Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns [Reprint 2011 ed.] 9783484651661, 3484651660

Mit der Analyse seines literarischen Gerechtigkeitskonzeptes wird Wassermann erstmals als Vertreter der lebensphilosophi

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Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns [Reprint 2011 ed.]
 9783484651661, 3484651660

Table of contents :
Einleitung
Teil I. Philosophische, kulturelle und religiöse Diskurse der Jahrhundertwende
1 Philosophische Gerechtigkeitskonzepte
1.1 Jean-Jacques Rousseau
1.2 Lebensphilosophie
1.3 Zusammenfassung
2 Kulturelle und religiöse Diskurse der Jahrhundertwende
Teil II. Jakob Wassermanns literarisches Gerechtigkeitskonzept
3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschen< im franziskanisch-buddhistischen Geiste
3.1 Rezeption der Franziskuslegende
3.2 Rezeption des Buddhismus
3.3 Christian Wahnschaffe
3.4 Gerechtigkeit als umfassende Güte
3.5 Gerechtigkeit als soziales Phänomen
3.6 Ungerechtigkeit der Strafgerechtigkeit
3.7 Mangelnde Erkennntis als Ursprung der Schuld
3.8 Ziel der Ethik: Vollkommenheit, Vollendung, Erleuchtung
4 Exkurs : Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski
5 Gerechtigkeit im modernen Judentum
5.1 Persönliche Authentizität als Signum des modernen Judentums
5.2 Das Jüdische als religiöse Komponente der »inneren Landschaft«
5.3 Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische Sendung und Idee harmonischer Einheit
5.4 Die Erfüllung der Gerechtigkeit in der konkreten Tat
5.5 Der jüdische Messias als Schöpfer der gerechten Zukunft
5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand in der Moral
5.7 Gerechtigkeit durch personale Selbstreform als Idee des Judentums
6 Laudin und die Seinen
6.1 Das mechanisierte individuelle, soziale und juridische Leben
6.2 Die moderne Utopie des >neuen Lebens

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Conditio Judaica

66

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von HansBodenheimer, Otto Horch Mark H. Gelber und Jakob Hessing in Verbindung mit Alfred

Elisabeth Jütten

Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Für Josi und Heinz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65166-1

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Laupp & Goebel GmbH, Nehren

Inhalt

Einleitung

1

Teill Philosophische, kulturelle und religiöse Diskurse der

Jahrhundertwende

1

Philosophische Gerechtigkeitskonzepte 1.1 Jean-Jacques Rousseau 1.2 Lebensphilosophie 1.2.1 Arthur Schopenhauer als Wegbereiter 1.2.2 Jean-Marie Guyau 1.2.3 Friedrich Nietzsche 1.2.4 Henri Bergson 1.3 Zusammenfassung

11 14 24 35 44 57 68 80

2

Kulturelle und religiöse Diskurse der Jahrhundertwende

83

Teil II Jakob Wassermanns literarisches 3

4

Gerechtigkeitskonzept

Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschern im franziskanisch-buddhistischen Geiste 3.1 Rezeption der Franziskuslegende 3.2 Rezeption des Buddhismus 3.3 Christian Wahnschaffe 3.3.1 Zur Konzeption der modernen Heiligenlegende und ihrer Merkmale 3.3.2 Selbstreformierung durch Erkenntnis 3.4 Gerechtigkeit als umfassende Güte 3.5 Gerechtigkeit als soziales Phänomen 3.6 Ungerechtigkeit der Strafgerechtigkeit 3.7 Mangelnde Erkennntis als Ursprung der Schuld 3.8 Ziel der Ethik: Vollkommenheit, Vollendung, Erleuchtung

115 124 131 137 148 153 156

Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski

159

105 107 109 111

VI

Inhalt

5

Gerechtigkeit im modernen Judentum 169 5.1 Persönliche Authentizität als Signum des modernen Judentums ... 181 5.2 Das Jüdische als religiöse Komponente der »inneren Landschaft« 183 5.3 Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische Sendung und Idee harmonischer Einheit 186 5.4 Die Erfüllung der Gerechtigkeit in der konkreten Tat 192 5.5 Der jüdische Messias als Schöpfer der gerechten Zukunft 197 5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand in der Moral 205 5.7 Gerechtigkeit durch personale Selbstreform als Idee des Judentums 214

6

Laudin und die Seinen 221 6.1 Das mechanisierte individuelle, soziale und juridische Leben 222 6.1.1 Das in Konventionen erstarrte individuelle Leben 222 6.1.2 Die Ehe als Paradigma des erstorbenen sozialen Lebens .... 228 6.1.3 Das erstorbene Recht 229 6.2 Die moderne Utopie des >neuen Lebens< 235 6.2.1 Das schöpferische Individuum 235 6.2.2 Das >neue Paar< als Appell und Vorbild 240 6.2.3 Die lebendige Justiz 246

7

Der Fall Maurizius: Gerechtigkeit als Wahn, Ideal, Realität und Tat ... 7.1 Wolf von Andergast: Die Religion der Pflicht 7.1 Der historische Wahn gottgleicher Herrschaft 7.2 Die Justiz als oberste Instanz der Rachekultur 7.3 Ästhetisierende Rechtsprechung im Dienste bürgerlicher Scheinmoral 7.2 Etzel Andergast: Die moralische Diktatur des Ideals 7.3 Georg Warschauer: Immoralität als Konsequenz der Erfahrung ... 7.4 Hamilton La Due: Wahrheit und Gerechtigkeit als gelebte Tat ....

270 274 285 291

Caspar Hauser - Die Gerechtigkeit als Liebestat des Herzens 8.1 Gerechtigkeit als aktives Tätigsein 8.2 Gerechtigkeit als Liebe

293 296 298

8

251 253 260 265

Resümee und Ausblick

303

Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur von Jakob Wassermann 1.1 Zitierte Primärliteratur 1.2 Auswahl der aktuell verfugbaren Werke 2. Sekundärliteratur zu Jakob Wassermann

311 311 311 311 312

Inhalt

3. 4. 5. 6. 7.

VII

Literarische Quellen Zeitgeschichtliche und wissenschaftliche Quellen Germanistische Fachliteratur Literatur zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Philosophische Gerechtigkeitskonzepte 7.1 Primärliteratur 7.2 Sekundärliteratur

316 317 319 321 323 323 325

Siglenverzeichnis

329

Personenregister

331

Einleitung: Das Thema der Gerechtigkeit in der Wassermann-Forschung

»Die Auffassung, Wassermann habe insbesondere ein Interesse an Gerechtigkeitsproblemen, besitzt Tradition und bildet einen Topos der Forschung.« 1 Wassermann selbst hat zur Etablierung und wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Topos maßgeblich beigetragen, indem er der Forschung den entsprechenden W e g vorgezeichnet hat. Es ist die Idee der Gerechtigkeit, die den Herzpunkt im »Fall Maurizius« bildet; man kann sie ja in meinen Büchern bis zu den ersten Anfangen zurückverfolgen, wer sich der Mühe des Nachweises unterziehen will, kann sie in manchen Novellen, ζ. B. in der »Schaffnerin«, in »Clarissa Mirabell«, im »Caspar-Hauser-Roman« oder in der »Ursanner Episode«, im »Mann von vierzig Jahren« und viel früher noch in der Klostergeschichte im »Moloch« finden.«2 Einen imaginären Gesprächspartner lässt er resümieren: »Zweifellos lasse sich doch das Werk jedes Autors von Rang unter einer zentralen Idee zusammenfassen. Bei mir sei es die Idee der Gerechtigkeit.« 3 Auch die Vorstellung, Wassermann habe als Jude eine besondere Affinität zur Gerechtigkeit, stammt von ihm selbst. Nun hat mich aber doch das Schicksal zum Juden gemacht, das heißt zu einem Menschen, der sein Alles dransetzt, Blut und Seele, Leben und Nachleben, um zur Gleichgewichtslage zu gelangen; wundert es dich da noch, daß die Idee der Gerechtigkeit über ihm hängt wie eine azurne Flamme? 4 1

2

3

4

Hermann Greissinger: »In die vierte Existenz vielleicht«. Konzeptionen von >Leben< und >Nicht-Leben< im Werk von Jakob Wassermann und in den Erzähltexten der Frühen Moderne. Bern, Frankfurt a. M., New York: Lang 1986 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur; 933) (zugl.: Freiburg/Schweiz, Diss. 1986), S. 26. Vgl. zum insgesamt erfreulich kritischen Forschungsbericht von Hermann Greissinger auch S. 3-28. Jakob Wassermann: Einige Bemerkungen über den »Fall Maurizius«. In: Ders.: Lebensdienst. Gesammelte Studien, Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten. Leipzig, Zürich: Grethlein & Co. 1928, S. 336-338, hier S. 336. Jakob Wassermann: Selbstbetrachtungen. In: Ders.: Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904-1933. Hg. und mit einem Kommentar versehen von Dierk Rodewald. Mit einem Geleitwort von Hilde Spiel. Heidelberg: Schneider 1984, S. 161-222, hier S. 215. Jakob Wassermann: Meine Landschaft, äußere und innere. In: Ders., Deutscher und Jude (wie Anm. 3), S. 223-236, hier S. 218.

2

Einleitung

Entsprechend dominiert innerhalb der Forschungsliteratur, die sich mit thematischen Fragestellungen befasst, das Thema der Gerechtigkeit. Die erste Arbeit, die sich ausschließlich diesem Gegenstand widmet, stammt von Werner Böhm (1937). Es folgen die Monographien von Hans Rettich (1957), Stephen H. Garrin (1976) und Anja Biermann (1992). Abgesehen von diversen Aufsätzen, in denen auf die Bedeutung der Gerechtigkeit fur Werk und Autor verwiesen wird, behandelt John C. Blankenagel (1943) ausschließlich diese Thematik, und auch im Artikel von Henry Miller (1946) liegt der Schwerpunkt auf der Frage juridischer, (welt-)politischer und sozialer Gerechtigkeit. Hildegard Emmel (1973) geht in wenigen Seiten lediglich auf den »Fall Maurizius« ein, den sie pauschal der »Gerichtsliteratur« zuordnet, die sich mit der Kritik an den juristischen Institutionen befasst. Schließlich wird in der Arbeit von Evelyn Laszczower (1933) und Kaspar Schnetzler (1968) die Gerechtigkeit als Teilaspekt behandelt. Abgesehen von Henry Miller, der über die Interpretation der so genannten Andergast-Trilogie eigene Überlegungen zum Problem der Gerechtigkeit entwickelt und mit der Analyse der Nachkriegsituation verknüpft, folgen alle anderen Arbeiten weit gehend demselben Konzept, d. h., es wird überwiegend paraphrasiert, wobei die Interpretation zumeist auf der geistesgeschichtlichen Studie von Anne-Liese Seil sowie auf Wassermanns eigener Lektüreangabe basiert oder aber auf (rechtsphilosophischen und juristischen) Quellen, die vornehmlich der eigenen Zielsetzung dienen. Ohne die Reflexion theoretischer Probleme und eine ernsthafte Suche nach der Funktion des Quellenmaterials sowie dessen zeitlicher und kontextueller Schlüssigkeit bleibt in diesem Verfahren offen, inwiefern die hergestellten Bezüge vom Untersuchungsobjekt her legitimiert erscheinen oder lediglich auf Textkenntnis und Zielsetzung des Interpreten zurückgehen.5 Die Paraphrasen zum Thema Recht und Gerechtigkeit erhellen nicht die diesen Positionen zugrundeliegenden Auffassungen. Die Einzelaussagen bleiben daher substanzlos und ergeben kein schlüssiges Konzept. Zudem behindert Biermanns juristische Zielsetzung eine vorurteilsfreie Analyse.6 Der Versuch, ohne theoretisches Wissen durch unre5 6

Vgl. Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« (wie Anm. 1), S. 18-19. Bereits Hermann Greissinger bemerkt in seinem Forschungsbericht kritisch, dass die im Hinblick auf die eigene Fragestellung bewertende Analyse charakteristisch für die ältere Wassermann-Forschung ist. Vgl. Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« (wie Anm. 1), S. 3-28. Dass eine bewertende Untersuchung auch innerhalb der jüngeren Forschung durchaus kein Einzelfall ist, belegt die sozialgeschichtliche Analyse der »Andergast-Trilogie« von Esther Schneider-Handschin, die »Wassermanns ungenaue Begrifflichkeit sowie seine Tendenz, eine komplexe Problematik zu simplifizieren«, kritisiert, was ihrer Ansicht nach »ebenfalls für die Darstellung der Gerechtigkeitsproblematik im Roman [»Der Fall Maurizius« v. Verf.] zutrifft. [...] Warschauer-Waremmes mehrseitiger Monolog, in dem er Beispiele von sozialer Ungerechtigkeit anhäuft, ohne die bestehende Gesellschaftsordnung als Basis der sozialen Ungerechtigkeit anzugreifen, weist auf Wassermann zurück. Zumal auch in Wassermanns Gerechtigkeitsauffassung seine Tendenz zu Irrationalismus und Mystifizierung erkennbar wird, die eng mit seinem Konservatismus zusammenhängt und

Das Thema der Gerechtigkeit in der Wassermann-Forschung

3

flektierte Thesen und beliebige Kombination von Einzelbefunden eine Entwicklungslinie zu konstruieren, kann letztlich dem zugegebenermaßen komplexen, da synkretistisch aus verschiedenen philosophischen Elementen zusammengestellten literarischen Gerechtigkeitskonzept Wassermanns nicht gerecht werden. Zudem ist eine Bewertung im Hinblick auf ein persönliches Scheitern Wassermanns nicht nur unerheblich, sondern liegt auch in der Natur der Sache begründet. 7 Denn Gerechtigkeit ist ein umfassendes und komplexes Phänomen, das alle Lebensbereiche des Menschen durchdringt und der ständigen Aktualisierung bedarf. Auch wenn die Gerechtigkeitsprobleme in ihren Kernbereichen Konstanten aufweisen, erfordern sie eine stetige Auseinandersetzung und sind nie abschließend lösbar. Zudem entstehen im Zuge der sich verändernden politischen, sozialen, individuellen und globalen Zusammenhänge stetig neue Gerechtigkeitsfragen, die nicht nur theoretisch beantwortet, sondern auch praktisch gelöst werden müssen. Ein generelles Problem innerhalb der Forschungsliteratur ist, dass implizit oder explizit von einer bestimmten Gerechtigkeitsdefinition ausgegangen wird, anhand derer die Aussagen oder Darstellungen Wassermanns gemessen, interpretiert und vielfach leider auch bewertet werden. Ohne den eigenen theoretischen Hintergrund zu reflektieren, wird die Komplexität des Gerechtigkeitsphänomens ausgeblendet und daher auch übersehen, dass die eigene Definition keinen unbedingten Wahrheitsanspruch besitzt und zudem oftmals lediglich einen Teilbereich des umfassenden Phänomens erfasst. Vor diesem fehlenden oder fragmentarischen Hintergrund wird die Handlung dann paraphrasiert oder zitiert, ohne jedoch zwischen Darstellung bzw. Aussage und den philosophischen, religiösen oder allgemein weltanschaulichen Gerechtigkeitsvorstellungen einen wirklichen Bezug herstellen zu können. Sofern fragmentarische Beziehungen zwischen Quelle bzw. Gerechtigkeitsdefinition und Text entwickelt werden, erscheint ihre Struktur zufallig, da die Wahl zwischen Verglichenem und Vergleichspunkt nicht rechtfertigt wird. Dass es sich bei den Ähnlichkeiten, die innerhalb dieser isolierten Analysen konstatiert werden, weniger um etwas für Wassermann Spezifisches als vielmehr um abstrakt Überindividuelles handelt, tritt folglich nicht ins Blickfeld. Daher wirken nicht nur die Gerechtigkeits-

7

die sich infolgedessen unter dem Druck der Entwicklung in Deutschland verstärkte.« (Esther Schneider-Handschin: Aspekte des Wertezerfalls in Jakob Wassermanns »Andergast-Trilogie«. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 43 [1993], S. 81-89, hier S. 84.) Ähnliche Kritik übt Birgit Stengel-Marchand, die absurderweise gemäß marxistischer Literaturtheorie eine antibürgerliche, proletarische Ästhetik einfordert, die Wassermann nicht habe leisten können. Vgl. Birgit Stengel-Marchand: Das tragische Paradox der Assimilation - der Fall Wassermann. In: Der Deutschunterricht. Juden in der deutschen Literatur II 37 (1985) H. 3, S. 38-41. Wassermann ist, wenn man schon von einem Scheitern sprechen möchte, nicht an seinem Versuch einer offenen deutsch-jüdischen Identität zerbrochen, sondern an einer antisemitischen Gesellschaft, die sich einer solchen Offenheit verweigerte.

4

Einleitung

darstellungen und Aussagen Wassermanns wie vereinzelte Gedankenexperimente ohne geistigen Bezug, auch sein Werk insgesamt erscheint isoliert und ohne Einbindung in den Kontext der Epoche. Das belegen exemplarisch auch die von Anne-Liese Seil aufgelisteten geistesgeschichtlichen Bezüge. Sowohl die Fülle der Quellen als auch die von Seil gezogene Schlussfolgerung, ihre Divergenz sei Signum seiner Individualität, stellen Wassermann und sein Werk abseits der Diskurse der Jahrhundertwende.8 Dabei wird übersehen, dass die Literatur von Maeterlinck, Bergson, Rousseau, Nietzsche, Schopenhauer, Buddha, Franz von Assisi u. a. ebenso epochentypisch ist wie die ahistorische und synkretistische Verknüpfung völlig unterschiedlicher und zum Teil sich widersprechender Philosophien zu einer ganz eigenen Weltanschauung und Gerechtigkeitsvorstellung. Dass diese Kombination, die aufgrund ihrer lebensphilosophischen Prägung heute oft unverständlich und fremd anmutet, fur den Rezipienten der Zeit ausgesprochen attraktiv gewesen sein muss, belegen Popularität und Verkaufszahlen der Romane. Ebenso charakteristisch für die literarische Moderne ist der vielfach religiöse Impetus seiner Werke, die Überhöhung ins Religiös-Sakrale, die geprägt ist von dem hymnisch-dithyrambischen Pathos Nietzsches. Sie findet sich entsprechend auch in der Forschungsliteratur dieser Zeit.9 Anne-Liese Seil beispielsweise hebt Wassermann Wissen um den »segensreiche[n] Kernpunkt menschlich-künstlerischen Schaffens« 10 hervor. »Ihm k o m m t es in s t r e n g f o r d e r n d e r E t h i k , h e i l i g e r W e l t f r ö m m i g k e i t und E h r f u r c h t v o r d e m l e b e n d i g e n D a s e i n d a r a u f a n , d e n M e n s c h e n v o n s e i n e r W e s e n l o s i g k e i t zu e r l ö sen.« 1 1 Aufgrund dieser Forschungslage zum Themenkreis der Gerechtigkeit ergeben sich fur die erneute Auseinandersetzung verschiedene Zielsetzungen. Zunächst soll diversen Theorien der Gerechtigkeit in ihrer Komplexität und Vielfalt Raum gegeben werden, so dass die verschiedenen Aspekte, konträren Sichtweisen und Schwerpunkte deutlich werden, wobei der Fokus auf den lebensphilosophischen Gerechtigkeitstheorien liegt, die prägend für die Anschauungen der Jahrhundertwende waren. Im zweiten Teil werden dann die intertextuellen Bezüge dieser Theorien am Text konkretisiert, wobei einige explizit vom literarischen Text genannt werden oder sich aus dem zeitgeschichtlichen Kontext ergeben, andere erläuternd hinzugezogen werden. Denn Wassermanns literarisches Gerechtigkeitskonzept besteht aus einer vielschichtigen Synthese 8 9

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11

Vgl. Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« (wie Anm. 1), S. 27 u. S. 23. Vgl. Theo Meyer: Nietzsche als Paradigma der Moderne. In: Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow, Sabine Rothemann (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Bd 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 136-163, hier S. 156. Anne-Liese Seil: Das metaphysisch-realistische Weltbild Jakob Wassermanns. Bern: Haupt 1932. Reprint Nendeln/Liechtenstein 1976, S. 159. Ebd.

Das Thema der Gerechtigkeit in der

Wassermann-Forschung

5

unterschiedlichster Aspekte, und es soll neben der Darstellung der für Wassermann spezifischen Verknüpfungen deutlich werden, in welchen philosophischen Kontext der jeweilige Aspekt einzuordnen und inwiefern er in seiner Ausrichtung typisch für die Jahrhundertwende ist. Dabei ist weniger von einer detaillierten, systematischen Auseinandersetzung Wassermanns mit den philosophischen und religiösen Gerechtigkeitstheorien auszugehen als vielmehr von einer intuitiv-eklektischen Verknüpfung einzelner Aspekte zu einer komplexen Kollage, wie sie beispielsweise auch Eugen Diederichs für sein auf Intuition und persönliche Anschauung hin zugeschnittenes Verlagsprogramm praktizierte. Deshalb sollen auch solche Gerechtigkeitstheorien zur Erläuterung herangezogen werden, die zwar nicht konkret nachweisbar sind, deren erläuternde Funktion jedoch vom Gesamtwerk her legitimiert erscheinen. Beispielsweise lässt sich die Bedeutung der Liebe für das literarische Gerechtigkeitskonzept am Text konkret nachweisen. Diesen Aspekt betont neben anderen Lebensphilosophen insbesondere Bergson. Erläuternd wird in dieser Hinsicht aber auch auf Leibniz verwiesen, dessen Gedanke einer Subsidiaritätshierarchie die Beziehung zwischen Liebe und Gerechtigkeit näher beleuchtet. Der Schwerpunkt dieses Verweises liegt dabei weniger auf einem Nachweis der Lektüre Wassermanns als vielmehr auf seiner Aufschluss gebenden Funktion. 12 Legitimiert wird er durch die Verankerung dieses Gerechtigkeitsaspektes in präsumtiven und nachweisbaren Bezügen sowie insbesondere durch die Überprüfbarkeit am Gesamtkorpus. Denn selbst wenn eine Lektüre nachweisbar oder sicher anzunehmen ist, erhält sie ihre Relevanz erst durch ihre konkrete Funktion im Text. Beispielsweise erscheint eine Schopenhauer-Lektüre Wassermanns nicht nur durch die Verwendung des Begriffs »tat-twam-asi«13 als wahrscheinlich, sie gehörte auch zur Grundlektüre eines Autors dieser Epoche. Zudem verweist Wassermann selbst auf die Literatur Piatons und Schopenhauers,14 er nennt Laotse, Augustinus, Spinoza, Kant, Nietzsche, Bergson, Thomas von Aquin, Aristoteles, Meister Eckhart und Konstantin von Monakow. 15 Relevant ist 12

13

14 15

Eine ähnlich Aufschluss gebende Funktion besitzt die Philosophie Guyaus mit ihrer altruistischen Morallehre, mit der Bedeutung, die sie der individuellen Tat zumisst, sowie ihrer Kritik an der Sanktionsidee und der individuellen Trägheit. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption Guyaus: Johann Hermann Hablitzel: Lebensphilosophie und Erziehung bei Jean-Marie Guyau. (1854—1888). Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogischen Soziologie. Bonn, Diss. 1988, S. 18-46. Jakob Wassermann: Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit. (Geschrieben 1909). In: Ders., Lebensdienst (wie Anm. 2), S. 502-549, hier S. 514. Vgl. Seil, Das metaphysisch-realistische Weltbild Jakob Wassermanns (wie Anm. 10), S. 20. Vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Anm. 3), S. 204. Jakob Wassermann: Humanität und das Problem des Glaubens. In: Die Neue Rundschau (1934) Bd 1, S. 132-148, hier S. 140, S. 143 u. S. 146. Vgl. zur NietzscheRezeption Wassermanns auch Richard Frank Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist. Bd 2: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges. Ein Schrifttumsver-

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Einleitung

jedoch weniger, ob oder dass Wassermann Schopenhauer gelesen hat, als vielmehr, welche ersichtlichen Spuren die Lektüre im Text hinterlassen hat, d. h. welche Aspekte seiner Philosophie in das literarische Gerechtigkeitskonzept eingeflossen sind. Insofern müssen sich die Bezüge auch daran messen lassen, inwiefern sie im Hinblick auf den literarischen Gesamtkorpus schlüssig und nachvollziehbar sind, selbst wenn innerhalb der Arbeit nur auf eine begrenzte Anzahl von Texten eingegangen werden kann. Die Auswahl erfolgte im Hinblick auf eine möglichst umfassende Darstellung der verschiedenen Gerechtigkeitsaspekte. Die Verweise in die historische und mythologische Tiefe der philosophischen, aber auch religiösen Gerechtigkeitstheorien sollen deutlich machen, dass Wassermanns literarisches Gerechtigkeitskonzept nicht in einem gedanklichen Vakuum steht, sondern dass darin Aspekte und Probleme behandelt werden, die sowohl universal relevant als auch spezifisch für die Jahrhundertwende sind. Durch die Anbindung an den philosophischen Kontext wird dann vielleicht auch deutlich werden, dass Wassermanns »pseudophilosophischer Tiefgang« 16 letztlich eine potenzielle Problemadäquatheit17 nicht nur für seine damaligen Leser besessen hat, sondern dass er durchaus die verschiedenen Problembereiche der Gerechtigkeit erfasst, auch wenn die Darstellung nach heutigem Verständnis in ihrem vielfach lebensphilosophischirrationalen und mystisch-utopischen Denken fremd erscheinen und rückblickend »vage und rhetorisch«18 klingen mag. In Bezug auf die relativ geringe Beachtung Wassermanns in der literaturwissenschaftlichen Forschung scheint sein Werk das Schicksal der Lebensphilosophie zu teilen, deren Begriffe in der heutigen Zeit vielfach wie aus einer anderen Welt anmuten, deren Sprache nicht mehr präsent ist und deren originäre Fragen und Bedingungen des Denkens nicht mehr gegenwärtig sind.19 Aufgrund dieser allgemeinen Fremdheit werden der Analyse des literarischen Gerechtigkeitskonzeptes die Darstellun-

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zeichnis der Jahre 1901-1918. Berlin, New York: de Gruyter 1983 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 9), S. 307. Marcel Reich-Ranicki: Jakob Wassermann, der Bestsellerautor von gestern. In: Ders.: Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. München, Zürich: Piper 1977, S. 46-51, hier S. 47. Vgl. Hans Otto Horch: »Verbrannt wird auf alle Fälle ...«. Juden und Judentum im Werk Jakob Wassermanns. In: Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 124-146, hier S. 125. Peter Gay: Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. Aus dem Amerikanischen von Karl Berisch. Hamburg: Hoffmann und Campe 1986, S. 172. Eine Unverständlichkeit und Konfusion, zu der leider die Forschungsliteratur nicht selten beigetragen hat, wie der Hinweis von Peter Gay auf die Arbeit von Siegmund Bing zeigt. Vgl. ebd. Vgl. Manfred Riedel: Einleitung. In: Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einl. von Manfred Riedel. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 9-80, hier S. 9. Vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 13.

Das Thema der Gerechtigkeit in der Wassermann-Forschung

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gen einiger lebensphilosophischer Theorien sowie der kulturellen und religiösen Diskurse der Jahrhundertwende vorangestellt. Denn nicht zuletzt aufgrund dieses Defizits ist selbst Wassermann nicht dem Vorwurf entgangen, irrationalistischen, präfaschistischen und imperialistischen Tendenzen Vorschub geleistet zu haben, und wie Nietzsche, der Nietzscheanismus und die Lebensphilosophie insgesamt wird auch Wassermanns Werk bisweilen auf reaktionäre Aspekte reduziert und in den Dienst interessegeleiteter, ideologiekritischer Thesen gezwungen. 20 Auch wenn es sich dabei um eine Extremposition handelt, steht sie symptomatisch für die Marginalisierung eines Werkes, das eine lebensphilosophische Vorstellungswelt und ein Denken repräsentiert, von dem man rückblickend geglaubt hat, sich in Gänze distanzieren zu müssen, was oftmals den Blick fur die Differenziertheit dieser Vorstellungswelt verhindert hat. Im Gegensatz zu Wassermanns Stellungnahmen zur deutsch-jüdischen Existenz in seinen Reden und Schriften erscheint sein Erzählwerk zudem umso fremder, als es zwar eine realistische Erzähloberfläche bietet, diese aber immer

20

»Lukäcs entwirft ein Bild Nietzsches als des irrationalistischen Sprachrohrs der reaktionären Bourgeoisie nach 1870, als eines ganz und gar proto-faschistischen Denkers, als des Vaters eines Nationalsozialismus, der nach der zwingenden Logik der historischen Entwicklung seine Ideen ebenso getreulich wie unausweichlich widerspiegeln mußte.« (Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 4. Vgl. zur Diskrepanz zwischen philosophischer Komplexität und ihrer Reduktion im Kontext essenzialistischer Interpretationsansätze: Kapitel 1: Das Erbe Nietzsches und die Geisteswissenschaft, S. 1-16.) Entsprechend sieht Birgit StengelMarchand in ihrer von Georg Lukäcs geprägten Analyse die Romane Wassermanns einem Zeitgeist verhaftet, der auf die gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse mit der Propagierung ewiger und/oder deutscher Werte reagiert. Folglich definiert sie seine Kunstauffassung als »erkenntnisfeindlich und antiaufklärerisch. [...] Sie wird zu pseudoreligiöser Deutung von Welt mit apodiktischem - unantastbarem Wahrheitsanspruch, ihr Inhalt zu reaktionärer Ideologie.« Durch die Verlagerung des Konfliktes in das Innere des Romanhelden wird Wassermanns ethische Utopie für Stengel-Marchand zur »asoziale[n] Innerlichkeit. [...] Indem Wassermann so endgültig die autonome, selbstverantwortliche Individualität des einzelnen negiert zugunsten von dessen Unterordnung unter totale Weltgesetzlichkeiten, in eine (gewaltsam) harmonisierte Gesellschaft, aus der alles, was dieser Totalität zuwiderläuft, ausgegrenzt, ja der Vernichtung anheimgegeben wird, leistet er der nationalsozialistischen Ideologie und deren machtpolitischer Umsetzung erheblichen Vorschub: Erst die Vorstellung einer ganzheitlichen Ordnung, einer irrational gegründeten, mystifizierten Weltgesetzlichkeit und das damit verbundene Schwarz-Weiß-Denken machen eine inhaltliche (machtpolitische) Zielsetzung im Dienste dieses höheren, unter persönlicher Aufopferung absolut gesetzten Ganzen möglich.« (Stengel-Marchand, Das tragische Paradox der Assimilation - der Fall Wassermann [wie Anm. 6], S. 40-41.) Vgl. zum Einfluss von Lukäcs als Ursache dieser fehlgeleiteten Analyse: Birgit Stengel-Marchand: Jakob Wassermann - Über den ästhetischen und weltanschaulichen Traditionalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Konstanz, Fachbereich Literaturwissenschaft, Magisterarbeit 1984. [Masch.] )

8

Einleitung

wieder von einer irrationalen Symbolebene durchbrochen wird. Es erscheinen Symbole, implizite Verweise in verschlungener Kombinatorik verschiedener lebensphilosophisch gebundener Versatzstücke, die dem heutigen Rezipienten bisweilen geradezu grotesk anmuten. Diese verborgene Ebene wieder lesbar zu machen bedeutet nicht nur vergessene oder ausgegrenzte Bereiche zu beleben, sondern auch die inhaltliche Komplexität des Werkes wieder sichtbar werden zu lassen. Dass sich diese Komplexität auch auf Wassermanns Authentizität als Deutscher und Jude bezieht, hat beispielsweise Alfred Bodenheimer anhand des Ahasvermotivs erarbeitet, indem er nachweist, wie Wassermann u. a. säkulare jüdische Autoren das Judentum in der von Gott emanzipierten Moderne zum Repräsentanten des abwesenden Gottes gestaltet, indem er das antisemitisch funktionalisierte Motiv des »ewigen Juden« mit der Figur des Moses verbindet.21 Entsprechend wird es die Aufgabe der WassermannForschung sein, ähnliche Teilbereiche einer ausgegrenzten Weltanschauung und Denkungsart in ihrer Mehrdimensionalität, Widersprüchlichkeit, aber auch potenziellen Offenheit wieder zu entdecken sowie die Bedeutung seines Werks für die Literatur der Jahrhundertwende aufzuzeigen.22

21

22

Vgl. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen: Wallstein 2002. Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle nur die Bedeutung Wassermanns für Kafkas Selbstverständnis als westjüdischer Schriftsteller. Davide Stimilli verweist auf die produktive Lektüreverarbeitung des Romans Die Masken des Erwin Reiners für Kafkas »Das Urteil« sowie des Romans Caspar Hauser für seine ersten Versuche einer Autobiographie. Vgl. Davide Stimilli: Findlinge: Franz Kafka und Jakob Wassermann. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999) H. 3, S. 478-500.

Teil I: Philosophische, kulturelle und religiöse Diskurse der Jahrhundertwende

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Philosophische Gerechtigkeitskonzepte

An den Gerechtigkeitsbegriff knüpfen sich die unterschiedlichsten Konzepte und Vorstellungen. Als sittlicher Begriff beinhaltet Gerechtigkeit zwei aufeinander bezogene Bedeutungen. Im >objektivensubjektivenvon Natur bösen< oder einen >von Natur gutem Menschen voraussetzen. [...] Der staatsfeindliche Radikalismus wächst in dem gleichen Grade wie der Glaube an das radikal Gute der menschlichen Natur. [...] Demnach bleibt die merkwürdige und für viele sicher beunruhigende Feststellung, daß alle echten politischen Theorien den Menschen als >böse< voraussetzen, d. h. als keineswegs unproblematisches, sondern als >gefahrliches< und dynamisches Wesen betrachten.« (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 3. Aufl. der Ausg. von 1963. Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 59 u. S. 61.) In ähnlicher Weise, jedoch im Ergebnis anderer Wertung, unterscheidet Leo Baeck in seiner Darstellung »Das Wesen des ludentums« zwischen »vertikaler« und »horizontaler« Solidarität. Er stellt dem platonischen Idealstaat, der den Menschen gleichsam zu Vernunft und Glück zwingt, das Prinzip horizontaler Brüderlichkeit entgegen. Vgl. Leo Baeck: Das Wesen des Judentums. Berlin 1905. Nachdr. Wiesbaden o. J. Vgl. Jan Assmann: Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München: Beck 1990, S. 248-252.

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Gerechtigkeitskonzepte

geht es doch stets um die gerechte Ordnung der Gesellschaft, d. h. um Fragen der Anteilnahme des Individuums oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen an der politischen Herrschaft, dem materiellen Reichtum oder den geistigkulturellen Gütern.6 Es geht um Fragen der Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit, der gerechten und bzw. oder guten und sinnvollen Lebensgestaltung, um Fragen des zwischenmenschlichen Umgangs, d. h. der gegenseitigen Anerkennung, um die Möglichkeit einer jenseitigen, göttlichen Gerechtigkeit und damit zugleich um Fragen der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, Gerechtigkeit auf Erden überhaupt zu realisieren. Der kurze Überblick über die komplexe Begriffs- und Theoriegeschichte macht deutlich, dass im Rahmen dieser Arbeit lediglich Teilaspekte der philosophischen Gerechtigkeitsdiskussion aufgegriffen werden können. Es sollen daher im Einzelnen nur die für Wassermanns Auffassung der Gerechtigkeit zentralen Theorien der Lebensphilosophie vorgestellt werden. Da sich ihre Gerechtigkeitstheorien nur über den philosophischen Gesamtkontext erschließen, wird dieser in wesentlichen Zügen ebenfalls dargestellt. Vorangestellt sei aber zunächst das Konzept von Jean-Jacques Rousseau, dessen Darstellung der Gesellschaftsgenese Wassermanns kritische Haltung gegenüber der Möglichkeit, mittels Institutionen soziale Gerechtigkeit zu erzielen, entscheidend beeinflusst hat.

1.1

Jean-Jacques Rousseau

Im Zeitalter der Aufklärung nimmt Rousseau eine dezidiert kritische Haltung gegenüber der empirisch-materialistischen Naturauffassung, der Wissenschafts-, Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit sowie dem Kultur- und Zivilisationsoptimismus ein. Während die Aufklärungsphilosophen euphorisch an die Vernunftkultur glauben, plädiert er fur einen Kult des Gefühls, während die Philosophen seiner Zeit das Individuum und dessen Eigenschaften für das Primäre halten, spricht Rousseau sich für die Gemeinschaft und den allgemeinen Willen (volonti generale) aus, und entgegen der allgemeinen Fortschrittsgläubigkeit fordert er zwar nicht das ihm häufig zugeschriebene »Zurück zur Natur«, aber die Rückkehr zur naturgemäßen Gleichheit aller Menschen und einer dem Menschen gemäßen Kultur.7 Ebenso wie der von Hobbes beschriebene Natur6

7

Vgl. Gerd Becher, Elmar Treptow (Hg.): Die gerechte Ordnung der Gesellschaft. Texte vom Altertum bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M., New York: Campus 2000, S. 12-13. Vgl. auch Horn/Scarano (Hg.), Philosophie der Gerechtigkeit (wie Kapitel 1, Anm. 2), S. 12-13. Vgl. Emrich Coreth, Harald Schöndorf: Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. 3., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 2000 (Grundkurs Philosophie 8), S. 149-151. Vgl. Gunnar Skibekk, Nils Gilje: Geschichte der Philosophie. Eine Einführung in die europäische Philosophiegeschichte mit Blick auf die Geschichte der Wissenschaften und die politische Philosophie. Übersetzt von Lothar Schneider. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, Bd 1, S. 463.

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Rousseau

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zustand nach Macpherson das Ergebnis einer idealtypisch-logischen Abstraktion aus den Grundstrukturen der frühbürgerlichen Markt- und Handelsgesellschaft ist, kann man Rousseaus Naturbegriff als Ergebnis einer Reduktion seines zeitgenössischen Gesellschaftszustandes betrachten.8 Denn auch seine Konzeption der Natur enthält implizite, normative Bestimmungen. »Natürlich« bedeutet bei Rousseau »der Ordnung gemäß« und infolgedessen »gut«. Entsprechend heißt es im Emile: »Die Selbstliebe ist immer gut und entspricht der Ordnung.«9 Rousseau versteht Ordnung im Sinne von Maß und Einheitlichkeit, d. h., Ordnung herrscht, wo die Bedürfnisse einfach und mäßig sind, wo die Tätigkeit allein der Befriedigung elementarer Bedürfnisse und nicht dem Erwerb von Luxus- und Statusgütern dient, wo der Verstand Selbsterhalt und Vervollkommnung unterstützt und sich nicht in hypertrophen Kapricen versteigt oder einer Wissenschaft dient, die den Menschen von sich selbst entfremdet und versklavt. Ordnung herrscht, wo der Mensch im Einklang mit der Natur lebt, wo es keine krassen Eigentumsunterschiede gibt und die staatliche Rechtsordnung die Bedingungen für ein in diesem Sinne naturgemäßes und tugendhaftes Leben schafft. Statt einer separaten Philosophie ist Rousseaus Moralvorstellung in seiner Konzeption der menschlichen Natur als Ordnung enthalten, wobei er die Moralprinzipien aus der Reflexion der menschlichen Natur und deren Bestimmung entwickelt.10 Demnach zeichnet sich die menschliche Natur durch Freiheit, Selbstliebe und Perfektibilität aus, und das Menschsein gründet nicht im Verstand, sondern im Bewusstsein der Freiheit, durch die der Mensch sich zugleich seiner Geistigkeit bewusst wird. Als abgeleitete Bestimmung der Freiheit zählt Rousseau daher auch die Spiritualität zur Wesensbestimmung der menschlichen Natur. Von Natur aus frei wird er erst durch die Gesellschaft versklavt. »Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten.«11 Rousseau unterscheidet zwischen der Willkürfreiheit, die 8

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10 11

Vgl. zu Hobbes C. B. Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, bes. S. 30-61. Vgl. dazu auch Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 34-39. Zu Rousseau vgl. Wolfgang Rod: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. München: Beck 1984 (Geschichte der Philosophie 8), Anm. 7, S. 385. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Vollst. Ausg. In neuer dt. Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. 4. Aufl. Paderborn: Schöningh 1978, IV, Reifezeit, S. 212. Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 385. Jean-Jacques Rousseau: »Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts« (Du contract social, ou principes du droit politique). In: Ders.: Politische Schriften. Bd 1. Abhandlung über die Politische Ökonomie (Discours sur l'economie politique). Vom Gesellschaftsvertrag (Du contract social). Politische Fragmente (Fragments politiques). Übers, u. Einf. v. Ludwig Schmidts. Paderborn: Schöningh 1977, S. 59-208, hier Buch I, Kapitel 1.

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allein im Naturzustand herrscht, in dem die M e n s c h e n ohne Rechtsnormen im Zustand der Unabhängigkeit und der rechtlichen Freiheit leben, und der politischen Freiheit, w e l c h e die Individuen erst durch die wechselseitige Preisgabe ihrer natürlichen Freiheit gewinnen, indem sie dem g e m e i n s a m verabschiedeten Gesellschaftsvertrag zustimmen. 1 2 D a Rousseau dezidiert v o n einer guten Natur des M e n s c h e n ausgeht, bewertet er auch die ursprünglichen menschlichen Leidenschaften positiv. Sie korrespondieren mit der Trieb- und Instinktausstattung des M e n s c h e n und dienen seinem Selbsterhalt. D i e ursprünglichste Leidenschaft ist für Rousseau die Selbstliebe, alle anderen sind von ihr abgeleitet, w o b e i das Mitleid für ihn an erster Stelle steht. 1 3 Selbstliebe und Mitleid sind vorrationale Prinzipien und als solche v o m Verstand unabhängig. Wenn ich daher alle wissenschaftlichen Bücher beiseite lasse, die uns die Menschen nur so zu sehen lehren, wie sie sich selbst gemacht haben, und ich über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele nachdenke, glaube ich zwei Prinzipien in ihr wahrzunehmen, die der Vernunft vorausliegen, von denen das eine uns brennend an unserem Wohlbefinden und unserer Selbsterhaltung interessiert sein läßt und das andere uns einen natürlichen Widerwillen einflößt, irgendein empfindendes Wesen, und hauptsächlich unsere Mitmenschen, umkommen oder leiden zu sehen. [...] Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist. 14 Rousseau geht v o n einer genetischen Verstandesentwicklung als Folge der Bedürfnisdifferenzierung aus. D e m n a c h dient der Verstand primär der Triebbefriedigung, denn seine Entwicklung und Differenzierung basiert auf den Trieben und Affekten, die sich dem Wandel der U m w e l t b e d i n g u n g e n und der

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13

14

Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 383-384. Vgl. Coreth, Schöndorf, Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (wie Kapitel 1, Anm. 7), S. 150-151. Das Mitleid ist für Rousseau von zentraler Bedeutung. Während er es im Emile eindeutig als abhängige Leidenschaft bestimmt, ist es im »Discours sur l'inegalite«, in dem das Mitleid für die sozialen Affekte im allgemeinen steht, ein selbstständiger Aspekt der Natur, insofern es als Gegengewicht zur einseitigen Selbstliebe fungiert: »Es ist also ganz gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das, da es in jedem Individuum die Aktivität der Selbstliebe mäßigt, zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Art beiträgt. Es veranlaßt uns ohne Reflexion zur Unterstützung derer, die wir leiden sehen; im Naturzustand vertritt es die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend [...].« (Jean-Jacques Rousseau: »Discours sur l'inegalite«. In: Ders.: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l'inegalite. Krit. Ausg. d. integralen Textes. Mit sämtl. Fragm. u. erg. Materialien nach d. Orig.-Ausg. u. d. Hs. neu ed., übers, u. kommentiert von Heinrich Meier. 2., durchges. u. erg. Aufl. Paderborn [u. a.]: Schöningh 1990 [UTB für Wissenschaft; 725], Teil I; Band III, S. 156. Bandund Seitenangabe nach dem Semikolon folgen der Pleiaden-Ausgabe.) Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 384. Auch für Schopenhauer ist das Mitleid die entscheidende Quelle der Moral. Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil I; Band III, S. 126-138.

