner-Exegese als jenes »Blick-Motiv« bestimmt, welches in der späteren Erinnerung Isoldes vom Entstehen der Liebe zwischen ihr und dem todwunden Ritter Tristan berichtet. Isolde hat in Tristan den Feind erkannt, den sie töten will; und sie erzählt über die Begegnung der Blicke beider, jenen entscheidenden »Moment der Entgrenzung von Raum und Zeit, in dem die Bedingungen der Lebenswirklichkeit für einen Augenblick außer Kraft gesetzt sind«44: »Er sah mir in die Augen«, erinnert sie sich, und »seines Elendes jammerte mich«.45 In solchen Momenten des »Mitleidens« entdeckt Nietzsche jene »herrliche apollinische Täuschung«, welche es vermag, »Tristans und Isolden’s Schicksal […] geformt und bildnerisch ausgeprägt« darzustellen. 46 Dazu erklingt jene weiche Kantilene der erwachenden Liebe, die in der Version eines alptraumhaften Zerrbildes auch Isoldes Erwachen prägt. Dieser Moment aber wird so gerade nicht zum Handlungsbild: Die Musik verhilft diesem hier und bereits in der instrumentalen Einleitung lediglich zu akustischer Präsenz. Gleichwohl erscheint das »Blick-Motiv« in eine klangliche Gebärde verwandelt, die sich aus der szenischen Aktion und nicht aus der symmetrischen Gesamtform heraus begründen lässt. Das »Blick-Motiv« ist also zum einen der Das Loch in der Tapete

21

Bildlichkeit entzogen und nur in der Erinnerung gegenwärtig. Die musikalische Gebärde des stilisierten Schreis bewegt sich in Wagners Kunst der präzisen Doppeldeutigkeit zum anderen zwischen einem mimetischen Auffahren und einer nur nach den Gesetzen rationalisierter Motivstruktur organisierten Klanglichkeit mit ihrem Hinweis auf Abwesendes. Die Musik ist Wagner zufolge jene Kunst, die der »inneren Schau« des Willens zugekehrt ist und zugleich die »mit dem Erwachen […] hervortretende Außenwelt« berührt.47 Im »Bild seiner Selbstschau« berührt der blinde Drang des Willens nur mit dem Ton die Außenwelt und macht ihn zum Repräsentanten des »Darstellungsübergangs« zwischen beidem.48 Während also die Musik bei Schopenhauer als »Abbild« des blinden Willens qualifiziert wird, will sie für Wagner selbst freilich kein Bild sein, sondern nur dessen »Provokation oder Revokation«.49 So betont Wagner, dass das Bild »als Drama« der Musik eingelegt sei: Mithin gestaltet die Szene den für einen Repräsentationsvorgang notwendigen Raum, indem sie zwischen Musik und Bild vermittelt. Musik muss zwar, um wahrnehmbar zu sein, stets vom Bild her gedacht werden. Solches Denken aber produziert zugleich selbst eine »Krisis des darstellenden Denkens«, weil durch die Musik in den Prozess der Verbildlichung das Unbildliche eingeführt wird und allein schon durch ihre Gegenwart beständig ein »Entzug von Bild und Darstellung droht«.50 Im »Gleichnissbild« der Handlung erkennen wir Isoldes Erwachen und das Allegorisch-Traumhafte des Bühnenaugenblicks. Die szenisch dargestellte Geschichte ist – in Nietzsches Worten – durch die Brückenfunktion der Musik dabei als »nachträgliche Illusion«51 durchsichtig gemacht und reicht so gleichwohl an eine »wieder […] hergestellte Urmusik«52 des affektiven Willens heran. Das unsichtbare Theater Dass Nietzsche allerdings Wagners »Kunst des Übergangs«, die sich des falschen Scheins bloßer Konvention entledigt habe, eben dann doch wiederum selbst als Täuschung ansah, kennzeichnet die entscheidende Bruchstelle zwischen Wagners ästhetischer Praxis und seiner ästhetischen Theorie, die das Produkt einer enttäuschten Hoffnung ist. Wenn Wagner behauptet, dass der Komponist eine traumähnliche Klangvision empfange, die er durch rhythmische Formung dem KörperhaftBildlichen annähere, so will Nietzsche an dessen Musik genau das Gegenteil entlarvt wissen: »Bei Wagner«, so Nietzsche, »steht im Anfang die Hallucination« von Bildern, zu denen er sich die Töne suche.53 Nietzsche hat Wagner daher wahlweise als »Cagliostro der Modernität«,54 als »Zauberer«,55 »Schauspieler«56 und »Magnetiseur« kritisiert. Die »gefährliche Faszination« des Tristan, dessen »schauerliche« wie »süsse Unendlichkeit«, suchte er zwar weiterhin vergebens in allen anderen Künsten.57 Doch bezeichnenderweise bestimmte er Wagner fortan polemisch als Bild-Künstler: Im Positiven würdigte er mit der epigrammatischen Deutlichkeit des Deskriptiven den »Miniaturisten« Wagner und kritisierte im selben Atemzug den »Affresco«-Maler58 Wagner, dessen »Geschmack und Hang« zu den »grossen Wände[n]« und zur »verwegene[n] Wandmalerei« neige. 59 Was er damit meinte, war, dass Wagners strategische »Zweideutigkeit« 22

Matthias Schmidt

der »unendliche[n] Melodie« eine solche sei, die »nicht mehr weiß und wissen soll, ob etwas Schwanz oder Kopf ist«: »Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit«60 – und damit auch eine Bilderreihung über den vermeintlichen ›Urgrund‹ der Musik. Kurze Zeit nach dem zu Anfang geschilderten Angsttraum Wagners, der abschließend noch einmal erinnert sei, bekannte Richard gegenüber Cosima Wagner seine generelle »Wut gegen bildende Kunst und Künstler«. Wiederum nur wenige Tage später spricht er hingegen von der »Malerei, von welcher er sehr gut wisse, daß sie seiner Kunst am nächsten komme«.61 Vor diesem ambivalenten Hintergrund übermittelt der zu Beginn geschilderte Traum eine Momentaufnahme von Wagners Verhältnisbestimmung zum Bildlichen, die nur vermeintlich widersprüchlich erscheint: Der Träumende entfernt ein Bild von einer – im Stil der Zeit mutmaßlich ornamentreich dekorierten – Tapete in einem Akt, der nur mehr ein Loch hinterlässt. Der Erzählvorgang, mit dem Wagner seiner Frau die eigenen Träume übermittelt, ist ein solcher des Verbildlichens, das Überantworten eines flüchtigen Traumes an die – schließlich verschriftlichte – Erinnerung einer gebildeten Gedächtnisordnung. Solch »verfügende Erinnerbarkeit« wird der Wachwelt eingegliedert mit dem Ziel einer »Beglaubigung der medialen Darstellung schlechthin«.62 Dem offenkundigen Drang zur Verbildlichung seiner Träume steht im Traum selbst eine beängstigende Vision der Unbildlichkeit gegenüber. Wagners Alptraum wird begleitet von einem Schrei, über den Cosima gewissenhaft berichtet hat: einem Traumschrei also, den Wagner einmal in seiner begriffslosen Unartikuliertheit jenseits subjektiver Verfügungsgewalt als die »allerunmittelbarste Äußerung des Willens« bezeichnet hat. Und Wagner hat aus ihm die »Entstehung einer Kunst« bestimmt, die für gewöhnlich »nur aus der Abwendung des Bewußtseins von den Erregungen des Willens hervorgehen kann«.63 Es könnte fast scheinen, als sei in Wagners eigenem Traum die Entstehung der Musik durch den Schrei aus dem selbstproduzierten Sehschock des unbildlichen Bildes hervorgegangen. Vielleicht war es mehr als eine Laune, aus der heraus Wagner einmal bekannte, nachdem er das »unsichtbare Orchester« geschaffen habe, wolle er nun das »unsichtbare Theater erfinden«.64 Möglicherweise wäre das »Loch in der Tapete« der Ort gewesen, an dem sich Wagner und Nietzsche noch einmal wiedergefunden hätten: Es ist die Geburt dieses »unsichtbaren Theaters« aus dem Geiste des Traums.

Das Loch in der Tapete

23

Endnoten 1 Vgl. den Traum Wagners vom 14. November 1881, in: CT, Bd. II, S. 824–825. 2 Johanna Dombois, Ein Thesaurus für Träume. Register der Träume Richard Wagners, in:

3 4 5 6 7 8

9

10

11 12 13 14 15 16 17

18

19

20

24

dies., Richard Klein (Hg.), Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, Stuttgart 2012, S. 345. Vgl. ebd. CT, Bd. II, S. 570. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882], in: KSA, Bd. III, S. 524. Richard Wagner, Beethoven [1870], in: GS, Bd. VIII, S. 153. Ebd., S. 155. Martin Vogel, Nietzsches Wettkampf mit Wagner, in: Walter Salmen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Regensburg 1965 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1), S. 195 –223. Zur engen Verbindung Wagners und Nietzsches in der Zeit der Entstehung des Tragödienbuches vgl. Johannes Windrich, Bestimmung und Bildlosigkeit. Wagners Beethoven-Festschrift als Musikästhetik zwischen Schopenhauer und Nietzsche, in: Il Saggiatore musicale 4/2, 1997, bes. S. 325–330. Siehe auch Klaus-Detlef Bruse, Die griechische Tragödie als »Gesamtkunstwerk«. Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 156–176. Vgl. hierzu insgesamt: Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 58), S. 135 ff. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872/86], in: KSA, Bd. I, S. 50; Hervorhebung original. Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft [1850], in: GS, Bd. X, S. 94; vgl. hierzu Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 10), S. 132. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. I, S. 107–108; Hervorhebungen original. Ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 162. Jürgen Kühnel, …dass Jeder, während er träumt, ein Shakespeare sei. Programmatische Überlegungen zum Thema Theater und Traum. Richard Wagner – Friedrich Nietzsche – Sigmund Freud – C. G. Jung, in: Peter Csobádi u. a. (Hg.), Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004, Anif/ Salzburg 2006 (Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge 62), S. 61. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 152. Es heißt dort weiter (Hervorhebung original): »Wie die anschauliche Welt des Traumes doch nur durch eine besondere Tätigkeit des Gehirnes sich bilden kann, tritt auch die Musik nur durch eine ähnliche Gehirntätigkeit in unser Bewußtsein; allein diese ist von der durch das Sehen geleiteten Tätigkeit gerade so verschieden, als jenes Traumorgan des Gehirnes von der Funktion des im Wachen durch äußere Eindrücke angeregten Gehirnes sich unterscheidet.« Ebd., S. 162. Wagner betont hier insbesondere die Position Beethovens als »gehörloser Musiker«: »Und nun erleuchtete sich des Musikers Auge von innen. Jetzt warf er den Blick auch auf die Erscheinung, die durch sein inneres Licht beschienen, in wundervollem Reflexe sich wieder seinem Innern mitteilte« (ebd., S. 175). »Diesem also gemäß müssen wir die prophetischen Träume zuvörderst Dem zuschreiben, daß im tiefen Schlafe das Träumen sich zu einem somnambulen Hellsehn steigert: da nun aber aus Träumen dieser Art, in der Regel, kein unmittelbares Erwachen und eben deshalb keine Erinnerung Statt findet; so sind die, eine Ausnahme hievon machenden und also das Kommende unmittelbar und sensu proprio vorbildenden Träume, welche die theorematischen genannt worden, die allerseltensten. Hingegen wird öfter von einem Traume solcher Art, wenn sein Inhalt dem Träumenden sehr angelegen ist, dieser sich eine Erinnerung dadurch zu erhalten im Stande seyn, daß er sie in den Traum des leichtern Schlafs, aus dem sich unmittelbar erwachen läßt, hinübernimmt: jedoch kann dieses alsdann nicht unmittelbar, Matthias Schmidt

21 22 23 24 25

26

27 28 29 30 31 32 33

34

35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

sondern nur mittelst Uebersetzung des Inhalts in eine Allegorie geschehn, in deren Gewand gehüllt nunmehr der ursprüngliche, prophetische Traum ins wachende Bewußtseyn gelangt, wo er folglich dann noch der Auslegung, Deutung, bedarf.« Arthur Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt [1851], in: ders., Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Erster Band, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (Werke 4), S. 225–310, hier S. 255; Hervorhebungen original. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 157. Edward A. Lippman, Wagner’s Conception of the Dream, in: The Journal of Musicology 8/1, 1990, S. 76. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. I, S. 26 ff. Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA, Bd. I, S. 467, 471. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. I, S. 140–141 (Hervorhebungen M. S.); vgl. hierzu auch Andreas Dorschel, Die Idee der »Einswerdung« in Wagners Tristan, in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hg.), Richard Wagner: Tristan und Isolde, München 1987 (Musik-Konzepte 57/58), S. 5. Eckart Kröplin, Richard Wagner – Musik aus Licht. Synästhesien von der Romantik bis zur Moderne. Eine Dokumentardarstellung, Würzburg 2011 (Wagner in der Diskussion 6), S. 1007. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 159; Hervorhebung original. Vgl. Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 10), S. 170. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 160. Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 10), S. 171. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 160. Richard Wagner, Erläuterung des Tristan-Vorspiels [1859], in: GS, Bd. IX, S. 61–62. Vgl. die entsprechenden analytischen Beobachtungen bei Ulrich Siegele, »Kunst des Übergangs« und formale Artikulation. Beispiele aus Richard Wagners Tristan und Isolde, in: Ulrich Konrad, Egon Voss (Hg.), Der »Komponist« Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, Wiesbaden 2003, S. 25. Die aufwendige Kolorierung sowie Draperien, Blumengirlanden und Teppiche legen einen Vergleich mit Makarts Atelier nahe (vgl. hierzu Ralph Gleis [Hg.], Makart – Ein Künstler regiert die Stadt. Anlässlich der Ausstellung im Wien Museum Künstlerhaus, Wien, 9. Juni 2011 – 16. Oktober 2011, München u. a. 2011, S. 226–227 bzw. auch S. 195 ff.). Die zeitgenössischen Vergleiche beider Künstler unterstreichen dies nachdrücklich; vgl. etwa Wilhelm Lübke, Hans Makart und Richard Wagner, in: Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 27, 1871, S. 24 oder Louis Ehlert, Wagner, Makart, Hamerling. Eine Parallele, in: ders., Aus der Tonwelt. Essays, Berlin 21882. Vgl. Siegele, »Kunst des Übergangs« und formale Artikulation (Anm. 33), S. 30. Vgl. ebd. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 194. Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn (Anm. 20), S. 251. Für den dritten Aufzug findet sich dies analog beschrieben bei Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart 1982, S. 277–278. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Winter 1869/70 – Frühjahr 1870, in: KSA, Bd. VII, S. 70. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 152–153. Ebd., S. 159. Vgl. Jean-Jacques Nattiez, Der Dichter und der Geist der Musik, in: wagnerspectrum 1/1, 2005, S. 49–50. Ulrike Kienzle, Die Nachwirkung von Schopenhauers Philosophie in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft 1/2, 1998, S. 77. Online-Publikation: http://european-musicology.eu/assets/Volumes/1998/DieNachwirkung VonSchopenhauersPhilosophie.pdf (letzter Zugriff am 24. November 2014). Die »Frankfurter Zeitschrift für Musikwissenschaft« wurde 2012 in »European Journal of Musicology« Das Loch in der Tapete

25

Endnoten/Abbildungsnachweis

45 46 47 48

49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

umbenannt; sämtliche Jahrgänge sind auf der neuen Homepage (http://www.europeanmusicology.eu) unter der Rubrik »Volumes of FZMw« zu finden. Richard Wagner, Tristan und Isolde. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2003 (Reclams Universal-Bibliothek 18272), S. 19. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. I, S. 137. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 157. Christoph Weismüller, Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit, Würzburg 2001, S. 116. Ebd., S. 97. Ebd. Dorschel, Die Idee der »Einswerdung« in Wagners Tristan (Anm. 25), S. 6. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 330; Hervorhebung original. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA, Bd. VI, S. 27–28. Ebd., S. 20 ff. (Zitat S. 23); vgl. auch Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente August – September 1885, in: KSA, Bd. XI, S. 683. Zit. n. Caroline Schmidt-Löbbecke, Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsches Wagner-Erfahrung, Sils Maria 1986, S. 84. Brief an Carl von Gersdorff vom 9. April 1885, zit. n. ebd., S. 73. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist [1908], in: KSA, Bd. VI, S. 289. Nietzsche, Der Fall Wagner, in: KSA, Bd. VI, S. 28. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1895], in: KSA, Bd. VI, S. 418. Brief an Carl Fuchs, Mitte April 1886, in: KSB, Bd. VII, S. 177; Hervorhebung original. In diesem Zusammenhang vergleicht Wagner seine Instrumentationskunst »mit der Technik der Malerei« (CT, Bd. II, S. 858, 867). Weismüller, Musik, Traum und Medien (Anm. 48), S. 154–155. Wagner, Beethoven, in: GS, Bd. VIII, S. 153; Hervorhebung original. Wagner ergänzt hierauf noch: »Und das unhörbare Orchester« (CT, Bd. II, S. 181).

Abbildungsnachweis 1 Carlo Brioschi, Bühnenbildentwurf zu Tristan und Isolde, erster Aufzug: »Auf dem Verdeck

von Tristans Schiff«, um 1883; Österreichische Nationalbibliothek, Wien.

Nachweis der Notenbeispiele 1, 2 Richard Wagner, Tristan und Isolde, erster Aufzug, hg. v. Isolde Vetter, Mainz 1990 (Sämt-

liche Werke VIII/1).

26

Matthias Schmidt

27

In den Strudeln der Einbildungskraft. Philosophische Imagination bei Fichte, Schiller und Nietzsche Andreas Dorschel

Those masterful images because complete Grew in pure mind, but out of what began? Yeats, The Circus Animals’ Desertion

Philosophen entwickeln Begriffe und verbinden sie zu Urteilen und diese wiederum zu Schlüssen. So sahen sie es, und so sehen es viele von ihnen noch immer. Um nun begreifend, urteilend und schließend ans Werk zu gehen, gebrauchten und gebrauchen Philosophen vorwiegend das Medium der Wortsprache. Ein Bestandteil derselben kann aber von den ordnenden und geordneten Geschäften zwischen Begriff, Urteil und Schluss gehörig ablenken oder diese gar in Verwirrung stürzen: nämlich das Bild in der Sprache, die Metapher. Verschiedene Schulen der Philosophie sind mit dieser bedrohlichen Lage in verschiedener Weise umgegangen. Manche fanden, die Philosophie solle den natürlichen Sprachen tunlichst aus dem Wege gehen und sich eine ideale Sprache bauen, in Nachbarschaft der Mathematik. Calculemus. Großzügiger Gesonnene fanden, Bilder ließen sich dulden, wenn sie Begriffe illustrierten und so in deren Dienst blieben. Doch seit Friedrich Nietzsches Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne1 (1873) ließ sich der Verdacht nie mehr ganz beschwichtigen, Begriffe seien auch Bilder, deren bildlichen Charakter das Bewusstsein bloß verdrängt habe. Bilder durchdringen danach die Sprache und mit ihr die Philosophie – einschließlich dieser philosophischen These, denn was ist ›durchdringen‹ anderes als ein philosophisches Bild? Das originelle Reden Nietzsches verdeckt indes, im Moment, da es erscheint, dass das Verhältnis von Bild und Begriff, in der Philosophie und in der Sprache überhaupt, seit einem Jahrhundert als Problem virulent war. 29

I Im Juni 1795 sandte Johann Gottlieb Fichte die Einleitungspassagen eines Aufsatzes zur Veröffentlichung an die Zeitschrift Die Horen: Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen.2 Der Herausgeber der Zeitschrift, Friedrich Schiller, schlug das Angebot jedoch aus. Der Brief, in dem Schiller den Text ablehnte, ist nicht überliefert. Bekannt ist nur, dass Schiller ein solches Schreiben verfasste, dass es Fichte erreichte, und dass Fichte es zusammen mit seinem eigenen Brief vom 27. Juni 1795 an Schiller zurücksandte.3 Erhalten haben sich aber Bruchstücke von vier Entwürfen Schillers zu seinem ablehnenden Brief. Dass es mehrere sind, ist selbst schon bezeichnend. Offenbar fiel es dem Herausgeber nicht leicht, seinen Schritt zu begründen – oder, falls es Schiller leicht fiel, muss es ihm Verlegenheit bereitet haben, Fichte mit den Gründen der Ablehnung zu konfrontieren. Denn in seinem Denken stand er in dessen Schuld; Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, eben erschienen in den Heften 1, 2 und 6 der Horen, enthielten erhebliche Anleihen bei Fichte, insbesondere in ihrer Theorie differenzierter »Triebe«, zu der ein Vorbild bei Kant fehlte – dem Meister, den beide Autoren verehrten. Wie konnte Schiller, nachdem er gerade bei Fichte in die Lehre gegangen war, diesen wie einen unbeholfenen Schuljungen behandeln? So nämlich fühlte Fichte sich von Schiller behandelt, wie seine Antwort verriet.4 Mit seiner Zeitschrift Die Horen beabsichtigte Schiller nichts Geringeres, als die »Scheidewand« einzureißen, welche Wissenschaft und Kunst »zum Nachteile beider trennt«.5 Wenn Schiller Fichte gegenüber Autorität in Anspruch nehmen konnte, und mit ihr das Recht zu seinem Verdikt über dessen Aufsatz, dann als Künstler, nicht als Wissenschaftler – als Schriftsteller, nicht als Philosoph. In seinen Briefentwürfen an Fichte treiben Schiller Fragen nach der Darstellung eines Gedankengangs um. Aber er will dem Adressaten keine stilistischen Patzer ankreiden oder sich über die Fehlbarkeit seines literarischen Geschmacks mokieren. Nicht um die Einkleidung der Gedanken geht es, sondern um deren Substanz – und damit um das Verhältnis von Bild und Begriff in der Philosophie: » Nur noch ein Wort über Ihren Vortrag. Sie schreiben, daß Sie Fleiß darauf verwendet hätten. Wir müssen aber ganz verschiedene Begriffe von einer zweckmäßigen Darstellung haben, denn ich gestehe, daß ich mit der Ihrigen in diesen Briefen gar nicht zufrieden bin. Von einer guten Darstellung fordre ich vor allem Gleichheit des Tons, und, wenn sie aesthetischen Werth haben soll, eine Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff, keine Abwechslung zwischen beyden, wie in Ihren Briefen häufig der Fall ist.«6 Schiller stellt seinen Einwand unter eine Bedingung: »wenn sie« – die Darstellung – »aesthetischen Werth haben soll«. Dass sie einen solchen haben soll, steht aber für Schiller keinen Moment zur Disposition;7 er setzt es voraus, auch wenn er auf diese Voraussetzung eigens aufmerksam macht. In seinem Einwand gegen Fichte spielt 30

Andreas Dorschel

Schiller »Wechselwirkung« gegen »Abwechslung« aus. Beide Begriffe stammen von demselben Nomen, »Wechsel«, her. Mit »Abwechslung« meint Schiller zunächst nicht, Fichte ordne das Bild dem Begriff unter, während beide einander gleichrangig an die Seite zu setzen seien. Um ein musikalisches Analogon zu verwenden: Ein Potpourri, Muster von Abwechslung, subordiniert die Melodien ja gerade nicht, wie es vielleicht in einem Sonatensatz mit Themen und Motiven geschieht, sondern klebt sie gleichrangig bis zur Gleichgültigkeit aneinander. Nicht philosophische Hierarchie, eine Herrschaft des Begriffs, beanstandet Schiller an Fichte. Von ihr erscheinen Abwechslung und Wechselwirkung gleich weit entfernt. Die Differenz, die Schiller gegen Fichte markiert, ist eine andere. »Abwechslung« – und dies ist ja kein Terminus, sondern ein Wort der Umgangssprache – meint ein bloßes Nacheinander; »Wechselwirkung« hingegen – in jener Zeit durchaus philosophischer Terminus und für Schiller und Fichte geprägt durch Kant – bedeutet »eine reale Gemeinschaft (commercium)«8 zweier Sachen, »das Zugleichsein der Bestimmungen der einen, mit denen der anderen«.9 Bild und Begriff dürften demnach nicht aufeinander folgen, wie Schiller es an Fichte moniert, sondern müssten einander durchdringen. In einem seiner Entwürfe fährt Schiller unmittelbar nach der angeführten Passage fort: »Ich weiß wohl, daß man tiefsinnige Deduktionen niemals in ein Spiel für die Einbildungskraft verwandeln kann, aber ein lichtvoller Ausdruck«10 – die Stelle bricht mitten im Satz ab. Diesen lesend fragt man sich, was ein »lichtvoller Ausdruck« denn erreichen kann, wenn er jedenfalls ungeeignet ist, tiefsinnige Deduktionen in ein Spiel für die Einbildungskraft zu verwandeln. Vielleicht wusste Schiller die Antwort auf diese Frage selber nicht und ließ deshalb den Satz unvollendet. II In einem 1794 verfassten Entwurf zu dem Aufsatz Über Geist und Buchstab in der Philosophie sprach Fichte dem Bild eine konstitutive Rolle für das Bewusstsein zu: » Allem, was in unserm Bewußtseyn vorkommen soll, muß ein geistiges, durch das Ich selbst entworfne[s] Bild zum Grunde liegen; oder es wäre nicht in unserm Bewußtseyn. Das Vermögen diese Bilder zu entwerfen nennen wir Einbildungskraft. […] Die Einbildungskraft in diesem Geschäfte ist Schöpferin alles deßen, was in unserm Bewußtseyn vorkommt, u. da alles Bewußtseyn etwas voraus sezt, deßen man sich bewußt ist, Schöpferin des Bewußtseyns selbst. Vor dieser ihrer Verrichtung vorher u. unabhängig von ihr giebt es überhaupt kein Bewußtseyn.«11 Allerdings bleibt dies eine These über Fichtes Gegenstand, das Bewusstsein. Sie reflektiert sich nirgends in der Form der Darstellung dieser und weiterer Thesen, obschon die Darstellung doch verschriftlichtes Bewusstsein des Bewusstseins ist, eine konstitutive Bildhaftigkeit also auch von ihr gelten müsste. Wo Fichte auf Fragen In den Strudeln der Einbildungskraft

31

der Darstellung zu sprechen kommt, in der Auseinandersetzung mit Schiller nämlich, erscheint das Bild nicht mehr konstitutiv, sondern illustrativ. Im Versuch, die vom Herausgeber der Horen geäußerte Rüge seines Umgangs mit Bild und Begriff zu parieren, schärft Fichte die Verteidigung seiner Schrift zu einem Angriff auf Schiller. Dass sie beide in der Frage der Darstellung eines Gedankengangs »sehr verschiedne Grundsätze« hätten, heißt es in Fichtes Brief an Schiller vom 27. Juni 1795, »erfahre ich nicht erst seit heute; ich habe es schon aus Ihren eignen philosophischen Schriften gesehen«. Aus einem »unermeßlichen Vorrath von Bildern« schöpfe Schiller. So spricht ein Bewunderer. Doch Fichte bewundert nicht, was Schiller mit den Bildern macht: Er setze diese »fast allenthalben Statt des abstrakten Begriffs«. Ein ganz anderes Verfahren reklamiert Fichte für sich: » Bei mir steht das Bild nicht an der Stelle des Begriffs, sondern vor oder nach dem Begriffe, als Gleichniß: ich sehe, darauf, daß es paße; ich glaube die in den Briefen gebrauchten passen sehr genau. Wo ich nicht irre, haben alle alte, und neuere Schriftsteller, die in dem Ruhme des guten Vortrags stehen, es so gehalten, wie ich es zu halten strebe. Ihre Art aber ist völlig neu; und ich kenne unter den alten, und neuern keinen, der darin mit Ihnen zu vergleichen wäre. Sie feßeln die Einbildungskraft, welche nur frei seyn kann, und wollen dieselbe zwingen, zu denken. Das kann sie nicht; [/] daher, glaube ich, entsteht die ermüdende Anstrengung, die mir Ihre philosophischen Schriften verursachen; und die sie Mehrern verursacht haben. Ich muß alles von Ihnen erst übersetzen, ehe ich es verstehe; und so geht es andern auch.«12 Fichte bestreitet also nicht einmal, was Schiller im Ablehnungsbrief beanstandet haben muss: dass Bilder und Begriffe in seiner Prosa einander abwechseln. Denn so findet er es richtig; falsch hingegen scheint ihm Schillers Methode der Ersetzung: »Bei mir steht das Bild nicht an der Stelle des Begriffs, sondern vor oder nach dem Begriffe«. In einer bei ihm raren sarkastischen Volte preist Fichte Schillers Verfahren als »völlig neu« und mit »keine[m] […] zu vergleichen«; vor der Folie der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts, mit den Protagonisten Leibniz und Kant, leuchtet das der Sache nach auch durchaus ein. In Richtung des Neuen und Unvergleichlichen lagen die Ambitionen, welche Schillers Karriere als Schriftsteller antrieben – daraus zieht Fichtes Lob sein Gift. Unvergleichlich sei Schiller, so Fichte, weil sein Verfahren unvergleichlich pervers sei. Nach Fichte ist Denken nur möglich im Begriff und durch den Begriff. Schiller hingegen versuche die Einbildungskraft – also das Vermögen des Geistes, Bilder zu produzieren – dazu zu nötigen, dass sie denke: also die Leistung zu erbringen, derer einzig der Verstand fähig sei. Die Substitution von Begriffen durch Bilder, die Fichte dem Schriftsteller Schiller nachsagt, gerate bei dessen Leser zur philosophischen Notzucht an der Phantasie. Der Einwand ist dialektisch: Eben weil Schiller in der Substanz seiner 32

Andreas Dorschel

philosophischen Texte das Bild den Begriff verdrängen lasse, müsse er sodann der Einbildungskraft intellektuelle Leistungen jenseits ihrer Gaben abzwingen. Damit ist die Differenz der Autoren am schärfsten markiert. Auch Schiller erkannte sein Vorgehen gelegentlich als riskant, und als in exakt komplementärer Weise riskant, halte man es gegen begriffliche Deduktionen nach Art der Wissenschaftslehre Fichtes. Doch die jeweiligen Risiken unterlagen aus seiner Sicht keiner Dialektik, sondern erschienen ihm als bloße Reflexe ihres jeweiligen »Ursprung[s]«: » Meine Philosophie wird ihren Ursprung nicht verläugnen, und, wenn sie ja verunglücken sollte, eher in den Untiefen und in den Strudeln der poetisirenden Einbildungskraft untersinken, als an den kahlen Sandbäncken trockner Abstraktionen scheitern.«13 Den Ursprung ›seiner‹ Philosophie erblickt Schiller im poetischen Vermögen. Folgerichtig gerät ihm die philosophische Aussage über die Rolle der Einbildungskraft selbst wiederum zum Bild. Bewegung gegen Stillstand setzend, nimmt sich das Versinken in den Strudeln heroischer aus als ein Stranden auf »Sandbäncken«. Doch man müsse gar nicht versinken, tröstete sich Schiller in dem Aufsatz Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen,14 1795 unmittelbar nach dem Streit mit Fichte verfasst: » Untersucht man die Zauberkraft der schönen Diktion, so wird man allemal finden, daß sie in einem solchen glücklichen Verhältniß zwischen äußerer Freyheit und innerer Nothwendigkeit enthalten ist.«15 Die Theorie des Schönen, so Schiller, soll sich selbst einer »schönen Diktion« befleißigen; die Analyse ästhetischer Phänomene müsse selbst »ein aesthetisches Produkt« werden.16 Das Argument, das diese These tragen soll, ist indes zirkulär; es bestätigt sich selbst. Untersucht man die Zauberkraft der schönen Diktion, so wird man allemal finden, dass sie in einem glücklichen Verhältnis zwischen äußerer Freiheit und innerer Notwendigkeit enthalten ist; findet man hingegen nicht, dass sie in einem glücklichen Verhältnis zwischen äußerer Freiheit und innerer Notwendigkeit enthalten ist, dann hat man die Zauberkraft der schönen Diktion, nach der Voraussetzung, nicht recht untersucht. Was aber hieße hier: recht? Zauberkräfte sind, per definitionem, was sich rationaler Erklärung entzieht. Also gibt es keinen methodischen Standard zu ihrer Untersuchung. Schillers letztes Wort in der Streitsache redet den möglichen Konflikt zwischen Bild und Begriff harmonistisch fort: » Die Begriffe entwickeln sich nach dem Gesetz der Nothwendigkeit, aber nach dem Gesetz der Freyheit gehen sie an der Einbildungskraft vorüber; der Gedanke bleibt derselbe, nur wechselt das Medium, das ihn darstellt. So erschafft sich der beredte Schriftsteller aus der In den Strudeln der Einbildungskraft

33

Anarchie selbst die herrlichste Ordnung, und errichtet auf einem immer wechselnden Grunde, auf dem Strome der Imagination, ein festes Gebäude.«17 In wechselndem Wasserbild ist hier aus dem in die Tiefe ziehenden Strudel ein tragender Strom geworden. Wie aber bleibt der Gedanke derselbe, wenn das Medium wechselt?18 Das Medium mag nicht die Botschaft sein;19 doch jedenfalls transformiert es Botschaften. Ein Roman im Film ist nicht mehr derselbe wie der Roman als Buch; Philosophie in Bildern ist nicht mehr dieselbe wie Philosophie in Begriffen. Worin bestünde denn auch Schillers »Gesetz der Freyheit«? Kein Gesetz hält Schriftsteller dazu an, das eine Bild zu verwenden, nicht ein anderes. Wie lose es hier zugeht, belegt Schillers eigenes Vorgehen. Zunächst trägt er begrifflich seine These vor: Der beredte Schriftsteller erschafft aus der Anarchie selbst die herrlichste Ordnung. Dann folgt das Bild dazu: Auf einem immer wechselnden Grunde, einem Strom, wird ein festes Gebäude errichtet. Dieses Bild scheint unstimmig. Auf Strömen baut man keine Häuser. Aber es ist ja nur ein Bild; was im eigentlichen Sinne nicht stattfindet, kann metaphorisch plausibel sein. Ist es hier plausibel, im Verhältnis zur begrifflichen These? Diese behauptet einen Prozess, welcher von einem Zustand zu dessen Gegenteil führt: Anarchie wird Ordnung. Das paradoxe Bild hingegen malt eine Koexistenz: Das feste Gebäude ist über dem Strom, als seinem Grund, errichtet; er fließt unter ihm fort. Die Beziehung zwischen Bild und Begriff unterliegt der Willkür. Es waltet kein »Gesetz der Freyheit«. III Der Streit zwischen Schiller und Fichte führt in kaum mehr erreichter Schärfe eine Alternative im Verhältnis von Bild und Begriff vor Augen, welche die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts prägen sollte. Auf der einen Seite steht ein wissenschaftliches Philosophieren, das sich immer wieder einmal dem ›populären Vortrag‹ anbequemt. Dies ist der Habitus der Universitätsphilosophie. In den Texten, die sie hervorbrachte, »steht das Bild«, nach Fichtes Formulierung, »vor oder nach dem Begriffe«. Das aber heißt: Es wird zum Beispiel. Solcher Beispiele bedarf der populäre Vortrag, meinte Fichte; streng wissenschaftliche Darstellungen kämen ohne sie aus. Als Beispiel ist ein Bild zufällig, es ›spielt‹ nur ›beiher‹: Sein Autor könnte auch ein anderes Beispiel bringen. Die Bilder der großen ästhetischen Abhandlungen Schillers hingegen, etwa von Über Anmut und Würde20 (1793) und Über naive und sentimentalische Dichtung21 (1795), sind keine bloßen Beispiele. Diese Texte kommen schlechthin nicht ohne ihre Bilder aus; kraft derselben haben Schillers Abhandlungen seit jeher ihre Leser für sich gewonnen, sofern ihnen dies denn gelang. Auf diese Suggestion durch das Bild suchte Fichte Schiller kritisch zu stoßen. Aber Schiller wusste um sie: Er selbst sprach bereits 1793 von »philosophischpoetischen Visionen«.22 Das Wort »Vision« zehrt hier noch von dem nüchternen rhetorischen Sinn, der ihm bei Quintilian zukam, nämlich: die lebhafte anschauliche Vergegenwärtigung einer abwesenden Sache durch 34

Andreas Dorschel

sprachliche Bilder;23 Schillers Rede von »philosophischpoetischen Visionen« gewinnt aber zugleich schon den modernen Sinn einer übersinnlichen Schau, des privilegierten Zugangs eines genialen Visionärs zu tieferer oder höherer Wahrheit. Fichte mag zu Recht behauptet haben, ein in diesem Sinne ›visionäres‹ Philosophieren sei im 18. Jahrhundert neu gewesen. Doch es sollte alsbald Schule machen – außerhalb der akademischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Soweit die deutsche Romantik eine Philosophie hat, durchziehen sie Spuren ›visionären‹ Philosophierens. Als das ›absolute Wissen‹ in die deutsche Philosophie einzog, verschloss es freilich die Frage, welche Schiller und Fichte eröffnet hatten. Mit Hegels Hierarchie von Denken – und damit Begriff –, Vorstellen und sinnlichem Darstellen24 war das Bild, als in die letzte und damit unterste dieser Formen fallend, dem philosophischen Gedanken gegenüber nicht mehr satisfaktionsfähig. Erst jenseits des Hegel’schen Systems gewann es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesen Rang wieder – bei Autoren, welche die Universitätsphilosophie ihrerseits für nicht satisfaktionsfähig erachtete. Die ästhetischen Schriften Richard Wagners und Friedrich Nietzsches kreisen um – wie Fichte dies kritisch genannt hatte – ›zwingende‹ Bilder, die begrifflich nicht mehr einzuholen sind. Wagner und Nietzsche wollen aber so schreiben, weil sie mit der Überzeugung des 18. Jahrhunderts brachen, der Weg des Geistes »vom Mythos zum Logos«25 habe von Schlechterem zu Besserem geführt. War der Mythos Bild und ist der Logos Begriff, so gehe vielmehr vom einen zum anderen das Beste verloren – und dies Beste gelte es wiederzugewinnen. Der Dionysos und Apollon der Geburt der Tragödie Nietzsches oder die »unendlich mannigfaltigen, im Walde wachwerdenden Stimmen«26 aus Richard Wagners Zukunftsmusik sind Bilder, welche Begriffe nicht bloß beispielhaft erläutern. Statt dass sie exemplifizieren, treten sie für das Gemeinte ein, das – so die Autoren – anders nicht zu sagen sei. Der Rausch, der Traum und die unendliche Melodie, wie sie hier jeweils verstanden werden, bleiben einer Definition entzogen. Je hartnäckiger sie sich Methoden widersetzen, die der Theorie eigentümlich sind, desto tiefer dringen Verfahren der Kunst selbst in Texte über Kunst ein. Wenn Wagner in Zukunftsmusik die »eine große Waldesmelodie«27 eine »Metapher«28 nennt, so gilt von ihr der Satz aus Nietzsches Geburt der Tragödie: »Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.«29 Insofern Nietzsche dieses Verfahren nicht nur theoretisch beschreibt, sondern zugleich praktiziert, gerät sein Philosophieren selbst dichterisch: Es opponiert einer als Wissenschaft begriffenen Philosophie. Die Idee, Bilder träten an die Stelle von Begriffen – und damit die Sache, die zwischen Schiller und Fichte strittig war –, zehrt indes zugleich von einer starren Entgegensetzung beider, über die der frühe Nietzsche hinausgeht: noch nicht in der Geburt der Tragödie (1871), doch wenig später. Der Autor von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne spürt ja einem genetischen Zusammenhang beider nach: Die Begriffe stehen nicht jenseits der Bilder und treten nicht erst nachträglich in das eine oder andere Verhältnis zu ihnen, sondern: Begriffe zu bilden heißt, »die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen«.30 Der Begriff, so In den Strudeln der Einbildungskraft

35

Nietzsche, sei »das Residuum einer Metapher«,31 ihre verblasste Existenzform. Und so gelte, »dass die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist«.32 Selbst der Begriff »Begriff« ist ja hiervon keine Ausnahme: Ausgerechnet das rein geistige Verhältnis zur Wirklichkeit leitet sich vom materiellen Zugriff, von körperlicher Berührung her. Wer solche abgestorbenen Bilder in den Begriffen wieder zum Leben erweckt, dem zeigen sich diese neu. Das Alte neu sehen lehren will Nietzsche mit der Geburt der Tragödie. In einer für die Philologie seiner Zeit unerhörten Sprache schreibend,33 erprobt Nietzsche in diesem Buch sein Vorhaben einer poetischen Wissenschaft. Den philosophischen Gedankengang der Schrift organisiert er als Folge von Bildern; die Folge selbst trägt den Charakter einer – teils sprunghaften – Erzählung. »[B]ilderwüthig und bilderwirrig« nannte Nietzsche sein Werk 1886 im Versuch einer Selbstkritik;34 doch 1871 war dem Autor die Bilderflut des Textes noch als Trumpf einer »Anschauung« erschienen, welche gleich der erste Satz seines ersten Abschnittes gegen die bloße »logische Einsicht« ausspielt.35 Die im Text evozierten Bilder, etwa des Dionysosfestes,36 sind nicht Abbilder realer Vorgänge, sondern, wie Nietzsche es dem Chor der Tragödie nachsagt, Visionen.37 Das Bild in seiner Differenz zum Begriff, das die Form des Textes bestimmt, wird so zugleich zu dessen Inhalt. Dass der frühe Nietzsche den Begriff als dem Bild entsprungen sieht, mildert in seiner Sicht nicht den Gegensatz des ausgebildeten Begriffs zum Bild. Bildlich denkend, inkarniert Nietzsche die Medien, die er in der Tragödienschrift gegeneinander antreten lässt, in Figuren. Den Begriff verkörpert er in Sokrates. Diese Menschengestalt gewordene »Superfötation des Logischen«38 verachtet das Bild; wenn es zu etwas gut sei, dann allenfalls, begriffliche Erkenntnis auf das Niveau geistig Minderbemittelter herabzusetzen. Eine »lächelnde Anbequemung« an die »Dichtkunst« sagt Nietzsche Sokrates nach, bestens durch die Verse charakterisiert, die »der ehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne« dem »Lob der Poesie« darbringt: »Du siehst an mir, wozu sie nützt, / Dem, der nicht viel Verstand besitzt, / Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen.«39 Fabeln bebildern begriffliche Lehren, die an deren Schluss als Moral von der Geschicht’ aufzutreten pflegen. Nach Platonischer Legende suchte Sokrates dem Traum, der ihm Musik zu treiben auftrug, dadurch nachzukommen, dass er Fabeln Äsops versifizierte.40 Das Bild, wie Nietzsches Sokrates – ein antiker Fichte – es sieht, wird entweder Vorschule des Begriffs, oder es bleibt wertlos, ja schadet der Wahrheit, indem es von ihr abzieht. Doch nicht durch seine Begriffe wird Sokrates historisch mächtig, sondern, in schwindelerregender Ironie, als »Bild«; in ihm gerät es zum Idol: »Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen.«41 Handelt Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von einer zeitlichen Priorität der Bilder gegenüber den Begriffen, so die Tragödienschrift, komplementär, von deren Vorrang in der Wirkung. Wie Fichte und Schiller möchte Nietzsche durch Bilder auf die »Oeffentlichkeit«42 wirken; der Basler Professor der klassischen Philologie bricht mit der Geburt der Tragödie 36

Andreas Dorschel

aus der engen Form der gelehrten Abhandlung aus. Dem »Bild« Fichtes als einem Vehikel der Popularität steht Nietzsches »Bild« als apollinische Macht gleichwohl denkbar fern. IV Den Antagonismus von Bild und Begriff, wie er um die Wende zum 19. Jahrhundert exponiert worden war, schreibt Nietzsche schon insofern nicht fort, als er statt zweier vielmehr drei Medien einander gegenüberstellt: Begriff, Bild und Ton. Die leitende Frage der Tragödienschrift lautet: »[W]ie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?«43 In dieser Formulierung rücken »Bild« und »Begriff« wieder zusammen, und die Musik (obschon Nietzsche sie in das Bild des Dionysos bannt) bezieht Abstand zu beiden. Nicht nur jenseits des Begriffs stehe der »dionysische Musiker«; er sei auch »ohne jedes Bild«.44 Von Hause aus »bild- und begrifflos«,45 gehe die Musik aber auch auf keine Ergänzung durch andere Medien aus; vielmehr gelte von ihr, dass sie, »in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt«.46 Zu dieser Konsequenz getrieben, rechtfertigt Nietzsches Gedanke allerdings nicht mehr das Gesamtkunstwerk Wagners, sondern desavouiert es. Und so biegt Nietzsche den Gedanken von der Richtung, in die er ihn geführt hatte, gewaltsam wieder ab. Dass die Musik das Bild und den Begriff nur widerwillig duldet, soll mit einem Mal nicht mehr gelten: »Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit.«47 An dieser für seine legitimatorischen Absichten entscheidenden Stelle drängt sich Nietzsche also eine tote, zum Begriff verdorrte Metapher auf: eben die der ›wahrhaften Entsprechung‹. Von solcher dürfte indes keine Rede sein zwischen Medien, von denen eben noch behauptet wurde, sie seien inkommensurabel. In Nietzsches »Andrerseits« wird der Wunsch zum Vater des Gedankens, der letzten Ausflucht Schillers gegen Fichte gleich, der Fluss der Bilder tauge zum Grund solider Konstruktionen.48 Nietzsches wunschgeleitetes Umbiegen des Gedankens in der Geburt der Tragödie betrifft eine Frage, an die sich für ihn alsbald gründliche Zweifel hefteten: was nämlich für die Kunst gewonnen sei, wenn sie, wie die moderne, »zu einer erhöhten Bedeutsamkeit« gelange. Dass sich in einer Konstellation von Bild, Begriff und Ton Bedeutungen generieren lassen, die außer Reichweite jedes einzelnen dieser Medien liegen, leuchtet ja ein. Ob es aber gut sei, sie zu generieren, glaubte Nietzsche, nach dem Zeugnis des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, schon wenige Jahre nach Erscheinen der Tragödienschrift nicht mehr. In dem Maße nämlich, in dem man sich an einem Kunstwerk dafür interessiere, was »es bedeutet«, verliere sich die wesentlichere Frage, was »es ist«. Was Kunst in einem Raum symbolischer Verweise an »Bedeutung« gewinne, das schlage gegen sie aus in Gestalt ihrer »Entsinnlichung«.49 In der Geburt der Tragödie setzt Nietzsche antagonistische Kräfte zunächst so schroff in Szene, da ein Ende, das solche harmonisiert, desto effektvoller ausfällt. Aus der verbrüdernden Huldigung an Apollon und Dionysos am Schluss der In den Strudeln der Einbildungskraft

37

Schrift blinkt der faule Zauber einer Opernapotheose. In Menschliches, Allzumenschliches verbietet Nietzsche sich solche Effekte. Er kehrt ernüchtert zurück zu den Spannungen zwischen den Medien, mit welchen sich Schiller und Fichte kontrovers herumgeschlagen hatten. Schillers Versuch, der Schwierigkeiten Herr zu werden, indem er »Wechselwirkung« gegen »Abwechslung« setzte, belegt, dass er jedenfalls mit »Entsprechungen« zwischen Medien nicht mehr rechnete. Die Gründe dafür, so zu denken, scheinen aber periodisch in Vergessenheit zu geraten und sind daher mühsam immer wieder neu zu erarbeiten. Der von Schiller eingeführte und, wie Fichte erkannte, für die deutsche Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts »neue« Modus des Philosophierens per Assoziation von Bildern oder Narration von Bildfolgen ist seither, bis heute, nicht wieder aus ihr verschwunden. Wer Philosophie als historisches Phänomen zu erfassen sucht, wird diesen Modus nicht wegreden können, indem er sich Philosophie zur Disziplin der Erkenntnis aus Begriffen kraft der Mittel logischer Analyse zurechtdefiniert. Die Schwäche für das Philosophieren aus Bildern scheint aber nicht zuletzt daher zu rühren, dass es so erstaunliche Versöhnungen beschert wie Schillers »festes Gebäude« »auf dem Strome der Imagination«50 oder so erlauchte befeuert wie Nietzsches finales Opfer »im Tempel beider Gottheiten«,51 des Dionysos und des Apollon. Dergleichen werden uns die Begriffe niemals spendieren.

