Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft: Neubearb. und hrsg. von Manfred Rehbinder [1 ed.] 9783428461165, 9783428061167

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Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft: Neubearb. und hrsg. von Manfred Rehbinder [1 ed.]
 9783428461165, 9783428061167

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 62

Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft Von

Semen V. Pachmann neubearbeitet und herausgegeben

von Manfred Rehbinder

Duncker & Humblot · Berlin

SEMEN V. PAClIMAN

Ober die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft

Schriften reihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben

VOD

Prof. Dr Manfred Rehbinder

Band 62

Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft

Von

Semen V. Pachman Neubearbeitet und herausgegeben von Manfred Rehbinder

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-:Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Pachman, Semen V.: über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft / von Semen V. Pachman. Neubearb. u. hrsg. von Manfred Rehbinder. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 62) ISBN 3-428-06116-0 NE: Rehbinder, Manfred [Bearb.]; GT

Alle Rechte vorbehalten

@ 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berl1n 41

Satz: G. Schubert, Berl1n 65; Druck: A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berl1n 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06116-0

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers

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I. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft 11 1. Die Entstehung einer realistischen Rechtswissenschaft als Reak-

tion auf das idealistische Naturrecht .......................... 2. Forschungsaufgaben dieser neuen positivistischen Disziplin. . . . .. 3. Ihr Verhältnis zur Rechtsgeschichte ............................ 4. Ihr Verhältnis zur idealistischen Rechtsphilosophie ............

11 13 15 15

II. Die neue historisch-philosophische Richtung und ihre Beurteilung der dogmatisch-systematischen Jurisprudenz ...................... 21 1. Die Bestreitung des Wissenschaftscharakters der Rechtsdogmatik 21 2. Die Ersetzung der Rechtsdogmatik durch Neubau der Rechtswissenschaft auf der Grundlage eines historisch-philosophischen Positivismus .................................................. 23

III. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft .................. 28 1. Die Unterscheidung zwischen sozialer Theorie des Rechts (Rechts-

soziologie) und juristischer Theorie des Rechts (Rechtsdogmatik) 2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche ...................................................... a) Die Rolle des Interesses in der Rechtsdogmatik .............. b) Die Rolle des Interessenschutzes in der Rechtsdogmatik ...... c) Die Rolle des Rechtsschutzinteresses in der Rechtsdogmatik d) Die Bedeutung des Interessenschutzes für die Methode der Rechtsfindung ..............................................

28 32 33 36 38 38

IV. Rechtsdogmatik als Wissenschaft ................................ 41 1. Zur Aufgabe der Wissenschaft ................................ 41 2. Angewandte und theoretische Wissenschaft vom Recht .......... 42 3. Die Gesetze der Rechtsdogmatik als Regeln des juristischen Denkens .......................................................... 44

V. Der Dualismus der Rechtswissenschaft . ........................... 50 1. Die objektive und die subjektive Betrachtungsweise des Rechts 50

2. Die dynamische Betrachtungsweise in der Rechtsdogmatik ...... 51 3. Die öffentlichrechtliche und die privatrechtliche Betrachtungsweise des Rechts .............................................. 52

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Inhaltsverzeichnis 4. Die Untersuchung der ratio legis und der ratio juris ............ 54 5. Rechtsdogmatik als "objektive" und selbständige Disziplin ...... 55 VI. Die Berührungspunkte zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik ............................................................ 57

1. Die Bedeutung der Lebensgrundlagen für die dogmatische Konstruktion der Begriffe ........................................ 57 2. Die Bedeutung der Lebensgrundlagen für die Klassifikation der

Rechtsdisziplinen .............................................. 58

3. Die Zusammenstellung realer und dogmatischer Gesichtspunkte

zum Zwecke von Forschung, Lehre und Rechtsanwendung ...... 60

4. Die Unabhängigkeit der Rechtsdogmatik von der Rechtssoziologie 62

VII. Jhering und die Rechtsdogmatik .................................. 64 VIII. Die selbständige Bedeutung der Rechtsdogmatik .................. 68

1. Rechtsdogmatik als praktische und als theoretische Rechtswissenschaft ........................................................ 68

2. Rechtsdogmatik als Voraussetzung für Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte .............................................. 69 3. Plädoyer gegen die Monopolisierung der Rechtswissenschaft durch die Rechtssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71

Einleitung des Herausgebers Die vorliegende Schrift aus der Vorgeschichte der Rechtssoziologie, die im Jahre 1882 erstmals erschienen ist, ist für uns heute noch von erstaunlich aktuellem Interesse. Ihr Anliegen ist nicht ein Eintreten für die Rechtssoziologie - eine Bezeichnung für das damals neu entstehende Gebiet, die Pachman anscheinend als erster in die Literatur eingeführt hat1 - , sondern im Gegenteil ein Plädoyer für die Rechtsdogmatik als eigenständigen Zweig der Rechtswissenschaft. Diese traditionelle Rechtsdogmatik sah Pachman nämlich durch die "ursupatorischen" Tendenzen einer soziologischen Jurisprudenz gefährdet, wie sie sich damals im Bannkreis der Arbeiten von Jhering international auszubreiten begann. Als 30 Jahre später Eugen Ehrlichs Rechtssoziologie erschien, wurde ihr ebenfalls diese Absicht unterstellt, nämlich die Zersetzung des normativen Denkens durch unzulässige Vermengung von Sein und Sollen, wie das in der berühmten Kontroverse mit Hans Kelsen am deutlichsten zum Ausdruck kam!. Ferner entstand später als Reaktion auf die Freirechtslehre die contra legern-Fabel, d. h. der Vorwurf, die soziologische Jurisprudenz wolle sich nicht mehr an das Gesetz halten3 • Auch dieses findet sich bereits bei Pachman in Form des Vorwurfes, daß Rechtsprechung und Gesetzgebung verwechselt würden. Beides sind Vorwürfe, deren Nachwirkungen trotz aller inzwischen erfolgten Aufklärung bis in die Gegenwart zu spüren sind, und zwar nicht nur in den methodologischen Schriften der Rechtsdogmatiker, sondern interessanterweise auch bei den Rechtssoziologen. So stellt Hans Ryffel im geschichtlichen Abriß seiner Rechtssoziologie bei Ehrlich eine "Neigung zum ursupatorischen Soziologismus"4 fest, und Niklas Luhmann verheint entschieden die Möglichkeit einer soziologischen Jurisprudenz, d. h. einer Nutzung der Rechtssoziologie als Entscheidungshilfe für die RechtspraxisG• 1 Siehe Leo Fishman: Prolegomena zu einer Soziologie des Rechts, in ÖZöR IX (1958/59), S.297-307, 297 f. Pachman benutzt allerdings meist die Bezeichnung: soziale Theorie des Rechts, oder historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft. ! Dazu näher M. Rehbinder: Die Grundlegung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 2. Aufl. 1986, §§ 10, 3a; 11,1 a. E. 3 Dazu ebd. § 9, 1. 4 H. Ryffel: Rechtssoziologie, 1974, S. 51. 5 Nachweise und Kritik dazu bei Thomas W. Bechtler: Der soziologische Rechtsbegriff, 1977, S. 137-162 (157).

Einleitung des Herausgebers

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Diese gegenwärtige Situation macht die vorliegende Arbeit lesenswerte; denn obwohl als Verteidigungsschrift für die Rechtsdogmatik gedacht, wird hier nicht nur sehr früh die große theoretische wie praktische Bedeutung der Rechtssoziologie herausgestellt und der Rechtsdogmatik demgegenüber ein wissenschaftlich weniger bedeutsamer Platz zugewiesen, es wird auch in dem damals schon alten Streit um den Wissenschaftscharakter der Rechtsdogmatik der reinen (theoretischen) Rechtsdogmatik im Gegensatz zur angewandten (auf die Rechtsanwendung reduzierten) Rechtsdogmatik ein sehr enger Wissenschaftsbereich zugewiesen, nämlich die Herausarbeitung der logischen Prinzipien des juristischen Denkens (ratio iuris). Allerdings scheint mir hier der wissenschaftliche Gegenstand der Rechtsdogmatik zu eng gesehen zu sein. Ich würde auch denjenigen Bereich hinzurechnen, der von Ryffel als Rechtssoziologe und Larenz als Rechtsdogmatiker als "verstehend-nachkonstruierend" der Rechtssoziologie zugeschrieben wird, d. h. die Beschäftigung mit den Rechtsinhalten als wertenden Sinnfragen 7 • Die Möglichkeit einer soziologischen Jurisprudenz wird von Pachman streng verneint. Für ihn ist Aufgabe der Rechtsdogmatik nur die Erforschung des allgemeinen formallogischen Aufbaues der Rechtsnormen, unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, der Mathematik vergleichbar8 • Sie steht daher trotz mancher Berührungspunkte völlig selbständig als juristische Theorie des Rechts neben der sozialen Theorie des Rechts. Obwohl er eine idealistische Rechtsphilosophie neben der realistischen Rechtsbetrachtung für notwendig hält, ist für Pachman die Rechtswissenschaft nur durch einen Dualismus von historisch-philosophischer und dogmatisch-systematischer Betrachtung des Rechts gekennzeichnet. Das ist noch bei Eugen Ehrlich soo. Es dauerte also einige Zeit, bis sich der "erkenntnistheoretische Trialismus" (Kantorowicz) durchsetzte und zur Lehre von der Dreidimensionalität des Rechts verdichtete10 • e Daher hatte ich bereits vor 15 Jahren angekündigt, diese Neuausgabe zu veranstalten, doch kamen stets andere Arbeiten dazwischen. Siehe Rehbinder: Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 333-359, 359.

7 Dazu Rehbinder (N. 2) § 10, 2c, und allgemein zur Möglichkeit einer soziologischen Jurisprudenz: Rehbinder (N. 6) passim. 8 Dieser Gedanke einer der Mathematik vergleichbaren reinen Rechtsdogmatik ist dann im Jahre 1889 in der Schweiz von Roguin (Le regle de droit. Etude de science juridique pure, 1889) und 1913 in Deutschland von Reinach (Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlichen Rechts, Jahrbuch für philosophische und phänomenologische Forschung Bd. 1) näher ausgeführt worden. 8 Siehe: Soziologie des Rechts (1913/14), in Gesetz und lebendes Recht,

1986, S. 179-194. 10

Dazu Rehbinder (N. 2) § 11, 1.

Einleitung des Herausgebers

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Im folgenden einige Angaben über den Autor11 : Semen Vikent'evic Pachman (1825-1910) war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Schrift, die er im Februar 1882 als Rede vor der Juristischen Gesellschaft in der St. Petersburger Universität gehalten hat, emeritierter ordentlicher Professor der Universität St. Petersburg, kaiserl. russischer Geheimrat und Senator, und zwar Mitglied des Dirigierenden Senates, die höchste gerichtliche Würde im Zarenreich. In Odessa geboren, besuchte er die Moskauer Universität. 1852 erhielt er an der Universität Kazan zunächst den Lehrstuhl für Sozialgesetzgebung und Rechtsgeschichte, später den Lehrstuhl für Zivilrecht. 1859 wechselte er an die Universität Charkow auf den Lehrstuhl für Sozialgesetzgebung und Zivilrecht über. Von 1866-1876 bekleidete er dann den Lehrstuhl für Zivilrecht und Rechtspflege an der Universität St. Petersburg. Danach las er Zivilrecht am Alexander-Lyzeum und am juristischen Institut. Er war eine Zeitlang Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Zivilgesetzbuches. Neben einigen Aufsätzen werden von ihm vier Buchveröffentlichungen in russischer Sprache zitiert, und zwar 1. seine Dissertation: Über die gerichtliche Beweispraxis nach altrussischem Recht, vor allem dem Zivilrecht, und deren historische Entwicklung, Moskau 1851.

2. Die Geschichte der Kodifikation des Zivilrechts, 2 Bde., St. Petersburg 1876. Diese Arbeit löste eine lebhafte Polemik aus. Dazu wird auf die Abhandlung von Prof. Sergeevic: Aufgaben einer Geschichte der Kodifizierung, in Vestnik Evropy 1876 Nr. 11, sowie auf die spätere Darstellung von Sersenevic: Die Zivilrechtsdogmatik in Rußland, Kazan 1893, verwiesen. 3. Russisches Gewohnheitsrecht. Zivilrechtliche Studien, 2 Bde., St. Pe-

tersburg 1877/79. Dieses Werk wird aus heutiger Sicht als kritiklose Systematisierung der Entscheidungen russischer Gemeindegerichte gekennzeichnet, die den Klassencharakter des Rechts ignoriere. Eugen Ehrlich geht in seiner Grundlegung näher auf das Werk ein, dessen Ergebnisse er zwar für ungemein anfechtbar, aber für nicht wertlos häW 2 •

4. Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft, St. Petersburg 1882. Dazu soll eine Studie von S. A. Muromceva mit dem Titel: Was ist Rechtsdogmatik? erschienen sein. Eugen Ehrlich geht 11 Entnommen der Bol'saja sovetskaja enciklopedija Bd. 32, 1935, S.249, der Enciklopediceskij Slovar' Bd.45, 1898, S. 57 f. sowie dem Vorwort des übersetzers, Prof. Bernstejn, zur Originalausgabe, die 1882 in Berlin bei der Verlagsbuchhandlung Puttkammer & Mühlbrecht erschien. 12 Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S.113: "Denn die Gerichte befinden sich gegenwärtig im Zustande der größten Verkommenheit".

Einleitung des Herausgebers

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zwar auf dieses Werk nicht ein. Wir wissen aber, daß er im Erscheinungsjahr 1882 als Student den Gedanken zu einer Rechtssoziologie faßte und in einem Aufsatz mit dem Titel: Verhältnis der Jurisprudenz zum Systeme der Wissenschaften niederlegte l3 • Die deutsche übersetzung dieser Schrift, die im selben Jahr im Verlag Puttkammer & Mühlbrecht (Berlin) erschien, ist zwar fachkundig in St. Petersburg unter Mitwirkung des Autors erfolgt, bleibt aber sprachlich allzu nahe am Original. Sie ist daher nur schwer lesbar. Ich habe mich deshalb zu einer Fülle von stilistischen Eingriffen entschließen müssen. Die Anfangs- und Schluß floskeln des Vortrages habe ich ganz fortgelassen, hingegen habe ich - so gut es ging - eine Gliederung mit Zwischenüberschriften eingefügt, um das Verständnis dieser als Vortrag konzipierten Arbeit weiter zu erhöhen. Der Leser sei jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die überschriften zwar anhand des Textes formuliert wurden, aber nicht vom Autor selbst stammen. Kyoto, im Dezember 1985 Manfred Rehbinder

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Siehe Rehbinder (N. 2), S. 24 N. 64.

I. Die neue historism-philosophisme Rimtung der Remtswissenschaft 1. Die Entstehung einer realistischen Rechtswissenschaft

als Reaktion auf das idealistische Naturrecht

Bekanntlich hat die Rechtswissenschaft selbständige Bedeutung erst bei den Römern erlangt, und obwohl man sie sehr umfassend als "divinarum et humanarum rerum notitia, justi atque injusti scientia" bezeichnete, wurde sie in Wahrheit als System gerichtlich anzuwendender Rechtsnormen entwickelt, wobei sie sich fast ausschließlich auf das sog. Privatrecht bezog. Diesen Charakter hat die Rechtswissenschaft, abgesehen von einigen Veränderungen in der Art und Weise der Forschung, bis auf den heutigen Tag treu bewahrt. Dieser hat sich mehr oder weniger auch verschiedenen Sonderdisziplinen mitgeteilt, die sich im Laufe der Zeit auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts herausbildeten. Jedoch behielt er vorherrschende Bedeutung auf dem Gebiete des Zivilund Strafrechts als denjenigen Disziplinen, die in der gerichtlichen Praxis zunächst Anwendung finden und somit als Hauptvertreterinnen der Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes oder der Jurisprudenz betrachtet werden. Unabhängig von der Rechtswissenschaft als solcher und lange, bevor von dieser überhaupt die Rede war, waren schon verschiedene das Recht betreffende Fragen zum Gegenstand besonderer Untersuchungen und Forschungen gemacht worden, und zwar auf dem Gebiet der allgemeinen Philosophie. Es ist bekannt, daß - angefangen vom alten Griechenland - viele philosophische Systeme Fragen des Rechts und der Politik direkt oder indirekt berührten. Da wir uns aber nur auf die Darlegung der gegenwärtigen Bewegung in der Rechtswissenschaft beschränken wollen, lassen wir jene alten philosophischen Systeme ganz aus dem Spiel und glauben uns berechtigt, als Ausgangspunkt für unsere Erörterungen diejenige philosophische Richtung zu nehmen, die den Hauptanstoß zu den gegenwärtigen Bestrebungen in der Rechtswissenschaft gegeben hat, nämlich die sog. naturrechtliche Schule. Der Gedanke eines Naturrechts war auch der alten Welt nicht fremd, wurde jedoch erst in neuerer Zeit selbständig ausgebildet, und zwar hauptsächlich unter dem Einfluß verschiedener sozialer Mißstände. Er

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1. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft

entwickelte sich aus dem Bewußtsein, daß eine Wissenschaft, die sich die Erforschung des Rechts zur Aufgabe gestellt hat, nicht dabei stehen bleiben könne, dem Recht die größtmögliche praktische Anwendbarkeit zu verschaffen, sondern daß sie vielmehr im Dienste des sozialen Lebens wirken müsse, ferner daß die Rechtswissenschaft sich nicht auf die Interpretation des juristischen Materials beschränken dürfe, vielmehr verpflichtet sei, über dasselbe sich erhebend, es zum Gegenstande ihrer Kritik und Beurteilung zu machen. Der Gedanke, der allen naturrechtlichen Systemen, wie sehr sie auch im einzelnen voneinander abweichen mögen, gemeinsam zugrunde lag, war der, daß die Wissenschaft selbst ein allgemeines, normales Recht zu schaffen habe, da die Rechtsidee dem Menschen angeboren sei und als die alleinige Quelle angesehen werden könne, aus welcher mit Hilfe der Vernunft die Grundsätze zu schöpfen und zu entwickeln seien, die die sozialen Verhältnisse bestimmen. Aus den auf solchem Wege erlangten Grundsätzen sollte dann das absolute, keinen Veränderungen unterworfene, für alle Zeiten und Geschlechter geltende Recht erstehen. Die Aufgabe, die der Wissenschaft dabei zugeteilt wurde, bestand darin, daß sie ein System dieses Rechts aufzustellen und durchzuführen habe. Zur allgemeinen Charakteristik dieser Idee ist hier noch hinzuzufügen, daß über das gegenseitige Verhältnis zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht verschiedene Ansichten herrschten: dieses Verhältnis wurde nämlich entweder dahin bestimmt, daß jedwede positive Norm, die mit den naturrechtlichen Grundsätzen nicht übereinstimmte, einfach zu verwerfen sei, oder aber dahin, daß das positive Recht insoweit Geltung haben müsse, als es nur Modifikationen der naturrechtlichen Grundsätze enthalte, wobei übrigens manche rein positivrechtlichen Institute, z. B. die Verjährung, zugelassen wurden, oder endlich dahin, daß das Naturrecht im Verhältnis zum positiven Recht als ein ergänzendes, subsidiäres zu betrachten sei. Wenn nun auch nicht geleugnet werden kann, daß die naturrechtlichen Lehren in praktischer Hinsicht von nicht zu unterschätzendem Nutzen waren, da sie einen bedeutenden Einfluß auf die Verbesserung der rechtlichen Zustände in den meisten Ländern Westeuropas ausübten, so ist andererseits nicht zu verkennen, daß die Autorität einer Theorie, die ihre Grundsätze ausschließlich aus der Idee der reinen Vernunft ableiten wollte, in wissenschaftlicher Hinsicht nicht von Dauer sein konnte. Dem Rationalismus und der idealistischen Richtung der naturrechtlichen Schule trat die Geschichte entgegen. Die Idee eines ewigen, unabänderlichen Rechts erwies sich als verfehlt, da das Recht nicht ein fertiges Produkt der menschlichen Vernunft ist, sondern sich durch geschichtliche Entwicklung hervorarbeitet und daher, gleich den anderen Elementen des sozialen Lebens wie Sprache, Sitten und dergleichen, V~ränderungen unterliegt. Infolgedessen sah sich die Philo-

2. Forschungsaufgaben dieser neuen positivistischen Disziplin

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sophie gezwungen, mit der Geschichte Hand in Hand zu gehen, vermochte es dabei aber doch nicht, sich sogleich und allerorts von der idealistischen Richtung loszusagen. Während sie nicht mehr auf der Konstruktion eines unmittelbar aus den abstrakten Forderungen der Vernunft vorhergehenden unabänderlichen Rechtes bestand, suchte sie doch nach solchen höchsten Prinzipien, die - aus der Natur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft selbst hervorgehend - dem ganzen Rechtsgebiete gemeinsam wären (Krause, Ahrens), als ob diese Natur selbst etwas Unveränderliches, außerhalb der sozialen Kulturentwicklung Stehendes wäre. Die Beseitigung aller hier berührten Mißverständnisse wurde Sache derjenigen rechtsphilosophischen Richtung, welche die realistische genannt zu werden pflegt. Auch diese Richtung ist nicht gerade eine neue und hat verschiedenartige Theorien hervorgerufen, doch besteht der gemeinsame Zug aller dieser gegenwärtigen Theorien in dem Streben nach Erklärung der tatsächlichen Rechtsgebilde aufgrund von wissenschaftlichen Anforderungen, die der sog. (philosophische) Positivismus stellt. Die Aufgabe der neuen historischphilosophischen Wissenschaft besteht, was das Rechtsgebiet anbetrifft, nicht darin, ein keinen Veränderungen unterworfenes, absolutes Recht herauszufinden; sie richtet ihre Bestrebung vielmehr auf Erforschung derjenigen Kräfte, welche die Entstehung und Entwicklung des Rechts hervorrufen. Sie will die "Gesetze der rechtlichen Erscheinungen" überhaupt klarlegen. 2. Forschungsaufgaben dieser neuen positivistischen Disziplin

Dies ist die in der jetzigen Rechtswissenschaft vorherrschende Richtung, so wie sie sich auch in der russischen Literatur ausgesprochen hat. Wichtigkeit und Umfang der Aufgabe dieser neuen Wissenschaft ergeben sich aus dem umfassenden Material und dem großartigen Plan, die ihren Arbeiten zugrunde gelegt werden sollen. Es sollen nämlich alle denkbar möglichen Faktoren, durch welche die Rechtsentwicklung bedingt wird, erforscht werden. Es soll also die neue Wissenschaft, auf historischem Boden bleibend, mit allen anderen der Erforschung der sozialen Erscheinungen zugewandten Disziplinen in nächste Beziehung treten, da das Recht selbst ja wesentlich zu den Elementen des sozialen Lebens gehört. Unter diesen Disziplinen aber soll, außer der Soziologie im allgemeinen, die erste Stelle die politische Ökonomie einnehmen, da das wirtschaftliche Leben die wichtigste reale Grundlage der Rechtsentwicklung bildet. Außerdem muß, bei Erforschung der Natur der Gesellschaft unumgänglich, zu allererst die Natur des Menschen selbst, und zwar jeweils auf den verschiedenen Stufen der sozialen Kultur, ergründet werden. Selbstverständlich ist eine derartige Ergründung

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1. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft

der menschlichen Natur nicht ohne Zuhilfenahme der Anthropologie und Psychologie möglich, welch letztere wiederum die Physiologie benötigt usw. Dies ist ungefähr das Gebiet der Studien, die zur Begründung der neuen Rechtswissenschaft als notwendig erachtet werden. Da nun diese Wissenschaft erst im Entstehen begriffen ist und sowohl ihre Elemente als auch die Grenzen ihrer Berührung mit anderen Zweigen des Wissens noch nicht völlig präzisiert sind, so hat dieselbe auch noch keine bestimmte Benennung. Fest steht, daß sie eine historisch-philosophische Wissenschaft sein soll. Doch ist es möglich, daß sie den Namen einer Soziologie oder Physiologie des Rechts annehmen wird. Fürs erste nennen die Anhänger derselben sie einfach "die Rechtswissenschaft" . Daß für diese neue Wissenschaft noch nichts geleistet worden sei, kann man nicht sagen, im Gegenteil: die vorbereitenden Arbeiten für dieselbe schreiten rüstig vorwärts, die Zahl der Anhänger der neuen Richtung ist fortwährend im Steigen begriffen, und der Versuche, einzelne Fragen vom Standpunkte der neuen Wissenschaft aus zu bearbeiten, gibt es auch nicht wenige. Es wird vorläufig genügen, ohne Herzählung vieler Namen und Werke, die an der Spitze der neuen Richtung stehen, auf die Arbeiten eines der hervorragendsten Juristen der Gegenwart hinzuweisen, dessen Namen in der russischen Wissenschaft in hohem Ansehen steht und der erst kürzlich in einem Briefe seine tiefe Erkenntlichkeit für die Sympathie zum Ausdruck gebracht hat, welche die russischen Juristen seinen Werken entgegenbringen1 ich meine den berühmten Professor v. Jhering, der es sich schon seit den fünfziger Jahren als einer der ersten Verkünder der neuen Lehre in Deutschland zur Aufgabe gestellt hat, feste Grundlagen für eine historisch-physiologische Rechtstheorie zu schaffen. Angefangen von seinem allbekannten "Geist des römischen Rechts" verfolgt er unverrückt sein Ziel, sowohl in den von ihm begründeten Jahrbüchern für die Dogmatik etc. als auch, und zwar insbesondere, in seinem groß angelegten Werk "Der Zweck im Recht". Nach den Anfängen zu urteilen, ist es bis jetzt noch schwer, sichere Schlüsse über den Umfang der bevorstehenden Arbeiten und über die Resultate zu ziehen, die sich daraus für die Begründung eines abgerundeten wissenschaftlichen Systems ergeben werden. Zu den enormen Schwierigkeiten, die sich einer erfolgreichen Durchführung der vorgezeichneten Aufgabe in den Weg stellen, gehört schon der Umstand, daß die oben erwähnten Hilfswissenschaften noch ziemlich weit davon entfernt sind, eine hohe Stufe der Entwicklung erreicht zu haben, und 1 Dieser Brief ist im russischen Journal für Zivil- und Strafrecht 1882, Heft 2, abgedruckt.