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Rousseau

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sozialen Gegebenheiten anpassen. 15 Nach Ansicht Rousseaus ist nicht das Gefühl- und Triebleben Ursprung der negativen Leidenschaften, sondern Verstand und Reflexivität. Denn sie ermöglichen den Vergleich mit anderen, der zu Hass, Eifersucht und Habgier fuhrt. Initiatoren dieses Vergleichs sind die sozialen Bedingungen, denn erst durch sie werden die Menschen zu Konkurrenten. Unter solchen Umständen degeneriert dann auch die positive Selbstliebe zur negativen Selbstsucht, und die naturgebundene Vernunft wird zum Selbstzweck. Was dem Menschen über Freiheit und Selbstliebe hinaus zukommt, ist laut Rousseau die Fähigkeit zur Perfektibilität. Ohne ein abschließendes Ziel vor Auge zu haben und ohne dazu gezwungen zu sein, strebt der Mensch über das hinaus, was er jeweils ist. Nach Ansicht Rousseaus stimmen alle Menschen im Hinblick auf die drei genannten Bestimmungen überein, weshalb sie einander prinzipiell gleichgestellt sind. Seine Gesellschaftskritik basiert auf diesen anthropologischen Prämissen, die er im Kontext eines Naturbegriffs entwickelt, der mehr eine Idee als einen empirischen Begriff darstellt. Ausgehend von einer Korrelation zwischen Moral und sozialer bzw. rechtlicher Ordnung, untersucht Rousseau in seinem ersten »Discours sur les sciences et les artes« (Rede über die Wissenschaft und die Künste) von 1750 das Problem moralischer Dekadenz als Ursache einer degenerierten Staatsverfassung. Im zweiten, 1755 verfassten »Discours sur l'origine et les fondemens de l'integalite parmi les hommes« (Rede über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) beschreibt Rousseau den Verfall der Sitten als Folge der spezifischen sozialen Verhältnisse. 16 Zielsetzung des »Discours sur l'inegalite« ist die hypothetische Rekonstruktion der Kulturentwicklung, um die Ursprünge der negativen zivilisatorischen Entwicklungen der Neuzeit, die Selbstentfremdung des Menschen und die gesellschaftliche Ungleichheit, zu erklären. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die bestehende Eigentumsordnung auf der Besitznahme durch die Reichen und Klugen bei gleichzeitig kritikloser Anerkennung dieser Okkupation durch die Schwachen und Einfaltigen basiert. Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.« 17

15 16 17

Ebd., S. 142. Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 385. Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 394. Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil II; Band III, S. 164.

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In der Folge dieser Bodenokkupation entstand laut Rousseau eine arbeitsteilige Gesellschaft, in der sich die Ungleichheit immer weiter verfestigte und zuspitzte. Rousseau vertritt mit dieser Rekapitulation keinen Geschichtsdeterminismus, denn seiner Ansicht nach hätte die Entwicklung nicht in dieser Weise verlaufen müssen. Für ihn hat seine Beschreibung im Wesentlichen eine rekonstruktiv-argumentative Funktion. Er betont, man dürfe die Untersuchungen nicht als historische Wahrheit nehmen, denn es gehe ihm lediglich darum, hypothetische und bedingungsweise geltende Schlussfolgerungen zu ziehen, um die Natur der Verhältnisse zu klären. 18 Ebenso wie Samuel Pufendorf, neben Hugo Grotius einer der klassischen Vertreter des Naturrechts, unterscheidet Rousseau im »Discours sur l'integalite« zwischen einem reinen und einem relativen Naturzustand. Im reinen Naturzustand befindet sich der Mensch auf der Stufe eines vorrationalen Wilden. Er besitzt in diesem tierähnlichen Zustand weder Sprache noch Reflexion, und alle seine Tätigkeiten dienen allein dem Selbsterhalt. Im reinen Naturzustand besitzt der »homme naturel« ein natürliches Mitgefühl, jedoch noch kein Sozialbewusstsein. Im Gegensatz zum »homme de l'homme«, dem Menschen der Zivilisation, ist er weder sozial im Sinne von Aristoteles noch asozial im Sinne von Thomas Hobbes. Völlig unabhängig voneinander sind die Menschen in diesem bindungslosen Naturzustand jedoch auch völlig frei. 19 Nach Darstellung Rousseaus hat sich aus dem reinen Naturzustand erst allmählich eine primitive gesellschaftliche Ordnung entwickelt. Trotz erster Ansätze von Individualbesitz gibt es in diesem Zustand jedoch noch keine nennenswerte Ungleichheit und auch noch keine Arbeitsteilung. Diesen gemäßigten Naturzustand scheint Rousseau positiv zu bewerten, denn er beschreibt ihn mit Prädikaten, die im Naturrecht traditionell zur Charakterisierung des Goldenen Zeitalters der Menschheit dienen. Entsprechend ist dieser Zustand gekennzeichnet von Einfachheit, Genügsamkeit, Unabhängigkeit, Muße und Zufriedenheit. 20 Dennoch 18

19

20

Vgl. ebd., Discours Exordium; Band III, S. 133. Dennoch erweckt Rousseau noch im selben Abschnitt den Anschein, auf einen historisch vergangenen Zustand zu verweisen. »O Mensch, aus welchem Lande du auch seist, welches deine Meinungen auch sein mögen, höre: Hier ist deine Geschichte, wie ich sie zu lesen geglaubt habe - nicht in den Büchern von deinen Mitmenschen, die Lügner sind, sondern in der Natur, die niemals lügt.« Vgl. Coreth, Schöndorf, Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts (wie Kapitel 1, Anm. 7), S. 150. Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 395-397. Insgesamt ist Rousseaus Haltung gegenüber der Kulturentwicklung indifferent. Denn obwohl er den Naturzustand präferiert, hat der Mensch laut seiner Darstellung im reinen Naturzustand noch nicht zu seinem Menschsein gefunden. Denn erst mit der Ausbildung von Kultur und Vergesellschaftung entstehen Sprache und Vernunft, die Voraussetzung für die Entwicklung von bewusster Tugend und Moralität sind. Kehrseite der Kulturentwicklung sind jedoch Eigentum, Feindschaft und Krieg, da der Mensch es nicht verstanden hat, sich mit einfachen Bedürfnissen zufrieden zu geben. Auch wenn Rousseaus gesamte Beschreibung zwischen negativer und positiver Beurteilung der Kulturentwicklung schwankt, scheint er die gesellschaftlichen

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ist seiner Ansicht nach bereits in diesem Stadium durch die Entwicklung primitiver Mittel zur Arbeitserleichterung der Grundstein für Arbeitsteilung und Privateigentum gelegt worden. Das Ergebnis sind Ungleichheit und Konkurrenz sowie Neid, Rache und Krieg. Zudem hat der Mensch im Zuge von Verstandesentwicklung und Reflexionsvermögen auch ein Bewusstsein seiner eigenen Achtung gewonnen, so dass schließlich eine Rachekultur entstanden ist, die vermeintliche Ehrverletzung schrankenlos ahndet. Sobald die Menschen sich wechselseitig zu schätzen begonnen hatten und die Vorstellung der Achtung in ihrem Geist gebildet war, beanspruchte jeder, ein Recht darauf zu haben, und es war nicht mehr möglich, es irgend jemandem gegenüber ungestraft daran fehlen zu lassen. [...] Da jeder die Geringschätzung, die man ihm zu erkennen gegeben hatte, in seiner Weise bestrafte, die der Wichtigkeit entsprach, welche er sich selbst beimaß, wurden die Racheakte schrecklich und die Menschen blutgierig und grausam.21 Der Zustand der Rachekultur entspricht laut Rousseau dem Zustand bekannter primitiver Gesellschaften, die sich vom ersten Naturzustand bereits weit entfernt haben, jedoch fälschlicherweise als Völker des ersten Naturzustandes identifiziert werden. 22 Laut seiner Rekonstruktion sind sie Nachfahren eines zweiten, durch Metallurgie und Ackerbau hervorgerufenen Umbruchs, der nach der ersten sukzessiv verlaufenden Revolution erfolgte. Durch ihre Arbeit haben die Menschen in der Folgezeit immer mehr die Vorstellung entwickelt, sie hätten ein Recht auf den Ertrag und den Boden, den sie bewirtschaften. Da das Eigentum verteilt werden muss, ist die Verteilungsregel Ulpians, »suum cuique tribuere«23, zur ersten Regel der Gerechtigkeit erhoben worden. Aus der Bebauung des Grund und Bodens folgte notwendigerweise seine Aufteilung; und aus dem Eigentum, war es einmal anerkannt, die erste Regel der Gerechtigkeit. Denn um jedem das Seine zu geben, muß jeder etwas haben können; da die Menschen außerdem begannen, ihre Blicke in die Zukunft zu richten, und alle sahen, daß sie einige Güter zu verlieren hatten, gab es niemanden, der die Repressalie für das Unrecht, das er einem andern zufügen konnte, nicht für sich selbst zu furchten hatte.24 Konsequenz dieser Bodenaufteilung ist nicht nur der Glaube, ein Anrecht auf die erarbeiteten Güter zu besitzen, sondern auch die Vorstellung, man könne sich für erlittenes Unrecht am Besitz des anderen nach eigenem Gutdünken

21 22 23

24

Zustände desto negativer zu beurteilen, je weiter der Mensch sich vom reinen Naturzustand entfernt. Vgl. Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil II; Band III, S. 170 u. 171. Ebd., Teil II; Band III, S. 170. Vgl. ebd. Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler (Hg.): Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung. Auf der Grundlage der von Theodor Mommsen und Paul Krüger besorgten Textausgaben. Bd II: Digesten 1-10. Heidelberg: Müller Juristischer Verlag 1995, Digesten I 1, 10. Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil II; Band III, S. 173.

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schadlos halten. Indem Rousseau die Entstehung der Gerechtigkeit auf die Eigentumsordnung zurückfuhrt, erhält sie eine negative Konnotation, und da ihr Ursprung im Verstand und nicht in der natürlichen Güte liegt, geraten die Gerechtigkeit und ebenso die Goldene Regel für ihn in Misskredit. Anstelle jener erhabenen Maxime der durch Vernunft erschlossenen Gerechtigkeit: Tue anderen, wie du willst, daß man dir tue gibt das Mitleid allen Menschen diese andere Maxime der natürlichen Güte ein, die viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher ist als die vorhergehende: Sorge fiir dein Wohl mit dem geringstmöglichen Schaden für andere. Mit einem Wort: man muß eher in diesem natürlichen Gefühl als in subtilen Argumenten die Ursache für den Widerwillen suchen, den jeder Mensch, sogar unabhängig von den Maximen der Erziehung, dagegen verspüren würde, Böses zu tun. Obschon es Sokrates und den Geistern seines Schlages zukommen mag, Tugend durch Vernunft zu erlangen - das Menschengeschlecht wäre längst nicht mehr, wenn seine Erhaltung nur von den Vernunfterwägungen derer abhängig gewesen wäre, aus denen es sich zusammensetzt. 25

Indem Rousseau auf die biblische Form der Goldenen Regel zurückgreift, die auch Naturrechtslehrer wie Hobbes verwenden, verbindet er Gerechtigkeitsund Religionskritik. 26 Den dogmatischen Gegensätzen der verschiedenen theologischen Standpunkte sowie den metaphysischen Differenzen der philosophischen Richtungen setzt Rousseau seine Religion des Herzens entgegen. Als Vertreter des Gefühls argumentiert er ganz anti-intellektualistisch für eine Tugend des Herzens, die in der angeborenen Fähigkeit der Menschen zur Empathie begründet ist. 27 Während die kulturell geformte Vernunft täuschen kann, ist das unverbildete Empfinden für ihn ein untrüglicher Gradmesser. Rousseau geht von einem moralischen Instinkt, einem angeborenen Prinzip der Gerechtigkeit aus, das nicht in der Vernunft, sondern in der Tiefe der Seele verankert ist. In seinem Gewissen besitzt der Mensch demnach ein natürliches Gerechtigkeitsempfinden, das unabhängig von den vernunftgeleiteten Urteilen zwischen gut und böse unterscheiden kann. 28 Trotz seiner Religionskritik geht Rousseau deistisch-rationalistisch von der Existenz Gottes als Beweger, Bewegungsgesetz und Begründer der harmonischen Naturordnung aus, und entgegen seiner Gerechtigkeitskritik im Zusammenhang der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse bewertet er die Gerechtigkeit im Kontext der göttlichen 25 26

27

28

Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil I; Band III, S. 156-157. Die »erhabene Maxime der durch Vernunft erschlossenen Gerechtigkeit«, an deren Stelle Rousseau seine »Maxime der natürlichen Güte« setzt, ist identisch mit einem der zentralen Gebote der Bergpredigt: »Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn das ist das Gesetz und die Propheten.« (Mt. 7, 12) »Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so sollt auch ihr ihnen tun.« (Lk. 4, 31). Vgl. zu Rousseaus Religionskritik: Rousseau, Emil oder Über die Erziehung (wie Anm. 9), IV, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 275-334. Vgl. Rod, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 8), S. 389-394. Vgl. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung (wie Anm. 9), IV, Moralische Begriffe, Geschichtsstudien, Fabeln, Anm. S. 239. Vgl. ebd., IV, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 303.

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Ordnung durchaus positiv. Für ihn besitzt der Mensch ein Gewissen aufgrund göttlicher Einstiftung, auch wenn er die ordnende Kraft Gottes vielfach nicht zu erkennen vermag oder sich als freies Wesen gegen die untrügliche sittliche Instanz seines Gewissens entscheiden kann. Insofern ist der Mensch für das (moralische) Übel in der Welt selbst verantwortlich. Für Rousseau letztlich liegt auch die Relevanz des jenseitigen Lebens darin, die Gerechtigkeit metaphysisch abzusichern. Denn allein die ausgleichende jenseitige Gerechtigkeit garantiert die Wiederherstellung der durch das Böse und das Unrecht gestörten diesseitigen Ordnung. Mensch, such nicht weiter nach dem Urheber des Übels: dieser Urheber bist du selbst. Es gibt kein anderes Übel als das, das du tust oder erleidest, und beide rühren von dir her. Das allgemeine Übel kann nur in der Unordnung liegen, und ich sehe im System der Welt eine Ordnung, die sich nie verleugnet. [...] Das allergütigste Wesen muß demnach, weil es allmächtig ist, auch von höchster Gerechtigkeit sein, weil es sich sonst widerspräche; denn die Liebe zur Ordnung, die die Ordnung schafft, heißt Güte, und die Liebe zur Ordnung, die sie bewahrt, heißt Gerechtigkeit. [...] Ich glaube, daß die Seele den Körper so lange überlebt, bis die Ordnung wiederhergestellt ist.29 Insgesamt scheint der Gleichheitsbegriff in Rousseaus Argumentation wichtiger zu sein als der Gerechtigkeitsbegriff, denn das gesellschaftliche Unrecht ist in der Ungleichheit der Menschen begründet. Ursprung dieser Ungleichheit ist das Eigentumsrecht. Hat sich dieses einmal manifestiert, so entwickeln sich neue Herrschaftsverhältnisse und neue Bedürfnisse, die den Menschen zunehmend von sich selbst entfremden. Es ist den Menschen dann wichtiger, etwas zu scheinen als etwas zu sein. Denn um die neuen Leidenschaften befriedigen zu können, sind sie zunehmend gezwungen, sich zu verstellen, da allein Geist, Schönheit, Stärke und Gewandtheit in Bezug auf den Verdienst oder die Talente gesellschaftliche Achtung ermöglichen, und wer sie nicht besitzt, ist gezwungen, sie vorzutäuschen. 30 Am Ende dieser Entwicklung stehen Entfremdung, Zerstörung und Krieg. Da die Mächtigsten oder die Elendesten sich aus ihrer Stärke oder aus ihren Bedürfnissen eine Art Recht auf das Gut anderer machten, das - ihnen zufolge - dem Eigentumsrecht gleichwertig war, zog die Zerstörung der Gleichheit so die fürchterlichste Unordnung nach sich: Die Usurpation der Reichen, die Räubereien der Armen, die zügellosen Leidenschaften aller erstickten das natürliche Mitleid und die noch schwache Stimme der Gerechtigkeit und machten so die Menschen geizig, ehrsüchtig und böse. Zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des ersten Be29

30

Ebd., S. 295-296. Während Leibniz das Theodizeeproblem löst, indem er darzustellen versucht, dass die Welt so, wie sie ist, die bestmögliche ist, leugnet Rousseau zwar nicht Ungerechtigkeit und Unrecht, doch trägt Gott für ihn keine Mitverantwortung, wenn der Mensch aufgrund seines freien Willens gegen die göttliche Ordnung verstößt. Zumal im Jenseits die vom Menschen gestörte Ordnung durch Gott wiederhergestellen und alles Unrecht ausgeglichen wird. Vgl. Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Anm. 13), Teil II; Band III, S. 174-175.

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sitznehmers erhob sich ein fortwährender Konflikt, der nur mit Kämpfen und Mord und Totschlag endete [...]. Die entstehende Gesellschaft machte dem entsetzlichen Kriegszustände Platz: Das Menschengeschlecht, herabgewürdigt und niedergeschlagen, nicht mehr in der Lage, auf seinem Weg umzukehren oder auf die unglückseligen Errungenschaften, die es gemacht hatte, zu verzichten, und durch den Mißbrauch der Fähigkeiten, die es ehren, nur an seiner Schande arbeitend, brachte sich selbst an den Rand seines Ruins.31 Damit ist für Rousseau jene ausweglose Situation erreicht, die im Laufe der Kulturentwicklung schließlich zur Bildung des Gesellschaftsvertrages fuhrt. Laut seiner Rekonstruktion sind es die Privilegierten, die sich nach Reflexion ihrer Lage um die Abschaffung des Kriegszustandes bemühen, da ihnen aus der befriedeten Gesellschaft ein größerer Vorteil erwächst. Es ist »der Reiche« gewesen, so Rousseau, dem es gelungen ist, »aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maximen einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die fur ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht ihm widrig war.« 32 Der Gesellschaftsvertrag, den der Besitzende mit hehren Worten preist, dient somit nur zum Schein dem Schutz der Schwachen, der Gerechtigkeit und dem Frieden. »Vereinigen wir uns«, sagte er zu ihnen, »um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen in Schranken zu halten und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört: Laßt uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind, die kein Ansehen der Person gelten lassen und die in gewisser Weise die Launen des Glücks wiedergutmachen, indem sie den Mächtigen und den Schwachen gleichermaßen wechselseitige Pflichten unterwerfen. Mit einem Wort: laßt uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht erhält.«33 Was als gerechter Gesellschaftsvertrag dem Schutz der Armen vor Unterdrückung dienen soll, entlarvt Rousseau als Scheinvertrag zugunsten der Besitzenden, die sich der Ungerechtigkeit ihrer Okkupation sehr wohl bewusst sind. Die allgemeinen Maximen und Institutionen sollen sie vor dem Übergriff der Besitzlosen schützen. Was als Gerechtigkeit auftritt ist somit nicht mehr als ein Täuschungsmanöver der Mächtigen. 34 Diesem ungerechten Gesellschaftsvertrag stellt Rousseau in seiner 1762 erschienenen Schrift »Du contract social, ou principes du droit politique« (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts) ein gerechtes Gesell31 32 33 34

Vgl. ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Ebd. In ähnlicher Weise richtet sich auch die fundamentale Moralkritik von Marx und Nietzsche nicht gegen die moralischen Werte an sich, sondern gegen die Inhalte, die ihnen von Seiten der sozialen und politischen Herrschaftsstrukturen beigelegt worden sind.

1.1 Jean-Jacques

Rousseau

23

schafitsmodell gegenüber, indem er die Überwindung dieser negativen gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen versucht. In Anlehnung an Hobbes und Locke geht auch Rousseau von der Idee eines Sozialkontraktes aus, doch im Gegensatz zur besitzindividualistischen politischen Philosophie der beiden Kontraktualisten sucht er einen Staat auf der Basis gemeinsam vereinbarter, intersubjektiver Normen zu konstruieren. In Form einer gedanklichen Hypothese entwirft Rousseau den Gesellschaftsvertrag als einen gemeinsamen Vertrag aller Bürger und nicht als einen Unterwerfungsvertrag zugunsten eines Herrschers oder einer Regierung. Indem in diesem Vertrag jeder seine natürliche Willkürfreiheit aufgibt und seine Rechte an die Gesellschaft entäußert, werden die rechtliche bzw. moralische Freiheit und das Gesetz als Ausdruck des allgemeinen Willens erst begründet. Richtig verstanden, lassen sich diese Bedingungen auf eine einzige zurückfuhren: die vollständige Überäußerung eines jeden Mitglieds mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft. Wenn sich nämlich erstens jeder ganz übereignet, ist die Bedingung für alle gleich; niemand hat ein Interesse, sie für die anderen drückend zu machen. [...] Wenn sich schließlich jeder überäußert, überäußert er sich niemandem. Da man über jedes Mitglied das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich selber einräumt, gewinnt man den Gegenwert über alles, was man verliert, und ein Mehr an Kraft, das zu bewahren, was man hat. Alles Unwesentliche weggelassen, läßt sich der Gesellschaftsvertrag auf folgende Begriffe zurückführen: Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonte generale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen.35

Rousseau versteht seinen Sozialkontrakt als Vereinigung der partikularen Einzelwillen zu einem übergeordneten »Gesamtwillen« (volonte gdnerale).

For-

mal bestimmt er den Allgemeinwillen nicht als Summe der Einzelwillen, sondern als unfehlbaren, da auf das allgemeine Wohl gerichteten Willen. Im Unterschied dazu bezeichnet er den »Willen aller« als νοίοηίέ de tous, d . h . als

Summe jenes Einzelwillens, mit dem jeder Bürger als Privatperson seine eigenen Interessen verfolgt. Für Rousseau herrscht im Staat erst wahre Freiheit und Gleichheit, wenn der Gemeinwillen die Oberhand über die Privatinteressen gewinnt. Das ist nur möglich, wenn die Partikularinteressen sich durch die Abstimmung aller gegenseitig neutralisieren und sich das Gemeinwohl durchsetzt. Im Kontext dieses idealen Gesellschaftsvertrages, der den Menschen erst die kulturelle Weiterentwicklung ermöglicht, ohne jedoch seiner Natur zu widersprechen, beurteilt Rousseau auch die Gerechtigkeit positiv. Dieser Übergang vom Natur- zum Zivilstatus bringt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Verwandlung hervor: anstelle des Instinkts setzt er die Gerechtigkeit und verleiht seinen Handlungen jene moralische Verpflichtung, die ihnen vorher gefehlt hatte. Nun erst löst die Stimme der Pflicht den physischen Trieb und das Recht die 35

Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts« Anm. 11), Buch I, Kapitel 6.

(wie

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Gerechtigkeitskonzepte

Begierde ab. Der Mensch, der bisher nur an sich gedacht hatte, sieht sich gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu befragen, ehe er seinen Neigungen folgt. Obwohl er sich damit mehrerer Vorteile begibt, die ihm die Natur mitgegeben hatte, gewinnt er andere und größere. Seine Fähigkeiten entwickeln sich, seine Ideen erweitern sich, seine Gefühle läutern sich und seine Seele erhebt sich zu solcher Höhe, daß er [...] den Augenblick preisen müßte, der ihn für immer erlöst und aus einem dummen beschränkten Tier zu einem intelligenten Wesen und zu einem Menschen gemacht hat.36

Durch das Prinzip des allgemeinen Willens wird das Individuum ebenso überformt wie die Sozietät. Indem der Einzelne sich als Ganzes will, entsteht ein neuer Mensch, der eine neue Menschlichkeit hervorbringt. »Die Erzeugung dieses neuen Menschen ist eine Wiedererzeugung der ursprünglichen Menschlichkeit des Menschen. So ist die Wiedererzeugung eigentlich eine Wiedergeburt.« 37 Für Rousseau ist die Gerechtigkeit ein von der Gleichheit bzw. dem göttlichen Ordnungsprinzip abhängiges Phänomen. Innerhalb der wiedererschaffenen naturgemäßen, die Gleichheit der Menschen achtenden Gesellschaft erhält auch die Gerechtigkeit ihre richtige Bestimmung, während sie im Rahmen eines Gesellschaftsvertrages, der auf Ungleichheit basiert, nur als Ungerechtigkeit in Erscheinung treten kann. Im Kontext göttlicher Ordnung erachtet Rousseau selbst die Idiopragieformel für gerecht, die im Zusammenhang mit dem ungleichen Gesellschaftsvertrag für ihn nicht mehr ist als die Verteilungsformel für unrechtmäßig angeeignetes Eigentum. »Die Gerechtigkeit der Menschen besteht darin, jedem zu geben, was ihm gehört; die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, von jedem Rechenschaft zu fordern über das, was er ihm gegeben hat.« 38

1.2

Lebensphilosophie

Die Ursprünge der Lebensphilosophie reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. 39 Ähnlich wie die Philosophie der Romantik erhebt auch die Lebensphilosophie den Anspruch, Wissenschaft und sogar mehr als diese zu sein, wie Heinrich Rickert feststellt. Solche >überwissenschaftlichen< Stimmungen zeigen sich nicht zum erstenmal im Verlauf des deutschen Denkens. Man braucht, um von noch weiter zurückliegenden Zeiten abzusehen, sich nur an die romantische Philosophie zu erinnern, die sich in 36 37

38

39

Ebd., Kapitel 8. Arno Baruzzi: Einführung in die politische Philosophie der Neuzeit. 3. verbesserte, biographisch ergänzte und um ein Nachwort erweiterte Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, S. 205. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung (wie Anm. 9), IV, Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, S. 299. Vgl. Karl Albert: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukäcs. Freiburg, München: Albert 1995, S. 8 u. S. 17-29.

1.2 Lebensphilosophie

25

derselben Richtung bewegte, und man wird, falls man die Tatsachen kennt, auch nicht im Zweifel darüber sein, daß die neuesten Bestrebungen in einem geschichtlichen Zusammenhang mit der deutschen Romantik stehen. Das Verhältnis, das z . B . Nietzsche zu Schopenhauer oder Kierkegaard zu Schelling hatte, zeigt die Verbindung deutlich.40 Der Begriff Lebensphilosophie taucht erstmals bei Friedrich Schlegel in seiner im Wintersemester 1800/1801 gehaltenen Vorlesung »Über Transzendentalphilosophie« auf. Er entwirft darin eine »Philosophie der Philosophie«, die später von Dilthey rezipiert wird. 41 Schlegel versteht unter der »Philosophie des Lebens« eine Philosophie des geistigen inneren Lebens, die in Opposition zu der von ihm als abstrakt, schwerverständlich, starr, inhaltsleer und verstiegen empfundenen Universitätsphilosophie seiner Zeit steht. »Der Gegenstand der Philosophie ist also das innere geistige Leben, und zwar in seiner ganzen Fülle, nicht bloß diese oder jene einzelne Kraft desselben, in irgend einer einseitigen Richtung.« 4 2 In einer solcherart »lebendigen« Philosophie steht der Mensch im Zentrum. Dieses anthropologische Element der Lebensphilosophie hat später Max Scheler als Begründer der philosophischen Anthropologie aufgenommen. Auf Friedrich Schlegel geht auch das lebensphilosophische Interesse des 20. Jahrhunderts an der indischen Philosophie und Mystik zurück. Sein 1808 erschienenes Buch »Über die Sprache und Weisheit der Inder« 43 fand bereits bei den Romantikern große Beachtung. Auch seine Kritik an den bürgerlichen Moralvorstellungen, insbesondere den Vorstellungen von Liebe und Ehe, wird in der Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts erneut diskutiert. Schlegel kritisiert an den überkommenen Moralvorstellungen, dass sie das Leben behindern und die freien Lebenskräfte einschränken. Statt einer veräußerlichten Kultur plädiert er für mehr Ursprünglichkeit und Natürlichkeit auch innerhalb der menschlichen Beziehungen. 4 4 Im Gegensatz zur bürgerli40

41

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43

44

Heinrich Rickert: Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung (1933). In: Ders.: Philosophische Aufsätze. Hg. von Rainer A. Bast. Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 325-346, hier S. 325. Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlung zur Philosophie der Philosophie. 5., unveränd. Aufl. Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. Friedrich Schlegel: Kritische Neuausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd 10: Philosophie des Lebens und Philosophische Vorlesungen insb. über Philosophie der Sprache und des Wortes. München, Paderborn, Wien: Schöning 1969, Vorlesung 1, S. 7. Friedrich Schlegel: Kritische Neuausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd 8: Studien zur Philosophie und Theologie. München, Paderborn, Wien: Schöning 1975, Vorlesung 8, S. 105-433. Sein Bruder August Wilhelm Schlegel erhielt 1818 die erste Professur für Sanskrit in Bonn und wurde zum Begründer der indischen Philosophie in Deutschland. Die Kritik an der veräußerlichten Kultur und die Suche nach Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Lebensunmittelbarkeit, die wesentliche Aspekte der Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts sind, reichen bis in die Generation des Sturm und Drang zurück. Der junge Herder, Goethe und Jacobi wenden sich bereits gegen das in feste

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1 Philosophische

Gerechtigkeitskonzepte

chen Zweckehe strebt er eine gleichberechtigte Partnerschaft an, die nicht mehr auf Versorgungserwägungen, sondern primär auf Liebe basiert. Im lebensphilosophischen Ideal der Liebe erscheint das Leben als Einheit von Sinnlichkeit und Geistigkeit. Bereits bei Friedrich Schlegel deutet sich zudem die Erweiterung des Lebens- zum Seinsgedanken an, wenn er die Vollendung menschlichen Lebens in der Lebensweise der Pflanzen versinnbildlicht sieht. Die Pflanze ist für ihn die Metapher des schlechthin Seienden. Ihr Leben vollzieht sich als einfaches Dasein. Sie erscheint als ein Wesen, das nichts tut und nichts erstrebt, sondern dessen elementare Existenz einfach nur ins Sein gestellt ist. In vergleichbarer Weise verwendet Oswald Spengler die Pflanzenmetapher in seiner 1918 bis 1922 erschienenen »Morphologie der Weltgeschichte«, die eine enorme gesellschaftliche Wirkung erzielte. In seiner Konzeption eines in Stufen bestrittenen Aufstandes des Menschen gegen die Natur vergleicht er die letzte der vier Stufen mit der pflanzlichen Existenz. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie die Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen.45

Als der große Wegbereiter der so genannten Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts gilt Friedrich Nietzsche. »Er hat dem Begriff >Leben< eine spezifische metaphysische Dignität verliehen und zugleich seine biologistischen Aspekte hervorgehoben.«46 Unter Aufhebung der Zweiweltentheorie wird das diesseitige Leben zur einzig bestehenden schöpferischen Kraft erhoben. Es ist nicht mehr nur der pure Bios, sondern die irrationale, undurchschaubare Macht schlechthin. Das Leben ist der einzige, absolute Wert. Alle anderen Werte dienen allein seiner Bejahung und Steigerung. Auch wenn Wertethiker wie Heinrich Rickert kritisieren, dass das Leben sich an lebenstranszendierenden Werten und Normen orientieren müsse, geht Nietzsche davon aus, dass erst das aus den erstarrten Normsystemen befreite Leben die wahren Werte setzt 47 Das Leben ist die erste eine, irrationale, agnostische Größe, hinter der das Denken

45

46 47

Formen erstarrte Leben, gegen den Zwang gesellschaftlicher Konventionen und der erdrückenden Gelehrsamkeit eines wirklichkeitsfernen Wissens. Im Sinne Rousseaus setzen sie der ganzen Künstlichkeit eines veräußerlichten Daseins eine lebensnahe Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit entgegen. Vgl. Bollnow, Die Lebensphilosophie (wie Anm. 44), S. 3—4. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Nachwort von Anton Mirko Kotanek. 11. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993, S. 29. Meyer, Nietzsche als Paradigma der Moderne (wie Einleitung, Anm. 9), S. 151. Vgl. ebd., S. 151-152.

1.2

Lebensphilosophie

27

nicht zurückgehen kann.48 Wenn auch mit anderer Zielsetzung, übt Nietzsche ebenso wie Marx fundamentale Kritik an den Moralvorstellungen seiner Zeit. Seiner Ansicht nach konstruiert die Moral eine Wirklichkeit, um das soziale Verhalten steuern und die eigenen politischen Herrschaftsansprüche legitimieren zu können. Sie entwirft ein fiktives Gegenbild zur Erfahrungswelt und, indem sie die Illusion einer lebensfeindlichen Existenz suggeriert, hemmt sie das vitale Leben des Individuums und die schöpferischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft ebenso, wie sie die Gewalt und Kraft des Lebens verdeckt und konserviert.49 Auch Lebensphilosophen wie Bergson und Dilthey stimmen mit Nietzsches Vernunft- Moral- und Kulturkritik sowie seiner kritischen Haltung gegenüber den überkommenen Gerechtigkeitsvorstellungen überein, wobei die Zuordnung so unterschiedlicher Philosophen zur lebensphilosophischen Strömung ebenso problematisch ist wie die Definition der Lebensphilosophie überhaupt. Denn während beispielsweise Max Scheler die drei genannten als Begründer des lebensphilosophischen Gedankens versteht50, hat Nietzsche sich selbst nie ausdrücklich als Lebensphilosoph bezeichnet, und auch Heidegger, der diesen Zweig der Philosophie grundsätzlich ablehnt, betrachtet ihn nicht als zugehörig. Zudem werden die Lebensphilosophen aufgrund ihrer überwiegend ablehnenden Haltung gegenüber der Universitätsphilosophie und ihrer Nähe zur Literatur vielfach nicht einmal der Philosophie überhaupt zugerechnet. Ebenso wie Nietzsche, der gleichermaßen als Philosoph und Dichter gilt, haben die Lebensphilosophen insgesamt bewusst den Bezug zur Literatur gesucht, nicht zuletzt, weil die Dichtung mit der von ihnen präferierten Erkenntniskraft der Intuition arbeitet.51

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51

Vgl. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. 7., unveränd. Aufl. Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, S. 5. Vgl. Wiebrecht Ries: Nietzsche zur Einführung. 3., Überarb. Aufl. Hamburg: Junius 1987, S. 49-50. Vgl. Max Scheler: Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche - Dilthey Bergson. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. 4., durchges. Aufl. Hg. von Maria Scheler. Bern: Franke 1955, S. 311-339. Vgl. Albert, Lebensphilosophie (wie Anm. 39), S. 47-49. Vgl. zur Standortbestimmung Guyaus zwischen Dichtung und Philosophie Ernst Bergmann: Die Philosophie Guyaus. Leipzig: Klinkhardt 1912, S. 8. Vgl. Jean-Marie Guyau: Die Irreligion der Zukunft. Soziologische Studie. Leipzig: Klinkhardt 1910, S. 14. Für Wolfdietrich Rasch ist die Dichtung zwar nicht allein »Umsetzung der Lebensphilosophie«, aber die Dichter »gestalten aus einer geistigen Erfahrung, die derjenigen der Lebensphilosophen eng verwandt ist und auf der gleichen Tradition beruht«. (Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart: Metzler 1967, S. 1-48, hier S. 27-28.) Rückblickend hält Martin Lindner die Literatur sogar für »das eigentliche Medium, in dem die Lebensphilosophie konzipiert, durchgesetzt und weiterentwickelt wurde«. (Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der

28

1 Philosophische

Gerechtigkeitskonzepte

In jedem Dichter, welcher sich zu einem Lebensideal und einer Weltanschauung erhebt, obwohl diese nur in dem Zusammenhang der Bilder ausgedrückt ist, die er vor unsere Phantasie stellt, steckt nach der allgemeinen Überzeugung ein Stück Philosophie. Denn es ist darin ein Sichbewußtmachen des Lebens in seinem ganzen Zusammenhang, in seinem ganz universalen Sinn, gegründet darauf, jede Lebenserscheinung in gesteigerter Besonnenheit aufzunehmen. Daher wird der Philosoph geboren wie der Dichter; dem wahren Philosophen kommt wie dem wahren Dichter Genialität zu. 52 In der akademischen Lehre wird dieser Zeitabschnitt der Epoche als Niedergang der Philosophie verstanden, und die meisten Philosophen zwischen Hegel und Heidegger gelten als Epigonen oder Vorläufer, wenn sie nicht überhaupt in Vergessenheit geraten sind. 53 Daher hat nach einer Phase intensiver Beschäftigung zu Beginn des Jahrhunderts eine erneute kritische Auseinandersetzung mit der von Georg Lukäcs rundweg als irrationalistisch, präfaschistisch und imperialistisch charakterisierten Lebensphilosophie erst Ende des 20. Jahrhunderts begonnen. 54 Dass sich die nationalsozialistische Ideologie der lebensphilosophischen Denkfiguren bedienen konnte, liegt u. a. an ihrer Unbestimmtheit, die ebenso Ausdruck der allgemeinen Krise dieser Zeit wie Signum ihrer spezifischen Zielsetzung war, denn die Lebensphilosophen wollten mit ihrer (intuitiven) Denkweise primär einen Zugang zum Wesen der Dinge selbst erreichen, und dieser war aufgrund der von ihnen postulierten Evidenz zwar erlebbar, aber nicht diskutierbar.55 Entsprechend ließen sich auch die »elastischen Begriffe und emphatischen Themen Nietzsches [...] leicht den verschiedenartigen Interessen anpassen« 56 . Die konzeptionelle Unbestimmtheit der Lebensphilosophie manifestiert sich am deutlichsten in ihrem Oberbegriff »Leben«. Denn darunter können so unterschiedliche Ansätze wie

52

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55 56

Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 1.) Dilthey, Gesammelte Schriften. BdVIII: Weltanschauungslehre (wie Anm. 41), S. 32. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (wie Einleitung, Anm. 19), S. 13. Vgl. Georg Lukäcs: Werke. Bd 9: Die Zerstörung der Vernunft. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1962. Vgl. insbesondere Kapitel 4: Die Lebensphilosophie im imperialistischen Deutschland, S. 351-473. Ebenso wie Steven E. Aschheim hält Herbert Schnädelbach solche Etikettierungen für hinderlich, da sie den Blick auf philosophische Quellen verhindern, zumal selbst vom Neomarxismus seit Lukäcs und der Frankfurter Kritischen Theorie die gängigen kulturkritischen lebensphilosophischen Topoi transportiert werden, obwohl sie sich immer wieder deutlich von der >irrationalistischen< Lebensphilosophie abzugrenzen suchen. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (wie Einleitung, Anm. 19), S. 172-174. Vgl. Lindner, Leben in der Krise (wie Anm. 51), S. 14. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Einleitung, Anm. 20), S. 13.

1.2

Lebensphilosophie

29

Darwinismus und Mystik, Marxismus und Mystik oder Psychoanalyse und Marxismus zu einem homogenen Denksystem verbunden werden. 57 Die Kulturphilosophie Nietzsches wie die Metaphysik Guyaus, James' Pragmatismus und Bergsons evolutionistischen Monismus, den Irrationalismus von MüllerFreienfels ebenso wie die Metaphysik von Simmel bezeichnet man als »lebensphilosophische« Systembildungen. 58

»Leben ist das Grundwort der Epoche, ihr Zentralbegriff, vielleicht noch ausschließlicher geltend als der Begriff Vernunft fur die Aufklärungszeit oder der Begriff Natur für das spätere 18. Jahrhundert.« 59 Der Begriff »Leben« ist als solcher das per Definition nicht Definierbare, entsprechend variiert seine Bedeutung je nach Kontext, Schwerpunkt und philosophischer Zielsetzung. 60 Dennoch lassen sich unter dem für das Denken zentralen Lebensbegriff die ansonsten sehr unterschiedlichen lebensphilosophischen Theorien bündeln. 61 Im Allgemeinen ist »Leben« ein Oppositionsbegriff, mit dem sich die Lebensphilosophen in revolutionärer Frontstellung von anderen philosophischen Positionen abzugrenzen suchen. Sie distanzieren sich mit ihm insbesondere von einem mechanistischen, schematisierenden, an der Oberfläche haftenden, mathematisch-rationalistischen und statischen Denken sowie von Konventionen und der Vorstellung eines starren und verfestigten Seins. Stattdessen geben sie der Gesamtheit der seelischen Kräfte im Menschen, insbesondere den intuitiven, einmalig-erlebnismäßigen und dynamischen Kräften des Gefühls und der Leidenschaft den Vorrang gegenüber der einseitigen Vorherrschaft des Verstandes. 62 Gemeinsam ist ihnen »die Lehre vom Primat des Emotionalen, die Annahme eines irrationalen Erkenntnisvermögens, die Überzeugung von der Inferiorität des Intellektes und die Hinneigung zu einem dynamischspiritualistischen Monismus« 63 . Zumeist nehmen die verschiedenen lebensphilosophischen Theorien eine Mittelstellung zwischen metaphysikbejahenden und -verneinenden philosophischen Konzepten ein. 57 58

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Vgl. Lindner, Leben in der Krise (wie Anm. 51), S. 9. Hans Pfeil: Jean-Marie Guyau und die Philosophie des Lebens. Augsburg, Köln, Wien: Filser 1928, S. 158. Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900 (wie Anm. 51), S. 1-48, hier S. 17. Auch wenn laut Martin Lindner Raschs Diagnose inzwischen zum kulturgeschichtlichen Gemeinplatz geworden ist, so konnte sie dies nur werden, weil seine Studie, wie Monika Fick feststellt, glänzend und fur die Forschung bahnbrechend war. Vgl. Lindner, Leben in der Krise (wie Anm. 51), S. 1. Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993 (Studien zur deutschen Literatur 125), S. 14. Vgl. Lindner, Leben in der Krise (wie Anm. 51), S. 5. Vgl. zu diesen Gemeinsamkeiten Albert, Lebensphilosophie (wie Anm. 39), S. 9-14. Vgl. Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. II Teil: Neuzeit und Gegenwart. 9., verb. Aufl. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1976, S. 571. Vgl. auch Bollnow, Die Lebensphilosophie (wie Anm. 44), S. 4—5. Pfeil, Jean-Marie Guyau und die Philosophie des Lebens (wie Anm. 58), S. 159.

30

1 Philosophische

Gerechtigkeitskonzepte

Mit der metaphysikverneinenden Richtung teilt sie die Überzeugung, daß der Intellekt unfähig sei, das Ich erkennend zu überschreiten; mit der metaphysikbejahenden Richtung dagegen stimmt sie in dem Glauben an die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer metaphysischen Weltanschauung überein. 64

Gemeinsam ist den Lebensphilosophen auch der problematische Ausgangspunkt ihres Philosophierens: die Erfahrung des krisenhaften Auseinanderbrechens von kultureller Lebensform und Lebensinhalt sowie der Versuch einer Sinndeutung dieses Zusammenbruchs, 65 aber auch »die Sehnsucht nach einer neuen Befreiung, Vertiefung und Steigerung des Lebens selbst«66 sowie die Hoffnung auf eine »Umbildung der europäischen Weltanschauung«61, der es gelingt, das Gefängnis eines Verstandes zu verlassen, der einzig auf Mechanisches und Mechanisierbares fokussiert ist. Zielsetzung ist die Befreiung des Menschen aus der durch den Rationalismus bedingten Entfremdung, Beschränkung und Zersplitterung seiner Lebenswirklichkeit. Denn nach Ansicht der Lebensphilosophie ist die wissenschaftliche Rationalität Ursache allen Leidens in der Welt. Sie bewirkt den Verlust der Welt bzw. der Wirklichkeit, den die Menschen im konkreten Lebensvollzug einer technisierten Umwelt erleiden. Deshalb bedarf die Welt und mithin der Mensch einer Rechtfertigung, indem es ihm gelingt, trotz der »Entzauberung der Welt« 68 sich seiner Erfahrungswirklichkeit wieder zu versichern. Die Bedeutung des intensiven, sinnlichen Erlebens besteht daher nicht allein im Erkenntnisgewinn, sondern auch darin, sich seiner Selbst und der Welt zu vergewissern und die Lebensnot zu lindern.69 Darüber hinaus soll der Einzelne durch die kosmisch-mystische Einheitserfahrung nicht nur sich selbst erleben, sondern sich auch jenseits aller gesellschaftlicher Konventionen und Bindungen in einen erweiterten, übergeordneten und universal-zeitlosen Sinnzusammenhang gestellt fühlen. »In dieser Durchdringung seiner Erlebnisse, die verschiedene Niveaus der Spannung durchläuft, ist der Mensch >freischöpferischgeistige Welt< erhebt, 71

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Vgl. Hans-Joachim Lieber: Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1974, S. XII. Jean-Marie Guyau: [Philosophische Werke in Auswahl. In deutscher Sprache Hg. und eingel. von Ernst Bergmann. Bd II:] Sittlichkeit ohne »Pflicht«. Ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Schwarz. Mit einer für die deutsche Ausgabe verfaßten biographisch-kritischen Einleitung von A l f r e d F o u i l l e e und bisher unveröffentlichten Randbemerkungen F r i e d r i c h N i e t z s c h e s . Leipzig: Klinkhardt 1909, S. 277. Dieses Pathos der Entschlossenheit besitzt auch die Zukunftsvision Walther Rathenaus. »Die Opfer, welche die kommende Zeit verlangt, sind härter, der Dienst ist mühevoller, der äußere Lohn geringer als im sozialen Reiche, denn es wird mehr als Verleugnung materieller Werte verlangt. Über ihr steht Verleugnung unsrer liebsten Eitelkeiten, Schwächen, Laster und Passionen, über ihr steht die Pflicht zu Empfindungen und Taten, die wir heute theoretisch preisen und praktisch verhöhnen; über ihr steht die schwere Erkenntnis, daß wir nicht zum Glücke streben, sondern zur Erfüllung, daß wir nicht um unsertwillen leben, sondern um des Gottes willen.« (Walther Rathenau: Von kommenden Dingen [1917]. In: Hans Dieter Hellige, Ernst Schulin [Hg.]: Walther Rathenau-Gesamtausgabe. Bd II: Ernst Schulin [Hg.]: Hauptwerke und Gespräche. München: Müller; Heidelberg: Schneider 1977, S. 297497, hier S. 304.) Lieber, Kulturkritik und Lebensphilosophie (wie Anm. 71), S. 47. Vgl. Lindner, Leben in der Krise (wie Anm. 51), S. 54. Das bedeutet jedoch nicht, das Leben beherrschen zu wollen, denn die Lebensphilosophen streben im Allgemeinen eine Harmonie mit dem Leben an und wollen mit der Natur im Sinne Bergsons sympathisieren.