38

Andreas Dorschel

Endnoten 1 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in:

KSA, Bd. I, S. 873–890. 2 Johann Gottlieb Fichte, Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von

3

4

5

6 7

8 9 10 11

12 13

Briefen [1795], in: Günter Schulz, Die erste Fassung von Fichtes Abhandlung »Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen« 1795. Ein Beitrag zum Verhältnis Fichte – Schiller, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 17, 1955, S. 114–141, hier S. 121–141. (Diese Version, die für Die Horen gedacht war, hat zuerst Ludwig Urlichs veröffentlicht: Deutsche Rundschau 36, 1883, S. 247–264.) Nachdem Schiller den Aufsatz abgelehnt hatte, ließ Fichte eine überarbeitete Fassung im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 9, 1798 erscheinen; diese spätere Version ist abgedruckt in: Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart/Bad Canstatt 1962–2012, Reihe I: Werke, Bd. VI: Werke 1799–1800, S. 313–361, hier S. 333–361. Fichte gehörte der Redaktion der Horen an und hatte 1795 dort bereits einen Aufsatz veröffentlicht: Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit [1795], in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Reihe I: Werke, Bd. III: Werke 1794–1796, S. 75–90, hier S. 83–90. Der Titel des Aufsatzes Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie spielt auf eine Paulinische Unterscheidung an (2. Kor. 3,6; Röm. 2,29 und 7,6), die traditionsbildend wurde; siehe etwa Aurelius Augustinus, Geist und Buchstabe. De spiritu et littera [412 n. Chr.], hg. u. übers. v. Anselm Forster, Paderborn 1968 (Deutsche AugustinusAusgabe). Vgl. Günter Schulz, Kommentar zu: Friedrich Schiller, Brief an Johann Gottlieb Fichte, 24. Juni 1795 [vier Entwürfe], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVII: Briefwechsel. Schillers Briefe, 1794–1795, hg. v. Günter Schulz, Weimar 1958, S. 365–373, hier S. 365. Johann Gottlieb Fichte, Brief an Friedrich Schiller, 27. Juni 1795, in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Anm. 2), Reihe III: Briefwechsel, Bd. II: Briefwechsel 1793–1795, S. 336–340, hier S. 338: »Ich muß mir freilich gefallen laßen von Leuten, die ich nicht achte, behandelt zu werden wie ein Schüler, der seine Lektion hersagt; aber von Ihnen ist es mir nicht gleichgültig, weil ich Sie hochachte«. Friedrich Schiller, Ankündigung: Die Horen, eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller [1794], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXII: Vermischte Schriften, hg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 106–109, hier S. 107. Friedrich Schiller, Brief an Johann Gottlieb Fichte, 24. Juni 1795 [vier Entwürfe], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVII (Anm. 3), S. 200–203, hier S. 202. Wohl aber für Schillers Zeitgenossen. Siehe etwa August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hg. v. Edgar Lohner, Bd. II: Die Kunstlehre [1801], Stuttgart 1963, S. 9. Schlegel erscheint die »Forderung« »verkehrt«, dass »die Wissenschaft der Kunst selbst schön sein solle«: »Wissenschaft ist ein System oder ein geordnetes Ganzes von Wahrheiten, deren jede mit Notwendigkeit aus der vorhergehenden herfließt. Alle Wissenschaft ist also ihrer Natur nach streng, der Schein von Spiel und Freiheit, der bei allem Schönen wesentlich stattfinden muß, ist bei ihr gänzlich ausgeschlossen«. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/87], in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Darmstadt 1966, S. 245 (A 214 = B 261). Ebd., S. 192 (A 144 = B 183–184); Hervorhebung hinzugefügt. Schulz, Kommentar (Anm. 3), S. 371. Johann Gottlieb Fichte, Ueber Geist, u. Buchstaben in der Philosophie [1794], in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Anm. 2), Reihe II: Nachgelassene Schriften, Bd. III: Nachgelassene Schriften 1793–1795, S. 305–312, hier S. 309, 310. Fichte, Brief an Schiller, 27. Juni 1795 (Anm. 4), S. 338–339. Friedrich Schiller, Brief an Friedrich Christian von Augustenburg, 13. Juli 1793, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVI: Briefwechsel. Schillers Briefe, 1. März 1790 – 17. Mai 1794, hg. v. Edith Nahler u. Horst Nahler, Weimar 1992, S. 257–268, hier S. 257–258. In den Strudeln der Einbildungskraft

39

Endnoten 14 Friedrich Schiller, Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen [1795],

15 16

17 18

19 20 21 22 23

24

25

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

39 40 41

40

in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXI: Philosophische Schriften II, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1963, S. 3–27. Ebd., S. 9. Friedrich Schiller, Brief an Johann Gottlieb Fichte, 3. August 1795 [zwei Entwürfe], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVIII: Briefwechsel. Schillers Briefe, 1. Juli 1795 – 31. Oktober 1796, hg. v. Norbert Oellers, Weimar 1969, S. 359–367, hier S. 360. Schiller, Ueber die nothwendigen Grenzen (Anm. 14), S. 10. In den Briefen an den Augustenburger spricht Schiller davon, »Begriffe in Bilder umzusetzen«. Friedrich Schiller, Brief an Friedrich Christian von Augustenburg, 21. November 1793, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVI (Anm. 13), S. 314–321, hier S. 319. Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 7. Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde [1793], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XX: Philosophische Schriften I, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 251–308. Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung [1795], in: ebd., S. 413–503. Friedrich Schiller, Brief an Friedrich Christian von Augustenburg, 9. Februar 1793, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. XXVI (Anm. 13), S. 183–187, hier S. 187. Marcus Fabius Quintilianus, Institutio oratoria 6.2.29: »quas phantasias Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur« (Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae libri duodecim, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972/1975, Bd. I, S. 708, 710; vgl. 8.3.62, ebd., Bd. II, S. 176). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. XIII, Frankfurt a. M. 1970, S. 139–140. Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates [1940], Stuttgart 21975. Über das Buch verstreut führt Nestle eine etwas schulmeisterliche – der Autor war ein schwäbischer Oberstudiendirektor – Auseinandersetzung mit Nietzsche: S. 8–9, 49, 93, 167–168, 342, 472, 496, 502, 516, 522, 528, 531. Richard Wagner, Zukunftsmusik. An einen französischen Freund [1860], Leipzig 1914 (Insel-Bücherei 110), S. 62. Ebd. Ebd., S. 61. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872/86], in: KSA, Bd. I, S. 9–156, hier S. 60. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge (Anm. 1), S. 881. Ebd., S. 882. Ebd. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, Zukunftsphilologie! Eine Erwidrung auf Friedrich Nietzsches »Geburt der Tragödie«, Berlin 1872. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 29), S. 14. Ebd., S. 25. Ebd., S. 29–30. Ebd. Diese Formulierung erscheint zwar erst in Nietzsches Götzen-Dämmerung (1889), Das Problem des Sokrates, § 4 (KSA, Bd. VI, S. 55–161, hier S. 69), ist aber vorgebildet in der Geburt der Tragödie (Anm. 29, S. 90): »Sokrates […], in dem die logische Natur durch eine Superfötation […] excessiv entwickelt ist«. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 29), S. 92; ders., Sokrates und die griechische Tragoedie [1871], in: KSA, Bd. I, S. 601–640, hier S. 630. Phaidon 60c–61b. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 29), S. 91 (zweite Hervorhebung ergänzt), ebenso S. 99. Andreas Dorschel

42 Ebd., S. 23. 43 Ebd., S. 104. 44 Ebd., S. 44. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 51. 47 Ebd., S. 107. 48 Schiller, Ueber die nothwendigen Grenzen (Anm. 14), S. 10. 49 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I [1878/86], § 217, in: KSA, Bd. II,

S. 9–366, hier S. 177–178. 50 Schiller, Ueber die nothwendigen Grenzen (Anm. 14), S. 10. 51 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 29), S. 156.

In den Strudeln der Einbildungskraft

41

Must one be silent about that whereof one cannot speak? Remarks on the first scene of Die Walküre* Karol Berger

In spite of its nominal division into three scenes, the first act of Die Walküre is an operatic scena writ large. Taking place inside the forest dwelling of the brutish tribesman, Hunding, it involves primarily Hunding’s unloved and unloving young trophy wife, Sieglinde, Wotan’s daughter by a no longer living mortal woman, and her twin brother, Siegmund, who stumbles into the place accidentally, in flight from enemies; Hunding himself makes an appearance only in Scene 2 of the act (his entrance and exit are the reasons why the act is divided into the three scenes). The twins had been separated early in life, do not know their respective sibling’s subsequent fate, and, at first, do not recognize one another. They both know their father under the name of Wälse and thus know themselves to be the Wälsungs, but they do not seem to be aware of Wälse’s true identity. Their gradual recognition that, and how, they are related and that they are in love is the essential content of the act and determines the music-dramatic form of the whole: as a first approximation, one might say that the first half of the act (Scenes 1 and 2) consists of preparatory recitative dialogues, while the second (Scene 3) is an elaborate culminating love duet. But this is an approximation only. The forms of both halves of the act deserve a closer scrutiny. The first one, we already know, is divided by Hunding’s entrance into two sections, each articulated further (see Fig. 1). In the first section, the articulation is deliberately attenuated: the Prelude flows directly into Scene 1, with no caesura in between, thus assuring that we experience the Prelude, at least in retrospect, as an integral part of the scene, not a mere introduction to it or to the opera; a division, such as it is, results from the fact that at some point after the curtain 43

Scene 1 (mm. 1–380; in d): a. Prelude with orchestrally accompanied pantomime and brief recitative at the end (mm. 1–156; in d) b. Recitative dialogue with sections of orchestrally accompanied pantomime (»Ein fremder Mann? Ihn muß ich fragen«; mm. 157–380; unstable but regularly touching down on d or its V and ending in D) Scene 2 (mm. 381–789; ends in c): a. Recitative dialogue with sections of orchestrally accompanied pantomime (»Müd’ am Herd fand ich den Mann«; mm. 381–475) b. Siegmund’s monologue (»Friedmund darf ich nicht heißen«; mm. 476–674; in g/a/c) c. Recitative with a section of orchestrally accompanied pantomime (»Ich weiß ein wildes Geschlecht«; mm. 674–789; in c) 1

Die Walküre, Act 1, Scenes 1 and 2.

has been raised and Siegmund appeared on stage the d-minor music of the Prelude subsides and gives way to the tonally less stable recitative dialogue. In the second section, the internal articulation results from the fact that the centerpiece of the section is a monologue; this is framed by two shorter sections of dialogue, an introduction and a coda of sorts. The normal role of the operatic orchestra, whether with Wagner or anyone else, is to give voice not to some external third party, such as the narrator, but to what is hidden in the depth of the stage character’s soul (a mood, an emotion, a thought). In the first two scenes of Act 1, the orchestra fulfills this role in a particularly interesting and innovative fashion. Siegmund’s monologue aside, this part of the act is entirely given to recitative dialogue. But there is something truly remarkable about this dialogue: from the beginning through the end of Scene 2, it is regularly punctuated by sections when the characters are silent and merely perform various actions, pantomime-like, accompanied by the orchestra. (Wagner will use pantomime elsewhere, often to great effect – for instance, in the first act of Tristan und Isolde – but never again at such length.) Siegmund and Sieglinde are young, inexperienced, and relatively un-self-reflective. At first, they scarcely comprehend what is happening to them – the sudden, immediate birth of mutual sympathy, erotic attraction, passion. They are not yet ready, or able, to verbalize their feelings. But they do feel them and the orchestra provides us with an insight into what they feel. The actual pantomime begins right with Siegmund’s entrance (m. 122). But in a way it begins even earlier, with the first measure of the Prelude (and we already know that no caesura separates the Prelude from Scene 1). The »stormy« (»Stürmisch« is the only tempo indication we get) music depicts Siegmund’s flight from the pursuing enemies, the flight that will lead him, exhausted, to the Hunding’s 44

Karol Berger

dwelling – the pantomime is implied from the start. It is hard to decide whether the remarkable similarity of the music’s main gesture to the accompaniment of Schubert’s Erlkönig is accidental or not. If the allusion was intended, it is singularly apt: the Schubert-Goethe ballad, too, is the image of humans in desperate flight from death. The essence of Siegmund’s fate is revealed to us even before he enters the stage. I have said above that the music surrounding Siegmund’s monologue consists of recitative dialogues interspersed with orchestrally accompanied pantomime. This is true enough, but there is a more accurate way to characterize this music. The Prelude and first scene of the act, in particular, provide an almost uninterrupted, continuous, self-sufficient orchestral discourse, with alternating sections of dialogue and sections of wordless pantomime superimposed over it. (The only, brief and insignificant, interruptions of this continuous orchestral discourse occur in mm. 142–144, 158–161, 169, 182–184, 237–261, 312–324, 340–349, 361–364.) It is the striking continuity of this music, the fact that it would make satisfactory sense even if heard without the voices, that (in addition to the pantomime sections, of course) makes it differ from the normal recitative dialogue in which the orchestral part, even when richly saturated with significant motifs, is rarely continuous and self-sufficient in this way. As a result, even when Siegmund and Sieglinde do converse, it is the orchestra that is heard to provide most of the content to their dialogue, not the voices, and certainly not the words. From the start, the orchestra unites them, makes them in a way single-minded, shows them to be twins and intertwined. Dramatically, what is perhaps most striking about this remarkable scene is the contrast between the visible and audible surface and the imperceptible depth. The words and actions we hear and observe are tepid and conventional – they belong to any first visit among the as yet unacquainted country neighbors. The music, intense and passionate, fraught with suffering and longing from the start, belies this placid surface: these neighbors find one another more than conventionally interesting. This is particularly so in the three longer passages of wordless pantomime once Sieglinde joins Siegmund on stage (each passage interrupted by only a brief splash of superimposed recitative): mm. 185–221 (with only a brief splash of superimposed recitative in mm. 200–203), mm. 269–311 (again, with a brief superimposed dialogue in mm. 280–286), mm. 349–380 (yet again, with a brief recitative in mm. 361– 365). Even before the first of these passages, the orchestra begins to link Siegmund and Sieglinde by intertwining their characteristic motifs in the lower and higher strings as »she bends over him and listens« (»Sie neigt sich zu ihm hinab und lauscht«; stage direction at m. 170) while he lies motionless and exhausted on the ground [Example 1]. (Note, by the way, that such brief moments of carefully choreographed pantomime are interspersed even within the sections of dialogue, as here.) In the first longer pantomime passage [Example 2], this intertwining is developed toward a forte culmination (at m. 193) the warmth of which seems hardly justified by the simple action we see performed on stage: a hostess bringing a thirsty guest some water to drink. The continuation (mm. 204–221) is even more striking – a passionate cello solo in which Siegmund’s motif unfolds into a full-fledged love music, seemingly hardly appropriate as an Must one be silent about that whereof one cannot speak?

45

Example 1

Die Walküre, Act 1, mm. 170–174.

accompaniment to the simple gesture of thanks from the thirsty guest, even if he begins to eye his hostess with some interest (or »his gaze fixes on her features with growing interest« [»haftet sein Blick mit steigender Teilnahme an ihren Mienen«], as the stage direction at m. 204 would have it). The second pantomime passage is similar in musical and dramatic content to the first one, and still warmer [Example 3, compare with Example 2], with mm. 269–286 corresponding to mm. 185–203, and mm. 287–311 corresponding to mm. 204–221. As before, the passage begins with Sieglinde’s music accompanying her action of bringing her guest another drink (this time it is mead), and continues with Siegmund’s passionate love music as he expresses his gratitude »while fixing his eyes on her with growing warmth« (»indem er den Blick mit wachsender Wärme auf sie heftet«; stage direction at m. 290). But this time they share the drink and the love music: hers is the first sip and the first love-music phrase (mm. 287–289); he takes over at m. 290. The third and final pantomime passage [Example 4] is related, but also different, consisting of the same ideas (Siegmund, Sieglinde, love), but no longer distributing them into two consecutive phases, even though the passage is again divided into two parts (mm. 349–361 and mm. 365–380), the latter serving as a major-mode coda to the whole scene. Siegmund has just expressed his intention to leave: he does not want to bring his new acquaintance the misfortune that pursues him wherever he goes. »Then tarry here!«, she replies; »Ill-luck you cannot bring to a house where illluck lives!« (»So bleibe hier! Nicht bringst du Unheil dahin, wo Unheil im Hause wohnt«; mm. 343–349). This cri de cœur is the first moment in the dialogue where the vocal line surpasses in its pained eloquence the expressive weight of the orchestral melody, and it is certainly the first moment that shatters the glass ceiling of conventional propriety. The outcry decides Siegmund: the wife is unhappy; he will stay and await the husband. Like the previous two passages of pantomime, the orchestral music that closes Scene 1 develops from the duet of the Siegmund and Sieglinde motifs (compare Example 4 with Example 1) and goes on to add the love music to the mix (by m. 373), but the intertwined motifs of the unfortunate siblings dominate the discourse. The emphasis is now on the suffering that unites them. But the orchestral pantomime that is so central to Scene 1 does not end with it. Scene 2 contains a number of pantomime passages too, both before and 46

Karol Berger

after Siegmund’s monologue. There are three such passages alone in the short time before Siegmund begins his story (mm. 381–395, mm. 412–435 [with brief superimposed recitatives at mm. 415–416 and mm. 428–431], mm. 459–470). But the longest section of orchestral pantomime occurs within the coda that follows the monologue [Example 5]. Carefully annotated with precisely placed stage directions, it is a ballet of glances solicited, exchanged, and averted. Having heard Siegmund’s story, Hunding reveals that it were his kinsmen whom Siegmund most recently offended. This night, he tells Siegmund, you are my guest; tomorrow I shall fight you – a craven threat, since he knows his guest to be weaponless. And he orders Sieglinde out of the hall. In the pantomime that follows, Sieglinde attempts to meet Siegmund’s gaze and to direct it toward a particular spot in the stem of an ash-tree that stands in the center of the hall (the orchestra informs us that the sword that was the subject of Wotan’s hope at the end of Das Rheingold must be hidden there, mm. 764–767 and mm. 770–772) – all of this without calling Hunding’s attention – before she and her husband leave. The general character of the pantomime passages in Scene 2 is different from that of the ones in Scene 1: there the characters could not have verbalized their feelings even if they had wanted to; now they cannot do this, because they are being watched by the hostile husband. Nevertheless, the very existence of such passages significantly links the two scenes: this whole first part of the act is dominated and unified by them. But to come back to Scene 1: its expressive eloquence is truly remarkable, the more so since ostensibly it is no more than a simple recitative dialogue. The continuous orchestral discourse and, above all, the three longer passages of similarly constructed pantomime provide the scene at once with a subtle formal design and with its essential dramatic content – the birth of a bond, sympathetic and erotic, that begins to unite the protagonists. That it is left to the orchestra to convey this content is a testimony to the psychological subtlety of the Wagnerian dramaturgy at this point (he needs and wants to show characters who feel more than they are able to comprehend or express in words) and to the composer’s ability to develop the orchestra’s traditional operatic role (as the amplifier of the characters’ interiorities) far beyond anything attempted in this area until now. In this scene, the orchestra provides us with the insight into the invisible essence of things (into the Unbildliche), the words of the protagonists do not penetrate beyond the visible phenomenal surface (beyond the Bildliche). This corresponds remarkably well to Schopenhauer’s understanding of the relationship between music and language and, by the same token, to Nietzsche’s understanding of this relationship in The Birth of Tragedy, since at this early stage Nietzsche assumed the Schopenhauerian theory of music without reservations. (Subsequently, he would, of course, emancipate himself from Schopenhauer no less profoundly, though with less bitterness, than he would emancipate himself from Wagner. In fact, the two emancipations will be closely intertwined: the very distinction between surface and depth, or appearance and essence, on which the Schopenhauerian theory of music relies, will be something later Nietzsche would want us leave behind.) This correspondence between Wagner’s practice and Schopenhauer’s theory is so close that one might be tempted to attribute the composer’s newly found psychological Must one be silent about that whereof one cannot speak?

47

Example 2

Die Walküre, Act 1, mm. 184–223.

insightfulness and artistic courage to an acquaintance with the philosopher’s theories. This, however, will not do: the composition of the continuity draft of the first act of Die Walküre took place between 28 June and 1 September 1854, that is, it preceded the composer’s first reading of Schopenhauer in the autumn of 1854. In any case, as Carl Dahlhaus correctly observed, Wagner’s early reception of Schopenhauer concentrated on the philosopher’s metaphysical-ethical doctrines, not on his music aesthetics. At this early stage, Wagner would claim that Schopenhauer helped him understand better Wotan’s resignation in Act 2, not his own artistic practice. Schopenhauer’s music aesthetics was assimilated by the composer only gradually (an assimilation articulated publicly only in the Beethoven essay 48

Karol Berger

of 1870) and incompletely. Instead of a wholesale conversion from the empirical doctrine of Oper und Drama (1850–1851) according to which music needs the text or scenic action to achieve semantic definition, to the metaphysics of music as a medium disclosing the deepest ground of being, Wagner attempted a synthesis between the two theories, converting the empirical semantic deficiency of music into the source of its metaphysical dignity: empirically, music needed drama so that its gestures might be semantically defined, but metaphysically, the drama needed music to express its deepest significance. Thus, when compared with language, music came short, but this very shortcoming allowed it to jump over language directly into the deep waters of the Will.1 Must one be silent about that whereof one cannot speak?

49

Example 3

50

Die Walküre, Act 1, mm. 266–315.

Karol Berger

Must one be silent about that whereof one cannot speak?

51

Example 4

Die Walküre, Act 1, mm. 343–380.

One might want to argue, then, that in elevating the orchestra far above the scenic word and action, in letting the former voice the deepest truth of the unbildlicher erotic Will driving the protagonists (we should keep in mind that, for Schopenhauer, sexual desire was the main guise in which the noumenal Will manifested itself in the phenomenal world) and allowing the latter to glide on the trivial bildliche surface, Wagner was a Schopenhauerian avant la lettre (or, in any case, before the lettre became known to him). But in fact such a convoluted and ultimately mysterious explanation of his musical dramaturgy in the first scene of Die Walküre is unnecessary. A simpler and more likely explanation lies nearer to hand and it is twofold: First, in Die Walküre, for the first time in the Ring cycle, Wagner deals with human protagonists and his humans have much deeper interior lives than the allegorical natural and divine powers that populate Das Rheingold. Second, and more importantly, he was in fact doing nothing more than following the normal operatic practice of 52

Karol Berger

using the orchestra to reveal the unspoken interiority of the characters. He was just doing it more thoroughly, more radically, than it was even done before, whether by him, or by his predecessors and contemporaries.

Must one be silent about that whereof one cannot speak?

53

Example 5

54

Die Walküre, Act 1, mm. 715–776.

Karol Berger

Must one be silent about that whereof one cannot speak?

55

Endnote * Some of the material of this paper appeared in my »Wie man wird, was man ist«: Die Walküre,

Erster Aufzug, in: Helmut Loos (ed.), Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, Markkleeberg 2013 (Leipziger Beiträge zur Wagner-Forschung. Sonderband), pp. 77–83. I use Stewart Spencer’s English translation of the text of Die Walküre which appeared in Wagner’s Ring of the Nibelung. A Companion, ed. Stewart Spencer and Barry Millington, New York 1993. The orthography of the original German libretto and the wording of the stage directions, sometimes different from the version given in the vocal score by Karl Klindworth (see Examples 1–5), follow Richard Wagner, Die Walküre, erster Aufzug, ed. Christa Jost, Mainz 2002 (Sämtliche Werke XI/1). 1 Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, in id., Gesammelte Schriften in 10 Bänden, ed. Hermann Danuser, vol. VII: Richard Wagner. Texte zum Musiktheater, Laaber 2004, pp. 133–140. See also Carl Dahlhaus, Die doppelte Wahrheit in Wagners Ästhetik. Zu Nietzsches Fragment »Über Musik und Wort«, in id., Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späten 19. Jahrhunderts, München 1974 (Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten 7), pp. 22–37; The Twofold Truth in Wagner’s Aesthetics: Nietzsche’s Fragment »On Music and Words«, in id., Between Romanticism and Modernism. Four Studies in the Music of the Later Nineteenth Century, transl. Mary Whittall and Arnold Whittall, Berkeley/Los Angeles 1980, pp. 19–39.

Credits 1–5 Richard Wagner, Die Walküre. Vollständiger Klavierauszug von Karl Klindworth, Mainz

1908 (Richard Wagner’s Werke. Opern und Musikdramen. Ausgabe der Original-Verleger 8).

56

Karol Berger

Must one be silent about that whereof one cannot speak?

57

» Der widerwärtige Anblick des Sängers«. Nietzsches und Wagners Traum-Theater Arne Stollberg

I » Heil’ge Nacht, du sinkest nieder! Nieder wallen auch die Träume Wie dein Mondlicht durch die Räume, Durch der Menschen stille Brust. Die belauschen sie mit Lust, Rufen, wenn der Tag erwacht: Kehre wieder, holde Nacht, Holde Träume, kehret wieder.«1 Diese Verse stammen von dem österreichischen Dichter Matthäus von Collin, der zwischen 1779 und 1824 lebte. Entstanden sein dürften sie Anfang der 1820er Jahre, und ihren Nachruhm verdanken sie zweifellos der wohl auf das Jahr 1823 zu datierenden Vertonung Franz Schuberts (D 827).2 Bei erster flüchtiger Lektüre mag es naheliegen, in dem Gedicht bloß einen epigonal angehauchten Reflex jener romantischen Nachtlyrik und Nachtmystik zu erblicken, als deren Paradigma Novalis’ 1800 veröffentlichte Hymnen an die Nacht gelten können.3 Doch ein Aspekt, oder besser gesagt: ein unscheinbares Verb lässt (buchstäblich) aufhorchen. Die Träume, deren Niederwallen durch die Brust Collin in seinen Versen heraufbeschwört – diese Träume werden von den Menschen »mit Lust« belauscht und nicht etwa beschaut oder betrachtet, sie scheinen also ein akustisches Phänomen darzustellen, kein visuelles. Dahinter verbirgt sich eine signifikante Akzentverschiebung innerhalb der medialen Konstitution, die den Träumen 59

gewöhnlich zugeschrieben wird. »Gesichtsbilder machen […] den Hauptbestandteil unserer Träume aus«, so lesen wir bei Sigmund Freud. »Der Beitrag von anderen Sinnesgebieten […] ist geringfügiger und inkonstant.«4 Zwar gesteht Freud einzig noch dem Gehör die Fähigkeit zu, in vergleichbarer Weise an den Traumerlebnissen eines Schlafenden potentiell mitwirken zu können, doch bleibt seine Traumdeutung gleichwohl von der Vorstellung des Traumes als Bildmedium geprägt. Und dies entsprach – um wieder näher an die Epoche Matthäus von Collins heranzurücken – genau der romantischen Auffassung, wie sie exemplarisch in Gotthilf Heinrich Schuberts Symbolik des Traumes aus dem Jahr 1814 niedergelegt ist. Dort heißt es zum Beispiel an einer Stelle, dass der »Bilderausdruck« des Traumes zuweilen auch die Prophetie kommender »Begebenheiten« enthalten könne, etwa solchen »des nächsten Tages, in so ferne sich dieselben zu einer bildlichen Darstellung eignen«. Man mag etwa, so Schubert, von der überraschenden Ankunft eines Freundes träumen, die sich dann tatsächlich ereignet; aber dasjenige, was der Freund »zu sagen hat, wird, entweder mimisch dargestellt, oder wieder in Bilderausdrücke eingekleidet«5 – das Ohr bleibt unbeteiligt, der Traum gleichsam ein Stummfilm. Dies ist, um einen Vorausblick auf Nietzsche zu wagen, gerade deshalb bemerkenswert, weil Schubert in seinem einflussreichen – wenn auch später von Arthur Schopenhauer hämisch verlästerten6 – Buch bereits den »Schicksalsgott Dionysos« aufruft, als Inkarnation eines »schaffenden Prinzips […], aus welchem die ganze uns umgebende Natur hervorgegangen« sei und das auch im träumenden Individuum jene überpersönliche, »hieroglyphische Bildersprache« erzeuge, »worinnen die Gottheit sich ihren Propheten und anderen Gott-geweihten Seelen von jeher offenbart hat«.7 Der Traum verbürgt also für Schubert einen Zugang zu »Elementarmächte[n], die den bewußten Horizont des einzelnen Menschen überschreiten« und mit Dionysos assoziiert werden, was unmittelbar auf Nietzsche vorauszuweisen scheint.8 Doch muss kaum eigens betont werden, dass Nietzsche den Sachverhalt gewissermaßen umdreht: Nicht Dionysos, sondern Apoll ist bei ihm bekanntlich der Gott des Traumes, und der Traum selbst gerade kein Medium der Entgrenzung, sondern im Gegenteil eines, das den Trug des principium individuationis stützt, indem es den Menschen wie ein Schleier umgibt und ihn vor der halb schrecklichen, halb lustvollen Erfahrung des Einswerdens mit der Natur rettet. Doch was Nietzsche und Schubert wiederum verbindet, ist jene konstitutive Bildhaftigkeit des Traumes, der Collins Gedicht – wie gezeigt – die Chimäre eines akustisch wahrnehmbaren Traumes gegenüberstellt. Diese Beobachtung soll als Ausgangspunkt dienen, um zunächst einige Überlegungen zum Verhältnis von Klang, Bild und Traum im Denken Wagners und Nietzsches anzustellen und sie abschließend auf die Meistersinger von Nürnberg zu beziehen. Als Brücke dorthin sei aber kurz noch ein Blick auf Franz Schuberts Vertonung des Gedichtes Nacht und Träume geworfen, die das Skandalon des belauschten Traumes auf eindringliche Weise musikalisch pointiert.

II Gerade dort, wo die Menschen gemäß Collins Gedicht in Schlaf versinken und sich ihnen – mit Begriffen Wagners und Nietzsches gesprochen – die vom 60

Arne Stollberg

Tageslicht abgeschottete »Schallwelt«9 beziehungsweise »Hörwelt«10 des Traumes auftut (»Die belauschen sie mit Lust«), findet das spektakulärste harmonische Ereignis des ansonsten überaus schlicht gehaltenen Liedes statt (T. 14–15, [Notenbeispiel 1]): Mit einer unvermittelten Rückung sinkt die Musik von der Grundtonart H-Dur nach G-Dur ab, jenen abwärts führenden Terzschritt vollziehend, der noch in der großen Kontemplationsszene des »Waldwebens« im zweiten Aufzug von Wagners Siegfried das Abdriften in einen traumähnlichen Zustand musikalisch kennzeichnet.11 Der ohnehin extrem verlangsamte Zeitverlauf der Komposition kommt hier gewissermaßen zum Stillstand: Bei der ersten Textwiederholung des Liedes überhaupt, die ausgerechnet den Vers »Die belauschen sie mit Lust« betrifft, bleibt die Harmonik fünf Takte lang stehen, zwischen G-Dur und C-Dur pendelnd (T. 15–19), interessanterweise genau jenen Tonarten, die auch im »Waldweben« des Siegfried als »Versunkenheitstonarten« wirksam sind (zweiter Aufzug, T. 819–830),12 und zwar ebenfalls – wenngleich nicht in unmittelbarer Gegenüberstellung – von H-Dur ausgehend (T. 726 ff.). Während Wagner aber den C-Dur-Quartsextakkord am Ende der »Versunkenheitsepisode«13 mediantisch nach E-Dur weiterführt (T. 831 ff.), verknüpft Schubert das Erwachen mit der allmählichen Rückkehr in die Grundtonart H-Dur, durch enharmonische Umdeutung des verminderten Septakkordes e – g – b – des (= ais – cis – e – g; T. 20), der das meditative Hin und Her zwischen den reinen Dreiklängen von G-Dur und C-Dur gleichsam in der Dissonanz des erwachenden Tages abreißen lässt (»Rufen, wenn der Tag erwacht: / Kehre wieder, holde Nacht«): ein bemerkenswerter Vorgriff auf Tristan und Isolde, was erst recht in der Orchesterfassung deutlich wird, die Max Reger 1914 von Schuberts Lied angefertigt hat.14 Ähnliche mediantische Tonartenverhältnisse zur Kennzeichnung des Gegensatzes zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Wachen finden sich auch in den Meistersingern von Nürnberg. So steht am Beginn jener Akkordfolge, die das Emblem von Stolzings »seliger Morgentraum-Deutweise« bildet (dritter Aufzug, T. 1675– 1677), nicht zufällig die Initiale E-Dur → As-Dur (Gis-Dur), gleichsam die Umkehrung des abwärts führenden Terzschrittes, der das Hinuntergleiten in die Sphäre des Traumes markiert und dessen Gegenrichtung, die Wendung zur Obermediante, dementsprechend den Übergang vom Traum zum Wachen nachvollzieht, was mit der Genese des »Preisliedes« nach dem theoretischen Modell der Beethoven-Festschrift Wagners genau korrespondiert.15 Ein weiteres Beispiel wäre das emphatische Hinausstreben aus der mit E-Dur assoziierten Sphäre der Johannisnacht hin zum glanzvollen C-Dur des Johannistags, wie es im »Wahnmonolog« des Hans Sachs so eindringlich zelebriert wird (dritter Aufzug, T. 397–407: »Der Flieder war’s: – Johannisnacht. – – / Nun aber kam Johannis-Tag«).16 Freilich könnte man sagen, dass im letztgenannten Fall die Richtung der Modulation eine falsche ist, führt der aus der Nacht hervorbrechende Tag doch hier eine Terz abwärts, nicht hinauf (also etwa von As-Dur nach C-Dur, wenn man die traditionelle Licht-Tonart C-Dur als gegeben annimmt). Es scheint, als würde das Erwachen dem Einschlafen gleichen, als würden Traum und Realität, Nacht und Tag gleichsam ihre Plätze tauschen. Dieses Paradoxon ist indessen kein Zufall, sondern bringt eine Ambivalenz auf den Punkt, die bei Wagner wie auch »Der widerwärtige Anblick des Sängers«

61

Notenbeispiel 1

62

Franz Schubert, Nacht und Träume op. 43/2 (D 827), T. 9–29.