4. Ihr Verhältnis zur idealistischen Rechtsphilosophie

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daß manche, wie z. B. die Soziologie, noch ganz und gar in den Anfängen stecken. Allenthalben geht es noch um die Suche nach einer festen wissenschaftlichen Grundlage, wobei selbst das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Zweige der Sozialwissenschaften untereinander noch lange nicht geklärt ist. Es wäre daher verfrüht, jetzt schon an die Aufstellung eines selbständigen und fest begrenzten Systems der neuen Wissenschaft auf dem Gebiete des Rechts zu denken. 3. Ihr Verhältnis zur Rechtsgeschichte Nichtsdestoweniger stellt bereits der Gedanke einer vom Gesichtspunkt der neuen Schule aus vorgenommenen Bearbeitung des Rechts ohne Zweifel ergiebige Resultate für Untersuchungen in Aussicht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufgabe der neuen Wissenschaft stehen. Und vor allem muß daraus natürlich die Rechtsgeschichte Nutzen ziehen, da sie es mit der Entwicklung des positiven Rechts eines gegebenen Volkes oder einer gegebenen Zeit zu tun hat. Die rechtsgeschichtliche Forschung kann sich selbstverständlich nicht mit einer einfachen Darstellung der Ereignisse begnügen, noch kann sie bei der Idee des "nationalen Selbstbewußtseins" stehen bleiben, da sich unter dem Deckmantel dieser Idee auch rein spekulative Ansichten verbergen können, die mit den Anforderungen des realen Wissens nichts gemein haben. Feste leitende Grundsätze, auf welche jede rechtshistorische Forschung gegründet sein muß, kann denn auch nur diejenige Wissenschaft erarbeiten, welche die Ergründung der allgemeinen Entwicklungsgesetze der rechtlichen Erscheinungen als ihre Aufgabe betrachtet. Das Verhältnis der Solidarität zwischen der Rechtsgeschichte einerund der neuen Wissenschaft andererseits begreift sich denn auch von selbst, da letztere eigentlich nichts weiter ist als die Verallgemeinerung der Rechtsgeschichte, die allgemeine Theorie derselben: wird doch in unseren Tagen die wissenschaftliche Aufgabe der Geschichte im allgemeinen, zu welcher die Rechtsgeschichte als Teil gehört, direkt dahin bestimmt, daß sie in der Erforschung derjenigen Gesetze bestehe, nach denen die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft vor sich geht. 4. Ihr Verhältnis zur idealistischen Rechtsphilosophie Einigermaßen verschieden von Obigem ist, wie es scheint, die Bedeutung der neuen Wissenschaft für Untersuchungen und Systeme, die auch jetzt noch vom Gedanken der selbständigen Existenz einer "Philosophie des Rechts", abgesondert von der Geschichte desselben, ausgehen. Das gegenseitige Verhältnis zwischen der neuen historisch-

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1. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft

philosophischen Wissenschaft und der früheren Philosophie hat sich in der Tat, wie oben bemerkt wurde, noch nicht definitiv präzisiert. Die Frage nach der Selbständigkeit der Rechtsphilosophie im Gegensatz zur Rechtsgeschichte (und zur positiven Rechtswissenschaft überhaupt) ist im Gegenteil bis heute offen!. Auch jetzt noch gibt es, sogar unabhängig vom Gedanken eines unabänderlichen absoluten Rechts, nicht wenige Anhänger der idealistischen Richtung in dem Sinne, daß man die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Aufstellung von Grundsätzen für gegeben erachtet, die als Ideal, nach dessen Verwirklichung das positive Recht streben müsse, und zugleich als Maßstab für die Beurteilung des letzteren dienen könnten. Und diese Richtung existiert noch sowohl in Deutschland, z. B. in der Schule von Ahrens, als auch in Frankreichs. Wir können uns hier nicht auf eine ausführliche Beurteilung dieser Richtung einlassen, namentlich da wir noch eine besondere, spezielle Aufgabe vor uns haben, welche überhaupt die vorliegende Rede hervorrief. Wir wollen uns auf einige wenige Worte beschränken, die Frage aber direkt dahin stellen: Vermag die neue positivistische Rechtswissenschaft die ideale Rechtsphilosophie zu ersetzen, so daß letztere als überflüssig erschiene, und - wenn nicht - ist diese Philosophie dann imstande, wissenschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden? Wenn die Aufgabe der neuen Rechtswissenschaft vom Standpunkt des sog. Positivismus aus darin besteht, die Entwicklungsgesetze der rechtlichen Erscheinungen aufzudecken, so fragt es sich, ob diese Wissenschaft - obwohl sie nicht nur die Ursachen, sondern auch die Folgen der rechtlichen Erscheinungen zu erforschen sucht und also auf die Erforschung derjenigen Zwecke und Interessen gerichtet ist, auf welche sich die Rechtsentwicklung gründet - sich auf die praktische Beurteilung und Kritik der genannten Erscheinungen erstrecken soll, ob es 2 Siehe z. B. Adolf Merkei: über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur "positiven" Rechtswissenschaft, in: Grünhuts Zeitschrift 1 (1874), S. 1-10; Schütze: Die Stellung der Rechtsphilosophie zur positiven Rechtswissenschaft, ebd. 6 (1879), S. 1-26, sowie Julius Bahnsen: Ist eine Rechtsphilosophie überhaupt möglich und unter welchen Bedingungen?, ZvglRw 3 (1882), S.219-231. 3 Siehe z. B. Fouillee: La science sociale contemporaine, Paris 1880, S.56: "le caractere propre de la methode fran!;aise, c'est d'accorder le premier rang a l'etude de l'ideal que la societe doit realiser", insbesondere aber ders. in: L'idee moderne du droit, Paris 1878, S.226-227: "la science sociale et politique, plus encore que toute autre, doit tenir compte de l'ideal dans ses principes et dans ses applications. La science sociale en effet tend a la pratique, et il n'y a point de pratique sans ideal ... La est le cöte vrai, la sont la grandeur et la force de la doctrine fran!;aise ... Une legislation civile, une constitution politique, doivent sans doute etre faites pour la realite, mais elles doivent etre faites en meme temps pour l'ideal: c'est ce qu'oublient les naturalistes et l'ecole historique ... La consideration de !'ideal est aussi indispensable au jurisconsulte et au politique que l'etude de la geometrie pure au mecanicien ... Si le droit et la liberte ne sont point une realite, ne sont-ils pas du moins un ideal?"

4. Ihr Verhältnis zur idealistischen Rechtsphilosophie

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ihrem Wesen entspricht, eine Billigung oder Mißbilligung in dieser Hinsicht auszusprechen. Ihre Aufgabe ist im wesentlichen eine rein historische. Ihre Sache ist es, nur zu erklären, warum das der Forschung unterliegende Recht so und nicht anders beschaffen sei, und obgleich sich aus ihren Untersuchungen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, wohl manches über die weitere Entwicklung des Rechts ergeben kann\ so stellt und beantwortet sie doch nicht direkt die Frage: was soll eigentlich Rechtens sein? In diesem Sinne stimmt die realistische Rechtstheorie mit den Naturwissenschaften überein, und wenn es jemanden bei Erforschung der historischen Gesetze der Rechtsentwicklung als dienlich erschiene, die Erscheinungen einer Kritik zu unterwerfen, ihre praktische Tragweite zu prüfen oder gar irgend ein Erscheinungsgesetz, wie das nicht selten in folge von Verwirrung der Begriffe geschieht, in eine zu erwünschende Norm zu verwandeln, so kann ihm zwar das natürlich niemand wehren. Allein in dergleichen Erörterungen würde man augenscheinlich etwas Heterogenes, nicht direkt zur Sache Gehörendes sehen müssen, da jede praktische Beurteilung und Idealisierung irgendeines Prinzips dem Wesen nach vollständig über die Grenzen der Aufgaben einer geschichtlichen Theorie des Rechts hinausgeht. Es ist richtig, daß auch in der "sozialen" oder geschichtlichen Theorie des Rechts von den Zwecken, die dasselbe verfolgt, die Rede ist, doch nur in ihrer Bedeutung als Ursachen oder Motive, welche die Rechtsgebilde hervorrufen, nicht aber im Sinne von zu erreichenden Zielen. J. S. Mill hat richtig bemerkt, daß die Wissenschaften, welche von der menschlichen Natur und Gesellschaft handeln, stets nicht nur das, was existiert, darstellen, sondern auch das, was sein sollte, und daß die vollkommenste wissenschaftliche Theorie keineswegs die Teleologie zu ersetzen imstande sei5 • Wenn das richtig ist, so entsteht die Frage, ob denn auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft eine besondere Theorie Platz finden sollte, welche die Erörterung von zu erstrebenden Zielen und die Begründung von Idealen des Rechtszustandes zum Gegenstand hätte. Bei Entscheidung dieser Frage muß man - wie es uns scheint - im Auge behalten, daß die rechtlichen Erscheinungen sich nicht den Erscheinungen der physischen Welt anpassen lassen: letztere stehen nämlich außerhalb der menschlichen Willkür. Man kann versuchen, sie den menschlichen Bedürfnissen anzu4 Auch J. S. Mill zweifelt daran. Obwohl er anerkennt, daß die sozialen Erscheinungen unabänderlichen Gesetzen unterliegen, sagt er dennoch: "Es ist in der Tat keine Hoffnung, daß diese Gesetze, wenn auch unsere Kenntnis von ihnen so gewiss und vollständig wäre wie unsere Kenntnis der Gesetze der Astronomie, uns in den Stand setzen würden, die Geschichte der Gesellschaft so vorauszusagen, wie man die himmlischen Erscheinungen für Tausende von Jahren voraussagen kann" (System der Logik, deutsch v. J. Schiel, Braunschweig 1877, Bd. II, S. 499 f.). 5 Ebd., S. 595.

2 Pachman

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1. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft

passen, ist aber nicht imstande, sie abzuändern. Ist nun die Natur der sozialen Erscheinungen überhaupt und die der rechtlichen insbesondere ebenso beschaffen? Die Entstehuhg und Fortentwicklung des Rechts geht, wenn auch unter dem Einfluß verschiedener äußerer Bedingungen, nicht anders als mittels menschlicher Tätigkeit vor sich. Man kann das Recht nicht zu denjenigen Erscheinungen rechnen, deren Zustandekommen und Fortbildung unabhängig von menschlichem Denken und Willen erfolgen6 • Für die auf Einführung und Abänderung rechtlicher Gebilde gerichtete Tätigkeit muß es unstreitig auch leitende Grundsätze geben. Für diese Tätigkeit sind freilich - abgesehen von den Erfahrungen des Lebens - auch die Fingerzeige maßgebend, die die Geschichte gibt. Die Geschichte aber weist eben nur auf verschiedene Wege und Richtungen hin, ohne dieselben einer praktischen Prüfung zu unterwerfen und unter denselben eine Wahl zu treffen. Indem sie die Erscheinungen lediglich generalisiert, erhebt sie sich nicht über das Faktum und unterwirft dasselbe keiner Kritik vom Standpunkt des praktischen Lebens aus. Für die Geschichte ist streng gesprochen dieser oder jener Inhalt, diese oder jene Richtung des positiven Rechts gleichgültig. Für das Leben dagegen, welches unaufhörlich seine Anforderungen stellt, kann das durchaus nicht gleichgültig sein. Das Leben verlangt nicht unmittelbar nach historischen Gesetzen, in welchen die verschiedenartigsten Zwecke und Interessen absolut indifferent verallgemeinert würden. Es sucht vielmehr nach Ideen von bestimmtem Inhalt, nach der Idee des Guten, der Freiheit, des Fortschritts, welche als Kriterien sowohl für die Beurteilung der existierenden Erscheinungen als auch für die Richtung der rechtserzeugenden Tätigkeit dienen könnten. Daraus folgt, daß das Leben auch eine Theorie benötigt, in welcher diese Ideen zum wissenschaftlichen Ausdruck gelangen, eine Theorie nämlich, die von dem Gesichtspunkt ausgeht, daß im Recht das Mittel zur Verwirklichung der Idee des Guten und Gerechten (jus est ars boni et aequi) zu suchen sei und daß das Recht daher selbst ein "sittliches" im besten Sinne des Wortes sein müsse. Ist nun aber eine solche Theorie in wissenschaftlichem Sinne möglich? Diese Frage wird vom Standpunkt der realistischen Wissenschaft aus verneinend entschieden. Wenn nun jene Theorie es sich zur Aufgabe machte, gleich der naturrechtlichen Schule ein unabänderliches f Selbst v. Jhering, der das Wesen des Rechts nicht im Willen, sondern im Zweck sieht, sagt ja: "Das Recht ist keine Pflanze, sondern ein Stück menschlichen Denkens" - "nicht das Werk einer blind waltenden Naturkraft, sondern das Verdienst und die freie Tat des denkenden Geistes" (Geist des römischen Rechts UI, 3. Aufl., S. 306 f.). Siehe auch Sarwey: Das öffentliche Recht, Tübingen 1880, S. 13: "Die Rechtsordnung ist der Ausfluß des menschlichen Willens, das Produkt seiner Tat."

4. Ihr Verhältnis zur ideaiistischen Rechtsphilosophie

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Normalrecht zu schaffen, so wäre gegen die Verneinung obiger Frage nicht zu streiten, da das Recht zweifellos zu den Erscheinungen gehört, die an sich wandelbar sind und entsprechend den Veränderungen, die in den Bedürfnissen der Gesellschaft selbst vor sich gehen, dem Wechsel unterliegen müssen. Wir geben auch zu, daß die höchsten Rechtsprinzipien nicht aus der Natur des Menschen und der Gesellschaft abgeleitet werden können, wie andere Idealisten es taten, da diese Quellen selbst zu den wandelbaren Erscheinungen zählen; obgleich wir bemerken müssen, daß es von einigen Eigenschaften wie dem egoistischen Streben der menschlichen Natur und von etlichen unvermeidlichen Bedingungen jeden Zusammenlebens, in welcher Form dasselbe auch stattfände, kaum bezweifelt werden kann, daß sie stets und unabänderlich ihre Wirkung entfalten. Endlich würden wir auch nicht den Rationalisten beitreten, welche meinten, daß sich ein fertiger Vorrat höchster Rechtsprinzipien in der menschlichen Vernunft vorfinde, wenn man dieses wörtlich nimmt. Gewöhnlich führt man denn auch dagegen an, daß die aus einer solchen Quelle wie der Vernuhft abgeleiteten Rechtsideen nicht den Charakter einer objektiven Norm hätten, rein subjektive Anschauungen aber an und für sich jeder wissenschaftlichen Bedeutung entbehrten. In dieser Art formuliert man namentlich eines der Hauptargumente gegen die naturrechtliche Schule7 • Ist denn aber dieser scheinbar unumstößliche Einwand wirklich begründet? Die Rechtsidee ist nach der eigenen Ansicht der Rationalisten zwar in der menschlichen Vernunft enthalten. Wenn aber diese Vernunft etwas Abstraktes ist, kann man dann annehmen, daß sie sich ganz ohne Rücksicht auf die Einflüsse des Lebens und seiner Bedürfnisse ausbilde, da ja der Mensch selbst ein gesellschaftliches Wesen (zoon politicon) ist? Unzweifelhaft spiegeln sich in den Anschauungen, die man der Vernunft des einzelnen Individuums zuschrieb, die Ideen der gesamten Menschheit wider. Die Ideen, in denen das Streben nach Freiheit und Wohlfahrt zum Ausdruck kommt, sind allen Zeiten und Geschlechtern gemeinsam und zeigen trotz Verschiedenheit ihrer Erscheinungsform eine auffallende übereinstimmung, und zwar nicht nur hinsichtlich der Zwecke, sondern teilweise sogar hinsichtlich der Mittel zur Verfolgung dieser Zwecke - eine übereinstimmung, die schon Cicero in seiner bekannten Tirade über das ewige Gesetz der Gerechtigkeit hervorhebt. Wenn man nun diesen Ideen den Charakter der Objektivität nicht absprechen kann, so fragt es sich, ob sie nicht selbst zum Gegenstand einer Theorie, einer Verallgemeinerung, unabhängig von ihrer Bedeutung für die Rechtsgeschichte, werden können. Die Aufgabe einer 7 Siehe z. B. Ahrens: Philosophie des Rechts I, § 15, 22 u. a.; Arnold: Recht und Wirtschaft, Basel 1863, S.5; Bluntschli: Geschichte der neueren Staatswissenschaft, 3. Auf!. 1881, S. 394 u. a.



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I. Die neue historisch-philosophische Richtung der Rechtswissenschaft

derartigen Theorie könnte u. E. dahin bestimmt werden, daß sie aufgrund der ununterbrochenen mahnenden Stimme, mit der sich die Bestrebungen der gesamten Menschheit äußern, die Grundideen zu erfassen und zu formulieren hätte, die als Kriterien für die Beurteilung des Existierenden und als Hebel der sozialen Entwicklung dienen könnten. Nicht nur die Aufstellung eines Systems dieser Ideen, auch die selbständige Erforschung ihres Ursprungs sowie der verschiedenen Formen, in denen sie zum Ausdruck gelangt sind, und ihrer inneren Übereinstimmung: alles dies könnte wohl Aufgabe einer solchen Theorie sein. Ohne weiter auf diesen Gegenstand einzugehen, bemerken wir nur, daß für uns wenigstens kein Zweifel daran besteht, daß die Untersuchungen in der bezeichneten rein philosophischen Richtung immer einen selbständigen Wert gehabt haben und haben werden, da diese darauf gerichtet sind, die allgemeinmenschlichen Bestrebungen und Ideen ans Licht zu fördern, die im Sozialleben wirksam sind. Aber andererseits besteht auch kein Zweifel daran, daß diese Ideen selbst, um sie im Leben durchführen zu können (z. B. auf dem Gebiete der sog. Rechtspolitik), einer strengen Prüfung unterworfen werden müssen: sie müssen mit den verschiedensten Bedingungen für ihre Verwirklichung rechnen, um nicht zu Utopien und zu fruchtlosen Träumereien zu werden. Hier kann unstreitig nur von derjenigen Wissenschaft Hilfe erwartet werden, welche die Gesetze der Erscheinungen und aller auf diese Einfluß nehmenden Lebensbedingungen untersucht: nur sie wird dem Philosophen die richtige Lösung dafür geben können, warum solche Institute wie die Familie, das Eigentum oder der Staat nicht zufällige oder willkürliche Gebilde sind, sondern natürliche Produkte der menschlichen Natur selbst und der unabweisbaren Forderungen des Zusammenlebens der Menschen. Nur diese Wissenschaft ist auch imstande, einen festen Maßstab zu liefern, um aus der Fülle rein idealistischer wissenschaftlicher Vorstellungen die wirklichen Lebenswahrheiten herauszufinden. In diesem Sinne kann man sagen, daß jede philosophische Untersuchung auf dem Gebiete des Rechts unter der Ägide jener positivistischen Wissenschaft stehen muß, die sich jeglicher aprioristischen Anschauungen enthält, indem sie sich die Erforschung der Gesetze der rechtlichen Erscheinungen zur Aufgabe macht und die Lösung ihrer so außerordentlich schweren Aufgabe auf dem Boden der tatsächlichen realen Bedingungen der Rechtszustände sucht, und zwar im engsten Anschluß an alle die Zweige des Wissens, die - direkt oder indirekt - in irgend einer Beziehung zur Ergründung der sozialen Erscheinungen stehen.

11. Die neue historism-philosophisme Rimtung und ihre Beurteilung der dogmatischsystematismen Jurisprudenz Dies ist in groben Zügen die Bedeutung der neuen Wissenschaft auf dem Gebiete rechtshistorischer und philosophischer Untersuchungen. Für uns aber ist in dieser Stunde eine andere Frage von viel größerer Wichtigkeit, nämlich die nach dem Schicksal jener Wissenschaft, die bis jetzt als Rechtswissenschaft, als juristische Wissenschaft im eigentlichen Sinne, gegolten hat. Uns interessiert speziell die Frage: welche Stellung hat die neue Wissenschaft der Rechtswissenschaft, der Jurisprudenz gegenüber eingenommen? 1. Die Bestreitung des Wissenschaftscharakters der Rechtsdogmatik

Man sollte denken, daß die Entwicklung der sog. historisch-philosophischen Wissenschaft vor sich gehen könnte, ohne im geringsten an die Jurisprudenz als dogmatisch-systematische Wissenschaft zu rühren. Allein die neue Schule betrachtet die Sache anders. Als Basis dieser Betrachtungsweise dient der Gesichtspunkt, daß die Aufgabe der Wissenschaft darin bestehe, die Gesetze der Erscheinungen zu untersuchen, und daß nur diejenigen Untersuchungen auf dem Gebiete des Rechts als wissenschaftliche gelten können, welche den organischen Zusammenhang der rechtlichen Erscheinungen erklären, was man von der jetzigen Jurisprudenz nicht sagen könne. Letztere sei nichts weiter als eine Reproduktion empirischen Materials. Ihre Prinzipien seien nichts anderes als zu erforschende Erscheinungen. Sie zeige nur, was zu einer gegebenen Zeit geltendes Recht sei, erkläre aber nicht, warum es gerade so und nicht anders sei. Daher könne der Jurisprudenz, so lange sie das bleibt, was sie gegenwärtig ist, nicht der Name einer Wissenschaft beigelegt werden. Es ist klar, daß bei einer solchen Ansicht über die juristische Wissenschaft eigentlich nicht die Rede von einer besonderen, neben ihr bestehenden "Rechtswissenschaft" sein kann, sondern nur von einem vollständigen Umbau der juristischen Wissenschaft auf neuen Grundlagen, von ihrer Ersetzung durch eine ganz andere Wissenschaft oder, was dasselbe sagen will, von einer vollständigen Beseitigung der gegenwärtigen Jurisprudenz. In der Tat hat sich denn die neue

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II. Rechtssoziologie und ihre Beurteilung der Rechtsdogmatik

Wissenschaft in diesem Sinne nicht nur ausgesprochen, sondern sogar schon in demselben zu arbeiten begonnen. Und darin sehen wir einen besonders hervorragenden charakteristischen Zug der gegenwärtigen Bewegung in der Rechtswissenschaft. Die Angriffe auf die Jurisprudenz und die Versuche einer Reorganisation derselben sind durchaus nichts Neues. Ohne auf entferntere Zeiten zurückzugehen, wird es genügen, daran zu erinnern, daß schon seit Ende der vierziger Jahre - angefangen von dem bekannten Pamphlet Kirchmanns: "über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1848), welches eine bedeutende Aufregung unter den Juristen hervorrief - die verschiedenartigsten Projekte zur Reform der Rechtswissenschaft zu erscheinen begannen. Alle diese Entwürfe stimmten darin überein, daß die Rechtswissenschaft sich bei ihren Arbeiten auf die Ergründung der Zwecke und Bedürfnisse des Lebens, die dem Rechte zur Grundlage dienen, zu konzentrieren habe und daß dieselbe auf dem Studium der realen Ursachen und Bedingungen der Rechtsentwicklung aufzubauen sei. Besondere Bedeutung erlangte dabei die Ansicht, daß die rechtlichen Erscheinungen auf dem Boden des wirtschaftlichen Lebens der Gesellschaft zu studieren seien und daß daher die politische Ökonomie die Grundlage für die Jurisprudenz abgeben müsse. Allbekannt sind z. B. die diesbezüglichen Studien Dankwardts, der jedoch selbst betonte, daß ein Aufbau der Jurisprudenz auf auSschließlich wirtschaftlicher Basis nicht möglich sei8 • Unter den eifrigsten Vorkämpfern für eine radikale Umbildung der Rechtswissenschaft ist besonders der auf dem Gebiete der Staatswissenschaften so hochbedeutende Lorenz v. Stein zu nennen. In seinen zahlreichen Werken benutzt er jede sich bietende Gelegenheit, um hervorzuheben, wie verfehlt die gegenwärtige Jurisprudenz als Wissenschaft sei, und schlägt vor, der Rechtswissenschaft eine auf realem Boden fußende Philosophie zugrunde zu legen. Dieser Ansicht hat er sogar ein besonderes Werk gewidmet, in welchem er sowohl die allgemeinen historisch-philosophischen Grundlagen der Rechtsforschung als auch das gegenseitige Verhältnis der einzelnen Zweige des Rechts zueinander klarzumachen sucht. In seinem Plan für den Neubau der Rechtswissenschaft auf philosophischen Grundlagen spielt das wirtschaftliche Element im sozialen Leben eine große Rolle, eine noch größere jedoch das staatliche Element, so daß nach ihm eigentlich die ganze Rechtswissenschaft schließlich in der Wissenschaft vom Staate aufgeht. Uns interes8 Dankwardt: Nationalökonomisch-civilistische Studien, 1862. Vgl. auch Post: Ursprung des Rechts, 1876, u. a. Zu den neuesten Versuchen, die rechtlichen Begriffe auf wirtschaftliche Grundlagen zurückzuführen, gehört auch die "kritische Studie" von v. Böhm-Bawerk: Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte der volkswirthschaftlichen Güterlehre, Innsbruck 1881.