32

1 Philosophische

Gerechtigkeitskonzepte

sich festigt und erbaut, eine >Welttat twam asi!< (>Dieses bist du!Mensch,< kam es orgelnd aus der schluckenden Kehle, >Mensch . . . < . « (CW 637)

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des meuen Menschern

eigenen Tat und ihrer Bedeutung völlig fremd und unwissend gegenüber.103 Erst indem er Christian die Tat bekennt, dessen ganzes Wesen »atemberaubtes Lauschen wurde, Einsaugen und Umklammern jeder Silbe« (CW 692), beginnt er das Leid zu ahnen, dass er in die Welt gebracht hat. Die Geschehnisse wurden in seiner zurückwühlenden Vorstellung über die natürlichen Maße groß; sie waren in brandroten Dunst getaucht; er redete nicht so sehr von ihnen als sie zu ihm redeten und sich dadurch aufbauten, wie er sie bisher nicht erblickt. Indem er fortfuhr, veränderte sich seine Stimme, wurde hohler und verriet zum erstenmal eine innere Regung, wild aufziehende Urqual. (CW 692)

Obwohl er zu Christian gegangen ist, seine Tat enthüllt und eine Regung jener Urqual empfunden hat, deren Urheber er ist, begreift er noch nicht, hat noch den »Blick dumpfentsetzten Nichtbegreifens« (CW 699), bis er sich schließlich als »erbärmliche Kreatur« erkennt, als eine »geschlagene Kreatur«, die »in die Verdammnis hineinverdammt« (CW 731) ist. Christian vertritt Niels gegenüber nicht die öffentliche Gerichtsbarkeit, sondern in ihm ist das unwandelbare Weltgesetz inkarniert. Er richtet nicht, sondern gibt die Tat an den Täter zurück, womit er auch die Verantwortung für Schuld und Sühne an diesen zurückverweist. Für Niels, der nur die institutionalisierte Gerichtsbarkeit von Kirche und Staat kennt, ist das ein unerhörter Vorgang. »Niels Heinrich war es als drehe sich sein Gehirn mit einem knackenden Geräusch. [...] Ein Urstaunen war in seinen Mienen.« (CW 722) Erst durch die Rückgabe der Verantwortung tritt die Ordnung, »das ganze exakt arbeitende Gefüge, das ihm verderblich und feindselig erschienen war« (CW 723), aus dem Fokus seiner Aufmerksamkeit. Stattdessen sieht er nun erst eigentlich seine Tat: zunächst die Beschädigung der Maschine, die ihm »wie ein lebendiges Wesen und deshalb wie ein Feind« (CW 687) erschienen ist, und er erinnert »sich seines rachsüchtigen Verlangens mit einem Anflug von Scham« (CW 723). Erst über die Maschinenmetapher gewinnt er schließlich eine Ahnung von der Bedeutung seiner eigentlichen Tat, der Ermordung Ruths. Es ist Christians unsäglicher Schmerz, verbunden mit der Rückgabe von Schuld und Verantwortung sowie der Forderung eines Ausgleichs, die Niels schließlich sein eigenes und das von ihm verursachte Leid erkennen lassen. Durch Christian gespiegelt (vgl. CW 728) sieht er seine eigene Tat, das Leiden, das sie hervorgerufen hat und das aus Rache für sein eigenes Leiden entstanden ist.104 Durch ihn auf sich selbst zurückgeworfen, reicht Niels Chris103

104

»Ein Maul war die Finsternis, das seine Tat ausspie. Da konnte er einmal selber hören, was geschehen war.« (CW 689) »Leisten kann diesen Spiegeldienst nur der, der neben dem Zwang, der den Spiegelvorgang einleitet und aufrechterhält, zur Spiegelung nichts hinzufügt: nicht verdammen [...], nichts rächen, (eigene) Schuld nicht anlasten und umbuchen, [...].« (Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« [wie Einleitung, Anm. 1], S. 196.) Am Prinzip des Bösen, das in Vollkommenheit der Graf Maidanoff verkörpert, kann sich nichts spiegeln, denn es ist in höchstem Maße unkommunikativ, träge,

3.4 Gerechtigkeit als umfassende Güte

135

tian schließlich »die Hand der Tat, die Hand der Untat, die Hand der Schuld« (CW 733) als Zeichen seiner Erkenntnis und als Eingeständnis seiner Schuld. »Sich selbst entrissen durch Berührung, gab der Mörder seine Schuld dem Menschen, der ihn richtete, ohne zu verdammen. Er war frei. Und auch Christian war frei.« (CW 733) Wer in den Wesen lebt nach dem Mysterium der Demut, kann keines verdammen. »Wer über einen Menschen das Urteil spricht, hat es über sich gesprochen.« Wer sich vom Sünder sondert, geht in der Schuld von dannen. Der Heilige aber vermag an der Sünde eines Menschen als an seiner eigenen zu leiden. Mitleben allein ist Gerechtigkeit. Mitleben als Erkennen ist Gerechtigkeit. Mitleben als Sein ist Liebe. 105 Niels ist von jener Unwissenheit befreit, die ihn zur Tat getrieben hat, und Christian ist befreit von der Empfindung des Hasses, die wie alle Anhaftungen Leid verursacht. Damit hat er die letzte Probe allumfassender Güte, die Feindesliebe, bestanden. Er hat den Hass im Herzen besiegt und kann nun in »eine andre Art von Leben« (CW 745) übertreten. Christians Tod und seine Erneuerung im Zeichen der Leidensüberwindung verkörpern eine Ethik, die (Heil-) Mittel zu individueller Erlösung in selbst aufgebender Liebe ist und die sich nicht in einem (dogmatischen) System von Werken und Taten manifestiert, wie Christian seinem Vater erklärt. Ich will keine Werke tun, ich will nichts Gutes und Nützliches oder gar Großes tun, ich will hinein, hinauf, hinaus, hinunter; ich will nichts von mir wissen, ich bin mir gleichgültig, aber ich will alles von den Menschen wissen, denn die Menschen, siehst du, die Menschen, das ist das Geheimnisvolle, das Furchtbare, das, was quält und schreckt und leiden macht... Immer einen, immer zu einem, dann zum nächsten, dann zum dritten, und wissen, aufsperren jeden, das Leiden herausnehmen wie die Eingeweide aus einem Huhn ... Aber man kann unmöglich darüber reden, es ist zu grauenhaft. (CW 745) 106

taub und egozentrisch (vgl. CW216). Ähnlich wie im Verständnis Alt-Ägyptens werden Trägheit und Taubheit, die Verweigerung der Kommunikation mit Mensch und Kosmos als Antagonisten der Gerechtigkeit definiert. Deshalb hat Christian Dietrich geschlagen, den tauben und stummen Bruder von Amadeus Voß. »>Ich glaube, ich habe ihn gehaßt,< antwortete Christian sinnend. >Ich glaube, ich habe ihn gehaßt, weil er nicht hören und nicht sprechen konnte. Ich hielt es für Bosheit^« (CW 148) Im Gegensatz dazu ist die Fähigkeit des intensiven Zuhörens Kennzeichen der Gerechtigkeit bzw. des gerechten Menschens (vgl. CW 692). Vgl. exemplarisch auch die Beschreibung Melchior Ghisels in Der Fall Maurizius, das Abbild Moritz Heimanns, der für Wassermann der Mensch der »vollendeten Cortesia« ist. (Wassermann, Selbstbetrachtungen [wie Einleitung, Anm. 3], S. 191; vgl. ebd., S. 184). Vgl. Assmann, Ma'at (wie Kap. 1, Anm. 5), S. 61-85. 105 Buber, Vom Leben der Chassidim (wie Anm. 92), S. 42. 106 Ygj 689. Nicht praktische Tätigkeit oder praktische Pläne und Vorstellungen sind für Christian relevant, »sondern Betätigung mit Menschen« (CW 562). »Nichthandeln, jedenfalls aber Vermeidung jedes rationalen Zweckhandelns (>Handeln mit einem Zieh) als der gefährlichsten Form der Verweltlichung emp-

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschern

In der Nachfolge der buddhistischen Ethik verkörpert Christian den >neuen Menschern im Sinne der von Bergson beschriebenen offenen Moral, die auf einem inneren moralischen Antrieb basiert, die den Hass ausschließt und essenziell Liebe ist. Christian hat die grundlegende Wandlung vom materiellen zum geistigen Leben vollzogen und entspricht damit dem »grand homme de bien«, der eins ist mit dem sittlichen Lebensstrom und daher von sich heraus weiß, was gut und böse, gerecht und ungerecht ist. Er besitzt jene universale Sympathie, zu der »so viel Aufmerksamkeit des Herzens« gehört, »daß der, der sie empfindet, ihren Namen verschweigt, weil er zu gemein geworden ist« (CW 483). Frei von allen Anhaftungen hat Christian durch den Prozess der >Neuwerdung< das Maximum der von Bergson beschriebenen Freiheits- und Spannungsgrade des Bewusstseins erlangt. Wo man meinen Namen nennt oder unter welchen Umständen, gesprochen, geschrieben oder gedruckt, berührt mich nicht im mindesten. Kompromittiert werden kann ich in gar keiner Weise. Niemand hat durch seine Meinung oder durch sein persönliches Verhältnis Einfluß auf mich, auch die nicht, die mir früher am nächsten gestanden sind. (CW 631)

Ebenso wie die buddhistische Lehre davon ausgeht, dass es zur vollkommenen Erfassung der Tugend der Meditation bedarf, die als ein geistiger Prozess Anstrengung, Achtsamkeit und Sammlung erfordert, gibt es auch für Bergson verschiedene Intensitätsgrade des Bewusstseins; von ihnen hat Christian jene Höhe erreicht, die nur Ausnahmeindividuen erlangen. Er ist der irdischen Sphäre entrückt, was selbst Frau Wahnschaffe nicht verborgen bleibt. Da »sah sie ihn an und sah, daß er wohl entrückt war, aber nicht der Sphäre, die sie haßte, mied und für ihn fürchtete, sondern ihr, ihr selbst, ihrer Welt, seiner Welt, sich selbst. Sie sah einen fast Unbekannten in einem geistergleichen Schimmer« (CW 488, vgl. CW 570, 622-623). Christian hat die von Nietzsche beschriebene moralische Metaebene jenseits von gut und böse erreicht. Er ist zu jenem Vorbild geworden, das nach Ansicht Bergsons die Menschheit zu einem >höheren Leben< fuhren wird, und so wie Bergson davon ausgeht, dass man die Liebe zum Nächsten nicht durch Predigen, sondern einzig durch Vorleben erreicht, ist Christian schweigsam, im Umgang mit der Sprache vielfach unbeholfen oder sogar unfähig. 107 Hier mischen sich Sprachkritik der Jahrhundertwende und sprachkritische Haltung als Topos der Heiligenlegende mit der religiösen Rede vom Göttlichen, wonach wahre Erkenntnis und Weisheit allein jenseits der sprachlichen Ebene existieren und das wahrhaft Göttliche sprachlich nicht zu erfassen ist.

fiehlt der alte Buddhismus als Vorbedingung der Erhaltung des Gnadenstandes.« (Weber, Grundriss der Sozialökonomik [wie Anm. 48], S. 313.) 107 Yg[ m den zahlreichen Hinweisen der für die Literatur der Jahrhundertwende typischen Sprachkritik und ihrem Topos der Schreib- und Sprachunfähigkeit CW 281-284, 350, 539, 566-567, 574, 650, 745 u. ö.

3.5 Gerechtigkeit als soziales

Phänomen

137

Denn das mystische Wissen ist, jemehr es den spezifischen Charakter eines solchen hat, desto inkommunikabler: daß es t r o t z d e m als Wissen auftritt, gibt ihm gerade seinen spezifischen Charakter. Es ist keine neue Erkenntnis irgendwelcher Tatsachen oder Lehrsätze, sondern das Erfassen eines einheitlichen Sinnes der Welt und in dieser Wortbedeutung [...] ein p r a k t i s c h e s Wissen. Seinem zentralen Wesen nach ist es vielmehr ein »Haben«, von dem aus jene praktische Neuorientierung zur Welt, unter Umständen auch neue kommunikable »Erkenntnisse« gewonnen werden. Diese Erkenntnisse aber sind Erkenntnisse von Werten und Unwerten innerhalb der Welt. 108

Voß stellt polemisch fest: »Predigen ist ja seine Sache nicht, er ist stumm, und das ist ein Segen.« (CW 539) »Er denkt vor sich hin; lächelt, schweigt« (CW 402), während Voß mit »fanatischer Rechthaberei« (CW 748) predigt, dass »ein Pfarrer könnte neidisch werden« (CW 402). Im Gegensatz zur Beredsamkeit der Vertreter kirchlicher und gesellschaftlicher Scheinmoral ist das Schweigen Signum des aufrichtigen Ethos. Entsprechend sieht Botho von Thüngen in Christian den Vertreter der wahren Werte und zwar gerade deshalb, weil er sie nicht rational begründet oder predigt, sondern sie wie Buddha oder Franziskus lebt. »Sie grübeln nicht und geben sich keine Rechenschaft; das ist das Unfaßliche. Dennoch weiß ich keinen andern, den ich besser als mein eignes Gewissen fragen könnte: Habe ich recht gehandelt?« (CW 4 4 2 443) Christian ist durch seine >Neuwerdung< Teil jener »idealen Gemeinschaft« geworden, wie sie bereits Augustinus konzipiert hat und wie sie sich im lebensphilosophischen Kontext auf vielfaltige Weise als Gemeinschaft >höherer Wesen< wiederfindet: bei Nietzsche als überhistorische »GenialenRepublik« 109 , bei Bergson als Utopie der »offenen Gesellschaft« oder, wie im Kontext politischer Religiosität bei Rathenau, in der Utopie der >SehendGewordenenFundamentalfehlers< (vgl. CW 742) zugesprochen wird. Entsprechend der rousseausschen Analyse sieht Geheimrat Wahnschaffe nur die Beschwernis seines Lebens. Da er gelebt hat »wie der Bergmann im Stollen« (CW 176), glaubt er, wie der Bauer ein Anrecht auf den Ertrag und den Boden zu besitzen (vgl. CW 176— 177). »Pflicht« und »Treue gegen die Sache«, seine erlittenen »Erschütterung, Leiden und Entbehrungen« (CW 176) lassen ihn das eigene Unrecht verkennen bzw. ignorieren. Wie jedoch das Leben der von ihm als »friedliche Lohnsklaven« (CW 176) bezeichneten Arbeiter aussieht, wie das Verhältnis zwischen Besitzlosen und Besitzenden und die daraus resultierende generationenalte Kluft zwischen Christian und der verelendeten Bevölkerung, beschreibt Amadeus Voß. Du kennst sie nicht. Du weißt nicht, was sie entbehrt haben, seit Generationen entbehren mußten und wie sie dich dafür hassen. [...] Zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre lang arbeiten sie, um nur Atem zu haben und den Magen zu füllen, und sie sollen dir glauben, daß du nichts weiter verlangst als Atem und Speise, du, für den sie bisher namenlose Tragtiere waren, für den sie ihre Söhne in die Fabriken und in die Bergwerke, ihre Töchter auf die Straße und in die Krankenhäuser schickten, für den sie ihre Lungen mit Quecksilber und Eisenstaub zerstören ließen, für den sie sich geopfert haben zu Hunderttausenden in den täglichen Schlachten, die das Proletariat dem Kapital liefert, geopfert als Heizer und Maurer, als Weber und Schmiede, als Glasbläser und Maschinenbauer? Was tust du denn? Mit welchen Seelenkräften rechnest du denn? Mit welchem Zeitverlauf? (CW 406)

Es wird hier jene moderne Gesellschaft dargestellt, die laut Rousseau aus Arbeitsteilung und Privateigentum entstanden ist, eine mechanisierte Gesellschaft, in der aus Ungleichheit und Konkurrenz, Hass, Neid, Rache und Krieg folgen, in welcher der Mensch, frei geboren, überall in Ketten liegt 111 und in der er von sich selbst entfremdet, Sklave einer Scheinmoral ist, die einzig dazu dient, den ungerechten Gesellschaftsvertrag aufrechtzuerhalten, der nicht zum Schutz der Armen geschaffen wurde, sondern zur Wahrung von Besitz und Privilegien der Reichen. Dass die Gesetze ein Täuschungsmanöver der Mächtigen sind und die hypothetische Aufhebung des Kriegszustandes einzig der Sicherang ihrer Privilegien dient, wird im Roman nicht nur Christian deutlich, auch Randolph von Stettner muss erkennen, dass die »Summe von Privilegien, 111

Vgl. Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts« (wie Kapitel 1, Anm. 11), Buch I, Kapitel 1.

3.5 Gerechtigkeit als soziales Phänomen

139

die zusammen eine hohe soziale Rangstufe« (CW 321) ausmachen, ungerecht sind, denn sie stehen weder im Verhältnis zu der erbrachten Leistung, noch sind sie moralisch zu rechtfertigen oder persönlich zu verantworten. Der Preis, den er als Teil der kapitalistisch-mechanistischen Gesellschaft und ihrer Moral zu zahlen hat, ist der vollkommene Verzicht auf Persönlichkeit (vgl. C W 321) und ein Leben, das er als »fossile Versteinerung« (CW 322) bezeichnet. Doch während Stettner eine Position zwischen Gehorchen und Befehlen einnimmt, hat die besitzlose Masse »ausschließlich zu gehorchen« (CW 321). Der gesellschaftlichen Maschinerie, die einzig auf dem Täuschungsmanöver der Besitzenden basiert und mit der erzwungenen »unbegreiflichen, erschütternden Unterwerfung der Masse« (CW 321) rechnet, erklärt Niels Heinrich den Krieg. Als Kampfansage gegen die ungerechte Ordnung verkündet er den von Hobbes beschriebenen Naturzustand, in dem alle Menschen gleich sind und daher jeder das Recht auf alles besitzt, was seiner Selbsterhaltung dient. Wie Hobbes geht er von einer negativen Anthropologie aus, wonach der Mensch ein ungeselliges, primär an Selbsterhaltung, Ehr- und Machtstreben interessiertes Wesen ist. Daher kommt es im Naturzustand, der von wechselseitigem Misstrauen und Konkurrenz geprägt ist, unweigerlich zum »Krieg, den jeder Einzelne gegen jeden führt« 1 1 2 . »Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen«xu, wenn er allein seinen eigenen egoistischen Interessen und maßlosen Begierden ausgesetzt ist. Doch während bei Hobbes durch die Staatsgründung Volk, Staat und Herrscher im Sinnbild des mythischen Friedensheros Leviathan verschmelzen, hat die politische und gesellschaftliche Ordnung für Niels eine »Schandenwelt« (CW 695) geschaffen, zu deren Verlierern er gehört. Wassermann greift in seiner negativen Darstellung der institutionalisierten Form der Gerechtigkeit auf die rousseausche Zivilisationskritik zurück, die in ihrer Stellungnahme gegen einen unkritischen Kultur- und Zivilisationsoptimismus, gegen Wissenschafts-, Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit mit der Haltung der Moderne übereinstimmt. In ihrer ganzen radikalen Negation wird diese Haltung von Niels Heinrich vertreten. Er kenne bloß Lügner und Gauner, erbärmliche Narren, Geizhälse und Streber; er habe die gemeinen Hunde kriechen sehen, wenn sie hochkommen wollten, nach oben kriechen und nach unten kläffen. Er kenne die Reichen mit ihren satten, faulen Redensarten und die Armen mit ihrer niederträchtigen Geduld. Er kenne die Bestechlichen und die Nackensteifen, die Prahler und die Düsterlinge, die Flaumacher und die Blümeranten, die Diebe und die Fälscher, die Weiberhelden und die Kopfhänger, die Dirnen und ihre Zuhälter, Kupplerinnen und junge Herren, die Bürger112

113

Thomas Hobbes: Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates. I. Der Mensch. II. Der Staat. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965 (Philosophie der Neuzeit; 6), XIII, S. 99 Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. (Elemente der Philosophie II/III). Eingeleitet und hg. von Günter Gawlick. Nachdruck der 2., verb. Auf. mit ergänztem Literaturverzeichnis. Hamburg: Meiner 1977 (Philosophische Bibliothek; 158), S. 59.

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschern

madams mit ihrer Scheinheiligkeit und ihrer Geilheit, den Neid da und die Heuchelei dort, und die Maskeraden und das Getue, er kenne alles, und ihm imponiere nichts, und er glaube an nichts außer an den Gestank und an den Jammer und an die Habsucht und an die Freßsucht und an die Tücke und an die Bosheit und an die Wollust. Eine Schandenwelt sei es, und hin werden müsse sie, und wer zu solcher Einsicht mal gelangt sei, der müsse den letzten Schritt tun, den allerletzten, wo die Verzweiflung und der Hohn durch sich selber erstickt werde, wo es nicht weitergehe, wo man der stumpfen Hautwand den Engel des Jüngsten Tages pochen höre, wo das Licht nicht mehr hindringe und auch die Nacht nicht mehr, [...]. (CW 695-696)

Laut Rousseau ist es »dem Reichen« gelungen, Gesetze zu seinen Gunsten zu entwerfen und auf diese Weise »aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maxime einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht ihm widrig war« 114 . Dass die Gesetze einzig dem Schutz der Besitzenden dienen, hat auch Niels Heinrich durchschaut. Verbrechen kenne er nicht. Das sei von den Leuten ausgedacht, die die Soldaten und die Gerichte dafür bezahlten, ihnen den Willen zu tun; die, wenn sie es für nützlich befänden, ebendie Verbrechen selber begingen, im Namen des Staates, der Kirche, des Fortschritts oder der Freiheit. (CW 694)

Auf der sophistischen Annahme, dass die herrschende Moral immer die Moral bestimmter gesellschaftlicher Interessengruppen ist, basiert auch Nietzsches Moralkritik. Für ihn besteht die Perfidie der gesellschaftlich sanktionierten Moral darin, dass sie eine Wirklichkeit konstruiert, die einzig dazu dient, das soziale Verhalten in ihrem Sinne steuern zu können. Die ethische Auffassung und den Umgang der Besitzenden mit dieser Moral schildert Wassermann anhand verschiedener Romanfiguren. Während der Geheimrat Wahnschaffe sich ihrem Diktat mit allen Konsequenzen unterwirft, weil er von ihrer Rechtmäßigkeit überzeugt ist (vgl. CW 157), verkörpert Crammon den Vertreter dieser (Schein-)Moral in ihrer ganzen religiösen Hypokrisie. Denn obwohl Crammon weder religiösen Respekt noch persönlichen Glauben besitzt, seine eigentlichen »Altäre«, »Erbauungsschriften«, »Reliquien« und »stille Andachten« (CW 94) der Genuss sind, er sich in blasphemischer Weise über die jüdische Messiashoffnung lächerlich macht (vgl. CW 134-135) und stattdessen dem Gott Dionysos huldigt (vgl. CW 158), bezeichnet er die Unterschiede der Stände als »gottgewollte Institution« (CW 338): »Die Hasen, die gejagt werden, und die Hunde, die jagen, das ist zweierlei Kreatur. Ich begreife alle Menschlichkeiten, aber nichts, was gegen die göttliche Ordnung geht.« (CW 285) Ebenso wie der Sophist Kallikles geht Crammon von der natürlichen Ungleichheit der Menschen aus. Bei Piaton vertritt Kallikles die These, »daß das Gerechte so bestimmt ist, daß der Bessere über den Schlechteren

114

Rousseau, »Discours sur l'inegalite« (wie Kapitel 1, Anm. 13), Teil II; Band III, S. 177.

3.5 Gerechtigkeit als soziales Phänomen

141

herrsche und mehr habe« 1 1 5 . Dementsprechend ist es für Crammon nur folgerichtig, wenn die Institutionen nicht den Schwachen dienen, indem sie eine egalitäre und, was hier implizit anklingt, gerechtere Gesellschaft anstreben, sondern dem Schutz der gesellschaftlich Privilegierten. Seiner Ansicht nach soll die Obrigkeit »ihre Pflicht tun, daß es uns wohlergehe auf Erden, mehr wird nicht von ihr verlangt« (CW 133). Auch für Frau Wahnschaffe bedeutet die Ungleichheit den »Hochstand einer Entwicklung« (CW 156), insofern gibt sie Amadeus Voß Recht, der feststellt: »Die Unteren müssen verbluten, die Oberen finden es in der Ordnung so.« (CW 234) Für Voß ist denn auch die Familie, die wesentliche Institution, die zur Aufrechterhaltung dieser (Schein-) Moral beiträgt. »Sie ist der Grundpfeiler und der Schlußstein tausendjähriger Schichtungen und Kristallisation. Wer ihr trotzt, ist ein Geächteter.« (CW 746) Deshalb wohl auch Crammons Festhalten an der Institution von Ehe und Familie, obwohl er sie im Grunde verabscheut (vgl. CW 475). »Die Ehe ist ein Sakrament. [...] Den von der Kirche gesegneten Bund zu brechen und landflüchtig zu werden, halte ich für falsch. Es ist gottlos.« (CW 477) Obwohl sie ihre inhaltliche Bedeutung längst eingebüßt haben, dienen die überkommenen religiösen und sozialen Institutionen dem Schutz der Privilegien. Deshalb sind sie für Crammon gesellschaftlich unentbehrlich. 116 Diese inhaltliche und formale Diskrepanz spiegelt die ganze Brüchigkeit der bürgerlichen Gesellschaft wider. Darüber hinaus wird durch den Verweis auf eine göttliche Ordnung ein überzeitlicher Geltungsanspruch suggeriert, der nach Nietzsches popularisiertem Diktum vom Tod Gottes längst hinfallig geworden ist. Der Verlust transzendentaler Absicherung jeglicher Moral wird nicht allein durch Crammons rein oberflächliche Bezugnahme auf eine göttliche Herrschaft deutlich, auch Michael empfindet die Angst des von Gott emanzipierten Menschen angesichts einer vollkommen entgrenzten Wirklichkeit, die weder mit dem Bewusstsein zu begreifen noch mittels Sprache zu erfassen ist. »Das Wirkliche ist wie ein tiefer Brunnen. Ein tiefes, schwarzes Loch. [...] Es ist was Fremdes. [...] Früher, als uns die Frömmigkeit gelehrt wurde, war es besser, da konnte man beten. Freilich, Beten war auch nur die pure Angst, aber es erleichterte einen doch.« (CW 650-651)

Während bei Michael die Erkenntnis der metaphysischen Einsamkeit des Menschen Angst erzeugt, führt das Wissen um die Nichtexistenz einer göttlichen Richterinstanz bei Niels zum Hass auf diejenigen, die die Existenz einer solchen behaupten, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen, und während Michael an der Religion leidet, verachtet Niels das »von Lehrern und Pfaffen vorgegaukelte Larifari« (CW 695). Das System des schlechten Gewissens, das Michael quält, hat er durchschaut: »man sei beschwatzt; man sei von Kindesbeinen an heillos beschwatzt. Da habe es immer geheißen Sünde und Unrecht, 115 116

Piaton, Gorgias 483d 7. Vgl. zu weiteren religiösen Lippenbekenntnissen Crammons auch CW 377, 475.

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des meuen Menschen
tief vergiften< (vgl. CW 152). Seine Lebensgeschichte dokumentiert, wohin der soziale Vergleich fuhrt, der laut Rousseau auf den ungleichen sozialen Verhältnissen in Kombination mit Verstand und Reflexivität basiert, nämlich zu Hass, Eifersucht und Habgier. Bemüht, nach den religiösen und sozialen Grundsätzen, die man ihm eingeprägt hat, zu leben, wird Voß zum Denunzianten seiner Klasse zum Handlanger der Besitzenden (vgl. CW 153-154). Ja, leibhaftig ist das Übel und bloß das Übel; die Ungerechtigkeit, die Dummheit, die Lüge, alles, wovor einem graut bis in die Nieren, und was man selber werden muß, wenn man nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren ist. (CW 154)

Aufgerieben zwischen dem Willen, aus seiner Deklassierung hinauszukommen, und der Verinnerlichung der religiösen (Schein-)Moral, gibt er schließlich auf und fügt sich dem Primat des Utilitarismus. »Ich habe aufgehört, mich für Phantome zu opfern. Ich glaube nicht mehr an Ideen und an den Sieg von Ideen. [...] Ich habe paktiert. [...] Es ist die Frucht gewonnener Einsicht in das Nützliche, das Tüchtige, in das, was den Menschen praktisch und greifbar hilft.« (CW 747) Voß trägt die Kluft der sozialen Ungleichheit in seinem Inneren, weshalb durch den äußeren Ausgleich die Ungerechtigkeit nicht behoben werden kann. Mitten im Luxus und Überfluß, in die er durch einen märchenhaften Glückswechsel versetzt war, litt er unter der Erinnerung an seine frühere Armut, spürte er noch, wie sie ihn geknebelt und gewürgt hatte, bäumte sich noch gegen sie auf. Er griff nicht hin, Schloß die Augen, schauderte vor Begierde und Gewissensqual. (CW 306, vgl. CW 205-207)

Assmann, Bernd Janowski, Michael Welker (Hg.): Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen. München: Fink 1998, S. 97-140.

3.5 Gerechtigkeit als soziales Phänomen

145

Weil Voß die »Krankheit und die Wunde« (CW 388, vgl. CW 234) in sich trägt, vermag er Christian, den von ihm ersehnten »einen M e n s c h e n « , der in seinem Lebensumfeld die soziale Ungleichheit innerlich wie äußerlich überwunden hat, nicht zu »erleben« (CW 155). Wie Voß zerbricht auch Karen an der sozialen Kluft, denn wie fast alle Figuren des Romans sind Voß und Karen das Produkt der von Nietzsche beschriebenen zivilisatorischen Mnemotechnik. Unterstützt von der gesellschaftlichen Scheinmoral, sind ihnen ebenso wie Michael mittels religiöser Doktrin ein schlechtes Gewissen und eine Schuld eingebrannt worden, die Christian als »Wahn« (vgl. C W 1 8 5 , 2 6 2 , 6 5 3 , 7 3 1 ) entlarvt. Innerhalb dieses Systems sozialer Ungleichheit gibt es keinen Ausweg: Entweder die Besitzlosen erkennen die soziale und religiöse Ordnung an und tragen den Makel der Deklassierten, der »Niedrigkeit« (CW 234) und »Lächerlichkeit« (CW 233) wie Voß und Karen in sich, oder sie zerstören die Ordnung wie Niels, der mit der Ermordung Ruths das Heiligste und Reinste vermeintlich dieser Ordnung vernichtet zu haben glaubte. Es ist ein Teufelskreis, indem »diejenigen, die ohnehin die Opfer sind, auch noch die Strafe erleiden müssen« (CW 185). In einer solchen Welt kann es keine Gerechtigkeit geben. Ebenso wie Rousseau davon ausgeht, dass die Gerechtigkeit innerhalb eines auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftssystems nur als Ungerechtigkeit in Erscheinung treten kann, als göttliches Ordnungsprinzip hingegen nur in einer Gesellschaft, die die natürliche Gleichheit der Menschen achtet, differenziert auch Wassermann zwischen der (Schein-)Gerechtigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen und der von Christian verkörperten Gerechtigkeit jenseits dieser »Wahnwelt«. An die institutionalisierte Gerechtigkeit kann Christian nicht glauben: »Sieh mal, Mutter: die Welt, wie ich sie nach und nach kennengelernt habe, ich meine die von Menschen stammenden Einrichtungen, darin liegt ein großes, dem gewöhnlichen Gedankengang unfaßbares Unrecht.« (CW 487) Als Teil dieser gesellschaftlichen Struktur und als Nutznießer der Scheinmoral und ihrer Gesetze und Normen fühlt Christian sich mitschuldig. Er profitiert von einem Besitz, den er empfindet »wie etwas, was mir nicht gehört« (CW 419). Da er in den Genuss eines seinem Empfinden nach widerrechtlich angeeigneten Besitzes gekommen ist, schämt er sich angesichts einer vermeintlichen Großzügigkeit, die fur ihn essenziell Rückgabe fremden Allgemeingutes ist (vgl. CW 4 2 9 , 4 2 2 , 427), zumal ihm selbst im Laufe der Generationen jeglicher Maßstab für jene Ordnung abhanden gekommen ist, die nach Ansicht Rousseaus darin besteht, dass die Bedürfnisse einfach und mäßig sind und die Tätigkeit allein der Befriedigung elementarer Bedürfnisse dient und nicht dem Erwerb von Luxus- und Statusgütern (vgl. CW 426). Christian möchte innerhalb der Generationenschuld für Entlastung sorgen, weshalb er mit den Grundsätzen von Besitz und Erwerb und den Anschauungen seiner Klasse brechen muss. Dazu gehören für ihn auch die von seinem Vater gegründeten »Wohlfahrtseinrichtungen« (CW 179). Sie sind »zu gering«

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschern

(CW 430-431), weil sie die soziale Ungerechtigkeit nicht abschaffen, den »Fundamentalfehler in der ganzen Lebenskonstruktion« (CW 742) nicht beheben, sondern lediglich die Symptome lindern, zumal die Besitzlosen als Teil des Systems ebenfalls nach Besitz streben und daher durch Umverteilung die Besitzgier nicht zu beheben ist. 126 Auf gesellschaftlicher Ebene kann fur ihn einzig Gleichheit die Ungerechtigkeit tilgen. Iwan Becker macht den egalitären Anspruch am humanum fest und verknüpft ihn mit der Forderung nach Mindeststandards. Christian erklärt er: »Die Kinder, jedes ist ein Mensch wie sie und ich, jedes hat genau dieselbe Anwartschaft auf Zufriedenheit, auf Brot, auf ruhigen Schlaf und auf gesunde Luft wie Sie und Herr Crammon und zahllose andre, die gar nie darüber nachdenken, daß sie im Besitz all dieser Dinge sind.« (CW 120-121)

Gemäß buddhistischer Lehre ist für Christian das Gleichheitsgebot in der Leidensfahigkeit aller Menschen begründet. Meine Ansicht ist, daß alle Menschen gleich tief empfinden, daß es keine Verschiedenheit in der Schmerzempfindlichkeit gibt. Nur das Bewußtsein davon ist verschieden. Es ist sozusagen kein Unterschied in der Buchführung, es ist ein Unterschied in der Abrechnung. (CW 722)

Darüber hinaus vertritt er gegenüber seinem Vater das Gebot generationeller Gleichheit. »Sohn bin ich, du bist Vater. Heißt das Knecht und Herr sein?« (CW 744) Während Rousseau ein gerechtes Gesellschaftsmodell entwickelt, bleibt bei Wassermann die Frage nach der Möglichkeit der Realisierung einer gerechten Gesellschaft ebenso offen wie eine konkrete Ausgestaltung der Gleichheitsforderungen, denn auch wenn auf sozialer Ebene die Ungerechtigkeit ganz allgemein als Mangel an Möglichkeiten bestimmter Bevölkerungsgruppen, gut zu leben, kritisiert wird, 127 zielen die Gerechtigkeitsforderungen nicht auf die bestehende, sondern auf eine utopische Gemeinschaft, zudem sind sie nicht primär materialistisch motiviert, sondern geistig. Entsprechend wird zwar die Diskrepanz zwischen Arm und Reich angeprangert und das Elend der proletarischen Stadtbevölkerung geschildert, es geht dabei jedoch weniger um Verteilungsgerechtigkeit als um das Heil der Menschen, welches wahrhaft nur in der >neuen Gemeinschaft< verwirklicht werden kann. Die Realisierung der gerechten Gesellschaft wird an einen fernen Horizont verwiesen, was der Ansicht von Augustinus entspricht, wonach Rechtsgleichheit wahrhaft nur in einem Staat existiert, in dem Gerechtigkeit herrscht, was jedoch in einem von Menschen geschaffenen System niemals der Fall sein kann. Denn wo »keine wahre Gerechtigkeit ist, kann es auch keine durch Rechtsgleichheit verbundene Menschengemeinschaft geben [...]. Wo keine Gerechtigkeit, da auch kein 126 Yg[ z u (jgjj negativen bzw. ungenügenden Folgen von Christians Almosengabe CW 126-129 u. CW 132-133. 127 Vgl. Krebs, Einleitung (wie Kapitel 1, Anm. 4), hier S. 10.

3.5 Gerechtigkeit als soziales

Phänomen

147

Staat.« 128 In seinem prominenten Vergleich der Staaten mit Räuberbanden, aber auch in seiner Auseinandersetzung mit der Staatsdefinition Ciceros steigert Augustinus die innere Distanz eines stoischen Weisen, der Kosmopolit und nicht mehr Bürger eines Staates ist, zur ersten prinzipiellen Staatskritik in der Geschichte des politischen Denkens. 129 In seiner Kritik der institutionellen Gerechtigkeit entspricht er den Strömungen der Moderne, die in der Erneuerung des Menschen und der Schaffung einer anderen, als wahr definierten Gemeinschaft die einzige Möglichkeit sehen, Gerechtigkeit herzustellen. Ohne die religiösen Inhalte zu übernehmen, basiert auch Wassermanns Konzeption auf der Vorstellung einer quasireligiösen idealen Gemeinschaft, die auf Liebe und Altruismus sowie auf dem biologistischen Evolutionsgedanken einer geistigen Perfektibilisierung basiert. Ist es fur Guyau die Utopie einer metaphysischen Sozialität, so ist es für Bergson die Vorstellung einer »mystischen« Gesellschaft, die von Ausnahmeindividuen gegründet wird, wie sie Christian, aber auch Ruth verkörpern. Die Existenz der Gerechtigkeit ist untrennbar an einen »Übermenschen« gebunden, der die ethische Metaebene besitzt, von der aus er jenseits von gut und böse, wahrer und scheinbarer Welt ein neues Sein begründet. Gemeinsam ist diesen Utopien der Moderne, dass sie die Gerechtigkeit nicht mehr fraglos an ein göttliches Ordnungsprinzip rückbinden können, weshalb auch für Christian keine göttliche Instanz mehr existiert, die über das Handeln der Menschen hinweg für Gerechtigkeit sorgt. Sieh mal, wir alle sind in der Anschauung aufgewachsen, daß das Verbrechen seine Sühne findet, daß auf Schuld Strafe folgt, daß jede Tat ihren Lohn bereits in sich trägt, mit einem Wort, daß eine Gerechtigkeit vorhanden ist, die, wenn nicht vor unsern Augen, so doch über unsern Köpfen alles ausgleicht, ordnet und vergilt. Das aber ist nicht wahr. Ich glaube nicht an Gerechtigkeit. Es gibt keine Gerechtigkeit. Es ist nicht möglich, daß es eine gibt, sonst wäre das Leben, das die Menschen fuhren, nicht so wie es ist. Und wenn es nun keine Gerechtigkeit gibt, von der die Menschen gewohnt sind zu sprechen und auf die sie sich verlassen, wenn unter ihnen ein Unrecht geschieht, so muß im Leben der Menschen selbst die Quelle des Unrechts verborgen sein, und man muß ausfindig machen können, wo sie steckt. (CW 488)

Wassermanns Gesellschaftskritik zielt nicht primär auf Verteilungsfragen, sondern ist Symptombeschreibung einer grundsätzlichen Fehlentwicklung, deren Kern die anthropologische Frage nach Ursprung und Grund für das Böse ist. Das menschliche Leben selbst erscheint als Ursache von Unrecht und Ungerechtigkeit, weshalb letztlich nur der Wandel des Menschen eine Veränderung seiner Lebens- und Gesellschaftskonstruktion im Sinne der Gerechtigkeit bewirken kann.

128

129

Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Bd I u. II. 2., vollst. Überarb. Aufl. Übers, von Wilhelm Thimme. Eingel. und erläutert von Carl Andresen. Zürich, München: Artemis 1978, XIX 21. Vgl. ebd. IV 4 und XIX 21.

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3.6

3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des meuen Menschern

Ungerechtigkeit der Strafgerechtigkeit

Ein solcher Wandel betrifft auch die Auffassung der Strafgerechtigkeit. Mit seiner Kritik steht Wassermann in der Tradition der Strafgegner, die in der Moderne von Lebensphilosophen wie Guyau, Bergson und Nietzsche vertreten wird. Bereits in der Bibel wird die menschliche Fähigkeit, ein gerechtes Urteil über andere zu fallen, kritisch hinterfragt und der Beurteilung eigenen Verhaltens an die Seite gestellt. »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit dem Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden. Und mit dem Maße, mit dem ihr messet, werdet ihr gemessen werden.« 1 3 0 Für Cicero liegt insbesondere im situationsbedingten Abwägen die Herausforderung des gerechten Urteils. Denn es verlangt ein hohes Maß an Empathie, um von sich selbst absehen zu können. Denn schwierig ist die Sorge für fremde Anliegen [...], weil wir mehr das erfassen und empfinden, was uns selbst an Günstigem und Widrigem, als jenes, was den übrigen begegnet, was wir gleichsam aus weiter Entfernung sehen, so urteilen wir anders über jene als über uns. 131

Für Christian ist denn auch das Einfühlungsvermögen die entscheidende Fähigkeit, um dem Menschen gerecht werden zu können. »Man muß sich die Menschen und die Dinge vorstellen; die wenigsten tun das, sie schwindeln sich daran vorbei.« (CW 721) Für Schopenhauer ist die Vorstellungsgabe in zweierlei Hinsicht relevant: als Hemmung der negativen Antriebe und als Motivation zur Hilfeleistung. Für ihn bedingt einzig die Vorstellungsgabe, dass das durch die Tat hervorgerufene Leid dem potenziellen Täter bewusst werden kann, was er als primäre Funktion der Gerechtigkeit definiert. Als Voraussetzung des Mitleids bedingt sie zudem die Menschenliebe, die als Steigerung der Gerechtigkeit dazu motiviert, anderen zu helfen. Auch im Konzept der bergsonschen Intuition bedarf es der Empathie, um eine vollständige Kenntnis der Umstände, Beweggründe und Zusammenhänge einer Tat zu erlangen. 132 Ebenso wie Nietzsche davon ausgeht, dass eine solche Einsicht letztlich die Schuld des Täters aufheben müsste, weil durch sie die innere Notwendigkeit der Tat erkennbar würde, lehnt auch Christian jegliche Beurteilung der Tat ab, weil er sich des Mangels menschlicher Kompetenz bewusst ist und daher glaubt, keinen gerechten Maßstab zu besitzen, um über den Täter richten zu können (vgl. 130 131 132

Matthäus 7,1-2. Cicero, De officiis (wie Kapitel 1, Anm. 117), I 33. Einzig die Vorstellungsgabe versetzt den Menschen in die Lage, das Leiden und die Schuld des anderen wahrhaft zu erkennen und zu heilen. Eine solche Gabe besitzt neben Christian u. a. auch die »Fürstin«. »Wenn es irgendein Heilmittel für einen Menschen gibt, so findet sie es, und in jeder Schicksalslage. Sie hat die Eingebung. Sie stellt sich einen Menschen vor, sein Leiden, sein Tun, seine Schuld, sie gewinnt das untrüglichste Bild von ihm und faßt ihren Beschluß, der dann wirklich wie von oben kommt und wie höhere Botschaft ist.« (Wassermann, Faber oder Die verlorenen Jahre [wie Anm. 97], S. 102.)