Arne Stollberg

»Der widerwärtige Anblick des Sängers«

63

bei Nietzsche – und erst recht im Verhältnis beider zueinander – hinsichtlich der Konstellation von Musik und Szene beziehungsweise von Dionysischem und Apollinischem sowie speziell mit Blick auf die Rolle des Traumes zu bemerken ist. Einige Stichworte hierzu müssen genügen, bevor abschließend noch einmal der zweite Aufzug der Meistersinger vor dem Hintergrund der Frage betrachtet werden soll, inwieweit sich in ihm eine Art alternatives »opus metaphysicum« realisiert,17 ein dionysisch-apollinisches Traumspiel, von dem der junge Nietzsche vielleicht nicht weniger gelernt hat als vom eigentlichen Gewährsstück der Geburt der Tragödie, nämlich Tristan und Isolde. III »Der Traum als reiner Musikzustand?« – Diese Frage notierte sich Nietzsche 1871 im Zuge der Arbeit an seiner Tragödienschrift, direkt anknüpfend an Reflexionen über den »falsche[n] Begriff der Mimesis« bei Sophokles und die apodiktische Bemerkung: »Nachahmung der Charaktere – damit ist die Musik nicht mehr produktiv, gestaltenschöpferisch. Die Musik muß aus sich in gleicher Weise die Tragödie erzeugen, wie das Ur-Eine die Individuen.«18 Der letztgenannte Satz verwundert nicht, enthält er doch einen der Kernpunkte des Tragödienbuches. Die Frage aber, ob der Traum als »reiner Musikzustand« gelten könne, muss verblüffen, steht sie doch in deutlichem Widerspruch zu der 1870 in dem Aufsatz Die dionysische Weltanschauung bereits fixierten Grundannahme, dass der »schöne Schein der Traumwelt […] der Vater aller bildenden Kunst« sei, mit Apoll als dem Gott einer »verklärte[n] Welt des Auges, das im Traum […] künstlerisch schafft«, während das Dionysische der Musik gerade nicht dem Traum zugeordnet wird, sondern vielmehr dem durchaus real erlebten »Rausch«, der durch das Apollinische zu mäßigen, eben in die Bande der Kunst zu schlagen ist.19 Man darf annehmen, dass sich Nietzsche hier über sein eigenes Verhältnis zu Wagners Beethoven-Schrift klar zu werden versuchte, die quasi parallel zum Aufsatz Die dionysische Weltanschauung, wenn nicht sogar in einer Art »geistige[m] Wettkampf« zwischen Nietzsche und Wagner auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Tribschener Gespräche entstanden war.20 Bei Wagner aber fand Nietzsche »das Phänomen des Traumes analogisch […] auf die Entstehung der Musik als Kunst« angewandt und überhaupt mit der »Schallwelt« – im Gegensatz zur »Lichtwelt« – assoziiert,21 was die Frage »Der Traum als reiner Musikzustand?« naheliegend erscheinen lassen musste.22 Dass Nietzsche letztlich davon absah, für die Endfassung der Tragödienschrift seinen (apollinischen) Traumbegriff zugunsten der (gewissermaßen dionysischen) Konzeption des Traumes bei Wagner aufzugeben oder entscheidend zu modifizieren, mag auch durch die »medientheoretische Unschlüssigkeit«23 in Wagners eher metaphorisch als logisch aufgebauter Argumentation begründet gewesen sein. Denn der Traum hatte für den gelehrigen Schopenhauer-Leser Wagner immer auch die Bedeutung einer gleich dem »Schleier der Maja« über die Welt gebreiteten Illusion,24 die sich auflöst, sobald der Traum als Traum durchschaut ist, und dann den Blick freigibt auf das in einen ewigen Kampf mit sich selbst verstrickte, unaufhörlich Qual und Leid generierende Daseinsprinzip, das Schopenhauer den »Willen« nennt. 1854, im Bann seiner ersten Lektüre der Welt als Wille und Vorstellung, schrieb Wagner an Franz Liszt, dass 64

Arne Stollberg

ihm als »Quietiv« vor dem schieren Grauen der Existenz nur noch »die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod« geblieben sei, »volle Bewusstlosigkeit, gänzliches Nichtsein, Verschwinden aller Träume – einzigste, endliche Erlösung«.25 Dieser eher traditionelle Traumbegriff, in dem der Traum als Gaukelei und substanzloses Phantasiegebilde erscheint, das die Wahrheit des Seins nicht enthüllt, sondern von ihr ablenkt, sie buchstäblich überdeckt, motivierte – nun wiederum passend zu Nietzsches apollinischer Definition – auch Wagners gelegentliche Ausfälle gegen die bildende Kunst, etwa seine Äußerung gegenüber Cosima am 18. März 1880, er werde »den plastischen Künsten immer fremder, der Malerei, es ist wie eine Gardine, die man vorzieht vor dem Ernst der Dinge«.26 Entsprechend konnte noch Gustav Mahler die BeethovenSchrift Wagners – laut Arnold Berliner – zusammen mit den betreffenden Passagen aus Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung als »das Tiefste bezeichnen […], was […] je« über das »Wesen der Musik […] geschrieben worden sei«, und daraus den folgenden Gedanken ableiten: »Es ist vielleicht ungemein bezeichnend, daß der Musiker für die bildende Kunst nur ein geringes Interesse aufzuweisen hat; er ist geartet, den Dingen auf den Grund zu gehen – durch die äußeren Erscheinungen hindurch…«.27 Komplikationen entstehen nun aber dadurch, dass der Musiker, dem sich die Erscheinungswelt solchermaßen als illusionärer Traum zu erkennen gibt, laut Wagner seinerseits in einen Zustand gerät, der nach Analogie des Traumes zu denken ist, allerdings nicht eines phantasmagorischen, sondern – nach Schopenhauers Auffassung – eines »prophetische[n], oder fatidike[n]« Traumes, der den Moment tiefsten, erinnerungslosen Schlafes zum Ort magischer Hellsichtigkeit macht.28 Und wie bereits Schopenhauer den Traum wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich,29 als bildhaftes Medium begreift und demgemäß von einem inneren »Auge« schreibt, »mit welchem wir die Träume sehn«,30 hält Wagner in der Beethoven-Schrift an einem Begriffsrepertoire fest, das optisch determiniert bleibt, weshalb jüngst sogar die These einer »Aufwertung der visuellen Wahrnehmung« unter den Auspizien der »Hellsichtigkeit« als »entscheidende[m] ästhetische[m] Kriterium« formuliert werden konnte.31 Von der »inneren Schau« des Musikers ist etwa die Rede, von einem »erschaute[n] Traumbild« oder von der Wahrnehmung des »innerste[n] (Traum-)Bild[es] der Welt in seinem getreuesten Abbilde«.32 Doch andererseits führt Wagner Schopenhauers These produktiv weiter, dass der »fatidike« Traum seine hellseherische Qualität durch die Suspension der Gesetze von Zeit, Raum und Kausalität gewinne, so dass die »Vereinzelung und Isolation« der sonst getrennt voneinander existierenden »Individuen« – das principium individuationis – temporär aufgehoben sei und ein direkter Zugang bestehe zu jenem »Mechanismus, der dem ganzen, komplicirten und bunten Spielwerk« der Erscheinungswelt »seine Bewegung ertheilt«, nämlich dem »Ding an sich«, also dem »Willen«.33 Während dieser »über das Individuum hinaus potenzirte Willensakt«,34 in dem Zeit, Raum und Kausalität keine Gültigkeit mehr besitzen, Schopenhauer vor allem als Begründung dafür dient, dass das Vorhersehen zukünftiger Ereignisse im Traum ebenso möglich sei wie das Auftreten weit entfernter oder längst verstorbener Personen, verknüpft Wagner denselben Gedanken mit Schopenhauers Metaphysik der Musik, wendet Schopenhauer sozusagen auf Schopenhauer an und »Der widerwärtige Anblick des Sängers«

65

gelangt so tatsächlich zu der Idee des Traumes als »reinem Musikzustand« (um Nietzsches Formulierung aufzugreifen).35 Hier wäre eigentlich der Punkt erreicht, an dem Nietzsche, würde er Wagner folgen, Traum und Rausch gleichsetzen müsste, anstatt beides zu kontrastieren. Dass er es nicht tut, hängt mit der alles entscheidenden Differenz zusammen, die zwischen den Musikauffassungen Wagners und Nietzsches besteht: Wagner imaginiert – was an dieser Stelle nur angedeutet werden kann36 – den Übergang vom Musik-Traum zum Traumbild der Szene als nahtlose Stufenfolge. Und zwar dergestalt, dass die visuellen Vorgänge dem rhythmisch-formalen Außenbereich der Musik, ihrem gestischen Moment jenseits des amorphen Klanges, bereits eingeschrieben seien und auf die Bühne als sichtbare Erscheinung projiziert würden, genauer gesagt als eine »Traumerscheinung«. Diese bringe dem Zuschauer, der durch die aus dem »mystischen Abgrunde« des Orchestergrabens wie magischer Dampf aufsteigenden Klänge in einen »begeisterten Zustand des Hellsehens versetzt« werde, das »wahrhaftigste Abbild des Lebens selbst« zur Offenbarung.37 Traum und Rausch fallen in der Tautologie von Hören und Sehen zusammen. Genau dies sollte der späte Nietzsche bekanntlich an Wagner scharf kritisieren, nämlich das sklavische Festhalten an einer »Ton-Semiotik« der Gebärde,38 bei der die Musik immer schon klingendes Schauspiel ist, anstatt sich ihre Autonomie zu bewahren. »Das griechische Musikdrama ist eine Vorstufe der absoluten Musik«,39 so hatte Nietzsche 1869 geschrieben und damit einen Gedanken formuliert, der für ihn zeitlebens gültig bleiben sollte, trotz – und dann eben auch gegen – Wagner.40 Zugespitzt gesagt: Die optische Versinnlichung der Musik durch die Bilder des Mythos war in seinen Augen zwar nicht zufällig oder beliebig, aber dasjenige, was auf der »Visionswelt der Skene« gezeigt wurde,41 erschien ihm gleichwohl bis zu einem gewissen Grad austauschbar, analog jenen assoziativen »Bilderwelten«, die etwa eine Symphonie Beethovens in der Phantasie des Zuhörers wachrufe, immer wieder neu und immer wieder anders, ohne dass irgendeine der »gleichnißartige[n] […] Vorstellungen« jemals Exklusivität für sich beanspruchen könne, und sei sie auch – wie im Fall der Pastorale – vom Komponisten selbst vorgegeben.42 Daraus resultierte in Nietzsches Denken jenes Verdikt gegen alle »dramatische« Musik, die sich in »conventionelle[r] Symbolik« erschöpfe, also damit begnüge, »Erinnerungszeichen« zu setzen, um »den Zuschauer an etwas zu mahnen, was ihm beim Anblick des Dramas, zu dessen Verständniß, nicht entgehen« dürfe, »wie ein Trompetensignal für das Pferd eine Aufforderung zum Trabe ist«.43 Dass Wagner hierin zwangsläufig einen Frontalangriff auf seine – freilich von ihm selbst nicht so benannte – Leitmotivtechnik hätte sehen müssen, mag Nietzsche dazu bewogen haben, die entsprechende Notiz nur stark abgeschwächt in die Endfassung des Tragödienbuches einzuarbeiten44 und dort sogar ganz wegzulassen, was er als denkbar drastische Folgerung aus dem Umstand ableitete, dass der bloße Anschein »dramatischer« Musik, das heißt der Anschein von Musik als »conventionelle[r] Rhetorik« im Dienste der Dramenhandlung, unbedingt zu vermeiden sei: » Ich denke, wir müssen den Sänger überhaupt streichen. Denn der dramatische Sänger ist ein Unding. Oder wir müssen ihn in’s Orchester 66

Arne Stollberg

nehmen. Aber er darf die Musik nicht mehr alteriren […]. Der widerwärtige Anblick des Sängers! Aber auch so entgehn wir nicht der dramatischen Musik! Der Sänger muß weg! Das beste Mittel ist doch der Chor […], der eine Vision hat und begeistert beschreibt was er schaut!«45 Wagner hatte die von ihm konstatierte Wirkung der Musik, dass das »Gesicht« durch sie »depotenziert« werde, so »daß wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen«, noch dahingehend aufgefasst, dass die sichtbare Welt für den Zuschauer nur verschwinde, um ihn »zum deutlichen Gewahren jener Gestalten« auf der Bühne zu »begeistern«, in denen sich die musikalischen »Motive« vor dem »hellsichtig gewordenen Auge« nun sichtbar verkörperten.46 Nietzsche hingegen hält über das besagte Auge des Zuschauers gerade umgekehrt fest, dass es nicht etwa »hellsichtig«, sondern vielmehr »umflort« werde, »wo einmal die dionysische Gewalt der Musik […] einschlägt […]: der Zuhörer vergißt jetzt das Drama und wacht erst wieder für dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat«.47 In diesem Sinne wäre der »dionysische Zauber« doch als traumähnliches Hinabgleiten in einen »reinen Musikzustand« zu begreifen, durchaus Wagners Theorie entsprechend, aber radikalisiert bis zu dem Punkt, wo der Traum tatsächlich nur noch belauscht wird und die »übermäßige Bevorzugung des Apollinischen«, also des Sichtbaren, an dem die Tragödie – laut Nietzsche – »zu Grunde gegangen« sei,48 sich in eine Verabsolutierung des Hörbaren verkehrt, vor dem in letzter Konsequenz alles Bildhafte erlischt. Man möchte meinen, dass sich der Theaterpraktiker Wagner hiergegen nur verwahren konnte. Und doch richtete er Juni 1872 an Nietzsche auf dessen Nachricht hin, bald in München eine Aufführung des Tristan besuchen zu wollen, die bemerkenswerte Forderung: »Brille ab! Nichts als das Orchester dürfen Sie hören.«49 So hat Wagner seinen »bis zur Augenblödigkeit« kurzsichtigen, von Cosima liebevollironisch als »armer Nachtvogel« charakterisierten Freund,50 dem das Hören schon deshalb sympathischer gewesen sein mag als das Sehen, am Ende tatsächlich dazu ermutigt, sich den »widerwärtigen Anblick des Sängers«, letztlich das Drama überhaupt zu ersparen und den »dionysischen Zauber« träumend als »reinen Musikzustand« aufzunehmen – ein Rezeptionsmodus, der ihm selber keineswegs fremd war, wie der folgende Bericht über die Proben zur Uraufführung von Tristan und Isolde im Braunen Buch belegt:51 » Nachdem ich während der Proben des ersten und zweiten Aktes stets wie mit dem Ohr, so mit dem Auge auf das Gespannte an meinen Darstellern gehaftet hatte, wendete ich mit dem Beginne des dritten Aktes, vom Anblicke des auf seinem Schmerzenslager hingestreckten todeswunden Helden, mich unwillkürlich gänzlich ab, um auf meinem Stuhle mit halbgeschlossenen Augen bewegungslos mich in mich zu versenken. In der ersten Theaterprobe schien Schnorr die ungewohnte Andauer meiner scheinbaren vollständigen Theilnahmlosigkeit, da ich mich im Verlauf der ganzen ungeheuren Scene, selbst »Der widerwärtige Anblick des Sängers«

67

bei den heftigsten Accenten des Sängers nie nach ihm wendete, ja nur überhaupt mich regte, innerlich befangen gemacht zu haben […].«52 Die Pointe dieser Schilderung besteht freilich darin, dass der Zustand der »Versunkenheit«, die in den »halbgeschlossenen Augen« sich manifestierende »Abwendung« von der Bühne, laut Wagner gerade durch die »musikalisch-mimische Darstellungskunst« Ludwig Schnorr von Carolsfelds stimuliert worden sei.53 Und so endet, was vom Drama in das Reich der Musik weggeführt zu haben scheint, schließlich doch wieder prononciert beim Drama, ja sogar ausdrücklich bei der Person des (eben nicht »widerwärtigen«) Sängers: » Nun sage man sich, dass dieses ganze ungeheure Orchester zu der mimischen Gesangsaufgabe des dort auf einem Lager ausgestreckt liegenden Sängers sich doch nur wie die Begleitung zu einem sogenannten Sologesange verhalte, und schliesse demnach auf die Bedeutung der Leistung Schnorrs, wenn ich jeden wahren Zuhörer jener Münchener Aufführungen zum Zeugen dafür anrufe, dass vom ersten bis zum letzten Takte alle Aufmerksamkeit und aller Antheil einzig auf den Darsteller, den Sänger gerichtet war, an ihn gefesselt blieb, und nie einen Augenblick auch nur gegen ein Textwort Zerstreutheit oder Abwendung eintrat, vielmehr das Orchester gegen den Sänger völlig verschwand, oder – richtiger in seinem Vortrage selbst mit enthalten zu sein schien.«54 Ob Nietzsche in diesem Verständnis ein »wahrer Zuhörer« gewesen ist, darf bezweifelt werden. Für Wagner lag in der Musik des Orchesters die »mimische Darstellungskunst« – das Drama – schon beschlossen, und mit Schnorr von Carolsfeld scheint er, wenngleich man das apologetische Moment der zitierten Textpassagen natürlich bedenken muss, eine ideale Projektion dieser »mimischen Darstellungskunst« auf die Bühne erfahren zu haben: als wahr gewordene »Traumerscheinung«, für die die »halbgeschlossenen Augen« das rezeptive Äquivalent bilden. Nietzsche hingegen hätte den Satz, dass »alle Aufmerksamkeit […] einzig auf den […] Sänger« gerichtet sei, der sich auch das Orchester zu Diensten mache und es gleichsam zur »Begleitung« seines »Sologesangs« degradiere, wohl als verkapptes Eingeständnis gelesen, dass auch hier das Drama die Musik bestimme oder sich zumindest die Musik doch wieder in »konventioneller Rhetorik« erschöpfe, anstatt das Drama vergessen zu lassen. Zwischen Wagners Eloge auf Schnorr von Carolsfeld und Nietzsches Tirade gegen den »widerwärtigen Anblick des Sängers« klafft jener Abstand, der die auf gleicher Basis ruhenden und doch zutiefst unterschiedlichen Konzeptionen eines Traum-Theaters voneinander scheidet. IV Wenn eben gesagt wurde, dass in Wagners Konzeption Traum und Rausch zusammenfallen, so markiert dies gerade deshalb einen großen Unterschied 68

Arne Stollberg

zu Nietzsche, weil Letzterer die Bildwelt des apollinischen Traumes bekanntlich als »Heilmittel« gegen die Verzückungen dionysischer Ekstase ansah.55 Da das Gemeinwesen »ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit« nicht denkbar sei und somit die »dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums«, bei der jedes »staatliche und sociale Band zerrissen« werde, die gesellschaftliche Ordnung zum Einsturz bringen könne, mache die durch ihn geleistete künstlerische Sublimierung des Rausches Apoll auch zum »staatenbildende[n]« Gott.56 Diesen Gedanken aber, den Gedanken der ästhetischen Fundierung des Gemeinwesens im apollinischen Traum, der sich dem dionysischen Rausch heilend und hemmend entgegenstellt, könnte Nietzsche wiederum aus Wagners Meistersingern gelernt haben. Wenige Bemerkungen müssen genügen.57 Während Sixtus Beckmesser – wenn man so will – die »rationalistische Methode« des »aesthetischen Sokratismus« repräsentiert,58 wird das Dionysische in den Mikrokosmos der Stadt Nürnberg durch den Ritter Walther von Stolzing hineingetragen, genauer gesagt durch sein »Probelied« im ersten Aufzug, einen ungebändigten, ekstatischen Frühlingshymnus, von dem Hans Sachs bemerkt, solches Singen würde wohl »Töchter zum Abenteuer« verführen. Offenbar war es im Hause Wagner in Tribschen ein geflügeltes Wort, den Beginn des Frühjahrs nach kaltem Winter hintersinnig als »Fanget an!« zu titulieren, also mit den ersten Worten des besagten »Probeliedes« (»Fanget an! / So rief der Lenz in den Wald«). Beispielsweise ließ Cosima am 22. Januar 1871 Nietzsche brieflich wissen, »bei der jetzigen Kälte« wäre eine Reise von Tribschen nach Basel für sie sehr »opfervoll«; aber »kommt das ›Fanget an‹« – also das Frühjahr –, »so wird alles minder beschwerlich und lohnender«.59 Als Nietzsche Cosima zu Weihnachten 1870 unter dem Titel Die Geburt des tragischen Gedankens eine umgearbeitete Fassung seines Aufsatzes über die Dionysische Weltanschauung zum Geschenk machte,60 modifizierte er die Definition des Dionysischen vor diesem Hintergrund auf anspielungsreiche Weise: Die dionysische Weltanschauung » Zwei Mächte vornehmlich sind es, die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb und das narkotische Getränk. Ihre Wirkungen sind in der Figur des Dionysos symbolisirt.«61 Die Geburt des tragischen Gedankens » Zwei Mächte vornehmlich sind es, die den naiven Naturmenschen zur Selbstvergessenheit des Rausches steigern, der Frühlingstrieb, das ›Fanget an!‹ der gesammten Natur, und das narkotische Getränk. Ihre Wirkungen sind in der Figur des Dionysos symbolisirt.«62 Dass Hans Sachs in den Meistersingern die Aufgabe übernimmt, den dionysisch-ekstatischen »Kunsttrieb«63 seines jungen Freundes zu bändigen, indem er ihn am Beginn des dritten Aufzugs zur Verfertigung des apollinisch domestizierten »Preisliedes« hinleitet, kann hier nur als These angedeutet werden.64 Entscheidend ist »Der widerwärtige Anblick des Sängers«

69

für unseren Zusammenhang der zweite Aufzug, also die in den Exzess der Massenprügelei ausartende »Johannisnacht«. Deren pagane Volksriten zur Sommersonnenwende, bei denen »wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort« gezogen seien, erklärt Nietzsche in der Geburt der Tragödie nicht zufällig als Ausfluss einer »dionysischen Gewalt«, die sich so noch »im deutschen Mittelalter« Bahn gebrochen habe.65 Es ist demnach, Nietzsches Terminologie zufolge, eine Ambivalenz zwischen dionysischer Ekstase und blindem, zerstörerischem Furor, die Wagner mit Stolzings vordergründig harmlosem Frühlingsgesang verknüpft. Hier muss der »staatenbildende Apollo«66 eingreifen, in Gestalt des Schusters Hans Sachs, den Cosima gegenüber Ludwig II. tatsächlich einmal – durchaus überraschend – als »Gott« bezeichnet hat (allerdings nicht mit Bezug auf Apoll, sondern auf Wotan).67 Hans Sachs’ Strategie, den »Wahn fein [zu] lenken«, besteht unter anderem darin, dass er dem Dionysos-Jünger Walther von Stolzing dessen eigene Situation im Zerrspiegel des Satyrspiels vor Augen führt, und zwar durch die Parodie des »Probesingens« in der Szene mit Sixtus Beckmesser. Obwohl dieser, sich selbst – anders als Stolzing – auf der Laute begleitend, nicht über die »erschütternde Gewalt des Tones«, den dionysischen Aulos, verfügt, sondern nur über die bloß »angedeuteten Töne« der apollinischen »Kithara«,68 löst sein Ständchen einen epidemisch um sich greifenden Exzess blinder Aggressivität aus, der die potentiellen Folgen des dionysischen Musik-Rausches klar zutage treten lässt. Stolzing, mit Eva unter der Linde verborgen, lernt seine Lektion schnell, während er den bizarren Dialog zwischen Sachs und Beckmesser verfolgt und die auf ihn selbst bezogene Parabelhaftigkeit der nächtlichen Szenerie einzusehen beginnt – bezeichnenderweise so, dass sie ihm wie eine traumähnliche Vision seines eigenen »Probesingens« vorkommt: »Welch toller Spuk! Mich dünkt’s ein Traum: / den Singstuhl, scheint’s, verließ ich kaum!« Mit Beckmesser sowie später den außer Rand und Band geratenden Bürgern Nürnbergs als unfreiwilligen Darstellern transformiert Hans Sachs (alias Apoll) die im »Probesingen« des ersten Aufzugs beinahe unkontrolliert hervorgebrochene Gewalt der Musik – das narkotisch wirkende »Fanget an!« – in einen Johannisnachts-Traum, der diese Gewalt, den »dionysischen Zauber« samt aller in ihm enthaltenen Schrecken, zur Handlung zwar nicht einer Tragödie, aber eben eines Satyrspiels umprägt. Gerade dort jedoch, wo Stolzing das Geschehen vor ihm auf der Straße einen spukhaften »Traum« nennt und es gleichzeitig mit seinem eigenen dionysischen »Probelied« des ersten Aufzugs verknüpft (»den Singstuhl, scheint’s, verließ ich kaum«), schaltet Wagner in die derbe Szene eine Episode von höchst delikater Klanglichkeit ein (T. 1202–1216). Das »sehr entfernt« hereintönende Nachtwächter-Horn, eine weit ausgesponnene, wie vom Dialog der Personen völlig losgelöste Holzbläser-Kantilene und chromatisch changierende Harmoniefolgen im Streichertremolo auf dem Orgelpunkt fis der Hörner und Bratschen legen sich hier als Schleier über die Singstimmen: ein auskomponierter »Zauber«, der auf Stolzings und Evas Wahrnehmung zu beziehen sein dürfte und jenen zugleich traumähnlichen und »hellsichtigen« Rezeptionsmodus zu repräsentieren scheint, den Wagner für sein musikalisches Drama imaginierte. Dass die besagte »Versunkenheitsepisode« innerhalb des zweiten Meistersinger-Aufzugs zwar nicht durch einen Schritt zur Untermediante eingeleitet wird, aber durch den 70

Arne Stollberg

vergleichbaren Effekt eines Trugschlusses, der den Grundton der erwarteten Tonika B-Dur enharmonisch zur Terz der Dominante von H-Dur umdeutet, als täten sich plötzlich, wie mit Zauberhand, neue akustische Räume auf – dies pointiert den herausgehobenen Charakter der Passage zusätzlich [Notenbeispiel 2]. Solche Stellen könnten indessen auch Nietzsche, der die Meistersinger 1869 seine »Lieblingsoper« nannte,69 dazu gebracht haben, denselben Rezeptionsmodus als eine »Umflorung« des Blicks zu fassen, bei der man die szenische Aktion buchstäblich aus den Augen verliert und nur noch lauscht. Aber vielleicht ist es gerade ein unentschiedener, fließender und verfließender Zustand zwischen Klang und Bild, zwischen Hören und Sehen, der den Traum charakterisiert, wie ihn Wagner und Nietzsche auf je eigene Weise als Paradigma ihrer Theatervision verstanden wissen wollten.

»Der widerwärtige Anblick des Sängers«

71

Notenbeispiel 2 T. 1199–1216. 72

Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, zweiter Aufzug,

Arne Stollberg

»Der widerwärtige Anblick des Sängers«

73

Endnoten 1 Zit. n. Walther Dürr u. a. (Hg.), Schubert Liedlexikon, Kassel u. a. 2012, S. 672. 2 Die Erstpublikation des Textes, allerdings mit leicht verändertem Wortlaut, erfolgte posthum

3

4 5 6

7 8 9 10 11

12 13 14 15

16

17 18 19 20

74

in: Matthäus Edlen von Collin’s nachgelassene Gedichte, ausgewählt und mit einem biographischen Vorworte begleitet v. Joseph von Hammer, Bd. II, Wien 1827, S. 134. Eine dritte, wiederum geringfügig abweichende Version findet sich in Matthäus von Collins »Dramatischem Bruchstück« Fortunats Abfahrt von Cypern, in: ebd., S. 1–68, hier S. 65. Vgl. etwa Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart 1982, S. 261–287; Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, bes. S. 76–81 (und passim). Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], hg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt a. M. 2000 (Studienausgabe 2), S. 58. Gotthilf Heinrich Schubert, Die Symbolik des Traumes, Bamberg 1814. Reprint, hg. v. Heike Menges, Eschborn o. J. (Schriften des romantischen Naturphilosophen I/1), S. 5–6. Vgl. Arthur Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt [1851], in: ders., Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Erster Band, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (Werke 4), S. 225–310, hier S. 256 (»Schuberts bekanntes Buch, an welchem nichts taugt, als bloß der Titel«). Schubert, Die Symbolik des Traumes (Anm. 5), S. 35, 29, 23, 29. Vgl. Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, 22011, S. 268–269, hier S. 268. Richard Wagner, Beethoven [1870], in: SSD, Bd. IX, S. 61–126, hier S. 69. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA, Bd. I, S. 429–510, hier S. 456. Vgl. Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners Ring des Nibelungen, Würzburg 2006 (Wagner in der Diskussion 2), S. 295–296; siehe auch Arne Stollberg, Regression und Klangerfahrung. Das »Waldweben« als Wagners ästhetisches Schlüsselerlebnis, in: Tobias Janz (Hg.), Wagners Siegfried und die (post-)heroische Moderne. Beiträge des Hamburger Symposions 22. – 25. Oktober 2009, Würzburg 2011 (Wagner in der Diskussion 5), S. 235–258. Janz, Klangdramaturgie (Anm. 11), S. 296. Vgl. Bernhard S. van der Linde, Die Versunkenheitsepisode bei Beethoven, in: BeethovenJahrbuch 1973–77, Bonn 1977, S. 319–337. Notenbeispiel 1: Franz Schubert, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. v. der Internationalen Schubert-Gesellschaft, Bd. IV/2a, vorgelegt v. Walther Dürr, Kassel u. a. 1975, S. 185–186. Vgl. Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 58), bes. S. 205–231. Die Meistersinger-Dichtung wird – ohne weitere Seitenangaben – nach dem Wortlaut der Partitur zitiert. Als Vorlage dienen die entsprechenden Bände der Gesamtausgabe: Richard Wagner, Sämtliche Werke, Bd. IX/1–3, hg. v. Egon Voss, Mainz 1979/1983/1987; vgl. auch Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg. Textbuch der Fassung der Uraufführung mit Varianten der Partitur, hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek 5639). Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth (Anm. 10), S. 479. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 323. Friedrich Nietzsche, Die dionysische Weltanschauung [1870], in: KSA, Bd. I, S. 551–577, hier S. 553, 563, 553. Vgl. Martin Vogel, Nietzsches Wettkampf mit Wagner, in: Walter Salmen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Regensburg 1965 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 1), S. 195–223, bes. S. 201–203, hier S. 203, sowie ders., Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1966 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 6), S. 99–123. Arne Stollberg

21 Wagner, Beethoven (Anm. 9), S. 96, 69. 22 Zu der »auf die Kunst angewandten Schlaf- und Traumtheorie« in Wagners Beethoven-Fest-

23

24

25 26 27

28 29

30 31

32 33 34 35

schrift mitsamt ihrem biographischen Kontext und den Auswirkungen bis in die Konzeption des Bayreuther Festspielhauses hinein vgl. ausführlich Johanna Dombois, Die »complicirte Ruhe«. Richard Wagner und der Schlaf. Biographie – Musikästhetik – Festspieldramaturgie, Diss. Technische Universität Berlin 2007, bes. S. 121–144, hier S. 121. Martin Schneider, Wissende des Unbewussten. Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners, Berlin/Boston 2013 (Studien zur deutschen Literatur 199), S. 160; vgl. auch Wolfgang Schild, Kunst als ›Wahrtraumdeuterei‹? Zu einer Ästhetik Richard Wagners, in: Peter Csobádi u. a. (Hg.), Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004, Anif/Salzburg 2006 (Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge 62), S. 416–432, hier S. 422–423. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band [1819], hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (Werke 1), S. 471; vgl. hierzu Gerhard J. Winkler, Der »Schleier der Maja«. Transformationen eines Begriffs. Schopenhauer – Wagner – Nietzsche, in: Thomas Steiert (Hg.), »Der Fall Wagner«. Ursprünge und Folgen von Nietzsches Wagner-Kritik, Laaber 1991 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater 11), S. 233–263. Brief Richard Wagners an Franz Liszt vom 16. Dezember 1854, in: SB, Bd. VI, S. 298. CT, Bd. II, S. 506. Gustav Mahler, Briefe 1879–1911, hg. v. Alma Maria Mahler, Berlin u. a. 1924, S. 126 (Fußnote zu Mahlers Brief an Arnold Berliner mit Poststempel vom 15. Juni 1892) und S. 202 (Brief Mahlers an Max Marschalk vom Dezember 1896). Sofern nicht anders vermerkt, entsprechen Hervorhebungen innerhalb der Zitate jeweils dem Original. Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt (Anm. 6), S. 236. Zu vereinzelten Textstellen bei Schopenhauer, die »eine Vorgängigkeit des Hörens vor dem Sehen und des Tons vor dem Bild in bezug auf die Vorstellungs-, Erscheinungs- beziehungsweise Bewußtseinsbildung im Zusammenhang der Wahrtraum- und Hellsehens-Phänomene« andeuten könnten, vgl. Christoph Weismüller, Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit, Würzburg 2001, S. 92–93, hier S. 92. Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt (Anm. 6), S. 272. Schneider, Wissende des Unbewussten (Anm. 23), S. 164; vgl. auch ebd., S. 167: »Ist es in Das Kunstwerk der Zukunft oder Oper und Drama allein das Gehör, das nach innen gerichtet ist, übernimmt in den späteren Schriften der potenzierte Blick diese Rolle. Beethoven, der Musiker, wird zu einem somnambulen Hellseher stilisiert.« Gemäß Schneider folgt Wagner mit dieser Denkfigur der »romantischen Medientheorie« (S. 172): »Denn der sechste Sinn wird von ihnen [den Romantikern] meist als eine gesteigerte optische Wahrnehmung, als ein höheres Auge beschrieben« (S. 173). Johanna Dombois hingegen deutet Wagners Argumentation dahingehend, dass das »akustische Erleben das optische schlichtweg aufhebe«. Die irritierenden »Metaphern der Optik« seien nur »auf die synästhetischen Fähigkeiten des Künstlers« gemünzt, »der das Sehen auch als Hören begreifen müsse«, mit dem Resultat eines von der Musik erzeugten »unplastische[n] Bildnis[ses]«, das »semantisch, physiologisch, psychologisch und selbst soziologisch nur […] als ›Analogie des Traumes‹« erfasst werden könne (Die »complicirte Ruhe« [Anm. 22], S. 147). Wagner, Beethoven (Anm. 9), S. 73, 76, 79. Schopenhauer, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt (Anm. 6), S. 265, 264. Ebd., S. 265. Vgl. Jürgen Kühnel, …dass Jeder, während er träumt, ein Shakespeare sei. Programmatische Überlegungen zum Thema Theater und Traum. Richard Wagner – Friedrich Nietzsche – Sigmund Freud – C. G. Jung, in: Csobádi u. a. (Hg.), Traum und Wirklichkeit in Theater und »Der widerwärtige Anblick des Sängers«

75

Endnoten

36

37 38 39 40 41 42 43 44 45

46 47 48 49

50

51

52

53 54 55 56 57

76

Musiktheater (Anm. 23), S. 58–76, bes. S. 61–67; Johannes Windrich, Bestimmung und Bildlosigkeit. Wagners Beethoven-Festschrift als Musikästhetik zwischen Schopenhauer und Nietzsche, in: Il Saggiatore musicale 4, 1997, S. 317–331. Vgl. Klaus Kropfinger, Wagners Musikbegriff und Nietzsches »Geist der Musik«, in: Nietzsche-Studien 14, 1985, S. 1–12; Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 15), passim, bes. S. 134–172. Johanna Dombois betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit, die dem Moment des Erwachens – als integralem Bestandteil von Wagners Theorie – zukommt (Die »complicirte Ruhe« [Anm. 22], S. 179): »Wollte oder konnte noch Schopenhauer sich den Schlaf bloß ohne Erwachen, die Musik bloß ohne Beimengung von Dichtung und Drama denken, so überführt Wagner nicht nur den Schlaf- in den Wachzustand, sondern auch die Musik über die theatrale Schwelle des Erwachens hinaus ins Musikdrama.« Richard Wagner, Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung desselben [1873], in: SSD, Bd. IX, S. 322–408, hier S. 338. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA, Bd. VI, S. 9–53, hier S. 27–28. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1869, in: KSA, Bd. VII, S. 24. Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners (Anm. 3), S. 102–125. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 274. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1870 – April 1871, in: ebd., S. 185. Ebd., S. 188. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872/86], in: KSA, Bd. I, S. 9–156, hier S. 114. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1870 – April 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 188; Nachgelassene Fragmente 1871, in: ebd., S. 276, 277. Siehe auch die Hinweise zu Nietzsches konsequenter Abkehr vom aristotelischen Primat der Handlung – als ursprünglicher Bedeutung des Wortes »Mythos« – bei Jochen Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie, Berlin/Boston 2012 (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken I/1), S. 50–51. Wagner, Beethoven (Anm. 9), S. 75, 110. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1870 – April 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 188. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1871, in: ebd., S. 276 Brief Richard Wagners an Friedrich Nietzsche vom 25. Juni 1872, in: Dieter Borchmeyer, Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, Bd. I, S. 191. Brief Cosima Wagners an Richard Strauss vom 3. November 1901, in: Cosima Wagner – Richard Strauss, Ein Briefwechsel, hg. v. Franz Trenner unter Mitarbeit v. Gabriele Strauss, Tutzing 1978 (Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesell schaft München 2), S. 245. Vgl. hierzu Dombois, Die »complicirte Ruhe« (Anm. 22), S. 217–219; zitiert wird dort auch die von Romain Rolland überlieferte Äußerung Wagners gegenüber Malwida von Meysenbug bei den Bayreuther Festspielen 1876: »Sehen Sie nicht zu viel hin! Hören Sie zu!« (S. 218). Richard Wagner, Erinnerungen an Ludwig Schnorr [1868], in: ders., Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882. Erste vollständige Veröffentlichung nach dem Originalmanuskript Wagners in der Richard-Wagner-Gedenkstätte der Stadt Bayreuth, vorgelegt u. kommentiert v. Joachim Bergfeld, Zürich/Freiburg i. Br. 1975, S. 159–173, hier S. 166. Ebd. Ebd., S. 167. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1871, in: KSA, Bd. VII, S. 324. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 133; Die dionysische Weltanschauung (Anm. 19), S. 558; Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 133. Vgl. Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 15), passim, bes. S. 206–231; siehe auch das Kapitel »Nürnberg als Wille und Vorstellung: Auf Schopenhauers Spuren durch die Welt der Meistersinger«, in: Ulrike Kienzle, …daß wissend würde die Welt! Religion Arne Stollberg

Endnoten/Nachweis der Notenbeispiele

58 59

60

61 62 63 64 65

66 67

68 69

und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen, Würzburg 2005 (Wagner in der Diskussion 1), S. 173–188. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 85. Brief Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche vom 22. Januar 1871, in: Borchmeyer, Salaquarda (Hg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung (Anm. 49), Bd. I, S. 114; vgl. auch ebd., S. 89. Vgl. Glenn W. Most, Die Geburt der Tragödie, in: Stefan Lorenz Sorgner u. a. (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 420–427, hier S. 421. Nietzsche, Die dionysische Weltanschauung (Anm. 19), S. 554. Nietzsche, Die Geburt des tragischen Gedankens [1870], in: KSA, Bd. I, S. 579–599, hier S. 582; Hervorhebung A. S. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 38. Vgl. Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form (Anm. 15), S. 216–223. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 29; vgl. ergänzend auch Yvonne Nilges’ Deutung der intertextuellen Rekurse auf Shakespeares Sommernachtstraum – Ein St. Johannis Nachts-Traum nach der Über setzung Christoph Martin Wielands – in den Meistersingern: Richard Wagners Shakespeare, Würzburg 2007 (Wagner in der Diskussion 3), S. 138–169. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 133. Vgl. Cosima Wagners (bzw. Cosima von Bülows) Brief an König Ludwig II. vom 28. Februar 1866, in: Cosima Wagner – Ludwig II. von Bayern, Briefe. Eine erstaunliche Korrespondenz. Zum ersten Mal voll ständig hg. v. Martha Schad unter Mitarbeit v. Horst Heinrich Schad, Bergisch Gladbach 1996. Taschenbuch-Ausgabe München 2004, S. 173: »O gewiss ist Walther der Held der Meistersinger, zu ihm steht Sachs in dem Verhältniss wie Wotan zu Siegfried; dies ist sehr kühn gesagt und ich würde es so zu keinem aussprechen – wer fände wohl in dem Schuster-Poeten den Gott den Wagner in ihn legte?« Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 44), S. 33; vgl. hierzu Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie (Anm. 45), S. 42, 98. Brief Friedrich Nietzsches an Mutter und Schwester vom 20. April 1869, in: Borchmeyer, Salaquarda (Hg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung (Anm. 49), Bd. I, S. 316; vgl. auch ebd., S. 308, 312, 315.

Nachweis der Notenbeispiele 1 Franz Schubert, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. v. der Internationalen Schubert-Gesell-

schaft, Bd. IV/2a, vorgelegt von Walther Dürr, Kassel u. a. 1975. 2 Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, zweiter Aufzug, hg. v. Egon Voss, Mainz

1983 (Sämtliche Werke IX/2).

»Der widerwärtige Anblick des Sängers«

77

Parsifal und die Transzendenz der Kunst Tobias Janz

Die Formulierung »Transzendenz der Kunst« im Titel meines Beitrags hat eine doppelte Bedeutung. Sie meint im Sinne des Genitivus objectivus einerseits Transzendenz als Gegenstand der Kunstdarstellung, also die Art und Weise, wie Religiöses, Wunderbares oder Metaphysisches mit den Mitteln der Kunst dargestellt wird. In dem Moment, wo sie als Objekt künstlerischer Darstellung interessant wird, ist die Transzendenz der Kunst, so könnte man sagen, eine andere als die Transzendenz der Religion. »Transzendenz der Kunst« lässt sich andererseits, im Sinne des Genitivus qualitatis, auch auf Transzendenz als einer Eigenschaft von Kunst beziehen. Wenn man zur Bezeichnung dieser Eigenschaft die religiösen Konnotationen des Wortes Transzendenz umgehen möchte, kann man stattdessen auch von der Fähigkeit der Kunst sprechen, durch »Realitätsverdopplung« (Luhmann)1 das zu etablieren, was der Philosoph Robert Pfaller jüngst als »zweite Welten« analysiert hat.2 Pfaller diskutiert fiktive Parallelwelten des Kinos, der Literatur, aber etwa auch von Rollenstereotypen im öffentlichen Umgang; Parallelwelten, die uns auf Abstand zur Wirklichkeit bringen, uns bei der Bewältigung der ›wirklichen Wirklichkeit‹ jedoch behilflich sein können. Die Kunst ist eine dieser zweiten Welten neben der ersten, alltäglichen Welt. Eine zweite Welt, die gegenüber dieser in einem nichtreligiösen Sinne transzendent genannt werden kann, die genau dadurch aber einen entscheidenden Einfluss darauf haben kann, wie wir die erste, gewöhnliche Welt leben. Beide Bedeutungsweisen sind für Richard Wagners Poetik und sein künstlerisches Schaffen grundlegend, ja sie gehören für ihn, auf eine oft nur schwer zu durchschauende Weise, zusammen. Die Handlung seiner Opern kreist vom Holländer bis zum Parsifal stets um Konflikte, die sich aus der Spannung zwischen dem Diesseits 79

und einem Jenseits ergeben, das zwar mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen verbunden sein kann, immer jedoch durch eine Grenze von der Immanenz der fingierten Handlungswirklichkeit getrennt ist. Ohne diese Spannung müsste der für die typische Wagner-Handlung entscheidende Erlösungsgedanke ganz unverständlich bleiben. Die Kraft der Erlösung traut Wagner gemäß unserer zweiten, qualitativen Bedeutung nun aber auch der Kunst als solcher zu. In seiner Schrift Über Staat und Religion ist es die Kunst, die als Schein und Täuschung den Menschen von der Diesseitigkeit des gewöhnlichen Lebens erlöst, ihn »innerhalb des Lebens über dieses« erhebt und so das Leben selbst wie ein Spiel erscheinen lässt3 – ein Gedanke, der Wagner auf den ersten Blick mit dem Nietzsche der Tragödienschrift verbindet, und ein Gedanke, der zunächst einmal unabhängig von dem jeweiligen Darstellungsgegenstand der Kunst ist, das heißt unabhängig davon, ob die Kunst nun Transzendentes oder Alltägliches darstellt. Wagner hat das Verhältnis von Alltagswelt und Kunst grundsätzlich dualistisch gedacht,4 und zwar in Form von Dichotomien, die den Dualismen im Rahmen seiner Opernhandlungen – und das macht das Ganze kompliziert – strukturell eng verwandt sind. Kunst ist bei Wagner daher auch mehr als nur eine zweite Welt, die uns bei der Bewältigung der ersten als Stütze dient. Sie wird zu einer Gegenwelt, die sich positiv von einer generell negativ aufgefassten Wirklichkeit abheben soll. Dieser utopische Zug hat Konsequenzen für die Art, wie Wagner seine Kunst konzipiert und positioniert. Kunst soll als wahre Kunst wie die Naivität der unschuldigen Natur sein, die im Ring des Nibelungen der verfallenden Welt der Götter und Menschen gegenübersteht, wie die Welt der Nacht, die im Tristan das Gegenbild der Tageswelt ist. Kunst entspricht mit ihrem Erlösungsversprechen dem religiösen Heil, das in der Welt des Parsifal vom Gralswunder erwartet wird. An Wagners Utopismus und seiner Auffassung von Kunst als Gegenwelt lässt sich nun allerdings auch zeigen, was Wagner von Nietzsche trennt. Denn Nietzsche rückt – ich folge hier einem Gedankengang von Dieter Thomä5 – bereits in der frühen Geburt der Tragödie von solchen dualistischen Vorstellungen ab, die für den späten Nietzsche dann vollends undenkbar werden. Bereits in » Nietzsches Frühschrift wird etwa der Dualismus zwischen der Natur einerseits, der Kunst als Gegenwelt andererseits unterlaufen […]. Die Natur ist gar nicht rein anzutreffen, sondern umfasst nach Nietzsche bereits unter Bedingungen der Naivität eine Sphäre des Scheins. Sie ist von vornherein der ästhetischen Vereinnahmung und der imaginativen Auslegung zugänglich. Entsprechend muss der späte Nietzsche Anstoß nehmen an der Voraussetzung einer vermeintlich reinen, verselbständigten Natur, auf deren Schubkraft [wie im Ring, T. J.] die revolutionäre Verwandlung der Welt angewiesen sein soll; gleichermaßen muss er Anstoß nehmen an einer Vorstellung von Erlösung, die [wie bei Schopenhauer und dem späteren Wagner, T. J.] als Abkehr von der Natur gedacht ist.«6 80

Tobias Janz

Nietzsche entwickelt sich, so könnte man Thomäs Argumentation zusammenfassen, zu einem Theoretiker der Immanenz, Wagners Kunst dagegen braucht auch im inhaltlichen Sinne stets den Bezug auf ein für sich existierendes Jenseits der Welt. Ich möchte mich im Folgenden nicht den weltanschaulichen und ideologischen Aspekten widmen, die sich an Wagners dualistische und utopische Vorstellungen anschließen. Es soll vielmehr nach künstlerischen Konsequenzen gefragt und damit ein Bereich fokussiert werden, der der musikalischen Analyse leichter zugänglich ist. Meine Grundüberlegung ist die, dass Wagner den inhaltlichen Bezug auf ein transzendentes Anderes braucht, um musikalisch-künstlerisch Wege zu finden, die er ohne die Imagination transzendenter Gegenwelten nicht gefunden hätte. Der Bezug auf Transzendentes hat also eine poetologische Bedeutung, oder anders gesagt: Die Imagination transzendenter Welten dient schaffenspsychologisch der Erzeugung einer transzendenten Kunst, die mehr sein soll als bloße Kunst, die das hinter sich lassen soll, was Kunst – etwa die Oper – bis hin zu Wagner gewesen ist. Ich werde später darauf zu sprechen kommen, warum in dieser Hinsicht ausgerechnet der Parsifal, in dem es allein schon aufgrund der religiösen Thematik um kaum etwas anderes als um die Spannungen zwischen Innerweltlichkeit und Transzendenz geht, besondere Probleme mit sich brachte. Zunächst soll anhand von Wagners Opern zwischen Rienzi und dem Ring jedoch kurz angedeutet werden, wie sich die Entwicklung seiner künstlerischen Handschrift von dem spezifischen, dualistischen Zuschnitt von Wagners Opernstoffen her rekonstruieren ließe. Rienzi, Wagners erster Opernerfolg und in vielerlei Hinsicht das Fundament seiner künstlerischen Entwicklung, ist das, was man vor dem Hintergrund meiner Argumentation eine ›immanente Oper‹ nennen müsste. Zwar etabliert das Stück auf der Bühne die ›zweite Welt‹ einer im mittelalterlichen Rom spielenden tragischen Handlung. Im Rahmen dieser Handlung gibt es jedoch nichts, was deren Immanenz überschreiten würde. Zu der von Intrigen, Leidenschaften und heroischen Gesten geprägten Welt des Rienzi gehören zwar religiöse Institutionen und religiöses Personal – der Kardinal, der gegenüber Rienzi den Kirchenbann ausspricht, die singenden Mönche in der Laterankirche. Noch die berühmte Preghiera Rienzis im fünften Akt ist jedoch keine Suche nach einem Ausweg aus der Welt. Rienzi fleht hier lediglich darum, dass sein politisches Werk als Volkstribun und Führer nicht von den Umtrieben seiner Feinde vernichtet werde. Nicht einmal der Freiheitsgedanke hat im Rienzi etwas Utopisches, denn der zweite Teil des Stücks führt ja vor, wie auf den gelungenen Freiheitskampf der Niedergang und der Zerfall des Ideals folgen. Künstlerisch bleibt der Rienzi insofern immanent, als der Diesseitigkeit der Handlung ein Einverständnis mit der Institution Oper entspricht, die noch nichts von dem späteren Kritiker der Oper ahnen lässt. Wagner zieht im Rienzi buchstäblich alle Register und bemüht alle Mittel, die der zeitgenössischen Oper in ihrer opulentesten und extravagantesten Form zur Verfügung stehen. Man kann nun darüber diskutieren, ob es der ausbleibende Erfolg des Rienzi in Paris oder umgekehrt der immense Erfolg des Stücks in Dresden war, der Wagners Schaffen ab dem Fliegenden Holländer als Versuch erscheinen lässt, den Parsifal und die Transzendenz der Kunst