2. Ersetzung der Rechtsdogmatik durch neue Rechtswissenschaft

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siert es nur zu wissen, wie v. Stein die Aufgabe der Rechtswissenschaft definiert. Er erklärt geradezu, daß die gegenwärtige Jurisprudenz weiter nichts sei als "Rechtskunde" , während die wahrhafte Rechtswissenschaft eine "Wissenschaft der Kräfte, welche das Recht erzeugen", sein müsse 9 , also eine Wissenschaft, welche die Elemente und Grundlagen der Entwicklung der rechtlichen Erscheinungen erkläre. In demselben Sinne haben sich auch viele andere ausgesprochen. Kurzum: es waren das Wesen und der Plan einer Reform der Rechtswissenschaft im allgemeinen so oder anders vorgezeichnet, und es blieb nur noch übrig, den Gedanken zu verwirklichen, das Postulat zur Tat zu machen. 2. Die Ersetzung der Rechtsdogmatik durch Neubau der Rechtswissenschaft auf der Grundlage eines historisch-philosophischen Positivismus

Es erwies sich jedoch, daß diese Aufgabe keineswegs leicht war; denn um sie zu lösen, mußten die Definitionen und Grundsätze, die von altersher in der Rechtswissenschaft anerkannt waren, einer gründlichen Revision unterworfen und durch neue, den Anforderungen der echten Wissenschaft entsprechende ersetzt werden. Dieses Unternehmen wäre vielleicht ein frommer Wunsch geblieben, wenn nicht die von uns oben erwähnten Untersuchungen v. Jherings demselben zu Hilfe gekommen wären. Wie bekannt, gehört v. Jhering zu den ersten, die sich gegen die Einseitigkeit der gegenwärtigen Jurisprudenz wandten und danach strebten, neue Wege für die wissenschaftliche Erforschung der rechtlichen Erscheinungen anzubahnen. Für unsere Frage ist hier besonders der Umstand von Wichtigkeit, daß v. Jhering als Grundlage solcher Erforschung direkt den Begriff des "Zweckes", des "Interesses" hinstellte. Es ist gewiß, daß schon lange, bevor die Werke dieses berühmten Gelehrten erschienen, es für niemanden ein Geheimnis war, daß dem Recht und seinen einzelnen Instituten bestimmte Interessen zugrunde liegen und daß im Recht und durch dasselbe bestimmte Zwecke zur Verwirklichung gelangen. Gingen doch schon die römischen Juristen bei der Charakterisierung der für das praktische Leben wichtigen Seite des Rechts von dem Begriffe der utilitas aus. Jedenfalls aber ist es unbestreitbar, daß niemand sich der Ergründung dieses Elementes des Rechts mit solcher Energie und Liebe hingab wie eben Jhering. Von dem Begriff des Interesses als eines substantiellen Elementes des Rechts ausgehend nahm er, wie bekannt, das Moment des Interesses in die Definition des Rechts selbst auf, und zwar nicht nur des Rechts im ob9 L. v. Stein: Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft, Stuttgart 1876, S. VII, 12, 117 u. a.

H. Rechtssoziologie und ihre Beurteilung der Rechtsdogmatik

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jektiven, sondern auch des Rechts im subjektiven Sinne. "Die Rechte sind rechtlich geschützte Interessen" - dieses ist die berühmte Formel, in welcher gleichsam direkt der Hinweis dafür gegeben wurde, auf welche Weise der Gedanke eines Neubaues der Wissenschaft zur Ausführung gelangen konnte, um so mehr als Jhering jene Formel mit der kategorischen Erklärung verband, daß eine Definition des Rechts, welche nicht von dem Begriff des Interesses ausgeht, eine verfehlte sepo. Dieser Gedanke fand viele Anhänger; die erwähnte Definition des Rechts wurde zur Losung der echten Rechtswissenschaft und drang sogar in juristische Kompendien einlI. Interesse und Recht wurden sozusagen unzertrennliche Begriffe, so daß ersteres als unumgängliche und wesentliche Bedingung für jede wissenschaftliche Untersuchung des letzteren anerkannt wurde. Dies sind in groben Zügen Wesen und Grundlagen der auf einen Neubau der Rechtswissenschaft gerichteten Strömung, wie sie sich hauptsächlich in der deutschen Literatur darstellt. Am stärksten wird durch dieselbe das Gebiet des Privatrechts berührt, sogar in Untersuchungen, die sich scheinbar eine allgemeinere Aufgabe gestellt haben. Doch hat sich die Einwirkung der neuen Richtung auch auf anderen Gebieten des Rechts, z. B. auf dem Gebiete des Strafrechts12 , des Staatsrechts13 und dergl. gezeigt. Auch in der französischen Literatur treffen wir Werke, welche die Darstellung der Rechtswissenschaft als eines Teiles der Soziologie auf der Grundlage des Positivismus fordern 14 • Endlich ist diese Richtung auch der neu esten italienischen Literatur nicht fremd 15 • Nach alledem ist es nicht verwunderlich, daß der Einfluß der neuen Richtung der Rechtswissenschaft auch bei uns hervortritt. Die russische Wissenschaft war von jeher für alles empfänglich, was in anderen 10

N. 6, S. 328, 329.

z. B. Zr6dlowski: Das Römische Privatrecht Bd. H, S. 160 ff. Siehe z. B. die Abhandlung Merkeis (aus Anlaß des Werkes von Hälschner: Das gern. deutsche Strafrecht) in zstw 1 (1881), S. 553-596. 13 Obgleich im Staatsrecht ohnedies gewöhnlich das rein juristische, dogmatische Element den zweiten Platz einnimmt, so finden sich doch Schriftsteller, die dieses Element vollständig beseitigen. So tritt z. B. Gumplowicz: Rechtsstaat und Sozialismus, Innsbruck 1881, S. 509-548, direkt gegen die juristische Methode auf und verlangt, daß die Staatsrechtswissenschaft sich nur auf die Erforschung der Entwicklungsgesetze des staatlichen Lebens beschränke. Er nennt das die historisch-politische Methode. 14 Siehe z. B. Alex: Du droit et du positivisme, Paris 1876. 15 Siehe z. B. Garofalo: Di un criterio positivo della penalita, Napoli 1880, ein Versuch, den Positivismus auf dem Gebiete des Strafrechts zu verwerten. Ferner Vadala-Papale: Morale e diritto nella vita, Napoli 1881, der ebenfalls von der Ansicht ausgeht, daß die Rechtswissenschaft wesentlich eine soziale Wissenschaft sei (vgl. die Rezension von Delogu im Archivio Giuridico 27 11

12

[1881], S. 130-138).

2. Ersetzung der Rechtsdogmatik durch neue Rechtswissenschaft

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zivilisierten Ländern Autorität erlangte. Da die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei uns erst jüngeren Datums ist und eigene wissenschaftliche Anschauungen im allgemeinen fehlen, wird jede neue Idee, jedes "letzte Wort" der Wissenschaft bei uns wohl mit mehr Sympathie aufgenommen als anderswo. Jedes solche Wort findet in unserer Literatur einen lebhaften und enthusiastischen Widerhall. Es wird in dieser Hinsicht genügen, darauf hinzuweisen, mit welchem Eifer vor etwa zwanzig Jahren unsere Literatur, mitgerissen durch auswärtige Strömungen, sich gegen die Rechtswissenschaft erhob und derselben die Zumutung stellte, sich in das Gewand der politischen Ökonomie zu kleiden. Und auch jetzt noch hört man hin und wieder einen schwachen Widerhall dieses Ansinnens, jedoch nur im Sinne von Wünschen, da es an einer bestimmten Vorstellung, wie eigentlich die Jurisprudenz auf der Basis der politischen Ökonomie aufzubauen sei, fehlt. Ebenso konnten auch die darüber hinausgehenden Ansichten über die philosophische Aufgabe der Rechtswissenschaft in ihrer Verbindung mit den allgemeinen Anforderungen an wissenschaftliche Erkenntnis nicht ohne Einfluß auf unsere Literatur bleiben. Ich werde nicht die einzelnen Fälle, in denen bei uns die neue Richtung zur Anwendung gebracht wurde, anführen; denn nicht diese sind entscheidend, sondern das Bestreben, die ganze Rechtswissenschaft auf neuen Prinzipien aufzubauen. Um die wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Rechtsgebiet zu vereinheitlichen und auf einen festen wissenschaftlichen Boden zu stellen, wird nachgerade behauptet, daß es Zeit sei, Dogma, Geschichte und Philosophie in eine Wissenschaft zu verschmelzen, und daß die Aufgabe der Rechtswissenschaft in der Erforschung der Entwicklungsgesetze der rechtlichen Erscheinungen zu bestehen habe. Was die Ansichten jenes Schriftstellers, den wir hier im Auge haben, über das Wesen und die Elemente des Rechts betrifft, so gehört er in dieser Hinsicht zu den eifrigsten Anhängern Jherings, wiewohl seine eigenen Untersuchungen auch nicht einer gewissen Selbständigkeit entbehren. Der soeben erwähnten Ansicht über die Aufgabe der Rechtswissenschaft folgend, steht er entschieden auf seiten derjenigen Schriftsteller, welche die gegenwärtige Jurisprudenz (die Rechtsdogmatik) nicht als Wissenschaft anerkennen. Er sieht darin vielmehr nur eine Kunst und ein vorbereitendes Stadium und verlangt nicht nur eine Annäherung der Dogmatik an die übrigen sozialen Wissenschaften, sondern eine radikale Reform derselben16 • 18 Siehe Muromzew (Prof. an der Universität zu Moskau): Das römische Recht als Gegenstand der Wissenschaft, Journal für Zivil- und Strafrecht 1875 Nr.6 (russisch); ders.: Abhandlungen aus der allgemeinen Theorie des Zivilrechts, Moskau 1877, S.84, 196, 200 (russisch), und ders.: Die Definition und Grundeinteilung des Rechts, Moskau 1879, S. 14, 15, 31, 40 (russisch).

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11. Rechtssoziologie und ihre Beurteilung der Rechtsdogmatik

In demselben Sinne fingen denn auch einige andere Schriftsteller an, Fragen der Rechtswissenschaft zu behandeln. Als Beispiel wollen wir eine ebenfalls kürzlich erschienene Schrift anführen, in welcher aus Anlaß einer speziellen Frage der Autor sich an eine Kritik der gegenwärtigen Jurisprudenz macht, gegen deren logischen Formalismus auftritt und nicht nur der Jurisprudenz eine neue Aufgabe zuweist nämlich die Erforschung und allseitige Beurteilung der Interessen, für deren Schutz die rechtlichen Normen bestimmt sind -, sondern auch den Versuch unternimmt, bisherige juristische Definitionen durch neue, scheinbar der Jheringschen Formel angepaßte, zu ersetzen. So lautet seine Definition des Eigentumsrechts folgendermaßen: "Das Eigentumsrecht ist der umfassendste Schutz des Genusses von Gütern, auf welche sich dieser Schutz bezieht, gegen Eingriffe dritter Personen, jedoch nur unter Berücksichtigung der Beschränkungen und Verpflichtungen, die das Gesetz angesichts des öffentlichen Interesses für diesen Genuß aufstellt." Für die Obligation aber wird folgende Definition vorgeschlagen: "Das Forderungsrecht ist der mit Rücksicht auf das Gemeinwohl begründete Schutz eines Interesses in Form einer persönlichen Klage der interessierten Person gegen eine andere Person, welch letztere, kraft Vertrages oder eines sonstigen vom Recht bestimmten Grundes, zur Befriedigung dieses Interesses verpflichtet ist17 ." Aus dem Angeführten ist, wie es uns scheint, klar zu ersehen, daß die neue Richtung in der Rechtswissenschaft nicht nur bestrebt ist, die historisch-philosophischen Rechtsuntersuchungen auf einen streng wissenschaftlichen Boden zu stellen, sondern daß sie vielmehr darauf ausgeht, der gegenwärtigen Jurisprudenz die Bedeutung einer Wissenschaft abzusprechen und damit die Notwendigkeit ihrer selbständigen Fortexistenz zu verneinen. Ein Bestreben dieser Art fordert natürlich die aufmerksamste und strengste Prüfung der neuen Richtung überhaupt, und doch ist leider eine solche Prüfung bis jetzt noch fast gar nicht erfolgt. Selbst in Deutschland, von wo aus hauptsächlich die neuen Anschauungen über die Wissenschaft ausgegangen sind, bleiben die angesehensten Juristen gleichmütig und sind gleichsam taub gegenüber den Ideen für den Neubau der Jurisprudenz, indem sie sich in dieser Hinsicht mit nur beiläufigen und höchst oberflächlichen Bemerkungen begnügen. Vielleicht ist dieser Gleichmut durch einen den Juristen eigenen Konservatismus und aus der überzeugung zu erklären, daß die gegenwärtige Rechtswissenschaft in ihren Grundfesten nicht zu erschüttern ist, oder auch daraus, daß die deutschen Juristen zu sehr mit ihrem jeweiligen Spezialgebiet beschäftigt sind, um denjenigen Strömungen, die sie scheinbar direkt nichts angehen, ernste Aufmerk17 Gambaroff: Die freiwillige und unentgeltliche Tätigkeit in fremdem Interesse, Moskau 1880, Heft 1, S. 114, 186, 195 (russisch).

2. Ersetzung der Rechtsdogmatik durch neue Rechtswissenschaft

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samkeit zu schenken. Auf jeden Fall ist unserer Meinung nach hier vollständiges Stillschweigen nicht angebracht. So lange natürlich die Ansichten über die Unhaltbarkeit der Rechtswissenschaft nicht über die Grenzen von Postulaten hinausgingen, konnte man die Angriffe gegen die Jurisprudenz unbeachtet lassen. Sobald man aber begann, in dieser Hinsicht vom Wort zur Tat überzugehen und in die Sphäre rein-juristischer Abhandlungen und Systeme Definitionen hineinzutragen, die mit den früheren nicht das geringste gemein haben, sobald man, mit einem Worte, versucht, mit der - sozusagen - Demolierung der Rechtswissenschaft Ernst zu machen, da ist gleichgültiges Schweigen nicht mehr am Platze. Eine eingehende Beurteilung der Gründe, aus denen die gegenwärtige Rechtswissenschaft beseitigt werden soll, erscheint nicht nur im Interesse der Wissenschaft selbst notwendig, sondern auch mit Rücksicht darauf, daß das Vertrauen in dieselbe, wenn sie eines solchen würdig ist, nicht erschüttert werde. Daher scheint es uns an der Zeit, direkt die Frage zu stellen: Soll die Jurisprudenz als Wissenschaft selbständig fort existieren oder nicht? Wir sind weit davon entfernt, in dieser Hinsicht "das letzte Wort" zu sagen. Unsere Absicht besteht nur darin, einige Hinweise zu geben, die unserer Meinung nach zur richtigen Lösung der aufgeworfenen Frage beitragen können.

111. Remtsdogmatik als eigenständige Wissensmaft Die neue "Rechtswissenschaft" stellt sich, wie wir sahen, zur Aufgabe, die lebendigen Grundlagen des Rechts durch Erforschung der Zwecke und Interessen darzustellen, welche die Rechtsentwicklung bedingen. Sind hiermit alle Aufgaben der Rechtsforschung erschöpft? Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. 1. Die Unterscheidung zwischen sozialer Theorie des Rechts (Rechtssoziologie) und juristischer Theorie des Rechts (Rechtsdogmatik)

In der Tat kann das Recht als ein Komplex von positiven Normen und Rechtsinstituten in Bezug auf seine Eigenschaft als eines der Mittel zur Erreichung verschiedener Lebenszwecke, zur Befriedigung verschiedener Interessen oder Bedürfnisse studiert und wissenschaftlich erforscht werden. An dieser Bedeutung des Rechts hat nie jemand einen Zweifel geäußert. Schon die römischen Juristen sagten: jus ad utilitatem spectat. Der Zweck ist der Schöpfer des Rechts, sagt Jhering. Es ist sicher richtig, daß durch das Recht verschiedenartige Interessen geschützt oder garantiert werden. Das ist seine Bestimmung. Daher muß auch die Wissenschaft, die sich mit dieser Seite des Rechts beschäftigt, ihre Arbeit auf die Darlegung der Zwecke oder Interessen konzentrieren, denen das Recht dient. Sie muß erforschen, welche Zwecke, Interessen und Ideen die verschiedenen rechtlichen Erscheinungen ins Leben rufen, oder sie muß, wie v. Stein sich ausdrückt, die Kräfte ergründen, welche das Recht erzeugen. Seit langem aber ist anerkannt, daß das Recht auch an und für sich zum Gegenstande des Studiums gemacht werden kann, d. h. ausschließlich seinem Inhalte nach, also unabhängig von der Frage nach der Entstehung und Fortbildung des Rechts, von der Frage nach den Lebensinteressen, welche das Recht gestalten, oder überhaupt von der Frage nach den Kräften, welche das Recht hervorrufen 18•

18 So etwa Hahn: Die materielle Übereinstimmung der römischen und germanischen Rechtsprinzipien, Jena 1856, S. XXIII.

1.

Unterscheidung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

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Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Leben mit allen seinen Bedingungen für die Rechtswissenschaft nur der faktische Boden oder der Komplex der faktischen Voraussetzungen, ohne die von Rechtsnormen und Rechtsverhältnissen nicht die Rede sein könnte. Die Rechtswissenschaft in diesem Sinne macht zum Gegenstand ihres Studiums nicht die Kräfte, welche die Entwicklung des Rechts bedingen, sondern die Elemente, aus welchen sich der Inhalt des Rechts zusammensetzt. Sie geht nicht über die Grenzen des Rechts selbst hinaus, sondern beschränkt sich ausschließlich auf die Rechtssphäre. Dies ist im allgemeinen die Aufgabe der juristischen oder Rechtswissenschaft, die sich mit dem sozusagen inneren Gebiet des Rechts beschäftigt im Gegensatz zu jener Wissenschaft, die die äußere, dem Leben zugewandte Seite des Rechts erforscht und daher, kurz ausgedrückt, als "soziale" Theorie des Rechts bezeichnet werden kann. Es ist aber begreiflich, daß das soeben Angeführte nicht genügt, um einen klaren Begriff von der Rechtswissenschaft und deren Unterschied zur "sozialen Theorie" des Rechts zu geben. Auch letztere beschäftigt sich ja mit dem Studium des Inhalts des Rechts, aber nur vom Gesichtspunkt des Zweckes, des Interesses aus. Von welchem Gesichtspunkt aus betrachtet und erforscht denn nun diesen Inhalt die Rechtswissenschaft? Es reicht nicht aus, dieselbe negativ derart zu bestimmen, daß sie das Recht nicht im Hinblick auf den Zweck erforsche; es ist notwendig, die Rechtswissenschaft durch irgend ein positives Merkmal zu bestimmen. In dieser Hinsicht hat, soviel uns bekannt ist, die Jurisprudenz selbst bis jetzt noch keine genügende Antwort gegeben, indem sie bei der Frage nach ihrer Abgrenzung von anderen Wissenschaften nur bei solchen Merkmalen und Momenten stehen blieb, welche keine selbständige Basis für den Inhalt der Rechtswissenschaft boten. So wurde z. B. behauptet, daß die Rechtswissenschaft sich dem Studium der formalen, logischen Seite des Rechts zuwendet im Gegensatz zu der Wissenschaft, die sich der Erforschung der ethischen, dem Leben zugewandten Seite widmet - doch auch letztere hat ja wie jede Wissenschaft ihre Logik. Oder es wurde behauptet, daß die eine Wissenschaft eine historische, die andere dagegen (die Jurisprudenz) eine systematische sei. Dieses ist zwar richtig im Sinne eines Gegensatzes der beiden Disziplinen, aber auch die Geschichte kann ja nicht ohne System auskommen, so daß erst noch zu klären bleibt, von welchem Gesichtspunkt her der Gegenstand des Studiums hier und dort der Systematisierung unterliegt. Andere kamen dem Wesen der Sache näher, indem sie sagten, daß die Rechtswissenschaft das Recht nicht vom Gesichtspunkt des Interesses, sondern von dem der "Gerechtigkeit" (justitia) aus erforsche. Diese Ansicht wurde bei uns insbesondere anläßlich des Bestrebens geäußert, die Rechtswissenschaft in politische Ökonomie zu verwandeln,

111. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

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und auch jetzt noch ist sie nicht selten in juristischen Schriften anzutreffenlu. Sie ist insoweit zutreffend, als Recht, Justiz und Gerechtigkeit sich als eng miteinander verbundene Begriffe darstellen. Aber der Begriff der "Gerechtigkeit" ist als solcher nur eine logische Kategorie, die keinen bestimmten Inhalt hat: man kann auch vom wirtschaftlichen oder sonstigen Standpunkt aus von Gerechtigkeit sprechen. Unrichtig ist auch die Ansicht, Untersuchungsgegenstand der Rechtswissenschaft sei im Gegensatz zur Soziologie, die das Recht von seiten des Interesses betrachte, der Schutz dieses Interesses. Sie ist unhaltbar, weil auch die Soziologie vom Schutz der Interessen ausgeht, und ist zudem, wie unten nachgewiesen werden soll, an und für sich unklar und unbestimmt. Andere Versuche waren darauf gerichtet, eine Grenze zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie zu ziehen, wobei man die Rechtsgeschichte in die Rechtswissenschaft einschloß 20 • Es ist aber klar, daß dies nicht das Problem einer Abgrenzung der Hauptwissenschaften auf dem Gebiete des Rechts selbst löst. Wollen wir es denn versuchen, diese Grenze zu bestimmen. Wenn man sich über den Gegenstand des Rechtsstudiums klar werden will, so kann man unserer Meinung nach die Frage: was ist das Recht? nicht umgehen. Der Begriff des Rechts als Recht kann nur aus seinem Inhalt deduziert werden. Alles Recht hat unmittelbar mit Handlungen der Menschen, d. h. mit den Willensäußerungen in ihren gegenseitigen Verhältnissen zu tun und normiert das Maß dieser Äußerung, dasselbe mit äußeren Schutzmitteln versehend. Mit anderen Worten, das Recht selbst ist das Maß der menschlichen Freiheit im Sozialleben, darin besteht das Wesen des Rechts, seine innere Natur 21 • Das Recht erforschen Siehe z. B. Fouillee, La science sociale contemporaine, Paris 1880, S. 56. z. B. Sergejewsky: Das Verbrechen und die Strafe als Gegenstand der Rechtswissenschaft, in Dochows Zeitschrift für Strafrecht Bd. I. Auch in der deutschen Literatur dreht sich der Streit um die Abgrenzung der Rechtswissenschaft mit Einschluß der Rechtsgeschichte von der Rechtsphilosophie, während wir von der Notwendigkeit ausgehen, auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft selbst die eigentliche Dogmatik von der Rechtsgeschichte wissenschaftlich streng abzugrenzen. 21 Man könnte hiergegen bemerken, daß diese Definition die Existenz eines Faktums voraussetzt, welches selbst erst noch zu beweisen sei, nämlich die Freiheit des Willens. Wir können hier nicht in eine Erörterung der verschiedenen Meinungen über diese im höchsten Grade streitige Frage eintreten und beschränken uns daher auf einige Worte. Bei der Definition des Rechts ist nicht die innere Freiheit gemeint, sondern nur die äußere. In diesem Sinne können Rechte, als eine bestimmte Freiheitssphäre, auch solchen Personen eigen sein, die der Fähigkeit zu bewußtem Handeln entbehren. So kann z. B. auch ein Geisteskranker Eigentum haben. Was sodann die innere Freiheit anbetrifft, so glauben wir, daß - sofern es sich um das Gebiet des Rechts handelt - der Wille frei, d. h. unabhängig von den ihn bestimmenden Motiven ist, und zwar aufgrund des allen Menschen inhärenten Bewußtseins von der Notwendigkeit, seinen äußeren Willen zu beschränken (zum Zweck der Selbsterhaltung). Dieses Bewußtsein ist ein Faktum, 1U

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1. Unterscheidung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

3i

heißt aber zugleich, die Verhältnisse erforschen, welche durch dasselbe normiert werden, diese Verhältnisse aber nicht als einfache Fakten oder Erscheinungen genommen, da sie in letzterer Eigenschaft den Gegenstand anderer Wissenschaften ganz unabhängig vom Rechtssinne bilden, z. B. die Rechtsgeschäfte, Verbrechen und dergl. mehr, sondern gerade in ihrer Eigenschaft als "rechtliche" Verhältnisse oder Rechtsinstitute, deren Komplex eben gerade das Gebiet des Rechts bildet. Wenn man nun in Betracht zieht, daß bei dem Begriff des Rechts als eines "Maßes" natürlich nicht von physischen, sondern von moralischen Schranken die Rede ist, so versteht es sich von selbst, daß wir, indem wir das Recht und seine Institute zum Gegenstand unserer Forschungen machen, in denselben nicht physische Erscheinungen untersuchen, sondern rechtliche Begriffe, rechtliche Anschauungen. Dieses ist der gemeinsame Forschungsgegenstand sowohl der Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne als auch der, wie wir sie oben der Kürze wegen nannten, "sozialen" Theorie des Rechts. Der Unterschied zwischen beiden erklärt sich nur daraus, daß eine jede dieser Disziplinen das Recht von ihrem besonderen Gesichtspunkt aus untersucht, wonach sich auch ihr beiderseitiger besonderer Inhalt bestimmt. Wenn wir uns also jetzt wiederum der Frage zuwenden, von welchen Gesichtspunkten aus der Inhalt des Rechts zum Gegenstand des Studiums werden kann, so glauben wir, daß das Maß für die Freiheit, welches den Inhalt des Rechts ausmacht, einerseits vom Gesichtspunkt des Zweckes, des Interesses aus untersucht werden kann - und das ist dann die Aufgabe der "sozialen" Theorie des Rechts. Aber unabhängig davon kann dasselbe Maß nur in seiner Eigenschaft als Maß untersucht werden, und folglich können auch alle Verhältnisse, die durch das Recht bestimmt werden, nur von seiten des Maßes betrachtet werden, d. h. des Raumes, des Umfanges, der Größe usw., als abgegrenzte Freiheitssphäre. Diese Betrachtungsweise ist unserer Meinung nach die Aufgabe der eigentlichen Rechtstheorie, welche also das Recht nicht von seiten des Interesses, sondern gerade nur als Maß, als Schranke, als Größe betrachtet. In diesem Sinne bewahrheitet sich auch die althergebrachte Vergleichung der Rechtswissenschaft mit der Mathematik, obgleich man diesen Vergleich eigentlich nur auf die der Rechtswissenschaft eigene Genauigkeit bezog (das Rechnen mit Begriffen) und nicht auf die Eigenart des Gesichtspunktes selbst; in letzterer Hinsicht ist jedoch u. a. auch von Dankwardt, wenn auch in sehr beschränktem Maße, auf den mathematischen Charakter der Jurisprudenz hingewiesen worden. Er fand nämlich in ohne welches die Entstehung des Rechts selbst nicht möglich wäre. Das Maß jener Beschränkung aber wird u. a. auch durch das positive Recht bestimmt. In diesem Sinne erscheint im Recht der Wille nur in denjenigen Fällen als unfrei, in denen bewiesen werden kann, daß das Bewußtsein unentwickelt oder getrübt ist.