3.6 Ungerechtigkeit der Strafgerechtigkeit

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CW 722-723). Wassermann lehnt wie Guyau jegliche Sanktionsidee ab, und wie dieser räumt er einzig der sozialen Sanktion eine Funktion für das Zusammenleben der Menschen ein, wenngleich er sie dadurch noch nicht fur moralisch gerechtfertigt hält. Wie Guyau unterscheidet er zwischen der Strafe, deren Funktion in der Sicherung der sozialen Ordnung besteht - einer Ordnung, die er jedoch als zutiefst ungerecht entlarvt hat und deren Strafe den Täter nicht wandelt - , und der Bewusstmachung, die eine innere, geistigseelische Veränderung initiiert, die zu Erkenntnis und innerer Überzeugung wird. In diesem Sinne geht es auch Christian nicht um die öffentliche Ordnung oder die justiziable Beurteilung des Schuldigen, sondern um die innere Wandlung des Täters durch die Erkenntnis seiner Schuld (vgl. C W 722). Was Christian möchte, ist eine Begleichung der Schuld im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die das gestörte Gleichgewicht innerhalb der kosmischen und kollektiv-geistigen Alleinheit aller Wesen wiederherstellt, womit auch sein individueller Verlust ausgeglichen wäre (vgl. C W 723-724). Der Gedanken ausgleichender Gerechtigkeit ist im abendländischen Rechtsdenken als Teil der partikularen Gerechtigkeit erstmals detailliert von Aristoteles beschrieben worden. Während die Verteilungsgerechtigkeit Ungleichheit zulässt, ist die Ausgangsannahme der ausgleichenden Gerechtigkeit, dass ohne Ansehen der Person jeder ein Anrecht auf Kompensation besitzt. 133 Wie später auch Buddha definiert Aristoteles sie als Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, zwischen Vor- und Nachteil zwischen einem Gut und einen Übel. Entsprechend ist auch das Recht ein Mittleres und die Aufgabe des Richters ist die des Mittlers. Er stellt mit Hilfe des ausgleichenden Rechts die Mitte zwischen Vorund Nachteil wieder her. 134 Während in der Rechtsprechung die Mitte nach dem Prinzip linearer, arithmetischer Gleichheit ermittelt wird, stellt sie im Kontext der allgemeinen Tugendlehre zwar auch das rechte Maß zwischen zwei Extremen dar, ihre Bestimmung gilt jedoch nicht absolut, sondern in Bezug auf den jeweils Handelnden, d. h., jeder Einzelne muss sich gemäß seinen Neigungen und entsprechend der aktuellen Gegebenheit um das rechte Maß bemühen. 1 3 5 Aristoteles geht ebenso wie Piaton vom Ideal der institutionellen Gerechtigkeit aus, in dem für jeden Bürger das für ihn Gute vollständig gewährleistet ist und der Staat nicht nur der Regelung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens dient, sondern auch der Beförderung und Erhaltung der Sitten und der Tugend. Daher ist juridische Gerechtigkeit prinzipiell möglich. In Konsens mit der kritischen Haltung der Moderne gegenüber jeglicher Form institutionalisierter Gerechtigkeit sind das rechte Maß und der rechte Ausgleich für Wassermann jedoch einzig vom Individuum selbst zu bestimmen. 133

134

135

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übers, von Eugen Rolfes hg. von Günther Bien. 3. Aufl. Hamburg: Meiner 1972 (Philosophische Bibliothek; 5), V 7, 1132a 1-10. Vgl. ebd., V 6, 1 1 3 1 b 2 5 - V 7 , 1132b 20. Vgl. die Zusammenfassung ebd., V 8, 1133b 30-1134a 15. Vgl. ebd., II 4-9.

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5 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des >neuen Menschern

Deshalb ist Christian der Ansicht, dass Niels Heinrich letztlich nur sich selbst richten kann: »Nur Sie selbst können es wissen. Nur Sie selbst haben das Maß fur das, was Sie getan haben, nicht die, die Ihre Richter sein werden. Auch ich habe kein Maß dafür, aber ich richte nicht.« (CW 723) Zudem ist innerhalb der auf Ungleichheit basierenden Gesellschaft keine juridische Gerechtigkeit zu erwarten. Denn als Handlanger der bestehenden Ordnung fällt die Justiz lediglich >KlassenurteileGott gleich zu werdenwenn wir gerecht und heilig und zugleich einsichtig< werden, überhaupt wenn wir zur Tugend gelangen.« (Plotins Schriften. Übersetzt v. Richard Harder. Neub. mit griechischem Lesetext u. Anm. Bd Ia. Die Schriften 1-21 der chronologischen Reihenfolge. Text und Übersetzung. Hamburg: Meiner 1956, Enneaden 12 [19] 1.1. Im Folgenden wird diese Ausgabe unter Angabe von Enneade in römischer und Abhandlung in arabischer Ziffer, der chronologischen Reihenfolge in eckigen Klammern sowie von Kapitel und Paragraphenzählung, die in der Meiner-Ausgabe rechts außen gedruckt sind, zitiert.) Diese Definition geht auf Piaton zurück, der darunter die Einübung und Angleichung des Menschen an Gottes sittliche Tugenden, insbesondere an seine vollkommene Gerechtigkeit und damit an die göttliche Welt der Ideen versteht, wenngleich diese Angleichung die Differenz zwischen Gott und den Menschen niemals aufzuheben vermag. Vgl. Piaton, Theaitetos 176a-c und Piaton, Timaios 90a-e. Vgl. Horn/Rapp (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie (wie Anm. 152), S. 192-193. Vgl. Wolfgang L. Gombocz: Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, S. 18.

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3 Christian Wahnschaffe: Die Gerechtigkeit des meuen Menschern

müths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit«165, wie sie in der jüdischen Mystik auch der Chassid, das moralisch-religiöse Ideal des Frommen, besitzt.166 Wie Franziskus, der nach der Einswerdung mit Jesus dessen Wundmale trägt, verschmilzt Christian in der Legende - die gleichsam als religiöser Metatext seine Heiligsprechung vollzieht - mit dem SiegreichVollendeten, denn er hat die wesentlichen Bedingungen der Heiligsprechung erfüllt: den vorbildlichen Lebenswandel und als dessen Indizien die Fähigkeit zur Wundertätigkeit, das Ethos-schaffende Leben sowie die Wandlung als Tod des >alten< und Geburt des >neuen Menschern. 167

165 166

167

Schopenhauer, Sämtliche Werke. Bd 1 (wie Kapitel 1, Anm. 89), § 71, S. 486. Vgl. Joeris, »Aspekte des Judentums im Werk Jakob Wassermanns« (wie Anm. 61), S. 124. Vgl. Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« (wie Einleitung, Anm. 1), S. 146.

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Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski

Wassermann stimmt in seiner anthropologischen Grundeinstellung sowie in der Auffassung von Verbrechen und Strafe in vielfaltiger Weise mit Dostojewski überein. 1 Bei beiden ist ein anthropologisches Interesse vorhanden, das sich an Erkenntniszielen orientiert und sich auf den Menschen als geistiges und metaphysisches Wesen bezieht. Im Folgenden soll allein auf die Analogien im Hinblick auf Moral- und Strafauffassung, Recht und Gerechtigkeit eingegangen werden. 2 Wie bei Wassermann richtet sich das Interesse Dostojewskis primär auf den Einzelmenschen und das Einzelschicksal, dem ein universales und formales Gesetz niemals gerecht werden kann. »Bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen finden«3, das ist nach eigenem Bekunden die Zielsetzung Dostojewskis. Dabei verkörpern seine Gestalten nicht nur konkrete Persönlichkeiten, sondern auch verschiedene, antagonistische und vielfach einander bekämpfende Ansichten sowie Vermögen und Regungen der menschlichen Seele. Zumeist sind sie Teil verschiedener Personen, so dass die »dialogisch-antithetisch entgegengesetzten Charaktere« 4 einander ergänzen, wie beispielsweise Rogoshin und Fürst Myschkin in Der Idiot, Raskolnikoff und Sswidrigailoff in Rodion Raskolnikoff oder Iwan Karamasoff und Ssmerd-

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Soweit nicht anders angegeben, folgen die Ausführungen zu Dostojewski der Arbeit von Heinz Wagner: Das Verbrechen bei Dostojewski. Eine Untersuchung unter strafrechtlichem Aspekt. Göttingen, Jur. Diss. 1966. Vgl. die weiterführende Untersuchung von Richter, Der Einfluss F. M. Dostojevskijs auf die Werke Jakob Wassermanns (wie Kapitel 3, Anm. 150). Ihrer Ansicht nach hat Wassermann in der Figur des Christian Wahnschaffe am deutlichsten den >neuen Menschern nach dem Vorbild des Fürsten Myschkin gestaltet, jenes rätselhaften Helden, der sich durch Selbstlosigkeit, Güte, Wahrhaftigkeit und ein tiefes Mitgefühl für die göttliche Kreatur auszeichnet und dem es wie keinem anderen beschieden ist, die Welt leidend zu erfahren (vgl. ebd., S. 5 u. S. 13). Diese Attribute sind für Wassermanns Auffassung der Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung, weshalb der Exkurs an dieser Stelle erfolgt, auch wenn die Parallelität zu Dostojewski und seinem Gerechtigkeitsverständnis ein Kennzeichen des gesamten Werkes ist. Fjodor M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. München: Piper 1980, S. 618. Hans Küng: Religion im Widerstreit der Religionslosigkeit. In: Walter Jens, Hans Küng: Dichtung und Religion. München: Kindler 1985, S. 244-266, hier S. 250.

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4 Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski

jakoff in Die Brüder Karamasoff, wobei zumeist derjenige, dessen Position zweideutig erscheint, die besten und treffendsten Argumente besitzt.5 Wie für Wassermann besteht für Dostojewski die Relevanz des Verbrechens nicht in rechtsphilosophischen Erwägungen hinsichtlich Staat und Gesellschaft, sondern in der vollständigen Erfassung der Persönlichkeit des Verbrechers, in dem er den exemplarischen Fall menschlicher Existenz verkörpert sieht. Im Fokus seiner Darstellung steht daher weniger die Aufdeckung des Verbrechens als die komplexe innere Wirklichkeit des Individuums. Es geht primär um die Frage nach dem Wesen des Menschen, die fur Dostojewski gleichbedeutend ist mit der Frage nach Gott. Diese Problematik, die zugleich von tiefer Skepsis und authentischer Religiosität gekennzeichnet ist, stimmt sowohl in ihrer Ambivalenz zwischen kritischem Verstand und religiöser Emotion als auch in ihrer antidogmatischen Programmatik eines tätigen Humanismus mit der Haltung Wassermanns überein. Auch für Dostojewski gibt es »neben der Arbeit des Kopfes, des kritischen Verstandes, des euklidischen Denkens die Kraft des Herzens«, und auch für ihn sind die anderen »Schichten im Menschen, das gelebte Leben«, wichtiger »als der rationale Sinn des Lebens«6. Nach dem Verlust Gottes, der religiösen Bindung und dem daraus resultierenden Verlust eines verpflichtenden Sittengesetzes sowie jeglicher moralischer Bindung können einzig diese Schichten noch eine moralische Richtschnur sein.7 Für Dostojewski ist wie für Wassermann das Wesen des Menschen von einem tief greifenden Dualismus gekennzeichnet. Gut und böse gehören für ihn gleichermaßen zur menschlichen Anlage, weshalb er den Menschen in all seinen Handlungen vor die Entscheidung zwischen diese Polaritäten gestellt sieht. Im Menschen können edle und gemeine, gerechte und ungerechte Regungen synchron nebeneinander bestehen, weshalb in Bezug auf die konkrete Entscheidung letztlich keine Prognosen möglich sind. Trotz seiner negativen Folgen ist für Dostojewski im Potenzial des Bösen die Option menschliche Freiheit begründet. Auf ihr basiert zugleich jedoch auch die Verantwortung des Menschen für Ungerechtigkeit und Leid in der Welt. Aufgrund der Polarität der Seele und der durch die Freiheit bedingten Spannung der menschlichen Existenz ist das philosophische Interesse Dostojewskis fast ausschließlich ethisch orientiert. Der Mensch definiert sich für ihn als eine Einheit von Rationalität und Irrationalität, weshalb eine reine Vernunftethik dem Selbstverständnis des Menschen nicht gerecht werden kann. »Noch nie ist die Vernunft fähig gewesen, Gut und Böse zu erklären oder auch nur das Böse vom Guten abzugrenzen, sei es auch nur annähernd; im Gegenteil, immer hat sie Gut und Böse schmählich und kläglich - je nach Bedarf - miteinander 5

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Vgl. Walter Jens: »Ich aber will sehen, wie der Ermordete aufsteht und seinen Mörder umarmt.« In: Jens, Küng, Dichtung und Religion (wie Anm. 4), S. 267-284, hier S. 281. Küng, Religion im Widerstreit der Religionslosigkeit (wie Anm. 4), S. 248. Vgl. ebd., S. 254.

4 Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski

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verwechselt.« 8 Vergleichbar der antirationalistischen Haltung Wassermanns verwirft Dostojewski einen ethischen Intellektualismus, der sich allein auf die Autonomie des Menschen stützt. Für ihn kann ohne metaphysische Instanzen weder Moralität noch Gerechtigkeit und Sinn existieren. Entsprechend geht er von der Existenz eines höheren Bewusstseins in Form eines genuin vorhandenen Gewissens aus. Wozu das mit dem Verstände suchen, was vom Leben schon gegeben ist, womit jeder Mensch geboren wird und dem jeder Mensch (sogar unwillkürlich) folgen muß und auch tatsächlich folgt? Jeder Mensch wird mit einem Gewissen, mit dem Begriff von Gut und Böse geboren, folglich wird er auch unmittelbar zu einem Lebensziel geboren: für das Gute zu leben und das Böse nicht zu mögen. 9

Für Dostojewski besitzt der Mensch ein natürliches Empfinden für gut und böse, einen Imperativischen Instinkt, der den aktiven Einsatz für das Gute fordert. Dieser Appell ist im sittlichen Bewusstsein des Kindes noch unmittelbar vorhanden, wird jedoch im Alter zunehmend durch das rationale Bewusstsein verdrängt. Dem Erwachsenen vermag sich der sittliche Instinkt einzig noch über das Unbewusste und insbesondere über seine Träume mitzuteilen. Der Antagonist dieses natürlichen Ethos ist für Dostojewskis die Überzeugungstreue, die aus theoretischen und abstrakten Überlegungen erwächst und die gerade in ihrem Beharren das Gegenteil des Moralischen darstellt. In ähnlicher Weise ist Wassermanns Kritik der rein äußerlichen politischen oder sozialen Gesinnung zu verstehen. Dem Dualismus im Inneren des Menschen entspricht bei Dostojewski eine Welt, in der es neben einer absurden Wirklichkeit, in welcher der Mensch angesichts von Leid und Ungerechtigkeit an seine äußere Grenze stößt, eine Gegen-Welt des Ethos und Humanismus gibt, die jenseits von Revolte und Resignation Zeichen und Taten der Liebe setzt. 10 Wie für Wassermann ist auch für Dostojewski die Appell- und Vorbildfunktion fur die Übernahme des Sittlichen von entscheidender Bedeutung. Kardinalfigur dieser Funktion ist für ihn Jesus, und so wie dieser auf das Menschheitsganze einwirkt, nimmt für Dostojewski jeder Mensch - wenn auch kaum wahrnehmbar - durch Gedanken und Taten Einfluss auf das Menschheitsganze. Im humanen Gesamtorganismus trägt somit jeder aufgrund der umfassenden geistigen Allverbundenheit Anteil und Verantwortung für das Leiden in der Welt. In diesem allumfassenden Wirkzusammenhang ist alles von Bedeutung, und jede Tat, jeder Gedanke wirkt in der Menschheit fort und ist deshalb niemals folgenlos. Auch für Dostojewski besteht die grundlegende Selbsterkenntnis des Menschen im Bewusstsein der geistigen Allverbundenheit, aus der die individuelle Verantwortlichkeit für alles Böse in der Welt erwächst. »Man versuche doch zu teilen, versuche doch einmal festzusetzen, wo die eigene Persönlich8 9 10

Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen. München: Piper 1969, S. 344. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers (wie Anm. 3), S. 403. Vgl. Küng, Religion im Widerstreit der Religionslosigkeit (wie Anm. 4), S. 2 5 7 259.

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4 Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei Dostojewski

keit aufhört und die andere anfängt!« 11 Statt Vergeltung zu fordern, bedingt dieser Gedanke der Mitverantwortlichkeit und Mitschuld das Postulat des Mitleids und der Demut. In der hingebungsvollen Nächstenliebe wird die Allschuld zum Prinzip. Auch für Dostojewski ist die höchste Stufe des Guten die tätige Liebe, deren unmittelbare Folge, nämlich das Nicht-Verurteilen-Wollen, jene ethische Grundmaxime darstellt, wie sie Aljoscha empfindet. »Es war etwas in ihm, was ihm die Menschen zu richten verbot und ihm immer zuflüsterte, daß er nicht der Richter der Menschen sein, nicht das Verurteilen auf sich nehmen wolle und darum auch um nichts in der Welt verurteilen werde.« 12 Für Dostojewski besteht die sittliche Aufgabe des Menschen nicht in der Verurteilung, sondern im Dienst am Menschen. Dieser Dienst setzt auch für ihn die Fähigkeit der Empathie voraussetzt, denn der Nächste soll so genommen werden wie er ist, mit allen Anlagen zum Bösen wie zum Guten, in seiner ganzen Individualität und seinem konkreten, einmaligen zeitlichen Dasein. Insofern ist auch für Dostojewski die Selbstreform Voraussetzung und Basis der gerechten Gesellschaft. Allein die Selbstvervollkommnung des Einzelnen durch die Liebe zum Nächsten kann einen universellen Wandel initiieren. In Opposition zu einer Psychologie, die in ihrem zeitgenössischen Wissenschaftsanspruch das komplexe (Seelen-)Leben in naturwissenschaftliche Formen zu bringen versucht, ist das Unbewusste für Dostojewski nicht allein Ursprung der menschlichen Triebstruktur, sondern auch der tiefste sittliche Bezirk des Menschen. Über das Unbewusste steht er in Kontakt mit dem Sittlichen, und aus ihm schöpft er seine Träume, die ihm Wegweiser zu innerer Wandlung und Selbstvervollkommnung sein können. Auch für Dostojewski erschließt sich die Beurteilung von Wert und Unwert einer Handlung nur im Kontext von Allverbundenheit, Allschuld und Allverantwortung sowie eingedenk der eigenen dualistischen Struktur. Insbesondere vom Richter ist daher ein vorurteilsfreies, reines Beobachten, ein (liebendes) Sicheinfühlen in den anderen gefordert. In Beziehung von Recht und Gerechtigkeit unterscheidet Dostojewski wie Wassermann zwischen positiver Gesetzgebung und göttlicher Gerechtigkeit. Die positive Rechtsordnung ist als rationaler, festgefügter und von Menschen gesetzter strafbewehrter Normenkomplex für ihn weder gerecht noch geeignet, den Straftäter zu bessern. Dazu fähig ist für ihn einzig die »Idee von der Erweckung und Neugeburt des Menschen, seiner Auferstehung und seiner Rettung«13. Alle diese Verschickungen zur Zwangsarbeit, und in früheren Zeiten noch die Körperstrafe, verbessern doch niemanden, und was die Hauptsache ist, sie schrecken auch fast keinen Verbrecher ab; die Zahl der Verbrechen verringert sich nicht etwa, sondern vermehrt sich noch. [...] Wenn es aber etwas gibt, was die Gesellschaft selbst in unserer Zeit beschützt und sogar den Verbrecher bessert und zu einem an11 12 13

Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers (wie Anm. 3), S. 600. Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasoff. München: Piper 1968, S. 31-32. Ebd., S. 104.

4 Exkurs: Das Thema der Gerechtigkeit bei

Dostojewski

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deren Menschen macht, so ist das wiederum nur das Gebot Christi, das sich in der Stimme des eigenen Gewissens kundtut.« 14

Allein die göttliche Ordnung kann fur Dostojewski Maßstab der Gerechtigkeit sein, und nur insofern die positive Gesetzgebung dieser entspricht, ist ein Verstoß gegen die menschliche Satzung ein Verbrechen. Daher sind für ihn Straftaten, die gegen das reine Verwaltungsstrafrecht verstoßen, irrelevant. Sein Interesse gilt nicht rechtsstaatlichen Delikten, sondern dem grundlegenden Verstoß gegen Menschenrecht und Menschenwürde. Die von ihm beschriebenen Verbrechen bedeuten denn auch die Negation des Menschen und sind Ergebnis eines schrankenlosen Nihilismus, der sich - wie bei Niels Heinrich in einem hemmungslosen Eigenwillen äußert. Es handelt sich um Taten, die gegen die göttliche Gerechtigkeit verstoßen, indem sie elementare Menschenrechte verleugnen. Ursprung des Verbrechens ist ein schrankenloser Egoismus, der die geistige und empirische Allverbundenheit leugnet, den Eigenwillen zum Maßstab aller Handlungen erhebt und in einer immanenten Sinnlosigkeit kulminiert. Eine solche Tat hat nach Ansicht Dostojewskis eine Störung der universalen Gemeinschaft zur Folge, die nur durch wahrhaft freie innere Reue und Läuterung, durch selbstauferlegtes und angenommenes Leiden getilgt werden kann. Ein solcher Ausgleich ist durch staatliche Sanktionen nicht zu erzwingen. Wie Wassermann lehnt auch Dostojewski eine juridische Strafe ab, die den innern Menschen nicht wahrnimmt, die ihn verfemt und ausschließt und die eigene Mitschuld und Mitverantwortung leugnet. Seiner Ansicht nach vermag allein die Empfindung eigener Schuld den Verbrecher zu läutern. Sie ist die einzig »wirkliche Strafe, die einzig wirksame, die einzige, die abschreckt, und die einzige, die wieder auszusöhnen vermag, die Strafe, die in der Einsicht des eigenen Gewissens liegt«15. Nicht die äußere »mechanische« Strafe, die »in der Mehrzahl der Fälle nur das Herz erbittert«16, sondern allein die tätige Anteilnahme des Nächsten vermag diese innere Ansprache des Gewissens zu wecken. In diesem Sinne argumentiert der Verteidiger Fetjukowitsch. [...] diese Herzen dürsten so oft nach Zartheit, Schönheit und Gerechtigkeit, und gerade wie im Gegensatz zu sich selbst, zu ihrem wüsten Leben, zu ihrer Grausamkeit, - sie dürsten unbewußt danach, aber sie dürsten im wahren Sinne des Wortes. Nach außen leidenschaftlich und hart, sind sie fähig, bis zur Qual etwas lieb zu gewinnen, [...]. Nur können sie ihre Leidenschaftlichkeit, eine mitunter sehr brutale, nicht verbergen, - das ist es, was auffallt, das wird sofort bemerkt, den inneren Menschen aber sieht man nicht. Alle ihre Leidenschaften sind, im Gegenteil, schnell gestillt, aber in der Nähe eines edlen, schönen Wesens sucht dieser anscheinend rohe und grausame Mensch Selbsterneuerung, sucht er die Möglichkeit, sich zu bessern, gut zu werden, ehrlich und edel, oder >schön und erhabenneuen Menschen< und der Möglichkeit seiner Erweckung noch im verworfensten Individuum. Aljoscha, ich habe in diesen zwei Monaten einen neuen Menschen in mir eindeckt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Dieser Mensch war immer in mir verborgen, aber es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt hätte. [...] Man kann auch dort in den Erzgruben unter der Erde neben sich in genau solch einem Zwangarbeiter und Mörder ein menschliches Herz finden, und man kann ihm dort näher treten, denn auch dort kann man leben, leiben und leiden. In diesem Zwangsarbeiter kann man das erfrorene Herz wieder beleben, Jahre und Jahre kann man um ihn bemüht bleiben, und einmal wird man doch die Seele aus der dunklen Höhle zum Licht emporfuhren, und dann wird er bereits ein veredelter Mensch sein, ein Mensch mit dem Wissen des Leidgeprüften, und so kann man Engel auferstehen machen und Helden erwecken! 19

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Vgl. Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Mit einem Nachwort von Peter de Mendelssohn. München, Wien: Langen Müller 1985, S. 242. Im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl zitiert als MA. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff (wie Anm. 12), S. 960.

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Er beschreibt eine Wandlung, die durch Verhängung und Vollzug der juridischen Strafe eher verhindert denn gefördert wird, wie der Verteidiger im Prozeß gegen Dimitri Karamasoff erläutert. Und ich schwöre Ihnen, meine Herren Geschworenen: mit Ihrer Schuldigsprechung werden Sie seine Schuld nur erleichtern, denn damit werden Sie seinem Gewissen das Schuldbewußtsein nehmen. Er wird das von ihm vergossene Blut verfluchen, aber nicht bereuen. Und zu gleicher Zeit vernichten Sie den Menschen in ihm, Sie nehmen ihm die Möglichkeit, noch ein Mensch zu werden, denn er würde dann sein Leben lang böse und blind bleiben. 20

Aufgrund der universalen Gemeinschaft aller Menschen zerstört der Verbrecher durch seine Tat nicht nur sich selbst, sondern auch die sittliche Gesamtordnung. Allein die freiwillige, innere Sühne kann nach Ansicht Dostojewskis das gestörte Gleichgewicht wieder herstellen. Das Verbrechen zu sühnen bedeutet fur ihn, einen >neuen Menschen< in sich zu erwecken.21 Nicht die guten Taten schaffen den Ausgleich, sondern der Entschluss, die existenzielle Lüge des bisherigen Daseins zu verwerfen, sowie das unermüdlich geistige Bemühen, dem >neuen MenschenLiterat< spricht, lässt sich vielleicht insoweit erklären, als er hier die Fremdzuschreibung referiert, die ihn auf diese Begriffe und inhaltlichen Verkürzungen zu reduzieren versucht und die im Gegensatz zu seiner Selbstzuschreibung steht, nämlich Dichter sowie Deutscher und Jude zu sein, und zwar alles in vollem Sinne, unbedingter Akzeptanz und Anerkennung.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

Scholem, Max Nordau). 4 Zu dieser radikal individualistischen Position hat Wassermann sich trotz aller Anfeindungen bekannt und zeitlebens an ihr festgehalten. Bin ich nicht dadurch ausgesetzter als die meisten, da ich ja nach keiner Seite mich beuge, nach keiner Seite ein Kompromiß schließe und nur, auf einem Vorposten, mich und meine Welt zum Ausdruck bringen, zur Brücke machen will? 5

In der Forschung gilt Wassermann gemeinhin als Vertreter des Assimilationsjudentums, der sich zwar um eine Synthese von Deutsch- und Judentum bemüht, dessen Identifikation mit letzterem jedoch stets überwiegt. 6 Diese Einschätzung ist so zutreffend wie problematisch, da der Begriff »Assimilation«, insbesondere seit der heftigen Debatte zwischen Zionisten und den so genannten »Assimilanten« in den 1890er Jahren ideologisch belastet ist. 7 Obwohl Assimilation und Emanzipation häufig synonym verstanden werden, bezeichnet »Emanzipation« sowohl den gesamten Prozess, in dem Emanzipation gewährt wird, als auch die Art, wie der Emanzipierte seine neue Freiheit nutzt, um als Gleicher unter Gleichen in die Gesellschaft einzutreten, die von nun an bereit und gewillt ist, ihn zu akzeptieren. Während der Oberbegriff »Emanzipation« zunächst primär auf die juridische Gleichberechtigung der Juden Bezug nimmt, benötigt die politisch und ideologisch intensive Diskussion über die »Judenfrage«, die während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts geführt wird, zusätzliche Konzepte, nicht nur, um auf den Wunsch der emanzipierten Juden zu verweisen, als gleichberechtigte Mitglieder der allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft anerkannt zu werden, sondern auch, um das Phänomen der zunehmenden Angleichung bis hin zur UnUnterscheidbarkeit zu beschreiben. 8 Für diese Entwicklung scheint die Bezeichnung »Assimilation« geeignet, obwohl sie aufgrund ihrer vagen Bedeutung sowohl einen Vorgang als auch das Ergebnis bezeichnet und ebenso auf eine gesellschaftliche Entwicklung und deren Erfolge verweist, wie sie die Konnotation entwürdigender

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Vgl. Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 166. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 116. Vgl. Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein/Ts.: Scriptor 1981 (Monographien Literaturwissenschaft; 50), S. 56. Vgl. Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 126. Vgl. Ulrike Peters: Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum um die Jahrhundertwende. Mit einem Vorwort von Sol Liptzin. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 1993 (Judentum und Umwelt; 46) (zugl. Bonn, Diss. 1992), S. 254. Vgl. zu Definition und Geschichte der Begriff »Assimilation« und »Emanzipation« exemplarisch: Shulamit Volkov: Zur Einführung. In: Dies. (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner: Deutsche Juden und die Moderne. München: Oldenbourg 1994 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 25), S. VII-XXIII, hier S. VII-IX. Vgl. ebd., S. VIII.

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Selbstverneinung beinhaltet. 9 Die meisten zeitgenössischen Teilnehmer an der Emanzipationsdebatte sehen in der Assimilation die Vorbedingung der Emanzipation oder ihre direkte Folge, wobei nicht nur zwischen Juden und Nichtjuden das erforderliche Maß der Assimilation sehr unterschiedlich bewertet wird. 10 Hinsichtlich dieser Einschätzung unterscheidet sich auch die Gruppe derjenigen, die in der Forschung als Assimilanten gelten. Während Samuel Lublinski oder Karl Kraus die Aufgabe der jüdischen Religion befürworten und im Religionswechsel eine Maßnahme zur Beschleunigung des Assimilationsprozesses sehen 11 , begrüßen Fritz Mauthner und Walther Rathenau zwar die umfassende Annahme aller wesentlichen kulturellen Merkmale der deutschen Gesellschaft sowie die Aufgabe alles spezifisch Jüdischen, nehmen jedoch den Glauben als solchen dezidiert davon aus. Ihrer Ansicht nach kann der Religionswechsel nicht die Lösung des Integrationsproblems bedeuten. 12 Wie Rathenau versteht sich auch Wassermann als Deutscher, ohne sein Judesein deshalb schmälern zu wollen. Der Begriff der Akkulturation, in dessen Mittelpunkt der Aspekt der Übernahme geistiger und materieller Kulturgüter steht, entspricht daher weitaus mehr dem Standpunkt Wassermanns und ande9

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»Auch heute noch wird sie von den meisten Historikern bei der Analyse der wichtigsten Begleiterscheinungen der Emanzipation verwendet: dem Eintritt der Juden in die deutsche Gesellschaft, der Übernahme der wesentlichen kulturellen Merkmale der deutschen Gesellschaft und der parallel laufenden allmählichen Aufgabe alles Jüdischen von Seiten eines beachtlichen Teils der Juden.« (Ebd.) »Reinhard Rürup hat den Unterschied betont zwischen dem Prozeß, in dem Emanzipation gewährt wurde - unabhängig von oder als Vorbedingung für die Assimilation wie im Fall des revolutionären Frankreich und dem Vorgang, bei dem Assimilation bewiesen werden mußte, bevor Emanzipation in Betracht kam, wie in Deutschland.« (Ebd., S. IX.) Zudem wird die Emanzipation durch den »modernen« Antisemitismus, der sich recht genau auf das Jahr 1879 datieren lässt, diskreditiert und unterminiert. Wassermann hat in seinen Schriften, aber auch Romanen immer wieder darauf hingewiesen, dass in einem solchen gesellschaftlichen Klima die jüdischen Assimilationsbestrebungen Gefahr laufen, in Identitätsverlust und mithin in Selbsthass zu eskalieren, da mit den Zeichen der äußeren Stigmatisierung auch die positiven Insignien der Zugehörigkeit abgelegt werden, ohne doch der Ausgrenzung dadurch entgehen zu können, sondern ihr vielmehr als innere Ausgrenzung schutzloser als zuvor ausgeliefert zu sein. So lässt er Warschauer über den Begriff resümieren: »Emanzipation, eine listige Erfindung das, sie nimmt dem Unterdrückten den Vorwand, sich zu beklagen. Die Gesellschaft schließt ihn aus, die Staat schließt ihn aus, das körperliche Getto ist zu einem seelischen und geistigen geworden, man wirft sich in die Brust und nennt es Emanzipation.« (MA 307) Vgl. zu einer ähnlichen Stellungnahme: Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 37. Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Einleitung, Anm. 21), S. 65-67. Vgl. Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 169. Vgl. Graf, Alter Geist und neuer Mensch (wie Kapitel 2, Anm. 2), S. 213. Vgl. Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 6), S. 48. Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Einleitung, Anm. 21), S. 66-67.

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rer »Grenzjuden«, die sowohl die Rezeption deutschen Kulturgutes befürworten als auch die Bewahrung des genuin Jüdischen und die deshalb den konnotativen Aspekt der Verleugnung aller jüdischen Anteile, den der Begriff der Assimilation enthält, rigoros ablehnen. 13 Dass Wassermanns Deutschtum trotz seines Bemühens um eine gleichberechtigte Synthese, insbesondere in der Außenwirkung, überwiegt, mag mehrere Ursachen haben: die im assimilierten jüdischen Bürgertum typische Erziehung, in welcher jüdische Religion und Tradition nur in bruchstückhaften Schemen vermittelt wird 14 , das Fehlen einer 13

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Wobei eine solche Trennung an sich schon ein Abstraktum darstellt, welches de facto umgesetzt einer multiphrenen Persönlichkeitsstörung gleichkäme. Im Folgenden wird der Begriff »Assimilation« verwendet, wenn die negative Konnotation mitgedacht werden soll, ansonsten wird von »Akkulturation« gesprochen. Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 39—42. Wassermann teilt hierin das typische Schicksal der jungen Generation zwischen Orthodoxie und Assimilation. Vgl. Ritchie Robertson: Die Erneuerung des Judentums aus dem Geist der Assimilation. 1900 bis 1922. In: Braungart/Fuchs/Koch (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden (wie Kapitel 1, Anm. 69), S. 171-193, hier S. 171. Auch wenn Hermann Levin Goldschmidt Wassermanns Position einseitig verkürzt, indem er ihn des jüdischen Selbsthasses bezichtigt und sein Leben und Werk für gescheitert erklärt, weil er sich seines Judentums >nicht bewusst< gewesen sei, mag seine Diagnose hinsichtlich Wassermanns Verhältnis zur jüdischen Religion zutreffen. »Wassermanns Verhältnis zum Judentum ist - auf der Ebene des äußeren Schicksals - der Schmerzensweg einer nie vollständig gelungenen Ablösung von der Orthodoxie. [...] Wassermann erleidet das den Sprößlingen orthodoxer Häuser eigentümliche Schicksal: einerseits von der überlieferten Religionsform, die als leerer Formalismus erfahren wird, abzufallen, aber andrerseits doch nur diese Religionsform für Judentum halten zu können, so daß nach dem Abfall keinerlei jüdisches Leben weiter möglich scheint.« (Hermann Levin Goldschmidt: Jakob Wassermanns jüdisches Schicksal. In: Ders.: Werkausgabe in neun Bänden. Hg. v. Willi Goetschel. Bd 4: »Der Rest bleibt«. Aufsätze zum Judentum. Wien: Passagen 1997, S. 255-273, hier S. 258-259.) Was Goldschmidt als Flucht vor dem Judentum und im Ergebnis als seinen Verlust bezeichnet, ist der Versuch Wassermanns, eine neue jüdische Authentizität zu entwickeln. Es ist die Suche nach einer »dritten Existenz« jenseits von Judentum und Deutschtum, die sowohl aus der religionskritischen Haltung und dem Transzendenzverlust der Moderne resultiert als auch aus der Erfahrung des Fremdseins gegenüber der formalen Orthodoxie. Das »mosaische Gesetz und dessen Übertragung in den Alltag [...] steht nicht mehr repräsentativ für die Beziehung des jüdischen Volkes zu Gott, sondern symbolisiert geradezu das gewaltsame menschliche Abtöten dieser Beziehung.« (Bodenheimer, Wandernde Schatten [wie Einleitung, Anm. 21], S. 75.) Diese Empfindung gegenüber dem (orthodoxen) Judentum hat Wassermann zeitlebens nicht relativieren können oder wollen. Insofern richtet sich sein Hass nicht gegen das Judentum, sondern gegen seine als veraltet und erstarrt empfundene Dogmatik und Tradition. Hinzu kommt, dass er als Kind sein Judesein ebenso wie Fritz Mauthner und Ernst Toller »als Nichtteilnehmen-Dürfen an dem, was seine Umgebung tat, oder sogar als bedauernswertes Manko« erfahren hat, auch wenn sich das damalige jüdische Leben speziell in Fürth durch einen verhältnismäßig hohen Integrationsfaktor auszeichnete und er nachdrücklich bekundeten Antisemitismus erst in

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universalen jüdischen Identität aufgrund der »realen soziokulturellen Kluft« 15 insbesondere zwischen orthodoxen Ostjuden und liberalen Westjuden 16 , Was-

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seiner Militärzeit in Würzburg erlebt hat. (Barbara Ohm: Jakob Wassermann und Fürth. Von den Wurzeln seines Werks. Roth: Genniges 1998, S. 98; vgl. ebd., S. 9294.) Vgl. zu Jugend und Militärzeit exemplarisch: Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 36—44 u. S. 60. Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 129. In einem Brief an Georg Brandes - wahrscheinlich von 1902 - beschreibt Wassermann die Ambivalenz seiner Position. »Der fränkisch-jüdische Volksschlag ist ja auch etwas ganz anderes als etwa der galizische oder polnische und ich bin im Innern deutscher als ich selber will.« Nach Ansicht von Dierk Rodewald hat dieses Gefühl der soziokulturellen Zugehörigkeit es Wassermann unmöglich gemacht, »die vielleicht bequemeren Wege einzuschlagen, den der Assimilation oder den des Zionismus«. (Nachbemerkung des Herausgebers. In: Jakob Wassermann, Deutscher und Jude [wie Einleitung, Anm. 3], S. 289-292, hier S. 290.) Mit seiner negativen Haltung gegenüber dem Ostjudentum, die er zugespitzt noch 1925 in seinem offenen Brief an Richard Drews formuliert, vertritt Wassermann die bis 1914 typische Position der assimilierten Juden in der Habsburger Monarchie und im Deutschen Reich, im Westen und in den gebildeten Kreisen Polens und Rußlands. Seit 1848 werden die Ostjuden von den Nicht-Juden als typisch jüdisch betrachtet. Man sieht in ihnen die Vertreter von Aberglauben und regressiver Tradition sowie das Symbol von Armut und Kulturlosigkeit. Die Ablehnung der Ostjuden durch die assimilierten Westjuden bezeichnet Peter Gay als »selektiven Antisemitismus«, der wie ein großer Teil des deutschen Antisemitismus letzten Endes mehr ethnisch als rassisch fixiert und primär Signum eigener Unsicherheit hinsichtlich Stabilität und Sicherheit der Assimilation gewesen ist. Erst der Antisemitismus der Jahrhundertwende und das Ende des Ersten Weltkrieges führen zu einer Veränderung im gespaltenen Verhältnis zwischen West- und Ostjudentum. Assimilierte Juden, Schriftsteller und Teilnehmer an Hochkultur und äußerem Fortschritt wie Joseph Roth erkennen, dass sie sich durch ihre ausschließliche Präferenz für die abendländische und westliche Kultur um ihre spezifisch jüdischen kulturellen, geistigen und religiösen Wurzeln betrogen haben. Gleichsam der inneren Ablehnung Abbitte leistend, lässt Wassermann Gregor Waremme in seinem 1928 erschienenen Roman Der Fall Maurizius zu eben dieser Erkenntnis gelangen (vgl. MA 348). »Und in Waremme kulminieren alle Facetten dessen, was von Wassermann unter dem Stichwort >jüdisch< je erörtert worden war.« (Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« [wie Einleitung, Anm. 17], S. 131.) Vgl. zu den Parallelen zwischen Figurenrede und der Position Wassermanns exemplarisch: Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66). Trotz dieses positiven Hinweises bleibt Wassermanns Haltung problematisch, und auch wenn er sich stets auf einen »orientalischmystischen« Ursprung beruft, bleibt dieser letztlich ein unausgefulltes Konstrukt ohne real gelebten Bezug, denn die abstrakte Kategorie des orientalischen Juden< steht im Kontext seiner Suche nach einer neuen jüdischen Authentizität, die für ihn jenseits von überkommener Orthodoxie und dekadentem Assimilationsjudentum erst noch entwickelt werden muss. Vgl. zur Diffamierung des Ostjudentums: Jakob Wassermann: Offener Brief an den Herausgeber einer Monatsschrift für »Kulturelle Erneuerung« (1925) In: Ders., Lebensdienst (wie Einleitung, Anm. 2), S. 155-159, hier S. 158. Vgl. zum Verhältnis von Ost- und Westjudentum Leon Botstein: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und Österreich!-

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sermanns starke Identifikation mit Sprache und Landschaft 17 , sein Bemühen um Anerkennung und Erfolg, das unabhängig von seinem schriftstellerischen Anspruch sowohl durch den zunehmenden Antisemitismus als auch die individuelle Erfahrung sozioökonomischer Deklassierung motiviert ist, 18 sowie • sehen Kultur 1848 bis 1938. Wien, Köln: Böhlau 1991, S. 196-197. Vgl. Gay, Freud, Juden und andere Deutsche (wie Einleitung, Anm. 18), S. 173. Daher ist Wassermanns Haltung auch komplexer, als es die Kritik Peter Gays erkennen lässt, der zudem die reale soziokulturelle Kluft als einen Aspekt im gespannten Verhältnis zwischen West- und Ostjuden innerhalb Berlins durchaus gelten lässt, Wassermanns Identifizierung mit Deutschland jedoch ausschließlich als Ursache und Folge des »selektiven Antisemitismus« interpretiert. Vgl. ebd., S. 172 u. 205. Er kritisiert Wassermanns Haltung als groben Fehler, »denn sie mißdeutete den Antisemitismus als eine verzerrte Antwort auf eine reale Ursache, statt ihn als das zu sehen, was er tatsächlich war, als eine reine Projektion, die sehr wenig, wenn überhaupt etwas mit jüdischem Charakter oder Gebaren zu tun hat« (ebd., S. 173). Trotz seiner eigenen Ablehnung ist sich Wassermann der antisemitischen Projektionen sehr wohl bewusst. Aus diesem Bewusstsein resultiert sein bitteres Resümee der Vergeblichkeit allen Tuns und aller Versuche des »Wohlverhaltens« von jüdischer Seite. Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 124—131. Vgl. dazu auch seine Metapher des >Blatternarbigen< ebd., S. 96-97 sowie die Analyse dieser komplexen Projektion und Gegenprojektion von Alfred Bodenheimer, Wandemde Schatten (wie Einleitung, Anm. 21), S. 81-82. Auch wenn man Wassermanns Haltung als Reflex auf den Antisemitismus lesen kann, ist sie immer auch getragen von der Vorstellung eines zu verwirklichenden neuen Judentums, das in seiner wahrhaft freien Autonomie für ihn in allem das Gegenteil des orthodoxen Judentums darstellt. Im Kontext dieser Utopie steht das Ostjudentum symbolisch für das Anhaften an eine rückwärtsgewandte Tradition sowie fur die Akzeptanz einer als unwürdigen, weil servil und passiv empfundenen generationenalten Leidensgeschichte, von der sich seiner Ansicht nach das authentische Judentum im Sinne Nietzsches entgültig befreien sollte. Wassermanns Blickrichtung gilt der Zukunft, in der die leidvolle Vergangenheit - zu der er sich dennoch nachdrücklich bekennt - durch die Sublimierung in ein höheres Judentum endgültig ein Ende finden soll. Während Wassermann das passive Leiden ablehnt, ist das aktive Leiden für ihn positiv konnotiert, insofern es Voraussetzung der Wandlung und schöpferischen Neuwerdung ist. 17

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Zur metaphysischen Bedeutung der Landschaft vgl. Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere (wie Einleitung, Anm. 4), vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 219-220. Die Betonung generationenalter Ansiedelung ist neben dem persönlichen Gefühl der Zugehörigkeit zu Landschaft und Umgebung seiner Kindheit sicherlich auch Replik auf die antisemitische Absprechung jüdischer Sesshaftigkeit, wie sie Adolf Wahrmund 1887 in seinem viel beachteten und mehrfach aufgelegten Buch Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft vertreten hat, in welchem er das Judentum als räuberisches Nomadenvolk den friedlichen, sesshaften so genannten arischen und indogermanischen Völkern gegenüberstellt. Vgl. Bodenheimer, Wandernde Schatten (wie Einleitung, Anm. 21), S. 13. Vgl. zum Problem andauernder materieller Not, unter der Wassermann in seiner Kindheit und auch später noch, insbesondere bis 1895, litt, exemplarisch: Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 37-38, S. 57

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darüber hinaus seine Utopie eines vollkommen neuen, modernen Judentums. Mit diesem Wunsch steht Wassermann im Kontext jener allgemeinen Anpassungsbestrebungen des Judentums, die nicht allein Zeichen eines Akkulturationswillens sind, sondern auch der Versuch, mit den zum Teil sich radikal verändernden Lebensbedingungen der Moderne fertig zu werden. 19 Ohne die Besonderheit des jüdischen Weges in die Moderne zu negieren, sind die Juden Teil der allgemeinen Entwicklung der europäischen Gesellschaft, und trotz der Nachteile bringen die Veränderungen auch zahlreiche Vorteile. Denn aufgrund der sich im Zuge allgemeiner Modernisierung und Flexibilisierung verändernden ökonomischen, sozialen und intellektuellen Normen haben die Juden nicht nur die Möglichkeit aufzusteigen, sie können nun auch aussteigen und mit allen Verbindungen zur jüdischen Gemeinde brechen, auch wenn nur wenige tatsächlich diesen Weg in die Moderne wählen. 20 So problematisch diese Möglichkeit in einer latent bis offenkundig antisemitischen Gesellschaft ist, die zwar eine Akzeptanz der Juden, nicht jedoch ihre legale Emanzipation und

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u. ö. Vgl. auch den autobiographischen Roman: Jakob Wassermann: Engelhart oder Die zwei Welten. Mit einem Nachwort von Wolfdietrich Rasch. München: Langen Müller 1973. »Heute sind sich die meisten Historiker grundsätzlich darüber einig, daß die Emanzipation der Juden in Deutschland in vieler Hinsicht eine direkte Folge der allgemeinen Liberalisierung der deutschen Gesellschaft war.« (Volkov, Zur Einführung [wie Anm. 7], S. XI.) Deshalb vertritt Volkov einen theoretischen Ansatz, der das Spektrum der jüdischen Geschichte nicht nur in ihrem Verlauf von Emanzipation und Assimilation sowie in Bezug auf die Entwicklung des Antisemitismus analysiert, sondern auch jene Vorgänge in den Blick nimmt, die auf die Deutschen aller Glaubensrichtungen einwirkten, sowie darüber hinaus jene spezifischen Entwicklungen, die intern unter Juden in einer relativ geschlossenen jüdischen Sphäre stattfanden. Ziel dieses Ansatzes ist, die jüdische Geschichte nicht allein als Reaktion auf die nichtjüdische Umgebung darzustellen, sondern auch aus der spezifisch jüdischen Perspektive im Hinblick auf den Weg in die Moderne. Vgl. ebd., S. XI-XIV. Da die Debatte um die Beziehung des Judentums zur Moderne ihrerseits ideologisch belastet ist, muss man eine eindeutige Trennungslinie ziehen zwischen der Debatte um einen spezifisch jüdischen Weg in die Moderne und dem »Mythos vom beweglichen, vom unerträglich modernen Juden«, der eine Vorrangstellung des Judentums auf dem Weg in die Moderne behauptet und der mit dem antisemitischen Vorurteil einer spezifisch jüdischen Wurzellosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit operiert. Diese Beweisführung wird insbesondere in der 1911 von Werner Somart veröffentlichten soziologischen Studie Die Juden und das Wirtschaftsleben vertreten, in welcher die Juden als Urheber und Nutznießer des Kapitalismus und der als negativ und bedrohlich empfundenen Moderne diffamiert werden. Durch die Zuschreibung der modernen Entwicklung und ihrer Begleiterscheinungen, wie »Spezialisierung, Mechanisierung, Unterdrückung der natürlichen Impulse und das rapide ansteigende Tempo im Alltagsleben, die Gefahr einer Moral ohne Gott, die sozialistische Revolution und der kulturelle Nihilismus«, als Produkt der Juden, wird der Antisemitismus für Peter Gay zum irrationalen Protest gegen die moderne Welt. (Gay, Freud, Juden und andere Deutsche [wie Einleitung, Anm. 18], S. 41 u. S. 42.) Vgl. Volkov, Zur Einfuhrung (wie Anm. 7), S. XVI.