81

Rienzi oder den im Rienzi erreichten Stand des Schaffens einer Revision zu unterziehen, sich vom Einfluss der ersten erfolgreich aufgeführten Oper frei zu machen. An Wagners distanzierten Kommentaren zum Rienzi, den er als »Schreihals« und ungeliebtes »Ungethüm« bezeichnete,7 ist dies deutlich abzulesen, vor allem aber am künstlerischen Schaffen selbst, wo bereits der Fliegende Holländer in nahezu jeder Hinsicht als komplette Antithese des Rienzi erscheint. Dass der noch vor der Uraufführung des Rienzi komponierte Holländer im Vergleich zu diesem wie ein Stück aus einem Guss wirkt und viel mehr vom späteren Wagner enthält, liegt nicht zuletzt daran, dass im Unterschied zum Rienzi auf der Bühne nun die Opposition zweier Welten zu sehen ist, aus deren Gegenüber sich die zentralen Konflikte der Handlung ergeben: Hier der Holländer, der aus seiner furchtbaren Existenz in der Geisterwelt der Untoten auf den Weltmeeren befreit werden will, dort Senta, die mit ihrem romantischen Schwärmen für ebendiese Geisterwelt die Haftung im Diesseits verliert. Wenn Wagner in Eine Mitteilung an meine Freunde davon spricht, mit der Ballade der Senta den »thematischen Keim zu der ganzen Musik der Oper« und »das verdichtete Bild des ganzen Dramas« gefunden zu haben,8 dann ist dies nicht nur kompositionstechnisch zu verstehen, sondern in erster Linie vielleicht ganz wörtlich in dem Sinne, dass Wagners Erfindungskraft sich an dem bildlichen Kontrast zweier unvereinbarer Welten entzündet, von dem Sentas Ballade in komprimierter Form handelt. Vor allem die Welt des Geisterschiffs mit seinen untoten Matrosen ist dabei mit einer Musik verbunden, die nicht nur als Kunst über dem Leben steht, sondern im Rahmen der Oper über das hinausgeht, was innerhalb von deren Konventionen erwartbar gewesen wäre. Die Welt der schottischen beziehungsweise norwegischen Küste ist demgegenüber konventionell, musikalisch ›realistisch‹ gezeichnet. Bis zum Tristan ist es eine der Konstanten in Wagners Schaffen, dass das Neue, ästhetisch Progressive seiner Musik inhaltlich mit der Imagination transzendenter Welten zusammengeht: im Tannhäuser mit der erotisierten Welt des Hörselbergs, deren Kontrast zur biederen Welt der Sänger auf der Wartburg in der Erstfassung bereits greifbar ist und in der Pariser Fassung später dann zu einer regelrechten musikalischen Antinomie ausgebaut wird; im Lohengrin mit der Imagination der Gralssphäre, aus und mit der der Schwanenritter in eine wiederum betont konventionell gezeichnete ›Wirklichkeit‹ eintritt; in den frühen Teilen des Ring mit einer elementarisch gedachten Natur, der eine ebenfalls aufs Elementare, Vormusikalische reduzierte Musik entspricht; in Tristan und Isolde schließlich mit der Innenwelt des erotischen Begehrens und der sexuellen Leidenschaft, die Wagner – anders als Schopenhauer – ja nicht als zwanghaftes Gebundensein an die Triebkräfte der Natur, sondern als Mittel zur innerweltlichen Erlösung von den Zwängen des Alltagslebens konzipierte.9 Transzendenz der Kunst impliziert in allen diesen Fällen jene zuvor angedeutete dritte Bedeutung neben den zwei zu Beginn geschilderten, denn sie wird hier durch ein Transzendieren des Stands der künstlerischen Entwicklung erreicht. Spätestens im Lohengrin und dann vor allem im Ring zeichnet sich allerdings auch die Möglichkeit ab, künstlerisch avantgardistische Momente nicht an die imaginären Gegenwelten der Handlung zu koppeln, sondern umgekehrt, und im 82

Tobias Janz

Sinne von Wagners dualistischen Weltanschauungen konsequent, an deren Opposition, die negativen Aspekte des Diesseits. Hier fungiert der Pol des Bösen als Kraftzentrum für die künstlerische Imagination, ob sich dies nun in den hinterhältigen, von Neid und Rache getriebenen Intrigen Ortruds und Telramunds, in Alberichs Machtansprüchen oder in der der Sünde verfallenen Welt von Amfortas, Klingsor und Kundry äußert. Je mehr Wagner, mit großem Gespür für die Realität seelischer Abgründe, seine Aufmerksamkeit dieser negativen Seite zuwendet, desto mehr droht allerdings die Seite einer positiv gezeichneten Gegenwelt, derer es konzeptionell weiterhin bedarf, aus dem Blickfeld zu geraten und künstlerisch zu verblassen. Das damit zusammenhängende künstlerische Problem hat Wagner selbst klar erkannt, als er Franz Liszt angesichts von dessen Plan, Dantes Divina Commedia zu vertonen, seine Skepsis gegenüber einer musikalischen Darstellung des Paradieses mitteilte. »Daß die ›Hölle‹ und das ›Fegefeuer‹ gelingen wird, bezweifle ich keinen Augenblick«, schreibt Wagner 1855 aus London, wo er seine Lebensumstände in Briefen selbst als Fegefeuer und Hölle bezeichnete; »gegen das ›Paradies‹ habe ich aber Bedenken«. Das Paradies sei der »entschieden […] schwächste Teil« der Divina Commedia, ganz ähnlich wie das elysische Finale von Beethovens Neunter Symphonie, das »auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiß, wie er endlich (nach Hölle und Fegefeuer) das Paradies darstellen soll«.10 Genau dies wird nun in Parsifal aber für Wagner selbst zu einem Problem, zu einem Problem, dessen Struktur man sich vor Augen führen kann, wenn man den Parsifal mit Lohengrin vergleicht, der ja nicht nur stofflich mit dem Parsifal eng verwandt ist, allerdings von geradezu konträren Voraussetzungen ausgeht. Während die Gralsburg für das Personal des Lohengrin ein sagenhafter, unerreichbarer Ort ist, spielt die Handlung des Parsifal von Anbeginn dort, wo Lohengrin herkommt. Historisch gesehen eine Generation früher zu verorten, hat die Gralsburg des Parsifal allerdings nichts mit jener überirdischen Aura gemein, von der Lohengrin erzählt und die Wagner mit dem bekannten Klangzauber des Vorspiels und der Gralserzählung einfängt. Bricht die transzendente Sphäre des Grals in Lohengrin auch musikalisch von außen in die realistisch gezeichnete Gegenwart des mittelalterlichen Antwerpen ein, so zeichnet der Parsifal die Welt der Gralsgemeinschaft als eine von vornherein auf das Transzendente hin ausgelegte Welt, deren Zustand jedoch von dem Einbruch des Realen, und das heißt hier: des Unreinen der sexuellen Lust, der weiblichen Sinnlichkeit, von Krankheit und Todessehnsucht kontaminiert und dem allmählichen Verfall anheimgegeben ist. Die Parsifal-Musik ist eine Musik der Verweigerung, das heißt sie lebt davon, dass auch musikalisch jene Erlösung, auf die die Handlung zustrebt, zwar immer wieder angedeutet wird, es bis zum Finale des dritten Aufzugs jedoch zu keiner wirklichen musikalischen Spannungslösung kommt. Jenes Spiel von angedeuteter Erfüllung und Verweigerung beruht auf der Verklammerung unterschiedlicher musikalischer Ausdruckssphären. Anstatt musikalisch eine Charakterisierung der Sünde und eine Charakterisierung des Heils kontrastierend einander gegenüberzustellen, ist die musikalische Farbe des Parsifal von einem Tonfall bestimmt, der einerseits deutliche Parsifal und die Transzendenz der Kunst

83

Anleihen bei religiöser Musik der Vergangenheit macht, deren Ausdruckskraft gleichzeitig jedoch durch Momente der Störung, Eintrübung und Deformation ins Negative wendet. Eine Musik der Verweigerung ist die Musik des Parsifal auch hinsichtlich ihrer Anleihen bei der religiösen Musik der Vergangenheit, denn anders als im Lohengrin, wo das Wunderbare, Andere mit einer avantgardistischen musikalischen Idee verbunden war, inspiriert die positive Seite religiöser Erlösung Wagner in Parsifal zu keinen musikalischen Entdeckungen. Es genügt offenbar, dass die Musik der sakralen Sphäre anders ist, dass sie aufgrund ihrer Symbolik den Charakter des Sakralen erweckt. Wie die Parsifal-Musik aus jenem Ineinander gegensätzlicher Momente ihre ganz eigene Spannung erzeugt, führt bereits das Vorspiel zum ersten Aufzug vor. Das Stück beginnt mit dem einstimmigen Abendmahlsmotiv [Notenbeispiel 1], einer Musik, die unverkennbar dem mittelalterlichem Choralgesang nachempfunden ist und dessen sakrale Aura vermitteln soll. Die berühmte Instrumentation des ersten Abendmahlsmotivs macht Gebrauch von Wagners Technik der Synthese von Instrumentalfarben, die die Erkennbarkeit der Instrumente und ihrer Register – wichtiges Funktionselement der transparenten Orchestrationstechnik des klassischen Orchesters – bis zur Unkenntlichkeit herabsetzt und die klangdramaturgisch auch im Parsifal als Mittel der Markierung von Unheil genutzt wird. Dass das diatonisch schlichte, historisierende Motiv zu Beginn einer besonders komplexen Klangfarbensynthese anvertraut wird, erklärt sich insofern nicht allein aus der sinnlichen Attraktivität, dem Reiz der unidentifizierbaren und dadurch irreal-ungreifbaren Klangfarbe. In der Klangfarbenhierarchie Wagners ist dies als ein Spannungsmoment aufzufassen, das durchaus der harmonischen Dissonanz vergleichbar ist.11 Wie die harmonische Dissonanz verweist auch die synthetische Mischfarbe negativ auf eine positive Möglichkeit der Spannungslösung, hier in der unvermischten, reinen Klangfarbe. Im weiteren Verlauf des Stücks wird deutlich, dass sich bereits die klanglich verschleierte Exposition des Abendmahlsmotivs am Beginn der Partitur symbolisch, aber auch konkret musikalisch auf Transzendentes, Abwesendes richtet, denn an den für die Erlösungsdramaturgie entscheidenden Stellen wird Wagner für das Abendmahlsmotiv auf den natürlichen, individuellen Instrumentalklang zurückgreifen, während es im Zusammenhang mit der Darstellung des leidenden Amfortas konsequent durch Farbmischung deformiert bleibt. Die Exposition des Motivs hält beide Möglichkeiten sozusagen noch in der Schwebe; man kann in ihrer klanglichen Einfassung eine musikalische Chiffre sehen, die den Keim für beides birgt. Der Schatten, der durch Eintrübung von Beginn an auf das musikalisch-religiöse Symbol des Abendmahlssakraments und der Gralsenthüllung fällt, lichtet sich im Rahmen des Vorspiels klangfarbendramaturgisch nur kurz mit den in reinen Farben und klar abgegrenzten Instrumentalchören gefassten Glaubensmotiven, die bezogen auf das Abendmahlsmotiv jedoch keine Spannungslösung bringen, sondern eher einen klanglichen Kontrast exponieren, vor dessen Hintergrund sich die nun noch zunehmende Trübung des Abendmahlsmotivs umso stärker abhebt. Hatte es seine erste Wiederholung, nun in einer Mischung von Trompete, Oboen und Violinen (T. 9 ff.), noch in den Klangschleier der arpeggierenden hohen Streicher gehüllt, 84

Tobias Janz

Notenbeispiel 1

Richard Wagner, Parsifal, Vorspiel zum ersten Aufzug, T. 1–7.

Parsifal und die Transzendenz der Kunst

85

so verschärft die Wiederholung seiner Exposition den dissonanten Klangeindruck durch Hinzuziehung harmonischer Spannungsmomente: c-Moll statt As-Dur und ein expressiver übermäßiger Sekundschritt anstelle der diatonischen Sekunde (T. 20 ff.). Hieran anschließend verstärkt sich die Klangeintrübung zu einem Sog, der zum Ende des Vorspiels hin dann die Amfortas-Musik ganz in den Vordergrund treten lässt. Der Gesamtklang ist dicht, das heißt im Tonraum komprimiert und eher tief. Die Musik ist komplex durch vielfache Farbmischung, Farbüberblendung und den Rauschanteil der tremolierenden Streicher. Harmonisch ist sie von Chromatik, Alterationen, Vorhaltsbildungen und charakteristischen ›Wagner-Harmonien‹ wie der idiomatischen Farbe des »Tristan-Akkords« gezeichnet. Die letzten Takte des Vorspiels sind dann bemerkenswert [Notenbeispiel 2], denn hier, und nur an dieser Stelle, deutet sich eine erste wirkliche Auflösung des farblichen Spannungsmoments vom Beginn an, wenn Wagner die ersten Töne des Abendmahlsmotivs in den drei nun unvermischten Farben der Klarinette, der Oboe und der Flöte bringt, und zwar jeweils in ihren natürlichen Registern, nicht mehr in den charakteristischen Randbereichen des Klangumfangs. Indem sich der Gesamtklang hier zu einem transparenten Spektrum auffächert, das der Farbpalette des klassischen Orchesters mit seinen deutlich individualisierten Instrumentalfarben entspricht, konkretisiert der Schluss, was sich zu Beginn in der ungreifbaren Unschärfe der Mischfarbe verloren hatte. Der rückwärtsgewandte Gestus dieser Instrumentation, der der Parsifal-Musik auch an anderen Stellen wie etwa dem »Karfreitagszauber« ein abgeklärtes, geradezu klassizistisches Gesicht verleihen wird, ist unverkennbar. Bereits das Vorspiel bringt eine für den Parsifal insgesamt charakteristische Konstellation zum Tragen, die sich mit einer kategorialen Differenz in Verbindung bringen lässt, die Paul Bekker zwischen dem mittleren Wagner und den späteren Werken beobachtet hat. Nach dem Tristan tritt demnach an die Stelle des Ausdrucksprinzips ein distanziertes »Spiel« mit Symbolen und den »Masken der Vergangenheit«.12 Man könnte nun sagen, dass diese Differenz im Parsifal zur Grundlage der musikalischen Dramaturgie wird. Für den religiösen Gehalt des Werkes ergibt sich daraus der merkwürdige Umstand, dass sich die Musik immer dort die Unmittelbarkeit einer direkten Ausdruckskunst und auch die technischen Mittel des Tristan-Stils erhält, wo es um die Darstellung der Welt des Leidens, der Krankheit, des Verfalls und der Sünde geht, während sie in den Momenten des Heils und der Erlösung, also dort, wo es um das im religiösen Sinne Transzendente geht, Abstand nimmt und sich auf die Montage und Verarbeitung von Aufgegriffenem beschränkt. Es ist, als dürfe das Numinose nicht direkt angesprochen werden. Besonders deutlich wird die Tendenz zur Auflösung der Wagner’schen Ausdruckskunst in jenes distanzierte Spiel mit Masken und Symbolen an den eng verwandten Schlüssen des ersten und dritten Aufzugs. Und auch hier lässt sich das Entscheidende bereits an der kompositorischen Inszenierung des Abendmahlsmotivs zeigen. Der Schluss des ersten Aufzugs bringt im Wesentlichen eine Wiederholung der Musik aus dem Vorspiel. Nur die komplexe Klangfarbenmischung des Anfangs weicht hier einem Bühneneffekt: Knabenstimmen aus der Höhe singen das Abendmahlsmotiv (»Nehmet 86

Tobias Janz

Notenbeispiel 2

Richard Wagner, Parsifal, Vorspiel zum ersten Aufzug, T. 106–113.

Parsifal und die Transzendenz der Kunst

87

hin meinen Leib«), während es in seiner darauf folgenden orchestralen Fassung durch Farbverschmelzung eingetrübt bleibt. Der Aufzug schließt in reinem C-Dur mit leisem Glockengeläut und in der »höchsten Höhe« verklingendem A-cappella-Gesang auf die Worte »Selig im Glauben« sowie der Musik des herbeizitierten »Dresdner Amen«. Trotz der geradezu barocken Inszenierung eines religiösen Ritus kommuniziert dieses Finale allerdings auch, dass dramaturgisch noch kein Problem gelöst ist. Dem Zuschauer sind Amfortas’ Schmerzen noch ebenso gegenwärtig wie Parsifal, der sich in der Begegnung mit Amfortas »krampfhaft ans Herz« fasste und, von diesem Mitleiden erstarrt, eine Weile braucht, bis er sich von Gurnemanz aus der Tür hinausstoßen lässt. Wagner reicht eine kurze musikalische Erinnerung an die Amfortas-Musik,13 um das selige C-Dur des Finales danach als ein ›falsches‹ C-Dur erscheinen zu lassen. Der Aktschluss ist insofern einer jener »falschen« Schlüsse, von denen Slavoj Žižek mit Blick auf die ersten drei Teile des Ring nicht zu Unrecht spricht, sie dabei gleichzeitig aber zu Recht als »Teil von Wagners künstlerischer Integrität« betrachtet.14 Auch in Parsifal handelt es sich beim Gralsritual am Ende des ersten Aufzugs um den »gescheiterten Versuch eines Endes«,15 um ein gescheitertes Ritual, das dramaturgisch der Vorbereitung des gelingenden Schlusses, dem Erlösungsritual am Ende der Oper dient. Die Musik hat deshalb hier etwas besonders Künstliches, Aufgesetztes an sich, sie symbolisiert nicht Wahrheit, sondern Leere. Was passiert nun am Ende des dritten Aufzugs? Dramaturgisch wird hier der Knoten der Handlung vollkommen aufgelöst und der Konflikt des Dramas einer eindeutigen Lösung zugeführt. Amfortas, Kundry und die Gralsgemeinschaft werden der von Parsifal initiierten Erlösung teilhaftig. Für diesen Schluss die passende Musik zu finden, muss eine besondere Herausforderung gewesen sein. Nicht nur, weil der dritte Aufzug zuvor noch einmal alles aufbietet, was an extremen Dissonanzen und Klangspannungen musikalisch denkbar war (ganz zu schweigen vom psychologischen Realismus des zweiten Aufzugs), sondern auch, weil Wagner zuvor mit dem »Karfreitagszauber« bereits eine großartige Auflösung der musikalischen Spannungen in eine wehmütig-überschwängliche musikalische Imagination der erlösten Natur erklingen lässt. Dies galt es im Sinne der schon im ersten Aufzug angelegten großen Kulmination zu überbieten, es galt, die Spannungsmomente aufzulösen und zugleich das ›falsche‹ Finale des ersten Aufzugs in ein ›richtiges‹ Finale zu verwandeln. Wagners Realisation dieses Finales ist im Sinne der Gesamtanlage der Oper konsequent. Bezogen auf das Finale des ersten Aufzugs bringt das des dritten auf mehrfache Weise eine konkrete Auflösung: Es endet in As-Dur, der Tonart des Vorspiels zum ersten Aufzug, und schließt harmonisch so den Bogen. Im Unterschied zum ersten Aktfinale bringt es jedoch keine Wiederholung der Abendmahlsmusik aus dem Vorspiel, sondern – und deshalb kann man es auch nicht als einfache Wiederkehr des religiösen Rituals hören16 – deren Transformation, eine Transformation, die durch zwei Momente gekennzeichnet ist: durch jenes Moment der Überbietung, das Wagner durch Häufung, Kombination und Verdichtung der im Finale verwendeten Motive zu einem kaleidoskopartigen Tableau verwirklicht, dem auf der Bühne die spektakuläre Gralsenthüllung mit ihrer Lichtflut entspricht; daneben gleichzeitig durch ein Moment der Klangaufklärung, das orchestertechnisch unter anderem als Farbentmischung realisiert wird. 88

Tobias Janz

Nehmen wir zur Verdeutlichung dieser Farbentmischung wieder das Abendmahlsmotiv, das auch hier als entscheidender Zeichenträger fungiert. Zum ersten Mal in der gesamten Partitur bringt Wagner es (im Graben) nun unvermischt in solistischen Instrumentalfarben und natürlichen Registern, also zum ersten Mal vollständig in der Form, die sich bereits am Schluss des Vorspiels zum ersten Aufzug andeutete (siehe Notenbeispiel 2). Deutlich zu hören ist es so zu Parsifals Worten »Den heil’gen Speer, – ich bring’ ihn euch zurück!« [Notenbeispiel 3], mit denen er das Gralsritual eröffnet und mit denen musikalisch in das Schlusstableau übergeleitet wird. Während sich der letzte halbverminderte Septakkord der Partitur in eine GesDur-Kadenz auflöst, bringt Wagner das Motiv solistisch in der Trompete, nun ohne Mischung mit Oboen und Violinen, leise und eine Oktave tiefer als an der harmonisch korrespondierenden Stelle aus dem Vorspiel zum ersten Aufzug; dann noch klarer in den Posaunen sowie wiederum in der Trompete als deren Fortsetzung in dem Moment, in dem die Knaben den Gral enthüllen;17 ein drittes Mal vor dem Einsatz der letzten Chorpassage (»Höchsten Heiles Wunder!«) in den Trompeten;18 schließlich in den letzten Takten der Partitur [Notenbeispiel 4] in Trompeten und Posaunen, nun in Oktavkopplung – insgesamt also viermal hintereinander in reinen Blechbläserfarben. Wie um die Idee der Klangentmischung noch einmal zu unterstreichen, aus der schließlich der reine, natürliche Blechbläserton hervorgeht und die klangdramaturgisch das Telos der Schlussmusik ausmacht, lässt Wagner vor dem Schlussakkord als einzigen Ton des gesamten Bläserchores das es2 der ersten Trompete durch Überbindung solistisch liegen, als Quinthorizont des Schlussakkords und Zielton des letzten Abendmahlsmottos. Der Orchestersatz, in den diese farblich klaren Auftritte des Abendmahlsmotivs eingebettet sind, ist in allen Dimensionen auf Transparenz und Einfachheit angelegt. Klangentmischung bedeutet zu Beginn des Schlussbildes, dass die irisierenden Streicherarpeggien aus dem Vorspiel des ersten Aufzugs zu Harfenarpeggien werden – ein weniger geräuschhafter und vor allem weitaus konventionellerer Klangtypus. Dies gilt auch für die triolischen Dreiklangsbrechungen der Violinen, die daraufhin die Harfenfiguren aufnehmen und mehr vom Klavier als vom Streichinstrument her gedacht scheinen. Der Bläsersatz der Schlussmusik entspricht der Konvention einfacher Harmoniemusik; die Stimmen spielen den harmonisch einfachen, schlicht diatonischen Satz des Glaubensthemas in ihren natürlichen Lagen, aus den Stimmverdopplungen ergibt sich jener für die Harmoniemusik charakteristische orgelartige Klang. Insgesamt handelt es sich bei der Musik des Finales um eine Musik, die Kulmination19 architektonisch zwar durch Kombination und Häufung von Motiven oder auch durch jenen eindrucksvollen Quintaufstieg der Abendmahlsmotive über sechs Stufen des Quintenzirkels im letzten Choreinsatz erreicht,20 die von der Satzstruktur und Orchestertechnik jedoch auf eine Entdifferenzierung und den verstärkten Rückgriff auf Konventionelles hinausläuft. Der Vergleich mit Liszts ChorSymphonien um 1850 ist nicht aus der Luft gegriffen. Was vom Szenario der Oper her als Wunder und Transzendieren des schlechten Ist-Zustandes angelegt ist, lässt gleichzeitig jenen rückwärtsgewandten, distanzierten Zug der Parsifal-Musik das letzte Wort behalten. Vielleicht war es dieser Eindruck, der bereits Friedrich Nietzsche von Parsifal und die Transzendenz der Kunst

89

Notenbeispiel 3

90

Richard Wagner, Parsifal, dritter Aufzug, T. 1061–1066.

Tobias Janz

Notenbeispiel 4

Richard Wagner, Parsifal, dritter Aufzug, T. 1135–1141.

Parsifal und die Transzendenz der Kunst

91

einem »Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen« des Künstlers Wagner im Parsifal hat sprechen lassen.21 Bei aller Polemik hat Nietzsche damit etwas Richtiges getroffen und eine Paradoxie benannt, die sich wohl aus Wagners dualistischer Auffassung von Kunst und Leben ergibt. Wagner kann es nicht dabei belassen, die Welt in ihren Widersprüchen und Ambivalenzen künstlerisch zu verdoppeln, er hält an der Utopie eines Auswegs fest und will diesen auch künstlerisch darstellen, wobei unter den Voraussetzungen des Parsifal der Künstler dann allerdings gezwungen wird, auch seine eigene Kunst zu überwinden. Der Schluss des Parsifal, der jene Utopie der Erlösung szenisch anschaulich werden lässt, streicht zwar nicht vollkommen die Kunst Wagners durch, er nimmt jedoch – ähnlich wie aus anderen Gründen bereits der Schluss des Ring – ihrer ästhetischen Modernität hörbar die Spitze. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass mit dem Quintton der Solotrompete, der am Schluss des Parsifal als Zentralklang so deutlich akzentuiert wird, derselbe Klang Wagners Opernwerk beschließt, mit dem die Rienzi-Partitur begonnen hatte, dort allerdings ohne Einbettung in den Tuttiklang und auf einem a1. Wenn man möchte, kann man darin jedoch die Pointe sehen, dass Wagner in seinem vermeintlichen Weltüberwindungswerk aus der Verlegenheit, nach all jenem von Nietzsche bewunderten »Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit«22 den Ausweg in ein künstlerisch überzeugendes Finale finden zu müssen, den Schluss zog, dass dieser Ausweg nur als ein coup de théâtre möglich sein konnte – als ein coup de théâtre, der der künstlerischen Immanenz der bühnenmäßigen Logik des Rienzi viel näher steht als dem Utopismus seiner reifen Musikdramen.

92

Tobias Janz

Endnoten/Nachweis der Notenbeispiele 1 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 229 ff. 2 Robert Pfaller, Zweite Welten und andere Lebenselixiere, Frankfurt a. M. 2012. 3 Richard Wagner, Über Staat und Religion, in: SSD, Bd. VIII, S. 29. 4 Für eine Analyse im Ausgang von Max Weber vgl. Boris Voigt, Richard Wagners autoritäre

Inszenierungen. Versuch über die Ästhetik charismatischer Herrschaft, Hamburg 2003. 5 Dieter Thomä, Siegfried. Eine Kritik, in: Tobias Janz (Hg.), Wagners Siegfried und die

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

17 18 19 20 21 22

(post-)heroische Moderne, Würzburg 2011 (Wagner in der Diskussion 5), S. 41–64, hier S. 55–58. Ebd., S. 58. Briefe an Alwine Frommann vom 27. Dezember 1845 und vom 27. Oktober 1844, in: SB, Bd. II, S. 470, 400. Richard Wagner, Eine Mitteilung an meine Freunde, in: SSD, Bd. IV, S. 323. Vgl. Richard Wagner, Metaphysik der Geschlechtsliebe. (Bruchstück eines Briefes an Arthur Schopenhauer.), in: SSD, Bd. XII, S. 291. Richard Wagner, Dante – Schopenhauer. [Ein Brief an Liszt. London, 7. Juli 1855.], in: SSD, Bd. XVI, S. 95. Vgl. Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners Ring des Nibelungen, Würzburg 2006 (Wagner in der Diskussion 2), S. 109 ff. Paul Bekker, Wagner. Das Leben im Werke, Stuttgart u. a. 1924, S. 381 ff. und S. 490. Richard Wagner, Parsifal, erster Aufzug, T. 1639–1642 (nach »Weißt du, was du sah’st?«). Slavoj Žižek, »Ich höre dich mit meinen Augen«. Anmerkungen zu Oper und Literatur, aus dem Englischen v. Karen Genschow u. Alexander Roesler, Paderborn 2010, S. 167. Ebd. So allerdings Dieter Borchmeyer, Erlösung und Apokatastasis. Parsifal und die Religion des späten Wagner, in: ders., Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a. M. 2002, S. 308–334. As-Dur → Es-Dur (Parsifal, dritter Aufzug, T. 1092–1094). Des-Dur → As-Dur (Parsifal, dritter Aufzug, T. 1100–1102). Zu Wagners großen Kulminationen zwischen Beethoven und Hollywood vgl. Žižek, »Ich höre dich mit meinen Augen« (Anm. 14), S. 121–123. Vgl. Hermann Danuser, Weltanschauungsmusik, Schliengen 2009, S. 245–246. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: KSA, Bd. V, S. 342. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: KSA, Bd. VI, S. 43.

Nachweis der Notenbeispiele 1–4 Richard Wagner, Parsifal, erster u. dritter Aufzug, hg. v. Egon Voss u. Martin Geck, Mainz

1972–1973 (Sämtliche Werke XIV/1 u. 3).

Parsifal und die Transzendenz der Kunst

93

»Geistersehen« in der »Schallwelt«. Anti-Theatralität und Meta-Theater in Wagners Schriften und im Parsifal Nicola Gess

I Im Beethoven-Aufsatz von 1870 behauptet Richard Wagner, aufbauend auf Arthur Schopenhauers Konzeption von Musik als vor-individueller Objektivation des Willens, das unbedingte Primat des Hörens vor dem Sehen. Dabei bezieht er sich nicht nur auf Produktion und Rezeption des Musikdramas, sondern auf die epistemologische Situation des Menschen im Allgemeinen. Er schreibt von einer »zweite[n], nur durch das Gehör wahrnehmbare[n], durch den Schall sich kundgebende[n] Welt, also recht eigentlich eine[r] Schallwelt«, in der sich das »Grundwesen der Welt« und zugleich die Identität dieses Wesens mit dem inneren Wesen jedes einzelnen Menschen mitteile, kurz: der Schopenhauer’sche Wille.1 Diese Schallwelt wird einer »Lichtwelt« entgegengesetzt, die – selbst in Form der bildenden Kunst, die immerhin eine Ideenschau ermögliche – letztlich dem Schein verhaftet bleibt und den Wunsch, jenseits des bloßen »Schauspiels«2 das Wesen zu fassen zu bekommen, unbefriedigt lassen muss. Das Hören von Musik geht für Wagner daher auch mit einer Abnahme der äußeren Sehfähigkeit einher. Er schreibt, »daß durch die Wirkung der Musik auf uns das Gesicht in der Weise depotenziert wird, daß wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen«.3 Wagners Dichotomie von Hör- und Sehwelt, deren Bedeutung für seine Musiktheaterkonzeption im Folgenden herausgearbeitet werden soll, bestimmt seine Bewertung nicht nur der einzelnen Künste, sondern auch unterschiedlicher Operntypen. So polemisiert Wagner im Beethoven-Aufsatz heftig gegen die herkömmliche Oper (und meint damit vor allem die französische und italienische Oper seiner Zeit), die er dem »Spektakel« und das heißt dem auf die Lichtwelt gerichteten Sehen 95

verpflichtet sieht: »Denn zu dieser Musik [die aufgrund ihrer Orientierung an ›äußerlichen Regelmäßigkeiten‹ in die ›Täuschung der Erscheinung der Dinge außer uns verwebt‹ wird, N. G.] will man nun auch etwas sehen, und dieses Zusehende wird dabei zur Hauptsache«.4 Für sein Musikdrama hingegen entwirft Wagner das monströse Konzept eines sehenden Hörens. Er behauptet also nicht eine Priorität der Instrumentalmusik, wie sie aufgrund seiner Überlegungen eigentlich naheläge, sondern fasst sein Musikdrama als einen der Schallwelt und dem Hören verpflichteten Typus von Musiktheater auf. Wagners Konzept eines sehenden Hörens basiert auf der Vorstellung eines »nach inne[n] gewendete[n] Auges«, mit dem der Wille sich selbst schaut und das »nach außen gerichtet zum Gehör wird«.5 Das heißt: Was der Komponist im Innern sieht, findet seinen unmittelbaren Ausdruck in der Musik, insbesondere in ihren Harmonien; und beim Hörer ist es genau umgekehrt: Das Hören dieser Harmonien lässt ihn »einzig in unser Inneres, wie in das innere Wesen aller Dinge blicken«.6 Im Unterschied zu Schopenhauer postuliert Wagner also neben dem äußeren, nur auf die Welt als Vorstellung gerichteten Sehen noch ein inneres Sehen, über das ein »Bewußtsein des eigenen Selbst, also des Willens« und darüber zugleich des »Wesens der Dinge« zu erlangen ist.7 Es geht ihm um ein »Vermögen des Sehens dort, wo unser wachendes, dem Tage zugekehrtes Bewußtsein nur den mächtigen Grund unserer Willensaffekte dunkel empfindet« und aus dem nur »der Ton in die wirklich wache Wahrnehmung« dringt.8 Während man den Willen »außen« beziehungsweise im Wachzustand nur hören kann, kann man ihn »innen« oder im Traumzustand bei Wagner, im Unterschied zu Schopenhauer, also auch sehen. Doch will Wagner mit dieser Konstruktion eines der Schallwelt entsprechenden inneren Sehens natürlich letzten Endes auf die willens-metaphysische Rechtfertigung seines Musikdramas und das heißt auch eines konkreten, in der Außenwelt sichtbaren Bühnengeschehens hinaus. Darum ist es für ihn notwendig, das innen Geschaute mit dem Bühnengeschehen kurzzuschließen. Hierfür greift er zur Denkfigur der Projektion: Das auf der Bühne sichtbare Geschehen wird als Übertragung des vom idealen Musik-Dramatiker im Inneren Geschauten auf die Bühne gefasst. Aus der Kombination des idealen Musikers, Beethoven, dessen innere Schau – hier spricht Wagner vom »Hellsehen« – als Musik nach außen dringt, und des idealen Dramatikers, Shakespeare, dessen innere Schau – hier spricht Wagner vom »Geistersehen« – nach außen »projiziert« wird und die »Geister« somit »vor die Augen des Wachenden« bannt, resultiert der ideale Musikdramatiker, Wagner, der, »indem er in die Klangwelt hervortritt, zugleich in die Lichtwelt« gelangt.9 Musik und Bühnengeschehen des Musikdramas sind hier somit als analoge, gleichberechtigte und vor allem gleichzeitige Emanationen einer inneren Schau gedacht; der Musikdramatiker bringt das im Inneren Geschaute in Musik zum Ausdruck und projiziert es zugleich auf die Bühne. Doch orientiert sich Wagner zu sehr an Schopenhauer, als dass er das so stehen lassen könnte. Darum deutet er zugleich weiterhin eine Priorisierung der Musik an, indem er das Bühnengeschehen immer wieder auch als nachträgliches, aus der Musik beziehungsweise der musikalischen Eingebung oder dem Musikhören allererst hervorgegangenes Geistergeschehen beschreibt. Entsprechend nennt er zum 96

Nicola Gess

Beispiel Beethoven »den wirkenden Untergrund des Geister sehenden Shakespeare«.10 Vor allem aber ist, wie oben bereits gesagt, völlig klar, dass die Rezeption des Musikdramas nach dieser Logik verläuft: Erst durch das Anhören der Musik »verschwindet« für die Zuhörer die »sichtbare Umgebung« – das ist die durch Musik hervorgerufene »Depotenzierung des Gesichts« –, und der Zuschauer wird stattdessen zu einer inneren Schau derjenigen Geisterwelt inspiriert, die der Musikdramatiker schon vor ihn auf die Bühne gestellt hat.11 Für den Rezipienten des Musikdramas fallen somit Innenschau und Schau der Bühne in eins; inspiriert durch die Musik, wird für ihn der Blick auf die Bühne zum Blick ins eigene Innere, wird der Bühnenraum zum Seelenraum umcodiert. Wenn Wagner, wie eingangs erwähnt, die Bilder der bildenden Kunst ablehnt, weil sie dem bloßen Schein verhaftet bleiben, geht mit dieser Umcodierung des Bühnenraums die Postulierung einer anderen, quasi ontologischen Bildlichkeit einher, in der das Weltwesen Gestalt gewinnt. Wagners Umgang mit Schopenhauers willens-metaphysischen Thesen zur Musik zeichnet sich im Beethoven-Aufsatz durch die immer wiederkehrende Figur einer Unterdrückung paradoxaler Strukturen zugunsten der Etablierung von Identitäten aus. Einerseits folgt er Schopenhauers Auffassung von Musik als unmittelbarem Ausdruck des Willens, verneint aber andererseits das von Schopenhauer aufgezeigte Paradox: dass nämlich, wenn Musik wirklich das ist, als was sie auf ihn wirkt, also unmittelbarer Ausdruck des Willens, eben gerade dieses Wesen der Musik niemals argumentativ bewiesen oder sprachlich vermittelt werden kann: » [Den] Aufschluß über [das] innere Wesen [der Musik] und über die Art ihres […] Verhältnisses zur Welt […] zu beweisen, [erkenne] ich als wesentlich unmöglich […]; da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehen haben will. Ich kann deshalb nichts weiter thun, als hier am Schlusse […] jenen mir genügenden Aufschluß über die wunderbare Kunst der Töne vortragen, und muß die Beistimmung, oder Verneinung meiner Ansicht der Wirkung anheimstellen, welche auf jeden Leser theils die Musik, theils der ganze und eine von mir in dieser Schrift mitgetheilte Gedanke hat.«12 Diese Offenheit wird von Wagner schon auf den ersten Seiten seines Aufsatzes geschlossen. Sein erklärtes Vorhaben ist es, »jenes von Schopenhauer hingestellte, tiefsinnige Paradoxon für die philosophische Erkenntnis richtig zu erklären und zu lösen«.13 Das geschieht vor allem durch die oben beschriebene Analogisierung von Musik und nach außen projizierter Innenschau, durch die an die Stelle der paradoxen Entzogenheit des Willens dessen Erkenntnis in der Anschauung tritt. Wo bei Schopenhauer eine Kluft zwischen der Welt als Vorstellung und der Welt als Wille klafft, zielt Wagner auf Identitätsstiftung: Musik überwindet »den täuschenden Schein »Geistersehen« in der »Schallwelt«

97

[der Dinge] […], und keine Täuschung […] ist hier möglich, daß das Grundwesen der Welt außer uns mit dem unsrigen nicht völlig identisch sei, wodurch jene dem Sehen dünkende Kluft sofort sich schließt«14 beziehungsweise auf der Bühne des Musiktheaters ein Sehen ontologischer Bilder möglich wird. Diese Tendenz zur Schließung von Differenzen ist auch für Wagners Theaterpraxis zentral. Sein Ideal des Bühnengeschehens als projizierter Innenschau läuft darauf hinaus, dass er sich als Theaterpraktiker, so die im Weiteren zu verfolgende These, dem anti-theatralen15 und zugleich zutiefst illusionistischen Paradigma eines »unsichtbaren Theaters«16 verschreibt, das im Folgenden in seinen Konsequenzen für Wagners Schauspieltheorie, Theaterarchitektur und Partiturschrift untersucht und anhand einer Lektüre von Parsifal als Meta-Theater sinnfällig gemacht werden soll. II Richard Wagner hat sich sein Leben lang mit den Unmöglichkeiten und Möglichkeiten von Theateraufführungen auseinandergesetzt. Insbesondere in seinen späteren Schriften, die in der Zeit der Planung und Verwirklichung Bayreuths entstanden, wird die Aufführung mit dem Zentralbegriff des »Mimen« zum Angelpunkt seiner Theorie. Die Veränderung des konventionellen Theaters bedeutet für Wagner hier vor allem die Änderung der Rolle des Darstellers. Zentraler Kritikpunkt ist dessen – laut Wagner – effektorientiertes Spiel. Der Darsteller nutze sein Versetztsein auf die Bühne zur affektierten Selbstpräsentation, spiele Rolle um Rolle nur als Facette der eigenen Persönlichkeit:

» Was sich uns in den gewöhnlichen Theateraufführungen darbietet, zeigt ganz den Charakter eines […] bedenklichen Gewerbes, dessen Betrieb lediglich auf die möglichst günstige Zurschaustellung der Person des Schauspielers gerichtet zu sein scheint.«17 » Hier bleibt das Theaterpublikum sich als solches ganz ebenso selbst bewußt, wie der Schauspieler von dem deutlichen Gefühle seiner eigenen Persönlichkeit, ganz wie außerhalb des Theaters, eingenommen bleibt.«18 Immer wieder kritisiert Wagner die Sichtbarkeit oder sogar ostentative Ausstellung der Differenz von Schauspieler beziehungsweise Sänger und Rolle, und seine Alternativvorschläge laufen auch hier auf die Überwindung dieser Differenz, das heißt den Versuch hinaus, jegliche Störung oder Unterbrechung des Musikdramas durch die Aufführungsrealität, in diesem Fall die Persönlichkeit des Schauspielers, zu vermeiden: Der Darsteller, so fordert Wagner, solle sich ins Dargestellte »entäußern«, solle sein wahres Selbst verlieren, um identisch zu werden mit seiner Rolle und auch vom Zuschauer entsprechend, das heißt in seiner Rolle und nicht als Schauspieler wahrgenommen zu werden. 98

Nicola Gess

1

Das Rheingold im Bayreuther Festspielhaus, 1876.