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IU. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

derselben verschiedene Elemente heraus und nur teilweise ein mathematisches Element. Wir dagegen meinen, daß dieses Element die Grundlage der ganzen Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne bildet. Nach Obigem also setzt die "soziale" Theorie auch ein Studium des Rechtsinhalts voraus, aber nur mit Rücksicht auf die Frage nach den Zwecken und Interessen. Die juristische Theorie geht ihrerseits von der Voraussetzung aus, daß das Recht aus diesen oder jenen Zwecken hervorgeht, hält sich aber bei diesen Zwecken nicht auf, sondern konzentriert ihre Arbeit auf die Erforschung des Rechts als eines Maßes, als einer mathematischen Größe. Der Unterschied zwischen diesen beiden Wissenschaften kann verschieden charakterisiert werden; so beschäftigen sich die Forscher auf dem Gebiete der "sozialen" Theorie nach ihrer Ansicht mit der inneren (dem Leben zugewandten) Seite des Rechts, während die Juristen sich der äußeren (formalen) Seite desselben zuwenden. Nach Ansicht der Juristen dagegen steht die Sache gerade umgekehrt: die juristische Theorie erforscht das innere Gebiet des Rechts, die soziale - das äußere. Aber diese Verschiedenheit in den Ansichten läßt das Wesen der Sache unberührt: die Verschiedenheit der beiden Wissenschaften (der sozialen und der juristischen Theorie) spricht für sich selbst, und wenn man Vergleiche aus anderen Gebieten heranziehen wollte, so wäre der Unterschied annähernd analog demjenigen zwischen Physiologie und der Anatomie (worauf übrigens auch von Jhering hingewiesen hat) oder zwischen der Dynamik und der Statik und dergI. 2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche Daraus folgt, daß aufgrund der Verschiedenheit der Gesichtspunkte, von denen aus das Recht zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden kann, zwischen den zwei erwähnten Wissenschaften - oder vielmehr den beiden Zweigen der Rechtswissenschaft - nichts Gemeinsames ist noch sein kann. Daher ist auch ihr Inhalt grundverschieden. Wenn dem aber so ist, so drängt sich von selbst die Frage auf: ist es möglich, die beiden Wissenschaften in eine zu verschmelzen, oder genauer gesagt, ist es möglich, die Rechtstheorie von einem ihr nicht eigenen, heterogenen Gesichtspunkt aus aufzubauen, indem man die innere Natur des Rechts als eines Maßes der Verhältnisse mit dem Zweck oder dem Interesse, dem es dient, identifiziert? Physisch ist das freilich möglich. Viele tun es denn auch. Aber was kann denn aus solch einer Vermengung entstehen, und was entsteht in Wirklichkeit daraus? Nichts als die vollkommenste Begriffsverwirrung. Die juristische Theorie bietet, als eine Logik von Größen, an und für sich außerordentliche

2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche

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Schwierigkeiten dar, wie jedermann bekannt ist, der sich z. B. mit der Feststellung des rechtlichen Charakters des Urheberrechts, des Wechsels, der Verträge zugunsten Dritter, der Ehe und dergleichen mehr beschäftigt hat, und ich bin der Meinung, daß die langsame Entwicklung der Rechtstheorie nicht, wie viele glauben, davon herrührt, daß dieselbe sich von der Soziologie fernhält, sondern gerade daher, daß die Rechtstheorie sich noch nicht von verschiedenen heterogenen Elementen, die sich unter dem Einfluß fremder Doktrinen in sie eingeschlichen haben, freizumachen verstand. Und dann schlägt man noch vor, in die Jurisprudenz anstelle der ihr eigenen Prinzipien solche Elemente hineinzubringen, die sie von Grund aus untergraben und zerstören müssen!

a) Die Rolle des Interesses in der Rechtsdogmatik Die Möglichkeit der Verwirrung verschiedenartiger Begriffe ist beispielhaft aus der nun folgenden Zusammenstellung zu ersehen. So ist bekannt, daß der nächste Zweck des Rechts in der Sicherung und Festigung der Freiheit in der menschlichen Gesellschaft besteht, ohne welche ein friedliches Zusammenleben gar nicht möglich wäre; das Wesen des Rechts selbst aber besteht, gleichsam umgekehrt, nicht in der Sicherung der Freiheit, sondern in der Beschränkung derselben, im Zwange - in dem Sinne nämlich, daß das Recht die Schranken und das Maß für die Freiheit der Willensäußerung aufstellt; es trägt unmittelbar in das Leben nicht Einigung hinein, sondern vielmehr Trennung, Scheidung, Abgrenzung (suum cuique). Daraus wird klar, welche Verwirrung in der Rechtstheorie Platz greifen kann, wenn das Moment des Interesses als Kriterium für die Klassifizierung der Rechtsverhältnisse aufgestellt wird. Nehmen wir z. B. die hergebrachte Unterscheidung der dinglichen Rechte von den Forderungsrechten: als Grundlage dieser Unterscheidung dient in der juristischen Theorie das Maß der Herrschaft des Subjekts dieser Rechte in seinem Verhältnis zu anderen Personen. Dingliche Rechte wirken jeder dritten Person gegenüber, während Forderungsrechte nur bestimmte Personen verpflichten, welche aus Vertrag oder aus einem anderen Rechtsgrunde haften. Der Umfang der jeweiligen Wirkung dieser Rechte bestimmt dann den Rechtsschutz derselben. Das juristische Kriterium dieses Unterschiedes wird also auf das Maß und den Umfang der Rechte zurückgeführt. Vom Gesichtspunkt des Interesses her kann dagegen gar kein Unterschied zwischen Instituten wie z. B. Eigentum und Kaufvertrag festgestellt werden, da bei beiden das Interesse in ein und demselben besteht, nämlich in der ausschließlichen Herrschaft über einen Gegenstand, welcher einen Tauschwert hat. Wenn wir auf diesem Wege fortgingen, so kämen wir natürlich dazu, eine Menge von verschiedenartigen rechtlichen Erscheinungen zu einem 3 Pachman

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III. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

Begriffe zu verschmelzen. So erscheinen die verschiedensten Rechtsgeschäfte wie z. B. Darlehen, Wechsel, Schecks u. a. als Kreditmittel. Welchen Gewinn hat nun aber die Rechtstheorie von der Zusammenstellung derselben? Es entsteht daraus nur eine Verwirrung der Begriffe, während doch die Aufgabe der Wissenschaft nicht im Vermengen, sondern im Scheiden derselben besteht. Es braucht nicht besonders erörtert zu werden, daß auch eine Unterscheidung der Verbrechen im Hinblick auf das Interesse, z. B. eine Einteilung in Verbrechen gegen Private, gegen die Gesellschaft und gegen den Staat22 , eine Einteilung, die natürlich vom soziologischen Standpunkt aus ihren Sinn hat, kaum irgendwelche Bedeutung für eine rein juristische Strafrechtstheorie beanspruchen kann. Um die Sache noch klarer zu machen, halte ich es nicht für überflüssig, noch auf ein mehr spezielles Beispiel hinzuweisen, und zwar aus der Verjährungslehre. Es ist bekannt, daß die Verjährung in verschiedene Institute zerfällt wie die Verjährung bei dinglichen Rechten, bei Obligationen, die Klagenverjährung. Es sind nun Versuche gemacht worden, alle diese Institute vom Gesichtspunkt des Interesses aus unter eine Theorie zu bringen, nämlich in dem Sinne, daß eine jede Verjährung gleichzeitig Akquisitiv- und Extinktivverjährung sei 23 • Dies war nur dadurch möglich, daß der Begriff des Rechts mit dem Begriff des Gewinnes, des Interesses vermengt wurde, während vom juristischen Standpunkt aus der Erwerb eines Rechts und der Erwerb eines Gewinnes durchaus nicht identisch sind. Bei der Ersitzung erwirbt zwar der Ersitzende dasselbe Recht, dessen der andere verlustig geht, bei den Obligationen dagegen erwirbt der Schuldner durch die Verjährung des Forderungsrechts einen Vorteil, erhält aber dadurch durchaus nicht dasselbe Recht, welches der Gläubiger verliert. Er wird nur von seiner Verpflichtung befreit. An diesem Beispiel haben wir einen der augenscheinlichsten Beweise für die Unhaltbarkeit der Definition des Rechts als Interesse; in juristischer Hinsicht erscheint eine solche Definition geradezu als absurd. Wenn auch die Ersetzung der juristischen Definitionen durch andere, von besonderer Bezugnahme auf das Interesse ausgehende, zu einer offensichtlichen Entstellung der Rechtswissenschaft führt, so folgt daraus noch keineswegs, daß der Begriff des Interesses dieser Wissenschaft ganz fremd wäre. Im Gegenteil, dieser Begriff hat auch eine juristische Bedeutung, und zwar eine sehr umfassende, aber nur dann, wenn mit dem Interesse nach den Grundsätzen des Rechts selbst irgendwelche rechtlichen Folgen verbunden sind. Solcherart ist z. B. das ganze System des Schadenersatzrechts. Auch die aus dem Versicherungsver!! 23

Vgl. Jhering: Der Zweck im Recht I, S. 485. Siehe z. B. Dankwardt (N. 8), S. 43.

2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche 35 trag hervorgehenden Rechtsverhältnisse werden durch das Interessenmoment bedingt usw. Es gibt sogar Fälle, in denen das positive Recht direkt das Interesse im Gegensatz zum Recht hervorhebt, z. B. bei der Frage einer Tailnahme dritter Personen am Zivilprozeß. Jedem Juristen ist in dieser Hinsicht der wesentliche Unterschied zwischen dem Interesse und dem Recht geläufig. So ist die Intervention dritter Personen in einen anhängigen Prozeß nicht dadurch bedingt, daß ihren Rechten Gefahr droht, sondern gerade dadurch, daß sie durch die Entscheidung der Sache zugunsten einer der Parteien einen Schaden erleiden können, während dritten Personen die Anfechtung des schon ergangenen Urteils nur dann gestattet ist, wenn irgend welche Rechte derselben durch das Urteil verletzt waren24 • Und man muß noch weitergehen: aus dem obigen Beispiel ist zu ersehen, daß in der Rechtstheorie ein Unterschied zwischen dem Interesse im gewöhnlichen Sinne des Wortes und dem "rechtlichen Interesse" zu machen ist. Gerade unter letzteren Begriff gehört das Interesse der dritten Person, wenn gegen dieselbe im Wege des Regresses eine Klage erhoben werden könnte. Auf dem Begriff des rechtlichen Interesses beruht ihrem Wesen nach die ganze Lehre von der causa im Obligationenrecht usw. So sehen wir denn, daß auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft dem Interesse auch besondere technische Bedeutungen beizulegen sind, die nichts mit dem Interessenbegriff im gewöhnlichen, sozialen Sinne gemein haben25 • Aus alledem folgt, daß, wenn dem Interesse juristische Bedeutung beigelegt wird, man doch sehr weit davon entfernt ist, das Interesse mit dem Recht zu vermengen oder zu identifizieren. Es ist wahr, daß manchmal auch in der Rechtstheorie statt des Rechts direkt der Gegenstand desselben oder überhaupt dasjenige, worin das Interesse für die Person besteht, genannt wird. So sagt man z. B.: eine Sache erwerben, einen Lehrstuhl erhalten usw. Aber natürlich ist das nichts weiter als eine Begriffsvertauschung, die gar keine wissenschaftliche Bedeutung haben kann. Der Gegenstand, das Interesse und überhaupt das Faktum müssen streng von dem Recht unterschieden werden, welches sie betrifft, obgleich auch in der rein juristischen Literatur nicht selten diese BeSiehe unsere russische Zivilprozeßordnung, Art. 663 und 795. In einigen Werken, in welchen diese Frage behandelt wird, werden "Zweck" und "Interesse" in ihren verschiedenen Bedeutungen (ethischen und juristischen) anscheinend nicht genügend auseinandergehalten. Diesem Umstande ist u. E. z. B. in Hartmanns Werk "Die Obligation" zuzuschreiben, daß das von Jhering für substantiell erklärte Moment des Rechts (Nutzen, Vorteil, Gewinn) nicht im vollen Umfang anerkannt, sondern ausschließlich auf die Obligation beschränkt wird. Bei dieser wiederum wird es sogar in den Rechtsbegriff aufgenommen, indem Hartmann den Zweck nur als "etwas in der Zukunft liegendes", als einen "zu erfüllenden" oder "zu erstrebenden" Zweck (S. 45 u. 117), betrachtet. Weiter unten (VII) werden wir zeigen, daß nach Jhering selbst dieses Moment eigentlich jeder juristischen Bedeutung entbehrt. 24

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111. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

griffe vermengt werden, ein Umstand, der dann die Quelle end- und fruchtloser Kontroversen bildet. Daher muß die Rechtswissenschaft, wenn anders sie den Anspruch auf Gründlichkeit erhebt, nicht das Interesse mit dem Recht identifizieren, sondern vielmehr danach streben, diese beiden Begriffe streng voneinander zu scheiden. b) Die Rolle des Interessenschutzes in der Rechtsdogmatik

Das, was wir über die Vermengung des Rechts mit dem Interesse, über die Ersetzung des ersteren durch das letztere, gesagt haben, tritt noch deutlicher und klarer hervor, wenn wir uns dem anderen Element der oben angeführten Definition der Rechte, nämlich dem Begriff des rechtlichen Schutzes zuwenden. Als solcher wird allgemein der "organisierte", im Wege der Klage zu verwirklichende Schutz verstanden 26 • Um diese Frage besser zu illustrieren, möchten wir auf eine kolossale Verwechslung zweier ganz und gar verschiedener Vorstellungen hinweisen, die sich in der neuen Wissenschaft findet. Wir erwähnten schon, daß viele den ganzen Inhalt der Rechtswissenschaft auf den Begriff des Interessenschutzes zurückführen, ja mehr: die Idee des "Schutzes" spielt in der neuen Wissenschaft beinahe eine größere Rolle als das Interesse selbst. Letzteres wird, wie wir weiter unten sehen werden, schon hin und wieder durch den Begriff des Verhältnisses, wenngleich auch in rein faktischem Sinne, ersetzt, aber der Schutz als wesentliches Moment des Rechts wird mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Hier werden jedoch zwei ganz verschiedene Begriffe auf eine Ebene gestellt: der Begriff des Rechts als Mittel für den Schutz der Interessen und der Begriff des Rechts als rechtlich geschütztes Interesse, als ob dieses zwei Seiten ein und derselben Idee wären! Es ist leicht zu begreifen, daß der Schutz in diesem und jenem Falle eine ganz verschiedene Bedeutung hat. Wenn wir sagen, daß das Recht den Zweck hat, diese und jene Interessen zu schützen, und dieselben schützt oder, wie v. Jhering selbst es in anderer Form ausdrückt, daß das Recht die Lebensbedingungen der Gesellschaft sichert27 , so ist damit augenscheinlich gemeint, daß im Namen des einen oder anderen Interesses bestimmte Normen für die rechtlichen Verhältnisse geschaffen, an Fakten rechtliche Folgen geknüpft werden, Rechte entstehen und dergl. mehr. Eine ganz andere Sache aber ist die Sanktion oder Sicherung bereits anerkannter Rechte, welche in dem gerichtlichen oder "organisierten" Schutz besteht. In 28 v. Jhering (N.6), S.327, 338; Thon: Die Rechtsnormen und subjectives Recht, 1878, S. 120, 131, 156, 160 u. a.; Muromzew: Definition (N.16), S. 70 f., 85, 122. 27 N.22, S.434. Nach der Meinung Thons wäre es richtiger zu sagen: "Die Interessen der Gemeinschaft zu sichern", siehe Grünhuts Zeitschrift VII (1880), S. 263.

2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche 37 jenem Falle haben wir es mit dem Schutz der Interessen in dem Sinne zu tun, daß einem bestimmten Faktum rechtliche Bedeutung beigelegt wird, daß Rechte geschaffen werden, in diesem dagegen mit dem Schutz schon existierender und anerkannter Rechte. Und doch ist, wie es uns scheint, gerade in dieser Verwechslung verschiedener Begriffe die eigentliche Ursache für das folgenreiche Mißverständnis bei der uns hier beschäftigenden Frage zu sehen. Indem die neue Wissenschaft die Interessen anstelle der Rechte setzte, verlegte sie auch bei der Definition der Rechte selbst deren ganze rechtliche Bedeutung in den Schutz und behauptete kategorisch, daß in diesem Schutz allein das formale oder juristische Element zu sehen sei. Eine derartige Ansicht über die Rechte ignoriert unserer Meinung nach vollständig den Erkenntnisfortschritt, welchen die Rechtswissenschaft bei der Systematisierung der Rechtsbegriffe dadurch erworben hat, daß sie den Begriff des sog. materiellen Rechts aus der prozessualistischen Schale, von der er durch den Begriff der actio umfangen war, herausschälte. Die Tragweite dieses Erkenntnisfortschritts besteht gerade in der Klarlegung dessen, daß der rechtliche Schwerpunkt nicht im formellen, sondern im materiellen Recht zu suchen sei. Ersteres ist nichts weiter als eine Bekräftigung von etwas, was schon selbständige Kraft hat. Die Juristen sehen ein derartiges Verhältnis der Rechtselemente zueinander heute in der Regel als unumstößliche Wahrheit an 28 • Wenn man bei uns die Definition der Rechte nach v. Jhering dahin verändert hat, daß das Recht nicht mehr als Interesse bezeichnet wird, sondern als ein durch einen organisierten Schutz gesichertes Verhältnis 29 , so ändert das am Wesen der Sache gar nichts, denn auch hier wird das juristische Moment des Rechtsbegriffs nicht in dem "Verhältnis", da ja dieses ein reines Faktum ist, sondern ausschließlich in dem Schutze gesehen. Nicht dem Schutz aber, sondern dem anerkannten Recht gebührt in der juristischen Konstruktion der erste Platz. Das ist das prius des Rechtsbegriffs. Der Schutz ist nur ein formelles Mittel zur Verwirklichung des Rechts, während nach Ansicht der Begründer der neuen Wissenschaft die Sache sich so verhält, als ob die Rechte nur in Form von gerichtlichem Schutz denkbar seien - daher auch die neuen, oben erwähnten Definitionen, nach denen das Eigentumsrecht ein Schutz ist, die Obligation ein Schutz 28 Siehe z. B. Unger, System Bd. I, 512; 11, 357. Dieser Meinung sind sogar Anhänger der idealistischen Richtung in der Rechtswissenschaft. So z. B. sagt Fouillee in dem Werk: L'idee moderne du droit, 1878, S.257: "S'il est vrai que la force doit accompagner le droit pour le garantir et en faire un pouvoir effectif, le droit n'est pas pour cela la meme chose que la garantie du droit". - über mögliche Abweichungen von der im Text angeführten Regel siehe Hartmann: Die Obligation, S. 45, u. a. 29 Muromzew: Abhandlungen (N.16), S.128; ders.: Definition (N.16), S.85, 86, 121, 122, 142, 164.

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111. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

ist usw. Zweifellos hätten die Rechte ohne gerichtlichen Schutz keinen praktischen Wert. Es gibt auch gar keine solchen Rechte, denn man kann sie natürlich nicht mit Ratschlägen oder Belehrungen, wie sie sich in manchen Gesetzbüchern finden (z. B. die Pflicht, seine Frau zu lieben), auf eine Stufe stellen. Mit den Rechten als Rechten geht stets die Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung derselben in Form gerichtlichen Schutzes einher, aber das Wesen der Rechte ist nicht von ihrem Schutz abhängig. c) Die Rolle des Rechtsschutzinteresses in der Rechtsdogmatik

Wenn man nun dem materiellen Recht keine selbständige Bedeutung zuerkennt, so gelangt man natürlich leicht zu dem Schlusse, daß auch das Gericht nicht Rechte schützt, sondern Interessen. Dieser Schluß wurde denn auch wirklich schon in zwei Ansichten über die Rolle gezogen, die dem Gericht im Prozeß zukommt, welche eben aus der Verwechslung der Rechte mit den Interessen hervorgegangen sind. So existiert einerseits die Meinung, daß das Gericht berechtigt sei, den Kläger abzuweisen, wenn es kein Interesse desselben an dem geltendgemachten Recht erblickt30 • Diese Ansicht erinnert an die bekannte Formel: keine Klage ohne Interesse (point d'action sans interet). Es ist kaum nötig darzutun, daß es das Gericht gar nichts angeht, ob die Klage für den Kläger ein Interesse hat, z. B. eine Klage um einige Pfennige für einen Millionär. Die Rechte müssen durch das Gericht ganz ohne Rücksicht auf das an ihnen bestehende Interesse geschützt werden. Jedem steht die Befugnis zu, den Schutz seines Rechtes zu verlangen, natürlich wenn dasselbe auf positive Normen gegründet ist, auch wenn er daran nicht das geringste persönliche Interesse hat. d) Die Bedeutung des Interessenschutzes

für die Methode der Rechtsfindung

Ebenfalls auf der unzutreffenden Identifizierung des Rechts mit dem Interesse beruht die Meinung, daß rechtliche Interessen vom Gericht zu schützen seien, auch wenn sie nur in geringem Maße oder gar nicht durch das Gesetz geschützt sind. Auf diese Meinung gründet sich sogar eine besondere Theorie für die Interpretation des positiven Rechts, nach der das Gericht nicht nur befugt ist, Gesetze, durch welche die Interessen nicht genügend garantiert sind, zu ergänzen, sondern diese sogar zu korrigieren, und nach der überhaupt die Stellung des Gerichts im Verhältnis zur Gesetzgebung nicht eine passive, sondern eine aktive, 30 Diese Ansicht sprach z. B. Prof. Renaud anläßlich eines Prozesses aus, der dann v. Jhering Anlaß zu einer besonderen juristischen Abhandlung gab (Jahrb. für die Dogmatik XVIII, 1880, S. 37 ff.).