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zum Teil wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Akkulturation verhindern kann, bedeutet es für einige die Möglichkeit, sich vom verhassten Dogmatismus einer als überkommen und überaltert angesehenen Religion und Tradition zu befreien. 21 Ähnlich wie die Modernisierer anderer Konfessionen bezeichnen die modernen Juden die strikten Vorschriften des jüdischen Gesetzes als erstarrt und lebensfeindlich und kontrastieren sie in moderner, lebensphilosophischer Terminologie mit dem schöpferischen Individuum und der lebendigen Gemeinschaft. Ganz im Sinne der Moderne und ihrer >vagierenden Religiosität unterscheidet daher beispielsweise Martin Buber zwischen der durch Dogma, Institution und Gesetz gekennzeichneten und daher negativ konnotierten Religion und der durch Situationsethik, Dialog und Leben charakterisierten und daher positiv bewerteten Religiosität. Auch bei ihm fuhren die allgemeinen modernen Entfremdungserfahrungen zu einer Betonung der Gemeinschaft. 22 Für die jungen jüdischen Intellektuellen bedeutet der inhärente Konservatismus der jüdischen Religion ein Hindernis für den Modernisierungsprozeß, dessen Druck sich alle Juden, ob Orthodoxe oder Reformer, ausgesetzt sehen. Daher vertritt Shulamit Volkov die These, »daß sich alle Strömungen im deutschen Judentum dieses dynamischen 19. Jahrhunderts mit der Modernisierung befaßten« 23 . »Die Juden wollten ihre Religion gern reformieren, nicht nur, um sie am Ende loszuwerden, sie >zu beerdigenGlaubendie eigentliche Krankheit der Zeit< wird allgemein akzeptiert, [...]. Erst später, und besonders infolge der nationalistischen Stellungnahme Wassermanns zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, findet eine entscheidende Änderung in der Bewertung Wassermanns auf Seiten der Prager Zionisten statt.« (Stimilli, Findlinge: Franz Kafka und Jakob Wassermann [wie Einleitung, Anm. 22], S. 481—482.) »Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde, vergleichbar dem Krieg von 1870, vom Gros der deutschen Juden nicht zuletzt deshalb begeistert begrüßt, weil von einem neuen nationalen Zusammenstehen die Einebnung der Hürden erhofft wurde, die der faktischen Erfüllung der rechtlichen Emanzipation immer noch im Wege standen.« (Bodenheimer, Wandernde Schatten [wie Einleitung, Anm. 21], S. 73.) Neben der Vorstellung von Bewährung und innerer Läuterung durch das existenzielle Kriegserlebnis war dies sicherlich auch die Hoffnung Wassermanns. In seinem 1913 erschienenen Roman »Der Mann von vierzig Jahren« geht diese Hoffnung noch auf. Denn Achim Ursanner, der »deutscheste Deutsche« (Jakob Wassermann: Der Mann von vierzig Jahren. Berlin: Fischer 1913, S. 201), erleidet im Sinne Wassermanns ein jüdisches Schicksal, indem er aufgrund seiner deutschfranzösischen Herkunft »eine fast trotzige Liebe für sein Vaterland, für deutsches Wesen und deutsches Leben« (ebd., S. 48) empfindet und dennoch misskannt und ausgeschlossen wird. Seine Liebe findet keine Erwiderung, und sein Gerechtigkeitsstreben wird nicht erhört, weshalb er schließlich resigniert nach Frankreich geht, um dort in den Kriegsdienst zu treten. Im Deutsch-Französischen Krieg trifft er auf Sylvester von Erfft, seinen ehemaligen Freund, den Deutschen, der sein Leben unreif, spielerisch und zuchtlos vergeudet hat und der nun »Achim Ursanners würdig« (ebd., S. 189) wird. Was sich im Roman erfüllt, nämlich dass die vermeintlichen Gegner in der Stunde der Bewährung wieder zueinander finden, wird in der Realität jedoch bitter enttäuscht. 37

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Martin Buber: Mein Weg zum Chassidismus [1917], In: Ders., Schriften zum Chassidismus (wie Anm. 61), S. 959-973, hier S. 966. Wassermann, Entwicklungszüge des modernen Romans (wie Kapitel 3, Anm. 65), S. 241.

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gen diese Nietzsche-Euphorie wendet sich Samuel Lublinski, wenn er dessen »physiologische Romantik« als »Mumpitz« bezeichnet, der auf »den noch völlig unbekannten Gesetzen der Vererbung« beruhe und auf den »so ziemlich alle jüngeren modernen Juden« hereingefallen seien, ebenso wie Jakob Wassermann, der »nach diesem unmöglichen Rezept« die »Juden von Zirndorf« gedichtet habe. 39 Alles in diesem Roman ist in fürchterlicher Weise »symbolisiert«, gewaltsam aufgedonnert, um nur ja recht deutlich zu zeigen, daß das Judentum das Unheil des Christentums in die Welt gebracht hat, und daß nun beides vor einer neuen Religion der Freude verschwinden muß. 40 Während Buber, »nachdem er sich für eine Art von pazifistischem Zionismus und existentiellem Judentum entschieden hatte, energische Anstrengungen unternahm, um sich von dem Einfluß, den Nietzsche in seinen jüngeren Jahren auf ihn ausgeübt hatte, zu befreien« 41 , bleibt Wassermann seiner Philosophie zeitlebens treu.42 Denn Nietzsches Schriften fungieren als Katalysator und Antrieb, Rechtfertigung und Erklärung für diejenigen Juden, die sich keiner Ideologie verschreiben wollen. »Sie übernahmen Nietzsches Anti-Dogmatismus und sein Plädoyer fur ein schöpferisches Leben - und sei es >am Rande des Abgrundsfreien Geistes< im Rahmen der kulturellen Konzeption eines >guten Europäersneuen Menschern, sondern ist auch M o d e l l persönlicher, individuell jüdischer Authentizität. D a s s seine Romanfiguren als solche rezipiert wurden, belegt exemplarisch die Bedeutung, die der Figur des A g a t h o n G e y e r in seinem frühen R o m a n » D i e Juden v o n Zirndorf« trotz der z u m Teil ablehnenden jüdischen Kritik b e i g e m e s s e n wurde. 4 5 D a s belegen auch Gershom S c h o l e m s Tagebucheinträge v o n 1915. Wir von heute haben keinen Himmel von gestern mehr. Beweise: Henri Bergson, Stefan George und Jakob Wassermann. [...] Wer von uns jungen Juden hat wohl nicht den gleichen Königstraum gehabt und sich als Jesus gesehen und Messias der Bedrückten. Ob an der Gestaltung unbewußt Hauptmann und Wassermann, von Buber ganz abgesehen, einen Anteil haben, weiß ich nicht. [...] Man müßte einmal den Versuch machen, über Wassermanns Juden von Zirndorf etwas zu sagen. [...] Es ist zweifellos der bisher außerordentlichste Judenroman. Über die Stimmung dieses Buches, die in einer Sphäre unterirdischen Lebens aufsteigt und direkt in die Ewigkeit geht, ganz direkt. Wir sind alle darin, wir jungen Juden, und wir sind nicht alle Agathon. Aber es ist doch ein chassidisches Buch, obwohl Wassermann nichts vom Chassidismus geahnt haben wird, als er es schrieb. Es ist zusammen mit dem Grünen Heinrich, der sein größter Gegensatz ist in allen Stücken, unser großer Zukunftsgesang. Wir können noch nicht anders als mit der Sehnsucht mit dem Grünen Heinrich mit, der ein Wurzelnder ist, der in jeder Minute, auch der verlassensten, einen Feigenbaum und eine Hütte hat, sozusagen, wir brauchen jetzt noch den Agathon, der kein Heim hat als die Ewigkeit und keine Wurzel als die Zerrissenheit der jüdischen Seele. Das Buch ist die Bibel des Abscheus vor Europa. Und es ist wunderlich, daß der »jüdischste« Mensch des Buches, der Wahrheitslügner Gudstikker ein Christ sein muß. Er wurzelt in der - freilich sehr komplizierten - Lüge, und tun das die meisten Juden nicht? Tun wir es nicht alle und müssen uns aus diesem falschen, unwirklichen Mutterboden loslösen, um zu uns zu gelangen? Wir alle suchen weiter nichts als diesen Agathon. 4 6

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Vgl. Jakob Wassermann: Die psychologische Situation des Judentums. In: Ders., Deutscher und Jude (wie Einleitung, Anm. 3), S. 133-148, hier S. 143. Vgl. Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 134. Vgl. zur ambivalenten jüdischen Literaturkritik auch Neubauer, Jakob Wassermann (wie Kapitel 3, Anm. 1), S. 99-109. Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. 1. Halbband 1913-1917. Unter Mitarb. von Herbert Kopp-Oberstebrink hg. von Karlfried Gründer u. Friedrich Niewöhner. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1995, S. 80, S. 116 u. S. 169. »In dieser seltsam überheblichen Phantasie nimmt sich Scholem nicht nur Hauptmanns Quint, sondern auch Wassermanns Agathon Geyer zum Vorbild. [...] Es scheint also, daß die Messiasvorstellungen, mit denen sich der junge Scholem trug, zum Teil auf christliche Anregungen zurückgingen, und daß seine Beschäftigung mit der Gestalt des Sabbatai Zwi sehr wohl durch die Lektüre eines

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5 Gerechtigkeit

im modernen

Judentum

Wassermann selbst ermöglichte das Konzept des >neuen (jüdischen) Menschern, trotz aller Anfeindungen und trotz aller Vergeblichkeit47 an der Einheit »Deutscher und Jude«48 festzuhalten. Der >neue MenschIch bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.< [...] Diese Art der Selbstdefinition von Juden in Deutschland hat Tradition. Schon die einflußreichste Interessenvertretung der Juden im Deutschen Kaiserreich hatte ihrer Vereinigung diese Bezeichnung als Namen gegeben: Der 1893 gegründete Centraiverein nannte sich im vollen Wortlaut: Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Mit seinen rund vierzigtausend Mitgliedern, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war er der größte jüdische Verein. Das Hauptziel des C. V. war der Einsatz für die vollständige Gleichberechtigung der deutschen Juden und der Kampf gegen den Antisemitismus.« (Christoph Schlick: Lage und Verhalten der deutschen Juden im Ersten Weltkrieg. In: Sachor 11 [2001], S. 21^10, hier S. 21.) Auch hier ist Wassermann Selbstdefinition prägnanter und vager zugleich, denn ohne den Bezug zu Staat und Religion enthalten die Begriffe »Deutscher« und »Jude« einerseits viel mehr, lassen jedoch offen, welche Attribute sie jeweils insgesamt umfassen. Vgl. Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 171. Ebd., S. 170. Auch wenn Nietzsche den Begriff »Authentizität« selbst nicht verwendet, setzt er ihn implizit in seiner Unterscheidung von »Wahrheit« und »Wahrhaftigkeit« voraus. Vgl. ebd. Ebd., S. 171.

5.2 Das Jüdische als religiöse Komponente der »inneren

5.2

Landschaft«

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Das Jüdische als religiöse Komponente der »inneren Landschaft«

Den diversen »hinterweltlerischen« Erlösungslehren setzt Nietzsche die Idee der reinen Immanenz und der Abschaffung aller Götter entgegen. Seine Kritik gilt der platonischen und christlichen Lehre, die die obersten Werte nicht immanent, also irdisch und lebensbezogen denkt, sondern transzendent, in geistiger Autonomie. Dennoch will er das idealistische Denken nicht durch ein materialistisches ersetzen. Sein Ziel ist ein idealistischer Neuansatz im naturhaften Sinne Heraklits: der immanente logos als Steuerungsprinzip der Welt. Insofern ist sein Denken im Kern metaphysisch strukturiert, und es kulminiert im idealistischen Glauben an die Individualstruktur des Menschen. 52 In diesem Sinne ist auch Wassermanns idealistische Vision des >neuen Menschen< zu verstehen, der durch seinen Geist alle Hindernisse besiegt und eine >neue Wirklichkeit erschafft. 53 In antirationalistischer Haltung ist für ihn die Vision stärker als aller Realismus und der »Jude als Orientale«, in »Vollkommenheit gesehen, vielleicht mehr eine Idee als eine Erscheinung«. Doch sind es für Wassermann »die Ideen, durch welche die Erscheinungen hervorgebracht werden«, und jede »menschliche Wirklichkeit [...] das Erzeugnis einer Idee« 54 . Deshalb kritisiert er nicht nur unkritischen Fortschrittsglauben und oberflächlichen Utilitarismus, sondern auch die von Nietzsche mit besonderer Vehemenz attackierte oberflächliche Christlichkeit der Moderne. Nach Ansicht Wassermanns ist der moderne Aberglaube Surrogat für den Verlust eigener, spezifisch jüdischer Tradition. Seine Kritik richtet sich daher insbesondere gegen die Haltung vieler junger Juden zum Christentum, aus deren oberflächlicher »Freigeisterei« ein »brünstiger Mystizismus« 55 geworden sei. »Ein Dämon scheint ihr Wesen verwundet und vergiftet zu haben; derselbe Dämon zwingt sie zu tun, was sie nicht sollten; sie wollen etwas scheinen, was sie nicht sind, und was zu sein sie sich gar nicht bemühen, nämlich freie Menschen« 56 . In seiner Unsicherheit und Desorientiertheit entspricht dieser »moderne Jude< Nietzsches Einschätzung des >modernen Menschern, dem der »Impetus zum Übermenschen« 57 fehlt. Seiner Orientierungslosigkeit »setzt Nietzsche die nonkonformistische Utopie des >neuen Menschen< entgegen, der 52

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Vgl. Bruno Hillebrand: Einführung. In: Ders. (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Kapitel 1, Anm. 247), S. 1-55, hier S. 3. »Alle Hindernisse besiegt doch nur der Geist; er umschließt die Tat und das Opfer.« (CW 571) »Wobei der Begriff des Geistes im Sinne der Zeit nicht als impotenter, analytischer Intellekt oder blosse Bewusstseinsklarheit aufzufassen ist, sondern als Gefühlsintensität, Wille, Bewegungskraft.« (Michener Oonk, Jakob Wassermanns Auffassung des »neuen Menschen« [wie Kapitel 3, Anm. 9], S. 187.) Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 32. Wassermann, Das Los der Juden (wie Anm. 29), S. 25. Ebd., S. 24. Meyer, Nietzsche als Paradigma der Moderne (wie Einleitung, Anm. 9), S. 139.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

durch kreative Akte aus dem >Labyrinth< hinausfindet« 5 8 . Wassermann gehört zu jenen jüdischen Intellektuellen, die um die Jahrhundertwende ein deutliches Bewusstsein von der Ohnmacht der überkommenen Metaphysik und Religion haben und die deshalb den wahrhaft freien Geist im Sinne Nietzsches propagieren. 59 Ihnen bieten Nietzsches atheistische Lösung des Glaubensproblems und seine Lehre der Selbsterlösung Halt und Anhaltspunkt für das individuelle Handeln, wobei Nietzsches atheistische Position durch die Fokussierung auf die Immanenz der Welt, auf Diesseits und Leben bereits eine Dimension jenseits von Theismus und Atheismus avisiert. 60 In diesem Sinne fuhrt auch Wassermanns Religionskritik jenseits von >seelenlosem< Atheismus und >mechanistischem< Rationalismus zur Fokussierung auf das Göttliche im Menschen. Wo gäbe es überhaupt noch Religion, die nicht im Kultus erfroren wäre, Göttlichkeit erzeugende? Die Welt: ein Universum, ein All, ein Unendliches entzieht sich als Bau und als Gebilde mehr und mehr jeder menschlichen Vorstellung, die Götter lassen sich in keinerlei Gestalt mehr denken. Dafür erobert der Mensch die Schöpfung für sich, das Menschentum selbst gewinnt an Bedeutung, Kraft und Tiefe, wir erkennen das Göttliche im Menschen. 61

W o eine Anbindung an ein oberes göttliches (Gerechtigkeits-)Prinzip fehlt, sich die Menschen »nicht ohne Grund« »von der Religion ebenso im Stich gelassen« fühlen »wie von der Wissenschaft« 6 2 , bedarf es einer alternativen Sinnkonstruktion. Für Wassermann ist es die Zugehörigkeit zu einer »metaphysischen« Schicksalsgemeinschaft im Sinne Diltheys. Sie prägt die »eigene innere Seelenlage«, die »innere Landschaft« 6 3 des Menschen. Aus ihr entwickelt er die ethischen Prinzipien, und an sie bindet er sie zurück. Deshalb ist sein Bekenntnis zum Judentum nicht allein Solidarisierung mit den Unterdrückten 6 4 , sondern auch konstitutiver Teil der eigenen Persönlichkeit und seelischen Gesundheit. Im Grunde beruhen alle sittlichen Grundregeln, alle religiösen Regungen und alle geistigen Strömungen eines Menschen auf tief verwurzelten Stammeserinnerungen. [...] Die innere Landschaft, in vielen Verlagerungen, in unendlichen Verschichtungen bis auf den Urgrund der Zeiten hinab, formt nicht bloß die Seele, sondern gibt auch dem menschlichen Antlitz seine einmaligen Züge. [...] Bin ich doch von Grund und Uranfang auf dem verhaftet, was ich forme und was als Erbgut der Geschichte,

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Ebd. Vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 62. Vgl. Meyer, Nietzsche als Paradigma der Moderne (wie Einleitung, Anm. 9), S. 148. Wassermann, Das Los der Juden (wie Anm. 29), S. 23. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 166. Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere (wie Einleitung, Anm. 4), S. 232. Vgl. Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums (wie Anm. 45), S. 144-145. Vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 218 u . S . 221-222.

5.2 Das Jüdische als religiöse Komponente der »inneren Landschaft«

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Stammesgeschichte, Landschaftsgeschichte, Seelengeschichte schicksalsmäßig mit meinem Wesen verwoben ist und mein Leben von Stufung zu Stufung gestaltet.65 Wassermann konstruiert eine historische Bindung, die nicht primär äußerlich ist, sondern auf einem seelischen Kontinuum, als einer Synthese von genetischen, sprachlichen, kulturellen, religiösen, traditionellen, mythologischen, ethnischen, normativen, topographischen und anderen Komponenten, basiert, das den Einzelnen prägt und zum konstitutiven Teil seiner inneren und äußeren Struktur wird. Insofern können einzelne Bestandteile nicht ohne Beschädigung der Person negiert werden, und insofern ist Wassermann Definition »Deutscher und Jude« nicht als Addition, sondern als Synthese zu verstehen. 66 Die »innere Landschaft« entspricht jener Totalität des seelischen Zusammenhangs, die nach Ansicht Diltheys den »historisch-gesellschaftlichen Sinnhorizont« 67 des Menschen bildet, der sein Erleben prägt und der ihn mit der geschichtlich konkretisierten Allgemeinheit verbindet. Über die Teilhabe am »objektiven Geist« ist das individuelle Erlebnis Ausdruck sowohl der Allgemeinheit als auch der moralisch-religiösen Wahrheit, die jedem individuellen Erlebnis als gleichsam >meta-physisches< Lebensgesetz zugrunde liegt. 68 Daher begreift Wassermann seine historisch-mythologische Eingebundenheit in religionskritischer Abgrenzung nicht allein als »geistiges Bekenntnis, es ist ein religiöses. Wenn anders Religion die demütige Verfallenheit an eine unbekannte obere Macht ist, die wir für heilig erklären, weil sie den irdischen Maßen und Bindungen entrückt ist. So und nur so bin ich Jude, bin ich Deutscher, bin ich

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Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere (wie Einleitung, Anm. 4), S. 233 u. S. 235-236. Die Aufgabe der jüdischen Komponente bedeutet für Wassermann letztlich den Verlust dieses geistigen Kontinuums. In der Isolation eines solchermaßen geistigseelischen Vakuums ist für ihn kein (erfülltes) Leben möglich. »Wenn einer bloß auf sich selbst steht, steht er auf nichts; daß er dann die Unsicherheit seiner Position immerfort spürt, ist nicht weiter verwunderlich; weil er sie spürt und darüber unglücklich ist, [...]. Es ist ihm sozusagen die Idee des Daseins geraubt, infolgedessen muß er jede Wirkung und jedes Gelingen erst ertrotzen, muß seine Anlagen und Fähigkeiten überspannen und bildet ein jammervolles Schauspiel beständiger Unruhe und Gier.« (Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums [wie Anm. 45], S. 146.) Hans-Ulrich Lessing: Das Verstehen und seine Grenzen in Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften. In: Gudrun Kühne-Bertram, Gunter Scholtz (Hg.): Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 49-67, hier S. 63. In der Darstellung dieser universalen Lebensgesetze, der inneren Zusammenhänge aller Lebenserscheinungen, in der Überhöhung der chaotischen Wirklichkeit zu Symbol, Gestalt und Bild als dessen Essenz und allgemeiner Wahrheit sieht Wassermann denn auch die Aufgabe der Dichtung. Vgl. exemplarisch Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), bes. S. 169, S. 172-173, S. 180 u. S. 189.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

Mensch.«69 In der für die Jahrhundertwende typischen Haltung befürwortet Wassermann zwar die Aufgabe einer als dogmatisch, erstarrt und lebensfremd empfundenen Religion, hält jedoch an der unabdingbaren Relevanz einer mythischen Religiosität als konstitutive Komponente der »inneren Landschaft« fest. 70 Diese Komponente haben fur ihn die »sogenannten modernen Juden« aufgegeben, weshalb sie ohne Fundament und daher ohne Zukunft sind, während der »orientalische Jude< im Bewusstsein seiner Vergangenheit der Verantwortung für die Zukunft gewachsen ist. Für Wassermann beinhaltet das jüdische Erbe jenes schöpferische Reservoir, das einzig der »orientalische Jude< als Potenzial und Schöpferkraft zur Gestaltung einer zukünftigen Menschheit besitzt und das ihn sowohl gegenüber den Nicht-Juden auszeichnet als auch gegenüber den modernen Juden, die dieses Erbe um einer vermeintlich leichteren Existenz willen verleugnen.71

5.3

Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische Sendung und Idee harmonischer Einheit

Der von der Orthodoxie befreite, aber der inneren Tradition verhaftete »orientalische Jude< scheint prädestiniert, Nietzsches Kulturaufgabe einer Neuschöpfung der Werte zu erfüllen. Entsprechend sehen sich insbesondere die »Grenzjuden« dazu aufgerufen, inmitten der allgemeinen Säkularisierungstendenzen Nietzsches Auftrag einer höheren, verjüngten europäischen Humanität zu erfüllen. 72 Denn nachdem sie Religion und Ressentiment in ihrem Herzen ein Ende bereitet haben, sind sie bereit, die Umwertung der Werte und die Transformation des Kulturwesens herbeizuführen, weshalb ihnen sein Ausruf gilt:

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Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere (wie Einleitung, Anm. 4), S. 236. »Dennoch wird alles Geschehen im Gruppen- und Stammesgedächtnis aufbewahrt und bildet den historischen und mythologischen Erlebniskern. Dieser steten Konfrontation mit dem Gewesenen waren die Juden mehr als jedes andere Volk ausgesetzt, da sich ihre ganze Existenz immer zwischen Gesetz und Legende bewegt hat.« (Wassermann, Selbstbetrachtungen [wie Einleitung, Anm. 3], S. 216.) Das für die Lebenswirklichkeit verbindliche Religionsgesetz und die Legende, die erzählenden, didaktischen Texte des nichtgesetzlichen Talmud, sind nach Ansicht Gershom Scholems die fundamentalen schöpferischen Kräfte des Judentums. Ähnlich wie für Scholem der Gesamtkorpus der Legende als ein »volkstümlicher Mythos der jüdischen Welt« betrachtet werden kann, ist für Wassermann sein Judesein nicht in den dogmatischen Gesetzen, sondern in einem mythologisch-legendenhaften, innerseelisch-unbewussten und kollektiv-geistigen Kontinuum verortet. Vgl. Joeris, »Aspekte des Judentums im Werk Jakob Wassermanns« (wie Kapitel 3, Anm. 61), S. 45. Vgl. Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 29-32. Vgl. Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 172.

5.3 Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische

Sendung

187

»Welche Wohlthat ist ein Jude unter Deutschen!«73 Durch die Neuschöpfung der Werte wollen sie das Vakuum füllen, das mit der Abschaffung Gottes entstanden ist. Darin sieht auch Wassermann die »weltgeschichtliche Mission«74 der individualisierten, aber über die innere Tradition verbundenen Juden, zu deren Sendung er sich bekennt.75 Insofern erklärt sich das von Klara Pomeranz Carmely kritisierte Paradox, dass Wassermann einerseits das Dogma der (göttlichen) Auserwähltheit des kollektiven Judentums ablehnt und gleichzeitig an der Vorstellung einer besonderen Sendung einzelner Juden, eben aufgrund ihrer (historisch-innerseelischen) Sonderstellung, jenseits aller festgefügten Dogmen und Ideologien festhält. 76 Nur vom Juden selbst hängt es ab, ob er in Kämpfen, die fruchtlos sind, weil sie der lebendigen Wirkung ermangeln, nicht seine inneren Kräfte vergeuden will. Er vergesse es, daß ihn das Vaterland nicht aller Amtsehren und -funktionen würdigt, die er zu vergeben hat, und wenn er nicht Russe oder Deutscher im vollen Sinne werden kann, so werde er desto mehr Mensch. Für dieses Ziel kann er gar nicht genug leiden. 77

Wassermann vertritt das Ideal der Humanität im Sinne der von Nietzsche und anderen Lebensphilosophen propagierten neuen Qualität wahrhaft freier, unabhängiger Geister, die »nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes«78. Dieses Ideal kann jedoch auch für Wassermann nicht ein Kollektiv, sondern nur der (jüdische) Ausnahmemensch verwirklichen, weshalb dem Judentum seiner Ansicht nach auf kollektiver Ebene keine Sonderstellung zukommen kann, 79 während er auf individueller Ebene die »persönliche Auserwähltheit im Unendlichen« 80 anerkennt. Aufgrund seiner historisch-innerseelischen Besonderheit erscheint ihm der jüdische Mensch prädestiniert für die Rolle der »überhumanen« Ausnahmeerscheinung. Als Repräsentanten dieses universal >Überhumanen< hat Wassermann beispielweise auch Christian Wahnschaffe 81 und Ruth Hofmann 82 73 74 75

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Nietzsche, KSA 13, S. 456. Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums (wie Anm. 45), S. 138. Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 105. Vgl. Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 6), S. 65. Wassermann, Das Los der Juden (wie Anm. 29), S. 27. Nietzsche, KSA 5, S. 60. »Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig einen Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Kapitel 3, Anm. 66], S. 72.) Ebd., S. 73. Obwohl er aus einer protestantischen Familie stammt (vgl. CW 48), verkörpert Christian als Repräsentant des >ÜberhumanenJudasfigur< Voß neidvoll anerkennen muss. Vgl. CW 305. Vgl. Mt. 21, 33-39. Vgl. Joeris, »Aspekte des Judentums im Werk Jakob Wassermanns« (wie Kapitel 3, Anm. 61), S. 125 u. 128. Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 31-32.

5.3 Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische Sendung

189

Wassermann entwirft hier jenen »Überjuden«, dem Nietzsche nach dem Tod Gottes die Aufgabe kultureller und normativer Neuschöpfimg zuerkannt hat88, dem es gelingt, die herrschende Moral, die eine Spaltung der Persönlichkeit und die Unterdrückung wesentlicher Anteile des Selbst verlangt, zu überwinden und die vermeintlich antagonistischen Prinzipien im Modus persönlicher Authentizität zu vereinen. Denn für Wassermann muss Zielsetzung des modernen Juden sein, »zwei nur dem Scheine nach verschiedene Formen der Existenz in seinem Gemüt zum Einklang zu bringen«89, wobei er sich der Schwierigkeit einer solchen inneren Harmonisierung bewusst ist. Denn über das seelische Ressentiment »zu siegen und es in freier Menschlichkeit aufzulösen, erfordert nicht nur einen entschlossenen Gerechtigkeitswillen, sondern auch die Einsamkeit einer selbstseienden Persönlichkeit«90. Gemäß den modernen Entfremdungserfahrungen und Ganzheitswünschen klingt in diesem Bestreben zudem die Sehnsucht nach dem Ursprung an, der Wunsch, zurückzukehren zu »jener mythischen Zeit, zu jener kindheitlichen Zeit ursprünglichen, noch unzertrennten Daseins« 91 , die Sehnsucht nach jenem Urjudentum, das alle Zweiheit in der Einheit verbindet. Ähnlich den kosmogonischen Spaltungsmythen steht dahinter die Vorstellung, dass sowohl die Dualität konstitutives Wesensmerkmal des Judentums ist als auch das Streben nach Einheit und

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»Ohne die Hingabe und den untrüglichen Enthusiasmus des modernen Juden wäre es um das Kunstverstehen und -empfangen der letzten fünfzig Jahre kümmerlich bestellt gewesen. Das hat schon Nietzsche immer wieder betont, dem die Antisemiterei, wie er es nennt, Greuel und Schrecknis war, mehr noch, Beleidigung.« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Kapitel 3, Anm. 66], S. 118.) Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 30. Was bei Wassermann strukturlogisch angelegt ist, nämlich dass der >neue Mensch< nur aus der jüdischen Komponente hervorgehen kann, dafür plädiert der junge Martin Buber unter Verwendung der Terminologie Nietzsches, nämlich für die bewusste Entscheidung zugunsten des Judentums. »Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll. Dies ist es, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte, die Wurzel aller Judenfragen, die Frage, die wir in uns selbst finden, in uns selbst klären und in uns selbst entscheiden müssen. Es ist einmal - von Moritz Heimann - gesagt worden: >Was ein auf die einsamste, unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als >Judenfrage< anerkennt, das einzig ist sie.< Ja, das einzig ist sie.« (Martin Buber: Das Judentum und die Juden. In: Ders.: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911, S. 9-31, hier S. 26-27.) Diese drei Reden hat Buber 1909 vor dem Prager Bar-Kochba-Kreis gehaltenen. Vgl. Och, Zion, Heimat, Golus - Jakob Wassermann zwischen jüdischer Selbstbesinnung, Assimilation und Antisemitismus (wie Kapitel 3, Anm. 62), S. 177. Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums (wie Anm. 45), S. 142. Martin Buber: Das Judentum und die Menschheit. In: Ders., Drei Reden über das Judentum (wie Anm. 89), S. 33-56, hier S. 45.

190

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

Ganzheit und dass die Erlösung in der Überwindung der Dualität und der Erreichung dieser Einheit liegt. Das Judentum ist nicht einfach und eindeutig, sondern vom Gegensatz erfüllt. Es ist ein p o l a r e s Phänomen. »Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein wahrer Mensch; der Schönheit fähig und doch häßlich; lüstern und asketisch, ein Scharlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude.« In diesen Worten hat Jakob Wassermann einst das gefaßt, was ich als das Grundproblem des Judentums, als den rätselhaften, furchtbaren und schöpferischen Widerspruch seines Daseins empfinde: seine Dualität.92 Ebenso wie Wassermann geht auch Buber von einer besonderen Sendung des Judentums aus, die eben auf jenem radikalen Bewusstsein seiner dualistischen Polarität basiert. Entsprechend besteht für ihn die »Bedeutung des Judentums fur die Menschheit« darin, »daß es an sie immer wieder die Forderung der Einheit heranbringt; die Forderung, die aus der eigenen Entzweiung und der Erlösung von ihr geboren wird« 93 . Einheit zu schaffen, Gegensätze zu harmonisieren und das Gleichgewicht wiederherzustellen bedeutet für Wassermann letztlich Gerechtigkeit zu schaffen. Daher sind für ihn die Attribute >Judesein< und >sich um Gerechtigkeit bemühen< wie die zwei Seiten einer Medaille untrennbar miteinander verbunden. 94 In der spezifisch jüdischen Sehnsucht nach Einheit und dem daraus resultierenden Sendungsbewusstsein liegt für Wassermann die besondere Stellung des Judentums gegenüber der Gerechtigkeit begründet. Daß die Gerechtigkeit, nicht bloß als Idee, als Inkarnation des göttlichen Wesens, sondern als sittliche Forderung von höchster ungestümster Dringlichkeit das moralische und legislative, politische und religiöse Fundament des Judentums bildet, kann nicht bestritten werden. [...] Sie war nicht bloß ein Ergebnis vergangener Leiden, sie war auch ein ahnungsvoll errichteter geistiger Schutz gegen die künftigen, an deren Ende, als Erlöser von allem Unrecht, der große Ausgleicher und Entschädiger, der Messias, stand.95 Die Vorstellung der Gerechtigkeit als umfassender Harmonisierung, wonach die äußeren Handlungen lediglich Spiegel der inneren seelischen Verfasstheit sind und ein gerechter Mensch sich nicht primär durch gerechte Handlungen, sondern durch die ihnen zugrunde liegende harmonische Seelenverfassung auszeichnet, ist genuin platonischen Ursprungs. In einer besänftigten und ge92

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Ebd., S. 37-38. Zur Verdeutlichung der Dualität des Judentums zitiert Buber in seiner Rede aus der veränderten zweiten Romanauflage der »Juden von Zirndorf«. Vgl. Jakob Wassermann: Die Juden von Zirndorf. Mit einem Nachwort von Gunnar Och. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 64. Die Ausgabe folgt der 1897 bei Langen erschienenen Erstausgabe. Vgl. Och, Zion, Heimat, Golus - Jakob Wassermann zwischen jüdischer Selbstbesinnung, Assimilation und Antisemitismus (wie Kapitel 3, Anm. 62), S. 184-185. Buber, Das Judentum und die Menschheit (wie Anm. 91), S. 54. Vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 218. Ebd., S. 216.

5.3 Die Gerechtigkeit als spezifisch jüdische Sendung

191

zähmten Seele verbinden sich demnach die Gerechtigkeit mit Besonnenheit und Weisheit zu einer harmonischen Ganzheit. 9 6 Die Idee der Harmonisierung des inneren und äußeren Lebens gewinnt um die Jahrhundertwende über den Alleinheitsgedanken eine erneute Aktualität. Denn durch die Verbundenheit aller Wesen wirkt die innere Harmonie bzw. Disharmonie des Individuums unmittelbar auch auf die soziale und kosmische Gemeinschaft. Als innere Harmonie definiert denn auch Wassermann die Gerechtigkeit, wobei das von ihm konstruierte Gleichgewicht in einer Mittellage besteht, wie sie beispielsweise Aristoteles, aber auch Buddha für das rechte Maß zwischen zwei Extremen definiert haben. [...]; offenbar ist sie eine Gleichgewichtslage der Seele, wenn wir auf die eine Waagschale die Schuld und auf die andere die Sühne legen, oder das Verbrechen auf die eine, die Strafe auf die andere; oder das Leiden auf die eine und die Aufhebung des Leidens auf die andere. Und dann: ob ich selbst das Leiden, die Schuld trage oder der Nebenmensch, ob ich also mittelbaren oder unmittelbaren Anteil an der Wiedergutmachung habe; danach richten sich Befund, Urteil und der Schmerz über den fehlenden Ausgleich, der vollkommen unverwindbar ist. In allen Fällen ist es eine Frage von Maß und Gewicht, eine, mit der die innere Substanz des Menschen zu tun hat, sein Weltgefühl, sein Gottgefühl, sein Selbstgefühl, sein Vertrauen in die immanente Ordnung der Dinge. Es ist, möchte ich sagen, eine Lichtfrage; je nach der Überzeugung, die wir empirisch, persönlich oder außerpersönlich, von jener Verwaltung des Seelengutes gewinnen, die wir Gerechtigkeit heißen, ist unser Leben mit Helligkeit gesegnet oder zur Finsternis verdammt. Davon kann sich keine menschliche Kreatur freimachen. Das Maß von Gerechtigkeit, nach welchem in irgendeiner Gemeinschaft verfahren wird, sei es der Staat, sei es die Familie, sei es die Menschheit als Ganzes, ist das Regulativ für die Gesamtsumme von Freude, Aufschwung, Willigkeit, Dienst, Behagen, überhaupt von allem Glück, die sie zu produzieren vermag. 97 Für Wassermann ist die Gerechtigkeit Bedingung sowohl des individuellen als auch kollektiven Glücks, wobei im Gegensatz zu den antiken Konzeptionen die menschliche Glücksmöglichkeit für ihn auf individueller Ebene primär in der heroischen Leidensannahme und -Überwindung sowie zwischenmenschlich in der Leidensminderung besteht. In der Betonung der positiven Wirkung der Gerechtigkeit entspricht er jedoch den antiken Ethiken. In der »Politeia« legt Piaton dem Begriff dikaiosyne eine lange Argumentation zugrunde, die zeigen soll, dass im Gegensatz zur sophistischen Auffassung ein moralischer Habitus nicht nur den eigenen Interessen nicht schadet, sondern sogar das wichtigste Glückskonstituens überhaupt darstellt. Auch für Aristoteles dient die Gerechtigkeit primär dem eigenen Glück, wie auch Sokrates davon ausgeht, dass »alle Menschen das Unrechttun für schlimmer halten als das Unrechtleiden und das Nicht-gestraft-werden als das Gestrafit-werden« 98 . Diese Ansicht basiert auf der Vorstellung, dass die Gerechtigkeit für die Seele die gleiche Funktion 96 97 98

Vgl. Piaton, Politeia IX 591b 3-8. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 215-216. Piaton, Gorgias 474b 3-5.

192

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

erfüllt wie die Gesundheit für den Körper. Deshalb ist es unklug, Unrechtes zu tun und sich damit selbst zu schaden. »Der Glückseligste also ist, der keine Schlechtigkeit in der Seele hat, da diese sich als das größte Übel gezeigt hat.« 99 Diesen bestmöglichen Charakterzustand erreicht laut Piaton jedoch nur, wer sich um intellektuelle Erkenntnis und Nachahmung der Ideenordnung bemüht. Daher bezeichnet er die Einübung in die Gerechtigkeit und Tugend auch als »Verähnlichung mit Gott« {homoiösis theo), was einem Ähnlichwerden der Ideenordnung entspricht. 100 Die platonische Ideenlehre bildet eine absolute und allgemeingültige Basis für politisch-ethische Normen und Werte, denn unabhängig vom Handeln der Menschen, von ihren kulturellen Eigenarten und vertraglichen Satzungen existiert mit den Ideen ein unabhängiges, unwandelbares und universales Gutes und Gerechtes.

5.4

Die Erfüllung der Gerechtigkeit in der konkreten Tat

Diese Sicherheit besitzt die Moderne nicht mehr, weshalb Wassermann die Existenz und Umsetzung der Gerechtigkeit nicht mehr an eine als vage und ungewiss empfundene göttliche Instanz zu delegieren vermag. Für ihn obliegt die Gerechtigkeit der Verantwortung des Menschen und ist im Leben selbst immanent verortet. Doch aufgrund der historisch-empirischen Beweislage, insbesondere der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, die Signum der Unfähigkeit vor allem des christlichen Europa 101 ist, Gerechtigkeit herstellen zu können und zu wollen, existiert neben der irdischen Gerechtigkeit auch für Wassermann die Idee einer absoluten, überpersonalen Wirkkraft, eines Natur-, Lebens- oder Weltgesetzes, vergleichbar dem Heraklitischen Logos, ein (karmischer) Wirkzusammenhang, den er in lebensphilosophischer Vorstellung entweder in der Tiefe des Lebens oder dem Äther des Sternenraumes, d. h. in einer überpersonalen und überhumanen Sphäre, verortet. Ich ahne, daß es etwas dergleichen wie Gerechtigkeit gibt, vielleicht als bindende Kraft im kristallenen Element, nimmermehr aber im weiterwirkenden menschlichen Tun. Dies Kristallene aber ist hoch über uns, Worte fassen nur täppisch hin, und willst dus greifen, wirds Irrtum und Lüge, und willst dus nennen, mußt du still werden wie eine Wasser in der Ebene, in dem sich der Himmel spiegelt. 102

Für Wassermann bleibt der Mensch trotz seines Mangels an Kompetenz, Gerechtigkeit zu erfassen, zu definieren und umzusetzen, sowie der dazu nötigen 99

Ebd., 478d 12-e 1. 100 Vgl. Horn/Scarano (Hg.), Philosophie der Gerechtigkeit (wie Kapitel 1, Anm. 2), S. 26. 101 Vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 216-217. 102 Ebd., S. 222. Vgl. Jakob Wassermann: Achim, Bruchstück eines Gesprächs über die Gerechtigkeit. In: Ders., Lebensdienst (wie Einleitung, Anm. 2), S. 180-185, hierS. 185.