Diesem idealen Unsichtbarwerden des Darstellers zugunsten des Dargestellten entspricht das buchstäbliche Unsichtbarwerden der Musiker im Bayreuther Festspielhaus. Zwischen realer Welt des Publikums und idealer Welt der Bühne klafft bekanntlich ein »mystischer Abgrund«, in den Wagner bei dem Versuch, die Illusion seiner Theaterwelt zu perfektionieren, das Orchester versenkt [Abb. 1]. Wagner schreibt dazu: » [Die] widerwärtigen Störung[en] durch die stets sich aufdrängende Sichtbarkeit des technischen Apparates der Tonhervorbringung [gilt es zu vermeiden, denn] das Sehen selbst [soll] zur genauen Wahrnehmung eines Bildes […] bestimm[t] [werden], welches nur durch die gänzliche Ablenkung des Gesichtes von der Wahrnehmung jeder dazwischenliegenden Realität, wie sie dem technischen Apparate zur Hervorbringung des Bildes eigen ist, geschehen kann.«19 Die Unsichtbarmachung des Orchesters ist also Bedingung für das Sehen des ontologischen Bildes, und als solche ist sie Ausgangspunkt für Wagners gesamte Konstruktion seines Theaters [Abb. 2]: » Meine Forderung der Unsichtbarmachung des Orchesters gab dem Genie des berühmten Architekten […] sofort die Bestimmung des hieraus, zwischen dem Proszenium und den Sitzreihen des Publikums entstehenden, leeren Zwischenraumes ein: wir nannten ihn den ›mystischen Abgrund‹, weil er die Realität von der Idealität zu trennen habe, und der Meister schloß ihn nach vorn durch ein erweitertes zweites Proszenium ab, aus dessen Wirkung in seinem Verhältnisse zu dem dahinter liegenden engeren Proszenium er sich alsbald die wundervolle Täuschung eines scheinbaren Fernerrückens der eigent lichen Szene zu versprechen hatte, welche darin besteht, daß der Zuschauer »Geistersehen« in der »Schallwelt«

99

2

Otto Brückwald, Grundriss des Bayreuther Festspielhauses (1876).

den szenischen Vorgang sich weit entrückt wähnt, ihn nun aber doch mit der Deutlichkeit der wirklichen Nähe wahrnimmt; woraus dann die fernere Täuschung erfolgt, daß ihm die auf der Szene auftretenden Personen in vergrößerter, übermenschlicher Gestalt erscheinen.«20 Was durch die Konstruktion dieses doppelten Proszeniums erzeugt wird, ist, mit Walter Benjamin gesprochen, nichts anderes als eine Aura, die »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.21 Im Gegensatz zur Spur, in der das uneinholbar Ferne nah scheint – so könnte man den Effekt fassen, den die partielle Sichtbarkeit der Bühnenmaschinerie für den Zuschauer hätte – , wird durch die Aura das Nahe zum Fernen und das Reale zum Idealen verklärt. Die materiale Bühnenrealität, das »beleidigend freche Hervortreten des szenischen Bildes bis hin zur Betastbarkeit durch den Zuschauer« wird durch die Aura »zurückgedrängt«,22 oder genauer: In der Zurückdrängung wird die Aura der ontologischen Bilder erzeugt. Die Unsichtbarkeit des Orchesters und das Fernrücken des Theaters sind also als architektonische Verwirklichungen der Musiktheaterideologie Wagners zu verstehen.23 Mit dem unsichtbaren Orchester realisiert Wagner letztlich eine Vision romantischer Musikphilosophie.24 Denn schon die Metaphysik der Musik von Wacken roder bis Schopenhauer entledigt sich des lästigen, jedoch notwendigen Performers durch seine Dequalifizierung zum bloßen Medium, oder indem sie ihn schlichtweg vergisst. Schopenhauer schreibt: » [D]ie Musik [ist], da sie die Ideen übergeht, auch von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, ignorirt sie schlechthin, könnte gewissermaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehen […]. Die 100

Nicola Gess

Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht.«25 Zur Zeit Schopenhauers und auch noch zur Zeit Wagners ist die Behauptung, Musik sei von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, nimmt man sie einmal buchstäblich, natürlich vollkommen falsch. So banal es klingt: Ohne Musiker konnte damals schlichtweg noch keine Musik erklingen. Doch man träumte durchaus schon von einer Musik ohne Musiker: Zahlreich sind die Geschichten aus dem 19. Jahrhundert über unheimliche Maschinen, Puppen oder Kästchen, die geisterhaft belebt erscheinen, weil aus ihnen Musik ertönt.26 Realität wird diese Vision erst mit der Erfindung der Schallplatte und später des Radios, und auch im frühen 20. Jahrhundert finden sich Texte, die die unheimliche Seite dieser klingenden Kästen, den Tod des Performers, beschreiben. Zu genau einem solchen klingenden Kasten avant la lettre wird auch die Bayreuther Bühne. Die Musik tönt als ein homogenisierter Klang kaum lokalisierbar aus dem Boden und der Tiefe des Bühnenraums. Carolyn Abbate hat die Bayreuther Bühne deshalb treffend mit einem gigantischen Radio verglichen: » Das zugedeckte Orchester, der zugezogene Vorhang, überwiegend Anthrazittöne, gewisse Verzierungen am Proszeniumsbogen – man denkt an Knöpfe – verwandeln die Bühne in einen gigantischen antiken Phonographen, ein Radiogerät anno 1925.«27 Technisches Gehäuse und transzendente Wahrheit gehen hier eine eigentümliche Verbindung ein: Gerade aus der Maschine, die in Wagners Metaphorik der orchestralen Mechanik ja in der Tat so präsent wie in der Bühnenrealität verborgen ist, spricht der Gott unmittelbar. Befreit von jeglicher störenden Körperlichkeit, von jeglichem Rest einer Differenz zwischen Musiker und dem durch ihn sprechenden Weltwesen bietet gerade die in ihrem Funktionieren undurchschaubare und nur als klingender Kasten präsente (Orchester-)Maschine als vollständiges Medium die Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Dazu passt, dass sich der späte Wagner – um nun zu seinen Überlegungen zum idealen Schauspieler zurückzukommen – auch euphorisch über das Puppentheater geäußert hat. In seinem Modell der Selbstentäußerung des Mimen wird der Körper des Darstellers idealerweise zur leeren Hülle, oder besser: zum Gefäß eines anderen »Selbst«, das nun aus ihm sprechen soll. Wagner begeistert sich: » In dem Spieler dieses Puppentheaters und seinen ganz unvergleichlichen Leistungen, mit denen er mich atemlos fesselte, während das Straßenpublikum in seiner leidenschaftlichsten Teilnahme […] alle gemeinen Lebensverrichtungen zu vergessen schien, ging mir seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters zuerst wieder lebendig auf. Hier war der Improvisator Dichter, Theaterdirektor und Akteur »Geistersehen« in der »Schallwelt«

101

zugleich, und seine armen Puppen lebten durch seinen Zauber mit der Wahrhaftigkeit unverwüstlich ewiger Volkscharaktere vor mir auf.«28 Hier schleicht sich in Wagners Theorie des idealen Mimen das Puppenspiel mitsamt einer allmächtigen Autorfigur ein, und daraus lässt sich folgern, dass sich der singende Mime nicht nur für seine Rolle entäußern soll, sondern sich damit vor allem auch zum Sprachrohr Richard Wagners macht. Wagner schreibt: » Was Shakespeare praktisch nicht möglich sein konnte, der Mime jeder seiner Rollen zu sein, dies gelingt dem Tonsetzer mit größter Bestimmtheit, indem er unmittelbar aus jedem der ausführenden Musiker zu uns spricht. Die Seelenwanderung des Dichters in den Leib des Darstellers geht hier nach unfehlbaren Gesetzen der sichersten Technik vor sich, und der einer technisch korrekten Aufführung seines Werkes den Takt gebende Tonsetzer wird so vollständig Eines mit dem ausübenden Musiker, wie dies höchstens von dem bildenden Künstler im Betreff eines in Farbe oder Stein ausgeführten Werkes ähnlich würde gesagt werden können, wenn von einer Seelenwanderung seinerseits in sein lebloses Material die Rede sein dürfte.«29 Der Vergleich mit dem bildenden Künstler ist bezeichnend: Der Darsteller, sei dies der Orchestermusiker oder der Sänger, dient dem Musikdramatiker als lebloses, zu formendes Material, in das er wie in eine Bauchredner-Puppe einwandern kann. Auch »die Macht«, von der Wagner schreibt, dass sie der Mime »durch seine Nachahmung bis zur allerbestimmtesten Täuschung über sich und seine Zuschauer ausüb[e]«, ist letztlich nicht die des Mimen, sondern die des Musikdramatikers, der sich des Mimen als seines Mediums bedient, um auch sein Publikum in die »Selbstentäußerung« zu führen. Entsprechend bewundernd äußert sich Wagner zum Beispiel über eine Lear-Aufführung: » Nach einer Aufführung […] blieb das Berliner Publikum nach dem Schlusse des letzten Aktes noch eine Zeitlang auf seine Plätze festgebannt versammelt, nicht etwa unter dem sonst blühenden Schreien und Toben eines enthusiastischen Beifalles, sondern kaum flüsternd, schweigend, fast regungslos, ungefähr wie durch einen Zauber gebunden, wider welchen sich zu wehren keiner die Kraft fühlte, wogegen es jeden etwa unbegreiflich dünken mochte, wie er es nun anfangen sollte, ruhig nach Hause zu gehen und in das Geleis seiner Lebensgewohnheit zurückzutreten, aus welcher er sich undenklich weit herausgerissen empfand.«30 Soweit zu Wagners Theorie eines Musiktheaters, das man totalitär nennen könnte. In der Praxis ließ sich dieses Ideal allerdings – sieht man einmal von 102

Nicola Gess

der Architektur des Opernhauses ab – nur schwer verwirklichen. Denn da Sänger nun einmal keine Puppen sind und Wagner nicht, die Fäden ziehend, alle Rollen zugleich spielen konnte – auch wenn Friedrich Nietzsche ihm im Fall Wagner durchaus das Talent dazu bescheinigt hat –, steht und fällt Wagners Vorstellung einer totalen Kontrolle mit der Möglichkeit, seine Anweisungen den Sängern so genau als möglich mitzuteilen. So gewinnt die Notenschrift mit ihren Akzidentien in der Partitur für Wagner eine immens große Bedeutung; von ihr hängt die Genauigkeit der Fixierung des Autorwillens ab. Wagners Partituren werden darum, wie er selbst beschreibt, immer minutiöser in ihren Bezeichnungen: » [S]o habe ich, zur Erklärung der besonderen Eigenschaften gerade meiner neueren Partituren, wiederum darauf aufmerksam zu machen, wie die bis hierher ungewohnte Ausführlichkeit derselben eben nur von der Nötigung zur Auffindung jener richtigen Bezeichnung des durchaus natürlichen Vortrages des Sängers eingegeben ward.«31 Mit der Rhetorik der »richtigen Bezeichnung des durchaus natürlichen Vortrages« versucht Wagner, seine Partituren dem Ideal eines natürlichen Zeichens anzunähern. Der Vortrag soll nicht als künstlich, sondern als natürlich erscheinen, und die Zeichen wiederum sollen nichts anderes tun, als diesen natürlichen Vortrag in der Schrift zu repräsentieren, also als »bloßes Supplement« zu fungieren. Dieses Verfahren ist von Jacques Derrida in den Sprachursprungstheorien Jean-Jacques Rousseaus analysiert worden, und wie bei Rousseau sollen auch bei Wagner die Zeichen der Partitur dem Dilemma der Differenz entgehen, indem sie immer schon als Abbild von dem konzipiert sind, wofür sie doch eigentlich erst das Vorbild abgeben.32 Aus dem gleichen Grund nennt Wagner seine Kompositionen auch »fixierte Improvisationen«,33 behauptet also die bloße Verschriftlichung eines eigentlich spontanen und in diesem Sinne »natürlichen« Geniestreichs. Dass diese supplementäre Logik von grundlegender Bedeutung für Wagners Konzeption des Musiktheaters ist, zeigt sich auch daran, dass das von Wagner – und auch vom frühen Nietzsche – postulierte Verhältnis von Gesamtkunstwerk und Volksgemeinschaft ihr ebenfalls gehorcht: Das Gesamtkunstwerk soll eine Volksgemeinschaft abbilden, die sich aber zugleich erst nach seinem Vorbild formt.34 Diese schon in den Spekulationen der Romantiker über eine neue Mythologie erprobte Figur einer unendlichen gegenseitigen Spiegelung wird nur durch die Annahme eines alle immer schon vereinenden Volkswesens, das der Künstler lediglich zum Ausdruck gebracht habe, stillgestellt. Bei Wagner nimmt diese Rolle des imaginären Ursprungs das in »Hellsehen« und »Geistersehen« erkannte Weltwesen ein, das von Wagner häufig auch zum »Volkswesen«35 nationalisiert wird und in »improvisatorischem« Erguss und »natürlichem« Vortrag zum unmittelbaren Ausdruck kommen soll. In der Theaterpraxis stößt Wagner trotzdem immer wieder an die Grenzen der Zeichen und damit auf die Unmöglichkeit einer völligen Kontrolle der Aufführung. In letzter Konsequenz führt dieser Umstand Wagner zu der schon erwähnten »Geistersehen« in der »Schallwelt«

103

Polemik eines »unsichtbaren Theaters«, das nach der Eliminierung des sichtbaren Orchesters noch weiter gehen und jede menschliche Anwesenheit auf der Bühne abschaffen würde. In der Praxis war Wagner von einem solchen Schritt jedoch weit entfernt.36 Er hat eben nicht begonnen, Symphonien zu komponieren, sondern ausgerechnet die Opernbühne als Plattform für seine anti-theatrale und zugleich zutiefst illusionistische Agenda genutzt. Wagner bringt, so meine finale These, seine Kritik an der auf das Spektakel ausgerichteten Oper und die eigenen Bemühungen um ein seine Theatralität verbergendes Musikdrama der ontologischen Bilder im Parsifal auf die Bayreuther Bühne und stellt dort auch gleich den Sieg seines Musiktheaters über konkurrierende Opernformen sicher.37 Das soll abschließend anhand von Wagners Konturierung der Gralsgemeinschaft, Klingsors und Kundrys, die ich als Repräsentanten verschiedener Theatertypen lesen möchte, gezeigt werden.38 III Die Gemeinschaft der Gralsritter definiert und bildet sich im Ritual der Gralsenthüllung, für das sich alle Ritter um ihren König versammeln und einen Grals- und Gottesdienst zelebrieren, an dessen Ende sie sich ihrer Lebensaufgabe – »froh im Verein, / brudergetreu, / zu kämpfen mit seligem Mute«39 – versichern. Das Ritual funktioniert als ein performativer Akt, in dem die Identität der Gruppe gleichzeitig erzeugt und abgebildet wird. Es folgt der bereits beschriebenen Figur einer unendlichen Spiegelung, die keinen Anfang hat, insofern Spiegelbild und Gespiegeltes gleichzeitig im performativen Akt entstehen. Notwendig für das Funktionieren des Rituals ist jedoch, dass alle Teilnehmenden an ein dem Spiegelbild vorgängiges Original glauben und somit seinen performativen Charakter gerade nicht sehen: Dieser muss – Stichwort »unsichtbares Theater«, das Wagner ja gerade angesichts seiner Frustration über das »Schminkewesen« formulierte, auf das selbst der Parsifal angewiesen war40 – unsichtbar bleiben. Da das Ziel des Rituals die Formung eines Gruppenkörpers ist, müssen der Einzelne und die Körperlichkeit des Einzelnen in der Gralsgemeinschaft verdrängt und im buchstäblichen Sinne unsichtbar oder zumindest unhörbar werden. Dementsprechend finden sich in der rituellen Handlung bei Wagner keine Einzelstimmen, sondern nur mehrere Chöre. Die Ritter, deren Gemeinschaft gebildet wird, singen zudem rein unisono, singen wie eine Stimme aus einem Körper. Und um das Allerheiligste herum (die Zeitspanne, in der der Gral enthüllt ist) singen sogar ausschließlich entkörperlichte Stimmen unsichtbar »aus der Höhe«41 der Kuppel oder, wie Titurel, aus der Tiefe des Grabes. Auch in der rituellen Handlung tritt die Körperlichkeit des Einzelnen in den Hintergrund, sowohl durch den vorgegebenen Ablauf und sein Aufgehen in der Synchronizität der Gruppe als auch durch eine weitgehende Bewegungslosigkeit. Mit einer körperlichen Bewegung ist lediglich der König der Gralsgemeinschaft vertreten (»Amfortas, mit verklärter Miene, erhebt den ›Gral‹ hoch und schwenkt ihn sanft nach allen Seiten, worauf er damit Brot und Wein segnet«), alle anderen verweilen regungslos »auf den Knien«.42 Ein Großteil des Rituals verläuft zudem in einer alle Konturen verwischenden Dämmerung, schließlich sogar in »vollste[r] Dunkelheit«,43 so 104

Nicola Gess

dass hier die Tendenz zur Unsichtbarkeit der Szene ins Extrem getrieben wird. Nicht das Sehen des Spektakels, sondern das Hören auf das Numinose soll das dann folgende, eigentliche Schauspiel vorbereiten, das kein menschliches mehr ist: »Hier dringt ein blendender Lichtstrahl von oben auf die Kristallschale herab; diese erglüht sodann immer stärker in leuchtender Purpurfarbe, alles sanft bestrahlend.«44 Die Tendenz zur völligen Zurücknahme des einzelnen Darsteller-/ Teilnehmer-Körpers liegt der Gralsgemeinschaft und dem Ritual zugrunde. Dies nicht nur aufgrund der radikalen Askese der Ritter, gegen die Amfortas verstoßen hat, sondern auch, weil das rituelle Theater der Gralsgemeinschaft, wie Wagners ideales Theater, ein totales ist, das kein Außen duldet und seinen performativen Charakter verschwinden lassen will/muss. Deshalb hört das Ritual auch eigentlich nie auf; die Bühne der Gralsritter weitet sich zur Welt, der Darsteller/Teilnehmer hat seine Identität im Ritual gewonnen und hält an dieser auch nach Beendigung des Rituals fest. Allerdings ist diese künstliche Identität permanent durch die Konfrontation mit einem Äußeren, Anderen, Nicht-Identischen gefährdet und bedarf deshalb einerseits der ständigen Wiederholung sowie andererseits der Unterdrückung alles Fremden. Im buchstäblichen Sinne wird dieses Fremde im Innern des Gralsreiches durch die Wunde des Amfortas verkörpert, die sich gerade dann immer wieder öffnet, wenn das identitätsbildende Ritual der Gralsenthüllung vollzogen werden soll, und im Außen des Gralsreiches von den zwei bedrohlichen Figuren der Oper: Klingsor und Kundry. Zwischen Gralsreich und Klingsorwelt steht – entscheidendes Detail in den Szenenanweisungen – ein Spiegel (»Klingsor […], vor einem Metallspiegel sitzend«45), der dem Gralsreich ein entlarvendes Zerrbild seiner selbst zurückwirft. So findet sich die hehre Enthaltsamkeit der Ritter bei Klingsor als Kastration wieder, die die Gewalt der Askese enthüllt. Und wo den Gralsrittern als »brünstig Betenden« göttliche Schauspiele erscheinen –»ein sel’ger Schimmer da entfloß dem Grale; / ein heilig Traumgesicht / nun deutlich zu ihm spricht / durch hell erschauter Wortezeichen Male«46 –, da schafft sich Klingsor durch Technik sein eigenes spirituelles Theater. Das Pendant zum Gebet sind hier »nekromantische Vorrichtungen«,47 die dazu herangezogen werden können, Verstorbene oder Gottheiten über die Zukunft zu befragen. Aber am wichtigsten ist, dass der die Gralswelt spiegelnde Klingsor sich auch als Theaterdirektor betätigt – so dirigiert er, wie ein Puppenspieler, Kundry und lässt auch die Blumenmädchen tanzen – und sich zudem als Regisseur eines effektvollen Kulissentheaters präsentiert. Mit Hilfe von Magie, von »Zauberwerkzeuge[n]«,48 konstruiert er sich eine Illusionsbühne, auf der sein Turm in den Boden versinken kann, während die Burg stehenbleibt und gleichzeitig ein Zaubergarten aus der Versenkung auftaucht [Abb. 3, 4]. Dieser präsentiert sich als ein süßlich-kitschiges Klischee von Tropen, Arabien und mittelalterlicher Burgromantik, das heißt als eine typische Opernkulisse. Als ebenso typische und zudem antiquierte Theaterdekoration erscheint auch Klingsors Turm selbst, der deutlich in der Tradition der Kerkerszenen der Barockoper steht (zum Beispiel durch die Winkelperspektive, die Geschlossenheit eines eigentlich nach oben offenen Raumes, die martialische Ornamentik durch Ketten, Eisenringe, Düsternis usw.; [Abb. 5]). »Geistersehen« in der »Schallwelt«

105

3 Max und Gotthold Brückner, Klingsors Zaubergarten; Bühnenbild für die Uraufführung des Parsifal 1882 (gestaltet nach der Zeichnung Paul von Joukowskys).

Ähnlich spektakuläre Verwandlungen der Bühne geschehen zwar auch im Gralsreich: » Allmählich, während Gurnemanz und Parsifal zu schreiten scheinen, hat sich die Szene bereits immer merklicher verwandelt; es verschwindet so der Wald, und in Felsenwänden öffnet sich ein Torweg, welcher die Beiden jetzt einschließt. […] Durch aufsteigende gemauerte Gänge führend, hat die Szene sich vollständig verwandelt: Gurnemanz und Parsifal treten jetzt in den mächtigen Saal der Gralsburg ein.«49 Der Zauberer jedoch, der hier die Kulissen schiebt, bleibt im Verborgenen, und es wird auch keine typische Theaterdekoration, sondern ein Sakralraum präsentiert [Abb. 6]. Klingsors Illusionsbühne verunsichert das Publikum nicht. Sein (bewusst als solches präsentiertes) Kulissentheater zielt auf eine strenge Trennung von Bühnenwelt und realer Welt, die den Betrachter nicht bedroht, sondern ihn im Gegenteil seiner Identität versichert. Das spricht gegen eine Beurteilung wie die Theodor W. Adornos, der den Zaubergarten Klingsors als ebenso »phantasmagorisch« wie die Gralswelt beschreibt.50 Adorno meint sogar, dass in der Blumenmädchenszene »Musik ihre Produktion selber am sorglichsten in der passiv-visionären Präsenz versteckt«.51 106

Nicola Gess

4

Richard Wagner, Parsifal, zweiter Aufzug, zweite Szene (Klingsors Zauberschloss).

»Geistersehen« in der »Schallwelt«

107

5 Max und Gotthold Brückner, Klingsors Schloss; Bühnenbild für die Uraufführung des Parsifal 1882 (gestaltet nach der Zeichnung Paul von Joukowskys).

Demgegenüber ist jedoch zu betonen, dass Wagner mit der – von Adorno bemerkten – Anlehnung dieser Szene an Ballettmusik, die zudem (etwa im Vergleich mit dem Venusberg des Tannhäuser) eigentümlich »blaß« daherkommt, den Zaubergarten als theatralen Schein, als Machwerk Klingsors offenbart und ihn so gerade nicht mit dem phantasmagorischen »Anspruch des Seins« ausstattet.52 Auf diese Weise fungiert er als negativer Gegenpol zum Gralsreich, wo umgekehrt nicht die Demonstration, sondern eben das Verstecken der Produktion im Vordergrund steht: Phantasmagorie im Adorno’schen Sinne. Entsprechend werden Klingsorwelt und Gralswelt einander auch musikalisch gegenübergestellt. Während das Ritualtheater der Gralsgemeinschaft über eine choralartige, wenig rhythmisierte Klanglichkeit und damit über eine Musik charakterisiert ist, der Wagner im Beethoven-Aufsatz die Befähigung zum »Geistersehen« zuschreibt, kommt im Zaubergarten eine Musik zum Einsatz, die, folgt man abermals dem Beethoven-Aufsatz, mit ihren Anleihen an Tanzmusik das Potential zur Transzendierung gerade verfehlt und einem Opernwesen entspricht, das ganz auf das Sehen eines äußerlichen Spektakels ausgerichtet ist. Dazu passt, dass die Tonartendisposition des Klingsor-Aktes derjenigen des Nonnen-Balletts in Giacomo Meyerbeers Robert le Diable folgt, so dass hier ein spezifischer Bezug auf die Grand Opéra deutlich wird.53 Bei Parsifal handelt es sich also einerseits auf ganzer Linie um eine im Bühnenspektakel schwelgende »Zauber-Oper«, wie Eduard Hanslick bereits in seiner Kritik der Uraufführung bemerkte;54 und andererseits um den Versuch, die Klingsor’sche Hälfte dieses Zaubers als »bloßen Schein« zu disqualifizieren, um demgegenüber die andere Hälfte als »philosophische und religiöse Offenbarung« präsentieren zu können.55 108

Nicola Gess

6 Max Brückner, Gralstempel; Bühnenbild für die Uraufführung des Parsifal 1882 (gestaltet nach Skizzen Paul von Joukowskys).

Hanslick sah jedoch noch nicht den meta-theatralen Subtext, die Konfrontation von Spektakel-Oper und Ritualtheater, die hinter dieser Dichotomisierung steckt. Verunsichernd wirkt Klingsors Bühne darum erst als Spiegel der Gralswelt, die im Gegensatz zum Kulissentheater eben nicht als Schein, sondern als Sein erfahren werden soll. Im Klingsor’schen Spiegelbild erscheint diese sichere Realität und die von ihr versicherte Identität nun bloß noch als eine andere Form von Theater, das sich zur Totalität erheben will und deshalb seinen performativen Charakter und seine Kulissentricks verstecken muss. Mit Klingsors Bühne droht aber nicht nur die Enthüllung der verborgenen Theatralität der Gralswelt, sondern darüber hinaus auch der Theatralität des ganzen so ernst genommenen, wie ein Ritual zelebrierten »Bühnenweihfestspiels« Parsifal selbst. Klingsors Bühne vermag Wagners Musikdrama als ein bloßes Theater und Wagner als einen versteckten Klingsor zu entlarven – wie das ja auch der enttäuschte Nietzsche tat, als er Wagner den »Klingsor aller Klingsore« nannte.56 Konsequent wird Klingsor in der Oper erfolgreich verdrängt: Er versinkt mitsamt seiner Burg in der Tiefe, wird unsichtbar. Kundry ist die einzige Frauenfigur der Oper, die allerdings in mehreren Rollen auftritt: Im ersten Aufzug erscheint sie in der Rolle der dämonisch-unheimlichen Gralsdienerin, im zweiten Aufzug als Bedienstete Klingsors, Mutter und Verführerin, im dritten Aufzug als Maria Magdalena. Außerdem erfahren wir von Klingsor, dass sie vor ihrer Zeit als Kundry schon unzählige Inkarnationen durchlaufen hat: »Herodias war’st du, und was noch? / Gundryggia dort, Kundry hier!«57 Unmöglich scheint es, ihr eine feste Identität zuzuweisen; sie bleibt die »Namenlose«.58 Diese »Geistersehen« in der »Schallwelt«

109

unkontrollierbare, chamäleonhafte Wandelbarkeit ist nur eines von vielen Merkmalen, die Kundry zum einen – so die meta-theatrale Perspektive – als Schauspielerin, zum anderen – so die zeitgenössische Wahrnehmung – als Hysterikerin kennzeichnen.59 Die Hauptrolle in den Beschreibungen der Hysterie um 1900 spielt eine von den Zeitgenossen als bloße »Schauspielerei« verdächtigte exzessive Körperlichkeit, wie sie auch Wagner Kundry auf den Leib geschrieben hat. Kundrys provozierende körperliche Präsenz passt in kein vorgegebenes Rollenschema und sträubt sich gegen jede repräsentationistische Verfasstheit. » [Kundry] stürzt hastig, fast taumelnd herein. […] Sie wirft sich an den Boden.« »[…] unruhig und heftig am Boden sich bewegend […].« »Kundry [hat sich] oft in wütender Unruhe heftig […] umgewendet […].« »Sie verfällt in heftiges Zittern; dann läßt sie die Arme matt sinken. Sie sinkt hinter dem Gebüsch zusammen und bleibt von jetzt an unbemerkt«.60 Auch Kundrys Sprechen ist verrätselt; häufig liegt es am Rand des Sprachverlustes oder ringt überhaupt erst um Sprachgewinn. Kundry. (rauh und abgebrochen, wie im Versuche, wieder Sprache zu gewinnen) »Ach! Ach! / Tiefe Nacht… / Wahnsinn… Oh! – Wut… / Ach! Jammer! / Schlaf… Schlaf… / tiefer Schlaf… Tod!…«61 Die Männer, denen Kundry in der Oper begegnet, sind geradezu zwanghaft bemüht, ihren Worten einen eindeutigen Sinn zu geben. Der Beginn des Dialogs zwischen Klingsor und Kundry im zweiten Aufzug liest sich wie eine therapeutische Sitzung, in der Klingsor das Stammeln Kundrys geübt zur signifikativen Rede deutet; und auch Gurnemanz bemüht sich, Kundrys Stöhnen zu verstehen. Meistens aber reagiert keiner der Männer auf ihre stöhnenden, schreienden, lachenden Laute. Sie fallen aus dem signifikativen Sprachsystem so vollkommen heraus, dass sie nicht genügend Anknüpfungspunkte bieten, um sinnvoll eingeordnet werden zu können. Die Äußerungen Kundrys fungieren in der Oper darum – dem Klischee der Hysterikerin um 1900 entsprechend – als negativer Gegenpol zur männlichsignifikativen Stimme. Kaja Silverman erläutert die Entstehung dieser Dichotomie an anderer Stelle wie folgt: »the male subject subsequently ›refines‹ his ›own‹ voice by projecting onto the mother’s [the woman’s, N. G.] voice all that is unassimilable to the paternal position«.62 In der Folge bedeutet die weibliche Stimme, so Silverman, eine ständige Bedrohung für die männlich-paternalistische Ordnung und ihr System einer ordentlichen, entkörperlichten Sprache. Was Silverman hier beschreibt, lässt sich im zweiten Aufzug der Oper verfolgen, in dem Parsifal zu Parsifal wird. Er gewinnt dort sein Selbst durch die Annahme seines Namens, seiner Geschichte und seines Gewissens. All das jedoch wird ihm gegeben durch Kundry, die hier gleichzeitig die Mutterund die Verführerinnen-Rolle spielt: 110

Nicola Gess

» kundry. Parsifal! Weile! Parsifal. Parsifal?… So nannte träumend mich einst die Mutter. […] Riefest du mich Namenlosen? Kundry. Dich nannt’ ich, tör’ger Reiner: ›Falparsi‹ – dich reinen Toren: ›Parsifal‹. So rief […] dein Vater […] dem Sohne zu, den er, im Mutterschoß verschlossen, mit diesem Namen sterbend grüßte; ihn dir zu künden, harrt’ ich deiner hier: was zog dich her, wenn nicht der Kunde Wunsch?«63 Parsifal wird zu Parsifal durch seine Identifizierung mit dem Bild, das ihm Kundry vorhält, mit der Erzählung, die sie ihm gibt.64 Diesen Ursprung seiner Identität muss Parsifal jedoch nach gelungener Identifizierung verdrängen, um an der Idee einer schicksals- und wesenhaften Identität als Gralsritter festhalten zu können; und so wird all das, was ihn einst ausmachte und nicht mit dem männlich-paternalistischen und zudem spiritualistischen Gralsprinzip vereinbar ist, auf Kundry projiziert, die im dritten Aufzug folgerichtig – wie einstmals Parsifal – als ein auf eine niedrigere Bewusstseinsstufe zurückgefallenes Wesen erscheint: sprachlos, tierähnlich im Verhalten, mit einem mangelnden Bewusstsein ihrer selbst. Schon im Prosaentwurf Wagners ist explizit davon die Rede, dass die »Dummheit«, die Parsifal zunächst an den Tag legt, außer ihm nur noch bei Kundry angetroffen werde.65 Die Figur der Kundry stellt in der Oper so letztlich die Vorstellung von Identität selbst in Frage. Sie deckt auf, dass Identität entweder performativ konstruiert oder aber in einer Bildung am Anderen, das danach umso stärker verdrängt werden muss, hervorgebracht wird. Darum bedeutet auch sie eine immense Bedrohung der im Ritualtheater fundierten Gralsgemeinschaft und muss, wie Klingsor, von der Bühne des »Bühnenweihfestspiels« verschwinden. Kundrys Tod vollzieht sich in zwei Etappen. Zuerst wird sie nach der Identifizierung Parsifals nur mundtot gemacht, ihre hysterische Stimme verstummt mit Beginn des dritten Aufzugs. Und wenn sich am Ende der Oper dann die Wunde des Amfortas schließt, verschwindet auch Kundry schließlich ganz. Kundry, die die Wunde der Oper war, stirbt, und an ihrem Tod gibt es, im Unterschied zu anderen erlösenden Frauenfiguren bei Wagner, keinen Zweifel.66 Am Ende siegen also die Gralsritter – das anti-theatrale Ritualtheater vernichtet das hysterische Theater der Kundry, nachdem es zuvor bereits das Kulissentheater Klingsors hatte verschwinden lassen. Die Oper Parsifal stellt diesen Sieg dar und möchte zugleich selbst dieser Sieg sein, als in Bayreuth begangenes »Bühnenweihfestspiel«. »Geistersehen« in der »Schallwelt«

111

Endnoten 1 Richard Wagner, Beethoven, in: DS, Bd. IX, S. 38–109, hier S. 46, 49. 2 Ebd., S. 49. 3 Ebd., S. 53. 4 Ebd., S. 60, 59. 5 Ebd., S. 58. 6 Ebd., S. 57. 7 Ebd., S. 45, 47. 8 Ebd., S. 46. 9 Ebd., S. 91, 92. 10 Ebd., S. 92; Hervorhebung N. G. 11 Ebd., S. 53, 104. 12 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, hg. v. Ludger Lütke-

haus, Zürich 1988 (Werke 1), S. 340. 13 Wagner, Beethoven (Anm. 1), S. 44; Hervorhebung N. G. 14 Ebd., S. 48–49; Hervorhebung N. G. 15 Mit dem Begriff »anti-theatral« ist hier eine Bühnenpraxis gemeint, die ihr Theater-Sein ver-

16

17 18 19 20 21 22 23

24

25 26

27

28 29 30 31

112

bergen will. In diesem Sinne hat bereits Theodor W. Adorno die »Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produkts« das »Formgesetz« Richard Wagners genannt (Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, in: ders., Die musikalischen Monographien, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1971 [Gesammelte Schriften 13], S. 7–148, hier S. 13, 82). Cosima schreibt über eine Äußerung Wagners anlässlich der bevorstehenden Einstudierung des Parsifal am 23. September 1878: »Nachdem er mir dies erzählt, kommt er auf seinen Parsifal und sagt, ›ach! es graut mir vor allem Kostüm- und Schminke-Wesen; wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nur sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden! […]‹« (in: CT, Bd. II, S. 181). Richard Wagner, Über Schauspieler und Sänger, in: DS, Bd. IX, S. 183–263, hier S. 186. Ebd., S. 189. Richard Wagner, Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung desselben, in: DS, Bd. X, S. 21–44, hier S. 35–36. Ebd., S. 37. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1977 (edition suhrkamp 28), S. 15. Wagner, Bayreuth (Anm. 19), S. 38. Mit Adorno könnte man die durch das doppelte Proszenium erzeugte Aura auch als Produzentin von »Phantasmagorien« verstehen, deren wesentliches Merkmal für Adorno darin besteht, dass »die ästhetische Erscheinung keinen Blick mehr durchläßt auf Kräfte und Bedingungen ihres realen Produziertseins« (Adorno, Versuch über Wagner [Anm. 15], S. 82). Hier greift der Aufsatz zurück auf einen früheren: Nicola Gess, Die Schallplatte als (Schrift-) Spur. Das Andere Hören in den Texten Theodor W. Adornos, in: Annette Kreutziger-Herr (Hg.), Das Andere. Eine Spurensuche in der Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bern u. a. 1998 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 15), S. 93–108, hier S. 102–104. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (Anm. 12), S. 341. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Carolyn Abbate, Ventriloquism, in: Irving Lavin (Hg.), Meaning in the Visual Arts. Views from the Outside. A Centennial Commemoration of Erwin Panofsky (1892–1968), Princeton (NJ) 1995, S. 305–311. Carolyn Abbate, Mythische Stimmen, sterbliche Körper, in: Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer (Hg.), Richard Wagner – »Der Ring des Nibelungen«. Ansichten des Mythos, Stuttgart u. a. 1995, S. 75–86, hier S. 77. Wagner, Über Schauspieler und Sänger (Anm. 17), S. 210. Richard Wagner, Über die Bestimmung der Oper, in: DS, Bd. IX, S. 151–182, hier S. 176–177. Ebd., S. 185–186. Wagner, Über Schauspieler und Sänger (Anm. 17), S. 243. Nicola Gess

Endnoten 32 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 2004 (suhrkamp taschenbuch wissen-

schaft 417), S. 171–541. 33 Wagner, Über die Bestimmung der Oper (Anm. 29), S. 149. 34 Vgl. dazu u. a. Claudia Öhlschläger/Clemens Pornschlegel, Welttheaterwelt. Zur Struktur des

35 36

37

38

39

40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

54

Performativen im ›Gesamtkunstwerk‹ Richard Wagners, in: Gerhard Neumann, Caroline Pross, Gerald Wildgruber (Hg.), Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. Br. 2000 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 78), S. 171–217, hier S. 215. Richard Wagner, Deutsche Kunst und deutsche Politik, in: DS, Bd. VIII, S. 247–351, hier S. 299. Vgl. Öhlschläger/Pornschlegel, Welttheaterwelt (Anm. 34), S. 194–197. Öhlschläger und Pornschlegel weisen ebenfalls auf die Ambivalenz von Wagners anti-theatraler Polemik einerseits und, mit Rücksicht auf Nancys Lektüre der Wagner-Rezeption Mallarmés, auf die ausgeprägte Theatralität seiner Opern andererseits hin, gehen aber nicht auf die meta-theatrale Dimension seiner Stücke ein. Ein Vorbild für diese meta-theatrale Lektüre von Musikdramen Wagners bieten David Levins Analysen des Ring, vor allem in: David Levin, Richard Wagner, Fritz Lang and the Nibelungen. The Dramaturgy of Disavowal, Princeton (NJ) 1998. Berücksichtigt werden das Libretto, die Szenenanweisungen in der Partitur und einige Bühnenprospekte der Uraufführung. Diese Analyse müsste durch ein genaues Studium der Komposition ergänzt werden, für das hier aber sowohl der Raum wie die Expertise fehlen. Vgl. dazu u. a. die erwähnten Texte von Abbate (Anm. 26 u. 27) sowie Brian Hyer, Parsifal hystérique, in: The Opera Quarterly 22/2, 2006, S. 269–320. Richard Wagner, Parsifal [Partitur. Reprint v. Richard Wagner, Sämtliche Werke, Bd. XIV/1–3, Mainz 1972/1973], hg. v. Egon Voss u. Martin Geck, London u. a. 2006 (Edition Eulenburg 8058), S. 170–171; vgl. auch Richard Wagner, Parsifal. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 18362). Vgl. Anm. 16. Wagner, Parsifal (Anm. 39), S. 154. Ebd., S. 161. Ebd., S. 157. Ebd., S. 160. Ebd., S. 195. Ebd., S. 75–76. Ebd., S. 195. Ebd. Ebd., S. 112, 122 Adorno, Versuch über Wagner (Anm. 15), S. 84, 87. Ebd., S. 87; Hervorhebungen N. G. Ebd., S. 82. »[Meyerbeer’s] scene exercised a potent iconographic and musical hold on the 19th century. […] the scene forms the underlying structural and tonal model of Act two of Richard Wagner’s Parsifal, where the spell of Klingsor and the temptation of Parsifal by the Flower Maidens, and then Kundry, are parallels of Robert caught in the vortex of Bertram’s designs, with the nuns and the Abbess as his agents. The analogy operates, even down to the systematic use of b minor and E-flat major als the controlling tonalities of the episode« (Robert Ignatius Lettelier, The Operas of Giacomo Meyerbeer, Madison [NJ] 2006, S. 130). Lettelier bezieht sich hier auf Walter Keller, Von »Robert der Teufel« zu »Parsifal«, in: ders., ParsifalVariationen. 15 Aufsätze über Richard Wagner, Tutzing 1979, S. 81–89). Dagegen wird die Musik der beiden Gralsakte, etwa durch den Bezug auf das Dresdner Amen, als »echt« konnotiert. Eduard Hanslick, R. Wagner’s »Parsifal«. (Briefe aus Bayreuth vom Juli 1882.), in: ders., Aus dem Opernleben der Gegenwart. Neue Kritiken und Studien, Berlin 1884 (Die moderne »Geistersehen« in der »Schallwelt«

113

Endnoten

55 56 57 58 59

60 61 62 63 64 65

66

Oper 3), S. 293–330, hier S. 303. Die Rezension erschien ursprünglich in: Neue Freie Presse (Wien), 1882, Nr. 6423 (15. Juli 1882), 6434 (26. Juli 1882), 6440 (1. August 1882), 6441 (2. August 1882). Ebd. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: KSA, Bd. VI, S. 43. Wagner, Parsifal (Anm. 39), S. 201–202. Ebd., S. 201. Dieser Aspekt kann hier nur angedeutet werden. Vgl. zu Lektüren des Parsifal in Bezug auf den Hysteriediskurs der Zeit: Elisabeth Bronfen, Kundry’s Laughter, in: New German Critique 69: Richard Wagner, Autumn 1996, S. 147–161 sowie Hyer, Parsifal hystérique (Anm. 38). Bronfen vertritt – vor dem Hintergrund der »Erfindung der Hysterie« (Hubermann) in der Pariser Salpêtrière in den Jahren rund um die Uraufführung des Parsifal und im Anschluss an Žižeks Lektüre Kundrys in Tarrying with the Negative – die These, dass Kundry Parsifal »hysterisiert«. Ähnlich zeichnet auch Hyer ein Bild von Parsifal als einem an Hysterie als »drama of mimetic identification« (S. 309) leidenden Helden und vermag diese Lesart en détail in einer musikalischen Analyse der ›Selbstfindung‹ Parsifals im zweiten Aufzug nachzuweisen. Wagner, Parsifal (Anm. 39), S. 30, 31, 40, 96, 107. Ebd., S. 207–208. Kaja Silverman, The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington 1988, S. 81. Wagner, Parsifal (Anm. 39), S. 305–306, 311–313. Vgl. dazu auch musikalisch im Detail Hyer, Parsifal hystérique (Anm. 38), S. 276 ff. Richard Wagner, Parsifal. Erster Prosaentwurf, in: DS, Bd. IV, S. 332–353, hier S. 339. Und das geht auch ins endgültige Textbuch ein, wenn Gurnemanz im ersten Aufzug über Parsifal sagt: »So dumm wie den / erfand bisher ich Kundry nur!« (Wagner, Parsifal [Anm. 39], S. 92–93). Vgl. Carolyn Abbate, Immortal Voices, Mortal Forms, in: Craig Ayrey, Mark Everist (Hg.), Analytical Strategies and Musical Interpretation. Essays on Nineteenth and Twentieth-Century Music, Cambridge 1996, S. 288–301, hier S. 290.

Abbildungsnachweis 1 http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bayreuth-Rheingold-1876.jpg. 2 Otto Lueger, Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Stuttgart/Leip-

zig 1904. 3, 5, 6 Parsifal 1882–1982. Une documentation illustrée autour du centenaire de la création de

l’œuvre de Richard Wagner. Exposition Halles de l’Ile, Genève, du 28 janvier au 21 février 1982, Centre culturel allemand, Paris, du 7 au 31 mars 1982, Genève 1982. 4 Richard Wagner, Parsifal. Erstdruck der Partitur, Mainz 1883. Reprint Budapest 1993.