2. Die Unmöglichkeit einer Verschmelzung beider Gegenstandsbereiche

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schöpferische sein müsse 8l • Hier werden offenbar bereits die Rollen des Richters und des Gesetzgebers verwechselt. Es ist anerkannt, daß es dem Gericht bei der Entscheidung von Rechtssachen gestattet ist, beim Buchstaben des Gesetzes nicht stehen zu bleiben und die im Gesetz vorhandenen Lücken auszufüllen, aber beides nur in den Grenzen des allgemeinen Geistes der Gesetzgebung. Die in der Gesetzgebung aufgestellten Normen aber durch andere zu ersetzen, auch wenn diese nach Meinung des Gerichtes gerechter wären, dieses Recht steht ihm nicht zu. Das Gericht ist freilich verpflichtet, die Interessen der Prozeßführenden und der Angeklagten zu schützen, aber nicht über das Maß und den Geist des positiven Rechts hinaus. Andernfalls würde, abgesehen von der Vermengung der richterlichen und der legislativen Gewalten, die Hauptstütze der Gesetzlichkeit erschüttert werden. Wenn eine Behörde, die allen das Beispiel geben muß, selbst anfinge, dem Gesetz zuwiderzuhandeln oder dasselbe zu umgehen, so entstünde die Frage: von wem könnte man dann noch überhaupt ein gesetzmäßiges Handeln fordern? Wir haben hier natürlich nicht denjenigen gesellschaftlichen Zustand im Auge, bei welchem noch keine bestimmten legislativen Normen vorhanden sind und eine Grenze zwischen den verschiedenen Zweigen der öffentlichen Gewalt noch nicht gezogen wurde. In einem solchen Falle bestimmt sich das Verhältnis des Gerichts zum Gesetz natürlich nach anderen Grundsätzen. Wir gehen von einer Lage der Dinge aus, bei welcher die Funktionen des Richters und des Gesetzgebers kraft positiven Gesetzes getrennt sind. Das Gericht hat hier als besonderes Organ der öffentlichen Gewalt eine eigenständige Aufgabe, und zwar eine sehr komplizierte und schwere Aufgabe. Schon allein die Interpretation der Gesetze - wenn man sich bei dieser nicht eng an den Buchstaben des Gesetzes hält, sondern sie auf die wissenschaftliche Erforschung des wahren Sinnes der Gesetzgebung gründet - ist in ihrer Anwendung auf die verschiedenartigsten Fälle des Lebens zweifellos eine schwere Aufgabe und erfordert eine gründliche juristische Bildung. Dabei darf man nicht vergessen, daß der Richter gleich dem Arztes nicht nur mit sozusagen einfachen und gewöhnlichen Fällen zu tun hat, sondern daß sich ihm oft auch sehr verwickelte und schwierige Fragen stellen, wobei es nicht selten vorkommt, daß er in der Gesetzgebung nur sehr dürftige oder gar keine bestimmten Normen für den entsprechenden Fall vorfindet. In solchen Fällen ist zweifellos seiner Selbsttätigkeit und seinem schöpferischen Genie ein großer Spielraum gegeben, wenn er sich auch innerhalb der Grenzen des allgemeinen Geistes der Gesetzgebung zu halten hat.

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Siehe z. B. Muromzew: Abhandlungen (N. 16), S. 197-198; Definition

(N. 16), S. 43.

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111. Rechtsdogmatik als eigenständige Wissenschaft

Was nun das Verhältnis der gerichtlichen Praxis zur Fortbildung der Gesetzgebung betrifft, so ist anerkannt, daß die Praxis auch ohne künstliche Anstrengungen ihrerseits stets zur Vervollkommnung des positiven Rechts, den Anforderungen des praktischen Lebens entsprechend, beigetragen hat und beitragen wird, da die Mängel des Gesetzes nirgends so überzeugend und klar an den Tag treten wie bei der Entscheidung der einzelnen Fälle in der Praxis. Im übrigen erschöpft sich die Wirkung der Rechtsprechung nicht in der Anwendung der Gesetze auf einzelne Fälle. Wenn das Gericht ernstlich seine Aufgabe erfaßt und durchführt, so kann ein tiefgreifender Einfluß auf die Rechtsvorstellungen in der Gesellschaft nicht ausbleiben: darin besteht der, wenn auch nicht direkte, jedenfalls segensreiche Beruf des Gerichts. Nicht darin allein besteht unser Kummer, daß viele Gesetze unvollkommen sind, sondern vielmehr darin, daß auch die guten Gesetze unbefriedigend ausgeführt oder durch Willkür und Ignoranz ganz außer Kraft gesetzt werden. Wenn das Gericht seine Bestimmung - die Einbürgerung der Gesetzlichkeit - redlich erfüllt, so erwirbt es sich schon dadurch ein immenses Verdienst um die Gemeinschaft, da Gesetzlichkeit nicht nur eine Bedingung für die Sicherung von Privatrechten, sondern eine conditio sine qua non für den Rechtsbestand der ganzen staatsbürgerlichen Ordnung ist. Doch haben wir uns etwas zu weit von unserem Thema entfernt. Unsere Auslassungen über das Gericht hatten eigentlich die Bestimmung zu zeigen, wie unbegründet die Meinung ist, daß das Gericht die Pflicht habe, die "Interessen" zu schützen, auch wenn diese im Sinne des Gesetzes des Schutzes entbehren. Das Gericht, behaupten wir, soll nicht Interessen, sondern Rechte schützen. Dieses sind die wichtigsten Folgen der Verwechslung und Vermengung verschiedenartiger Begriffe. Wenn aber eine solche Verwechslung auf dem Gebiete der Praxis nicht angebracht ist, so darf dieselbe auch in der Theorie nicht Platz greifen: nicht Interessen, Zwecke und sonstige Fakten bilden unmittelbar die Aufgabe des Rechtsstudiums, sondern nur das Maß freier Willensäußerung, die moralische Schranke, die durch das positive Recht gesetzt und gesichert sind. Die Eigenart des Forschungsgegenstandes der Rechtswissenschaft bietet also selbst den Beweis dafür, daß das auf die Vernichtung der Rechtswissenschaft gerichtete Streben verfehlt ist. Es gibt aber noch einen scheinbar sehr gewichtigen Einwand gegen die Anerkennung der Jurisprudenz als Wissenschaft. Mit ihm sind wir sozusagen am Brennpunkt des Streites angelangt.

IV. Remtsdogmatik als Wissenschaft 1. Zur Aufgabe der Wissenschaft Man wendet uns ein: die Jurisprudenz sei keine Wissenschaft, da sie sich nicht mit der Erforschung der Gesetze der Erscheinungen befasse, sondern nur mit der Reproduktion des Faktums. Sie sei also - lediglich eine Kunst. Zugegeben empfindet der Jurist beim Ausdruck "Gesetze der Erscheinungen" ein gewisses Unbehagen. Ich spreche nicht von solchen quasiJuristen, denen die Wissenschaft unbekannt ist - solche werden nur ihre Verwunderung äußern. Sie haben es ja dauernd nur mit Gesetzen zu tun, und dazu mit einer solchen Menge von Gesetzen, und da weist man sie noch auf andere "Gesetze" hin! Ich lasse auch Anfänger beiseite und will nur daran erinnern, welchen Schauder ein Professor zu Beginn des Studiums bei seinen Hörern erwecken kann, wenn er ausruft, daß der Jurist nicht nur die Gesetze, sondern auch die "Gesetze der Gesetze" studieren müsse. Auch ernsthafte Juristen geraten hin und wieder in Zweifel hinsichtlich ihrer Wissenschaft: wenn diese in der Tat nicht die Gesetze der Erscheinungen erforscht, so fragt es sich, ob juristische Untersuchungen wirklich den Namen wissenschaftlicher Untersuchungen verdienen. Lohnt es sich denn dann überhaupt noch, sich mit der Jurisprudenz zu beschäftigen, wenn dieselbe keine Wissenschaft ist? Die Kunst sei natürlich auch eine ehrenvolle Sache, um so mehr als jede Kunst auch ihre Theorie hat, aber dennoch sei es gewissermaßen beleidigend usw. Wir wollen uns auf keine Vergleiche einlassen; denkt man doch in dieser Hinsicht selbst über die Logik verschieden, und was liegt denn Beleidigendes darin, daß man die Jurisprudenz eine Kunst nennt! Aber die Frage muß klar gestellt werden: ist es richtig, daß der Jurisprudenz dasjenige fremd ist, was einer Wissenschaft eigen ist, d. h. die Erforschung der Gesetze der Erscheinungen? Uns will es scheinen, als ob die Mißverständnisse hinsichtlich dieser Frage vor allem aus der Terminologie hervorgegangen sind und daß die Sache sich von selbst einigermaßen aufklärt, wenn wir das Wort "Gesetze" (in wissenschaftlichem Sinne) durch den gewöhnlichen, auch wissenschaftlichen, Ausdruck "Grundsätze" oder "Prinzipien" ersetzen. Niemand wird natürlich dagegen streiten, daß auch die Rechtswissen-

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IV. Rechtsdogmatik als Wissenschaft

schaft mit der Erforschung von Grundsätzen zu tun hat. Die Tätigkeit der Rechtswissenschaft besteht gerade darin, daß sie die Mannigfaltigkeit ihrer Forschungsgegenstände (der Rechtsbegriffe, Anschauungen) auf Grundsätze, d. h. auf Gesetze (in wissenschaftlichem Sinne) zurückführt. Das Problem besteht nur darin, daß die neue Wissenschaft indem sie von "Gesetzen" spricht und der in anderen Wissenschaften gangbaren Anschauung folgt - als Wissenschaft nur dasjenige anerkennt, was sich mit der " Entwicklung " der Erscheinungen abgibt. Eine solche Einschränkung des Begriffes "Wissenschaft" bloß auf die Erforschung der Entwicklungsgesetze oder der sog. historischen Gesetze scheint uns ganz willkürlich. Die Aufgabe der Wissenschaft, letztere im weiteren Sinne genommen, besteht in der Erforschung des Bandes, welches die verschiedenen Erscheinungen verbindet, überhaupt darin, daß sie bestrebt ist, die beständigen und gleichförmigen Wechselbeziehungen zwischen ihnen aufzufinden, Beziehungen, die sich eben in den Grundsätzen oder sog. Gesetzen aussprechen. Dieser wechselseitige Zusammenhang zwischen den Erscheinungen kann ja aber, wie wir gesehen haben, auch unabhängig von der Frage ihrer Entwicklung oder Bewegung erforscht werden. Die Erscheinungen können sozusagen im Raume und nicht in der Zeitfolge Gegenstand des Studiums werden, als Elemente eines Ganzen, eines logischen Organismus. Solcher Art ist denn auch das Studium der Erscheinungen auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft: die Grundsätze, welche die Rechtswissenschaft aus der Kombination der Erscheinungen ableitet, werden eben auch Gesetze im wissenschaftlichen Sinne sein, aber natürlich sind das keine historischen Gesetze rechtlicher Erscheinungen, sondern Gesetze eines Systems dieser Erscheinungen. 2. Angewandte und theoretische Wissenschaft vom Recht

Nun tritt uns aber ein vermeintlich unwiderlegbarer Einwand entgegen. Man sagt uns: die durch die Rechtswissenschaft abstrahierten Grundsätze und Prinzipien können nicht den Gesetzen oder wissenschaftlichen Prinzipien im eigentlichen Sinne gleichgestellt werden, da sie aus den Rechtsnormen selbst abgeleitet werden, also nur eine Reproduktion dieser bilden und folglich selbst unter den Begriff von Erscheinungen fallen, also auch das Schicksal letzterer teilen, d. h. Veränderungen unterliegen, während die Gesetze der Erscheinungen von letzteren verschieden sind. Diese Gesetze nämlich sind die beständigen und unveränderlichen Beziehungen zwischen den Erscheinungen3!. Doch 32 Siehe z. B. v. Stein (N.9), S.102: "Die Gesamtheit der Rechtsbegriffe ist nichts als die Gesamtheit der Erscheinungen, welche von den rechtsbildenden Kräften erzeugt werden"; ferner Muromzew: Definition (N. 16), S.25-29 und Abhandlungen (N. 16), S. 85.

2. Angewandte und theoretische Wissenschaft vom Recht

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auch diesem Einwand liegt unserer Ansicht nach ein wesentliches Mißverständnis zugrunde, welches sich aus der stark verbreiteten Meinung erklärt, nach der die unmittelbare Aufgabe der Rechtswissenschaft in der systematischen Darstellung des positiven Rechts, ja, falls dieses Recht schon in einem Gesetzbuch systematisch geordnet sei, nur in einer verbesserten Gruppierung und auf inneren Zusammenhang basierten Formulierung der Rechtsgrundsätze bestehe. Abgesehen davon, daß das Fehlen von geschriebenen Gesetzen und Gesetzbüchern durchaus nicht die Möglichkeit einer Rechtswissenschaft ausschließt und daß die Kodifikation des Rechts mit Hilfe dieser selben Wissenschaft vor sich geht, scheint es uns, daß der Grundirrtum, welcher Anlaß zu einer Menge falscher Schlüsse über die Rechtswissenschaft gab, gerade darin besteht, daß man den angewandten Teil der Wissenschaft mit ihrem Hauptteil - nämlich dem rein-theoretischen - verwechselt, die systematische Darstellung eines gegebenen positiven Rechts mit den allgemeinen Grundsätzen, auf welche diese Darstellung sich gründet, oder daß man, was dasselbe ist, die Prinzipien der Wissenschaft mit den Prinzipien des positiven Rechts identifiziert. Sogar viele Rechtsdogmatiker sind der Ansicht, daß die Wissenschaft ihre Prinzipien aus den Normen des positiven Rechts selbst schöpft und nur eine Reproduktion derselben darstellt. Unter den vielen Folgen dieses Irrtums ragt besonders der Umstand hervor, daß - wenn man der genannten Ansicht folgt - man annehmen muß, es gäbe z. B. nicht eine Wissenschaft des Zivilrechts, sondern deren mehrere, nämlich so viele, als es positive Gesetzgebungen oder Gesetzbücher gibt, oder so viele, als verschiedene Völker oder Staaten existieren, so daß man sogar zu einer Verschiedenheit der Wissenschaft je nach der Verschiedenheit der Nationalitäten gelangt. Wenn jemand sich einfallen ließe, Ähnliches von der Chemie oder Botanik zu sagen, zu behaupten, daß es nicht eine Botanik gäbe, sondern mehrere: eine französische Botanik, eine russische und dergl., so würde man ihn einfach einen Ignoranten nennen, und dennoch hält man eine solche Ungeheuerlichkeit bei der Rechtswissenschaft für möglich. Einer der neueren Schriftsteller des Staatsrechts stützt, indem er dagegen streitet, daß auf das Staatsrecht die juristische Darstellungsmethode angewandt werde, seinen Einwand gerade darauf, daß ein jedes positivrechtliches System nur so lange tauge, als dieses Recht existiere, und führt zur Illustrierung dieses tiefen Gedankens an, daß bei der raschen Aufeinanderfolge verschiedener Formen der Staatsverfassung, welche in Deutschland innerhalb kurzer Zeit stattfand, ein Buch, welches die Darstellung des Systems der deutschen Staatsverfassung zum Zweck gehabt hätte, noch bevor es die Druckerei verließ schon Makulatur hätte werden müssen. Daraus wird dann der Schluß gezogen, daß die juristische Methode voll-

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IV. Rechtsdogmatik als Wissenschaft

ständig aus der Wissenschaft des Staatsrechts zu entfernen sei33 • Es ist Zeit, dieses Mißverständnis zu beseitigen und klarzumachen, worin das Wesen der Sache besteht.

3. Die Gesetze der Rechtsdogmatik als Regeln des juristischen Denkens Der Prozeß der wissenschaftlichen Forschung in der Jurisprudenz ist im allgemeinen derselbe wie bei jeder anderen Wissenschaft. Die Forschung geht auch hier von der Kenntnisnahme von Tatsachen aus und führt, indem sie auf analytischem Wege zu allgemeinen Eigenschaften gelangt, zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze, welche dann schon als leitende Grundsätze bei der systematischen Darstellung des positiven Rechts dieses oder jenes Volkes, dieser oder jener Epoche erscheinen. Das Werkzeug jeder Wissenschaft besteht in der Verallgemeinerung. Die Verallgemeinerung der Erscheinungen bedeutet aber gerade die Darlegung der beständigen wechselseitigen Beziehungen derselben; diese Bedeutung hat die Verallgemeinerung auch in der Rechtswissenschaft. Der Inhalt eines jeden positiven Rechts, bestehe derselbe worin er wolle (für die Wissenschaft ist das gleichgültig), ist eben in dem Sinne aufzufassen, daß mit gewissen Tatsachen oder Verhältnissen bestimmte rechtliche Folgen verbunden werden. Die Gleichmäßigkeit dieser Folgen bietet dann eben die Handhabe zur Aufstellung allgemeiner theoretischer Grundsätze. So wird z. B. der Begriff der dinglichen Rechte, im Gegensatz zu den Obligationen, formuliert usw. Die wissenschaftlichen Prinzipien werden natürlich nicht nur aus einem gegebenen Gesetzbuch abgeleitet, sondern aufgrund vergleichenden Studiums aller juristischen Erscheinungen aufgestellt. Wissenschaftliche Prinzipien sind nicht die Grundsätze, die durch Gesetz oder Gewohnheit eingeführt sind, auch nicht die allgemeinen Grundsätze eines positiven Rechts; sie sind vielmehr theoretische Generalisierungen des Zusammenhanges zwischen solchen Grundsätzen. Andererseits sind diese wissenschaftlichen Prinzipien wiederum nicht solche allgemeinen aprioristischen Grundsätze, aus denen der ganze Inhalt des positiven Rechts deduziert werden könnte, sondern solche Prinzipien, auf welche nur logisch der ganze Inhalt des positiven Rechts zurückgeführt werden kann. Diese allgemeinen Grund33 Gumplowicz (N.13), S. 514 ff. In seinem neuesten Werk: Verwaltungslehre mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Verwaltungsrechts, Innsbruck 1882, modifiziert der Verf. scheinbar seine frühere Meinung, indem er eine, wenn auch nur "subsidiäre" und "interimistische" Anwendung der juristischen Methode auf das staatsrecht zuläßt. In Wirklichkeit aber beharrt er bei seiner früheren Ansicht, da er die juristische Methode grundsätzlich als etwas dem Privatrecht ausschließlich eigenes betrachtet (S. 51-53).

3. Gesetze der Rechtsdogmatik als Regeln juristischen Denkens

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sätze nun sind es, die man dann bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der konkreten Erscheinungen in Anwendung bringt. In dieser Hinsicht existiert kaum irgendwelcher Unterschied zwischen der Rechtswissenschaft und der "sozialen" bzw. historischen Theorie des Rechts. Auch die letztere erarbeitet nur die allgemeinen Entwicklungsgesetze der Erscheinungen, welche dann in der Rechtsgeschichte als einer angewandten Wissenschaft, gerichtet auf die Erforschung der konkreten Tatsachen des positiven Rechts, angewandt werden. Ganz in demselben Verhältnis steht die allgemeine Rechtstheorie zur systematischen oder dogmatischen Darstellung verschiedener positiver Rechte. In beiden Fällen ist die allgemeine Theorie eine Generalisierung der Erscheinungen, die der Forschung unterliegen, und dient sozusagen als methodologische Grundlage für die Erforschung der konkreten Erscheinungen - in dem einen Falle für die historische Erforschung des Rechts, in dem anderen für die dogmatische. Hierbei ist es klar, daß in beiden Fällen die Zahl der allgemeinen Grundsätze oder wissenschaftlichen Gesetze keine große sein kann, und je eingehender die Generalisierung ist, um so weniger allgemeine Grundsätze muß es geben: darin besteht eben der Fortschritt jeder Wissenschaft. Wenn somit nach allgemeiner Auffassung der Begriff wissenschaftlicher Gesetze nicht nur in der Wissenschaft Anwendung findet, welche die Lebensseite des Rechts erforscht, sondern auch in der juristischen Wissenschaft, so folgt daraus doch noch keineswegs, daß der Inhalt dieser und jener der nämliche sei. Im Gegenteil: entsprechend der Verschiedenheit der Gesichtspunkte, von denen man bei der Erforschung des Rechts ausgeht, müssen auch die Prinzipien verschieden sein - in der einen Wissenschaft sind es Grundsätze, in denen das Gleichartige in Hinsicht auf die Entwicklung und Ausbildung des Rechts zum Ausdruck kommt, in der anderen Grundsätze, die das Gleichartige in Hinsicht auf den logischen Zusammenhang der Begriffe als rechtlicher Größen ausdrücken. In der Rechtswissenschaft sind das nicht positive Normen, sondern Regeln logischer Natur, das, was die römischen Juristen regulae iuris nennen. Sie sind entweder negativ gefaßt, d. h. sie drücken etwas logisch Unmögliches aus, oder positiv, und enthalten alle - direkt oder indirekt - eine Generalisierung von Rechtsgrundsätzen, in deren Eigenschaft als Maße, als mathematische Größen. Als Beispiele mögen dienen: nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse habet; dominium plurium in solidum esse non potest; in eo quod plus sit, inest et minus und dergleichen mehr. Denselben Charakter haben auch alle juristischen Definitionen: die Rechtsgrundsätze werden zu. juristischen Größen zusammengefaßt, alle Rechtsverhältnisse werden extensiv, intensiv oder effektiv, d. h. nach Umfang, Inhalt oder Wirkung gemessen.

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IV. Rechtsdogmatik als Wissenschaft

Wenn man eingehender den Charakter der erwähnten Prinzipien betrachtet, so ist es unschwer einzusehen, daß dieselben nicht Dogmen eines gegebenen positiven Rechts sind, sondern logische Prinzipien. Wenn die Wissenschaft sagt, daß niemand auf einen anderen mehr Rechte übertragen kann, als er selbst hat, so ist das augenscheinlich weder Gebot noch Verbot; in jenen Worten ist nicht der Gedanke ausgesprochen, daß man etwas nicht übertragen "dürfe" oder "solle", sondern daß solche Übertragung "unmöglich" sei. Ebenso enthält der wissenschaftliche Ausspruch: "Das Gesetz kann keine rückwirkende Kraft haben" nicht einen Befehl des Gesetzgebers, sondern ein logisches, in dem Wesen der Sache selbst begründetes Prinzip, und daher stellen sich die sog. Ausnahmen von diesem Grundsatz als nur scheinbare dar, da sie logisch nicht möglich sind, so daß, selbst wenn im Gesetz selbst gesagt wäre, daß "seine Wirkung sich auch auf die Zeit vor seiner Publikation erstrecken solle", in juristischem Sinne eine solche Erklärung des Gesetzgebers nur die Bedeutung hat, daß dem Gericht vorgeschrieben wird, die Tatsachen, welche vor dem Erscheinen des neuen Gesetzes statthatten, so anzusehen und zu beurteilen, als ob dieselben erst nach Veröffentlichung dieses Gesetzes stattgefunden hätten, wobei die Regel, daß das Gesetz nicht rückwirkende Kraft haben kann, unangetastet besteht3 '. Aus dem besagten Charakter der Prinzipien der Rechtswissenschaft geht von selbst hervor, daß diese jede beliebige positive Gesetzgebung erklären können und, trotz aller möglichen Veränderungen derselben, ihre Bedeutung behalten. Daraus erklärt sich wiederum von selbst die Unhaltbarkeit der Ansicht, die Rechtsprinzipien seien, im Gegensatz zu den Gesetzen in wissenschaftlichem Sinne, ebenso dem Wechsel und der Veränderung unterworfene Grundsätze wie die positiven Normen selbst, als deren Ausdruck sie dienen. Die Rechtsprinzipien, d. h. die Grundsätze der Rechtswissenschaft, können in keinem Falle mit dem 3' -Oberhaupt ist festzustellen, daß hinsichtlich der Erklärung der Regel über die rückwirkende Kraft des Gesetzes noch immer eine starke Begriffsverwirrung herrscht. Infolge unklarer Abgrenzung der Rechtstheorie von den anderen Zweigen der Wissenschaft versteht man nämlich nicht selten die Rechtsregel, welche die Unmöglichkeit der rückwirkenden Kraft des Gesetzes ausdrückt, in dem Sinne, als ob auch der Gesetzgeber den Gesetzen nicht rückwirkende Kraft beilegen solle und daß, wenn er es tut, dadurch eine Ausnahme von der allgemeinen Regel entstehe, welche im Interesse des öffentlichen Wohls zugelassen werde, jedoch unter der Bedingung der Entschädigung derjenigen, die dadurch Schaden erleiden, siehe z. B. Malyschew: Lehrgang des Zivilrechts I, S. 193 f. (russisch). Wir meinen, daß diese beiden Auffassungen der rückwirkenden Kraft der Gesetze nichts miteinander gemein haben. Die rein juristische Frage von den Grenzen der Anwendung der veröffentlichten Gesetze durch die Gerichte wird ganz unbefugt mit einer Frage der Staats politik, der Frage der Grenzen der gesetzgebenden Gewalt und der Zweckmäßigkeit der Gesetze vermengt.