5.4 Die Erfiillung der Gerechtigkeit in der konkreten Tat

193

Willenskraft und Bereitschaft in letzter Instanz für die Umsetzung der Gerechtigkeit verantwortlich. Denn auch wenn er von einem wie auch immer gearteten Ideal oder Gesetz der Gerechtigkeit ausgeht, ist der Mensch fur die Realisierung und Konkretisierung dieser Wirkkraft selbst verantwortlich. Seine moderne, von Nietzsche geprägte antimetaphysische bzw. metaphysischanthropozentrische Haltung korrespondiert in dieser Hinsicht daher weniger mit der platonischen Ideenordnung als mit der von Aristoteles entwickelten Ethik, »die - j e nach Interpretation - entweder ohne metaphysische Prämisse auskommt, oder sich allenfalls mit einer minimalen Metaphysik zufriedengibt« 103 . In antimetaphysischer Abgrenzung von Piatons Idee des Guten steht bereits für Aristoteles das »höchste menschliche Gut« 1 0 4 im Mittelpunkt, der Mensch »in concreto« 1 0 5 . In der Nikomachischen Ethik hat er dieses Höchste als das Glück definiert, das sich in der konkreten Tat aktualisiert. Aristoteles betont das unauflösliche Wechselverhältnis zwischen dem Wissen des praktischen Rechten und Guten und dem theoretischen Ideal. Erst im Bewusstsein des Menschen kommt die Gegenwärtigkeit des Seienden zu seiner Gegenwart und die Potenzialität der Tugend zu ihrer Aktualisierung. 1 0 6 Ihr alleiniger Besitz ist daher nicht ausreichend, die Möglichkeit bzw. Potenzialität muss in der Wirklichkeit, der Aktualität bzw. Aktivität vollzogen werden, denn wie »in Olympia nicht die Schönsten und Stärksten den Kranz erlangen, sondern die, die kämpfen (denn nur unter ihnen befinden sich die Sieger), so werden auch nur die, die recht handeln, dessen, was im Leben schön und gut ist, teilhaftig« 1 0 7 . Jenseits von antiker Vernunft- und Glücksethik erfüllt sich auch für Wassermann die Vorstellung eines >geglückten< Lebens in der Verwirklichung der guten Potenzialität des Menschen, in der heroischen Selbstentäußerung einer Tatethik, in der das Streben des Menschen auf Gerechtigkeit und mithin auf die individuelle und kollektive Einheit gerichtet ist. Diese Einheit ist für Wassermann einzig durch Dienst und altruistische Hingabe für die Menschheit zu erreichen. Der heroische »Übermensch« ist der opferbereite, selbstvergessene, mit der Alleinheit identische Erlöser, der sich durch »Verstand und Güte, Be103

Otfried Höffe: Einfuhrung. In: Ders. (Hg.): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik. Berlin: Akademie 1995 (Klassiker Auslegen; 2), S. 3-12, hier S. 5. 104 Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Kapitel 3, Anm. 133), 1094b 5-10. 105 Vgl. ebd., I 5, 10967b 30-1097a 15. »Auch der Arzt faßt offenbar nicht die Gesundheit an sich in's Auge, sondern die des Menschen, oder vielmehr die dieses Menschen in concreto. Denn er heilt immer nur den und den.« (Ebd., 1097a 1114.) In dieser Weise hat auch Christian nicht das Universale und Allgemeine im Blick, nicht abstrakte Ziele und Zwecke, sondern immer den einzelnen, konkreten Menschen, den es zu heilen und von seinem Leiden zu befreien gilt (vgl. CW 745). 106 Ygj Hans-Georg Gadamer: Aristoteles. Nikomachische Ethik VI. Frankfurt a. M.: Klostermann 1998, S. 21. 107 Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Kapitel 3, Anm. 133), 1 9, 1098b 3 0 1099a 5.

194

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

reitschaft zu dienen, zu fordern«108 auszeichnet, durch die »Leidenschaft des Empfangens«, den Willen, nicht »Quelle«, sondern »Schale« 109 zu sein, sowie die Bereitschaft, der »Krankheit der Epoche überhaupt, der Schrumpfung des Herzens und Hypertrophie des Intellekts« 110 durch Dienst, tätige Nächstenliebe, nie ermüdendes »Wohlwollen«, Uneigennützigkeit und »Verbindlichkeit« 111 entgegenzuwirken. Ist für Buber neben der Idee von Einheit und messianischer Zukunft die Tat »die zweite Idee des Judentums« 112 , auf der sein schöpferisches Potenzial basiert, so ist die von Wassermann dezidiert vertretende Tatethik zudem vom buddhistischen Ideal zweckloser Hingabe beeinflusst. 113 Das Böse ist seiner Natur nach viel aktiver, daran mag es liegen, das meiste, was wir Tat nennen, steht ja auf der Messerschneide zwischen Gut und Böse; vielleicht ist darum die Erkenntnis Buddhas so tief und das buddhistische Ideal am weitesten von aller Tat entfernt. 114 Auch wenn Wassermann das Böse als das aktivere Prinzip bezeichnet, ist das Gute für ihn nicht mit Passivität gleichzusetzen. Es ist vielmehr, was Walter Voegeli als »aktive Passivität«, als »Ruhen und Schwingen im Sein« 115 beschreibt, jenes Einssein mit der ethischen Wirkkraft des Lebens, dessen positiv-subversiver Kraft Wassermanns Hoffnung gilt. »Warum sollte nicht eine Ansteckung des Herzensadels und der Cortesia möglich sein, da doch die Ansteckung des Übels seit eh und je zum eisernen Bestand unserer Lebens108 109

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Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 112. Ebd., S. 119. In diesem Sinne ist Christian die Schale, die das Leid der Welt in sich fasst, das Feuer, welches das Unrecht vertilgt (vgl. CW 195 u. 388). Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 120. In seiner 1906 erschienenen Erzählung »Unterm Rad« entlarvt Hermann Hesse die »Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden Degeneration« als Konsequenz einer durch rigide Erziehungsmaßnahmen und Lehrmethoden betrogenen und vergewaltigten Kindheit. (Hermann Hesse: Unterm Rad. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972 [suhrkamp taschenbuch; 52], S. 8 u. vgl. S. 118.) Ebenso wie Hesse, der die Auswirkungen einer einseitigen Überbetonung des Intellekts am Einzelschicksal eines Kindes verdeutlicht, dessen Dekadenzsymptome er als seelischen Befreiungsversuch aus dieser Vereinseitigung deutet, versteht Wassermann in gesellschafts- und wissenschaftskritischer Haltung die >Überintellektualisierung< als Zeichen eines mangelnden (ethischen) Lebensbezugs. Vgl. Fick, Literatur der Dekadenz in Deutschland (wie Kapitel 3, Anm. 34), S. 227. Jakob Wassermann: Rede über Humanität. In: Ders., Lebensdienst (wie Einleitung, Anm. 2), S. 383^20, hier S. 394. Martin Buber: Die Erneuerung des Judentums. In: Ders., Drei Reden über das Judentum (wie Anm. 89), S. 57-102, hier S. 79. »Der wahre Dienst ist der unbefohlene; Freude bringt in das menschliche Leben nur, wer keine Zwecke verfolgt.« (Wassermann, Rede über Humanität [wie Anm. I l l ] , S. 390.) Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 221. Walter Voegeli: Jakob Wassermann und die Trägheit des Herzens. Winterthur: Keller 1956 (zug. Zürich, Diss. ο. J.), S. 126.

5.4 Die Erfüllung der Gerechtigkeit in der konkreten Tat

195

erwartungen gehört?« 1 1 6 Es soll eine Erneuerung initiiert werden, die von »jener Reihe kleiner und kleinster Handlungen bewirkt wird, die gleichsam unter der Oberfläche des Lebens geschehen, in B e w e g u n g und Folge kaum wahrzunehmen sind und doch eine so allmähliche spürbare Veränderung hervorbringen w i e der Golfstrom auf das Klima zweier Kontinente« 1 1 7 . Für Wassermann ist dieser untergründige Einsatz für die Gerechtigkeit »wesentlich aufnehmend« 1 1 8 , und er orientiert sich wie bei Guyau nicht am unerreichbaren Ziel einer universalen Leidensminderung, sondern am »kleinen Tun. U m nichts anderes handelt es sich als um das kleine und allmähliche, das unscheinbare Augenblickstun.« 1 1 9 Damit ist unmittelbar notwendige humanitäre Hilfe gemeint, die sich nicht am Gesetz oder sittlichen Ideal orientiert, sondern am konkreten Menschen und seiner unmittelbaren Bedürftigkeit, was Einfühlungsvermögen sowie das Bewusstsein von Würde und Gleichheit des anderen voraussetzt. D i e Fähigkeit zur Empathie korrespondiert bei Wassermann sowohl mit dem primär rezeptiven Charakter der Gerechtigkeit als auch mit dem ästhetisch Schönen sowie mit dem Wesen der cortesia, die er als »Ehrerbietung, Hingabe, Demut, Hilfsbereitschaft und Heiterkeit« 1 2 0 umschreibt. Gemeint ist damit jene bergsonsche Höflichkeit des Herzens, die sich dem ande116 117 118 119 120

Wassermann, Rede über Humanität (wie Anm. 111), S. 415. Ebd., S. 400. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 189. Wassermann, Rede über Humanität (wie Anm. 111), S. 386. CW 64. Es gehört zum Wesen der Gerechtigkeit, sie mit dem ästhetisch Schönen zu identifizieren. Entsprechend spricht Wassermann von der »Schönheit des Heimannschen Charakters«. (Wassermann, Selbstbetrachtungen [wie Einleitung, Anm. 3], S. 190-191.) Ein solches In-eins-Setzen findet sich u. a. bei Piaton, Aristoteles, Epikur, Cicero oder Plotin, für den der Urquell des Seins mit dem Urquell des Schönen identisch ist, weshalb der Kunst beim Erkenntnisprozess des wahrhaft Seienden für ihn eine besondere Bedeutung zukommt. Denn das ästhetische Erlebnis eröffnet laut Plotin den Zugang zum ursprünglich Seienden, indem die Seele beim Anblick des Schönen sich ihres göttlichen Ursprungs erinnert. Die ästhetische Erkenntnis ist demnach eine Wiedererinnerung, die vom obersten Seelenteil geleistet wird und ebenso einen vernünftigen wie emotionalen Vorgang darstellt. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse vermag das Kunstwerk die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit widerzuspiegeln. Ein solches Kunstwerk kann nur ein Künstler schaffen, der die Gabe der Intuition besitzt, und es erschließt sich nur demjenigen, der es intuitiv als Ganzheit erfasst. Im Bereich der Kunst findet auf diese Weise kein Dialog über die Nachbildung der Natur statt, sondern über die in der Seele wohnenden Urbilder der Schönheit. Vgl. Friedo Ricken: Philosophie der Antike. 3., Überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 2000 (Grundkurs Philosophie; 6), S. 246-248. Vgl. Vorländer, Philosophie des Altertums (wie Kapitel 3, Anm. 160), S. 187-188. In ähnlicher Weise ist es die künstlerische Zielsetzung Wassermanns, das vollendete »Bild« des Lebens zu schaffen, aus dem scheinbaren Chaos des Leidens das innere Gesetz seiner Schönheit, Ganzheit und Vollkommenheit, das Ebenmaß seiner Gerechtigkeit zu extrahieren. Vgl. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 180-181.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

ren so weit als möglich annähert und sich in allumfassender Güte, Liebe und Hingabe ausdrückt, Eigenschaften, wie sie Christian Wahnschaffe, Ruth Hoffmann u. a. Figuren repräsentieren. Sie schaffen Einheit durch das Erahnen, das intuitive Sicheinfiihlen und »Erlauschen« der »wahren« Welt hinter der vermeintlichen Wahnwelt. Diese Fähigkeiten haben nach Ansicht Wassermanns spezifisch das Judentum immer schon ausgezeichnet. Juden waren Entdecker, Empfanger, Verkündiger, Biographen, waren und sind die Karyatiden fast jeden großen Ruhms. [...] Juden waren bereit; Juden hatten das Ohr, das lauschte, das Auge, das sichtete; sie waren befähigt, das Geheimnis zu entdecken, das Wunderbare zu fassen, das Unerkannte zu erkennen. [...] Frauen insbesondere fand ich so. Jüdische Frauen und Mädchen sind der edelste und verheißendste Teil des Judentums; in ihren reinen Bildungen unvergleichlich. [...] Ohne Zweifel ist eine Seelen- und Blutverfassung im Spiel, die den westlichen Rassen nicht eigen ist, eine mediumistische Fähigkeit, bereichert und erhöht durch den Willen zur Wahl und erst nach vollzogener Wahl sich hinzugeben.121 Wassermanns Verwendung der von Lublinski kritisierten physiologischen Romantik< Nietzsches, seine biologistische Argumentationsweise in Bezug auf Charakter, Denk- und Lebensweise, Fähigkeiten, Tugenden und Laster bei Juden und Nichtjuden sowie in Bezug auf Nationalitäts-, Landschafts- und Sprachzugehörigkeit ist sowohl modernitätstypisch wie Signum eigener Entfremdungserfahrung. Denn Begriffe wie Volk, Rasse und Blut beschwören Substanzen, die den Einzelnen tiefer als alle bloß geistigen Elemente wieder in umfassende, bergende Seinszusammenhänge einbinden. Daher werden sie um die Jahrhundertwende insbesondere von jenen beschworen, die sich als entwurzelt erleben und unter Entfremdungserfahrungen leiden. 122 Mittels ihrer elementaren Bindungswirkung kann Wassermann jene Zugehörigkeit zu Deutsch- und Judentum beschwören, die ihm von deutscher Seite aberkannt und von jüdischer aufgrund fehlender religiös-orthodoxer oder nationaler Eingebundenheit erschwert ist. 123

121

Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 116 u. S. 118-119. 122 vgl. Graf, Alter Geist und neuer Mensch (wie Kapitel 2, Anm. 2), S. 226. 123 Obwohl er selbst damit operiert, warnt Wassermann gleichzeitig vor der ideologischen Vereinnahmung dieser Begriffe, denn er habe noch niemanden gefunden, dem die chemische Zusammensetzung des Blutes genealogische Rückschlüsse ermöglicht hätte, zudem bringe der Begriff »Rasse« »an Elastizität das Mögliche und Unmögliche zuwege« und leiste »jeder Demagogie und jedem Irrwahn Vorschub«. (Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums [wie Anm. 45], S. 135; vgl. ebd., S. 140.) Vgl. Wassermann, Meine Landschaft, äußere und innere (wie Einleitung, Anm. 4), S. 235. Vgl. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 111. Vgl. zur ambivalenten Haltung Wassermanns gegenüber dem Rassebegriff auch Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum (wie Anm. 6), S. 60.

5.5 Der jüdische Messias als Schöpfer der gerechten Zukunft

5.5

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Der jüdische Messias als Schöpfer der gerechten Zukunft

Wassermann übernimmt in Bezug auf das Judentum jene religionssemantischen Innovationstrends, die charakteristisch sind für die Diskurse zur Thematik des >neuen Menschen«. Er fokussiert die diversen Topoi der Vision des >neuen Menschen« auf die Erwartung eines spezifisch jüdischen Messias. In dieser Übersteigerung wird auch verständlich, warum die Juden seiner Ansicht nach kein Volk zu sein haben, denn entweder sind sie ein »Übervolk« oder gar keines, sofern sie zur übermenschlichen Aufgabe der Höherentwicklung, Sublimierung und Verwandlung nicht in der Lage sind. Nur so viel kann ich Ihnen sagen, daß für mich der Jude der Diaspora der Jude der Bestimmung ist; das ist meine unerschütterliche Überzeugung, trotz aller Übel und aller Leiden, oder vielmehr wegen der Übel und Leiden. Nationen gibt es viele; leider. Die Juden haben keine Nation zu sein. Und Volk können sie nur sein - unter den Völkern, oder über ihnen. 124 Im religiösen Kontext der Wandlung ist das Leiden funktionale Komponente der Läuterung. Entsprechend ist es auch für Wassermann nicht Selbstzweck, sondern »die produktivste Macht der Welt« 125 sowie Teil der Erhöhung zum >neuen Menschen«. »Es ist geradezu eine Erneuerung nötig, und erst, wenn Erneuerung stattgefunden hat, wird Sinn und Frucht des Leidens offenbar.« 126 Das Verhältnis zwischen Menschen: Gruppen und Gruppen, Individuen und Individuen kann nicht auf eine höhere Stufe gerückt werden durch Vorsatz und Beschluß, durch Wille und Festsetzung und darum auch letzten, ganz letzten Endes nicht durch das Tun, sondern durch das Leiden, durch den Grad des Aneinanderleidens. Deshalb ist das entscheidende Werk am Menschen ein Leidenswerk. Deshalb liegt hinter jenen Genien der Humanität, die an der Vervollkommnung der Menschheit gewirkt haben, stets ein so ungeheurer Leidensweg, deshalb beginnt jede Erlösung und Verwandlung mit Haß, mit Grauen, mit Ekel und mit Angst. 127 Mit dem Gedanken einer radikalen Erneuerung steht Wassermann im Kontext der für die Jahrhundertwende typischen Vorstellungen einer zukünftig vollkommen >neuen Menschheit«. Damit korrespondiert auch Bubers Konzept der Erneuerung des Judentums, das »eine schöpferische Synthese der drei Ideen 124

125

126

127

Jakob Wassermann: Der Jude der Bestimmung. Ein Brief. In: Ders., Deutscher und Jude (wie Einleitung, Anm. 3), S. 132. Jakob Wassermann: Der Jude in der Kunst. In: Ders., Deutscher und Jude (wie Einleitung, Anm. 3), S. 157-160, hier S. 159. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 80. Wobei Wassermann zwischen passiver Leidenserduldung, die er dezidiert ablehnt, und der aktiven Erneuerung aus der Erfahrung des Leidens unterscheidet. Während erstere den Menschen erniedrigt, bewirkt letztere seine positive Läuterung und Erneuerung. Vgl. Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums (wie Anm. 45), S. 142. Wassermann, Rede über Humanität (wie Anm. 111), S. 4 1 9 ^ 2 0 .

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

des Judentums nach dem Weltgefühl des kommenden Menschen« 128 sein soll und das ebenfalls von der Vorstellung geprägt ist, dass die >neue Menschheit erst nach Läuterung und Krisis entstehen kann. Ja, es will mir scheinen, daß für die Erschütterung von Grund aus, die ihm vorangehen muß, die ungeheure Zerrissenheit, die schrankenlose Verzweiflung, die unendliche Sehnsucht, das pathetische Chaos vieler heutiger Juden ein günstigerer Boden sind als das normale und zuversichtliche Dasein des Siedlers im eigenen Lande. 129 Ebenso wie für Nietzsche die (gerechte) Weltherrschaft letztlich auf der Selbstbeherrschung des Menschen basiert, 130 ist nach Ansicht Wassermanns der Weg des Judentums in die Moderne ein prinzipiell individualistischer, wobei die Zielsetzung nicht Vereinzelung ist, sondern die wahrhaft humane Gemeinschaft im Sinne der von Nietzsche und anderen Lebensphilosophen postulierten nonkonformistischen Utopie des >neuen Menschenneue Judeneuen Kultun. Insofern ist seine Kritik radikale Bestätigung der Annahme, dass sich der (jüdische) Mensch von Herkunft und Tradition lösen kann und soll. In Abkehr von der Vergangenheit stellt Nietzsche das Ewige in den Mittelpunkt. Für die jüngere Generation der akkulturierten Juden bedeutete dieses ahistorische bzw. überhistorische Denken die Hoffnung auf einen neuen unbedingten Anfang, d. h. eine Welt ohne hemmende historische Tradition, und damit auch die Hoffnung auf ein vollkommen >neues Judentum< jenseits der geschichtlichen Belastung durch die eigene Leidensgeschichte. Ein solches Denken eröffnet die Möglichkeit, unabhängig vom Ballast einer durch entwürdigende Assimilationsforderungen und Antisemitismus geprägten Geschichte eine eigenständige jüdische Identität zu entwickeln. Denn nach dem Historikerstreit 1879/80 zwischen Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen über das Problem der »Judenfrage« und seine Lösung sind viele Juden der Ansicht, dass aus der objektiven Betrachtung des Zeitgeistes keine Lösung des Antisemitismus und des modernen Antiliberalismus zu erwarten ist. Deshalb versuchen sie eine ästhetische Lösung des Problems zu erreichen, indem sie wie Stefan Zweig die Realisierung der Idee einer modernen Welt im Sinne der von Nietzsche initiierten Enthistorisierung und Entpolitisierung anstreben. Den neuen Weg, den sie suchen, glauben sie in jener mystisch139

140

Vgl. zur Beeinflussung der jüdischen Generation von 1870/80 durch die Geschichtsauffassung Nietzsches Botstein, Judentum und Modernität (wie Anm. 16), S. 105-106. Vgl. zum Bedeutungsverlust bis hin zur Abkehr von der Geschichte Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (wie Einleitung, Anm. 19), S. 49-87. Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Nietzsche, KSA 1, S. 243-334.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

philosophischen Überzeugung zu finden, wie sie auch den Werken des jungen Buber zugrunde liegen. 141 Auch Wassermanns Haltung gegenüber kollektiven Geschichts- und Politikentwürfen ist skeptisch. Die freudige Genugtuung seines Vaters über das Zeitalter der Toleranz und seine Hoffnung auf politische Lösungen sind bei ihm längst einer durch unterschwelliges Ressentiment und offenen Antisemitismus bedingten Ernüchterung gewichen. 1 4 2 Auch wenn Wassermann sich »ohne Einschränkung zum jüdischen Leid in der Geschichte und in der vom Antisemitismus vergifteten Gegenwart« bekennt, hat er kein geschichtliches und infolgedessen auch kein »explizit politisches Bewußtsein entwickelt« 1 4 3 . Wie eine Vielzahl der lebensphilosophisch Inspirierten der Jahrhundertwende sieht Wassermann in politisch-institutionalisierten Lösungen nur eine oberflächliche Symptomlinderung. Entsprechend kann das Modell einer >neuen Welt< für ihn allein über die Reform des Geistes und unabhängig vom Primat der Historie entwickelt werden. Mit seinem Konzept der »inneren L a n d s c h a f t entspricht er der Vorstellung einer schöpferischen Geschichtskonstruktion aus der individuellen Kombination verschiedener historischer Versatzstücke. 1 4 4 Er übernimmt damit Nietzsches Haltung, für den die bisherige Menschheit lediglich das Reservoir zur Hervorbringung großer Individuen darstellt, während der historische Prozess für die idealistische Geschichtsschreibung der klassischen Epoche das Signum des humanen Fortschritts der Menschheit bedeutet. Gemäß seiner apolitischen Haltung ist das Ziel Nietzsches nicht die Menschheit, sondern der »Übermensch«. 1 4 5 In diesem Sinne entwickelt Wassermann sein Vorbild des >humanen Menschern, der für ihn jene Eigenschaften besitzt, durch die die Menschheit »erst auf die höhere Stufe der Lebewesen rücken« 1 4 6 kann.

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Vgl. Botstein, Judentum und Modernität (wie Anm. 16), S. 109. 142 Ygj Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 37. 143 Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 126. 144 Diesen schöpferischen Umgang mit der Tradition fordert auch der liberale Pädagoge Fritz Klatt in seiner 1922 gehaltenen Rede auf Burg Lauenstein vor jugendbewegten »Jungbuchhändlern«, Mitgliedern jener von Eugen Diederichs gegründeten buchhändlerischen Emeuerungsbewegung. »Ganz ungeschichtlich sind wir, so sehr, daß es uns nicht schaden kann, uns sogar bewußt in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen.« (Fritz Klatt: Die Krisengeneration. In: Ders., Ja, Nein und Trotzdem [wie Kapitel 2, Anm. 40], S. 5-10, hier S. 9.) Ebenso befürwortet Hermann Hesse »dies Mitleben in einem zeitlos Geistigen, dies Mitleben in Ideen und Vorstellungen vieler Zeiten und Kulturen, vieler Länder, vieler Dichter und Denker, [...] Lebenkönnen in einem zeitlosen Reich, [...] vielleicht die einzige Stärke des heutigen Menschen [...].« (Hermann Hesse: Schriften zur Literatur. Bd 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 88.) 145 y g j Meyer, Nietzsche als Paradigma der Moderne (wie Einleitung, Anm. 9), S. 142. 146 Wassermann, Rede über Humanität (wie Anm. 111), S. 395.

5.5 Der jüdische Messias als Schöpfer der gerechten Zukunft

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Denn immer wieder zeigt sich das Wunderliche, daß nicht die großen Ereignisse es sind, nicht die Kriege, nicht die Revolutionen, nicht Entdeckungen und Erfindungen, nicht Gesetze und Parlamentsbeschlüsse, nicht religiöse Entflammung und philosophische Systeme, nicht die Beschäftigung mit der übersinnlichen Welt und nicht einmal die Begeisterung, die die Kunstwerke erwecken, wovon Selbstbesinnung ausgeht, Sänftigung und Innehalten im rasenden Zwecklauf und Stillung unersättlicher Gier, [...]. 147

Ebenso wie Nietzsche stellt Wassermann der modernen Fortschrittsgläubigkeit, die von Politik, Wissenschaft und Technik die humane Weiterentwicklung erhofft, das Modell der vollkommenen Schöpferpersönlichkeit sowie eines sich der Natur und dem Leben annähernden Fortschritts der individuellen Tat entgegen. Zielsetzung seiner ahistorischen und apolitischen Utopie des >neuen Menschen< ist ein konsequenter Neuanfang, der auch dem jüdischen Leiden ein endgültiges Ende bereitet und damit in letzter Konsequenz auch der jüdischen Leidensgemeinschaft. 148 Seine ausweglose Existenz zwischen Nichtzugehörigkeit und dem Wunsch nach Gemeinschaft, dem Gefühl innerer Verbundenheit und der Ablehnung von Gesetzesjudentum und überkommener Tradition, dem Stolz auf Fähigkeiten, die er als spezifisch jüdisch definiert, und der Verachtung der zu eben solchen erklärten Untugenden sucht Wassermann durch die Idee des >neuen (jüdischen) Menschen< aufzulösen. Zwischen Scylla und Charybdis vertritt Wassermann das von Nietzsche und anderen Lebensphilosophen inspirierte Projekt des radikal neuen, extrem individualisierten Judeseins, das erst noch entwickelt, erst noch >werden< muss, eine Position in konsequenter Freiheit, die sich den »Abdrängungen, Gebietsschmälerungen, Verzichtserklärungen« 149 sowie der freiwilligen Beschränkung des eigenen Wirkungsfeldes widersetzt. Es ist der Versuch, einen völlig neuen Standpunkt zu entwickeln. Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Ich spüre, daß dies in gewissem Sinn, wahrscheinlich durch das vollkommene Bewußtsein davon und die vollkommene Durchdringung mit den Elementen beider Sphären, [...] ein neuer Vorgang ist. Dieses Neue hat mich in früherer Zeit oft beunruhigt, wohl deshalb, weil ich es nicht zu erkennen vermochte. Es ging ja nicht vom Willen aus; es ging vom Sein und Werden aus. 150

Konsequent überträgt Wassermann die Utopie des grundlegend anderen Menschen der Zukunft, der sich in seiner Qualität vollständig von demjenigen der Gegenwart unterscheidet, auf das Judesein. Während für Bergson die »mystische« Gesellschaft der Zukunft nur aus dem Christentum hervorgehen kann, sieht Wassermann die Perfektibilisierung der Menschheit als Aufgabe der vollkommenen Persönlichkeit, die für ihn einzig aus dem Judentum entstehen 147

Ebd., S. 400. 148 v g l . Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 126. 149 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 105. 150 Ebd., S. 130.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

kann. Dieser radikale Anspruch ist zugleich emphatisches Bekenntnis zum eigenen Judesein. Wassermann konstruiert eine Erneuerungsidee, die eine kollektive Neugeburt propagiert, und auch wenn sie im historischen Rückblick unheimlich anmuten 1 5 1 mag, bedeutet sie ihrem Anspruch nach nicht Auflösung und Aufgabe, sondern geistige Verwandlung und Sublimierung. Denn Erneuerung definiert Wassermann in einem anderen Kontext nicht als Umsturz und Zerstörung, sondern im Sinne Nietzsches als Hinüberleben aus der Vergangenheit in die Zukunft, als Ausbauen, Ausweiten, Tiefer-Beziehen und Höher-Spannen, als einen ständigen Werdeprozess aus Vergehen und Wiedergeburt. 1 5 2 Zudem kann Erneuerung für ihn nur aus Gerechtigkeit und Liebe entstehen, denn »jede echte Liebe [ist] ein Akt der Verwandlung« 1 5 3 . Dies ist insgesamt eine lebensphilosophisch inspirierte Vorstellung, die mit dem überkommenen Judesein bricht und gleichsam am Abgrund der Auflösung den Umschlag erhofft, der zur Geburt neuer Werte, neuer Menschen, kurz einer neuen Wirklichkeit fuhren soll. Einstmals entsteht vielleicht ein Genius aus jüdischem Blute, ein Mann der tiefsten Leidenserfahrungen und des stolzesten Adelsbewußtseins; er wird die beste Rache der Juden sein, denn die ganze Menschheit wird seiner bedürfen und seine Gaben mit Beschämung hinnehmen. 154

Wassermanns Haltung zum Judentum ist weit mehr als diejenige eines angepassten Assimilanten. Sie ist »Ausweis einer kritischen Solidarisierung, sie soll das messianisch-futuristische Element, das so oft fehlgeleitet ist, aktivieren und vom Jüdisch-Partikularen, Religiös-Transzendenten ins MenschlichUniversale, Weltimmanente ausweiten« 1 5 5 . In ähnlicher Weise hat Theodor Lessing in nietzscheanischer Sprache die »Grenzjuden« dazu aufgerufen, ihr Schicksal im Sinne des »amor fati« mutig zu bejahen, was nicht Resignation und Passivität bedeutet, sondern das Bekenntnis zum wahren Selbst und die bedingungslose Anerkennung der jüdischen Wurzeln. Wie Wassermann propagiert er die Selbstüberwindung sowie die Mobilisierung der geistigen Ressourcen gegen alles, was die jüdische Identität und das authentische Selbst bedroht. 1 5 6

151

Solcherart empfindet Dierk Rodewald das von Wassermann überarbeitete Schlusskapitel zu »Mein Weg als Deutscher und Jude«. Vgl. Anhang II: Nachweise, Varianten, Zeugnisse, Erläuterungen (wie Anm. 134), S. 264. 152 Ygj Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 199. 153 Ebd., S. 200. 154 Wassermann, Das Los der Juden (wie Anm. 29), S. 27. 155 Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 138. 156 vgl. Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 173-174.

5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand der Moral

5.6

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Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand der Moral

Nietzsches Philosophie ist nicht nur Inspiration für die Utopien jüdischer Modernisierung, sondern im Gegensatz zur Historiographie auch ein schlüssiges Modell zur Erklärung des Antisemitismus. Voß ist in diesem Sinne der Prototyp des von Nietzsche beschriebenen Schwächlings, der infolge seiner Schwäche, seines Ressentiments und seiner psychischen Verelendung in seinem Selbstbewusstsein von äußeren Bedingungen abhängig ist. Auf ihn, »den Verstoßenen und Getretenen, das letzte, gepeinigte Glied einer Kaste und Geschlechterfolge von Verstoßenen und Getretenen« (CW 576), trifft vollkommen zu, was Nietzsche in der »Genealogie der Moral« über Ressentiment und Verinnerlichung ausgeführt hat. Er braucht Gewalttaten und die grausame Ausbeutung anderer, um sein Ohnmachtsgeftihl zu kompensieren. Er ist rachsüchtig und reaktiv und versucht, aus seinem Haß eine gewisse Sicherheit und Identität zu ziehen. Das heißt, daß der Antisemit in Wirklichkeit ein »Sklave«, kein »Herr« ist. 157

Der Antisemitismus ist für Nietzsche das Vorurteil »wertloser Individuen, der >Schlechtweggekommenem, die im Kampf ums Dasein unter die Räder gekommen« 158 sind. Das Kennzeichen einer geistig verarmten, neiderfüllten und feigen Persönlichkeit. In dieser Weise beschreibt auch Wassermann den Antisemitismus. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verfuhrt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. 159

Für Wassermann ist dies ein spezifisch deutsches Phänomen, weil er der Ansicht ist, dass es dem deutschen, d. h. dem christlichen im Gegensatz zum jüdischen Menschen an der besonderen Beziehung zur Gerechtigkeit, den Voraussetzungen ihrer Realisierung und der spezifischen Fähigkeit ihrer Erhöhung zur Liebe fehlt. Einem Gesprächspartner erläutert er, dass die deutsche Neigung zur geistigen Hypertrophie Ursache des Ressentiments sei, welches die antisemitischen Vorurteile produziere. Ich fügte aber hinzu, daß mir bei alledem ein wenig die Liebe fehle, nämlich bei ihm, und ich fragte ihn, ob der Mangel an cortesia in geistigen Dingen nicht ein deutscher Fehler überhaupt sei. Diese herrische Ungeduld, diese gepreßte und hoch157 158 159

Golomb, Nietzsche und die »Grenzjuden« (wie Anm. 1), S. 174. Ebd. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 60.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

gespannte Leidenschaftlichkeit (was ja nicht ganz dasselbe ist wie Leidenschaft), die ich im Verlauf so vieler sachlicher Auseinandersetzungen beobachtet habe, ist eben durch ihre Sachlichkeit manchmal in Gefahr, unmenschlich zu werden, sie sieht im Andersmeinenden den Feind, und indem sie sich sofort in die eisige Höhe des Gedankens begibt, erklärt sie, manchmal bewußt, manchmal unbewußt, dem lebendigen Leben den Krieg. 160 Ebenso wie Nietzsche den Antisemitismus als neuen Sklavenaufstand in der Moral gedeutet hat 161 , hält Wassermann ihn für das Produkt des Ressentiments. Denn seiner Ansicht nach ist der Antisemitismus nicht Ergebnis äußerer Umstände, auch wenn er sich an Äußerlichkeiten entzündet, sondern die Projektion innerseelischer Zustände des schwachen Menschen. Deshalb kann ihm von jüdischer Seite auch nichts entgegengesetzt werden, denn als Produkt einer kranken bzw. schwachen Psyche ist er rationalen Argumenten nicht zugänglich. Alle vernünftigen Bemühungen sind ebenso vergeblich 162 wie der von ihm mit Scham beobachtete Versuch einer jüdischen >Mimikrisierungüberhumanen< Menschen erhofft, der alle negativen Projektionen und Gegenprojektionen in sich zum Erlöschen bringt - was logisch nur von jüdi-

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als Stigma einer allgemeineren modernen Bewußtseins- und Gemütsverfassung gelten kann.« (Thomas Koebner: »Feindliche Brüder«. Stereotypen der Abgrenzungjüdischen und deutschen Wesens. In: Eveline Valtink [Hg.]: Jüdische Identität im Spiegel der Literatur vor und nach Auschwitz. Hofgeismar: Evangelische Akademie 1989 [Hofgeismarer Protokolle; 265], S. 40-85, hier S. 40.) Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 125126.

168

Ebd., S. 125. Alfred Bodenheimer verweist in diesem Zusammenhang auf den Bezug zur phantastischen Literatur, in der im Spiegel die Bilder der Menschen, die ihn angesehen haben, als ein »Panoptikum der Selbst- und Fremdbetrachtung« aufbewahrt werden. »Wobei es nicht abwegig erscheint, die Inkompatibilität der Spiegelbilder auf den .abwesenden', empirisch nicht auszumachenden Unterschied zurückzuführen, der zur Ausgrenzung der Juden in der deutschen Gesellschaft führt.« Im Gegensatz zu dem in meiner Arbeit vertretenen Ansatz einer Überwindung dieser fehlgeleiteten gegenseitigen Spiegelung geht Bodenheimer davon aus, dass Wassermann »diesen Zustand einer >gleichberechtigten< gegenseitigen Zerfleischung der Spiegelbilder in sich bereits als Authentizität zu empfinden« versucht habe. (Bodenheimer, Wandernde Schatten [wie Einleitung, Anm. 21], S. 83.) Dennoch betrachtet auch Bodenheimer Wassermanns jüdisches Selbstverständnis als den komplexen Versuch, die antisemitischen Stigmatisierungen aufzugreifen und durch Umschreibung und Kombination mit positiv besetzen Bildern für die Suche nach einer neuen jüdischen Authentizität jenseits von Antisemitismus und Assimilation, Orthodoxie und Zionismus fruchtbar zu machen, ein Versuch, der stets an der Grenze zur Internalisierung der diversen Stigmatisierungen verläuft, weshalb er gefahrvoll ist und nicht immer gelingt.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

scher Seite möglich ist - , zeigt die Figurenbeziehung von Johanna Schöntag und Amadeus Voß, wohin Negation und Verlust der jüdischen Identität in einer latent bis offen antisemitischen Gesellschaft führen. Johanna ist Opfer und Repräsentantin des Ressentiments auf jüdischer Seite. In ihrer Seele trägt sie die »Engramme des Leidens«, die »Ängste des Gehetzten und Verfolgten« 1 6 9 , die stärker sind als die erlösende Messiashoffnung. Für Wassermann ist dies die folgenschwerste Auswirkung der jüdischen Leidensgeschichte. Eine beinahe tragische Schwierigkeit sozialer und geistiger Art entsteht für diejenigen Juden, die sich in die europäische Kultur eingelebt haben oder sogar an ihr tätig mitarbeiten, ohne doch imstande zu sein, völlig ein Gefühl in sich zu bekämpfen, das ich die Stammeserinnerung nennen möchte, und das, auch bei sonstiger humaner Lebensgestaltung, sehr häufig als verkrampftes Ressentiment in der Seele verbleibt. 170

Johanna empfindet ihr Judesein als Makel. Sie trägt »den gelben Fleck in der Seele« (CW 342). Deshalb wagt sie nicht sich zu freuen, verkriecht und duckt sich (vgl. CW 342). Sie friert in einer nicht jüdischen Umwelt, die sie - wenn auch nur unterschwellig und fur sie nicht mehr unmittelbar fassbar - als >fremd< und >anders< stigmatisiert. Es ist der historische Mangel an Wohlwollen, Anerkennung und Zugehörigkeit, den sie spürt und der in ihr ein Gefühl der Verlorenheit hinterlässt (vgl. CW 329, 342, 538). Anstatt sich selbstbewusst gegen die antisemitische Sklavenmoral zu wehren, wendet sie ihre »selbstmörderische Verachtung« (CW 578) gegen sich selbst. Ihr »trübes Selbstbewußtsein« (CW 292) vollzieht selbstquälerische Gedankenfolter. Sie »freute sich, wenn es ihr übel erging; sie freute sich, wenn ihre Hoffnungen fehlschlugen; sie freute sich, wenn sie beleidigt und mißkannt wurde« (CW 537). In pathologischer Weise führt sie gegen ihre eigene Person einen zerfleischenden Kampf (vgl. CW 672). Sie findet sich hässlich und bewundert daher Eva um so mehr, ihre Schönheit, ihr stolzes Bewusstsein, ihren Adel und ihre Freiheit (vgl. C W 330, 317). 171 Aus Mangel an wahrem Selbstbewusstsein 172 ist Johanna ganz »Anbetung, sehnsüchtiges Emporlangen nach diesem Leben und dieser Freiheit« (CW 330), einer Freiheit, der sie selbst jedoch nicht gewachsen ist (vgl. CW 615-616). Sklavisch überlässt sie sich daher ihrem Schicksal und hofft, in »entselbsteter Anbetung ausgelöscht« ( C W 3 4 1 ) , auf Erlösung von Seiten der Bewunderten, da ihr zur tatkräftigen Selbsterlösung

169 170 171

172

Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums (wie Anm. 45), S. 148. Ebd., S. 142. »Phantasievoll und sensitiv, liebte sie die Stolzen und litt, wenn Stolz und Würde fielen.« (CW 331-332) Johanna besitzt weder ein Selbstbewusstsein noch überhaupt ein Ichbewusstsein. »Sie sagte: >Es gibt nichts Witzigeres als die Tatsache, daß ich in dieser Stadt lebe, in der alle Menschen so mutig >Ich< sagen. Ich bin ja das direkte Gegenteil von Ich.< « ( C W 480)

5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand der Moral

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Kraft, Selbstvertrauen und Wille fehlen. 173 Doch ihre Hoffnung wird enttäuscht. Die von ihr Bewunderten sind ihr zwar wohlgesonnen, aber sie ist ihnen nicht wichtig genug, und so wird sie im Stich gelassen, von Eva aus Eifersucht (vgl. CW 342-343), von Christian, weil er mit sich und anderen Dingen beschäftigt ist, was er zu spät erkennt (vgl. CW 674). Mutlos wirft Johanna sich deshalb fort. Sie verspielt sich, gibt sich dem Antisemiten Voß in die Hände 174 , weil sie sich selbst nichts wert ist, und weil nichts wert ist, getan zu werden (vgl. CW 480). Johanna hat die »Sklavenmoral« der christlichen Welt verinnerlicht, in deren Licht ihr das eigene Judesein als Stigma erscheint, und während das Ressentiment sich tief in ihre Seele eingegraben und sie vergiftet hat, trägt Ruth ihr Judentum in natürlicher Würde, »ohne militante Regung, ohne Wehleidigkeit, ohne aufgetragenen Stolz, ohne Ressentiment, ohne Debattiersucht, überhaupt fast ohne Betonung« 175 . Sie verkörpert die starke jüdische Persönlichkeit, an deren überlegener Gelassenheit das Ressentiment ohne Schaden abgleitet. Seine Feinde, seine Unfälle, seine U n t h a t e n selbst nicht lange ernst nehmen können - das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist [...]. Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist - die eigentliche » L i e b e zu seinen Feinden«. 176

Im Gegensatz zu Ruth sind Johanna und Voß Spiegel und Widerspiegel, Opfer und Täter der »Sklavenmoral«. Beide repräsentieren den von Nietzsche beschriebenen Menschen des Ressentiments. Seine Seele s c h i e l t ; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als s e i n e Welt, s e i n e Sicherheit, s e i n Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen.' 77

Deshalb beschwört Christian Johanna, ihr falsches und verzerrtes Spiegelbild aufzugeben. »Du siehst dich falsch und siehst Menschen falsch« [...] »alles ist 173

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»Aber sie glaubte an keine Kraft in sich. Sie zerstückte ihre Leidenschaften in kleine Gelüste, freiwillig und mit Fleiß; und litt wieder; und lachte über sich. Zum Raub fehlte der Mut; Naschhaftigkeit ersetzte den Schwung des Genießens. Und sie mokierte sich über ihre verunglückte Natur; und litt.« (CW 332) Vgl. CW481. Johanna empfindet unmittelbar einen instinktiven Widerwillen gegen Voß (vgl. CW 379, 481, 529). Crammon, der Voß für ihren Verehrer hält, antwortet sie: »Ich hatte eher das Gefühl, er wollte mich verschleppen und umbringen.« (CW 304) Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 187. Ruth entspricht in ihrer selbstbewussten Haltung zum Judentum dem von Wassermann verehrten Moriz Heimann. Nietzsche, KSA 5, S. 273. Ebd., S. 272.

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5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

verzerrt in dir. Was du sagst, straft dich, was du verschweigst, erstickt dich. Hab doch ein wenig Mitleid mit dir selbst.« (CW 674) Die Negation ihrer jüdischen Identität hat Johanna die Idee ihres Daseins geraubt und ihr Leben der Wertlosigkeit preisgegeben. 178 Ein alles verzehrender Nihilismus nimmt ihr jegliche Energie und jeden Willen. 179 Das Leben selbst erscheint ihr sinnlos und leer, denn ihr Lebenswille ist einer alles beherrschenden Willenlosigkeit gewichen. Sie besitzt einzig noch eine schale Form von »Persönlichkeit, deren Sklave und Opfer« 180 sie ist, und als solche empfindet sie sich denn auch (vgl. CW 332,434). Johannas jüdischer Selbsthass fuhrt zu einer allumfassenden »Schwäche, die Vernichtung will« (CW 573), so dass sie schließlich »müde und geschlagen« (CW 567) in ihr eigenes Verderben geht, um der inneren Ödnis zu entfliehen (vgl. CW 529). Doch die Selbstaufgabe, der Verrat noch des letzten jüdischen Stolzes an den Antisemiten, der sie hasst und den sie verachtet, fuhrt zur Selbstvernichtung, was Johanna zwar ahnt, jedoch zu spät erkennt. »Man war grauenhaft entehrt; man war für Zeit und Ewigkeit entehrt.« (CW 565) Johanna ist Sinnbild jener entwurzelten modernen 181 Juden, die mit ihrem Judentum auch »das innerste Wesen des Seins« 182 , nämlich den Willen zur Macht und damit den Willen zu einer freien und selbstbestimmten Authentizität, verloren haben, die heute verwerfen, was sie gestern erobert, heute besudeln, was sie gestern geliebt, denen der Verrat eine Wollust, Würdelosigkeit ein Schmuck und Verneinung ein Ziel ist. Sie geben sich nur hin, wo sie sich verlieren können, und bewundern nur dort, wo sie sich verstoßen fühlen. Im Grunde ihres Herzens glauben sie bloß an das Fremde, das Andere, das Anderssein, erklärlicherweise, denn als Entgötterte sind sie ja unverwandelbar und suchen vermittels eines salto mortale oder einer Ekstase die 178 Ygj Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 30. 179 Der fanatischen Gläubigkeit von Voß erteilt sie eine rigorose Absage. »>An nichts glaube ich, an nichts,< sagte sie bebend, >an mich nicht, an dich nicht, an Gott nicht, an nichts. Du hast recht, an nichts.neue Mensch< ist. Der labyrinthischen Orientierungslosigkeit und Willensschwäche des modernen Menschen setzt Nietzsche die nonkonformistische Utopie des >neuen Menschen< entgegen, der in unbedingter Selbstverantwortlichkeit und absoluter Schaffensfreiheit den Nihilismus durch die schöpferische Tat aus dem eigenen Selbstsein überwindet. Vgl. Meyer, Nietzsche als Paradigma der Moderne (wie Einleitung, Anm. 9), S. 136-140. In diesem Sinne hat Wassermann mit Johanna eine Vertreterin der »dekadenten Modernität« konzipiert, während Ruth und Christian die »kreative Modernität« des >neuen Menschern verkörpern. 182 Nietzsche, KSA 13, S. 260.