114

Nicola Gess

115

Nietzsches Ästhetik der Intermedialität Federico Celestini

Friedrich Nietzsches Darstellung der »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen« in der Kunst wird meistens als Versuch betrachtet, die Ästhetik von der Gegenüberstellung zwischen Bildlichem und Bildlosem aus zu entfalten.1 Im vorliegenden Beitrag soll vielmehr versucht werden, den intermedialen Wechsel zwischen den beiden zu thematisieren. Zunächst soll in aller Kürze Nietzsches Anfangsposition aus seinem ersten Buch zusammengefasst werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf das vermeintliche Primat der Musik innerhalb des Dionysischen gerichtet ist. Im zweiten Teil wird der Verlust dieser Vorrangstellung in Also sprach Zarathustra analysiert. Schließlich sollen die wichtigsten Konsequenzen dieses Verlustes benannt werden. Die hier aufgestellte These besagt, dass Nietzsches Gesamtwerk eine Theorie und – zumindest im Ansatz – eine Praxis der Intermedialität liefert. I Die Geburt der Tragödie Nietzsche konstruiert im vierten Paragraphen der Geburt der Tragödie das Modell eines apollinischen Künstlers und exemplifiziert es am Beispiel von Raffaels Gemälde der Verklärung Christi (Transfiguration). Ausschlaggebend ist dabei die Verdopplung des Scheins. Diese erfolgt dadurch, dass die empirische Realität als »ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität« nach Schopenhauer bereits einigermaßen eine Welt des Scheins ist, genauer gesagt eine »in jedem Moment erzeugte Vorstellung« des »Wahrhaft-Seiende[n] und Ur-Eine[n]« als des »ewig Leidende[n] und Widerspruchsvolle[n]«. Auf diese Weise erscheint die künstlerische Traumvision als »Schein des Scheins«, nämlich als ein in einer Welt des Scheins erzeugter 117

ästhetischer Schein.2 Die platonische Struktur von Nietzsches Verdopplung des Scheins ist offenkundig, ebenso die ihm eigentümliche Umkehrung der Prioritäten und Wertungen. Denn der ästhetische Schein, obwohl, wie Platos Nachahmung einer Nachahmung, weit entfernt von der Wahrheit des Ur-Einen und daher als »Depotenziren des Scheins zum Schein« bezeichnet, wird nun keineswegs abgewertet, sondern als »eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein« eingeschätzt.3 Nietzsche betrachtet demnach den Schein als eine anthropologische Notwendigkeit, die sich jedoch als metaphysisch motiviert erweist: Die in der apollinischen Kunst stattfindende »Erlösung durch den Schein« sei ein »ewig erreichte[s] Ziel des Ur-Einen« selbst, wozu der »naive Künstler« diesem lediglich als ein Instrument dient.4 Das im fünften Paragraphen der Geburt der Tragödie dargestellte Modell des dionysischen Künstlers wird am Beispiel des Lyrikers Archilochos erläutert. Dabei beschreibt Nietzsche wiederum einen zweistufigen Prozess künstlerischer Produktion, welcher sich allerdings beim ersten Schritt von jenem der apollinischen Kunst unterscheidet. Denn wie bereits Schiller gegenüber Goethe brieflich andeutete, bestehe der »vorbereitende Zustand vor dem Actus des Dichtens« nicht etwa aus einer »Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken«, sondern vielmehr aus einer »musikalische[n] Stimmung«. Diese Einsicht in Verbindung mit der antiken Vorstellung, wonach die »Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit dem Musiker« als »natürlich« gegolten habe, sowie mit der bereits erläuterten, als »ästhetische Metaphysik« bezeichneten Theorie des Scheins ermöglicht es Nietzsche, den Lyriker zum Archetyp des dionysischen Künstlers zu »erklären«. Dieser sei »gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik«. Erst aus diesem »bild- und begrifflose[n] Wiederschein [sic!] des Urschmerzes in der Musik« erzeuge der Lyriker eine »zweite Spiegelung«, die als »Erlösung im Scheine« durchaus bildhaft ist und daher als apollinisch zu bezeichnen wäre.5 Wie der apollinische Künstler bringt der Lyriker eine doppelte Spiegelung hervor, wobei allerdings die erste eine bildlose ist. In dieser ersten, bildlosen Spiegelung ist das Primat der Musik begründet. II Also sprach Zarathustra Die Vorgeschichte Zarathustras entspricht der typischen Struktur eines Übergangsmythos: Der Held trennt sich von seiner Heimat im Alter von dreißig Jahren und geht in die Berge. Hier erfährt er seine Initiation, indem er sich zehn Jahre lang in Einsamkeit seinem Geiste widmet. Am Ende dieser Periode macht ihm die Verwandlung seines Herzens klar, dass die Zeit der Rückkehr gekommen ist. Zarathustra ist nämlich seiner erlangten Weisheit überdrüssig geworden und möchte sie den Menschen in der Form einer Lehre schenken und austeilen.6 Dabei handelt es sich um die Lehre des Übermenschen, welche in der Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen kulminiert. Die in den allerersten Zeilen der Vorrede erwähnten Stadien der Trennung, Verwandlung und Rückkehr weisen also auf die »mythische« Erzählung des Übergangs vom Menschen zum Übermenschen hin. Der Unterschied zu den traditionellen rites de passage wie Pubertät, Erwachsenwerden oder Eheschließung besteht darin, dass der Vollzug 118

Federico Celestini

des Übergangs zum Übermenschen die Entfremdung Zarathustras von seiner Gemeinschaft und somit das Scheitern der Rückkehr zu den Menschen bedeutet: Wie bereits der Freigeist des mittleren Nietzsche ist der Übermensch ein Einzelgänger. In Also sprach Zarathustra werden ausgerechnet die Dimension des Kollektiven und die Sozialisierung individueller Erfahrungen, von denen jeglicher traditionelle Mythos zehrt, zum eigentlichen Problem. Der von Nietzsche geradezu ostentativ eingesetzte sprachliche Gestus einer mythischen Erzählung und die an den Ritus mahnende Wiederholung sprachlicher Formeln (»Also sprach Zarathustra«) lassen diese Inkongruenz umso deutlicher hervortreten. Der archaisierende Sprachduktus verweist zwar auf Mythos und Ritual, das Scheitern Zarathustras an der Mitteilung seiner in den Bergen errungenen Weisheit macht jedoch deutlich, dass keine der beiden Formen eine angemessene Alternative zum philosophischen Diskurs und dem dort herrschenden »Geist der Schwere« darstellen kann. Der Leser von Nietzsches eigentümlicher mythischer Erzählung wird mit der Frage einer nicht mitteilbaren Erfahrung konfrontiert. In Also sprach Zarathustra sind der Inhalt der Lehre und das Problem von dessen Vermittlung unauflösbar miteinander verstrickt. Dies wird in Hinsicht auf die ewige Wiederkehr des Gleichen offensichtlich. Denn der zweifellos wichtigste Gedanke in Zarathustras Lehre ist nirgendwo »in der Gestalt einer philosophischen These gegenwärtig«.7 Das Zentrum dieser Lehre besteht somit aus einem »textuelle[n] Loch«.8 Das kommunikative Scheitern Zarathustras hängt offensichtlich damit zusammen, dass der Inhalt seiner Lehre eine Erfahrung von Unmittelbarkeit ist. Im Nachwort zu seiner kritischen Ausgabe von Also sprach Zarathustra erinnert Giorgio Colli daran, dass Nietzsche das Problem der Unmittelbarkeit bereits in der Geburt der Tragödie thematisiert hatte, und zwar in Bezug auf den Chor der griechischen Tragödie.9 Es handelt sich dabei um eine der zentralen Stellen in Nietzsches erstem Buch: » In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. […] Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.«10 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der vorsprachlichen Erfahrung der Unmittelbarkeit und deren Mitteilung wird von Nietzsche immer wieder neu aufgeworfen, zuletzt eben in Also sprach Zarathustra. Die abendländische Metaphysik, von Plato bis Schopenhauer, hat diese Frage durch den Rekurs auf die Dichotomie von Wesen und Erscheinung formuliert und im Verhältnis zwischen den beiden eine Antwort gesucht. Nietzsche knüpft zwar zur Zeit seiner Tragödienschrift terminologisch und strukturell an diese Tradition an, unterminiert jedoch die herkömmliche Hierarchie zwischen den dichotomischen Teilen zugunsten der in dieser Tradition stets gering geschätzten Erscheinung. Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

119

In seiner Beethoven-Festschrift hatte Richard Wagner ein dreistufiges, auf Schopenhauer basierendes Modell für die Mitteilung von Unmittelbarkeit vorgestellt. Demzufolge wird das Wesen der Welt von der Musik als dessen Idee abgebildet, welche ihrerseits im Drama eine adäquate Darstellung erhält.11 Bei aller Nähe zu Wagner in der Zeit um 1870 unterscheidet sich Nietzsche hier von ihm in einem wesentlichen Punkt: Er meidet in der Tragödienschrift den Rekurs auf die platonische Idee und spricht vielmehr vom Traum als der eigentlichen Sphäre, aus der der apollinische Künstler schöpft. Ausgerechnet in Bezug auf den Traum liefert Sigmund Freud ein weiteres Modell, welches – Carsten Zelle zufolge – eine »strukturelle Übereinstimmung« mit Nietzsches Prinzipien des Dionysischen und Apollinischen aufweist. Genauso wie Dionysos, der nur »in apollinischer Maskierung« erscheint, ist der unbewusste Traumvorgang »aufgrund der Dynamik von Traumarbeit und Traumentstellung« stets hinter der »Fassade« des manifesten, im Wachzustand erinnerten Trauminhalts »verborgen«.12 Entscheidend für die Deutung des Verhältnisses zwischen Apollinischem und Dionysischem bei Nietzsche ist nun die Art und Weise, in der dasjenige verläuft, was Zelle »Transfigurations- bzw. Transformationsprozess« des »dionysische[n] Kunsttrieb[s]« in die »apollinische Darstellung« nennt.13 Zelle hat jene Stellen in der Geburt der Tragödie hervorgehoben, welche das Paradoxon des »Dionysos absconditus« ansprechen: » Unmittelbarkeit ist durch ihre Artikulation stets schon verstummt. Das Dionysische kann nicht anders erscheinen als in apollinisch maskierter Gestalt, so daß alle Figuren der attischen Bühne wie Prometheus oder Oidipus ›nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind‹ [Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 71]. Dionysos ist verschwunden. Genauer: Er hat sich in Apollo verwandelt.«14 Sarah Kofman geht noch weiter und betrachtet das Verhältnis zwischen beiden Gottheiten als eine Verdopplung: »Apollon est, au double sens du terme, un masque de Dionysos: il en est la figure et la manifestation, mais aussi le voile; il le révèle et le dissimule – au point de finir par faire ›oublier‹ celui dont il est le double«.15 Dass Apollon Dionysos verdoppelt, heißt, dass Dionysos sich verdoppeln kann, dass er mit sich selbst nicht identisch ist, und somit, dass er keineswegs jene reine Präsenz, jenes Ur-Eine und jener Ursprung ist, welche die in der Geburt der Tragödie zweifellos unterstützte metaphysische Deutung meint.16 Die ebenfalls in Nietzsches erstem Buch gegen jene Deutung inszenierte Verstrickung des Dionysos in eine Semiotik der Maske nimmt eine besondere Bedeutung an, wenn man bedenkt, dass der Gott in der antiken Ikonographie als bloße bärtige Menschenmaske mit eingezeichneten Augen oder als eine solche dargestellt wird, die an einer Stele aufgehängt ist.17 Das von Zelle hervorgehobene MaskiertSein des Dionysos ist also in Wirklichkeit ein Sein als Maske, nämlich ein Sein, in dem das Eine bereits die Verdoppelung und die Präsenz bereits die Repräsentation ist. Richard Weihe zufolge inszenieren die Dionysos-Darstellungen »ein paradoxes Spiel 120

Federico Celestini

von Abwesenheit in der Anwesenheit oder von Anwesenheit des Abwesenden«. Daher zeigt die Maske »in mehrfacher Hinsicht nur Abwesendes: Blick, Sprache, Identität«.18 Sowohl der Dionysos-Kult als auch das Dionysos-Theater sind Erfahrungen der De-Identifikation, und beide stellen Manifestationen des Performativen dar. Weihe neigt dazu, die Tragödie als eine Art »Sublimierung« des dionysischen Kultes aufzufassen: » Wie der Dionysos-Kult ist auch das Dionysos-Theater eine durch Zeichen ermöglichte Gotteserfahrung. Doch im Theater kommt der Zuschauer nicht mehr unmittelbar mit den Zeichen in Kontakt, wie etwa beim rituellen Zerreißen des symbolischen Opfertiers in der Omophagie. Die Theaterzuschauer sitzen dem Dionysischen passiv gegenüber und sind durch die Architektur vom Bühnengeschehen getrennt. Das Theater als Ganzes wird sozusagen zum Stellvertreter der Opfergabe […].«19 In der Tragödienschrift ist Nietzsche stets zu zeigen bemüht, dass der »Zuschauer« der attischen Tragödie, im Gegensatz zu den modernen Theaterbesuchern, keineswegs passiv dem Geschehen auf der Bühne gegenüberstand. Er verringert somit die Kluft, die Weihe zufolge den Dionysos-Kult vom Dionysos-Theater trennt. Jedoch scheint der wesentliche Punkt vielmehr darin zu bestehen, dass Dionysos als Maske das semiotische Prinzip in sich aufnimmt und vertritt. Die von Nietzsche in der Tragödienschrift mehrmals gepriesene dionysische Unmittelbarkeit erweist sich zugleich als eine irreduzible Zeichenhaftigkeit, die im Kult die Form der Anbetung der Maske annimmt und im Theater durch die Maskierung der Schauspieler zum Tragen kommt. Dionysos als Vergöttlichung des Zeichenprinzips zeigt sich, indem er sich verbirgt. Der Gegensatz zwischen Unmittelbarkeit und semiotischem Verweis kommt somit zu den zahlreichen anderen hinzu, die Dionysos bereits in sich vereinigt: Präsenz und Absenz, Einheit und Zerstückelung, Leben und Tod, Tier und Mensch, Weiblichkeit und Männlichkeit, Sexualtrieb und Körperlosigkeit. Es stellt sich somit die Frage, ob Nietzsches Maskensemiotik der mittleren und späten Schriften doch ihre Wurzeln in der Tragödienschrift der Basler Zeit haben könnte. In Also sprach Zarathustra nimmt diese Semiotik die literarische Form der Allegorie an. Wenn man die hervorragende Bedeutung berücksichtigt, die im Denken Nietzsches der Rhetorik zukommt, erscheint dies keineswegs verwunderlich. Bereits Blaise Pascal hatte das von der Maske betriebene Spiel von An- und Abwesenheit in den rhetorischen Figuren festgestellt: »Figure porte absence et présence«.20 Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die allegorische Sprache in Zarathustra die Übertragung der »dionysischen« Maskensemiotik auf den schriftlichen Text darstellt. Nietzsches Aufwertung der Rhetorik geht ebenfalls auf die Basler Zeit, genauer auf die Jahre nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie zurück. Mehrere Kommentatoren haben bemerkt, dass die Lektüre der Bücher von Richard Volkmann (Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht dargestellt, Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

121

Berlin 1872) und insbesondere von Gustav Gerber (Die Sprache als Kunst, Bromberg 1871–1874) ausschlaggebend für Nietzsches erwachendes Interesse an der Rhetorik gewesen zu sein scheint.21 In den Notizen, die er für das im Sommersemester 1874 gehaltene Seminar über die Darstellung der antiken Rhetorik vorbereitet hatte, ist eine neue Einschätzung der Rhetorik und der grundlegenden Funktion, welche diese in der Sprache und darüber hinaus ausübt, deutlich ausgedrückt. Nietzsche stellt dabei fest, dass die Rhetorik keine besondere Erscheinung im Bereich der Sprache, sondern deren Prinzip darstellt: » Es ist aber nicht schwer zu beweisen, […] daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten […].«22 Nietzsche begnügt sich keineswegs mit allgemeinen Behauptungen, sondern zeigt durch konkrete Beispiele, wie alle Wörter »in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen« sind. Das Ersetzen der ganzen Anschauung durch eine Teil-Wahrnehmung (Synekdoche), die Übertragung von Raum auf Zeit, von Zeit auf Kausalität und die Bezeichnung des Geschlechtes im grammatischen genus (Metapher) sowie die Vertauschung von Ursache und Wirkung (Metonymie) sind Vorgänge, die die eigentliche Bedeutung der Worte bereits affizieren.23 Die Sprache kann insgesamt als Übertragung aufgefasst werden und damit als eine von vornherein rhetorische Leistung: » Der sprachbildende Mensch faßt nicht Dinge oder Vorgänge auf, sondern Reize: er giebt nicht Empfindungen wieder, sondern sogar nur Abbildungen von Empfindungen. Die Empfindung durch einen Nervenreiz hervorgerufen, nimmt das Ding nicht selbst auf: diese Empfindung wird nach außen hin durch ein Bild dargestellt: es fragt sich aber überhaupt, wie ein Seelenakt durch ein Tonbild darstellbar ist?«24 Die Frage nach der Vermittlung von Unmittelbarkeit tritt somit erneut in voller Evidenz in Erscheinung, und zwar zunächst in der Kantischen Formulierung der Unfassbarkeit des Dings an sich: »Nicht die Dinge treten ins Bewußtsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen[,] das πιθανόν.«25 Nietzsches Analyse führt dennoch zu ganz anderen Ergebnissen, die Philippe Lacoue-Labarthe folgendermaßen erläutert: » Zwischen dem ›Ding an sich‹ und der Sprache (dem Wort) gibt es folglich, trägt man der Trennung zwischen Ding und Empfindung Rechnung, drei Unterbrechungen, drei ›Übergänge‹ von einer ›Sphäre‹ zu einer (ihr absolut heterogenen) anderen. Was jede Möglichkeit einer wie immer gearteten Angleichung zerstört. Die Sprache gründet 122

Federico Celestini

auf einer ursprünglichen und irreduziblen Kluft, die sie zu bezwingen sucht, indem sie das Nicht-Identische identifiziert, indem sie eine Analogie einführt.«26 Wenn man die Worte Nietzsches durch ein Schema darstellt, erscheint die Kluft zwischen Ding und Wort als dreifache Unterbrechung, die mittels ebenso vieler Übergänge überbrückt werden muss: Ding → Nervenreiz → Empfindung → Tonbild (Wort). Nietzsches Schluss ist deutlich nachvollziehbar: Die Übertragung erfolgt bereits auf der Ebene der Verbindung zwischen Ding und Wort. »Übertragung gilt Nietzsche übrigens als Übersetzung des griechischen metaphora […]. Folglich ist die Sprache ursprünglich figural und tropisch, will sagen ursprünglich metaphorisch«.27 Die Metapher erscheint somit als die dem Herzen der Sprache innewohnende »Maske«, welche die Kluft zwischen Unmittelbarkeit und Zeichenhaftigkeit überspringt, und die Allegorie, von Quintilian als continua metaphora bezeichnet,28 stellt deren literarische »Fortbildung« dar. III Konsequenzen Diese Einsicht in die rhetorische Natur der Sprache hat weitreichende Folgen. Aus der Feststellung des künstlerischen Charakters der Sprache geht nämlich die Dekonstruktion der von Nietzsche in der Geburt der Tragödie dargestellten Dichotomie des Dionysischen und Apollinischen sowie des Glaubens an eine privilegierte Stellung der Musik hervor. Bereits im Titel von Nietzsches erstem Buch wird nämlich die These verkündet, dass die apollinische Darstellung, sei es als Dichtung in der Lyrik oder als Drama in der Tragödie, der Musik als dem dionysischen, ursprünglichen Moment notwendigerweise folgt. Es ist vollkommen klar, dass diese zeitliche Folge die Konsequenz einer hierarchischen Beziehung darstellt, in der die Musik als wesenhaft der Sprache bzw. dem Bild als wesensferner und abgeleitet vorausgeht. Aus der oben zitierten Passage der Vorlesung über die antike Rhetorik resultiert allerdings eine umgekehrte Reihe von Übertragungen, die von der Reizempfindung über das Bild zum Tonbild führt. Diese auffällige Umkehrung der Genese veranlasst LacoueLabarthe, festzustellen, » daß der Ursprung nicht ursprünglich ist, daß die Repräsentation der Präsenz vorausgeht, etc. Und selbstverständlich ließe sich so etwas formulieren. Denn in der Kunst, wie sie sich jetzt definiert, ist Dionysos praktisch verschwunden. Er ist, genauer, Apollo geworden. […] Apollo ist der Name des Dionysos (›ursprüngliche‹ Metapher). Dionysos kann also nicht mehr erscheinen: Apollo geht ihm voraus, und, ihm voraus – ihm, den er darstellt –, verbirgt er endgültig sein Gesicht, nimmt alle Hoffnung, daß sein wahres (das Gesicht der Wahrheit) sich eines Tages als solches enthüllen werde. Ohne Erscheinung und ohne Epiphanie, ist Dionysos von nun an ohne Identität. Er Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

123

ist kein Gott der Präsenz mehr, er riskiert nicht mehr, ein Gott der Präsenz – ein gegenwärtiger Gott zu sein. Der Gott stirbt nicht in der Tragödie, er stirbt in der Rhetorik.«29 Wiederum begegnen wir dem Dionysos absconditus. Er war uns allerdings bereits aus der Geburt der Tragödie bekannt. Demzufolge kann diese rätselhafte Erscheinung kaum als eine Konsequenz der späteren »Entdeckung« der Rhetorik betrachtet werden. Darüber hinaus sind die vermeintlichen »Verluste«, die Lacoue-Labarthe bei Dionysos auflistet, bereits in die konstitutive Widersprüchlichkeit des Gottes eingeschrieben, denn Dionysos vereint in sich Präsenz und Absenz, Identität und De-Identifikation, Unmittelbarkeit und Maskenhaftigkeit. Das »wahre Gesicht« des Dionysos ist, wie seine antiken Darstellungen zeigen, die Maske.30 Insofern kann man schwerlich vom Tod des Gottes sprechen, wenn er mit der Maske Apollons erscheint. Im Gegenteil ist die Maske Dionysos’ eigentliche Erscheinungsform und daher sein wesentlichstes Attribut. Nietzsches Artistenmetaphysik in der Geburt der Tragödie enthält, wie Dionysos selbst, ihre eigene Dekonstruktion. Diese manifestiert sich nicht zufällig am deutlichsten dort, wo es um das Maskenspiel zwischen Dionysos und Apollon geht: »Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus«.31 Diese Feststellung folgt weder der Aristotelischen Logik noch der Hegel’schen Dialektik. Vielmehr leitet sie die Kollabierung sowohl der dichotomischen Entgegensetzung des Dionysischen und Apollinischen als auch jene von deren hierarchischer Wertung ein. Der vermeintlich dionysische Nietzsche der Geburt der Tragödie ist, wie Zelle ihn nennt, vielmehr ein »Apolloniker«32 – aber doch auch nicht, denn als solcher ist er wiederum bei Dionysos. Wenn aber Dionysos in der Rhetorik lebt, dann ist es mit dem Vorrang der Musik vorbei.33 Die im Tragödienbuch behauptete Ursprünglichkeit der Musik entspricht Nietzsches Absicht, den vom Triumph der sokratisch-platonischen Dialektik getragenen Logozentrismus durch einen Schopenhauer’schen »Melozentrismus« zu ersetzen. Es ist allerdings unschwer zu erkennen, dass dieser nur eine Variante des Logozentrismus und somit der platonischen Metaphysik darstellt. Bernard Pautrat erklärt es folgendermaßen: » La musique, en tant que langue propre et adéquate, première et universelle, en tant que moment adamique de la langue, ce ne serait après tout qu’une des nombreuses variantes de l’histoire du logocentrisme: la voie de Dionysos pourrait à cet égard rivaliser avec la ›parole de Dieu‹ ou la ›voix de la conscience‹, puisque, comme elles, elle présenterait la vérité dans son immédiateté, sans altération décisive, unissant dans son souffle mélodieux: sonorité, présence, propriété, être.«34 Die Verabschiedung vom Melozentrismus, durch die rhetorische Wende veranlasst und in der latenten sowie manifesten Wagner-Kritik gleichsam schmerzlich 124

Federico Celestini

ausgekostet, kam Nietzsche sicherlich nicht leicht vor. Zweifellos profitiert die Musik davon, denn sie wird vom metaphysischen Ballast befreit, um ihre eigene, von Nietzsche in der postwagner’schen Zeit wieder entdeckte Leichtigkeit zurückzugewinnen. Zugleich wird die Sprache »musikalisiert«, und zwar in dem Sinne, dass Musik zur »regulativen« Metapher des künstlerischen, durch die fließende Beweglichkeit des Sinnes charakterisierten Sprechens wird. In einem Brief vom 2. April 1883 an Heinrich Köselitz schreibt Nietzsche: »Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser ›Zarathustra‹? Ich glaube beinahe, unter die ›Symphonien‹.«35 Und in Ecce homo ist zu lesen: »Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen«.36 Diese Selbsteinschätzung macht deutlich, dass das von Nietzsche zur Zeit seines ersten Buches behauptete Primat des Musikalischen das eigentliche Potential seiner Ästhetik verdeckt, nämlich die im Maskenspiel zwischen Dionysos und Apollon zum Ausdruck kommende Intermedialität. Denn die von Nietzsche in seinen Vorlesungen über die Rhetorik beschriebene ursprüngliche Übertragung, welche die Kluft der Repräsentation überspringt, stellt zugleich eine Übertragung zwischen Sinnen und Medien dar. Indem die Metapher ein Bild anstelle des Begriffes setzt,37 erscheint sie als die Marke jener intermedialen Überschreitung, welche jeglicher Mitteilbarkeit zugrunde liegt. »Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus«.38 Diese Aussage benennt das intermediale Maskenspiel in der Geburt der Tragödie, und zugleich stellt sie die Begründung einer Ästhetik der medialen Überschreitung dar, die in Nietzsches Werk sowohl als Theorie wie auch als Praxis wirksam ist. Zahlreich sind bei Nietzsche die diesbezüglichen Hinweise. Die bereits erwähnte Musikalisierung der Sprache und des Denkens in Also sprach Zarathustra oder die im Jahr 1882 in den sogenannten Tautenburger Thesen zur Lehre vom Stil gestellte Anforderung,39 über die mediale Bestimmung hinaus das Schreiben als mündliche Rede zu gestalten, betreffen die eigene schriftstellerische Praxis und weisen diese als Praxis der Überschreitung medialer Grenzen aus. Wir finden aber beim mittleren und späten Nietzsche auch zahlreiche Stellen, in denen die mediale Überschreitung in anderen Bereichen postuliert wird. In Der Wanderer und sein Schatten behauptet Nietzsche, man könne »viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen«.40 In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es sogar: »Man hat auch die Augen um zu hören«.41 Ein deutliches Symbol für Nietzsches Ästhetik der Intermedialität stellt der Tanz dar, eine beim späten Nietzsche allgegenwärtige Metapher für die Einbeziehung des Körpers und der Gesamtheit der Sinne in die Praxis der Signifikation. Vor dem Hintergrund der im altgriechischen Begriff der musiké beinhalteten Verbindung von Dichtung, Musik und Orchestik erscheint der metaphorische Bezug auf den Tanz als fiktionale Intermedialität, welche sowohl inhaltlich als auch strukturell zum Gegenentwurf zur Wagner’schen Vereinigung der Künste avanciert. Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft ist zu lesen: »Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: ›kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen?‹«42 Nietzsche zufolge muss man nicht nur schreiben, wie man tanzt, sondern auch so denken: »Denken [will] gelernt sein […], wie Tanzen gelernt sein will, als eine Art Tanzen« liest man in der Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

125

Götzen-Dämmerung.43 Im selben Aphorismus fasst Nietzsche seine Ideen zur Verbindung von Tanz, Denken und Schreiben folgendermaßen zusammen: »Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Feder können muss?«44 Im Tanzen finden wir noch das entscheidende Element zur Charakterisierung von Nietzsches Ästhetik der Intermedialität, nämlich die Performanz. Semiotisch betrachtet besteht die Performativität des Tanzens in drei unterschiedlichen, wenn auch miteinander verflochtenen Momenten: der Hervorbringung des Sinnes, der Verkörperung und der Selbstrepräsentation des Zeichens. Die Tanzenden verweisen nämlich auf keinen bereits bestehenden Sinn, sondern bringen diesen erst im Augenblick des Tanzens hervor. Dabei wird einsichtig, dass Nietzsches Kritik an der »Zwei-Welten-Ontologie«,45 nämlich der Unterscheidung zwischen einer Welt der Erscheinung und einer Welt des Übersinnlichen, wobei Erstere der Letzteren untergeordnet ist, aus der alternativen Auffassung der performativen Hervorbringung geführt wird. Diese besteht in der Annahme, dass die Sinnhaftigkeit der phänomenalen Wirklichkeit keineswegs der Wahrnehmung vorgegeben oder von dieser getrennt ist, sondern durch den Vollzug Letzterer konstituiert wird: Performativ erzeugter Sinn ist stets verkörperter Sinn, wie dies von den Tanzenden exemplarisch gezeigt wird. Damit ist ferner eine Auffassung von Sprache verbunden, nach der diese keinen bereits bestehenden Sinn zum Ausdruck bringt, sondern selbst das Moment der Sinnerzeugung übernimmt. Das Verhältnis zwischen Sinn und Sinnlichkeit wird somit entscheidend geändert: Brachte nach der Zwei-Welten-Ontologie das Sinnliche den Sinn zur Erscheinung, so erscheint nun das Sinnliche vielmehr als Vollzug des Sinns.46 Der durch die Tanzenden verkörperte Sinn transzendiert die sinnliche Materialität nicht länger, weil er von dieser nicht mehr zu trennen ist. Als lebendiger Signifikant stellt der tanzende Mensch das Paradigma des verkörperten Zeichens und somit die Subversion der hermeneutisch-metaphysischen Dichotomie von totem Buchstaben und lebendigem Geist samt deren Wertung dar. Schließlich geht im Tanz das zeichenhafte Tun der sich selbst repräsentierenden Tänzerinnen und Tänzer keineswegs in der Bedeutung auf, weil es sich selbst bedeutet und somit als Ursprung und Ziel der semiotischen Bewegung fungiert. Im selbstrepräsentativen Zeichen wird somit die zeichenhafte Distanz zur materiellen Präsenz, ohne dass die Zeichenfunktion kollabiert: Zeichen und Bedeutung verschmelzen selber zur Einheit. Diese Durchdringung von Zeichen und Referent nennt Nietzsche, in impliziter Anlehnung an Friedrich Creuzer, symbolisch.47 Der Augenblick, in dem sich verkörpertes Zeichen und Referenz durchdringen – das ist der dionysische Augenblick. Hier wird die Kluft zwischen Ding und Wort, zwischen Präsenz und Zeichenhaftigkeit überbrückt. Die Urszene der performativen Intermedialität sieht Nietzsche im dionysischen Dithyrambos: » Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers 126

Federico Celestini

der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.«48 Die intermediale Überschreitung überspringt die Kluft, welche die Präsenz von der Repräsentation trennt. Nietzsche zufolge ähnelt die Kunst – wie das Leben selbst – einem Seiltanz über diesem Abgrund.

Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

127

Endnoten 1 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872/86], in: KSA,

Bd. I, S. 9–156, hier S. 25; Hervorhebungen original. 2 Ebd., S. 38–39. 3 Ebd., S. 39. Siehe dazu Karl Heinz Bohrer, Ästhetik und Historismus. Nietzsches Begriff des

4 5 6 7

8 9 10 11 12 13 14

15

16 17 18 19 20 21

22

23 24 25 26

27 28 29

128

»Scheins«, in: ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981 (edition suhrkamp 1058), S. 122–123. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 39. Ebd., S. 43–44; Hervorhebungen original. Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883– 1885], in: KSA, Bd. IV, S. 11. Bernard Pautrat, Nietzsche médusé, in: Maurice de Gandillac, Bernard Pautrat (Hg.), Nietzsche aujourd’hui?, Bd. I: Intensités, Paris 1973, S. 9–30; deutsch: Nietzsche medusiert, in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich. Essays, Berlin/Wien 2003, S. 165– 182, hier S. 169; Hervorhebungen original. Ebd., S. 172. Vgl. Giorgio Colli, Nachwort zu: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KSA, Bd. IV, S. 411–416, hier S. 412–413. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 61–62; Hervorhebungen original. Vgl. Richard Wagner, Beethoven, in: DS, Bd. IX, S. 87. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, S. 326–327. Ebd., S. 327. Ebd., S. 325. Nietzsches Überzeugung, dass die Helden der Tragödie Masken des Dionysos seien, ist Gustav Adolf Seeck zufolge »nur eine Spekulation, von der man heute ganz abgekommen ist«. Siehe Gustav Adolf Seeck, Die griechische Tragödie, Stuttgart 2000 (Universal-Bibliothek. Literaturstudium 17621), S. 179. Sarah Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, Paris 1979, S. 59; Hervorhebungen original. Eine ähnliche Beziehung deckt Szondi in Schillers Dichotomie des Naiven und Sentimentalischen auf; siehe Peter Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: ders., Schriften, hg. v. Jean Bollack u. a., Frankfurt a. M. 1978, Bd. II (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 220), S. 59–105. Vgl. Kofman, Nietzsche et la scène philosophique (Anm. 15), S. 72. Vgl. Thomas H. Carpenter, Dionysian Imagery in Fifth-Century Athens, Oxford 1997 (Oxford Monographs on Classical Archaeology). Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004, S. 107. Ebd., S. 130. Blaise Pascal, Pensées, Nr. 265, in: ders., Œuvres complètes, hg. v. Louis Lafuma, Paris 1963 (L’Intégrale), S. 534. Siehe Anthonie Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 17, 1988, S. 369–390. Friedrich Nietzsche, Darstellung der antiken Rhetorik, in: KGW, Abt. II, Bd. IV: Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72 – WS 1874/75), bearb. v. Fritz Bornmann u. Mario Carpitella, Berlin/New York 1995, S. 425; Hervorhebungen original. Ebd., S. 426–427. Ebd., S. 426. Ebd. Philippe Lacoue-Labarthe, Le détour: Nietzsche et la rhétorique, Paris 1971; deutsch: Der Umweg, in: Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich. Essays (Anm. 7), S. 125–163, hier S. 138–139. Ebd., S. 139; Hervorhebungen original. Quintilian Inst. IX, II, 46. Lacoue-Labarthe, Der Umweg (Anm. 26), S. 151; Hervorhebungen original. Federico Celestini

30 Das griechische Wort prósopon bedeutet sowohl Gesicht als auch Maske; siehe dazu Weihe,

Die Paradoxie der Maske (Anm. 18), S. 99–104. 31 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 140. Sarah Kofman spricht treffend von

32 33

34 35 36 37

38 39

40 41 42 43 44 45

46

47 48

einer »rivalité mimétique« zwischen den beiden Göttern (Kofman, Nietzsche et la scène philosophique [Anm. 15], S. 64). Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne (Anm. 12), S. 304. Damit ist auch die vermeintliche Vaterschaft bzw. Mutterschaft des Dionysos außer Kraft gesetzt. Sarah Kofman formuliert dies folgendermaßen: »Apollon contre Dionysos, en ce sens, ce n’est plus le fils voulant prendre le place du père, renverser une hiérarchie naturelle, c’est bien un combat entre deux doubles« (ebd., S. 68). Bernard Pautrat, Versions du soleil. Figures et systèmes de Nietzsche, Paris 1971 (L’Ordre philosophique), S. 73. KSB, Bd. VI, S. 353. Friedrich Nietzsche, Ecce homo [1889], in: KSA, Bd. VI, S. 335. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 60: »Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.« Siehe hierzu den Beitrag von Andreas Dorschel im vorliegenden Band. Ebd., S. 140. Vgl. Hans Martin Gauger, Nietzsches Auffassung vom Stil, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 633), S. 200– 214. Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: KSA, Bd. II, S. 660. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1882], in: KSA, Bd. III, S. 510. Ebd., S. 614. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert [1889], in: KSA, Bd. VI, S. 109; Hervorhebung original. Ebd.; Hervorhebung original. Sybille Krämer, Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch (Hg.), Kulturen des Performativen, Berlin 1998 (Sonderband Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7, H. 1), S. 33–34. Nietzsche artikuliert diese Kritik mehrfach. Es sei exemplarisch folgende Stelle zitiert, in der sie als implizite, dennoch überdeutlich erkennbare Platon-Kritik formuliert ist (Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: KSA, Bd. I, S. 880): »[…] als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ›Blatt‹ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre«. Sybille Krämer, Sinnlichkeit, Denken, Medien. Von der »Sinnlichkeit als Erkenntnisform« zur »Sinnlichkeit als Performanz«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Der Sinn der Sinne, Göttingen 1998 (Schriftenreihe Forum 8), S. 33–34. Siehe dazu ausführlicher Federico Celestini, Die Philologie des Tanzes; Druck in Vorbereitung. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 1), S. 33–34.

Nietzsches Ästhetik der Intermedialität

129

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«. Friedrich Nietzsche, Gustav Mahler und der schöpferische Tanz des Dirigenten. Eine phänomenologische Skizze Silvan Moosmüller

I Wie man mit dem Hammer musiziert Wie ließen sich die Korrespondenzen beschreiben zwischen einem Philosophen, der mit dem Hammer philosophiert, und einem Komponisten, der mit dem Taktstock musiziert?1 Die folgenden Überlegungen verstehen sich weniger als eine Geschichte von Gustav Mahlers Rezeption der Werke Friedrich Nietzsches.2 Sie zielen, als vorläufiger Versuch, eher auf etwas, das man als ›Phänomenologie des Dionysischen‹ umschreiben könnte, worin sich der Philosoph Nietzsche und der Komponist Mahler – möglicherweise auch gegen ihre eigene Intention – in einer spezifischen Weise beleuchten. In diesem übergeordneten Rahmen entwickelt die Argumentation, ausgehend von Nietzsches späten Ausführungen zum dionysischen Tanz, die Analysekategorien für eine spezifische Qualität des Musikalisch-Unbildlichen, die anhand einer Stelle aus Mahlers Dritter Symphonie an einem konkreten Beispiel erprobt werden sollen. Vielleicht hat die Beziehung zwischen Friedrich Nietzsche und Gustav Mahler selber eine apollinische und eine dionysische Seite. Also zum einen eine ›offizielle‹ Seite, die sich über Dokumente der Rezeptionsgeschichte faktisch erschließen lässt. Und zum anderen eine inoffizielle Seite: eine Seite, die in Form von zufälligen, allenfalls unbewussten, dabei aber besonders schlagenden Übereinstimmungen zwischen den Werken zutage tritt. Man kann mögliche Verbindungen zwischen Nietzsche und Mahler also gleichsam unter dem Aspekt der Ordnung und jenem der Unordnung in den Blick nehmen. Denn gerade bei kreativen, oftmals vielleicht sogar wilden Denkern,3 deren Arbeitsethos sprunghaft verfährt und mit Widersprüchen behaftet ist, muss in Anschlag gebracht werden, was Roberto Calasso in seiner Studie über Charles 131

Baudelaire zu bedenken gibt: dass in der Geschichte der Intelligenz und der Sensibilität die »Absichten« womöglich den »hinfälligsten und unwirksamsten Teil« ausmachen. Oftmals treten Überschneidungen, Bestätigungen und Koinzidenzen gerade nicht im Umkreis »angeblicher Affinitäten« auf, sondern liegen abseits der Positionen, die nach außen hin vertreten werden.4 Die vordergründig stärkste Affinität zwischen Friedrich Nietzsche und Gustav Mahler, die dementsprechend immer wieder und mit gutem Recht als tertium comparationis angeführt wurde, bildet zweifellos das Musikdrama Richard Wagners.5 Nietzsche hat als Wagnerianer begonnen, Mahler ist sein Leben lang Wagnerianer geblieben. Dennoch gibt es auf beiden Seiten Irritationen: Bei Nietzsche treten sie offen zutage zwischen dem enthusiastischen Wagner-Zuspruch seiner frühen Schriften und der bissigen Polemik gegen Wagner in seinem späten Œuvre. Was Mahler betrifft, so sind die Irritationen weniger offenkundig. Ein vergleichbarer Bruch mit Wagner ist bei ihm nicht festzustellen. Gerade angesichts dieser lebenslangen Zuneigung zum Musikdrama ist es aber bemerkenswert, dass Mahler selber nie ein Werk für die Bühne komponiert hat. Im Gegenteil scheint ihn als Komponist gerade die Transformation des Musikdramas in den Gattungshorizont der Symphonie interessiert zu haben. Horst Weber brachte diese Tendenz auf die griffige Formel: »Wie Wagner die Bühne, so macht Mahler das Konzertpodium zum Spiel-Raum seines Welttheaters.«6 Die damit verbundene Transformation hat Susanne Vill darauf zurückgeführt, dass für die Thematik der Symphonien Mahlers »die Bühne seiner Zeit zu eng und zu realistisch« war. Stattdessen rufen, so Vill weiter, »die literarischen Strukturteile seiner Kompositionen […] eine Visualisierung der Bilder und Vorgänge auf, die ein Theater im Kopf, eine Dioptrik zwischen Text, Klang und Bild schafft«. Folglich sei bei Mahler ein »Bruch mit der Konkretion des Bildes« festzustellen sowie insgesamt eine »Kapitulation der Handlung, des Optischen vor dem Geistigen«.7 Folgt man diesen Überlegungen, hätte Mahlers Experiment demnach in einer Art ›Wiedergeburt des Musikdramas aus dem Geiste der Konzertsituation‹ bestanden. Vor diesem Hintergrund könnte man Wagners Musikdrama, um eine Metapher aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra zu bemühen, als jenen »tanzenden Stern« bezeichnen,8 der sowohl für Nietzsche als auch für Mahler zugleich Fixpunkt und Stein des Anstoßes war. Hierauf aufbauend möchte ich im Folgenden die Richtung für einmal umdrehen und zu argumentieren versuchen, dass zwischen Mahler und Nietzsche wesentliche Korrespondenzen nicht nur im Einzugsbereich des Musikdramas auftreten, sondern sich gerade auch dort zeigen, wo sich beide auf ihre je eigene Weise über diese Konzeption hinwegsetzen. Im Zentrum dieser Korrespondenzen sehe ich eine spezifische Art des ›Gestischen‹ – vielleicht könnte man auch treffender von einer Art des Haptischen oder Schlagartigen sprechen –, für das Nietzsches späte Poetik des Tanzes das Stichwort gibt9 und das bei Gustav Mahler, so die These, über seine Erfahrung als dirigierender Komponist in die Konzeption der Symphonien eingewandert ist. In beiden Fällen handelt es sich um eine unbildliche oder ›blinde‹ Gestik, die sich vom ›Vor-Bild‹ des Musikdramas – und überhaupt vom Bereich der (szenischen) Darstellung – ablöst. Der Weg zu einer solchen Art der Gestik 132

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

führt meiner These zufolge über eine Differenz des Dionysischen, jene Differenz eben, die sich zwischen Nietzsches frühen, von Wagner inspirierten und seinen späten, gegen Wagner gerichteten Schriften auftut. II Die Differenz des Dionysischen »[W]ie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen?…«10 Dies ist schlagwortartig die Frage, die Friedrich Nietzsche in der nachgereichten Selbstkritik zu seiner Geburt der Tragödie aufwirft. Für Nietzsche ist es somit eine Kritik, die sich vor allen Dingen gegen seine eigene Konzeption des Dionysischen richtet, wie er sie in seinem Tragödienbuch noch im Hinblick auf die musikdramatischen Ideen Richard Wagners entwickelt hatte. Die Frage, die sich für Nietzsche im selbstkritischen Rückblick auf diese nunmehr verworfene Auffassung eines Romantisch-Dionysischen stellt, lautet somit: Wie sähe ein Gegenentwurf des Dionysischen jenseits oder – vielleicht präziser noch – diesseits des Musikdramas aus? Ein Dionysisches, das sich vom Romantischen lossagt, nicht mehr romantisch-dionysisch, sondern – schlechthin tautologisch – dionysisch-dionysisch. Anstatt sich die Mühe zu machen, diese Frage argumentativ zu beantworten, hat Nietzsche an den Schluss seines »Versuchs einer Selbstkritik« eine einschlägige Passage aus dem Zarathustra gesetzt. Mit dieser Passage lässt Nietzsche das Ende seiner »Selbstkritik« in jenes Pathos der Heiterkeit übergehen, das seiner späteren Philosophie des Tanzes die Richtung weisen wird: » Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf! […] Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: – […] Einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt […]!«11 Nietzsches Selbstkritik endet mit einem Selbstzitat. Das ist zum einen eine nicht ganz unbescheidene Dramaturgie. Es ist zum anderen aber auch ein rhetorischer Kunstgriff, mit dem Nietzsche über den eigenen Schatten springt. Statt eine Antwort auf die aufgeworfene Frage eines Dionysischen in der Musik zu geben, wendet er das Argument ins Performative. Die Zeilen beginnen zu tanzen und erreichen dadurch eine Höhe, von der aus sich das Antworten überhaupt zu erübrigen scheint. (Wozu noch antworten, wenn man schon tanzt?) Dennoch hat Nietzsche mit diesem Selbstzitat eine Fährte gelegt: Der Zielpunkt für eine Musik, die danach trachtet, sich von ihrem romantischen Ursprung abzulösen, bestünde in ihrer Rückführung auf jene Poetik des Tanzes, die Nietzsche im Zarathustra als Medium dionysischen Erlebens feiert. Bei näherem Hinsehen greift Nietzsche damit aber letztlich nur einen Aspekt wieder auf, den er bereits in den ersten Kapiteln seiner Geburt der Tragödie entwickelt hatte, der dann aber im Silvan Moosmüller