3. Gesetze der Rechtsdogmatik als Regeln juristischen Denkens

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Forschungsgegenstand, d. h. mit den Grundsätzen des positiven Rechts identifiziert werden. Im Gegensatz zu den letzteren sind sie nämlich ebenso unwandelbar wie die historischen Gesetze der Erscheinungen, wenn sie - was natürlich vorausgesetzt wird - richtig aufgestellt sind, d. h. also unter einer Bedingung, die nicht nur für das System, sondern ebenso auch für die Geschichte maßgebend ist und nach deren Verwirklichung jede Wissenschaft strebt. Wenn wir von den Prinzipien der Rechtswissenschaft als unwandelbaren und unveränderlichen Grundsätzen sprechen, so darf man dieselben keineswegs mit denjenigen unwandelbaren Grundsätzen verwechseln, welche z. B. die naturrechtliche Schule aufzustellen bestrebt war: die Grundsätze der Wissenschaft sind nicht Regeln für das Handeln der Menschen, sondern Regeln des juristischen Denkens (nicht leges, sondern regulae iuris). Den Juristen geht sogar die Aufstellung eines unwandelbaren Normalrechts gar nichts an. Die Veränderlichkeit der Normen des positiven Rechts ist für ihn ganz gleichgültig. Daher ist die Ansicht, daß die Rechtswissenschaft das Recht als etwas "unwandelbares" ansehe 35 , nicht richtig, ebenso wie die sehr verbreitete Meinung, daß die Rechtswissenschaft konservativ sei. Gewissermaßen kann das wohl von dem subjektiven Gefühl gesagt werden, welches der Gelehrte, der das geltende Recht bearbeitet hat, bei dem Gedanken an seine baldige Abänderung empfindet, oder vom Richter, welcher durch fortwährenden Umgang mit einem bestimmten Gesetzbuch mit demselben sozusagen verwachsen ist, durchaus aber nicht von der Rechtswissenschaft: für diese sind alle Veränderungen im positiven Recht gleichgültig, ebenso wie für die Geschichte als Wissenschaft. Sie sind als Wissenschaft beide vollständig leidenschaftslos; ihnen sind Sympathie und Antipathie gleichermaßen fremd; sie sind weder konservativ noch liberal. Die Wissenschaft ist, an und für sich, objektiv. Daher ist ihr auch ein besonderer Hang für die Unabänderlichkeit der rechtlichen Erscheinungen durchaus fremd, ja noch mehr: je mannigfaltiger die Erscheinungen sind, um so reichlicher sind die Garantien für die Richtigkeit der wissenschaftlichen Deduktionen. Es gibt viele Gesetzgebungen, die positiven Normen sind verschiedenartig und wandelbar, aber es gibt nur eine Wissenschaft. In diesem Sinne trägt die Rechtswissenschaft denselben Charakter wie auch die historische Rechtstheorie: die Grundsätze beider sind nicht auf die Grenzen dieser oder jener Zeit beschränkt und werden nicht nur für die zur Zeit existierenden Erscheinungen allein aufgestellt, sondern auch für künftige Erscheinungen, und wenn die historischen Gesetze in gewissem Grade es ermög35 Diese Ansicht findet sich z. B. bei Korkunow: Rechts- und Naturwissenschaft, Journal für Zivil- und Strafrecht 1879 Nr. 2 (russisch).

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IV. Rechtsdogmatik als Wissenschaft

lichen, auf künftige Tatsachen zu schließen, so müssen auch die Gesetze der Rechtstheorie die Grundlage bilden nicht nur für die Erklärung von der Vergangenheit oder Gegenwart angehörigen Instituten, sondern auch von solchen, die noch in der Zukunft entstehen können38 • Es ist allbekannt, welche Bedeutung z. B. die allgemeine Lehre von den Obligationen im System des Zivilrechts hat. Obgleich sie aufgrund von Abstraktionen aus allgemeinen Eigenschaften schon existierender Erscheinungen entstanden ist, muß sie doch, wie schon viele Juristen bemerkt haben (Puchta, Windscheid, Bruns u. a.), als Grundlage für eine richtige Diagnose auch anderer, in der Zukunft möglicher Formen von Rechtsgeschäften und Obligationen dienen, da die Wissenschaft wesentlich nur der Ausdruck der Gleichförmigkeit der Erscheinungen ist. Wenn wir die von uns gegebene Charakteristik der Prinzipien der Rechtswissenschaft im Auge behalten, so wird es kaum nötig sein, daß wir uns noch lange bei der Ansicht aufhalten, nach welcher "die juristischen Prinzipien", da sie nur eine Reproduktion der rechtlichen Normen bilden, sich von "Gesetzen" (im wissenschaftlichen Sinne) dadurch unterscheiden, daß sie verletzt werden können und der Kritik unterliegen, während solches hinsichtlich der "Gesetze" nicht denkbar sei37 • Von unserem Gesichtspunkt aus, nach welchem die Gesetze der Erscheinungen wissenschaftliche Prinzipien sind, fällt diese Ansicht, welche als einer der stärksten Einwände gegen den wissenschaftlichen Charakter der Jurisprudenz angesehen wird, von selbst. In der Tat, wenn z. B. die Wissenschaft sagt, daß die solidarische Obligation sich von der Korrealobligation durch die und die Merkmale unterscheidet, daß die Präklusivfrist - im Gegensatz zur Verjährung - in dem und dem besteht oder daß zwischen dem Versuch und dem beendigten Verbrechen der und der Unterschied besteht, so ist es nicht zu begreifen, wie solche Grundsätze, die weder ein Gebot noch ein Verbot enthalten, verletzt werden könnten. Auch hier kann natürlich von einer Verletzung die Rede sein, aber nur in einem ganz anderen Sinne. Einen wissenschaftlich-rechtlichen Grundsatz kann nur derjenige verletzen, der sich eine unrichtige Qualifizierung einer juristischen Tatsache zuschulden kommen läßt, z. B. der Richter, aber nur in eben dem Sinne, wie nur derjenige die Gesetze der historischen Theorie verletzen kann, der von ihnen bei Erklärung konkreter Erscheinungen eine falsche Anwendung 35 Einige Juristen vertreten in der Frage der Verschiedenheit der Elemente der Rechtswissenschaft die Ansicht, daß die Dogmatik der Gegenwart (dem geltenden Recht) zugewandt ist, die Geschichte der Vergangenheit, die Philosophie und Kritik aber der Zukunft. So in der russischen Literatur z. B. Umow und Malyschew. Eine derartige Unterscheidung beruht augenscheinlich auf einem unklaren Begriff vom Wesen der Wissenschaft und vom Verhältnis derselben zum Gegenstand der Forschung. 37 Muromzew: Definition (N. 16), S. 17.

3. Gesetze der Rechtsdogmatik als Regeln juristischen Denkens

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macht, z. B. der Geschichtsforscher. Ebenso muß von der Kritik gesagt werden, daß Gegenstand derselben sowohl "die juristischen Prinzipien" als auch die "Gesetze der Erscheinungen" sein können, da bei Aufstellung beider ein Versehen seitens der Wissenschaft möglich ist.

4 Pachman

V. Der Dualismus der Redltswissensmalt Aufgrund der obigen Erörterungen sind wir wohl zu dem Schluß berechtigt, daß die Jurisprudenz, als allgemeine Theorie, denjenigen Bedingungen entspricht, bei deren Vorliegen ein beliebiger Zweig des Wissens den Namen einer Wissenschaft mit Recht trägt. Zugleich haben wir gesehen, daß die Grundsätze der juristischen Wissenschaft einen besonderen, selbständigen Inhalt haben, der vollständig verschieden ist vom Inhalt der sozialen oder der historischen Theorie des Rechts. Es kann manchem befremdend erscheinen, daß, obgleich der Gegenstand der Forschung eigentlich ein und derselbe ist, sich doch zwei Wissenschaften darbieten. Es wäre aber vollständig absurd, wollte man diese Zweiteilung der Willkür oder dem Antagonismus verschiedener wissenschaftlicher Richtungen zuschreiben. Dieselbe besteht ja doch auch auf dem Gebiete der Naturwissenschaften. Dort wird die Anatomie durchaus nicht mit der Physiologie verwechselt. In einem ähnlichen Sinne ist auch die Zweiteilung auf dem Gebiete des Rechts nicht zu vermeiden. 1. Die objektive und die subjektive Betrachtungsweise des Rechts

Um diesen Dualismus zu rechtfertigen, wollen wir versuchen, etwas eingehender darzulegen, worin eigentlich sein Wesen besteht. Der Abgrenzung zweier selbständiger Zweige der Rechtswissenschaft liegt, wie wir sahen, der Gedanke zugrunde, daß das positive Recht von zwei verschiedenen Seiten betrachtet und erforscht werden kann. Die eine dieser Seiten wollen wir die äußere nennen, die andere die innere. Der Gegenstand der Forschung ist natürlich der nämliche - das Maß der gesellschaftlichen Freiheit. Nur wird dasselbe von der äußeren Seite aus als Mittel für die Verwirklichung dieser oder jener Zwecke oder Interessen erforscht, von der inneren dagegen ist es Forschungsgegenstand nur seinem Inhalte nach, d. h. gerade als Maß, als eine Schranke, als eine Größe. Die Forschung in erster Richtung ist Sache der sozialen oder historischen Rechtstheorie, diejenige in zweiter Richtung - der rein rechtlichen Theorie. Dem Wesen der Sache nach ist dieser Unterschied nicht neu: von alters her unterscheidet man zwei Seiten des Rechts eine objektive und eine subjektive. In der Literatur findet sich eine verschiedene Auffassung dieses Unterschiedes, aber es will uns scheinen,

2. Die dynamische Betrachtungsweise in der Rechtsdogmatik

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daß dem Wesen der Sache nach diesem vollständig die oben erwähnte Verschiedenheit der inneren und äußeren Seite des Rechts entspricht. Trotz der terminologischen Identität des Ausdrucks wird das Recht, z. B. Erbrecht, in einem Falle objektiv betrachtet, d. h. als Institut, im anderen dagegen als einzelnes Rechtsverhältnis, und zwar so, daß bei erster Betrachtung der zweite Gesichtspunkt beiseite gelassen wird (solcher Art ist die soziale Rechtstheorie) und umgekehrt, bei der letzteren Betrachtungsweise der erste Gesichtspunkt beseitigt wird (dieses ist der Charakter der juristischen Theorie). Wenn wir tiefer in den Sinn dieser Unterscheidung eindringen, so bemerken wir, daß im ersten Falle das Recht Gegenstand der Forschung ist, unabhängig von seinem Zusammenhang mit einem bestimmten Subjekt, also sozusagen in abstracto. Im zweiten Falle dagegen wird das Recht Gegenstand der Betrachtung nicht anders als in seinem Verhältnis zu einem bestimmten Subjekt, als wenn es sich in dem gegebenen einzelnen Falle verwirklicht hätte, also in concretoS8 • 2. Die dynamische Betrachtungsweise in der Rechtsdogmatik

Wenn wir den Unterschied weiter verfolgen, so muß bemerkt werden, daß die Lebensseite des Rechts nicht ausschließlich nur in der sozialen oder historischen Theorie erforscht wird. Sie wird auch in der Rechtstheorie erforscht. Auch hier wird das Recht in seiner Bewegung, von seiner Lebensseite betrachtet, jedoch in anderem Sinne. Die soziale Theorie untersucht die Entwicklung, die historische Bewegung des objektiven, abstrakten Rechts im Ganzen oder auch einzelner Institute. Die Rechtstheorie hingegen zeigt die Entwicklung oder Bewegung des konkreten Rechts. In diesem Sinne hat jedes Rechtsverhältnis auch seine Geschichte: Es entsteht, verändert sich, wird geschützt, geht unter. Schon die römischen Juristen haben auf diese konkrete, lebendige Seite der Rechtsverhältnisse hingewiesen, wenngleich in erster Linie nur in Bezug auf Privatrechtsverhältnisse, und zwar in der Formel: Totum ius consistit aut in acquirendo, aut in conservando, aut in minuend03~. Nach einer Bemerkung Puchtas, welcher nicht die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, gründet sich das System der römischen Rechts38 Es ist selbstverständlich, daß wir hier das Wort "abstrakt" nur im Gegensatz zur konkreten Seite des Rechts gebrauchen und nicht im Sinne der wissenschaftlichen Tätigkeit des "Abstrahierens" aus konkreten Erscheinungen, da auch die Rechtstheorie ein abstrakter Ausdruck dessen ist, was sich in den konkreten rechtlichen Tatsachen darbietet. Wenn man das Verhältnis der Theorie zur Praxis in Betracht zieht, so "legt" nach den Worten Kierulffs (Theorie des gemeinen Civilrechts, Altona 1839, S. XXIV) erstere das "abstrakt aus", was letztere "konkret realisiert". S~ L. 41 D. de leg. I, 3.

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V. Der Dualismus der Rechtswissenschaft

kompendien (institution es) als solches auf die Idee der Entstehung und des Unterganges der einzelnen Rechtsverhältnisse 40 • Doch hat er diesen Gedanken nicht speziell im Hinblick auf die konkrete Seite des Rechts ausgesprochen41 • Unsere Charakteristik der inneren Bewegung des Rechts könnte auch auf die Rechtsverletzungen angewandt werden, also auch auf Verbrechen, mögen dieselben als Handlungen angesehen werden oder als Verhältnisse; ebenso auf die prozessualen Rechtsverhältnisse42 • Dabei schließt die Betrachtung des Rechts in seiner konkreten Bewegung durchaus nicht den Begriff des Rechts als eines Maßes aus; denn eben dieses Maß in allen Phasen solcher Bewegung wird Gegenstand der Betrachtung.

3. Die öffentlicitrechtliche und die privatrechtliche Betrachtungsweise des Rechts Den Weg der Gegensätze noch weiter verfolgend, sei die Vermutung ausgesprochen, daß auch bei der bekannten römischen Gegenüberstellung von ius publicum und ius privatum, obwohl sie scheinbar nur verschiedene Interessen- und Lebenssphären bezeichnen soll, unmittelbar nicht verschiedene Zweige des positiven Rechts, sondern Zweige der Wissenschaft selbst ins Auge gefaßt wurden, nämlich die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus das positive Recht Gegenstand der Forschung werden kann. Auf eine solche Sicht weist auch die Fassung des Textes hin. Es wird nicht direkt gesagt, daß das positive Recht in ein öffentliches und ein Privatrecht zerfalle, sondern daß es zwei Seiten des Studiums (des Rechts) gebe: hujus studii duae sunt positiones: publicum et privatum, und es ist sehr wahrscheinlich, daß unter öffent40 Puchta: Betrachtungen über alte und neue Rechtssysteme, Rhein. Museum für Jurisprudenz, 1829, S. 115-133 sowie in: Kleinere civil. Schriften, S.221239. 41 In der englischen Literatur, in der eine Vermischung und Verwechslung der juristischen Bearbeitung des Rechts mit historischen und philosophischen Untersuchungen nicht stattfindet, ist dieselbe Ansicht über die Theorie der konkreten Verhältnisse in ihrer Bewegung zu finden, z. B. bei Anson: Principles of the English Law of Contract, Oxford 1879. Man findet in diesem Werke eines der besten Systeme des Vertragsrechts als eines Teiles der "Jurisprudenz". Der Autor erklärt u. a., daß er beabsichtige, "the general principles which govern the contractual relation from its beginning to its end" darzulegen, und nennt eine solche Darstellung "the his tory of a contract", d. h. eine Geschichte des Vertrages nicht als Rechtsinstituts, sondern als einzelnen Rechtsgeschäfts, als konkreten Rechtsverhältnisses. 42 Daß der Prozeß ein Rechtsverhältnis sei, in welchem die Momente des Entstehens, des Ganges und des Unterganges zu unterscheiden sind, findet sich bei Bülow: Die Lehre von den Processeinreden etc., Giessen 1868. Siehe auch Pl6sz: Beiträge zur Theorie des Klagerechts, Leipzig 1880. Diese Ansicht wird übrigens nicht von allen geteilt, siehe z. B. Menger: System des österreichischen Civilprocesses, Wien 1876.

3. Öffentliches Recht und Privatrecht

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lichem das Objektive (äußere, allgemeine), unter privatem aber das Subjektive (innere, individualisierte) verstanden wurde. Die Worte: "ad singulorum utilitatem pertinent" aber könnten die Bedeutung haben: "in Anwendung auf die einzelnen Personen", d. h. in konkretem Sinne. An die Bedeutung des Privaten oder "Einzelnen" als Konkreten konnte, wie das auch nicht selten in anderen Fällen geschieht, leicht der Begriff des "Privaten" (Einzelnen) im Sinne des privaten Interesses oder des privaten Lebens angeschlossen werden, so wie überhaupt der Gedanke an das, was das Interesse der Privatperson ausmacht und dessen Kenntnis ihr denn auch besonders nötig ist. In der Tat bieten ja die Institutionen hauptsächlich nur eine Bearbeitung des Privatrechts im zweiten Sinne (nach heutiger Terminologie: des Zivilrechts), der Idee nach war aber dabei höchstwahrscheinlich das "Private" im ersten Sinne, d. h. gerade die konkrete Seite des Rechts, ins Auge gefaßt worden. In diesem "Privaten" sollte die ganze rein juristische Seite des Rechts erschöpft werden, wie man aus der Einleitung zu den Institutionen selbst schließen kann, da dort erklärt wird, daß das Lehrbuch dazu bestimmt war, "totius legitimae scientiae prima elementa" zu enthalten. Von diesem Gesichtspunkt aus erhält auch das seinen rechten Sinn, was Savigny zu Anfang seines "Systems" ausgesprochen hat: "Nur das Privatrecht gehört zu unserer Aufgabe, nicht das öffentliche Recht: also dasjenige, was die Römer zur Zeit der Republik als die ausschließende Kenntnis eines Jurisconsultus oder die eigentliche jurisprudentia ansahen"43. Wenn man nun im Auge behält, daß das römische System als erste Grundlage für den späteren Aufbau der Rechtswissenschaft diente, so kann man leicht begreifen, warum in der gegenwärtigen Wissenschaft, welche den Namen des "Zivilrechts" trägt, sich - unabhängig von deren Spezialität, dem Studium der Rechtsinstitute des Privatlebens nämlich bis in die Gegenwart hauptsächlich "die allgemeine Rechtstheorie" konzentriert, im "öffentlichen" Recht aber das gesellschaftliche, soziale Lebensgebiet des Rechts. Diese Rollenverteilung liegt - in der Bedeutung eines Prinzips - auch der in Deutschland allgemein verwendeten Bezeichnung der beiden Zweige der Wissenschaft als "Rechtswissenschaft" und "Staatswissenschaft" zugrunde, so daß man unter ersterer insbesondere die Theorie des Rechts, als Rechtes, die rein juristische Theorie, unter der letzteren dagegen die Theorie der Gesellschaft, als organisierter Einheit (status rei publicae) versteht. In den speziellen Zweigen der gegenwärtigen Rechtswissenschaft ist dieser Gegensatz nicht in so scharfer Form durchgeführt. In jedem Zweige derselben sind beide erwähnten Elemente, beide Seiten des Rechtsstudiums vereint, wenn auch nicht völlig gleichmäßig, sondern so, daß die eine Seite den Vorrang hat. So wird in der Wissenschaft des Zivilrechts nicht die rein juristische Seite 43 Savigny: System des heutigen römischen Rechts I, S. 2.

V. Der Dualismus der Rechtswissenschaft

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des Rechts allein zum Gegenstand der Betrachtung, nicht allein das in diesem Sinne "private" Recht, sondern auch das öffentliche Recht, d. h. die publizistische Seite der Institute. In diesem Sinne ist auch das Strafrecht ein privates und ein öffentliches usw. 4. Die Untersuchung der ratio legis und der ratio iuris So also liegt, bei aller Buntscheckigkeit und Unbestimmtheit der Terminologie, allen von uns oben angeführten Gegensätzen unserer Meinung nach ein und derselbe Gedanke zugrunde - der Unterschied zwischen der äußeren (objektiven, abstrakten, öffentlichen) und der inneren (subjektiven, konkreten, privaten) Seite des Rechts. Hieraus erklärt sich auch die rechte Bedeutung des Unterschiedes, welcher der Lehre von der analogen Anwendung der Gesetze in den Ausdrücken: ratio legis und ratio iuris zugrunde liegt44 • Dieser hat unzweifelhaft eine weitere Bedeutung. Für ihn ist auch der Gedanke von den verschiedenen Gesichtspunkten maßgebend, von denen aus das Recht zum Gegenstand des Studiums gemacht werden kann. Wenn die Betrachtung sich der "äußeren" Seite des Rechts zuwendet, d. h. seinem Verhältnis zu den verschiedenen Lebenszwecken und Interessen, so kann man in diesem Sinne auch sagen, daß die ratio legis, die Vernunft des Gesetzes, Gegenstand der Untersuchung sei45 • Wenn aber zum Gegenstand der Betrachtung die innere Seite des Rechts gemacht wird, d. h. das Recht als solches, so daß die Grundsätze für die Theorie nicht von außen hineingetragen, sondern aus dem Recht selbst deduziert werden, aus dem logischen Zusammenhang der Rechtsbegriffe, dann kann - als Gegensatz zu obigem - gesagt werden, daß die "Vernunft des Rechts", die ratio iuris, untersucht werde. In dieser Nebeneinahderstellung bewahrheitet sich noch klarer der Gedanke vom Unterschied zweier Theorien oder zweier Zweige der Rechtswissenschaft, die - dem Wesen der Sache nach nichts gemein haben noch gemein haben können, so daß folglich alle Einwendungen gegen die Jurisprudenz als Wissenschaft sowie alle Versuche, die auf deren Abschaffung gerichtet sind, in sich selbst zusammenfallen.

Siehe z. B. Unger: System I, § 10. Diese Bedeutung hat eigentlich auch der "Zweck" bei v. Jhering; er ist nicht das Ziel, sondern gerade die Vernunft, die Lebensidee im Recht. U

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5. Rechtsdogmatik als "objektive" und selbständige Disziplin

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5. Rechtsdogmatik als "objektive" und selbständige Disziplin Wenn wir hiermit unsere Abrechnung mit den verschiedenen Irrtümern abschließen, die aus der falschen Auffassung vom Wesen der Rechtswissenschaft entstanden sind, so müssen wir gleichwohl noch auf zwei bedeutende Mißverständnisse hinweisen, welche derselben Quelle entstammen: 1. Von alters her wirft man der Rechtswissenschaft vor, daß sie nicht die Lebensbedeutung der juristischen Erscheinungen erkläre48 und daß sie sich nur mit der Rechtfertigung von Tatsachen beschäftige, welche von ihr zu wissenschaftlichen und sogar philosophischen Grundsätzen, zu unabänderlichen, absoluten Gerechtigkeitsprinzipien erhoben würden, daß sie, mit einem Wort, eine Richtung verfolge, die mit den Anforderungen wahrer Wissenschaft nichts gemein habe. Es ist vollständig wahr, daß die Rechtswissenschaft nicht die Lebensgrundlagen des Rechts erklärt. Doch kann ihr daraus keineswegs ein Vorwurf gemacht werden, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie sich damit gar nicht beschäftigt, weil das gar nicht ihre Sache ist. Sie hat ihre selbständige Aufgabe, welche mit obiger Anforderung nichts gemein hat: ihre Aufgabe besteht nämlich in der Erforschung der inneren Natur des Rechts, als Recht, also nur in der logischen Konstruktion der Rechtsbegriffe. Sie geht nicht über die Grenzen dieser Begriffe hinaus und hat nur im Auge, die innere, logische Wechselbeziehung zwischen diesen zu erörtern. Daher ist es ganz absurd, der Rechtswissenschaft die Rechtfertigung der Tatsachen, die der Betrachtung zugrunde liegen, zuzuschreiben. Wie wir schon oben bemerkt haben, ist die Rechtswissenschaft ebenso wie die soziale Theorie des Rechts vollständig objektiv. Sie ist, gleich jener, nichts als eine wissenschaftliche Generalisierung von Erscheinungen, wobei sie sich vollständig unparteiisch in der Frage nach deren Zweckmäßigkeit oder Nutzen verhält, also weder einen Tadel noch eine Rechtfertigung ausspricht. Beide Wissenschaften haben - eine jede von ihrem Gesichtspunkt aus - die Erscheinungen nur zu erklären. Eine solche Erklärung hat aber nichts mit einer Rechtfertigung zu tun. Aus diesem Grunde sind auch der Rechtswissenschaft irgendwelche "Richtungen" sozialer Art total fremd. Wenn sich auch in juristischen Werken Erörterungen historischen oder rein philosophischen Charakters finden, so ist das nichts als eine zufällige Beigabe, die von außen aus anderen Wissenschaften hineingetragen werden, und wenn solche Erörterungen in der Tat an Einseitigkeit leiden, wenn dieselben veraltet oder gar direkt falsch sind, so kann das alles nicht auf Rechnung der Rechtswissenschaft gesetzt werden, sondern auf Rechnung derjenigen Wissen46 Siehe z. B. Muromzew: Definition (N. 16), S. 25. Er rechnet es dem "Dogma" zur Schuld an, daß es die Frage nach dem Verhältnis der Rechtsbestimmungen zum Leben vollständig beiseite gelassen habe.