5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand der Moral

211

Ergänzung im Extrem. Die in der Gier und im Kampf vergeudete Seelenkraft macht ihr Gemüt alsbald arm und öde und drängt sie auf das Feld steriler Spekulation, d. h. sie treiben Kritik um der Kritik willen, der Formel und dem Urteil zuliebe. Aber sie leiden auch selbst, und ihr Leiden ist ein tödliches, das wissen sie so gut wie wir, die wir ihnen nur ins Antlitz zu schauen brauchen, um den Tod darin zu erkennen. 183 Im Gegensatz zur Willensschwäche ist der starke Wille des antisemitischen Ressentimens auf die Zerstörung des >Anderen< gerichtet. Entsprechend will Voß noch die letzte >hoffärtige Verschlossenheit (vgl. CW 575) Johannas brechen, will sie bis in die letzten Geheimnisse ihrer Seele besitzen (vgl. CW 577). Was er ihr gegenüber als »demütigste Liebe« (CW 575) bezeichnet, trägt »Züge von Raubgier und Kannibalismus« (CW 568). Voß erhofft sich »Reinigung, Bindung, Befreiung« (CW 576) von seiner eigenen Verelendung. Ihre Hassliebe ist letztlich für beide Seiten unfruchtbar (vgl. CW 616, 6 7 5 676). Sie befreit Voß nicht von seiner seelischen Verwahrlosung (vgl. CW 573) und beutet Johanna durch ihren Besitzanspruch aus (vgl. CW 675). Ihr jüdischer Selbsthass kulminiert schließlich in der falschen Liebe zu ihrem christlichen Widersacher, einer Liebe, die auf der Analogie der falschen, verzerrten Spiegelbilder basiert, wie sie Christian berichtet. »Er sei ihr so ähnlich erschienen mit ihr selbst, es habe nicht anders kommen können; so voll Neid, so gemieden von Menschen, so verkrampft und verstrickt; das Gleichartige habe sie bezwungen .« (CW 676) Doch Johanna ist für Voß letztlich nur Mittel zum Zweck, und nachdem sie seine Wünsche befriedigt hat, ist sie für ihn nicht mehr von Interesse (vgl. CW 676). Ist in Der Fall Maurizius Anna Jahn Sinnbild der nichtjüdischen Gesellschaft, die sich nicht hingibt, den jüdischen Außenseiter nicht integriert und nur den zur Unkenntlichkeit Assimilierten

183

Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 36), S. 31. Einen ähnlichen Typus gestaltet Wassermann mit der Figur des Eduard Niederding in Die Juden von Zirndorf, dessen Überkulturation Signum seiner lebensfeindlichen Gesinnung ist. Die jüdischen Zuschreibungen von Überkultur, Willensschwäche, Lebensfeindlichkeit, Entwurzelung, falschem Assimilationsbestreben und oberflächlicher Literatenexistenz sind bei Wassermann immer auch als metaphorische Stereotypisierungen zu verstehen, die sich gegen die moderne Kultur und das kapitalistische System insgesamt wenden. Daher kann auch eine Figur wie Gudsikker, der Christ und Arier zweifellos reiner Abstammung, die Merkmale eines jüdischen Schicksals tragen. Als Merkmale des Ressentiments und der >dekadenten Modernität betreffen sie den modernen Menschen insgesamt. Die >jüdische Figur< fungiert bei Wassermann als Ideenträger, in der sich die Konfliktlinien Deutscher und Jude, »moderner Zeitgeist« und »erfüllter Lebenswandel« vermischen. (Thomas Koebner: »Feindliche Brüder«, S. 40-85, hier S. 68.) Vgl. Joeris, »Aspekte des Judentums im Werk Jakob Wassermanns« (wie Kapitel 3, Anm. 61), S. 57. Vgl. Gabriele Leja: Jüdische Gestalten im erzählerischen Werk Jakob Wassermanns. In: Wolff (Hg.), Jakob Wassermann (wie Kapitel 4, Anm. 26), S. 66-96, hier S. 82. Vgl. Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 141.

212

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

akzeptiert, 184 wirbt in Christian Wahnschaffe Voß, der fanatische Katholik, um die Anerkennung der Jüdin, obwohl oder gerade weil er das Judentum hasst, denn erst wenn er es besitzt, kann er es restlos zerstören und sich einverleiben (vgl. CW 4 8 3 ^ 8 4 , 532). Während im ersten Falle eine Verwurzelung des Judentums im Deutschtum möglich gewesen wäre, zeigt das Schicksal Johannas, wohin jüdischer Selbsthass und Aufgabe der jüdischen Identität durch eine vollständige Assimilation fuhren. Denn wie Jephtha seine Tochter opfert, verlangt die nicht jüdische Welt das Opfer derjenigen, die mit ihr am engsten verbunden sind. 185 Es ist der Wunsch des Schwachen, der sich unterlegen glaubt, durch Zerstörung des vermeintlich Stärkeren das Gefühl eigener Minderwertigkeit zu kompensieren. Anstatt ihre jüdische Identität zu bewahren und sich gegen alle Vereinnahmung der nicht jüdischen Welt zu wehren, steht Johanna fur den Versuch der >modernen JudenAnderen< und >Fremden< im Außenraum, den Kampf zwischen Über-Ich und Triebkräften in seinem Inneren zum Stillstand zu bringen. Selbst Voß ahnt, dass seinem Hass sowohl die religiöse als auch soziale Berechtigung fehlt, weil er ihn in sich selbst erzeugt. Es ist der Neid auf denjenigen, der als fremd und überlegen empfunden wird. Zudem ein generationenalter Hass, der, aus dem Gefühl eigener Minderwertigkeit, Unfähigkeit und Schwäche geboren, fortwährend weitergegeben wird. 184

185

Vgl. MA 326-327. Vgl. Gabriele Leja: Jüdische Gestalten im erzählerischen Werk Jakob Wassermanns. In: Wolff (Hg.), Jakob Wassermann (wie Kapitel 4, Anm. 26), S. 66-96, hier S. 82. Vgl. Horch, »Verbrannt wird auf alle Fälle ...« (wie Einleitung, Anm. 17), S. 132. Vgl. CW 533. Als ähnlich unerfüllte Liebesbeziehung beschreibt Wassermann das deutsch-jüdische Verhältnis auch in seinem Nachruf auf Walther Rathenau. »Das Opfer wurde mißachtet, die Liebe verschmäht. [...] Die Tragik der unerwiderten Liebe, nie erwiderter Freundlichkeit und Bereitschaft hat den seltenen Menschen unheilbar verdüstert und sein Gemüt vergiftet.« (Jakob Wassermann: Zu Walter Rathenaus Tod. In: Ders., Lebensdienst [wie Einleitung, Anm. 2], S. 23-29, hier S. 26.) Sein Schicksal verdeutlicht, dass die antisemitische Sklavenmoral, an der Johanna aus Schwäche und Selbsthass scheitert, auch für den selbstbewussten und erfolgreichen Juden letztlich nicht zu überwinden ist. »Wer sich als Jude bis zur Selbstverleugnung und Würdelosigkeit assimiliert, wird von der deutschen Umwelt ebenso ausgestoßen wie der forciert Selbstbewußte. Wer auf seiner doppelten Identität beharrt und sie als Recht einfordert, wird nicht akzeptiert, wenn nicht verfolgt.« (Hans J. Schütz: »Eure Sprache ist auch meine«. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte. Zürich, München: Pendo 2000, S. 334.)

5.6 Antisemitismus als neuer Sklavenaufstand der Moral

213

Mag sein, daß ich das Werkzeug fortgeerbter Lüge bin; mag sein, daß man zum Pfaffen wird, wenn zum Priester die Liebe fehlt; daß Brüder aufwachen in Feinden, ohne daß mans merkt; daß Kain und Abel sich am Jüngsten Tag die Hände reichen. Aber es ist mir nun einmal in Hirn und Herz gebrannt, daß ich hassen muß, wenn meine Wurzeln in der Erde, dort, wo ich nicht hinreichen kann, durch das freche Wachsen fremder Sämlinge verkümmert werden. (CW 532)

Sinnbild der solchermaßen gestörten Beziehungen zwischen Juden und NichtJuden und der damit verbundenen antisemitischen Ängste und Vorurteile ist die Märchen- bzw. Sagenfigur »Rumpelstilzchen«, im Roman der Spitzname Johannas, mit dem sie gleich zu Beginn belegt wird. 186 Aufgrund der Beeinflussung durch die theologische Literatur sind jüdische Figuren in Sagen und Legenden wesentlich stärker vertreten als im Märchen. Entsprechend negativ ist das von den kanonischen und nichtkanonischen Texten beeinflusste Bild, das antijüdische Stereotype und zum Teil bereits in der Antike entstandene antijüdische Überlieferungen weiterverbreitet und verschärft, wie beispielsweise die Legenden von Brunnenvergiftung, Ritualmord oder Kulturbildfrevel. Gemäß seiner Gattungsstruktur ist »Rumpelstilzchen« mehr (Teufels-)Sage als Märchen. In seiner Fremdheit und Diabolik verkörpert der Zwerg, dessen Namen ebenso wie derjenige des Teufels nicht genannt werden darf, den potenziell gefahrlichen Außenseiter, den >Anderenneuen Menschenneuen Menschern ist bei Wassermann untrennbar mit dem Judentum verbunden, da fur ihn sowohl die Idee der Gerechtigkeit genuin jüdischen Ursprungs ist als auch die Messiasidee. Sie ist für ihn der Ursprung aller modernen Erneuerungsgedanken und hat »die Überpflanzung der vom Judentum empfangenen Messiasidee aus dem Religiösen ins Soziale« 190 erst ermöglicht, auch wenn Wassermann dieser Idee insofern ambivalent gegenübersteht,

187

Vgl. Botstein, Judentum und Modernität (wie Anm. 16), S. 26. Vgl. Kurt Ranke (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd 7. Berlin, New York: de Gruyter 1977, S. 676-686; vgl. ebd. Bd 1, S. 611-618; vgl. ebd., Bd 9, S. 1169-1172. 188 Wassermann, Das Los der Juden (wie Anm. 29), S. 27. 189 Ebd. 190 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 124. »Dieser moderne Sozialismus ist eine Verkleinerung, Verengung, Verendlichung des messianischen Ideals, wenn auch von der gleichen Kraft, der Zukunftsidee, getragen und genährt.« (Buber, Die Erneuerung des Judentums [wie Anm. 112], S. 95.)

5.7 Gerechtigkeit

durch personale Selbstreform

als Idee des

Judentums

215

als sie für ihn das Potenzial politischer Radikalität beinhaltet.191 Dennoch kann für Wassermann das Heil der Menschheit einzig aus dem Judentum erwachsen. In dieser Überzeugung stimmt er mit Martin Buber überein, dessen messianische Utopie von »Einheitsidee« und »Tatidee« sich »in der Fülle der Zeit, am Ende der Tage: in der absoluten Zukunft« 192 erfüllen soll. Der Messianismus ist die am tiefsten originale Idee des Judentums. Man bedenke: in der Zukunft, in der ewig urfernen, ewig urnahen Sphäre, fliehend und bleibend wie der Horizont, in dem Reich der Zukunft, in der sich sonst nur spielende, schwankende, bestandlose Träume wagen, hat der Jude sich ersonnen, ein Haus fur die Menschheit zu bauen, das Haus des wahren Lebens. 1 9 3

Auch für Wassermann wurzeln die aus dem Leiden schöpferisch gewordenen Verkündiger und Vorläufer194 des >Neuen< im jüdischen Ethos, das »die 191

Vgl. zur Ablehnung des politischen Radikalismus ebd., S. 122-124. Ebenso wie Thomas Mann, der alle radikalen Elemente ablehnt und als Ironiker und Konservativer Nietzsches Radikalismus als radikalen Antiradikalismus versteht, ist Wassermann ein Gegner allen kollektiv-politischen Extremismus. Sein »konservatives Rebellentum« bezieht sich auf die radikal innere Wandlung und Neuwerdung bei äußerer »Aufhebung oder doch Milderung der gefahrdrohenden Spannung«. (Thomas Mann: Tischrede auf Wassermann. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd X: Reden und Aufsätze 2. Oldenburg: Fischer 1960, S. 4 4 9 453, hier S. 453.) Er ist radikal einzig im individualistischen Sinne. Auf dieser Ebene stimmt er mit der radikalen Haltung von Ernst Bertram überein, fur den echtes Deutschtum in einem nietzscheanischen Prozess der Übersteigung und des schöpferischen Werdens besteht sowie in der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und Vervollkommnung, in der das Leiden konstitutiver Teil des Erlösungsprozesses ist. Doch während Bertram in kollektiven, deutschnationalen Kategorien denkt, deren Elemente radikaler Macht schließlich zum charakteristischen Merkmal der neuen deutschen Rechten werden, lehnt Wassermann radikalpolitische Erlösungsszenarien sowie kollektive Radikalität insgesamt ab. Diese Haltung entspricht derjenigen Thomas Manns, der sich in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« der quietistischen, ironischen und zutiefst konservativen Haltung verpflichtet fühlt und die Ambivalenzen und Widersprüche, die er am Ende der historischen Epoche so lebhaft empfindet, nicht zu lösen vermag, während Emst Bertram sie in seinem völkischen Mythos zu lösen vorgibt. Vgl. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Einleitung, Anm. 20), S. 154—155. Trotz aller Problematik im Hinblick auf Wassermanns politischen bzw. apolitischen Konservatismus und unabhängig von der Eignung personaler Selbstreform als sozialpolitisches Reformkonzept bedürfen Begriffe wie »Irrationalismus« und »Konservatismus« der inhaltlichen Konkretisierung und sind nicht per se negativ zu bewerten. Denn in Bezug auf die radikale Rechte zeigt sich, dass die von Esther Schneider-Handschin kritisierte »Funktion des Konservatismus als Abwehrideologie« durchaus positiv sein kann. Vgl. Schneider-Handschin, Aspekte des Wertezerfalls in Jakob Wassermanns »Andergast-Trilogie«, (wie Einleitung, Anm. 6), S. 84. Anm. 13.

192

Buber, Die Erneuerung des Judentums (wie Anm. 112), S. 93 u. S. 92. Ebd., S. 91. Vgl. Jakob Wassermann: Der Jude in der Kunst (wie Anm. 125), S. 157-160, hier S. 159.

193 194

216

5 Gerechtigkeit im modernen

Judentum

Grundlage des christlichen Ethos geworden ist« 1 9 5 . Daher ist für ihn die Betonung christlicher Aspekte nicht als Angleichung, sondern als Signum ursprünglicher Absolutheit des Judentums zu verstehen, aus dem die christlichen Attribute allererst erwachsen sind. Ebenso betont auch Martin Buber die Vorläuferschaft und das Primat des Judentums vor dem Christentum. Und können wir nicht denen, die uns neuerdings eine »Fühlungnahme« mit dem Christentum anempfehlen, antworten: Was am Christentum schöpferisch ist, ist nicht Christentum, sondern Judentum, und damit b r a u c h e n wir nicht Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in uns zu erkennen und in Besitz zu nehmen, denn wir tragen es unverlierbar in uns; was aber am Christentum nicht Judentum ist, das ist unschöpferisch, aus tausend Riten und Dogmen gemischt, - und damit - das sagen wir als Juden und als Menschen - w o l l e n wir nicht Fühlung nehmen. 1 9 6 Diese selbstbewusste Haltung wendet sich gegen den um die Jahrhundertwende erneut diskutierten exklusiven Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber dem Judentum. Gegen diesen christlichen Überlegenheitsanspruch, der insbesondere nach der 1900 von A d o l f von Harnack gehaltenen Vorlesung Das Wesen des Christentums virulent ist, wenden sich junge jüdische Intellektuelle mit kritischen Gegenschriften, in denen sie wie Leo Baeck Das Wesen des Judentums über die Negation von Harnacks Wesenskonstruktion zu entfalten suchen. 1 9 7 Der v o n Wassermann vertretene Ansatz, soziale Gerechtigkeit über personale Selbstreform zu erreichen, korrespondiert nicht nur mit den lebensphilosophischen Strömungen der Jahrhundertwende, den diversen populären Gruppierungen der Lebensreformbewegung und der vielfach in Vereinen organisierten bürgerlichen Mittelschicht, sondern ist vor allen Dingen genuin jüdi-

195

196

197

Jakob Wassermann: Offener Brief an Rudolf Pechel. In: Ders., Deutscher und Jude (wie Einleitung, Anm. 3), S. 153-156, hier S. 156. Buber, Die Erneuerung des Judentums (wie Anm. 112), S. 85. Ebenso wie Buber sieht auch Wassermann das Christentum in der Geistesgeschichte des Judentums aufgehoben. Entsprechend empfindet er »die Gegensatzstellung Jude - Christ wie etwas Unwahres oder doch wie ein Nicht-mehr-Wahres«. (Wassermann, Die psychologische Situation des Judentums [wie Anm. 54], S. 137) Deshalb wendet er sich gegen jede Instrumentalisierung des Christentums durch die antisemitische Propaganda. »Aber das Christentum scheint mir in keiner Weise dazu geeignet. Sind es doch gerade die edlen Juden heute, [...] in denen die christliche Idee und christliche Art in kristallener Reinheit ausgeprägt ist, ein Verwandlungsphänomen freilich, das in die Zukunft deutet.« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Kapitel 3, Anm. 66], S. 127.) Vgl. auch seine Ausführungen zu Moritz Heimann in: Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 187188. Verwandlung in Sinne des >neuen Menschern bedeutet für Wassermann demnach die Amalgamierung (ur-)christlicher und jüdischer Aspekte zum humanen Menschen, wobei dem Judentum aufgrund seiner Ursprünglichkeit das Primat zukommt, da es die Quelle der schöpferischen Elemente des Urchristentums darstellt. Vgl. Graf, Alter Geist und neuer Mensch (wie Kapitel 2, Anm. 2), S. 217.

5.7 Gerechtigkeit durch personale Selbstreform als Idee des Judentums

217

sehen Ursprungs. 198 Denn wie Leo Baeck darlegt, ist sowohl die Idee sozialer Gerechtigkeit erstmals in den jüdischen Gesetzen thematisiert und begriffen worden als auch die Vorstellung, dass eine sittliche Gemeinschaft allein durch die sittliche Persönlichkeit entsteht und nicht umgekehrt. Als Beleg für das Primat des von ihm favorisierten personalen vor dem institutionellen Gerechtigkeitskonzept kontrastiert Baeck das Modell platonischer Zwangsstaatlichkeit mit dem Modell der Thora: der »Anerkennung des Menschen durch den Menschen« 199 . Dazu konzipiert er die Vorstellungen von negativer und positiver Anthropologie als Antagonisten. Während sich das pessimistische Men198

Neuere Forschungen vermuten, dass das hebräische Schrifttum von den zeitlich sehr viel weiter zurückreichenden ägyptischen Vorbildern beeinflusst worden ist und dass die Rede von der sädäq Gottes sprachlich wie gedanklich im vorisraelitischen Kanaan wurzelt. Ebenso wie das ägyptische ma 'at wird das hebräische Lexem sädäq und dessen Wortfeld im Deutschen mit Gerechtigkeit übersetzt, um seiner Bedeutung als höchstem ethischen Prinzip fur gesellschaftliches und religiöses Verhalten Ausdruck zu verleihen. Doch ebenso wie der Begriff ma 'at umfasst auch das hebräische Begriffspaar sädäq!sädaqah ein weitaus größeres und konnotativ anderes Bedeutungsspektrum, als der Begriff Gerechtigkeit im Deutschen wiederzugeben vermag. Je nach Bezugskontext beschreiben die Nomina sädäq/sädaqah ein Verhalten gemäß bestimmten Normen, die Gemeinschaftstreue gegenüber Gott und den anderen im Sinne der platonischen Definition von dikaiosyne als Tun, was einem (in der Polis) zu tun obliegt (Vgl. Piaton, Politeia IV 433a-434b), sowie das Prinzip einer Lebens- und Weltordnung. Die Begriffe sädäq/sädaqah stehen weniger für etwas, was die Menschen einander schulden, als für Solidarität, als Loyalität gegenüber der eigenen Gemeinschaft. Es geht demnach weniger um einen Reaktions- oder Verteilungsakt gegenüber bereits geschehenen Taten als um die Erfüllung von Ansprüchen gegenüber Institutionen, die das gemeinschaftliche Leben tragen. Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Mit dem Begriff »Gerechtigkeit« ist der Aspekt der Gemeinschaft in ihrer religiösen, politisch-sozialen und anthropologischen Dimension mitgesetzt, so dass der Begriff »Gerechtigkeit« auch »gemeinschaftsgemäßes Handeln« oder »Gemeinschaftstreue« bedeutet. Während das Recht oder der Urteilsspruch nach Herkommen oder Satzung sicherstellt, dass jedem das seine zuteil wird, handelt es sich bei der Gerechtigkeit bzw. dem konkreten Gerechtigkeitserweis um ein solidarisches Verhalten, welches das gesetzte Recht einschließt, aber gegebenenfalls auch transzendiert. Ebenso wie im ägyptischen Begriff ma 'at verbindet sich im Begriff sädäq der Bedeutungsaspekt Frieden mit Befreiung, Erlösung, Gnade, Glück im Sinne eines rundum gelungenen Lebens sowie dessen Steigerung zum Heil. Vgl. Otfried Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einfuhrung. München. Beck 2000, S. 16-17. Vgl. Klaus Koch: Sädaq und Ma'at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten? In: Assmann/Janowski/Welker (Hg.), Gerechtigkeit (wie Kapitel 3, Anm. 125), S. 37-64. Vgl. Jan Assmann, Bernd Janowski, Michael Welker: Richten und Retten. In: Dies. (Hg.), Gerechtigkeit (wie Kapitel 3, Anm 125), S. 9-35. Vgl. Otto Kaiser: Der Gott des Alten Testaments. Wesen und Wirken. Theologie des Alten Testaments. Teil 3: Jahwes Gerechtigkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 39. Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche. 4. Band. 3., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg [u. a.]: Herder 1995, S. 500.

199

Baeck, Das Wesen des Judentums (wie Kapitel 1, Anm. 5), S. 233.

218

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

schenbild mit »vertikaler Solidarität«, d. h. einem hierarchisch geordneten Gefüge sowie der platonischen Vorstellung eines absoluten Staates verbindet, korrespondiert das optimistische Menschenbild vollständig mit der Vorstellung von Brüderlichkeit und »horizontaler Solidarität«, d. h. einer Gemeinschaft von Gleichen. 200 Der platonische Staat verkörpert fur Baeck jene Utopie, die glaubt, den Gottesstaat auf Erden manifestieren zu können, wozu sie die Entmündigung des Menschen und die Missachtung individueller Entwicklungsmöglichkeiten billigend in Kauf nimmt. Der Glaube an die unfehlbare, alles bewirkende Macht des Gesetzes, das die gesellschaftlichen Ordnungen schafft und in sie hinein die Menschen zwingt, um sie zu erziehen und zu beglücken, beherrscht hier alles. Er wird zum Glauben an das Allvermögen des Staates; der absolute Staat, der alles bedeuten kann, und dem darum die Allgewalt gegeben sein soll, damit er die Menschen und die Sitten gestalte, wird zur Bürgschaft der Vollkommenheit, zum Bilde der ersehnten Zukunft. Wenn er errichtet ist, dann ist die Zeit erfüllt und die Idee zur Wirklichkeit hienieden geworden; die civitas dei, der Gottesstaat auf Erden ist dann gegründet. Alles ist darum hier auf den Gedanken des Staates und seiner Gewalt und seines Zwangs aufgebaut. Ihm gegenüber bleibt dem Gebot des Eigenen, das an das Individuum ergeht, kein Platz; der individuellen Sehnsucht und Liebe, dem Rechte des Suchens wird der Raum versagt. Der Mensch ist ein Wesen, das zur Vernunft und zum Glücke zu zwingen ist, so wird es hier zum leitenden Satz, mit dem sich darum jede Hierarchie, jede politische wie jede kirchliche, immer gern vertragen und verbunden hat. 201 Nach Ansicht Baecks klingt in diesen Konzepten in letzter Konsequenz immer die Forderung der Diktatur an, sowohl bei Piaton wie bei Comte und Hobbes als auch in der Struktur der Diktatur der Arbeitenden sowie des evangelischen und katholischen Staates. Dahinter steht »ein starker Pessimismus gegenüber dem einzelnen Menschen [...]: der Mensch bedarf des Zwanges von der Geburt bis zum Tode; nur durch die zwingende Macht des allgebietenden und alles vermögenden Staates, des mathematischen Staates, kann der soziale Mensch ins Dasein geführt werden.« 202 Im Gegensatz dazu lebt für ihn die Bibel ganz vom Optimismus gegenüber dem Menschen. Hier ist alles durch den Glauben an den Menschen bestimmt, durch die Ehrfurcht vor seiner Freiheit und ihrem Schöpfergebot, durch diese Gewißheit dessen, daß, über alle Ungleichheit hinweg, die Fähigkeit des Guten in jede Menschenseele gepflanzt ist und die sittliche Aufgabe einen jeden fordert, alle verbindend, sie alle für einander beanspruchend. Der Optimismus gegenüber dem Menschen spricht hier, die religiöse, soziale Zuversicht, die von ihm alles erwartet und alles verlangt. Nicht der vollkommene Staat mit seinem vollkommenen Gesetz ist hier das eine, das not tut; der Mensch ist es mit seiner Tat, mit seiner Kraft, das Gute zu schaffen. Auch im Sozialen ist er die stärkste, die eigentliche Realität, die Wirklichkeit, durch die erst das Gesetz seine Wirklichkeit erhält. Nicht so ist es, daß der neue Staat den neu200 201 202

Vgl. Assmann, Ma'at (wie Kapitel 1, Anm. 5), S. 248-252. Baeck, Das Wesen des Judentums (wie Kapitel 1, Anm. 5), S. 231-232. Ebd., S. 232.

5.7 Gerechtigkeit durch personale Selbstreform als Idee des Judentums

219

en Menschen bringt, sondern so, daß durch den neuen Menschen die neue Gesellschaft gestaltet wird, durch die sittliche Persönlichkeit die sittliche Gemeinschaft. 203

Unter Verwendung modernitätstypischer Topoi kontrastiert Baeck die erstarrte, theoretische, mathematisch-abgeschlossene, lebensferne und anonyme Idee Piatons mit der lebendigen, tatkräftigen, offenen, menschlich-dialogisch sich entwickelnden Gemeinschaft der Bibel. »Die menschliche Tat bewirkt hier die menschliche Gemeinschaft. Darum gründet sich das Soziale hier auf das Menschenrecht und die aus ihm folgende Verantwortlichkeit des einen für den anderen, auf die Anerkennung des Menschen durch den Menschen.« 204 Laut Baeck ist die staatliche Gemeinschaft nach jüdischer Vorstellung eine in die Zukunft weisende, fortwährend zu verwirklichende Aufgabe, weshalb das Soziale auf das Messianische verweist. »Vor seiner Gegenwart steht immer mahnend die Zukunft, die ewige Aufgabe, die von Geschlecht zu Geschlecht zu erfüllen ist, der Weg zu dem Ziele, daß jede Tat des Menschen den Mitmenschen schaffe, damit sich in ihrer Gemeinschaft Gott offenbare.« 205 Demnach errichtet jeder Einzelne durch die gerechte Tat das Gottesreich auf Erden, wobei der Wert der Tat weniger in der äußeren Anerkennung des Menschen besteht als vielmehr in der Sorge um seine seelische Verfasstheit. Denn Gerechtigkeit ist primär eine » P f l i c h t g e g e n die Seele.« 2 0 6 »Was immer wir ihm tun, wir sollen es auch seinem Herzen tun, um seines Herzens willen und aus unserem Herzen heraus. Wir sollen die Gerechtigkeit üben mit dem Gemüt.«207 Entsprechend ist auch nach jüdischem Glauben die Gerechtigkeit ihrem Wesen nach umfassende Liebe. Das ist es, was die Religion Israels als die N ä c h s t e n l i e b e bezeichnet: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. »Liebe den Fremdling wie dich selbst«. Sie ist die notwendige Vollendung, die Erfüllung der »Gerechtigkeit«. Durch sie wird das, was wir dem Nächsten tun, aus einer bloß der Pflicht entsprechenden Handlung zu einer persönlichen Leistung, zu einer Tat, die nicht bloß von Hand zu Hand, sondern von Seele zu Seele geübt wird. Die Schuldigkeit erhält ihre Wärme, ihren inneren Wert; wie es der Talmud sagt: »Die Gerechtigkeit« gilt so viel, wie Liebe in ihr ist«. Und wo sich die Schuldigkeit vielleicht erübrigt, dort bleibt eben die Liebe. Sie haben wir auch dem zu erweisen, der unsere Tat entraten mag oder entraten muß. [...] »Wohltun und Menschenliebe wiegen alle Gebote der Bibel auf«. [...] »Menschenliebe ist Anfang und Ende der Thora«. [...] »Das ist das dreifache Zeichen des Israelites daß er barmherzig, schamhaft ist und Menschenliebe übend«. 208

Auch Baeck betont die Bedeutung der Empathie, der Fähigkeit und Bereitschaft, sich in das Hoffen und Sehnen des anderen hineinzuversetzen und das Wohl und Wehe seines Wesens, die Bedürfnisse seines Herzens ergründen zu 203 204 205 206 207 208

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd.,

S. 232-233. S. 233. S. 234. S. 234—235.

220

5 Gerechtigkeit im modernen Judentum

wollen. Die Empathie ist Voraussetzung und Bedingung aller Anteilnahme, Nächstenliebe und Barmherzigkeit, denn »das lebendige Verständnis fur den Mitmenschen gibt der Nächstenliebe erst ihre sichere Bestimmtheit« 2 0 9 . Auch hier bildet den Anfang aller Menschenliebe das Unterlassungsgebot, das »Hillel als den Inbegriff der Lehre, aus dem alles folgt, bezeichnet hat: >Was du nicht willst, daß man dir es tue, das tue auch keinem anderenBild< zu erheben, ist verknüpft mit einem persönlichen »Gleichgewichtsstreben [...], dessen höhere Form das Verlangen nach Gerechtigkeit ist« 213 . »Chaos durch die Form zu bannen, auf nichts anderes kommt es an, für das Individuum, für die Nation, für die Menschheit.« 2 1 4 209 210 211 212

213 214

Ebd., S. 235. Ebd. Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 215. Wassermanns Kritik wendet sich insbesondere gegen die politisch radikale Gesinnung. »Gesinnung aber tilgt den Sinn, zerschlägt das Bild, entfleischt die Gestalt, daß sie zum Skelett wird, zum Phantom. Wer Gesinnung hat, sieht nicht mehr die Gestalt und löst sich los von Sein und Werden.« (Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude [wie Kapitel 3, Anm. 66], S. 122.) Wassermann, Selbstbetrachtungen (wie Einleitung, Anm. 3), S. 181. Ebd., S. 180.

6

Laudin und die Seinen

Im Roman »Laudin und die Seinen« steht die Wiederbelebung des Rechts im Kontext einer kulturellen, ethisch-religiösen Gesamtperspektive, wie sie charakteristisch ist fur die diversen sozialen Reformkonzepte der Jahrhundertwende. Die Identitätskrise Laudins, die über eine Läuterungsphase von Erniedrigung und Selbstverlust zur Selbstfindung, Höherentwicklung und idealen Partnerschaft fuhrt, ist untrennbar verbunden mit der allgemeinen sozialen und juridischen Krise. Alle drei Ebenen befinden sich in einer krisenhaften Übergangsphase, deren visionäres Telos die vollkommene Persönlichkeit sowie die ideale Paarbeziehung ist. Sie sollen Basis und Keimzelle der wahrhaft humanen Gesellschaft der Zukunft sein, in welcher das Recht auch in praxi Spiegel der Gerechtigkeit ist. Ähnlich wie im Christian Wahnschaffe handelt es sich auch hier um eine säkulare Heilsgeschichte, in der nach individueller Passion die erfolgreiche Verwandlung steht. Laudin durchlebt die »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis«1, für Kant der einzige Weg und das erste Gebot zur Selbstvervollkommnung. Literarisch wird der Glaube an die Utopie des >neuen Menschern, hier des >neuen Paaresstarren Seelenmasse< (vgl. LS 256) zum Auslöser seiner existenziellen Sinn- und Identitätskrise. Er erkennt, dass seine Arbeit eine vorgebliche Wirklichkeit in Bruchstücke zergliedert, ohne die Einheit des Seins in all seinen verschlungenen Bezügen erfassen zu können. Er kommt zu dem Schluss, dass es eine »seelische Totengräberarbeit« (LS 256) ist, die »Stückwerk vom Stückwerk« (LS 256-257) produziert, »Konglomeratabfall« (LS 257). Seine Diagnose kritisiert eine analytische Arbeitsauffassung, die nach den Gesetzen und Methoden moderner Wissenschaftlichkeit verfährt und die Bergson mit der Methode der Intuition, die mittels altruistischer Sympathie das Leben und seine Objekte in ihrer natürlichen Einheit zu erfassen vermag, kontrastiert. 8 Resigniert muss Laudin feststellen, dass nichts »hat werden können im Schoß dieser Gesellschaft und Menschheit, nichts hat entstehen können, vor seinen Augen nicht, unter seinen Händen nicht« (LS 257). Gelähmt von der unerbittlichen Mechanik seines Lebens, sehnt er sich nach Verwandlung. »Mutlos und einsam« (LS 44, vgl. LS 45) wünscht er sich nichts sehnlicher, als nicht mehr er selbst sein zu müssen, »als ob man den eigenen Charakter abstreifen könnte wie einen schadhaften Anzug« (LS 44). [...] und er fragte, weshalb man denn nicht der andere werden konnte? Der Widerpart seiner selbst, wenn man schon nicht die Vollendung seiner selbst oder die Erhebung über sich selbst zu erreichen vermochte? Abwerfen den alten, müden, verbrauchten Menschen, neu werden, neu sein. Aus sich selber heraus gleichsam verschwinden, sich selber gleichsam neu gebären. (LS 103)

Die echte religiöse Erneuerung als Ergebnis der produktiven Kraft des schöpferischen Menschen, die aus dem wahren Inneren erfolgt, wird kontrasiert mit der falschen Verwandlung zum Doppelgänger, der hier als der dunkle Widerpart der Persönlichkeit erscheint. Unter »Qualen die Trägheit« (LS 103) überwindend, erkennt Laudin, dass er längst zu diesem Widerpart seiner Selbst geworden ist, zum »Zerstörer von Berufs wegen, Zertrümmerer aus Gewohnheit und Routine und unter dem Schutz der Öffentlichkeit und der Gesetze« (LS 103). Er begreift, dass er im Traum eben dieses Doppel- und Zerrbild seines Selbst hat morden wollen und dass seine Seele, sein inneres Ich, das über das Unbewusste mit dem Leben in Kontakt steht, sich gegen die Erstar8

Wassermann hat in seinem Werk Analyse und Synthese immer wieder als Antagonisten konzipiert. Sowohl auf individueller, innerseelischer als auch auf sozialer und juridischer Ebene erscheint die Analyse stets als Negation des einheitsstifitenden Denkens. In anti-freudianischer Tradition wird nicht allein der »Seelenzergliederung« die intuitive Schau und die Annahme des Unbewussten sowie die Hinwendung zu Traum, Vision und innerer Stimme entgegengestellt, sondern auch der politischen Revolution die organische Entwicklung gesellschaftlicher Veränderungen aus einem kollektiven Urgrund.

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6 Laudin und die Seinen

rung seiner oberflächlichen Existenz zur Wehr gesetzt hat. Die krisenhafte Übergangsphase, der Verlust aller Ordnung und Gewissheit wird als nötige Zwischenperiode gedeutet, um eine wahre, dem Leben verpflichtete Ordnung auf höherer Ebene finden und aufbauen zu können. Das Krankheitssymptom, Laudins sozialer und beruflicher Funktionsausfall, ist somit letztlich eine positive Reaktion der Seele auf das mangelnde Gleichgewicht, als Folge der »Hypertrophie des Intellekts« 9 , der Überintellektualisierung, -mechanisierung und -Objektivierung. Laudin hat sich in seinem >alten Leben< der positiven Selbsterkenntnis verweigert, der delphischen Forderung des »Erkenne dich selbst«, die für Nietzsche Voraussetzung aller Heilung zum Menschen ist. 10 Insofern weist sein Vorwurf an Egyd Fraundorfer auf ihn selbst zurück. Denn auch Laudin hat eine gewisse fixe Idee von seinem (inneren) Charakter geformt, nicht von der Art, wie er wirklich ist, sondern von der, wie er (äußerlich) zu sein glaubt und wie er glaubt, dass man ihn sieht (vgl. LS 69). Folge dieser verfehlten Selbstdefinition ist eine zunehmende Ordnungsphobie. Er selbst vermutet, dass es sich dabei um eine »automatische Übertragung und Ablenkung innerer Vorgänge auf äußere Gewohnheiten« (LS 39, vgl. LS 43, 128) handelt, durch die er seinen innersten Wesenskern vor den äußeren und inneren Zerfallserscheinungen zu schützen sucht. Die Erfahrung von Unrecht und Gewalt, seine diversen beruflichen Einblicke in die seelischen Abgründe des Menschen, haben statt zu einer seelischen Abhärtung (vgl. LS 38) zu dieser pathologischen Zwanghaftigkeit geführt, und was vormals »wunderliche Sucht« war, hat sich immer mehr zu »Anfallen von Schrulligkeit« und einem »Fieber der Genauigkeit« (LS 38) entwickelt, bis ihm schließlich die »Selbstkontrolle zum Zwang geworden« (LS 201) ist. Durch sein wissenschaftlichrationales Bewusstsein an die Erkenntnis des äußeren Raumes gebunden, verpflichtet einzig der bergsonschen Moral der »geschlossenen Gesellschaft«, deren Forderungen sich automatisch aus der Notwendigkeit ihres Bestandes ergeben, ist Laudins Leben und Handeln zunehmend in Routine erstarrt. Die Beschreibung seines Zusammenbruchs ist folgerichtig von einer zunehmenden Häufung diverser Maschinen- und Todesmetaphern gekennzeichnet. Laudin kann den Anblick von »uralt Verlebtem und von hoffnungsloser Wiederholung« (LS 352) nicht mehr ertragen, und nachdem die »staub- und modergeschwängerte Luft [...] zahllose Male den Aufschwung gelähmt, das reine Wollen erstickt« hat, kommt schließlich der »unabänderliche Räderlauf eines Mechanismus« (LS 352) zum Stillstand. Wie Laudin steht auch Pia zu den Dingen in »einem Verhältnis von Sklaverei« (LS 44). Pia ist die »in die Dinge verkerkerte Frau« (LS 85). Es gab kein Ruhen und kein Nachdenken, ohne daß ihr ein solches Ding, anspruchsvoll und hilfsbedürftig, vor Augen schwebte. Das Haus war vollgestopft von ihnen. In jedem Raum hingen, lagen und standen sie. Die Leute waren im allgemeinen der 9 10

Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 120. Vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 332-333.

6.1 Das mechanisierte individuelle, soziale undjuridische

Leben

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Ansicht, daß der Mensch die Dinge nötig habe. Diese Ansicht war entschieden töricht und verkehrt; in Wirklichkeit verhielt es sich so, daß die Dinge in unverschämter, aufdringlicher und schamloser Weise den Menschen nötig hatten und forderten und seine Kraft und seine Zeit nach ihrem Gutdünken mißbrauchten. [...] Pia war von den Dingen beherrscht; sogar zwischen ihr und ihren Kindern erhob sich die Barrikade von Dingen. (LS 56) 11

Pia hat sich an die Dinge verloren. »So wenig wie sie weiß, wer sie ist, so wenig spürt sie, was sie, vielleicht, entbehrt. Sie fragt nicht, sie hadert nicht, sie philosophiert nicht; sie schaut; sie wirkt; und abends ist sie müde.« (LS 57) »Denken und Fühlen« sind »vor ihren sehenden Augen gleichsam in einen tiefen Schacht« (LS 263) hinuntergesunken, und darüber liegen Dinge, Pflichten, praktische Tätigkeiten, Routine und die Mechanik des Alltags. Selbst die Worte sind ihr zu »Gebrauchsgegenständen« geworden, die »keinerlei Ansprüche mehr an Denken und Fühlen« (LS 263, vgl. LS 113) stellen. Pia lebt in ihrem Inneren ebenso beziehungs- und kommunikationslos wie Laudin. Ohne Freundin und ohne offene und herzliche Beziehung zur eigenen Mutter hat sie sich zur Schweigsamkeit erzogen. Ihren Lebensmittelpunkt bilden einzig Mann und Kinder (vgl. LS 263-264). Die äußere Welt existiert für sie lediglich als soziale Macht und soziale Pflicht. Eingespannt in ihre private Dingwelt, kommt ihr die zunehmende Erstarrung ihres Lebens und die Entfremdung Laudins erst zu Bewusstsein, als dessen Abwege längst allgemeines Gesellschaftsgespräch sind. Aufgrund ihrer mangelnden Teilhabe an dem als rundweg negativ beschriebenen sozialen Leben gilt Pia »in der ihr gleichgeordneten Gesellschaftsschicht für ungebildet und etwas simpel« (LS 266). Was als negative Beurteilung erscheint, ist positives Indiz dafür, dass sie wie Laudin zur Höherentwicklung berufen ist, denn ihre soziale Ungeschicktheit verweist darauf, dass sie die falsche Moral der Gesellschaft nicht internalisiert hat. Dennoch bedarf es eines äußerlichen Anlasses, nämlich der infamen Belästigung Brigitte Hartmanns, um ihr die eigene Verstricktheit in die Mechanik ihres Lebens bewusst zu machen. Es erfaßte sie Abscheu gegen den Mechanismus und seine bösartige Gesicht- und Gestaltlosigkeit; von einem Draht und einer Glocke konnte man gequält werden; es gab fast keine Abwehr, es war so angeschmiedet, man wurde tückisch vergewaltigt; man mußte sich einfach fügen, dem Draht und der Glocke fügen, ob es auch noch so unsinnig und beschwerlich war. (LS 179)

11

»Das größte Hindernis zwischen den Menschen ist das Ding. Wir sind viel zu sehr den Dingen und Sachen verhaftet und werden es täglich mehr. Bevor nicht diese Sklaverei gebrochen ist, die uns zu Besessenen macht, bevor nicht in den Herzenskreis an Stelle der bezahlten und käuflichen Sachen die unbezahlbare und unverkäufliche Sache, die eine Sache, die eben aller Sache ist, tritt, kann es keine Erneuerung geben, in keinem Geistesflug, in keiner Flamme.« (Wassermann, Rede über Humanität [wie Kapitel 5, Anm. 111], S. 419.)