133

weiteren Verlauf dieses Buches zunehmend wieder hinter das übermächtige ›Vor-Bild‹ Richard Wagner zurückgetreten war. Schon in Die Geburt der Tragödie hat Nietzsche nämlich eine Physiognomie angedacht, bei der »die alle Glieder bewegende Tanzgebärde« als jene schöpferische Triebkraft erfahren wird, die jeglicher Art der symbolischen Darstellung, also auch jener besonders unmittelbaren, die die Musik leistet, noch vorangeht: »Im dionysischen Dithyrambus«, schreibt Nietzsche im zweiten Kapitel des Tragödienbuchs, »wird der Mensch zur Steigerung aller seiner symbolischen Kräfte gereizt, etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur«.12 Damit lokalisiert Nietzsche den schöpferischen Ausgangspunkt der Musikproduktion, anders als dies Wagner in seinem Beethoven-Aufsatz tut,13 gerade nicht im Bereich des Traumes und der Imagination, sondern sieht deren Urgrund in einer physischen Weltbezogenheit, als deren Inbild der dionysische Rauschkünstler erscheint. Mit diesem Schritt stellt Nietzsche Wagners Theorie des Schöpferischen quasi vom Kopf auf die Füße. Worauf es bei dieser dionysischen Erfahrung im Tanz ankommt, machen die zitierten Passagen deutlich. Zur Debatte steht der Tanz nicht als sichtbares Phänomen. Maßgebend ist vielmehr die körperliche Energie des Tänzers selber, also eine Perspektive auf den Tanz von innen heraus:14 Der Tänzer, der sich selber nicht tanzen sieht, der aber jenen körperlichen Schub in sich vorbereitet, der im Moment des Tanzschrittes nach außen oder – gemäß Nietzsches Topologie – sogar in die Höhe freigesetzt wird. »Sodann«, also als Effekt dieser rauschhaften Erfahrung, heißt es bei Nietzsche weiter, »wachsen die anderen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm«.15 Die Versuchsanordnung, wie sie Nietzsche zu Beginn von Die Geburt der Tragödie exponiert, kennzeichnet den dionysischen Tänzer also vor allen Dingen als Vollstrecker einer unsichtbaren Energie, die sich gerade dadurch entfesselt, dass sie ungebändigt über den Horizont der Darstellung hinausschießt. Über diese Affizierung im dionysischen Tanz vollzieht der Mensch gemäß Nietzsche eine Grenzüberschreitung, die ihn zum »Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit [macht]: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen«.16 Solche Passagen in Die Geburt der Tragödie weisen bereits deutlich auf jene Poetik des Tanzes voraus, die Nietzsche einige Jahre später in seinem Zarathustra mit aller Macht entfalten wird. Im weiteren Verlauf seiner Tragödienschrift bleibt hingegen von diesem aktiven, schöpferischen Potenzial der Tanzgebärde nicht sonderlich viel übrig. Nietzsche überlagert seine ursprüngliche Idee zunehmend mit einem anderen Modell des Gestischen, bis er schließlich mit seinem Konzept der apollinischen Täuschung im Wesentlichen den Standpunkt erreicht hat, den Wagner in seinem Beethoven-Essay vertritt. Damit rückt auch bei Nietzsche eine musikalische Konzeption des Gestischen in den Mittelpunkt, die gerade nicht mehr den dionysischen Vollzug einer unbildlichen Entgrenzung nach außen hin meint, sondern im Gegenteil eine Art des Gestischen bezeichnet, die aus dem apollinischen Bereich der Traumbilder zur Musik hinzutritt. Im Zusammenspiel mit der Musik ergibt sich eine »tönende Choreographie«,17 die im Imaginären eingeschlossen bleibt. Dort wird die 134

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

musikalisierte Geste zur Trägerin der inneren Handlung, die der »schaubaren Bühnenwelt« des Musikdramas zugrunde liegt.18 Die Verlaufsrichtung ist somit umgedreht: Statt der unsichtbaren, schöpferischen Kraft des Tänzers, die sich nach außen entlädt, steht jetzt das unendliche Oszillieren der Gesten, die im inwendigen Traumbereich entzifferbar werden. Wagner expliziert diesen Vorgang in den Meistersingern als »Wahrtraum-Deuterei«.19 Wie sich zeigt, ist es just diese Tendenz zur verinnerlichten Bildlichkeit, die Nietzsche in seinen späten Schriften gegen Wagner aufbringt, etwa wenn er in einem Fragment seine »eigenthümliche Qual« mit Wagner darauf zurückführt, dass » diese Musik einem Gemälde gleicht, welches mir nicht erlaubt, auf Einem Platz zu bleiben… daß beständig das Auge, um zu verstehen, sich anders einstellen muß: bald myopisch, damit ihm die raffinirteste Mosaik-Ciseleurarbeit nicht entgeht, bald für verwegene und brutale Fresken, welche sehr aus der Ferne gesehen werden wollen. Das Nicht-festhalten-können einer bestimmten Optik macht den Stil der Wagnerschen Musik aus: Stil hier im Sinne von Stil-Unfähigkeit gebraucht[.]«20 Was Nietzsche in dieser Schilderung der Wagner’schen Musik herausstellt, ist somit gerade nicht ihr Unbildliches, sondern vielmehr die vexierbildartige Verschiebung der Perspektiven, die dem Hörer dadurch aufgezwungen wird, dass sich bei Wagner die Totale in das Schillern einzelner Partikel, Farben und Formen auflöst, die sich in einem unablässigen Verweisspiel immer wieder von Neuem zusammensetzen. Es ist im Grunde diese permanente Jagd nach Bildern im Schwellenstadium ihres Entstehens und Vergehens, durch die Wagners Musik – gemäß Nietzsches bildlicher Beschreibung – ihren magnetisierenden Sog ausübt. Dieses Eingesponnen-Werden in den traumwandlerischen »Beziehungszauber« (Thomas Mann), der sich im Musikdrama über die imaginäre Verkettung musikalischer Gebärden ausbreitet, erfährt der späte Nietzsche als Überdruck einer Musik, die nahe dabei ist, das inwendige Gefüge zu sprengen, ohne diese maximale Spannung je aufzulösen. Im Prinzip ist es dieses »Athem-Anhalten des Wagnerischen Pathos, dies Nicht-mehr-loslassen-Wollen eines extremen Gefühls, diese Schrecken einflössende Länge in Zuständen, wo der Augenblick schon erwürgen will! – –«,21 also im Ganzen: dieser an Wagner nachempfundene »Geist der Schwere«22 als Zentrum von Nietzsches Kritik an der Romantik insgesamt, wovon in Also sprach Zarathustra die Überlegungen zum Tanz ihren Anlauf nehmen, mit dem Ziel, über solche Schwere hinwegzuschreiten. Hatte in seinem Konzept der apollinischen Täuschung die imaginäre Gebärde noch die Funktion erfüllt, die dionysische Wirkmacht der Musik zu mildern und einzudämmen, so wird sie beim späten Nietzsche als Mittel einer emotionalen Stauung entlarvt: ein Mittel, welches die unwillkürliche, gebündelte Kraft des Dionysischen ins Anschauliche hineinwebt, sie verzerrt, in die Länge zieht und – vor allem – daran hindert, aus dem intern sich ausbreitenden Verweiszusammenhang auszubrechen. Just an diesem Punkt des Überdrucks gewinnt Nietzsches späte Poetik des Tanzes ihre Silvan Moosmüller

135

Kontur. Dabei besteht ihr Unternehmen hauptsächlich darin, jene ursprüngliche Kraft der Tanzgebärde, die im Laufe von Die Geburt der Tragödie immer stärker durch das Imaginäre verdeckt wurde, wieder von diesem Imaginären zu lösen und ins Körperlich-Leibliche zu übersetzen. Die Verbindung zwischen Geste und Darstellung soll erneut zerreißen. Für diese Absetzbewegung bildet beim späten Nietzsche der tanzende und lachende Körper das Medium einer auf den Moment bezogenen Ekstase, als ob dem Tänzer zwischen jedem Schritt das Bewusstsein abhandenkäme. Daraus gewinnt der späte Nietzsche das Instrument seiner dionysischen Poetik der Grenzüberschreitung, mit der er gegen die romantische Poetik der Grenzauflösung ins Feld zieht.23 An die Stelle der kontemplativen Verinnerlichung, die sich ins Unendliche ausdehnt, tritt die dionysische Eruption, die noch im Moment des Ausbruchs ihre ganze Kraft verbraucht. Am anderen Ende des Unendlichen erscheint die Eigengesetzlichkeit des in sich verschlossenen Augenblicks. Das deutlichste Anzeichen für diese im Moment sich entfesselnde Tanzgebärde ist beim späten Nietzsche die allgegenwärtige Metapher des Blitzes (im Gegensatz zur Meer- und Strommetaphorik seiner frühen, von Wagner inspirierten Schriften), also paradoxerweise zwar wiederum ein Bild: ein Bild aber von maximaler Konzentration und abstrakter Gewalt. III Der Blitzschlag in der Hand des Dirigenten Nietzsche hat für jene Art dionysischer Musik, die er in der Vorrede zur Geburt der Tragödie in Aussicht stellt, keine konkreten Beispiele genannt. Die Frage, wie eine solche Musik beschaffen sein müsste, lässt sich demzufolge nur hypothetisch beantworten, indem man zu jenen Aspekten, die Nietzsche an Wagners romantisch-dionysischem Musikdrama negativ konnotiert, die positiven Gegenstücke sucht. Gerade in dieser Hinsicht ist Gustav Mahler ein instruktives Beispiel, insbesondere dessen Dritte Symphonie, in der sich Mahlers Nietzsche-Lektüre bekanntlich am direktesten niedergeschlagen hat (der vierte Satz ist eine Vertonung von Zarathustras »Mitternachtslied«). Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine Stelle des Kopfsatzes, für die Nietzsches Gegensatzpaar eines Romantisch-Dionysischen und eines Dionysisch-Dionysischen brauchbare Analysekategorien liefert. Genauer handelt es sich um den Übergang zwischen Exposition und Durchführung – aus der Optik der Sonatenhauptsatzform also um eine formale Schnittstelle –, wo ein Wendepunkt erreicht ist, an dem die beiden mit Nietzsche beschriebenen Extrempole des Dionysischen abrupt ineinander umzuschlagen scheinen. Ab Ziffer 19 (Takt 239) beginnt eine langgezogene, durch Marsch-Idiome vorangetriebene Strecke, deren orchestrales Volumen spiralförmig zunimmt. Im Verlauf dieser Steigerungskurve werden durchaus bildliche Assoziationen wachgerufen, im Sinne einer dramaturgisch auskomponierten Szene, die ein imaginäres Theater auslöst. Vor dem inneren Auge des Hörers mag etwa das Bild eines Aufmarsches verschiedener Truppen entstehen, die herannahen und sich wieder entfernen, wobei das Gesamtvolumen stetig anwächst. Musikalisch lässt sich dieses Massenerlebnis als energetische Stauung beschreiben, die über weit mehr als hundert Takte kontinuierlich aufgebaut wird. Erst bei Takt 362 bricht der Spannungsbogen, und die gesamte 136

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

Energie entlädt sich in einem katapultartigen Befreiungsschlag, als würde aus dem energetischen Langzeitprozess in Sekundenschnelle die Konsequenz gezogen [Notenbeispiel 1]. Das Entscheidende dabei ist, dass bei Mahler zwischen dem kontinuierlichen Wachstum des Orchestervolumens und dem Augenblick seiner Entladung ein unvermittelter Riss entsteht. Dadurch kommt die Kulmination zwar am Scheitelpunkt einer Langzeitentwicklung zu liegen, wird dann aber im Moment des Ausbruchs durch eine kurze Atempause davon losgerissen. An der Schnittstelle zwischen Exposition und Durchführung steht diese plötzliche Eruption als blinder Fleck. Am formalen Ort eines Übergangs verschmilzt ein Moment klanglicher Ekstase mit einem Aspekt der kompositorischen Ordnung. Der resultierende Eindruck gleicht der Wirkung einer unsichtbaren Hand, die mit einem einzigen, konzentrierten Streich den orchestralen Klanghimmel aufreißt. Auf dieses Zusammenwirken von Entgrenzung und Formbildung bei Mahler hat bereits Theodor W. Adorno hingewiesen. In seiner Physiognomik beschreibt Adorno, wie sich solche Schnittstellen in der Form bei Mahler mit einem »körperliche[n] Ruck« bemerkbar machen. »Der Riß«, so fasst Adorno diesen Eindruck zusammen, »erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen.«24 Die Frage wäre dann, wo bei Mahler dieses ›Drüben‹ liegt – und wer den Eingriff vollzieht. In solchen Fällen an eine Form der Transzendenz zu denken, ist naheliegend und an dieser Stelle der Dritten Symphonie nicht einmal abwegig. Denn bei genauerem Studium entpuppt sich dieser Durchbruch der Dritten als Selbstzitat aus Mahlers Zweiter Symphonie, die bekanntlich den programmatischen Beinamen »Auferstehung« trägt. Dieser intertextuelle Bezug ist erhellend, denn in der Auferstehungssymphonie erscheint die korrespondierende Stelle in einer noch klarer umrissenen Dramaturgie. Sie folgt unmittelbar auf das misterioso des tuba mirum und führt, nachdem das Auferstehungsmotiv verklungen ist, zur ersten explosionsartigen Aufhellung im Finalsatz [Notenbeispiel 2]. Mit diesem Ausbruch, der sich noch im vorderen Drittel des Finales ereignet, exponiert Mahler auf einen Schlag jenes Licht, das im weiteren Verlauf des Satzes leitmotivartig wiederkehren wird. In der Erlösungsbotschaft des Schlusschores heißt es dann, es sei das »Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«. Das sind Worte, die Mahler aus seiner eigenen Feder der übernommenen Textvorlage Friedrich Gottlieb Klopstocks hinzugefügt hat und die für ihn demnach eine besonders wesentliche Aussage dieser Schlussapotheose bildeten. Während dieses musikalische Licht in der Auferstehungssymphonie noch eine deutlich programmatische Seite im Sinne der Transzendenz offenbart, wird es an der entsprechenden Stelle der Dritten Symphonie entzaubert und kurzerhand auf einen Vorgang der musikalischen Praxis zurückgeführt. Mahler selbst gibt hierzu den entscheidenden Hinweis. Eine technische Randbemerkung, die sich auf die Entfesselung des Lichtwirbels bezieht, enthält die Anweisung an den Dirigenten: »Zum Akkord ausholen«.25 Mit dieser gestischen Aufforderung leitet Mahler den Dirigenten an, die Kollektivkraft zu entfesseln, die sich in die Stille vor dem Durchbruch zurückgestaut hat. Das bedeutet also, dass das einschneidende Vakuum, mit dem der Durchbruch Silvan Moosmüller

137

Notenbeispiel 1

138

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3 (d-Moll), 1. Satz, T. 360–368.

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

Silvan Moosmüller

139

Notenbeispiel 2

140

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 2 (c-Moll), 5. Satz, Takte 142–166.

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

Silvan Moosmüller

141

vom Langzeitverlauf abgespalten wird, explizit durch eine Gebärde des Dirigenten vermittelt, ja von Mahler sogar als solche komponiert ist. Für den Bruchteil einer Sekunde versammelt sich das ganze Klangvolumen des Orchesters im stummen Körper des Dirigenten, um, nachdem es sich dort gebündelt hat, mit einer einzigen Ausholbewegung wieder in den Klangapparat zurückgeschleudert zu werden. Nachdem der Dirigent über mehrere Minuten einen kontinuierlichen Spannungsaufbau zu leisten hatte, wird er hier in die Lage versetzt, mit einem einzigen konzentrierten Streich die ganze Wucht des versammelten Orchesters zu entfachen. Die durchschlagende Kraft dieser dirigentischen Gebärde ist somit, wie wir das bei Nietzsche beobachten konnten, ebenfalls durch eine Art Überdruck gezeitigt, der allmählich seine Sprengwirkung aufbaut, um dann eruptiv nach außen hin loszubrechen. Noch eindringlicher in diese Richtung weist Mahlers Anmerkung für den Dirigenten an der entsprechenden Stelle der Zweiten Symphonie: »Das cresc. dauert bis zum Eintritt der Streicher und Holzbläser und muss sehr mächtig sein; der Dirigent muss das Tempo so lange zurückhalten, bis die grösste Kraft erreicht ist.«26 Innerhalb dieses schubartigen Wirkungsgefüges erlebt sich der Dirigent quasi als Mittelpunkt der flottierenden Energien. Es ist seine schöpferische Gebärde, die eine innere Spannung blitzartig erfasst, nach außen kehrt und im Zusammenwirken mit dem Orchester zur klanglichen Realität werden lässt. An diesem Punkt gibt der Dirigent das Paradebeispiel für die Kategorie des Dionysischen beim späten Nietzsche. Die körperliche Entgrenzung eines Einzelnen bewirkt in einem flüchtigen Augenblick eine Art von Totalitätserfahrung, die sich noch in ihrem Vollzug wieder verbraucht. Mahler selbst hat auf die eigentümliche Macht dieser Augenblicke hingewiesen, wenn er mit einer einzigen Gebärde »alle aus ihrem kleinen Ich herausfahren lässt«.27 Die Symbolik der Transzendenz, die diesen exponierten Stellen in der Zweiten und der Dritten auf einer ideellen Ebene zukommen mag, wird somit erst richtig greifbar, wenn man sie aus dem Erfahrungshorizont des Dirigenten Mahler mitreflektiert. Denn die Idee von Transzendenz ist bei Mahler an solchen Stellen nicht nur ausgedacht, sondern in einen performativ-leiblichen und damit zutiefst immanenten Vollzug eingewurzelt, der diesseits des akustisch Darstellbaren beginnt. Die metaphysische Seite für diesen Ausdruck der Transzendenz gründet sich auf die Physis des dirigierenden Körpers. (Eine für Mahler nicht untypische Fallhöhe und zudem diskurshistorisch erklärbar durch die zeitgenössischen Positionen des Materialismus, die Mahler mit Interesse rezipierte.28) Das »Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«, wird also deshalb von niemandem gesehen, weil es in seiner unverfälschten Intensität nur dem Körper des Dirigenten zugänglich ist, der es in der performativen Situation der Aufführung in sich entzündet. Der daraus resultierende Klang, als musikalische Darstellung eines unsichtbaren, inneren Moments, vermag von dieser Eruption nur eine Art Abglanz zu geben. Zugleich aber nimmt die Musik die Züge der besagten Eruption in sich auf. Die Physiognomie der schöpferischen Gebärde materialisiert sich im darauffolgenden Klangereignis, ähnlich wie sich die Hand eines Töpfers in der Tonmasse abdrückt. Schon in der Auferstehungssymphonie, besonders deutlich aber in Mahlers Dritter zeigen sich die Umrisse der dirigentischen Gebärde unmittelbar am motivischen Material 142

»Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

(siehe Notenbeispiel 1). Das Ausholen zum Schlag teilt sich in dichter Staffelung den einzelnen Klanggruppen mit und reißt das gesamte Orchester in die Höhe. Besonders deutlich ausgeprägt ist diese Aufwärtsbewegung im katapultartigen Oktavsprung der Trompeten, der durch die rhythmische Punktierung mit zusätzlicher Schleuderwirkung versehen ist. Diese Tendenz nach oben franst dann mit den Harfenarpeggien und den aufwärtsgerichteten Linien der Bläser und Streicher aus. Indem sich an solchen Stellen die schöpferische Gebärde des Dirigenten in den Klangapparat hinein fortsetzt, eignet auch ihnen etwas in radikaler Weise Gestisches. Der Unterschied dieser Art von Gestik oder Haptik zu jener »dramatischen Mimik«, wie sie der späte Nietzsche im Zentrum von Wagners Musikdrama sah,29 besteht hauptsächlich darin, dass in den gezeigten Beispielen nicht die szenischen Vorgänge auf einer realen oder einer imaginären Bühne das Vor-Bild abgeben. Stattdessen sind es bei Mahler jene unbildlichen Kräfte, die zwischen Dirigent und Orchester wirken. Von der Warte des Dirigenten – und damit aus Mahlers Erfahrungshorizont – betrachtet, ist es also in erster Linie der ›gesetzgebende‹, rein energetisch empfundene Impuls, der die Perspektive auf den schöpferischen Tanz vorgibt. Wie Nietzsches Tänzer kann auch der Dirigent seine eigene Gebärde nicht sehen. Das zeugende Moment besteht vielmehr in einer körperlichen Regung, die sich im Augenblick ihres Nachaußentretens reflexartig im klanglichen Spiegel des Orchesters bricht. Dadurch wird die Ekstase des Dirigenten bei Mahler zur Instanz der Formbildung. Das Scharnier bilden jene disponierenden Akte, mit denen Mahler als Komponist das musikalische Material in vergleichbarer Weise strukturiert, wie Mahler als Dirigent über das Orchester waltet. Dieses Konzept könnte man mit einem treffenden Wort von Pierre Boulez als das einer »geteilte[n] Geste« umschreiben,30 in der Dirigent und Komponist miteinander übereinkommen: der Komponist, indem er die Aktion des Dirigenten schriftlich fixiert, der Dirigent, indem er diese Niederschrift am eigenen Körper wieder lebendig macht. Mahlers Konzept des Schöpferischen ist demzufolge ein Doppeltes. Das Entstehen eines Werkes im Komponieren und dessen ›Auferstehung‹ beim Dirigieren präsentieren sich als zwei Seiten derselben Medaille. Oder mit Peter Gülke gesprochen: » Wo hört der Komponist auf, wo fängt der Dirigent an? – wer so fragt, setzt eine Arbeitsteilung voraus, welche der Totalität, dem Anspruch und Ethos von Mahlers Wirksamkeit fremd ist. Der Komponist, angefangen bei der einzelnen Note, läßt sich ohne den Interpreten nicht verstehen, der Interpret, angefangen bei irgendeiner Tempomodifikation, nicht ohne den Komponisten.«31 Als ›Kapellmeistermusik‹ in einem wertneutralen Sinn könnte man Mahlers Musik also vielleicht aus dem naheliegenden Grund bezeichnen, weil in ihr die ekstatischsten Momente, also jene Augenblicke des Dionysischen, nicht der dichterischen Einbildungskraft entspringen, sondern vielmehr die Erfahrung eines Musizierens aus dem Moment heraus zur tragenden Struktur gerinnen lassen. Silvan Moosmüller

143

Endnoten 1 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert

[1889], in: KSA, Bd. VI, S. 55–160. 2 Zu Mahlers Nietzsche-Rezeption vgl. die einschlägigen Kapitel bei Federico Celestini, Die

3 4 5 6

7

8 9 10 11 12 13 14

15 16 17

18 19

20 21 22 23 24

144

Unordnung der Dinge. Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914), Stuttgart 2006 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 56). Weiterführend zu Mahler und Nietzsche vgl. auch Albrecht Dammeyer, Pathos – Parodie – Provokation. Authentizität versus Medienskepsis bei Friedrich Nietzsche und Gustav Mahler, Würzburg 2005; Eveline Nikkels, »O Mensch! Gib Acht!« Friedrich Nietzsches Bedeutung für Gustav Mahler, Amsterdam/Atlanta (GA) 1989. Vgl. Beate Kutschke, Wildes Denken in der Neuen Musik. Die Idee vom »Ende der Geschichte« bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm, Würzburg 2002. Roberto Calasso, La folie Baudelaire, Milano 2008 (Biblioteca Adelphi 531); deutsch: Der Traum Baudelaires, übers. v. Reinmar Klein, München 2012, S. 137. Zu der vermittelnden Rolle von Richard Wagners Musikdramen für Mahlers Zugang zum Werk Friedrich Nietzsches vgl. Celestini, Die Unordnung der Dinge (Anm. 2), S. 59–60. Horst Weber, Mahler und Wagner, in: Bernd Sponheuer u. a. (Hg.), Gustav Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts. Referate des Bonner Symposions 2000, Frankfurt a. M. 2001 (Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 5), S. 201–210, hier S. 204. Susanne Vill, Mahler und Wagner – sichtbares und unsichtbares Theater, in: Dieter Borchmeyer u. a. (Hg.), Richard Wagner und die Juden, Stuttgart 2000, S. 296–309, hier S. 302, 306–307. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883–1885], in: KSA, Bd. IV, S. 19. Vgl. Rudolf zur Lippe, Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung, Freiburg i. Br. 2010. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872/86], in: KSA, Bd. I, S. 20. Ebd., S. 22. Im Zarathustra (Anm. 8) befindet sich die entsprechende Passage im Kapitel mit der Überschrift »Vom höheren Menschen«, S. 366. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 10), S. 33. Richard Wagner, Beethoven, in: DS, Bd. IX, S. 38–109. Zu dieser Unterscheidung vgl. Miriam Fischer, Vom Sinn des Tanzes oder: Zum Problem des Verstehens von Tanz, in: Michael Grossheim, Stefan Volke (Hg.), Gefühl, Geste, Gesicht. Zur Phänomenologie des Ausdrucks, Freiburg i. Br. 2010 (Neue Phänomenologie 13), S. 234–260. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 10), S. 34. Ebd., S. 30. Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 58), S. 158. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 10), S. 134. Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg. Textbuch der Fassung der Uraufführung mit Varianten der Partitur, hg. v. Egon Voss, Stuttgart 2002 (Reclams Universal-Bibliothek 5639), S. 119. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente November 1887 – März 1888, in: KSA, Bd. XIII, S. 134–135. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA, Bd. VI, S. 29–30. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Anm. 8), S. 241–245. Vgl. Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, Lemma »Apollinisch-dionysisch«, S. 187–190. Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik [1960], in: ders., Die musikalischen Monographien, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1971 (Gesammelte Schriften 13), S. 153. »Zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen«

25 Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3 (d-Moll) in sechs Sätzen für großes Orchester, Altsolo,

26

27

28

29 30

31

Knabenchor und Frauenchor, hg. v. Erwin Ratz u. Karl Heinz Füssl, Wien 1974 (Sämtliche Werke 3), S. 42 (rechter, unterer Rand). Gustav Mahler, Symphonie Nr. 2 (c-Moll) in fünf Sätzen für großes Orchester, Sopran- und Altsolo und gemischten Chor, hg. v. Erwin Ratz, Wien 1970 (Sämtliche Werke 2), S. 148 (rechter, unterer Rand). Gustav Mahler, zit. n. Herbert Killian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, mit Anmerkungen und Erklärungen von Knud Martner. Revidierte und erweiterte Ausgabe, Hamburg 1984, S. 131. Mahlers Interesse am Materialismus und seine kritische Haltung gegenüber den radikal monistischen Positionen (etwa eines Ernst Haeckel) kann man sowohl dem Briefwechsel als auch einer Reihe von Äußerungen entnehmen, die von Drittpersonen überliefert sind. Demzufolge glaubte Mahler an eine »unsichtbare zeugende Kraft«, die sich nicht rein materialistisch erklären lässt, sondern die er als Manifestation eines metaphysischen Prinzips verstanden wissen wollte. Die wichtigsten Materialien sind versammelt und kommentiert in den einschlägigen Kapiteln bei Constantin Floros, Gustav Mahler, Bd. I: Die geistige Welt Gustav Mahlers ins systematischer Darstellung, Wiesbaden 1977, S. 100–105. Friedrich Nietzsche, zit. n. Stollberg, Ohr und Auge (Anm. 17), S. 159. Pierre Boulez, La composition et ses différents gestes, in: ders., Jalons (pour une décennie). Dix ans d’enseignement au Collège de France (1978–1988), Paris 1989; deutsch: Die Komposition und ihre Gesten, in: ders., Leitlinien. Gedankengänge eines Komponisten, aus dem Französischen v. Josef Häusler, Kassel 2000, S. 89–121, hier S. 92. Peter Gülke, »Wo Musik ist, muß ein Dämon sein«. Mahler als Interpret, in: ders., Auftakte – Nachspiele. Studien zur musikalischen Interpretation, Stuttgart 2006, S. 93–106, hier S. 93.

Nachweis der Notenbeispiele 1 Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3 (d-Moll), hg. v. Erwin Ratz u.Karl Heinz Füssl, Wien 1974

(Sämtliche Werke 3). 2 Gustav Mahler, Symphonie Nr. 2 (c-Moll), hg. v. Erwin Ratz, Wien 1970 (Sämtliche Werke 2).

Silvan Moosmüller

145

Wagner, Nietzsche und – Böcklin. Ein »Stimmungsbild« der BöcklinRezeption um 1900 Andrea Gottdang

Um die Wende zum vergangenen Jahrhundert floss Künstlern, Schriftstellern und Geisteswissenschaftlern der Vergleich Friedrich Nietzsches und Richard Wagners mit Arnold Böcklin bemerkenswert leicht und oft aus der Feder. Besonders viel Tinte investierte Gottfried Niemann, der 1904 seine Studie über Richard Wagner und Arnold Böcklin oder Über das Wesen von Landschaft und Musik vorlegte, für deren gewinnbringende Lektüre er die Kenntnis von Nietzsches Geburt der Tragödie beim Leser voraussetzte. Bedeutende Kunsthistoriker wie Julius Meier-Graefe und Henry Thode reagierten unmittelbar auf die Schrift. Niemanns Traktat ist zudem ein Index für die Präsenz der Anschauungen Nietzsches um 1900.1 Dass deren enorme Verbreitung zum Teil mit einer Verflachung einherging, ist dabei Teil ihrer Geschichte. Da Niemanns teils sehr gewagte Theorie, die den »Nachweis der Identität Wagners und Böcklins nach dem tiefsten Wesen ihrer Kunst«2 erbringen soll, nicht gerade durch argumentative Stringenz und begriffliche Schärfe besticht, könnte man sie als zu Recht vergessene Fußnote der Kunstgeschichte beiseitelegen, wenn sie nicht geradezu ein Sammelbecken für Topoi des Fin de Siècle wäre: Topoi, die um den Vergleich von Musik und Malerei – der unbildlichen und der bildlichen Kunst – angelagert sind und dem Bildfindungsprozess einige Aufmerksamkeit schenken. Zur Kontextualisierung von Niemanns Schrift sei diese Gedankenwelt kurz skizziert und ein knapper Überblick über die spärlichen Informationen gegeben, die uns über persönliche Kontakte Böcklins zu Wagner und Nietzsche zur Verfügung stehen. 147

Distanzierte Beziehungen Wagner scheint Böcklin zunächst geschätzt zu haben. Als er die Skizzen zu den Bühnendekorationen seiner Festspiele »wirklichen Künstlern«3 überantworten wollte, dachte er wohl auch an Böcklin, der jedoch ablehnte.4 1876 kam es doch noch zu einer Zusammenarbeit, die allerdings in einem kleinen Fiasko endete, da der nach Böcklins Entwürfen angefertigte Drache für den Siegfried Bayreuth nur stückweise und unvollständig erreichte.5 Man lastete das Debakel offenbar nicht dem Künstler an, denn zwei Jahre später wandte Cosima sich abermals an Böcklin, um zum Bayreuther Parsifal Skizzen von ihm zu erbitten, die als Überraschung für Richard gedacht waren. Böcklin ließ sich für dieses Projekt aber nicht gewinnen.6 Nach dem Zeugnis seiner Biographen besuchte Böcklin nie eine Wagner-Oper.7 Auf Wagners Musik angesprochen, soll der sperrige Künstler ausgerufen haben: »Ach der Spektakel! Bleiben Sie mir damit vom Halse!«8 Otto Lasius kolportierte die Anekdote, dass Böcklin einmal meinte, Wagner einen Pflichtbesuch auf dessen Landsitz abstatten zu müssen. Komponist und Maler trennten sich missvergnügt mit dem wechselseitigen Vorwurf des Unverständnisses für die Kunst des jeweils anderen.9 Allerdings ist der »Erinnerungsliteratur«, die als Genre eigenen Regeln folgt, die einen starken Hang zum Anekdotischen bedient und deren Verfasser sich gerne als enge Freunde des Künstlers sahen, nicht ohne Vorbehalt zu glauben.10 Böcklin war der große Schweigsame unter den Künstlern des 19. Jahrhunderts. Er äußerte sich selten und ungern über Kunst im Allgemeinen und eigene Werke im Besonderen. Über seine Ansichten zu Wagner und Nietzsche wissen wir denkbar wenig. Ob Böcklin, der die Schriften Arthur Schopenhauers las, auch diejenigen Nietzsches kannte, lässt sich nicht entscheiden. Nietzsche seinerseits brachte Böcklin, den er einen »wegesuchenden Maler« nannte,11 Interesse entgegen. 1884 schrieb er aus Zürich: »[M]an will mich mit dem Thiermaler Koller bekannt machen, ebenso mit Böcklin«.12 Ob diese Pläne jemals in die Tat umgesetzt werden konnten, ist nicht bekannt. Der Vergleich von Musik und Malerei nach 1850 Als Nietzsche Die Geburt der Tragödie verfasste, war es in der Ästhetik um den Vergleich von Musik und Malerei stiller geworden. Verstummt war er zwar nicht, aber die romantische Utopie einer Malerei, die, dem Vorbild der Musik folgend, auf Naturnachahmung, auf Abbildhaftigkeit verzichtet und ganz allein über die gestalterischen Mittel auf die Rezipienten wirkt, gehörte der Vergangenheit an. Die romantische Idee einer Einheit der Künste und einer Verwandtschaft der Farben und Töne, die der Schlüssel zur musikalischen Malerei zu sein schien, war verblasst. Physik und Physiologie waren an die Stelle der Metaphysik getreten und betonten die Unterschiede zwischen Farben und Tönen, Gehör und Gesichtssinn und damit der Wahrnehmung des Bildlichen und des Unbildlichen. Gustav Theodor Fechner fasste 1860 den Forschungsstand zusammen: Zwischen Licht- und Schallempfindungen zählte er 24 Unterschiede, denen neun Gemeinsamkeiten gegenüberstanden, die zum Teil sehr allgemeiner Natur waren, wie zum Beispiel die Tatsache, dass jeder Mensch je zwei Augen und Ohren hat.13 148

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

Auch in der Musikästhetik gab es neue Positionen. 1854 hatte Eduard Hanslick seine ästhetische Theorie zur Diskussion gestellt, in der er »tönend bewegte Formen« provokativ zum alleinigen Inhalt der Musik erklärte und die Gefühlsästhetik vehement ablehnte.14 Das Ringen um das Verhältnis von Form und Inhalt bestimmte die Debatte um die bildenden Künste nicht weniger als die um die Musik und spaltete Kunstfreunde und Ästhetik in zwei Lager. Friedrich Theodor Vischer wies 1866 formalistische Ansätze zurück: » Es muß sich ein Grund finden lassen, auch der Musik Inhalt zuzuerkennen. Dieser Grund kann nur in der mehrbenannten Symbolik liegen. Die physikalischen Harmonien des Tons müssen vermöge einer tiefen Nötigung als Bilder von Harmonien der Seelenstimmung wirken; das bestimmte musikalische Kunstwerk aber muß das entwickelte symbolische Bild einer individuellen und doch menschlich wahren Stimmung sein.«15 Es ist bemerkenswert, dass Vischer gleich zweimal von Bildern spricht, um die Kategorie der »Stimmung« in ihrer Objektivierbarkeit bzw. Befähigung zur Verallgemeinerung als »menschlich wahr« zu erfassen. Die »Stimmung« sollte sich zudem als prädestiniert erweisen, das Band zwischen Musik und Malerei wieder enger zu knüpfen. Vereinzelt wurde das Wechselspiel von Musik und Malerei trotz der scheinbar wachsenden Entfernung weiter ausgelotet. In der Nachfolge Georg Wilhelm Friedrich Hegels wurde über eine Malerei reflektiert, die die Grenze zur subjektiven Kunst Musik respektiert, sich der Demarkationslinie aber so weit wie möglich nähert.16 Auch Nietzsche proklamierte, dass die »bildenden Künstler zur Hoffnungslosigkeit verurtheilt sind, so lange sie eben, wie jetzt immer noch, der Musik als Führerin in eine neue Schauwelt entrathen wollen«.17 Während Nietzsche mit dem Unbildlichen und dem Bildlichen argumentierte, kreisten die Überlegungen seiner an bildender Kunst interessierten Zeitgenossen um das Musikalische und das Malerische. Sie wurzelten in (kunst-)geschichtsphilosophischen Modellen, die davon ausgingen, dass in jeder Epoche eine bestimmte Kunst ihren Höhepunkt erreiche, ihre Schwestern dominiere und ihnen ihre wesentlichen Qualitäten einpräge. Nahm in der Antike die Skulptur die Führungsposition ein, so war es im Mittelalter die Malerei, in der Neuzeit jedoch die Musik, weshalb es den anderen Künsten nunmehr bestimmt war, musikalisch zu werden.18 Als Garanten für eine Musikalisierung der Malerei galten seit der Romantik das Kolorit als Gestaltungsmittel und die Landschaft als Sujet. Beiden eignete ein subjektiver, als ›musikalisch‹ interpretierter Anteil, beide konnten als Träger einer Stimmung eingesetzt werden, die wiederum die Schnittmenge zwischen Musik und Malerei bildete. Friedrich Theodor Vischer konstatierte: »[D]er Maler, dessen Landschaft nicht so auf uns wirkt, daß uns irgendwie zu Mute wird, hat nichts geleistet. Dies ist nun ganz wie in der Musik, wo unser Herz voll ist und doch das Wort keinen Ausdruck dafür hat«.19 Andrea Gottdang

149

Neben der Ästhetik öffnete sich ein zweiter Pfad, der ab 1880 breit ausgebaut wurde. In der Kunstkritik und -schriftstellerei setzte sich das Prädikat ›musikalisch‹ an die Spitze der Lobesformeln für ein Gemälde oder einen Künstler. Eingängige Metaphern ersetzten mehr und mehr Reflexion und Argumentation. Die Idee der musikalischen Malerei verflachte zum Allgemeinplatz. Einen dritten Weg, der Musik und Malerei zusammenführte, bahnten Assoziationsästhetik und Projektionslehre. Stellvertretend sei hier Gustav Theodor Fechner genannt, der eine assoziationsfreie Aufnahme von Bildern, gleich welcher Art, für grundunmöglich hielt: »Im Reiche des Sichtbaren kommt überhaupt kein ästhetischer Eindruck von einiger Höhe ohne das Associatonsprincip zu Stande.«20 Ein Crossover realer und assoziierter Sinneseindrücke baut eine neue Brücke zwischen Musik und Malerei, wenn sich beispielsweise dem Betrachter eines Gemäldes Melodien aufdrängen. Der Assoziation ist im ausgehenden 19. Jahrhundert auch für einen Rezeptionsmodus Bedeutung beizumessen, den die große Bereitschaft charakterisiert, beim Hören von Musik Bilder bzw. bildliche Vorstellungen zu evozieren, und zwar dezidiert jenseits der Programmmusik. Giovanni Segantini, dessen Andenken Niemann seine Abhandlung widmete, verlieh dieser Idee in seinem Gemälde L’evocazione creatrice della musica (Kunsthaus Zürich) 1897 bildlichen Ausdruck, wenn ein Klavierspieler von den Traumbildern, die seine Musik heraufbeschwört, umgeben ist − Traumbildern, die nicht weniger real scheinen als der Pianist. Nietzsche wies in der Geburt der Tragödie darauf hin, »dass es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen: dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten.«21 Schließlich sei Musik nicht Abbild der Erscheinung, sondern des Willens selbst. Für detaillierte Beschreibungen der beim Hören von Musik gesehenen Bilder oder der beim Betrachten von Bildern assoziierten akustischen Phänomene ließen sich unzählige Beispiele beibringen, viele davon – wie noch zu sehen sein wird – ausgelöst durch Wagner und Böcklin. Die wahrnehmungspsychologische Relevanz der Assoziation stand dabei nicht zur Diskussion, sehr wohl aber ihr Stellenwert in der Ästhetik.22 Die Böcklin-Rezeption um 1900 Die Böcklin-Rezeption fügt sich in diesen Ideenkosmos ein. Kontrastreiche Farbigkeit, ein Umgang mit dem Mythos, wie er nicht im Buche steht, subjektive Auffassung, überbordende Phantasie und die ›Hörbarkeit‹ seiner Bilder galten sowohl vor als auch nach 1890 als wesentliche Merkmale Böcklin’scher Kunst. Allerdings änderten sich die Vorzeichen des Urteils über diese Charakteristika. Böcklin, bis 1890 von der Kunstkritik oft geschmäht, erlebte noch den kometenhaften Aufstieg seines Ruhms.23 In jedem Bürgerhaus hingen nun Reproduktionen seiner Gemälde. Die Hörbarkeit seiner Bilder nannte Böcklin selbst als Wirkungsabsicht: »[M]an muss sie singen hören«,24 erwartete der Künstler von der Meerfrau Im Meere (Privatbesitz). 1880 klagte gar ein geräuschempfindlicher Zentrumsabgeordneter über Das Gefilde der Seligen 150

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

1

Arnold Böcklin, Das Spiel der Nereiden, 1886, Kunstmuseum Basel.