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V. Der Dualismus der Rechtswissenschaft

schaften, deren Spezialität gerade in der historischen oder philosophischen Erörterung rechtlicher und anderer gesellschaftlicher Erscheinungen besteht. Es ist doch endlich Zeit, eine jede Wissenschaft von den anderen ihr verwandten oder ihr als Hilfswissenschaften dienenden Zweigen des Wissens zu unterscheiden und aufzuhören, die Schuld der einen Wissenschaft auf eine andere zu schieben, die dabei gar nicht beteiligt ist. 2. Aus der falschen Auffassung über das Wesen der juristischen Wissenschaft im eigentlichen Sinne und ihrer Verwechslung mit anderen Zweigen der Wissenschaft entsteht noch ein weiteres, ebenfalls sehr verbreitetes Mißverständnis, das im allgemeinen die Geschichte der Wissenschaften betrifft, die zum Rechtsgebiet gehören. Man meint nämlich gewöhnlich, daß in der Geschichte der Rechtswissenschaft zwei Stadien zu unterscheiden seien: das eine - vorbereitende - , welches dem Sammeln und der Systematisierung des juristischen Materials gewidmet ist. Dieses sei diejenige Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft, auf welcher sie in der Gestalt einer Systematik oder Dogmatik des Rechts erscheint. Und ein anderes - späteres - Stadium, welches in jetziger Zeit auftritt und in der "wissenschaftlichen" Untersuchung des Rechts besteht. Dieses zweite Stadium sei die neu este Stufe, auf welcher die Wissenschaft sich die Darlegung der Gesetze der rechtlichen Erscheinungen zur Aufgabe machen muß. Da nun aber die erste Stufe nur eine vorbereitende, eine Vorstufe sei und sozusagen ihren Dienst getan habe, so folge daraus, es sei Zeit, "sich von der ausschließlich systematischen Erforschung des Rechts loszumachen" und zu der eigentlichen Rechtswissenschaft überzugehen. Dieses "Sichlosmachen" sei gerade der charakteristische Zug unserer "Übergangszeit" 47. Es ist unschwer zu begreifen, daß es historische Stadien im oben angeführten Sinne weder gegeben hat noch geben kann. Für zwei verschiedene Stadien ein und derselben Wissenschaft werden augenscheinlich zwei ganz verschiedene Wissenschaften angenommen, die ihrem Wesen nach nichts miteinander gemein haben. Eine jede derselben hat ihre besondere selbständige Geschichte: Die Jurisprudenz seit der Zeit der Römer, die historischphilosophische Wissenschaft aber noch seit früher, und erst neuerdings hat die letztere eine mehr positive Richtung genommen. Diese beiden Zweige der Rechtswissenschaft entwickelten sich ein jeder für sich und sozusagen parallel, seit altersher und ebenso auch noch heute. Es bedarf daher für das Blühen der einen (sozialen) Wissenschaft durchaus keines "Sichlosmachens" von der anderen, und ist jetzt etwas in der Art einer "Übergangszeit" eingetreten, so jedenfalls nicht für die Jurisprudenz. ~7 Siehe z. B. Korkunoff (N. 35), ferner Muromzew, welcher meint, daß die gegenwärtige Jurisprudenz sich in einem übergangsstadium befinde und aus einer Kunst in eine Wissenschaft überzugehen im Begriffe sei (siehe Abhandlungen, N. 16, S. 192; Definition, N. 16, S. 14).

VI. Die Berührungspunkte zwismen Remtssoziologie und Remtsdogmatik Wenn wir gegen die Vermengung der Jurisprudenz mit derjenigen Wissenschaft, die sich der historisch-philosophischen Erforschung des Rechts widmet, auftreten und auf der selbständigen Existenz der ersteren bestehen, so sind wir doch weit davon entfernt, jeglichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Zweigen der Rechtswissenschaft zu leugnen. Im Gegenteil: Es existieren verschiedene Berührungspunkte zwischen ihnen, und es gibt sogar Gründe für eine vereinte Darstellung derselben. Daher halten wir es nicht für überflüssig, auch dieser Frage wenigstens einige Worte zu widmen.

1. Die Bedeutung der Lebensgrundlagen für die dogmatische Konstruktion der Begriffe Wenn wir sagen, daß die Lebensseite des Rechts den Gegenstand derjenigen Wissenschaft bildet, welche die Entwicklungsgesetze der rechtlichen Erscheinungen untersucht, so folgt daraus keineswegs, daß wir diese Wissenschaft für etwas der Jurisprudenz ganz Fremdartiges halten. Im Gegenteil ist, wie wir schon oben bemerkt haben, eine Rechtsforschung ohne Studium der faktischen Seite der Rechtsnormen und Rechtsverhältnisse gar nicht denkbar. Alle Lebensverhältnisse bilden, sofern sie vom Recht bestimmt werden, einen untrennbaren Teil desselben, seine wesentliche Basis. Jedes Rechtsverhältnis hat sozusagen seine faktische Unterlage, und es ist daher unmöglich, die innere Struktur der Verhältnisse zu begreifen, wenn einem die Unterlage unbekannt ist, um so mehr als auch bei der Entstehung des Rechts die Tatsache dem Recht vorausgeht. Hieraus wird klar, daß es z. B. nicht möglich ist, die richtige Konstruktion für die verschiedenen Rechtsgeschäfte und Obligationen zu finden, wenn einem die verschiedenen Formen des wirtschaftlichen Verkehrs unbekannt sind, daß man kein System des Handelsrechts aufstellen kann, wenn man mit dem Handelswesen selbst nicht vertraut ist. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man beim Studium des Vermögensrechts überhaupt natürlich nicht die Kenntnis der wirtschaftlichen Seite des Lebens entbehren. Aber diese ganze faktische Seite des Rechts erscheint auf dem Gebiete der eigentlichen Rechts-

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VI. Berührung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

wissenschaft nicht als Grundlage für die Erklärung der Entstehung und der Zwecke des Rechts, sondern nur als eine notwendige Voraussetzung, als integrierendes Element der Rechtsverhältnisse. Die LebensverhäItnisse haben auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft nicht an und für sich Bedeutung. Sie haben Bedeutung nur für die Analyse des Rechts als Maß, als Größe betrachtet. Eine solche Analyse wäre ohne das tatsächliche Substrat, auf welches sich das Recht bezieht, unmöglich. Der unvermeidliche Zusammenhang der Tatsache mit dem Recht besteht darin, daß ohne die erstere das letztere nicht konstruiert werden kann. Auf diesen Zusammenhang haben viele hingewiesen 48 , indem sie zugleich verschiedene Bezeichnungen für denselben vorschlugen, so z. B. die Bezeichnung: "materielles Element" für die faktische Seite, "formales" für die juristische. Doch besteht die Sache nicht in den Benennungen, sondern im wirklichen Zusammenhang der angeführten Elemente, einem Zusammenhang, der auch in der Praxis von wesentlicher Bedeutung ist, da auf ihm die Theorie der Anwendung des Rechts auf die einzelnen Fälle oder - richtiger gesagt - die Subsumierung der Fälle unter die Norm beruht, und dieses ist gerade darum möglich, weil die Rechtssatzungen selbst von faktischen, positiven oder negativen Voraussetzungen ausgehen, bei deren Eintreten in Form von konkreten Fällen sie sich erst verwirklichen49 • In diesem Sinne kann man sagen, daß beide Wissenschaften auf dem Boden der faktischen Grundlagen und Bedingungen zusammentreffen. Dieses ist der Boden, auf dem sie sich einander naturgemäß hähern. 2. Die Bedeutung der Lebensgrundlagen für

die Klassifikation der Rechtsdisziplinen

Wenn auf diese Weise die Lebensverhältnisse die faktische, materielle Basis des Rechts ausmachen, welches nur eine Form, eine äußere Schale derselben bildet, so ist begreiflich, daß auch die ganze Struktur des Rechts nicht durch logische Erörterungen, sondern durch die Elemente des Lebens selbst bedingt wird. Die verschiedenen Sphären und Gebiete dieses Lebens schafft das Leben selbst, nicht die Wissenschaft. Daraus erklären sich auch die eigenartigen Kombinationen, welche nur mit Mühe in irgendwelche logische Rahmen eingeschlossen werden können. 48 Siehe z. B. Thöl: Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1851, § 32, S. 91: "Die Lebensverhältnisse bilden das Tatsächliche, den Tatbestand, an welchen durch das Recht (d. h. durch Rechtssätze) Rechte (d. h. Befugnisse) sich anschließen. Das Tatsächliche ist die Voraussetzung für alles Recht, der Stoff für die rechtlichen Bestimmungen"; ferner Kierulff (N.38), S.28; Savigny (N.43), S. 133; Neuner: Wesen und Arten der Privatrechtsverhältnisse, 1866, S. 9 u. a. 49 Siehe Dankwardt (N. 8), S. 133 (§ 5) u. a.

2. Sachverhalt und Einteilung des Rechts

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Hier also ist die natürliche Erklärung für die Klassifizierung der verschiedenen speziellen juristischen Wissenschaften zu suchen. Die Kontroversen betreffend die Abgrenzung der beiden Teile des Rechts als öffentlich und privat sind, wie bekannt, lange nicht zu Ende, doch fragt es sich, ob es überhaupt möglich ist, diese Frage allein mit Hilfe der Mittel, welche die juristische Logik bietet, zu entscheiden. Uns will es scheinen, als ob alle die Streitigkeiten, die bis heute fortdauern, namentlich über die wissenschaftlichen Grenzen des Zivilrechts, gerade daraus entspringen, daß die Juristen die einzelnen Zweige des Rechts nach den Grundsätzen eines logischen Systems abzugrenzen suchen, während meiner Meinung nach die juristische Logik in dieser Frage nichts vermag, da die Abgrenzung der verschiedenen Gebiete und Zweige des Rechts vor allem durch das Leben selbst gegeben wird und es durchaus kein Unglück ist, daß diese Abgrenzung nicht den Anforderungen einer strengen logischen Einheit entspricht. Die Sache der Wissenschaft besteht eben in dem Verständnis, die Erscheinungen zu unterscheiden, wie verschiedenartig sich dieselben vom Gesichtspunkt der juristischen Logik auch darstellen mögen. Und doch - eine merkwürdige Erscheinung - gelang es selbst denjenigen Gelehrten, welche entschiedene Gegner der juristischen Wissenschaft sind und die ganze Rechtstheorie auf die Erforschung der Lebensinteressen zurückführen, bis jetzt noch nicht, auf Versuche zu verzichten, die Zweige der Rechtswissenschaft aufgrund rein äußerlicher Operationen der formalen Logik voneinander abzugrenzen, indem sie z. B. das entscheidende Kriterium in der Initiative zur Hervorrufung des Rechtsschutzes suchen und hiermit als Grundlage für die Unterscheidung das annehmen, was nichts anderes ist, als eine der Folgen des besonderen (ethischen) Charakters dieser oder jener durch das Recht normierten Lebenssphäre. Es scheint uns daher, daß alle Versuche, das Gebiet des Privatrechts, wie es sich von altersher konstituiert hat, einzuschränken oder zu erweitern, willkürlich und fruchtlos sind. Das Rechtsleben selbst zeigt, obwohl in der geschichtlichen Entwicklung und auch heutzutage die eine Lebenssphäre den Charakter der anderen annimmt, ziemlich klar, was die private Lebenssphäre ausmacht und was zur öffentlichen gehört, welche Interessen Privatinteressen genannt werden können, welche aber öffentliche. Das ist die Logik des Lebens selbst, mit der auch die Wissenschaft zu rechnen hat. Die Aufgabe der letzteren besteht nur darin, daß sie ein bestimmtes Gebiet erforscht und die Verschiedenheit der sich dort vorfindenden Elemente und Grundsätze erkennt und erklärt, wobei es natürlich ihre Pflicht ist, die Prinzipien, die einen allgemeinen Charakter haben und vorherrschend sind, besonders hervorzuheben, ohne jedoch den gesamten Rechtsinhalt als eine notwendige logische Konsequenz dieser Prinzipien zu proklamieren, weil

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VI. Berührung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

eben der Inhalt des Rechts nicht unmittelbar durch die Theorie gegeben, sondern durch die Anforderungen des Lebens selbst geschaffen wird. Wir wollen hiermit nicht die Versuche zu einer neuen, besseren Klassifizierung der juristischen Wissenschaften absolut verurteilen, aber wir glauben, daß eine solche Klassifizierung nicht möglich ist, wenn man sich dabei auf isolierte Änderungen im Umfange dieser oder jener speziellen Wissenschaft beschränkt, sondern daß sie nur dann auf Erfolg hoffen kann, wenn ihr eine Revision des ganzen Gebietes der Rechtswissenschaft von Grund aus vorangeht, und auch bei solch einem Umbau wird die Hauptrolle immer dem praktischen Leben selbst zufallen. Dieses ist es, welches allmählich neue Zweige der Wissenschaft hervorruft, und es ist sogar schwer vorauszusehen, welche neuen Verzweigungen oder Kombinationen noch durch das Leben geschaffen werden können. 3. Die Zusammenstellung realer und dogmatischer Gesichtspunkte zum Zwecke von Forschung, Lehre und Rechtsanwendung Indem wir die Bedeutung derjenigen Lebensgrundlagen anerkennen, deren Berücksichtigung sowohl für die juristische Konstruktion der Begriffe als auch für die Klassifikation der speziellen Wissenschaften wesentlich ist, halten wir uns für berechtigt, auf dem Wege der Annäherung der Jurisprudenz an die soziale Rechtstheorie noch weiterzugehen, wenngleich diese Annäherung stets nur eine äußerliche, nicht durch die Anforderungen der Wissenschaft selbst bedingte, sein wird. Auf die Abgrenzung der verschiedenen Zweige der Rechtswissenschaft haben, wie wir bemerkten, das Leben selbst und seine Bedürfnisse einen großen Einfluß. Daher ist auch die Klassifikation der einzelnen juristischen Wissenschaften nicht so sehr aufgrund der Verschiedenheit der Aufgaben der Wissenschaft, als vielmehr nach der Verschiedenheit der Forschungsgegenstände erfolgt. So entstanden das Zivil-, Straf-, Staats-, Kirchenrecht u. a. Das ist nicht von Nachteil, wenn man nur bei jeder dieser Disziplinen im Auge behält, daß sie nicht eine absolut selbständige Wissenschaft ist, sondern nur ein Zweig der allgemeinen Rechtstheorie. Jedoch versteht es sich bei einer Abgrenzung je nach der Verschiedenheit der Gegenstände, obwohl bei jedem auch die Aufgaben der Forschung selbst in gewisser Hinsicht spezialisiert worden sind (z. B. gelten das Zivil- und das Strafrecht vorzugsweise als juristische Wissenschaft), von selbst, daß, wenn schon einer bestimmten Wissenschaft ein bestimmter Kreis von Erscheinungen zugeteilt ist, der Forscher auf diesem Gebiete gezwungen ist, sich nicht ganz und gar auf irgend eine Seite der Forschung zu beschränken, ein Umstand, der namentlich bei

3. Vereinigung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

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der Abfassung von Lehrprogrammen oder ganzen Systemen der einzelnen Sondergebiete beinahe unvermeidlich ist. In der Tat genügt für die Erklärung der Bedeutung des einen oder des anderen Grundsatzes, des einen oder des anderen Institutes nicht eine Konstruktion der juristischen Begriffe allein, sondern es ist notwendig, auch auf diejenigen Ideen oder Lebensinteressen hinzuweisen, welche diesen Begriffen als Grundlage dienen, mit einem Wort: in die Rechtstheorie muß notwendig auch ein historisch-physiologisches Element hineingetragen werden. Das heißt natürlich nicht, daß in das Lehrprogramm irgendeiner Rechtsdisziplin der ganze Ballast des historischen Materials Eingang finden müßte. Sein eigentlicher Platz ist in den Werken, welche speziell für die historische Bearbeitung des Rechts bestimmt sind. In einem juristischen System müssen weniger Tatsachen ihren Platz finden, als vielmehr Lebensideeh, welche sich in rechtlichen Normen verwirklicht haben, und auf solche Weise wird die rein juristische, dogmatische Darstellung mit der historischen verbunden werden, ohne dabei ihre selbständige Bedeutung einzubüßen. Es versteht sich von selbst, daß in eine solche Darstellung auch diejenigen Ideen philosophisch-praktischen Inhalts Eingang finden müssen, welche als Grundlage für eine Verbesserung dieses oder jenes Teils des Rechts dienen können. rnfolge der Abgrenzung der speziellen Wissenschaften nach der Verschiedenheit ihres Gegenstandes muß also die einseitige, rein juristische Darstellung durch historisch-philosophische Elemente der Wissenschaft ergänzt werden. Hinsichtlich der Wissenschaften, die zum Gebiete des öffentlichen Rechts gehören, ist das nichts Neues, da bei ihnen die Dogmatik gewöhnlich einen untergeordneten Platz einnimmt, während die Hauptrolle der politischen Seite des Gegenstandes zugewiesen wird. Dies ist der Grund dafür, daß z. B. in der Theorie des Staatsrechts eine der wichtigsten Stellen die Lehre von den Zwecken des Staates einnimmt und auf diese oder jene Art das Ideal des Staates dargestellt wird - das, was derselbe sein soll. Auch der Wissenschaft des Strafrechts ist diese Richtung nicht fremd. Es ist bekannt, daß - ungeachtet einzelner Hinweise historisch-philosophischen Charakters - im Strafrecht gewöhnlich einen Hauptplatz die Lehre vom Zweck der Strafe, von der Freiheit des Willens u. a. einhimmt. Auch finden sich dort Versuche einer philosophischen Definition des Verbrechens und dergleichen mehr. Mit einem Wort: rein formale Definitionen genügen auch dem positiven Juristen nicht. Am wenigsten ist in dieser Hinsicht auf dem Felde des Zivilrechts geschehen. Einige allgemeine, historisch-philosophische Ideen sind wohl auch hier gegenwärtig zu finden, jedoch nur sehr spärlich und auch dann eigentlich nur zu dem Zwecke, die Trockenheit der juristischen Dogmatik etwas zu beleben. Es ist möglich, daß dieses Element im Zivilrecht deshalb so schwach vertreten ist, weil diese

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VI. Berührung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

Wissenschaft vorzugsweise auf Präzision der Begriffe und Grundsätze Wert legt, während die soziale (historisch-philosophische) Theorie des Rechts noch lange nicht zu genauen und befriedigenden Resultaten gelangt ist. Wie dem auch sei, eine Annäherung zwischen der juristischen Theorie und der sozialen Theorie bei der Darstellung des Rechts ist von gewissem Nutzen schon deswegen, weil sie die Möglichkeit bietet, die verschiedenen realen Gesichtspunkte zusammenzustellen und zu unterscheiden, von denen aus das Recht und die einzelnen Institute desselben betrachtet werden können. Sie ist auch für jene praktische Seite der Wissenschaft von Nutzen, welche man Interpretation des positiven Rechts nennt, da der positive Jurist, um das Recht richtig zu verstehen, in sozusagen vollständigem Zusammenhang sowohl die dogmatischen als auch die historischen und überhaupt die Lebensgrundlagen des Rechts und seiner einzelnen Institute im Auge haben muß.

4. Die Unabhängigkeit der Rechtsdogmatik von der Rechtssoziologie

Indem wir auf die verschiedenen Punkte, in denen sich Jurisprudenz und soziale Rechtstheorie berühren, ja selbst auf die Möglichkeit und den Nutzen einer Vereinigung derselben bei der Darstellung dieses oder jenes Zweiges des Rechts hinwiesen, beabsichtigen wir lediglich zu zeigen, daß dieser wissenschaftliche Zusammenhang durch die Gemeinsamkeit des Gegenstandes - hier und dort: des Rechts - bedingt wird. Keinesfalls darf aber diese Verbindung beider Theorien eine Verwechslung oder Vermengung der verschiedenen Aufgaben der Forschung zur Folge haben, also auch nicht dazu führen, daß die Prinzipien der einen Wissenschaft durch diejenigen der anderen ausgeschlossen oder ersetzt würden. Jede der beiden Wissenschaften behält ihre selbständige Aufgabe, und daher können die auf dem Felde der einen entstehenden Fragen nicht nach den Prinzipien der anderen entschieden werden. Wenngleich die Grundsätze beider Wissenschaften in ein und demselben System bei Darstellung verschiedener Fragen Platz finden können, so dürfen doch dieselben nur parallel - ohne innere wissenschaftliche Verschmelzung - dargestellt werden. Daher können wir nicht der Meinung beipflichten, nach welcher die Dogmatik in einem "Abhängigkeitsverhältnis" zur historisch-philosophischen Wissenschaft zu stehen hätte, die dogmatischen Definitionen vom Gesichtspunkt des Zweckes und der Entwicklung der Institute aus "umzuarbeiten" seien und nach welcher nur unter diesen Bedingungen "die Jurisprudenz sich in eine Wissenschaft im strengsten Sinne des Wortes

4. Unabhängigkeit der Rechtsdogmatik von der Rechtssoziologie

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verwandeln würde"50. Eine derartige Veränderung und Umgestaltung der Jurisprudenz käme einer Vernichtung derselben gleich.

50 Muromzew: Abhandlungen (N. 16), S. 200; Definition (N. 16), S. 40 f. Wenn der Autor auf die Fehlerhaftigkeit der Definition des Eigentumsrechts als einer unbeschränkten Macht über die Sache hinweist, so beruht das auf einem Mißverständnis: Das Eigentumsrecht gilt als ein unbeschränktes nicht dem Gesetz gegenüber (denn ein jedes Recht wird nur innerhalb der dafür vom Recht gesetzten Schranken verstanden), sondern gegenüber der Willkür dritter Personen, vgl. Code civil Art. 544; Swod (Russisches Gesetzbuch), Bd. X, Teil I, Art. 420 u. a.