(Berlin, Nationalgalerie): »Die Farben sind derart schreiend, daß ich versucht war, mir die Ohren zuzuhalten.«25 Andere Ausstellungsbesucher faszinierte und begeisterte das Phänomen. Die deutsche Kritik lobte Böcklins Fähigkeit, Stimmungen zu evozieren,26 und klassifizierte ihn als Landschaftsmaler. Für die meisten Böcklin-Exegeten stand fest, dass die Figuren in seinen Gemälden die Verdichtung der Landschaft, die Inkarnation ihrer Stimmung seien.27 Kaum ein Rezensent meinte darauf verzichten zu können, Böcklin als musikalischen Maler zu preisen.28 Charakteristisch und fast allen Besprechungen gemein sind der Verzicht auf ästhetische Reflexionen und das Vertrauen auf wortgewaltige Metaphorik. Hanns Floerke frohlockte vor dem Spiel der Najaden bzw. Spiel der Nereiden [Abb. 1]: »Übermütig trompetet der Zinnober eines Nixenschwanzes heraus, eine Aufforderung zu tollem Tanze, und jubelnd fallen ein herrliches Blau, ein festliches Grün und ein wundervolles Gelb mit ihrem Anhang ein. Das ist eine fortreißende Musik.«29 Ein besonderes Augenmerk legten Böcklins Biographen auf den Bildfindungsprozess. Seine Bilder sind im Urteil seiner Exegeten trotz der naturnahen Wirkung alles andere als Abbilder der Natur; die Natur ist vielmehr Auslöser von Bildern. Gustav Floerke stellte sich das so vor: »[W]enn er heute im Sturm auf dem Mittelmeer segelt, sagen wir mal bei den Ponza-Inseln und sich an Sirenen erinnert, Andrea Gottdang

151

so ist bald ein Bild da«.30 Cornelius Gurlitt versuchte, das Verhältnis der verschiedenen Bildformen zueinander präziser zu fassen: »Nicht Abbildung, sondern Neubildung; nicht Darstellung eines in der Natur gesehenen Augenblickes, sondern die Wiedergabe eines inneren Schauens; eine den Ton steigernde Umschreibung dessen, was der Meister vor der Natur empfand.«31 Böcklin, so assistierte Fritz von Ostini, stünde ein »enormer Besitz an im Gedächtnis fest gehaltene[n] Naturbeobachtungen« zur Verfügung.32 Er »führt seine Bilder im Geiste so weit aus, daß er sie – nur mehr zu malen braucht!«33 Was bei Floerke und Ostini implizit mitschwingt, formulierte Heinrich Wölfflin aus. Ihm zufolge vollzieht sich die künstlerische Bildfindung im Geist, wo sie auch zum Abschluss gelangt: »Aus der innern Vorstellung wachsen nun nicht nur die einzelnen Stücke des Bildes hervor, sondern das Bild als Ganzes, und die Figuren sind immer gleich zusammen gesehen mit der Landschaft«.34 Die Bildidee, das Bild selbst, erscheint damit nicht als Ergebnis eines Prozesses, eines Sich-Herantastens, Skizzierens, Erprobens und Verwerfens auch einzelner Motive auf dem Papier. Das Bild ist im Künstler, es präexistiert, bevor es auf die Leinwand gebannt wird. Bei dem Bild, das am Ende auf der Staffelei steht, handelt es sich wiederum nicht um ein Abbild dieses ›Bildes im Geist‹ – auch das Erinnerungsbild durchläuft noch einmal einen Transformationsprozess, wie Thode andeutet: »Alle Eindrücke, welche seine [Böcklins] starke Sinnlichkeit empfangend schuf, verwandelten sich in gleich starke Gefühlsstimmungen, und deren Erklingen weckte vor dem geistigen Auge seiner Phantasie neue, ungesehene Bilder, die sie schöpferisch gestaltete.«35 Die imaginierten Bilder werden also noch einmal kreativ verarbeitet. Ein Gegenmodell zu dieser Vorstellung, und damit auch eine grundsätzlich andere Bildauffassung, vertrat der Impressionismus, der den Sehprozess als rein optischen Vorgang interpretierte.36 Für den Betrachter entsteht aus der Intensität, mit welcher der Künstler erlebte, eine unvermeidliche Rückkopplung, die wiederum Hanns Floerke zu fassen versuchte: »Wenn Böcklin etwas erzählt, stehen wir […] vor der Mitteilung eines inneren Erlebnisses, einer Sensation, welche derart ins Bildliche umgesetzt ist, daß wir sie notwendig mit durchempfinden müssen.«37 Phantasietätigkeit, Erinnerungsarbeit und emotionales Erleben werden von allen Autoren in bildlicher Form gedacht bzw. mit dem Begriff des Bildes gefasst. Nietzsche hatte das Doppel von Bild und Begriff fast schon als feststehende Wendung eingesetzt, die das eine nicht ohne das andere denken kann.38 »Bild« kann bei Nietzsche sogar an die Stelle von »Begriff« treten: »Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.«39 In der Böcklin-Literatur der Jahrhundertwende wird die Bindung des Bildes an Vernunft und Verstand vermieden, um die Rolle der Phantasie umso mehr zu betonen. Die Paarung von »Bild« und »Begriff« findet sich dort deshalb gerade nicht. Stattdessen potenzieren sich Unschärfen und Verwerfungen im Wortgebrauch, wobei eine Vorliebe auffällig ist: Begriffe wie »Gemälde«, »Werk« oder »Kunstwerk« kommen durchgehend sehr selten zum Einsatz; bevorzugt ist vom »Bild« die Rede. Als Bild kann zum Beispiel der 152

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

Natureindruck bezeichnet werden, der dem Künstler vor Augen steht und den er in sich aufnimmt; sodann ein »Bild im Kopf«,40 das vor dem inneren Auge aufsteigt und das wiederum im Kunstwerk verarbeitet werden kann. Schließlich ist das Kunstwerk selbst »Bild«. Zwischen allen drei Formen des Bildes scheint es schon allein deshalb ein enges Band zu geben, weil sie mit demselben Begriff bezeichnet werden – eben als »Bild«. Die semantische Relation suggeriert bereits auf einer vor-analytischen Ebene eine inhaltliche Verwandtschaft, zumindest die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kategorie. Es geht um das Bild, nicht um das Bildliche. Mit dem Bildlichen fehlt der Gegenpol des Unbildlichen und mit beiden die ihnen von Nietzsche zugeordneten Qualitäten: Das Bild wird in keiner der Schriften über Böcklin als apollinisch gedeutet. Umgekehrt ist auch das Dionysische kein Bezugspunkt.41 Sehr wohl wurde es aber – ebenfalls um 1890 – üblich, Böcklin, Wagner und Nietzsche in einem Atemzug zu nennen. Über Böcklin, Wagner und Nietzsche war bereits zuvor viel geschrieben worden, zunächst über jeden einzeln. Die Idee, die drei als verwandte Geister miteinander zu vergleichen, drängte sich dabei nicht sofort auf. Das sollte sich um 1890 deutlich ändern. Die Geläufigkeit von Wagner-Nietzsche-Böcklin-Vergleichen war kein deutsches Phänomen. Edvard Munch ließ nur wenige deutsche Künstler gelten, »z. B. Arnold Böcklin, der […] über alle neuzeitlichen Künstler emporragt – Max Klinger – Hans Thoma – Wagner unter den Musikern – Nietzsche unter den Philosophen«.42 Antoine Rous Marquis de Mazelière würdigte 1900 in seiner Abhandlung über die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts Böcklin als Erneuerer der Kultur und verglich ihn ebenfalls mit Nietzsche und Wagner.43 Neben den weit verbreiteten révérences vor der künstlerischen oder auch allgemeinen Geistesgröße und der Rettung oder Erneuerung deutscher Kultur durch das Dreigestirn benannten einige Autoren durchaus auch konkretere Parallelen. Léonce Bénédite, Direktor des Musée du Luxembourg, betonte Böcklins unerschöpfliche Phantasie und die pantheistische Naturauffassung: »Sa fantaisie inépuisable, puissamment triviale, est d’une compréhension panthéiste, qui n’a d’égale que celle de Wagner, sur le mode musical.«44 1903 befand der symbolistische Maler Émile Bernard: »Arnold Böcklin scheint mir in der zeitgenössischen Kunst vollbracht zu haben, was Wagner in der Musik verwirklicht hat: die Evokation.«45 Georg Fuchs hatte schon 1896 festgestellt: »[D]er Künstler, der Dichter, der Landschafts- und Menschenmaler Nietzsche hat Ähnlichkeit mit Böcklin und Klinger. […] Ein grandioser Böcklin […] ist die Landschaft, in welcher Zarathustra den häßlichen Menschen findet.«46 Indem Fuchs Böcklin in diesem Kontext assoziiert, weckt er auch die entsprechenden »Bilder« im Leser. Dabei wird kein konkretes, klar zu identifizierendes Gemälde benannt, sondern nur sehr diffus der Mondhof von Vorstellungen geöffnet, der den Namen eines bekannten Künstlers umgibt. Die Verdichtung in der Formel »ein Böcklin«, die an die Kennerschaft des Lesers appelliert, entbindet von der Pflicht der Argumentation. Die Blütenlese ließe sich fortsetzen, doch ohne größeren Gewinn, denn die Nennung Nietzsches, Wagners und Böcklins in einem Atemzug schien so selbstverständlich, dass die Autoren weitere Ausführungen für entbehrlich hielten. Andrea Gottdang

153

Gottfried Niemann und die Identität Wagners und Böcklins »nach dem tiefsten Wesen ihrer Kunst« Gottfried Niemann sammelte nun alle diese Mosaiksteine ein und arrangierte sie unter dem Eindruck seiner Lektüre der Geburt der Tragödie neu. Über Niemann ist nicht viel in Erfahrung zu bringen; Kunsthistoriker oder -kritiker war er nicht. Im Vorwort, in dem er sich – ohne Präzisierung – ein Stück weit von seiner eigenen Abhandlung distanziert, vermerkt er, dass deren Abfassung bereits einige Jahre zurückliege.47 Niemann setzt bei seinen Lesern zwar die Kenntnis der Geburt der Tragödie voraus, erläutert aber dennoch das Prinzip des Apollinischen und des Dionysischen. In der Anwendung auf alle Künste schlägt er bereits einen von Nietzsche abweichenden Kurs ein. Der Ausgangspunkt ist das Apollinische, weil es sich nach Niemann leichter definieren lässt, wohingegen das Dionysische vielfach nur eine umschreibende Annäherung erlaube. Dem Apollinischen als Element der Form steht das Dionysische als Element der Stimmung gegenüber, was im Grunde bereits kein logisches Antonym ausmacht.48 Während Niemann der Skulptur jede dionysische Wirkung abspricht, schreibt er Musik und Malerei die grundsätzliche Möglichkeit zu, beide Elemente auszuprägen. In der Malerei vertrete die Form das Apollinische, die Farbe das Dionysische. In der Musik verhalte es sich entsprechend mit Melodie und Akkord, in der Architektur mit Griechischem und Gotischem. Hier zeigen sich erneut Schwächen in der Argumentation, da Niemann einmal Gestaltungsmittel, die – wie Farbe und Form – gemeinsam eingesetzt werden können, dann wieder weit auseinander liegende Stilepochen in den Dienst seiner These nimmt. Weiter weist Niemann dem Apollinischen die Historienmalerei mit den Exponenten Raffael, Michelangelo und Peter Paul Rubens zu, dem Dionysischen die Landschaft in der Auffassung Rembrandts, Moritz von Schwinds und Böcklins. Auf das Seelenleben übertragen stehen apollinischer Gedanke und Gesichtssinn dem dionysischen Gefühl und dem Gehör gegenüber. Grundsätzlich gilt: »Das Dionysische ist das Primäre. Das Apollinische ist erst aus dem Dionysischen entsprossen und ohne dieses undenkbar.«49 Diese erste Orientierung, der ein Referat über die Entstehung der Tragödie als Modell der »prinzipielle[n] Entstehung von Kunst überhaupt« folgt,50 macht bereits deutlich: Rausch, Traum und Schein spielen für Niemann ebenso wenig eine Rolle wie das Doppel von Bild und Begriff oder das Bildliche. Entscheidend ist für Niemann dagegen, dass in der von Wagner und Böcklin zur Blüte geführten Kunst die apollinischen Gestalten aus einem dionysischen Grundcharakter erwachsen, und zwar mit »innerer Notwendigkeit«51 – dies eine weitere um 1900 gebräuchliche, formelhafte Wendung, die für Wassily Kandinskys Begründung einer ungegenständlichen Kunst zentral werden sollte. Es mag verblüffen, dass Niemann als Prinzip, auf das alle Künste verpflichtet sind, die in die Jahre gekommene Naturnachahmung bemüht. Dieser Schritt entfernt ihn nicht weniger von Nietzsche als sein Anschluss an die geläufigen ästhetischen Debatten um Subjektivität und Objektivität: »Die Kunst ahmt die Natur nach, um objektive, der ganzen Menschheit gemein bekannte Symbole an die Hand zu bekommen, deren sie sich zum Ausdruck und zur Objektivierung subjektiver Gefühle, 154

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

psychischer Inhalte, bedienen könne.«52 Der Musik fällt im Kanon der Künste die Aufgabe zu, die psychischen Elemente der Wirklichkeit nachzuahmen. Der Sprung, den Niemann nun wagt, bliebe wohl unverständlich, schlösse er nicht an eine lange Tradition in der Ästhetik an, die um 1900 auf dem Gemeinplatz der »musikalischen Landschaft« mündete. Landschaft, so Niemann, stelle sich einerseits als optisches Phänomen dar, andererseits nehme man sie aber als rein psychisches Moment wahr.53 Der Kitt, der die einzelnen Teile der Argumentation zusammenhält, ist die Stimmung. Niemann erklärt die Landschaft zu dem Ort, »in welchem dieses in uns selber subjektive Element [die Stimmung] objektiviert erscheint«.54 Das ästhetisch nicht unkomplizierte Problem einer Musikalisierung der Landschaft – um dessen Lösung zum Beispiel Friedrich Schiller noch gerungen hatte55 – schaltet Niemann aus, indem er die Stimmung nicht als subjektive Projektion des Betrachters in die Landschaft deutet, sondern sie als objektiv in der Landschaft vorhanden voraussetzt. Damit wird sie bildlich. Die Landschaft wird geradezu zur Funktion der Stimmung: »Die Landschaft ergibt sich als die äußere Erscheinung einer psychischen, an sich seienden Wirklichkeit, wie die Körperwelt überhaupt.«56 Die Musik ist für Niemann mit der Landschaft identisch, und sie ist auch mit der Landschaftsmalerei »eigentlich völlig eins«: »Landschaft und Musik, beide verbunden durch das gemeinsame Element der Stimmung, bilden die beiden Hauptäußerungen dionysischer Kunst.«57 Diese Kernthese untermauert Niemann mit seiner Darstellung des künstlerischen Schaffens- sowie des Rezeptionsprozesses. Die Tätigkeit von Wagners Psyche glaubte Niemann klar ergründet zu haben: »[S]eine Musik folgt immer den Landschaftsgefühlen nach, die ihm aus der Tiefe der Seele in jedem Augenblick mit elementarer Gewalt emporquellen.«58 Auch diese Vorstellung schöpferischer Tätigkeit vertrat Niemann nicht allein. Ein Jahr später las man in einer Abhandlung des Architekten Friedrich Hofmann: »Tiefer als irgend ein Maler hat Wagner der Natur ins Herz geschaut und uns ihr inneres Leben geoffenbart.«59 Einige Ideen, zu deren Sprachrohr Niemann sich machte, fanden sogar bildliche Umsetzung. Die Popularität der Gemälde ist schon allein daran abzulesen, dass sie um 1900 als Postkarten im Umlauf waren – und mit ihnen die zur Anschauung gelangten Deutungsmuster für schöpferische Prozesse. Ein Bild, das heute nur noch in der Reproduktion bekannt ist, zeigt Wagner in einer Rheingegend, in die er so eingebettet ist, dass er selbst zum Bestandteil der Landschaft wird [Abb. 2]. Wagner begrenzt das Flussbett diesseitig, wie es jenseitig die Hügel einfassen. Zugleich blickt er nicht in die Landschaft hinein, sondern im Habitus des visionär Sehenden in unbestimmte Fernen, was den Einklang des Komponisten mit der Natur noch steigert: Er muss sich ihrer nicht hinsehend vergewissern, da er ihr geradezu inkorporiert ist. Ein Notenzitat legt dem Betrachter nahe, zu schlussfolgern, dass Wagner naturverbunden und naturgleich die Musik aufnimmt, die er für andere dann hörbar macht. Zur Sicherheit für alle, die des Notenlesens unkundig sind, ist noch vermerkt, dass es sich um den Gesang der Rheintöchter handelt, die aber gerade nicht dargestellt sind. Naturbild, Vorstellungsbild und in der Folge »Opernbild« sind untrennbar verbunden, aber ausdrücklich nicht miteinander identisch. Stationen des Prozesses, die Stufen des Bildlichen, sind benennbar, doch der Prozess selbst entzieht sich dem analysierenden, logischen Nachvollzug. Andrea Gottdang

155

2

Rheintöchtergesang, Postkarte nach einem Gemälde, um 1900.

Der Künstler, sei er Musiker, sei er Maler, muss keineswegs eine bestimmte Landschaft nachahmen. Meist, so wiederum Niemann, präge der Künstler ohnehin landschaftliche Stimmungen aus, die er in der Natur so nicht erlebt hat. Die »von außen an ihn herantretenden Bilder«60 geben nur Impulse, die seine Phantasie weiterverarbeitet. Hier kommt nun eine Auffassung vom Bild ins Spiel, die – im Sinne eines imaginierten Bildes – vom Begriff deutlich geschieden, durch Niemann dem Reich des Dionysischen angenähert wird. Er stellt sich den dionysischen Musiker Wagner beim Komponieren »mit dem Haupt und dem ganzen Oberkörper über das Notenpapier gleichsam hingelagert« vor, weil »in einer solchen Arbeitsweise die ungeheure Anspannung aller nervösen Kräfte auf das innerlich geschaute Bild und die fieberhafte Angst, dieses auch nur einen Augenblick aus dem Gesichtskreis zu verlieren«, zum Ausdruck komme.61 Es fällt leicht, diese Imagination als naiv und trivial zu belächeln, und doch repräsentiert sie geläufige Vorstellungen, für die man nicht nur weitere Schriften, sondern wiederum Gemälde als Zeugen aufrufen kann. Lionello Balestrieri, ein Künstler, der sich um 1900 auf Musikbilder, insbesondere auf die Darstellung von Musikern spezialisierte, stellte Wagner beim Komponieren dar [Abb. 3]. Bilder wie dieses entstanden um 1900 in beachtlicher Menge, auch von der Hand anderer Maler über andere Komponisten. In der Pose des brütenden Denkers blickt Wagner beim selbstverständlich nächtlichen Komponieren konzentriert auf ein Bild, das als inneres gemeint ist – wie es Niemann vorschwebte: Die Gefahr, es zu verlieren, teilt sich spürbar mit. Balestrieri vermied, dass der Betrachter schlussfolgern könnte, Wagner sehe die Gestalten, die den Raum bevölkern, mit seinem leiblichen Auge. Sie gehören einer anderen Ebene an, nur so weit sich materialisierend, dass der Betrachter sie erkennt. 156

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

3 Lionello Balestrieri, Richard Wagner komponiert den »Ring des Nibelungen«, um 1900, Postkarte nach einem Gemälde (Standort unbekannt).

Real sind sie nur als Vision Wagners, als Bildliches, als Vorstellungsbild, das Wagner in Musik übersetzt. Das Vorstellungsbild wird verunbildlicht zur Musik und beim Erklingen der Musik sogleich wieder transformiert, verbildlicht, denn der Hörer kann sich der Bild-evozierenden Macht der Musik nicht entziehen. Das imaginierte Bild, letztlich Synonym für die Vision, ist der Anker im dionysischen Schaffensrausch. Gewissermaßen als Beweis für die Geburt der Musik aus der Landschaft erinnert Niemann seine Leser an die Unmöglichkeit, »den Tristan ohne gewisse landschaftliche Voraussetzungen und Vorstellungen aufzunehmen oder im Gedächtnis zu reproduzieren«.62 Um den Nachweis zu führen, dass nicht etwa das Bühnenbild die Assoziationen auslöst, beruft sich Niemann auf das Tristan-Vorspiel, das den Hörer schon nach wenigen Tönen in die Mitte des Landschaftsbildes versetze. Den Ausschlag für die Klarheit des Landschaftsbildes gebe die einheitliche Grundstimmung, die die Oper durchziehe, und die wiederum aus nichts anderem als der zugrunde liegenden einheitlichen landschaftlichen Anschauung resultiere.63 Lohengrin und Tannhäuser mangle es allerdings an Anschaulichkeit, weshalb auch die Theatermaler mit ihren Bühnenbildern zum Scheitern verurteilt seien, denn sie empfingen aus der Musik kein klares Bild. Generell, so Niemann, stellen sich die Assoziationen jedoch mit innerer Notwendigkeit ein, der Stoff ist eine Verdichtung der Anschauung. Die Bilder, die der Opernbesucher schaue, seien allerdings von einer poetischen Größe, wie sie die Natur nicht aufbiete.64 Das ›Naturbild‹ könne daher das ›Hörbild‹ eigentlich nicht ersetzen, da ihm die ästhetische Verdichtung fehle. Offenbar hielt Niemann es nicht für eine Abschwächung dieses Urteils oder gar für einen Widerspruch, festzustellen, dass »der Genuß Wagnerscher Kunst […] identisch erscheint Andrea Gottdang

157

mit dem Genuß der Natur, d. h. dem Genuß, den uns reisend irgend eine Landschaft gewährt«.65 Man versenke sich wehrlos in beide hinein, und die Phantasie werde angeregt. Da Niemann auch die Identität Wagners und Böcklins »nach dem tiefsten Wesen ihrer Kunst«66 für erwiesen hält, fallen seine Ausführungen zu dem Maler deutlich kürzer aus und können mit Blick auf das Bildliche und das Unbildliche noch einmal auf den Bildfindungsprozess verkürzt werden. Niemann eröffnet bewusst mit einem Beispiel, bei dem der Anteil der Figuren an der Bildfläche groß ist: Die Klage des Hirten (Daphnis und Amaryllis) [Abb. 4]. Er folgt einschlägigen Böcklin-Interpretationen seiner Zeit, wenn er konstatiert, dass das Thema nicht der Literatur entnommen, die Landschaft nicht bloßer Hintergrund sei.67 Die Figuren seien Inkarnationen der Landschaft bzw. rückführbar auf landschaftliche Vorstellungen. Ein weiteres Klischee bedient Niemann, wenn er das Motiv auf eine durch das Gehör vermittelte Vorstellung zurückführt: »[E]s ist der Abendwind, der am felsigen Hain in letzter Kühle durch das Schilf säuselt, und das ewige Murmeln der vom Felsen plätschernden Quelle«.68 Bildmotiv sei nicht der Hirte, nicht diese oder jene Landschaft, sondern die ewig klagende Sehnsucht.69 Eine einfache Naturabschilderung erziele diese Empfindung nicht – auch dies eine Grundüberzeugung der Böcklin-Biographen, letztlich eine Binsenweisheit: »Der Künstler kann […] niemals mit denselben Mitteln arbeiten, wie die Natur, sondern er muß bisweilen zu völlig indisparaten Mitteln greifen, um die gleiche Wirkung hervorzubringen.«70 Die Gestalten bleiben für Niemann apollinisch, aber sie sind Kinder des Dionysischen. Nicht nur durch die Parallelisierung von Musik und Malerei, von Wagner und Böcklin, sondern vor allem durch die Art seiner Darstellung, durch seine Wortwahl, durch die verwendeten Metaphern usw., hebelt Niemann die Bindung des Bildes bzw. des Bildlichen an den Begriff und das Apollinische aus. Verschleifungen entstehen zum Beispiel, wenn Niemann ausführt, die Figur sei in den Bildern Böcklins durch »das dionysische Rauschen des Meeres zu einer apollinischen Gestalt kondensiert«.71 Letztlich stellt sich unweigerlich über das Sujet und die mit ihm verbundene akustische Assoziation des Rauschens die Verbindung zum dionysischen Rausch ein. Die Figur bleibt apollinisch, aber der Urgrund, der sie evoziert, ihre Entstehung ist dionysisch. Die Landschaft ist dionysisch und mit ihr das Bild an sich. Bilder steigen unwillkürlich im wehrlosen Künstler und ebenso im Betrachter auf. Diese Vorstellungsbilder sind nicht mit dem Bild, das heißt mit dem Gemälde identisch, bezeugen aber dessen dionysische Qualität. Nietzsches Diagnose, dass der Maler nicht mit seinen Bildern verschmelze, sondern sie »mit betrachtendem Auge ausser sich sieht«,72 verliert damit bei Niemann ihre Gültigkeit. Restzweifel besiegt Niemann, wenn er den Erlösungsgedanken aufgreift und mit ihm das Kapitel über Böcklin beschließt.73 Als Triebfeder der Kunst Böcklins identifiziert Niemann den lastenden Druck der Stimmung, die der Genius tiefer empfinde als der Normalsterbliche. Der Künstler müsste an dieser Last zugrunde gehen, wäre ihm nicht die Kunst als Mittel an die Hand gegeben, um sich von ihr zu befreien. Indem er die durch die Landschaft heraufbeschworene subjektive Stimmung zu etwas Objektivem verdichte, befreie er sich selbst von dieser Last.74 So leidet und schöpft der Bildner und ist ganz dionysischer Künstler. 158

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

4 Arnold Böcklin, Die Klage des Hirten (Daphnis und Amaryllis), 1866, Schack-Galerie München.

Reaktionen auf Niemanns Thesen Reaktionen auf Niemanns Schrift ließen nicht lange auf sich warten. Der Architekt Friedrich Hofmann integrierte ein Referat der zentralen Thesen Niemanns und der »mit Glück« nachvollzogenen »inneren Verwandtschaft im Schaffen«75 Wagners und Böcklins in einen Vortrag, der das Ziel verfolgte, Wagner als Kenner der bildenden Kunst strahlen zu lassen. Das Unbildliche evoziert nach Hofmann Naturvorstellungen unausweichlicher, als dies einem Bild möglich ist: »Zwingender als Segantini durch seine herrlichen Hochgebirgslandschaften mit ihrer durchsichtigen, klaren Luft führt uns Wagners Musik auf die Gipfel der Alpen.«76 Im Zentrum dieser Argumentation steht nicht mehr das Bild, sondern der Vorgang seiner Aufnahme, das »innere Sehen«, war bei Wagner doch »alles Auge, alles Sehen, alles Schau!«77 Dem inneren Sehen entspricht ein äußeres: »Bei Wagner war der Augensinn, das Sehen, ebenso übermenschlich entwickelt, wie der Gehörsinn.«78 Henry Thode, Schwiegersohn Cosima Wagners, schätzte Niemanns Bemerkungen als geistvoll und tiefgreifend und stimmte mit diesem überein, dass das Andrea Gottdang

159

Stimmungselement Musik und Landschaftsmalerei verbinde.79 Gegen die Behauptung ihrer Identität setzte Thode sich jedoch zur Wehr und betonte die Verpflichtung der Malerei zur Weltschilderung, deren Preisgabe die Malerei »in die Sklaverei einer anderen Kunst« führen würde.80 Ihre Reduktion auf Farbensensationen als Analogon zu Tonempfindungen beraube sie ihrer Machtvollkommenheit. Die ›Mystik‹ des Impressionismus fest im Visier, bestand Thode auf Trennung: » Man vergißt die grundsätzliche Verschiedenheit der beiden Künste, vergißt, daß der Vorwurf des Tonkünstlers unmittelbar das in Ton sich ausdrückende Gefühl ist, während der Maler nur mittelbar durch die Welt der Erscheinungen, denen ewig der gegenständliche Charakter anhaftet, Gefühl und inneres Wesen ausdrücken kann.«81 Den Kern von Niemanns Abhandlung, die Übertragung des Apollinischen und Dionysischen auf alle Künste und die Deklaration einer bestimmten Malerei zur dionysischen, kommentierte Thode nicht. Die Preisgabe des Gegenstandsbezugs und den Einsatz der Farbe als musikalisches, amimetisches Gestaltungsmittel, auf die Thode zielte, hatte Niemann dagegen nirgends gefordert oder auch nur nahegelegt. Thodes seismographisches Vorausspüren der von ihm befürchteten Entwicklung der Malerei lässt vielmehr auf eine Lektüre Niemanns im Zeichen aktueller Debatten um das »Wie« und das »Was«, um Form und Inhalt, aber auch um die französische Kunst schließen – Debatten, die mit dem etablierten Vokabular der Kunstkritik auskamen. Mit Julius Meier-Graefe reagierte ein weiterer bedeutender Kunsthistoriker auf Niemanns Schrift, die er als »unerschrockensten Unsinn« abkanzelte.82 Meier-Graefe vertrat, anders als Thode, eine formalästhetische Kunstauffassung, die symbolistische Kunst ablehnen musste. Das Urteil Meier-Graefes über Böcklin hatte eine radikale Kehrtwendung von anfänglicher Begeisterung zur Verurteilung durchlaufen – eine Entwicklung, die Meier-Graefe selbst reflektiert. Sowohl die Anhänger Wagners als auch diejenigen Böcklins stünden unter dem Einfluss einer »Massensuggestion«.83 Nicht von ungefähr gab Meier-Graefe seiner Abhandlung in Anlehnung an Nietzsches Der Fall Wagner den Titel Der Fall Böcklin. Neben der Behauptung der Identität von Musik und Landschaft richtet sich Meier-Graefes Kritik gegen die »ungeheuerliche Erweiterung des Gegensatzes ›Dionysisch-Apollinisch‹«.84 Symptomatisch für die darniederliegende deutsche Kunstanschauung sei die Vermengung der Künste.85 Meier-Graefes Absage an Niemann entsprang keineswegs Zweifeln an der Verwandtschaft zwischen Wagner und Böcklin. Er glaubte vielmehr, »daß Wagner durchaus recht hatte, als er Böcklin […] zu seiner eigenen Art rechnete«.86 Für Meier-Graefe war Niemanns Schrift nicht zuletzt deshalb ein einziges Ärgernis, weil »dieser Fall […] für hundert andere« stehe und die »überwältigende Mehrheit deutscher Kunstfreunde« vertrete.87 Allein deshalb schon scheint es berechtigt, Niemanns Thesen einige Aufmerksamkeit zu schenken, denn Meier-Graefe schätzte die Lage ganz richtig ein.

160

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

Endnoten 1 Siehe hierzu allgemein: Jürgen Krause, »Märtyrer und Prophet«. Studien zum Nietzsche-

2 3 4 5 6 7 8 9

10

11

12 13 14 15

16

17 18

19 20 21 22

Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende, Berlin u. a. 1984 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 14). Gottfried Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin oder Ueber das Wesen von Landschaft und Musik, Leipzig 1904, S. 66. Zit. n. Detta Petzet, Michael Petzet, Die Richard Wagner-Bühne König Ludwigs II., München 1970 (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts 8), S. 228. Ebd. Ebd., S. 241–242. Vgl. Ferdinand Runkel, Carlo Böcklin (Hg.), Neben meiner Kunst. Flugstudien, Briefe und Persönliches von Arnold Böcklin, Berlin 1909, S. 223. Vgl. Albert Fleiner, Mit Arnold Böcklin, Frauenfeld 1915, S. 45. Otto Lasius, Arnold Böcklin. Aus den Tagebüchern von Otto Lasius (1884–1889), hg. v. Maria Lina Lasius, mit einem Bilde Arnold Böcklins, Berlin 1903, S. 23. Ebd.; Fritz von Ostini erzählt die Episode nach, zweifelt den Wahrheitsgehalt aber an (Böcklin. Mit 106 Abbildungen und einem farbigen Titelbilde, Bielefeld/Leipzig 1904 [KünstlerMonographien 70], S. 76). Vgl. Andrea Gottdang, Vorbild Musik. Die Geschichte einer Idee in der Malerei im deutschsprachigen Raum 1780–1915, München/Berlin 2004 (Münchener Universitätsschriften des Instituts für Kunstgeschichte 4), S. 306–308. Friedrich Nietzsche, Fragment 11 [249] [Frühjahr – Herbst 1881], in: KSA, Bd. IX, S. 536. Zu Nietzsche über Böcklin: Hansdieter Erbsmehl, Kulturkritik und Gegenästhetik. Zur Bedeutung Friedrich Nietzsches für die bildende Kunst in Deutschland, 1892–1918, Diss. University of California, Los Angeles 1993, bes. S. 96 ff. KSB, Bd. VI, S. 553. Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, Bd. II, Leipzig 1860, S. 267–270. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Dietmar Strauß, 2 Bde., Mainz 1990. Friedrich Theodor Vischer, Kritik meiner Ästhetik [1866], in: ders., Kritische Gänge, hg. v. Robert Vischer, Bd. IV, München ²1922, S. 275. Zu Vischers Opposition gegen Hanslick siehe Christian Scholl, Revisionen der Romantik. Zur Rezeption der »neudeutschen Malerei« 1817–1906, unter Mitarbeit v. Kerstin Schwedes u. Reinhard Spiekermann, Berlin 2012 (Ars et Scientia 3), S. 422–430. Hegel erklärte wiederholt, dass »die Malerei bis nahe an das Gebiet der Musik heranzustreifen unternehmen darf«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band. Mit einem Vorwort von Gustav Hotho, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner, Bd. XIV, Stuttgart 1954, S. 134; siehe hierzu Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 224–225. Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, in: KSA, Bd. I, S. 429–510, hier S. 459. Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 66–69. Nietzsche argumentiert ebenfalls mit dem skizzierten Modell, wenn er dem bildenden Künstler die Musik als ›Leitkunst‹ empfiehlt, »da ja selbst das Vollkommene und Höchste früherer Zeiten, das Vorbild der jetzigen Bildner, überflüssig und fast wirkungslos ist und kaum noch einen Stein auf den anderen setzt. Sehen sie in ihrem innerlichen Schauen keine neuen Gestalten vor sich, sondern immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der Historie, aber nicht dem Leben«. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth (Anm. 17), S. 459. Zit. n. Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 232. Gustav Theodor Fechner, Das Associationsprincip in der Aesthetik, in: Zeitschrift für bildende Kunst 1, 1866, S. 179–191, hier S. 191. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA, Bd. I, S. 9–156, hier S. 105–106. Vgl. Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 304. Zu Assoziation, Projektion und Einflüssen der Psychologie auf die Ästhetik vgl. allgemein Jutta Müller-Tamm, Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Andrea Gottdang

161

Endnoten

23

24

25 26

27

28

29 30 31 32 33 34 35 36

37 38

162

Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 124). Zur Projektionslehre und zur künstlerischen Phantasie mit Fokus auf Böcklin: Hubertus Kohle, Arnold Böcklins Halluzinationen. Malerei im Zeitalter der Psychologie, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2009; http://www.kunstgeschichte-ejournal. net/98/ [22.09.2014]. Die junge Generation der Secessionisten hatte daran ihren Anteil, nicht weniger die Neubewertung der Kunst Böcklins in dem weit verbreiteten Werk von Richard Muther, Die Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert, Bd. III, München 1894, deren Rolle im Wandel des Urteils über Böcklin schon Lichtwark auffiel: Alfred Lichtwark, Ausstellung von Werken Arnold Böcklin’s, veranstaltet zur Feier seines 70. Geburtstages, Februar 1898, Hamburg 1898, S. 12: »Muthers viel gelesenes Werk gab vielen einen neuen Standpunkt.« Zur Böcklin-Rezeption siehe auch Jürgen Wißmann, Zum Nachleben der Malerei Arnold Böcklins, in: Wend von Kalnein (Hg.), Arnold Böcklin 1827–1901. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Düsseldorf, Katalogbearbeitung: Rolf Andree, Düsseldorf 1974, S. 28–38. Gustav Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin. Aufzeichnungen und Entwürfe, hg. v. Hanns Floerke, München 1901, S. 82; vgl. Karl Schawelka, Quasi una musica. Untersuchungen zum Ideal des »Musikalischen« in der Malerei ab 1800, München 1993, S. 241; Andrea Gottdang, »Man muss sie singen hören«. Bemerkungen zur ›Musikalität‹ und ›Hörbarkeit‹ von Böcklins Bildern, in: Katharina Schmidt, Bernd Wolfgang Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin – eine Retrospektive. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Basel, 19. Mai bis 26. August 2001; Musée d’Orsay Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Neue Pinakothek München, 14. Februar bis 26. Mai 2002, Heidelberg 2001, S. 131–137. Wilhelm Waetzoldt, Du und die Kunst. Eine Einführung in Kunstbetrachtung und Kunstgeschichte, Berlin 1938, S. 328. Thomas W. Gaethgens, »Cet ordre de sentiments confus […] par les mots de Gemuth et de Stimmung«. Böcklin aus französischer Sicht, in: Kerstin Thomas (Hg.), Stimmung. Ästhetische Kategorie und künstlerische Praxis, Berlin u. a. 2010 (Passagen 33), S. 196–211. Vgl. Henri Mendelsohn, Böcklin, Berlin 1901 (Geisteshelden 40), S. 77; Hanns Floerke, Der Dichter Arnold Böcklin, München u. a. 1905, S. 26, 34; Ostini, Böcklin (Anm. 9), S. 37; Muther, Geschichte der Malerei, Bd. III (Anm. 23), S. 609, 614. Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 343 ff. Stellvertretend sei hier Georg Simmel zitiert (Böcklins Landschaften, in: ders., Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze, Potsdam 1922, S. 7–16, hier S. 15): »In dieser – wenigstens für das unmittelbare Gefühl – völligen Aufhebung aller Bezugnahme auf alles Draußen berührt sich die Böcklinsche Kunst mit der Musik«. H. Floerke, Der Dichter Arnold Böcklin (Anm. 27), S. 25. Zur physiologischen Wirkung von Böcklins Bildern vgl. ebd., S. 35–36. G. Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin (Anm. 24), S. 29. Cornelius Gurlitt, Arnold Böcklin, in: Die Kunst für Alle 9/2, 1893, S. 17–23, hier S. 17. Ostini, Böcklin (Anm. 9), S. 38. Ebd., S. 37 Heinrich Wölfflin, Arnold Böcklin. Festrede, gehalten am 23. Oktober 1897, Basel 1898 (Separatdruck aus dem Basler Jahrbuch 1898), S. 5. Henry Thode, Arnold Böcklin, Heidelberg 1905, S. 6. Gaethgens, »Cet ordre de sentiments confus« (Anm. 26), S. 203. Wölfflin, Arnold Böcklin (Anm. 34), S. 5, sah in Böcklins »Schaffensweise die Negation des sog. Impressionismus«. Zu Phantasie und bildnerischer Evokation im Werk Böcklins siehe Gottfried Boehm, Böcklins Mythen, in: Margit Kern, Thomas Kirchner, Hubertus Kohle (Hg.), Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, München 2004, S. 411–420. H. Floerke, Der Dichter Arnold Böcklin (Anm. 27), S. 40. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 21), unter anderem S. 49, 51, 60, 104, 107, 134, 137. Zuweilen wird die Sprachnähe des Bildes noch gestärkt durch die Ergänzung der parataktischen Reihung um das Wort; ebd., S. 49: »[D]as Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Wagner, Nietzsche und – Böcklin

39 40 41

42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

53 54 55

56 57 58 59

60 61 62 63 64 65 66 67

Musik analogen Ausdruck«. Siehe hierzu auch den Beitrag von Andreas Dorschel im vorliegenden Band. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 21), S. 60. H. Floerke, Der Dichter Arnold Böcklin (Anm. 27), S. 23. Mit Ausnahme einer knappen Zuordnung bei Aby Warburg: »In Böcklin und Hildebrand lebt die Antike weiter in ihren beiden Bewegungsakzenten: dionysisch-steigernd, Böcklins Umriss in Farbe, apollinisch-mässigend, Hildebrands Façade.« Zit. n. Alessandro Scafi, Warburg and Böcklin. Myths in Word and Image, in: Johanna Vakkari (Hg.), Towards a Science of Art History. J. J. Tikkanen and Art Historical Scholarship in Europe, Helsinki 2009 (Taidehistoriallisia tutkimuksia 38), S. 137–147, hier S. 146. Zit. n. Angelika Wesenberg, Böcklin in der Reichshauptstadt, in: Schmidt, Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin – eine Retrospektive (Anm. 24), S. 75–87, hier S. 84. Thomas W. Gaethgens, Böcklin und Frankreich, in: Schmidt, Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin – eine Retrospektive (Anm. 24), S. 89–111, hier S. 105. Léonce Bénédite, La peinture au XIXième siècle, d’après les chefs-d’œuvre des maîtres et les meilleurs tableaux des principaux artistes, Paris [ca. 1900], S. 333. Zit. n. Gaethgens, Böcklin und Frankreich (Anm. 43), S. 106. Georg Fuchs, Friedrich Nietzsche und die Bildende Kunst, in: Die Kunst für Alle 11/3, 1895/96, S. 33–38; 11/5, 1895/96, S. 71–73; 11/6, 1895/96, S. 85–88, hier S. 87. Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), Vorwort. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 35, 36. Ebd., S. 23. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 21), S. 47: »Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden«. Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), S. 28. Ebd., S. 28. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, München 1962, S. 994–1000; vgl. Gottdang, Vorbild Musik (Anm. 10), S. 122–127. Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), S. 29. Ebd., S. 37, 39. Ebd., S. 31. Friedrich Hofmann, Richard Wagner und die bildende Kunst. Vortrag im Grazer Richard Wagner-Verein zum Gedächtnisse des Todestages des Meisters im Jahre 1905, Graz 1905, S. 21. Siehe ebd., S. 19: »Wagners Kunst kommt viel tiefer heraus. Sie gibt uns die Psyche der Natur selber, sie verkündet uns, um mit Schopenhauer zu reden, den Willen der Natur.« Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), S. 31. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 58. Ebd., S. 63. Ebd., S. 66. Diese Auffassung teilten freilich nicht alle. Meier-Graefe hielt dagegen, Böcklin sei kein Landschaftsmaler; die Landschaft sei ihm nur Kulisse. Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905, S. 229. Andrea Gottdang

163

Endnoten/Abbildungsnachweis 68 Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), S. 68. 69 Ebd., S. 68. 70 Ebd., S. 35. 71 Ebd., beispielsweise S. 19. Ähnlich attestiert er den Gestalten Wagners, ihr Kostüm nicht

72 73 74 75 76 77 78 79

80 81 82 83 84 85

86 87

lediglich zu tragen, weil sie einer geschichtlichen oder sagenhaften Vergangenheit zugehören, sondern »ihr Kostüm ist ein Teil ihrer selbst, eine Geburt aus dionysischem Meere« (ebd., S. 62). Nietzsche, Die Geburt der Tragödie (Anm. 21), S. 61. Für Nietzsche gilt (ebd., S. 47): »Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden«. Niemann, Richard Wagner und Arnold Böcklin (Anm. 2), S. 73–74. Hofmann, Richard Wagner (Anm. 59), S. 21. Ebd., S. 18. Ebd., S. 29; siehe auch S. 28. Ebd., S. 18. Vgl. Henry Thode, Böcklin und Thoma. Acht Vorträge über neudeutsche Malerei. Gehalten für ein Gesamtpublikum an der Universität zu Heidelberg im Sommer 1905, Heidelberg 1905, S. 120, 69, 112. Thode wandte sich mit Nachdruck gegen die von Meier-Graefe vertretene Position. Ebd., S. 69. Ebd., S. 112. Meier-Graefe, Der Fall Böcklin (Anm. 67), S. 241. Ebd., S. 239. Ebd., S. 241. Zu Meier-Graefe: Christian Lenz, Erinnerung an Julius Meier-Graefe: »Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten« 1905, in: Schmidt, Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin – eine Retrospektive (Anm. 24), S. 119–129; Scholl, Revisionen der Romantik (Anm. 15), bes. S. 541–549. Meier-Graefe, Der Fall Böcklin (Anm. 67), S. 209. Auch bei Wagner seien die Landschaften nur die Kulisse für die Figuren, ohne inneren Zusammenhang (vgl. ebd., S. 229). Ebd., S. 241.

Abbildungsnachweis 1, 4 Katharina Schmidt, Bernd Wolfgang Lindemann (Hg.), Arnold Böcklin – eine Retrospek-

tive. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Basel, 19. Mai bis 26. August 2001; Musée d’Orsay Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Neue Pinakothek München, 14. Februar bis 26. Mai 2002, Heidelberg 2001. 2, 3 Sven Fricke, www.richard-wagner-postkarten.de.

164

Wagner, Nietzsche und – Böcklin

Andrea Gottdang

165

Autorinnen und Autoren

Karol Berger, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Stanford Federico Celestini, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck Andreas Dorschel, Professor für Ästhetik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Nicola Gess, Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel Andrea Gottdang, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Salzburg Tobias Janz , Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kiel Silvan Moosmüller, Forschungsmitarbeiter am Seminar für Kulturwissenschaften der Universität Luzern Matthias Schmidt, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Basel Arne Stollberg, Professor für Historische Musikwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin 167

Siglenverzeichnis

CT Cosima Wagner, Die Tagebücher, hg. u. kommentiert v. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich

Mack, München/Zürich 1976/77 DS Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. v. Dieter

Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983 GS Richard Wagner, Gesammelte Schriften, hg. v. Julius Kapp, Leipzig 1914 KGW Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begr. v. Giorgio Colli u. Mazzino

Montinari, weitergeführt v. Volker Gerhardt u. a., Berlin/New York 1967 ff. KSA Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden, hg. v

Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München u. a. 21988. Neuausgabe 1999 KSB Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in acht Bänden, hg. v. Giorgio

Colli u. Mazzino Montinari, München u. a. 22003 SB Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hg. im Auftrage der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth

v. Gertrud Strobel u. Werner Wolf [Bde. 1–5], v. Hans-Joachim Bauer u. Johannes Forner [Bde. 6–8], v. Klaus Burmeister u. Johannes Forner [Bd. 9], Leipzig 1967–2000. Ab Bd. 10: Neue Serie, hg. v. Martin Dürrer bzw. Margret Jestremski bzw. Andreas Mielke, Wiesbaden u. a. 1999 ff. SSD Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe, Leipzig [1912–1914]

168