VII. Jhering und die Rechtsdogmatik Zum Schluß meiner flüchtigen Bemerkungen zu einer Frage, welche ihrem ganzen Umfange nach wahrscheinlich noch auf lange Zeit hinaus eine offene bleiben wird, kann ich nicht umhin, einen meiner Ansicht nach sehr wichtigen Umstand besonders zu erwähnen. Ich hatte gegen die neue Richtung zu polemisieren, die zwar außerordentlich wichtige Aufgaben für eine feste Fundierung der historisch-philosophischen Theorie des Rechts hervorhob, zugleich aber von dem Gedanken einer Vernichtung der juristischen Wissenschaft durchdrungen war. Diese neue Richtung ist, wie wir oben sahen, mit dem Namen eines der hervorragendsten Juristen der Gegenwart, einer der größten Autoritäten auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft, mit dem Namen des Professors v. Jhering verbunden. Wenn auch die Zeit des absoluten Glaubens an wissenschaftliche Autoritäten vorüber ist, so könnte doch im vorliegenden Falle der Versuch eines Kampfes mit demjenigen, dessen Namen hoch oben an der Spitze der neuen Richtung steht, als ein sehr gewagtes Unternehmen erscheinen. Ich beeile mich zu erklären, daß ich in Wahrheit gegen v. Jhering selbst gar nicht polemisiert habe und daß eine solche Polemik auch gar nicht stattfinden könnte, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil v. Jhering niemals der juristischen Wissenschaft seine Anerkennung versagt hat. Hingegen haben einige das Recht betreffende Aussprüche, welche v. Jhering in apodiktischer Form getan hat, seinen Anhängern als Grundlage für Schlüsse gedient, an welche er selbst kaum gedacht hat und welche, wie man glauben muß, nur aufgestellt wurden, weil der wahre Sinn jener Aussprüche mißverstanden wurde. Es ist bekannt, daß v. Jhering - als einer der ersten die Einseitigkeit der gegenwärtigen Jurisprudenz erkennend - neue Wege für eine historisch-philosophische Theorie des Rechts anzubahnen begann und nun schon über ein Vierteljahrhundert an der Verwirklichung dieser seiner Aufgabe arbeitet. Wenn man sich erinnert, daß er selbst in seinem "Geist des römischen Rechts" zwei Seiten der Rechtswissenschaft auseinanderhält: die Anatomie und die Physiologie, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, welche von diesen beiden Seiten den Gegenstand seiner ständigen Arbeit bildet. Indem er unverrückt seine Aufgabe verfolgt, beseitigt er selbständlich alles auf seinem Wege, was ihm nicht paßt oder ihm hinderlich ist, wobei er natürlich die Jurisprudenz nicht

VII. Jhering und die Rechtsdogmatik

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unberührt läßt; denn solch ein Vorgehen ist ja der Zug einer jeden neuen Richtung, welche sich Wege ebnet und einen erfolgreichen Ausgang sucht. Daß er aber bis zu einer Negierung oder "Vernichtung" (Zerstörung) der Jurisprudenz, d. h. der Dogmatik des Rechts ginge, das haben wir in seinen Werken nicht finden können. Und wie könnte denn auch derjenige die Dogmatik nicht anerkennen, der selbst nicht nur ein ausgezeichneter Historiker, sondern zugleich auch einer der ersten Rechtsdogmatiker ist. Es ist wahr, daß er die Definition der Rechte als rechtlich geschützte Interessen, welche den Anlaß zu den Schlüssen über den Umbau der Jurisprudenz selbst gab, in allgemeiner und absoluter Form aufgestellt hat. Aber ich zweifle nicht daran, daß diese Definition nicht für die Jurisprudenz ausgesprochen ist, sondern im Sinne eben der historischphilosophischen Richtung. Davon kann man sich unschwer aus demselben Buche v. Jherings, aus demselben Kapitel, in welchem er die neue Definition der Rechte gibt, überzeugen. Man braucht nur einige Seiten vorher nachzuschlagen, um unseren Gedanken bestätigt zu finden. v. Jhering beginnt mit der Frage: was ist das Recht? und sagt dann, daß auf diese Frage verschiedene Antworten als möglich erscheinen, je nach dem Standpunkt, von welchem aus man die Frage aufwirft. Für den positiven Juristen, "für die dogmatische Darstellung des Rechts" erklärt er - sind die formalen Definitionen vollständig genügend, aber "für unsere Zwecke" kann man sich nicht mit denselben begnügen. Nachweislich wirft er also gar nicht verschiedene Gesichtspunkte, verschiedene wissenschaftliche Aufgaben durcheinander, wie das seine Anhänger tun. Ja indem er seine neue Definition der Rechte aufstellt, sagt er geradezu, daß er solches vom Gesichtspunkt "des Zweckes" des Rechts tue, daß er namentlich gegen die Schriftsteller auftrete, welche den Zweck selbst, d. h. das Wesen des Rechts auf dem abstrakten Begriff der Willensherrschaft aufbauen, und schließt folgendermaßen: "Die Macht ist nicht der Zweck des Rechts, sondern nur die Form, in der das Recht seinen Zweck zu erreichen hatSI." Und konnte es denn auch anders sein nach dem, was er selbst in seiner bekannten Darstellung der "juristischen Technik" direkt über die juristische Theorie gesagt hat. Anläßlich der Frage der juristischen Konstruktion, insbesondere der "Definition" juristischer Begriffe, spricht er direkt aus, daß das Zweckmoment zwar sowohl für das philosophische als auch für das praktische Verständnis der Rechtsinstitute sehr wichtig und sogar notwendig sei, daß aber daraus nicht folge, daß nach diesem Moment die Definitionen in der Rechtstheorie formuliert werden könnten. So z. B. wird bei der Definition des Wechsels als Papiergeld für den 51

Geist des römischen Rechts 111, S. 317-319, 327-329, 338.

5 Pachman

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VII. Jhering und die Rechtsdogmatik

Handel nur dessen praktische Bedeutung, keinesfalls aber seine juristische Natur charakterisiert. Die Zwecke, erklärt v. Jhering, sind etwas im höchsten Grade Unbestimmtes und Veränderliches, die Definitionen von Begriffen aber müssen nach solchen Momenten formuliert werden, welche als Grundlagen für die Klassifikation, für die Konstruktion, für ein System dienen können52 . Dieser Ansicht ist er auch in seinem letzten, weit angelegten Werk "Der Zweck im Recht" vollständig treu geblieben. Auch hier denkt er nicht im entferntesten an eine Vernichtung der Jurisprudenz, im Gegenteil: bei der Untersuchung verschiedener Institute macht er überall besonders darauf aufmerksam, daß er gar nicht deren juristische oder dogmatische Natur berühre. Als Beispiel wollen wir seine eigenen Worte über das Wesen des Vertrages anführen: "Die Form des Tauschverkehrs ist der Vertrag. Der Jurist definiert den Vertrag - sagt er - als die Willenseinigung (consensus) zweier Personen. Vom juristischen Standpunkt aus vollkommen richtig: denn das verbindende Moment des Vertrages liegt im Willen; aber für uns, die wir bei dieser ganzen Untersuchung nicht den Willen als solchen, sondern das bestimmende Moment desselben, den Zweck, im Auge haben, nimmt die Sache eine andere ... Gestalt an." Und so dann erläutert er weiter, daß, wenn der Wille durch den Zweck bestimmt wird, in der Einigung der Kontrahenten als solcher ihre Zwecke und Interessen übereinstimmen53• Unsere Anhänger v. Jherings aber - sagen wir en parenthese - haben die Sache so verstanden, daß "die übereinstimmende Willenserklärung der Personen sich hier direkt auf die übereinstimmung ihrer Interessen bezieht und, abgesehen von letzterer, durchaus gar keine Bedeutung habe"54. In dem nämlichen Werke v. Jherings begegnen wir auch einem juristischen Vorbehalt hinsichtlich des Erbrechts: "Der Jurist kennt das Erbrecht nur, soweit es das Vermögen zum Gegenstand hat - für den Historiker und Philosophen dagegen erstreckt sich der Begriff der Erbschaft so weit wie die menschliche Kultur55 ." Weiter, da er von dem Unterschied der privatrechtlichen und öffentlichrechtlichen Gesellschaften spricht, macht er wiederum einen sehr bezeichnenden Vorbehalt: "es ist für unsere gegenwärtigen Zwecke ohne das mindeste Interesse, wie der Jurist bei beiden Verhältnissen die Frage von der rechtlichen Natur des Subjekts zu bestimmen, d. h. welchen Gebrauch er dabei von 52 Geist II, S. 364-366. 53 Der Zweck im Recht, S. 77. Ebenso sagt v. Jhering über die Frage nach der rechtlichen Kraft des Vertrages: "Die Zweckbestimmung hat grundsätzlich mit dem Kontrakt selbst nichts zu schaffen", Jahrbuch für Dogmatik Bd. XVIII (1880), S. 112. 54 Gambaroff (N. 17), Heft 2, S. 21. 55 Zweck, S. 88.

VII. Jhering und die Rechtsdogmatik

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dem Gesichtspunkt der Juristischen Person zu machen hat; uns interessiert nicht die technische formale, sondern lediglich die reale, soziale Seite desselben56 ." Auch anläßlich des Rechtssubjekts erklärt er wiederum, indem er diesen Begriff erweitert, daß die Gesichtspunkte des Juristen und des Sozialpolitikers hinsichtlich dieses Gegenstandes "streng auseinandergehalten" werden müssen57 • Wir finden einen Vorbehalt auch hinsichtlich der Verbrechen. v. Jhering sagt: "Man hat das Verbrechen definiert als eine mit öffentlicher Strafe belegte oder strafgesetzwidrige Handlung; die Definition ist richtig, sie gibt das äußere Kriterium, an dem dasselbe zu erkennen ist, aber sie ist lediglich formaler Art, sie setzt uns in Stand, die menschlichen Handlungen nach Anleitung eines bestimmten positiven Rechts zu klassifizieren, ob sie Verbrechen sind oder nicht, aber sie sagt uns nichts darüber aus, was das Verbrechen ist, warum das Gesetz es mit Strafe belegt - sie gibt uns das Merkmal, aber nicht das Wesen des Verbrechens58 ." Und darauf wird folgende Definition des Verbrechens vorgeschlagen: "Das Verbrechen ist die von Seiten der Gesetzgebung konstatierte Gefährdung der Lebensbedingungen der Gesellschaft5 9 ." Desgleichen finden sich Vorbehalte hinsichtlich der Definition des Staates usw. Endlich erinnern wir uns, mit welchen Worten v. Jhering seine Darstellung der "juristischen Technik" beginnt. Er erklärt direkt, daß er das rein-juristische Gebiet betritt, welches wesentlich verschieden ist von der Theorie, die sich auf die ethische Seite des Rechts bezieht, daß wir uns hiermit gleichsam "auf eine ganz andere Hemisphäre versetzen". Sich so dann der Bedeutung der juristischen Methode und der juristischen Bildung zuwendend, spricht v. Jhering die Meinung aus, daß die wissenschaftliche Beschäftigung auf dem Gebiete der Philosophie und der Geschichte des Rechts, wie wertvoll dieselbe an und für sich sein möge, doch durchaus nicht das juristische Wissen ersetzen und nicht einmal als juristisch im eigentlichen Sinne bezeichnet werden könne80 • Die juristische Theorie aber charakterisiert er als Erhebung der Rechtssätze zu "logischen Momenten des Systems"81 usw. Die angeführten Beispiele werden unserer Meinung nach genügen, um zu belegen, daß v. Jhering, obwohl er als einer der Hauptvertreter und Beförderer der neuen Richtung in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Rechts erscheint, dennoch der Gedanke einer Vernichtung oder Negierung der selbständigen Bedeutung der juristischen Wissenschaft vollständig fremd ist. 58 67

58 59

80

81

s'

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 298. S. 454. S. 474 f. S. 481. Geist H, S. 309-314. Ebd., I, § 3, S. 39.

VIII. Die selbständige Bedeutung der Remtsdogmatik 1. Rechtsdogmatik als praktische und als theoretische Rechtswissenschaft

Wenn wir hier für die Selbständigkeit der juristischen Wissenschaft eintreten, so können wir abschließend einen sehr gewöhnlichen Einwand nicht ohne alle Erwähnung lassen. Man kann uns sagen: die Jurisprudenz könne nicht zu den Wissenschaften im eigentlichen Sinne zählen, da ihre Bestimmung eine rein praktische ist. Sie sei nichts weiter als eine Dienerin der gerichtlichen Praxis. Ohne uns in weitere Erörterungen über die Verschiedenheit der Wissenschaften einzulassen, möchten wir allgemein bemerken, daß jede Wissenschaft - direkt oder indirekt praktische Bedeutung haben kann. Die Vertreter der neuen Richtung in der Rechtswissenschaft erklären selbst ausdrücklich, daß "das letzte Ziel der Wissenschaft immer ein und dasselbe war und bleibt: es besteht in der Befriedigung der Bedürfnisse, die das Leben hervorruft, die Wissenschaft dient dem Leben"62. Wir halten es aber für angebracht zu fragen: wird denn wirklich die Bedeutung der Rechtswissenschaft durch die Interessen der gerichtlichen Praxis allein erschöpft? Kann man sagen, daß ihr eine weit umfangreichere und nicht nur rein praktische Bedeutung ganz fremd wäre? Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. Uns scheint, daß eine jede Wissenschaft, wenn sie ein System allgemeiner unabänderlicher Grundsätze enthält, auch unabhängig vom Gedanken an ihre Anwendung zu einem praktischen Zwecke ihre Bedeutung haben kann. Ist nicht auch der Charakter der Rechtswissenschaft von solcher Art? Wir haben gesehen, daß ihre Aufgabe nicht unmittelbar in der Interpretation der positiven Normen, sondern in der Aufstellung eines allgemeinen Systems von Rechtsbegriffen besteht, und wenn die Bedeutung einer Wissenschaft danach bestimmt wird, in welchem Maße die allgemeine Theorie sich bei ihrer Anwendung auf die Untersuchung konkreter Erscheinungen als tauglich und zweckentsprechend bewährt, so muß man, wie es uns scheint, die theoretische Bedeutung der juristischen Wissenschaft etwas höher veranschlagen, als dies gewöhnlich geschieht. Die Prinzipien, welche die historische Theo82

Siehe Muromzew: Definition (N. 16), S. 9.

2.

Rechtsdogmatik als Grundlagenwissenschaft

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rie des Rechts unter der Bezeichnung "Gesetze der Erscheinungen" liefert, sind zu allgemein und dehnbar, als daß man auf ihrer Grundlage einen scharfen Unterschied zwischen den der Forschung unterliegenden Erscheinungen durchführen könnte. Beim gegenwärtigen Stand der historischen Wissenschaft wenigstens kann man von jedem Rechtsinstitut dasselbe sagen wie von allen übrigen, d. h. daß es ein Produkt der verschiedensten Ursachen und Bedingungen - ökonomischer, sozialer, politischer und dergleichen mehr - sei oder daß es den verschiedenartigsten Zwecken diene. Das ist alles. Philosophisch-praktische oder ideale Prinzipien - wie groß auch die Autorität sei, deren sie sich erfreuen - können schon angesichts der Notwendigkeit, sie bei der Anwendung auf die einzelnen Erscheinungen des sozialen Lebens zu modifizieren, kaum auf strenge Bestimmtheit und Genauigkeit Anspruch erheben. Selbst die allgemeine Idee von den Rechten als geschützten Interessen weist an und für sich nicht darauf hin, wessen Interessen und welche Interessen hier zu verstehen sind, so daß unter diese unbestimmte Idee z. B. das Recht der Teilnahme am öffentlichen Leben wie auch das Eigentumsrecht an Menschen subsumiert werden können. Nur die juristische Wissenschaft allein kann die erwähnten Eigenschaften in sich vereinigen, da sie ihrem Wesen nach ein logisches System von Rechtsbegriffen ist. Es ist wahr, daß auch sie noch weit von Vollkommenheit entfernt ist, daß sie es noch nicht zu einer wissenschaftlichen Generalisierung gebracht hat, wie sie bei einer Erweiterung des vergleichenden Rechtsstudiums erreicht werden könnte. Aber auch in ihrem gegenwärtigen Zustand bewahrheitet sie infolge der Genauigkeit ihrer Prinzipien in bedeutendem Grade den oben erwähnten Vergleich, den man zwischen ihr und der Mathematik macht. Ihre Kraft besteht darin, daß ihre Sätze apodiktisch sind und jede, selbst die unbedeutendste Abweichung von ihnen eine Entstellung des Charakters des zu untersuchenden Institutes oder Rechtsfalles zur Folge haben würde. Hier kann man sich nicht mit allgemeinen Hinweisen auf gewisse Bedingungen und Momente begnügen und mit Worten und technischen Ausdrücken spielen, sondern hier wird die genaueste Analyse der Merkmale bis zu den kleinsten Einzelheiten gefordert, da es sonst sehr leicht wäre, ein Rechtsverhältnis mit dem anderen zu verwechseln, und eine richtige Diagnose der Rechtsfälle daher unmöglich wäre. 2. Rechtsdogmatik als Voraussetzung für Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte Aus dem Gesagten ist leicht zu folgern, daß die Bedeutung der juristischen Theorie sich nicht auf die Interessen der gerichtlichen Praxis allein beschränkt. Da nicht positive Grundsätze eines gegebenen positiven

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VIII. Die selbständige Bedeutung der Rechtsdogmatik

Rechts, sondern die logischen Momente des Rechtssystems ihren Inhalt bilden, so bietet sie, wie v. Jhering sich ausdrückt, die Reagenzien für die verwickeltesten konkreten Fälle des Lebens, und nicht nur für Fälle gerichtlicher Art. Gründliche Kenntnis der Rechtstheorie ist auch für eine jede Art von wissenschaftlicher Tätigkeit auf dem Rechtsgebiet notwendig, da man, wenn man vom Recht redet, ein Verständnis haben muß nicht nur dafür, daß man die einen Rechtsbegriffe von den anderen unterscheiden könne, sondern auch für den Unterschied der Rechtsbegriffe von nicht-rechtlichen Begriffen. Mit einem Wort: die Rechtstheorie erweist sich überall da als notwendig, wo es sich um Erkenntnis von Rechtselementen handelt. Es ist z. B. allgemein bekannt, wie wichtig es für die Rechtswissenschaft ist, daß das Sammeln des Rechtsmaterials verständig und mit der gehörigen Kenntnis vor sich geht. Ist denn aber eine solche Arbeit ohne Zuhilfenahme der Rechtswissenschaft denkbar? Es genügt beispielsweise, auf das Sammeln von Rechtsgewohnheiten hinzuweisen. Bei uns glaubt man meistens, daß sich dafür jeder einigermaßen gebildete Mensch qualifiziere. Betrachtet man die Sache aber näher, so sieht man, daß das so zusammengebrachte Material entweder für den Juristen gar nicht zu gebrauchen ist oder daß es jedenfalls an außerordentlicher Unklarheit leidet. Die Rechtsgewohnheiten sind darin durchaus nicht von Gebräuchen, Sitten und Ansichten jeglicher nichtjuristischer Art geschieden, so daß es eine äußerst schwere Aufgabe ist, das wirklich rechtliche Material von dem übrigen zu sondern. Wenn z. B. auf die Frage, ob die Witwe an der Erbschaft teilnimmt, als Antwort aufgezeichnet wird: "Wie denn, wir geben auch ihr etwas", so fragt es sich, welchen Schluß der Jurist aus einer solchen Aufzeichnung ziehen kann: ob die Witwe etwas von Rechts wegen oder nur aus Gnade erhält. Und dergleichen Fälle gibt es viele. Weiter hat man viel über die hohe Bedeutung ökonomischer Kenntnisse für den Juristen geschrieben. Doch kann die politische Ökonomie ihrerseits auch nicht ohne die Jurisprudenz auskommen, wie z. B. Rüscher in seiner Vorrede zu den Dankwardtschen " Versuchen " klar gezeigt hat. Dasselbe muß man auch hinsichtlich der historischen Untersuchungen auf dem Gebiete des Rechts sagen. Kann denn ein Rechtshistoriker ohne genaue Kenntnis der Jurisprudenz durchkommen? Die Notwendigkeit einer solchen Kenntnis erkennen, wie es scheint, nur wenige. Dies ist schon daraus ersichtlich, daß die Forscher sich oft nicht einmal vom Gegenstand ihrer Forschung einen klaren Begriff machen, indem sie die Rechtsgeschichte mehr im Sinne einer Geschichte der Legislation oder der Gesetze, als Resultate der legislatorischen Tätigkeit, nehmen als im Sinne einer historischen Entwicklung der rechtlichen Begriffe und Grundsätze, welche in den Rechtsquellen zum Ausdruck gekommen sind. Daß die historische Forschung nicht ohne Beihilfe der Jurisprudenz

3. Kein Monopol der Rechtssoziologie

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durchkommen kann, dafür legen verschiedene Irrungen, die auf dem Gebiete rechtshistorischer Untersuchungen vorgekommen sind, selbst Zeugnis ab. Bekannt ist z. B. der Streit über den rechtlichen Charakter unserer alten "Semskije Sobory" (eine Art von Reichstagen). Eine lebhafte Einbildungskraft und tendenziöse Betrachtungsweise konnte natürlich auch in ihnen eine wirkliche Volksvertretung entdecken, während bei nüchterner Analyse der rechtlichen Merkmale dieser zufälligen Versammlungen eine solche Charakteristik nicht mehr als eine gezwungene Generalisierung schwacher Andeutungen ist. Ist endlich auch auf dem Gebiet philosophisch-politischer Untersuchungen, wenn diese einen wissenschaftlichen Charakter haben sollen, eine vollständige Ignorierung der juristischen Logik möglich? Ich meine, daß diese Logik für sie ebenso unentbehrlich ist wie für die Abfassung von irgendwelchen Gesetzentwürfen. Jeder Gedanke oder Entwurf, der sich auf das Recht bezieht, erfordert mehr als alles andere Rechtskenntnisse, nicht nur in formeller, sondern in gewissem Grade auch in materieller Hinsicht, indem mancher Grundsatz, der auf den ersten Blick als ein rechtlicher erscheinen kann, seinem Wesen nach vielleicht jedes rechtlichen Inhalts entbehrt. Eine strenge Logik - das ist es, was auf dem Rechtsgebiet nicht weniger notwendig ist als auf jedem anderen Gebiet des Wissens. Ist dem aber so, so liegt kaum ein Grund dafür vor, gerade diejenige Wissenschaft für wertlos zu erklären, deren ganze Bedeutung eben in der Logik und im System besteht. 3. Plädoyer gegen die Monopolisierung der Rechtswissenschaft durch die Rechtssoziologie

Alles das spreche ich durchaus nicht in der Absicht aus, die Jurisprudenz über die anderen Zweige des sozialen Wissens zu erheben. Aus dem, was ich schon oben über die Bedeutung der neuen historisch-philosophischen Richtung auf dem Gebiete der Rechtsforschung bemerkt habe, folgt im Gegenteil notwendig, daß die neue Wissenschaft hinsichtlich des Umfanges und der Bedeutung der Aufgaben ungleich wichtiger für die Entscheidung der das Leben betreffenden Rechtsfragen ist als die Jurisprudenz. Ich bestehe daher nicht einmal auf einer Gleichberechtigung beider Wissenschaften. Ich trete nur gegen die Ausschließlichkeit auf, mit welcher ein Zweig der Wissenschaft sich nicht nur die Hegemonie, sondern gar das Monopol auf den Namen einer Wissenschaft anmaßt. Der Gegenstand der Untersuchung ist der nämliche, aber jede Wissenschaft untersucht denselben von ihrem besonderen Gesichtspunkt aus, unterscheidet sich also von der anderen durch ihre Betrachtungsweise, den Inhalt ihrer Grundsätze und ihre ganze innere Struktur. In

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VIII. Die selbständige Bedeutung der Rechtsdogmatik

diesem Sinne hat die Jurisprudenz unzweifelhaft ein volles Recht, als Wissenschaft zu gelten, und zwar als eine selbständige Wissenschaft. Ich erkenne den Zusammenhang und die gegenseitige Wechselwirkung zwischen den einzelnen Zweigen der Rechtswissenschaft an und lasse auch bis zu einem gewissen Grade eine Vereinigung derselben, ein Bündnis zwischen ihnen zu, jedoch nicht im Sinne einer societas leonina. Kurzum, ich trete entschieden für die Selbständigkeit der Jurisprudenz ein. Ich kann dazu noch eines hinzufügen, daß nämlich eine solche Verteidigung der Jurisprudenz bei uns notwendiger ist als anderswo. In anderen zivilisierten Ländern erkennt man jeder Wissenschaft den ihr gebührenden Wert zu. Wenn es auch vorkommt, daß jemand sich hinreißen läßt oder in Extreme verfällt, so ist zugleich ein Regulator in der Kraft des ernsten Denkens und der langjährigen Erfahrung da. Dort braucht einem das Schicksal der Rechtswissenschaft keine Sorge zu machen. Sie steht daselbst fest. Ganz anders bei uns. Ein ernstliches Verlangen nach juristischen Kenntnissen kam in Rußland, wie bekannt, eigentlich erst seit der Zeit der Gerichtsreform (1864) zum Ausdruck, als die Tätigkeit der Gerichte das Kanzleigeheimnis abstreifte und der Kontrolle der öffentlichen Meinung zugänglich wurde. Erst von dieser Zeit an konnte die Jurisprudenz mit der ihr eigenen Autorität auftreten. Sie ist aber augenscheinlich bei uns noch viel zu jung, als daß die Negierung ihrer Bedeutung als Wissenschaft nicht Mißtrauen gegen sie zu erregen und das niedrige Niveau, auf dem bei uns die juristische Bildung steht, nicht noch tiefer herabzudrücken imstande wäre. Alle übrigen Zweige des sozialen Wissens haben schon von sich aus eine Anziehungskraft. Die Lebensfragen ziehen die Aufmerksamkeit jedes gebildeten Menschen auf sich und sind in höherem oder geringerem Maße dem gewöhnlichen Verstande zugänglich. Einen anderen Charakter trägt die Jurisprudenz im eigentlichen Sinne. Gleich der Mathematik ist sie trocken, leblos, leidenschaftslos. Ihr ganzer Inhalt wird durch streng logische Formeln erschöpft, welche nicht jedem zugänglich und natürlich nicht dazu angetan sind, Gegenstand des allgemeinen Interesses, der allgemeinen Wißbegierde zu werden. Denjenigen natürlich, der schon tiefer in die Jurisprudenz eingedrungen ist, wird ihre Trockenheit nicht abstoßen, im Gegenteil: ihre strikten und bestimmten Prinzipien werden, auch ohne jede Beimischung sozialen oder politischen Charakters, auf ihn eine gleiche Anziehungskraft ausüben wie die aus Zahlen gebildeten Formeln auf den Mathematiker. In anderer Lage aber befindet sich der, welcher erst noch unter den verschiedenen Zweigen des Wissens die Wahl zu treffen hat. Kann man mit Sicherheit darauf rechnen, daß er einer Disziplin den Vorzug geben werde, die an und für sich weniger anziehend und zugänglich ist und

3. Kein Monopol der Rechtssoziologie

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der dazu noch die wissenschaftliche Bedeutung abgesprochen wird? Das ist es, warum wir meinen, daß auch von dieser Seite aus ein deutliches Wort zum Schutze einer Wissenschaft geboten ist, welcher bei uns Vernichtung oder wenigstens Degradation zum Handwerk droht.