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6 Laudin und die Seinen

6.1.2 Die Ehe als Paradigma des erstorbenen sozialen Lebens Für Laudin steht die Ehe paradigmatisch für das soziale Leben und seine Verfallserscheinungen (vgl. LS 283). Die »Maschinerie des gesellschaftlichen Lebens« (LS 37) wird beherrscht von List, Grausamkeit, Missverstehen, Lüge, Gier, Sklaverei und Habsucht, von Leidenschaft und Verbrechen (vgl. LS 3 6 37). Eine »Schandenwelt« (CW 695), in der statt Stolz, Würde und Herzensgröße (vgl. LS 184), Phantasie, Menschlichkeit, Vernunft und Güte (vgl. LS 170) eiserne Klassengesetze herrschen, die in keinem Bezug zum aktuellen Leben mehr stehen (vgl. LS 183). In seinen sozialkritischen Ausführungen, in denen sich Rousseaus Genese des ungerechten Gesellschaftsvertrages, Nietzsches Kritik der Moralgenese und Bergsons Antagonismus von lebendiger und erstarrter Individual- und Sozialstruktur verbinden, kommt Laudin zu dem Ergebnis, dass alle Verträge, alle Paragraphen, Vorschriften und Urkunden, die seit dem Bestand von Staaten ausgegeben und fixiert worden sind, einzig dazu dienen, Recht in Zwang, Sicherheit in Angst und Sitte in Zuchthausgeist zu verwandeln (vgl. LS 183). »Edle Freiwilligkeit« wird zerstört und die Menschheit von der geschlossenen Moral des Ressentiments zum Schuldner einer Sklavenmoral erklärt, die vorgibt, »das Gesetz gepachtet« zu haben und mit ihm »die Moral, die Liebe, die Treue, die Frömmigkeit, den lieben Gott« (LS 183). Er erkennt die Scheinmoral, die im Sinne des geteilten Gerechtigkeitsverständnisses mit verbissener Hartnäckigkeit auf ihren Privilegien besteht, für die sie bereit ist, Menschen zu opfern, und die zum Zwecke ihres Machterhaltes mit der von Nietzsche kritisierten Perfidie ihre transzendentale Absicherung behauptet (vgl. LS 184). Es ist eine im Sinne der Lebensphilosophie engstirnige und erstarrte Moral, die materiellen Reichtum mit geistiger Armut bezahlt (vgl. LS 185). Als »Straf- und Sittenrichter auftretend«, ist diese Moral der »Dünkel in seiner strahlendsten Form« (LS 117), der kommunikations- und beziehungslos, verstockt und taub nur sich selbst sieht, ein Eigenwille, der in allem das Gegenteil der Gerechtigkeit bildet. 12 Für Laudin symbolisieren Konstanze Altacher und Brigitte Hartmann den vom Dünkel beherrschten Weltzustand (vgl. LS 190), der gegenüber dem Leiden unempfindlich ist, jenen Ichdünkel, der in der Lehre Buddhas Ursache von Gier, Hass 12

»Er ist unempfindlich gegen Gründe, [...] er hört sie nicht, er hört den andren Menschen nicht, er sieht ihn nicht, er schwenkt bloß seinen Schein und will das kontraktlich zugesicherte Pfund Lebendfleisch haben. Für alles übrige ist er taub.« (LS 184) Auch hier wird der ethischen Funktion des Zuhörens das gemeinschaftsdestruierende und mithin unethische Verhalten des Tauben und Verstockten gegenübergestellt. Die ethische Bedeutung verfeinerter und wacher Sinne liegt in der positiven und offenen Haltung gegenüber dem anderen. Denn neben der Fähigkeit, das Innere des Menschen und seine positive Potenzialität zu >sehenSklavenaufstand in der Moral< erreicht und in ihrer Leidenschaftlichkeit und Entflammung Oben und Unten, Licht und Finsternis verkehrt haben. Ihr Dünkel bestimmt die sozialen Regeln, die sich in ihrer Verflachung auch gegenüber der Jugend eine Autorität anmaßen, die einzig auf der Pflicht zur Ehrfurcht vor dem Alter beruht, nicht jedoch auf der freiwilligen Wertschätzung einer wahren Persönlichkeit (vgl. LS 124, 225). Es sind jene von Bergson beschriebenen Automatismen, die sich in der Interaktion der gesellschaftlichen Gruppen entwickeln und über deren automatischer Pflichterfüllung das Leben zunehmend erstarrt und verflacht. In diesem Sinne kommt Edmund Altacher in seinen Memoiren, die in vielem den Gedanken Laudins entsprechen (vgl. LS 172), zu dem Ergebnis: Das Verhängnis liegt in der Institution. Ich glaube, ihre Formen entsprechen dem Leben nicht mehr. Und ich glaube, sie können nicht mehr lebendig gemacht und nicht mehr aufrecht erhalten werden. Was aber geschehen soll, wenn sie vollends zerstört sind, auch der armselige Schein, der noch von ihnen da ist, und wie das Neue aussehen soll, das unser Dasein neu gestalten müßte, weiß ich nicht. Ich werde auch die Wandlung nicht mehr erleben. (LS 170)

Grundsätzlicher und radikaler ist die nihilistische Ansicht Egyd Fraundorfers: »Die Institution Menschheit, wie wir sie bis dato überblicken können, ist eine lächerliche Stümperei. Man müßte eine wirksame Beschwerde einreichen. Es fragt sich nur, bei wem. Da wird einem natürlich geantwortet: Gott. Aber das einzig Gute an Gott ist ja gerade, daß er nicht existiert.« (LS 67) In kulturkritischer Haltung einen vormals glücklichen Urzustand antizipierend, sieht selbst Laudin in der Zerschlagung aller Institutionen den einzigen Ausweg, auch wenn sein Plädoyer fur Chaos und Anarchie unter dem Eindruck eigener auswegloser Verzweiflung steht. Es wird mir täglich mehr zur Wahrheit. Wenn ich mir so die Menschen ansehe und miterlebe, was sie tun und wirken und beschließen, und wie sie gegeneinander wüten und einander zerfleischen, [...]. Besser Anarchie, besser das Chaos, besser das Nichts als das. Weg damit und von vorn anfangen. Mit irgend etwas neu beginnen, nur fort mit dieser Lüge, dieser Fratze, dieser Weltschande, diesem unseligen Gemengsei von Zwang und Ausbrecherei, von öffentlicher Moral und nicht weniger öffentlichem Laster, das einmal, in schamhafter Vorzeit, heimlich war. Es macht die Menschen böse, es macht sie verstockt und gemein, von Tag zu Tag mehr. (LS 286-287)

6.1.3 Das erstorbene Recht Die Ehe und mithin die Gesellschaft bezeichnet Laudin als »camera obscura« (LS 279) des Lebens. Durch den Blickwinkel der Institutionen entsteht ein falsches Abbild, eine Illusion der Wirklichkeit, die das Leben bis in die moralische Verfassung des Einzelnen hinein verzerrt. Entsprechend sind für Fraundorfer die Menschen, die mit ihrem dem analytischen Rationalismus und der

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6 Laudin und die Seinen

Scheinmoral verpflichteten Bewusstsein völlig den Erscheinungen der Oberfläche verhaftet sind, »traurige Hungerleider der Illusion, traurige Vagabunden auf einem traurigen Jahrmarkt« (LS 336).13 Aufgrund ihres fehlenden Zugangs zur Wirklichkeit (vgl. LS 87) können sie auch Wahrheit und Gerechtigkeit nicht erkennen. In diesem Sinne hat laut Heidegger bereits Nietzsche das Böse mit dem Nicht-Seienden assoziiert sowie das Gute mit dem Seienden und die Gerechtigkeit als Metaebene und Wesen der Wahrheit jenseits dieser dualistisch geteilten Perspektive. Scheinwelt und Illusion vereiteln die Durchsetzung von Wahrheit und Gerechtigkeit, wovon auch das Gesetz als Teil des automatisierten Gesellschaftslebens betroffen ist. Denn im Zuge der allgemeinen sozialen Verflachung und Rückentwicklung, des gesellschaftlichen Nachlassens jeglicher Bemühung, sich dem Leben anzupassen, ist die wache Aktivität, die laut Bergson als Teil der Seele Flamme des sittllichen Lebens selbst ist, erloschen und mit ihr auch die »lebendige Gerechtigkeit«. Richterspruch ist Zufall, Entscheidung Gunst oder Formel. Kein Leben dahinter; kein Genius; keine Flamme der Erneuerung. [...] Strafe, Sühne, Ausgleich, Gerechtigkeit: alles nur Mühle, die nicht mahlt, Feuer aus farbigem Papier, mit Redensarten ausgestopfter Popanz. (LS 101)

In einer Atmosphäre von Scheinrealität und Scheinmoral ist das lebendige Gesetz »vermodert« (LS 345). Durch den Automatismus hat sich die Gerechtigkeit zum starren, lebensfeindlichen Recht verfestigt, ist »Halbrecht«, »Mißrecht«, »Fehlrecht«, ja »Unrecht« geworden (LS 354). Wie fur Bergson sind es für Laudin insbesondere Berufsgruppen wie Ärzte, Lehrer, Priester und Anwälte, in denen sich der gesellschaftliche Automatismus zur Pflicht verfestigt hat und durch die Betonung der Form das Leben negiert wird (vgl. LS 68). Entsprechend bitter fallt Laudins berufliche Bilanz aus: »Vieles getan, nichts gewirkt; rechtschaffen gewollt, schlechtschaffen bestanden; immer bloß Teil für Teil, nie Ganzes fur Ganzes; dem Purpur Proselyten geworden, das Skelett dahinter verheimlicht; denn er, wenn keiner sonst, er mußte wissen, daß das Skelett dahinter war.« (LS 355) Laudin hat versucht, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Gerechtigkeit im Sinne aristotelischer Billigkeit herzustellen. Dieses Vorhaben ist nicht nur am erstorbenen Recht, sondern auch am gesellschaftlichen Dünkel sowie einer allumfassenden Lüge gescheitert, wobei für ihn das Böse nicht primär vom Menschen ausgeht, sondern von seinen Normen, Gesetzen und Institutionen. Denn grundsätzlich geht er von einer positiven Anthropologie aus. Für ihn wird der vormals unschuldige Mensch der Kindheit, der noch geheimnishaft verbunden ist mit einer unschuldigen Urwelt und der noch Anteil hat am starken, dauerhaften, sich selbst bestimmenden Leben, erst durch Scheinmoral und Konventionen korrumpiert. 13

Als »Theaterhimmel« beschreibt auch Maurizius das Leben der um »achzehnhundertachtig Geborenen« (MA 277), die nicht das wahre Leben< und seine >echte Sittlichkeit erfahren haben, sondern moralisch geprägt sind von der verzerrten bürgerlichen Scheinmoral.

6.1 Das mechanisierte individuelle, soziale undjuridische Leben

231

Zum Mitglied der Gesellschaft geworden, gehört er dann »zu den Fertigen; zu den Gewordenen; also zu den Verlorenen« (LS 295). 1 4 Solcherart verderbt entsteht dann aus dem »Widerspiel von Geiz und Vorsicht, Lüge und Furcht, Respekt vor dem unheimlichen Apparat des Rechts und Bemühung, ihm durch List zu entgehen« (vgl. LS 89), aus »Verzweiflung und Verlogenheit, Schlauheit und Hysterie, Maßlosigkeit« und provinziellem Kleinbürgertum, theatralischem Schmerz und wahrhaftigem, »Demut und Wut, Gewissensqual und Heuchelei« (LS 94) ein undurchdringliches »diabolisch vernesteltes Gewebe« (LS 334). 15 Angesichts dieses »Schleiers der Maya« ist »dem abwägenden Urteil jede Handhabe, dem moralischen Bewußtsein jeder Anhalt« (LS 193) genommen. »In der Tat« ist Laudins »Billigkeitsempfinden durch alle diese Vorgänge aufs tiefste verletzt« (LS 193). Die Billigkeit epieikeia (lat. aequitas) ist ein wichtiges Element innerhalb des aristotelischen Gerechtigkeitskonzeptes. Sie stellt die personale Urteilkraft dar, welche in der Lage ist, das schriftlich fixierte Recht adäquat auf den Einzelfall hin auszulegen. Und das ist die Natur des Billigen: es ist eine Korrektur des Gesetzes, da wo dasselbe wegen seiner allgemeinen Fassung mangelhaft bleibt. Dies ist auch die Ursache davon, daß nicht alles gesetzlich geregelt ist; denn über manche Dinge läßt sich kein Gesetz geben, so daß es hier eines Plebiszites bedarf. [...] So ist denn klar, was das Billige ist, und daß es ein Recht ist, und besser als ein gewisses Recht. Hieraus sieht man aber auch, wer der Billige sei: wer solches Recht will, wählt und übt, wer nicht das Recht zuungunsten anderer auf die Spitze treibt, sondern vom Recht, auch wo er es auf seiner Seite hätte, nachzulassen weiß, der ist billig und sein Habitus die Billigkeit, die eine Art Gerechtigkeit und kein von ihr verschiedener Habitus ist. 16 Die Billigkeit ist die abwägende Kompetenz, die »nach bestem Dafürhalten« 17 den konkreten Fall im Sinne des Gesetzgebers auszulegen im Stande ist. Sie 14

15 16

17

Ebenso geht auch Walther Rathenau von einer positiven Anthropologie aus und sieht in der Mechanisierung sowohl den Ursprung des Bösen als auch die Quelle des für die angestrebte Höherentwicklung kontraproduktiven Nihilismus. »Denn in der menschlichen Natur liegt diese Feindseligkeit und Niedrigkeit nicht, das Herz des Menschen ist zart wie seine nackte Haut, es ist der Rührung, dem Schmerz, der Neigung hingegeben. Was dies Herz verhärtet, ist die Angst; die Sklavenpeitsche der Mechanisierung, die niemals ruht, und deren Zischen Hunger, Verachtung, Entrechtung, Schmerz und Tod bedeutet. Freilich sind die Nöte an sich nicht furchtbar, sondern Wege des Heils; doch nur für den gläubigen Menschen; die Mechanisierung aber hat vorsorglich verstanden, um ein wenig Wissen und Zauberei ihm den Glauben abzukaufen.« (Rathenau, Von kommenden Dingen [wie Kapitel 1, Anm. 72], S. 318-319.) Ergebnis dieses Prozesses ist der ernüchterte, desillusionierte Mensch, der wie Laudin ein vollkommen automatisiertes Leben führt. Luise Dercum ist in diesem Sinne die inkarnierte Lüge (vgl. LS 243-248). Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Kapitel 3, Anm. 133), V 14, 1137b 251138a 5. Aristoteles: Werke in dt. Übersetzung. Begr. v. Ernst Grumach. Hg. v. Hellmut Flashar. Bd4: Rhetorik. Übers, u. erläutert v. Christof Rapp. 1. u. 2. Halbbd. Berlin: Akademie 2002,1 13, 1375a 30.

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6 Laudin und die Seinen

vermag das Versäumte der allgemeinen Gesetzgebung zu verbessern, und zwar so, »wie es auch der Gesetzgeber selbst, wenn er den Fall vor sich hätte, tun, und wenn er ihn gewußt hätte, es im Gesetz bestimmt haben würde« 18 . Als Kompensation fur die Allgemeinheit des Gesetzes vermag die Billigkeit seinen Wortlaut im Sinne der wahren Intention des Gesetzgebers auszulegen und damit Gerechtigkeit herzustellen. Sie ist die Korrektur des Gesetzes, wo dieses wegen der Allgemeinheit seiner Fassung unzureichend ist. 19 Neben dem Ausgleich der strukturellen Schwäche des Gesetzes ist die Billigkeit darüber hinaus eine sittliche Haltung. In der Nikomachischen Ethik zählt diese Art der Gerechtigkeit zu den dianoethischen Tugenden, insbesondere zur Tugend derphronesis, der praktischen Vernünftigkeit. 20 In der Rhetorik beschreibt Aristoteles ausfuhrlich diejenigen Verhaltensweisen, die zur Billigkeit gehören, wie ζ. B. Nachsicht zu üben, zwischen den unterschiedlichen Beweggründen einer Tat zu differenzieren und Rücksicht auf Person und Umstände zu nehmen. Zur praktischen Vernünftigkeit gehört aber auch, auf den eigenen gesetzlichen Vorteil verzichten zu können, sowie die Fähigkeit zu verzeihen allgemein. Wofür man nämlich Verzeihung aufbringen soll, dies fällt in den Bereich der Billigkeit. Auch dass man bloße Fehler nicht als gleich schlimm wie ungerechte Taten beurteilt, und auch nicht Unglücksfälle (ist ein Beispiel von Billigkeit); denn Unglücksfälle sind solche, die unerwartet und nicht aus Schlechtigkeit, Fehler solche, die nicht unerwartet und nicht aus Schlechtigkeit, ungerechte Taten aber solche, die nicht unerwartet und aus Schlechtigkeit eintreten. Auch menschliche Schwächen nachzusehen ist billig. Auch nicht auf das Gesetz, sondern auf den Gesetzgeber, und nicht auf die Formulierung, sondern auf den Gedanken des Gesetzgebers zu sehen, und nicht auf die Handlung, sondern auf die Entscheidung, und nicht auf den Teil, sondern auf das Ganze, und nicht darauf, wie einer jetzt ist, sondern wie er immer oder in der Regel war, zu sehen, (ist billig). Auch sich mehr der guten als der schlechten Dinge, die man erfahren hat, zu erinnern, und mehr der guten Dinge, die man erfahren, als derer, welche man getan hat, (ist billig). Auch das Standhalten beim Erleiden von Unrecht. Auch eine Sache eher durch das Wort als durch die Tat zu entscheiden. Auch eher zum Schiedsrichter, als zum Gericht gehen zu wollen; denn der Schiedsrichter sieht auf das Billige, der Richter aber auf das Gesetz. Und um dieser Sache willen ist der Schiedsrichter erfunden worden, damit das Billige sich durchsetzt.21 Angesichts eines >versteinerten Rechts< ergibt sich für Laudin die Schwierigkeit, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seinem Bemühen um Billigkeit nachzukommen. Denn während die Zielsetzung der Billigkeit Versöhnung, Weiterentwicklung und Friedenssicherung ist, bildet der Sanktionsgedanke Mittelpunkt und Zielsetzung des starren Rechts. Ist die Billigkeit im 18 19

20

21

Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Kapitel 3, Anm. 133), V 14, 1137b 20-25. Vgl. Günther Bien: Gerechtigkeit bei Aristoteles (V). In: Höffe (Hg.), Aristoteles (wie Kapitel 5, Anm. 103), S. 135-164, hier S. 160-162. Vgl. zur phronesis: Aristoteles, Nikomachische Ethik (wie Kapitel 3, Anm. 133), VI. Aristoteles: Werke in dt. Übersetzung. Bd4: Rhetorik (wie Anm. 17), 113, 1374b 4-23.

6.1 Das mechanisierte individuelle, soziale undjuridische

Leben

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Sinne der Lebensphilosophie »schöpferisch«, so unterminiert die Strafe unabhängig von ihrer Schwere den Gedanken der Höherentwicklung zum >humanen Menschern, zumal das Recht auf Nuancen kein Gewicht legt und seine rigorosen Forderungen jegliche Humanität zerstören (vgl. LS 343,345). Hinzu kommt, dass Laudin kein Richter ist und folglich auch keine Gewalt über das Recht besitzt (vgl. LS 353) und dass die Gerechtigkeit aufgrund des ungleichen Gesellschaftsvertrages de facto das Recht der Besitzenden ist. Dass es innerhalb einer solch ungerechten Ordnungsstruktur keine Chance auf Gerechtigkeit gibt, dessen ist sich Konrad Lanz vollkommen bewusst. Er habe dem Staat, dem größten und gewissenlosesten aller Notenfalscher, ins Handwerk gepfuscht und die Milliarden von Papierfetzen, hinter denen nichts stehe als ein lügenhaftes Versprechen, um eineinviertel Dutzend Stück vermehrt. [...] Die Ordnung der gegenwärtigen Welt bringe es mit sich, daß in solchem Fall wie seinem das Gesetz zum Furor werde und den Übertreter um so gnadenloser richte, als die leiseste Regung von Milde sofort die ganze Konstruktion ad absurdum führe. [...] Wenn das Gesetz auf der einen Seite nicht bloß ignoriere, sondern beschütze, was es auf der anderen mit grausamer Strafe verfolge, müsse das Rechtsgefühl in jedem Bürger erkranken oder verdorren. (LS 342)

Auch wenn Konrad Lanz weiß, dass er gegen die Gesamtheit gefrevelt hat, stellt sich für ihn die Frage nach der Höhe seines Vergehens angesichts der Mit- oder Hauptschuld einer Gesellschaftsstruktur, die ihn zu einer unwürdigen Existenz in Armut und unaufhörlicher Demütigung verdammt. Er ist Opfer einer gesellschaftlich sanktionierten Moral, die ein »Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern«22 verlangt, gegen das sich Lanz zur Wehr setzt. Immer von zufälliger Gnade abhängig. Jedes Retortenglas Gnade, jedes Buch Gnade. Jedes Semester mit Bittgesuchen und Bittgesuchen beginnen. Unaufhörlich sich klein machen, würdig machen und gleichsam beteuern, daß man ein anständiger Mitgeher, aber beileibe niemals ein Zuhochhinauswoller sein werde; sei doch die ganze Gesellschaft durchtränkt von der Angst, daß einer die Landstraße verlasse und neue Wege einschlage. (LS 340-341)

Lanz verweigert einer erstarrten Sozialstruktur den Gehorsam, in welcher nicht die persönliche Leistung, sondern die Herkunft zählt und die den sozialen Aufstieg Einzelner nur gewährt, solange die rigide Hierarchie der von Nietzsche verachteten Mittelmäßigkeit nicht gefährdet und das Primat des Historischen nicht angetastet wird. »Feindlich steht das Gewordene wider das Entstehende.« (LS 345) Das trifft sowohl auf die Gesellschaft als auch auf das Recht zu. Ebenso wie im Christian Wahnschaffe stellt sich auch hier die wirkliche Schuldfrage nicht auf institutioneller und juristischer, sondern einzig auf individueller und moralischer Ebene, eine Schuld, die sich nach Ansicht Nietzsches unter Berücksichtigung aller Umstände, Beweggründe und Zusammenhänge letztlich selbst aufheben würde. Unter diesem Gesichtspunkt reduziert sich auch die Schuld von Konrad Lanz, die zudem eine nichtjustiziable ist. 22

Nietzsche, KSA 3, S. 36-37.

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6 Laudin und die Seinen

Denn für seine justiziable Straftat, die Fälschung der Banknoten, trägt demnach in Wahrheit nicht er die Verantwortung, sondern das erstarrte juristische und soziale Leben. Insofern stellt sich sein Vergehen als eine aus Verzweiflung und Sendungsbewusstsein begangene Notwehrhandlung dar (vgl. LS 343). Da Laudin weiß, dass er selbst Teil jener Umstände und Zusammenhänge ist, die Lanz zum vermeintlichen Täter haben werden lassen, empfindet er innere Schuld und Mitgefühl, denn als Teil der sozialen und juridischen Struktur hat er letztlich sein Schicksal mitverschuldet. Deshalb ist seine Rechtshilfe keine Gunst, die die soziale Macht dem sozial Gestürzten gewährt, sondern Sühne eigenen Fehlverhaltens (vgl. LS 336, 3 3 8). 23 Die ganze Paradoxic des Rechts ergibt sich aus der Diagnose des eigentlichen, nämlich nichtjustiziablen Vergehens, welches Laudin als Spiegelbild eigener Verfehlungen deutet (LS 341). Denn während Lanz, geschlagen von der Leidenschaft des Geistes, in seiner Verzauberung die Wissenschaft zum unbedingten Gott erhoben hat und dafür mit ewiger Verfemung und dem Verlust von Arbeit, Ehre und Lohn bestraft wird, bleibt Laudins Verfehlung, seine manische Verstrickung in die Leidenschaft der Sinne und der Seele justiziabel irrelevant (vgl. LS 340-342). Insofern ahndet die Justiz nicht nur die falschen Vergehen, sondern sie vermag auch nur einen selektiven Bereich menschlicher Verfehlungen zu erfassen, obwohl nach Ansicht Laudins Leben und Freiheit am Nichtigen und Lächerlichen »genau so zuschanden werden wie an offiziell gewürdigter Tragik mit Betrug und Mord« (LS 354-355). Das justiziable Verbrechen wird von der Schuldfrage losgelöst betrachtet, d. h., Schuld und Verbrechen können, müssen jedoch nicht zwangsläufig kongruent sein. 24 »Ungerechtes Handeln 23

24

Entsprechend ist Laudins Zielsetzung eben nicht, wie von Hans Rettich angenommen, die Reintegration des Gestrauchelten in das soziale Ordnungsgefüge. Vgl. Hans Rettich: Das Recht bei Jakob Wassermann. Erlangen, Jur. Diss. 1957. [Masch.], S. 127. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen justiziablem Verbrechen und echter Schuld besteht bei Bastide Grammont, der nicht seinen Onkel Fualdes ermordet hat, sondern die verlorene Seele Clarissas. »Hart werden, weil unerfüllte Ansprüche die Seele beschweren und verdunkeln, einsam bleiben, weil überhebender Stolz sich scheut, das erglühte Herz frei darzubringen und ohne Gerechtigkeit sein, aus Scham und mißverstehendem Trotz, das war vielleicht sein Los und sicher seine Schuld.« (Wassermann, Clarissa Mirabel [wie Kapitel 3, Anm. 139], S. 340.) Ähnlich verwoben ist auch die Schuld Clarissas, die Opfer und Täter zugleich ist. Durch ihre unbedachte Aussage zum hilflosen Werkzeug der Massen geworden, ist sie, die wie Bastide »einsam Schiffbrüchige« (ebd. S. 367), in den Sog der allgemeinen Hysterie geraten. Obwohl sie von seiner Unschuld »wie unter Blitzesleuchten« (ebd., S. 356, vgl. zur Intuition als Kennzeichen der Gerechtigkeitsliebe MA 128) unmittelbar überzeugt ist, verstrickt sie sich immer mehr in ihr traumverlorenes Lügengespinst. Der Einzige, der sie aus dieser einsamen Traum- und Wahnwelt hätte befreien können, erkennt ihr stummes Flehen nicht. Stattdessen bezeichnet Bastide sie als »Närrin« (ebd., S. 365.) und spricht damit ihrer beider Todesurteil. Trotz ihrer Verfehlung ist Clarissa die Einzige, die ihre Schuld erkennt sowie wahrhaft innere Sühne empfindet und vollzieht. »Ihr Herz war von ungeheurem Sühnewunsch wie verbrannt...« (ebd., S. 366.)

6.2 Die moderne Utopie des Neuen Lebens

235

kann rechtskonform sein, und rechtskonformes Handeln kann ungerecht sein.« 25 Im Gegensatz zu positivistischen Rechtsauffassungen geht ein solcher Standpunkt von einer Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit aus, die sich im Unterschied zwischen >gerechtem Handeln< und >rechtskonformem Handeln< manifestiert. Während die Rechtspositivisten eine Beurteilung des Rechts nach moralischen Standpunkten ablehnen, wird das Recht von Konrad Lanz am »inneren Recht« (LS 343), d. h. an einer vom äußeren Recht unabhängigen Gerechtigkeitsinstanz, gemessen, womit es seinerseits den Kriterien von >gerecht< und >ungerecht< unterliegt. Nach dieser Auffassung basiert das Recht auf einer Grundlage, die nicht institutionalisierbar und sanktionierbar ist und die letztlich nicht über Regeln, sondern über Werte organisiert wird. 26 Insofern rekurriert die Kritik an der Rechtsprechung in letzter Instanz auf die moralische Struktur der Gesellschaft. Unter der Bedingung von Scheinmoral, erstarrtem Recht, mangelnder menschlicher Kompetenz und geteiltem Gerechtigkeitsverständnis erübrigt sich jegliche Möglichkeit einer Strafgerechtigkeit. Daher wird der Sanktionsgedanke verworfen und einzig seine soziale Funktion - wenn auch nur begrenzt - anerkannt, stützt er doch ein als zutiefst überkommen und erstorben entlarvtes Gesellschaftskonstrukt, welches das Verbrechen allerst erzeugt. »Seit wir die Todesstrafe abgeschafft haben, gibt es nicht etwas mehr Mörder, sondern weniger. Delikte erziehen Verbrecher, Strafen erzeugen Verbrechen.« (LS 289) Die Ansicht, dass eine Menschheit, die zu ihrem Bestand des Sanktionsgedankens bedarf, »lächerliche Stümperei« (LS 67) und damit von Grund auf erneuerungsbedürftig ist, vertritt in Der Fall Maurizius auch der Gefängniswärter Klakusch. »Dann muß man die Welt austilgen und Menschen machen, die anders denken« (MA 457); >neue Menschern, d. h. gerechte, wahrhaftige, ursprüngliche, friedfertige, authentische und schöpferische. Erst wenn diese »Übermenschen« Realität sind, kann es auch gerechte soziale und juridische Strukturen geben.

6.2

Die moderne Utopie des >neuen Lebens
Höherentwicklung< zu gehen, besitzt er dazu wie Christian Wahnschaffe alle Anlagen und Voraussetzungen: eine »angeborene Verbindlichkeit« (LS 36) sowie »Gewissen, Anstand, Redlichkeit, Menschengefuhl und sittlisches Gebot« (LS 103). Verstocktheit, d. h. nicht »hören, nicht erfassen, nicht wissen« wollen, ist nicht »Laudinsche Art« (LS 292), ebenso nicht, sich aus seiner Verbindlichkeit und Verantwortung zu stehlen, wie Fraundorfer feststellt. »Sag, was du willst, du bist deiner Natur nach ein verbindlicher Mensch, und das Entweder-Oder liegt dir nicht.« (LS 104) May Ernevoldt erkennt seine verborgenen (Heil-)Kräfite (vgl. LS 282), und trotz seiner Verfehlungen bleibt Laudin unbefleckt, auch wenn er selbst nicht weiß, »daß die Untadeligen einen Panzer haben, der sie hermetisch abschließt gegen die Besudelten« (LS 243). Der Ursprung seines Fehlverhaltens besteht in der Überbetonung der äußeren Pflicht und der Vernachlässigung seiner inneren Pflicht zur Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung. Für Kant ist dies eine der ersten Verpflichtungen des Menschen gegen sich selbst, auch wenn er sie in diesem Leben zwar erstreben, niemals jedoch wahrhaft erfüllen kann, weshalb ihre Umsetzung fur Kant in einem »kontinuierlichen Fortschreiten« 27 besteht. Der erste Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: Lebe der Natur gemäß (naturae convenienter vive), d . i . e r h a l t e dich in der Vollkommenheit deiner Natur; der zweite in dem Satz: M a c h e d i c h v o l l k o m m e n e r , als die bloße Natur dich schuf ( p e r f l c e te ut finem; perfice te ut medium).28

Da der Mensch für Kant Persönlichkeit besitzt, d. h. ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen ist, dem die Fähigkeit zur Verpflichtung gegenüber anderen zukommt, ist er auch sich selbst gegenüber als »Menschheit in seiner Person« 29 verpflichtet. Diese Verbindlichkeit äußert Laudin zwar gegenüber Frauendorfer, er gibt ihr jedoch den falschen Bezugspunkt. »Ich bin, wie ich inne werde, der Menschheit in mir noch einen Überrest von Respekt und Glauben schuldig.« (LS 304) Als Abwehrreaktion gegen die Enthüllungen seines Freundes glaubt sich Laudin der >alten< Menschheit und seinem Glauben an sie verpflichtet, übersieht jedoch bewusst, dass diese Verpflichtung längst keine 27

28

29

Kant, Metaphysik der Sitten (wie Kapitel 1, Anm. 180), VI 446 § 22. Auch Augustinus geht von einer vorläufigen, unzulänglichen und inchoativen Form der personalen Gerechtigkeit unter irdischen Bedingungen aus. Sie ermöglicht dem Menschen lediglich eine relative charakterliche Vollkommenheit, während allein die jenseitige Existenzform den Tugendhaften perfektioniert. Vgl. Horn/Scarano (Hg.), Philosophie der Gerechtigkeit (wie Kapitel 1, Anm. 2), S. 94. Kant, Metaphysik der Sitten (wie Kapitel 1, Anm. 180), VI 419 § 4. Dieser Grundsatz entspricht sowohl der Telos-Formel der Stoiker, welche in Übereinstimmung mit der Natur zu leben {homologoumenös te physei zeri) fordert, als auch dem platonischen Anspruch der Selbstvervollkommnung, der »Verähnlichung mit Gott« (homoiösis theo). Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (wie Kapitel 1, Anm. 180), VI 418 § 3.

6.2 Die moderne Utopie des Neuen Lebens

237

Grundlage mehr besitzt. Erst am Ende seines Läuterungsprozesses erkennt er, dass sie der wahren >neuen< Menschheit und mithin der neuen Rechtsprechung gilt, die in sich selbst zu erwecken bzw. die zu erschaffen seine primäre Aufgabe ist. Seine individuelle Krise steht paradigmatisch für die als Krisen- und Übergangszeit empfundene Epoche der Jahrhundertwende, an deren Horizont die Utopie des >neuen Menschen< steht, eine Krise, die als Bedingung der Veränderung und daher als grundsätzlich positiv gedeutet wird. 30 Erst durch sie kommt bei Laudin das unabänderliche Räderwerk des Mechanismus zum Stillstand (vgl. LS 352). Denn infolge seiner Verstrickung in den verlebten Weltzustand des ewigen Dünkels, der, verkörpert in den »Krönungs- oder Gipfelfiguren« (LS 190) Konstanze Altacher und Brigitte Hartmann, als Strafund Sittenrecht auftritt, ist »unergründlich Übles an ihm geschehen« (LS 190), was Laudin erst erkennt, als sich der zermalmte Mensch in seinem Inneren gegen die Erstarrung seines Charakter zur Wehr setzt, indem er Krise, Läuterung und Neuwerdung initiiert (vgl. LS 257). Insofern empfindet Laudin es nur als folgerichtig, dass er »unlöslich in seiner Starrheit, unerlöst von sich selber, [...] am Kreuzweg Luise Dercum, die ewig Verwandelte, die täglich Verwandelbare« (LS 257) trifft. 31 Luise ist das Sinnbild der von ihm ersehnten Wandlung, pures »fortrinnendes Element, zeugendes und verwandeltes« (LS 257). Während er an seine Vielzahl von Identitäten gekettet ist (vgl. LS 257), zerfallt Luise »in nichts, in unbestimmte Eigenschaften und Begierden, wenn sie ins Leben herabsteigt« (LS 257). Sie scheint einer höheren Welt anzugehören, in der sich Freiheit und Schönheit, Märchenzauber und edle Leidenschaft, Entfesselung und Beglückung vermählen. Luise ist für wenige Stunden der Genius, 30

Selbst im politischen Bereich ging eine Partei wie die deutsche Sozialdemokratie von einem »Kladderadatsch« in ferner, utopischer Zukunft aus, der sich ohne institutionelles Zutun von selbst ereignen und an dessen Ende die verwirklichte Utopie des sozialistischen »Volksstaates« stehe werde. »Die Revolution würde das Werk des Kapitalismus selber sein und sich auf dem Wege staatlichen Zusammenbruchs, einer jederzeit möglichen, nicht aber von der Sozialdemokratie auszulösenden Volksrevolte oder der politischen Eroberung der Staatsmacht unter der Führung der Sozialdemokratie vollziehen.« (Thomas Welskopp: Im Bann des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Arbeiterbewegung und ihre Zukunftsvorstellungen zu Gesellschaftspolitik und »sozialer Frage«. In: Frevert [Hg.], Das Neue Jahrhundert [wie Kapitel 2, Anm. 2], S. 15^15, hier S. 32.) Auch auf institutioneller Ebene ist somit die übersteigerte Utopisierung ursächlich dafür verantwortlich, dass die eigenen Ziele in eine unbestimmte Zukunft verlegt werden und damit dem unmittelbaren Handlungszwang entzogen sind. Durch sie ist die Sozialdemokratie in einen revolutionären Attentismus geraten, der in seinem Anti-Institutionalismus charakteristisch für die Jahrhundertwende ist. Vgl., ebd. S. 31.

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Die Symbolik des Kreuzweges stammt aus der orientalischen Weisheitsliteratur. Es ist der Scheideweg, an dem man sich zum Guten oder Schlechten wenden kann. Ödipus begegnet am Dreiweg seinem unbekannten Vater und trifft die schicksalhafte Fehlentscheidung. Vgl. Flaig, Ehre gegen Gerechtigkeit (wie Kapitel 3, Anm. 125), S. 133.

238

6 Laudin und die Seinen

der über den trostlosen Alltag siegt und die gequälte Menschheit ihre Not vergessen macht (vgl. LS 201-202). Doch wie das Theater ist auch Luise nur oberflächlicher Schein, »diabolisch vernesteltes Gewebe von Verschlagenheit, Selbstbetrug, komödiantischer Schaustellung, Hingabe an Schall und Augenblick, Vergessen aller Wirklichkeit und Nichtwissen von ihr« (LS 3 34).32 Sie verkörpert nicht sittliches Leben und echte Gemeinschaft, sondern nur dessen unsittliches Surrogat. Sie >spielt< lediglich Werte und Gefühle wie Buße, Trauer, Mitgefühl und Freundschaft, ohne sie jedoch zu besitzen, was Laudin schmerzhaft erkennen muss. »Ein Glas, ein Buch und eine Stiege können nicht so nichtig werden wie ein Mensch, der abgetrennt dasteht von Menschheit, Gott und Erde« (LS 335). Laudin, der absolute Gegenwartsmensch, Rationalist und Praktiker, hat als Techniker des Rechts die Welt entzaubert und ist dadurch umso anfalliger geworden fur die »abergläubische Vorstellung« (LS 201) von der >höheren Weltlebendige< Folgerichtigkeit enthält, die den inneren Menschen in ihm befreit, den Horizont öffnet und neu belebend wirkt, vermag er erst durch Pia zu erkennen, die ihm den Weg zu seinem wahren Neusein aufzeigt. Ihm selbst fehlt dazu die »tiefere Gebundenheit« (LS 169), weshalb er in der Krisenphase nicht sein tieferes Ich hat erfassen können, sondern lediglich sein oberflächliches, von äußeren Bedingungen determiniertes Ich verloren hat.33 Im Gegensatz zu Laudin hat Pia ein solchermaßen >neues Ich< gewonnen. Denn seine Krise hat auch ihr Leben zu einem Wendepunkt geführt, dem ein persönlicher Zusammenbruch vorausgeht, in dem sie »ganz bescheiden, still und verwundert« unter dem »unwürdigen und undankbaren Plunder« (LS 357) erstickt ist. Dieser >Tod< hat sie vom >alten Menschen< und seiner verengten Perspektive befreit und eine neue Sehweise eröffnet, die mit der Erkenntnis der Wirklichkeit, dem wahren Maße und Wesen der Dinge einhergeht. Ein Verhältnis von Unabhängigkeit stellt sich her, ein mit grüblerischem Erstaunen verbundener Zustand richtigen Schauens. Jegliches Ding im Gesichtskreis gewinnt eine natürliche Distanz, und dies allgemeine Zurechtrücken und In-ProportionTreten geht nicht ohne wunderlichen Schmerz vonstatten, nicht ohne nagende Reue, nicht ohne kummervolles Wissen um Versäumtes, das nie mehr einzuholen ist. (LS 357) 32

33

Vgl. zur negativen Konnotation des Theaters als oberflächliche Scheinwelt auch Greissinger, »In die vierte Existenz vielleicht« (wie Einleitung, Anm. 1), S. 75-86. »Sein Selbst verlieren oder gar es wegwerfen bedeutet nicht, sich seiner zu entledigen, bedeutet nicht: ein neues, ein anderes, vielleicht höheres eintauschen, bedeutet nur grenzenlos, über jeden Begriff und jede Vorstellung hinaus arm werden.« (LS 301)

6.2 Die moderne Utopie des Neuen Lebens

239

Ebenso wie Laudin besitzt auch Pia Eigenschaften, die sie zur >Höherentwicklung< befähigen, denn ihre äußere Einfältigkeit (vgl. LS 266) korreliert mit der Höflichkeit des Herzens und ist Indiz ihrer Lebensunmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Authentizität und gesellschaflichen Unverbildung.34 Ihr »Herz gleicht einer photographischen Platte, die aufnimmt und zur Wahrnehmung bringt, was das schärfste Auge nicht zu erspähen vermag« (LS 271). Pia lebt nicht nach abstrakten Richtlinien, sondern lässt die Entscheidungen in ihrem Inneren reifen (vgl. LS 271), ein weiterer Hinweis für ihre verborgenen Anlagen und Kräfte, die erst durch die Krise zutage treten. Durch sie entwickelt Pia eine »unbedingte, unbeirrbare Entschlossenheit« (LS 306-307) und gelangt zu jener Form intuitiver Erkenntnis, die laut Bergson in die eigene Tiefe zu dringen und die Wirklichkeit schlechthin, d. h. sich selbst, das Leben und die Materie zu erfassen vermag.35 Pia gelangt zu jener Allverbundenheit, die auf ihre Weise auch May Ernevoldt besitzt, an der ebenso wie an Ruth das Ressentiment ohne Schaden abgleitet. Ich habe an ihr die Entdeckung gemacht, daß der sittliche und religiöse Mensch kein Gedächtnis für das erlittene Böse hat, Gedächtnis im generellen wie im individuellen Sinn. Er ist großmütig, das heißt, er ist frei von Sippe und Sippengeist, weil ihn eine tiefere Gebundenheit adelt und eine schweigsamere als die von nützlichen Gesetzen vorgeschriebene. (LS 169) 36

Pia hat sich vom Bewusstsein des nur materiellen Lebens befreit. Damit hat sie im Sinne Bergsons ihre Freiheitsgrade erhöht und die Notwendigkeit abgeschwächt, den Forderungen der Gesellschaft zu entsprechen. Insofern bedeutet die Neuwerdung auch ein Freiwerden von den gesellschaftlichen Konventionen. Es ist ein Akt der Autonomisierung des Individuums, der sowohl Autonomie voraussetzt als auch ihre Ausweitung über den Einzelnen hinaus bedingt. Deshalb gibt Pia Laudin frei (vgl. LS 307). Sie beweist ihm, der nicht an Verwandlung geglaubt hat, dass sie möglich ist (vgl. LS 370). Indem er Pia mit gespannter Schärfe im Blick hielt, trat das Unbekannte an ihr mit jäher Deutlichkeit für ihn in Erscheinung. Nicht das, was sich ihm in der wiederkehrenden Alltäglichkeit und bequemen Gewöhnung nach und nach entzogen hatte; [...] sondern etwas anderes, ganz Neues, neue Gestalt, neues Auge, neues Antlitz, neuer Sinn, ohne sein Wissen und Zutun gewachsen und zwischen Augenblick und Au-

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Äußere Einfalt und Naivität als Signum wahrer Herzensgüte finden sich ebenso in den Darstellungen Franz von Assisis zur Zeit der Jahrhundertwende wie bei zahlreichen Figuren Wassermanns. Caspar Hauser, Christian Wahnschaffe, Klakusch, La Due u. a. bilden die Antithese zum Topos von »Überkultur« und »Hypertrophie des Intellekts«. »Ihre Augen strahlten in die eigene Tiefe hinein« (LS 364), und aus ihrer Stimme klingt tiefe »Erfülltheit« (LS 364). Vgl. Nietzsche, KSA 5, S. 273. Im Gegensatz dazu verzeichnen die Schwachen alles vermeintliche Unrecht, das man ihnen zugefügt hat, und erklären die göttliche Vorsehung mit kühner Selbstgerechtigkeit zu ihrer Sache (vgl. LS 167).

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6 Laudin und die Seinen

genblick, abgelebtem Leben und neuem, an entscheidender Wegstelle sich zu ihm gesellend. (LS 369)

Pia gehört zu den Ausnahmeerscheinungen, in denen sich jene »zarten und hohen Entwicklungen« vollziehen können, die sich nur »in einigen erlesenen und durch das Schicksal mit Wandlungsfähigkeit begnadeten Seelen ereignen« (LS 369). Ebenso wie Bergson die Höherentwicklung an die Existenz von Ausnahmeindividuen bindet, deren Entwicklung und Reifung im Verborgenen stattfindet, bis sie die erstarrte Form der Gesellschaft aufbrechen und zu Initiatoren einer neuen und höheren Sittlichkeit werden, erkennt Laudin in Pia jenen Teil ihrer Paarbeziehung, der das Schattendasein nur wie eine Verkleidung wählt, in rätselhafter Scham, tiefem Gefühl von sich und seinem Wert, freiwillig sich entfernt, um dann, wenn die Zeit erfüllt ist, auf der höheren Ebene und höheren Stufe vollendeter, zur Kameradschaft reifer, im Menschlichen süßer, in der Beziehung zur Welt veredelter wiederzukehren, [...]. (LS 370)

Pia spricht aus, was einzugestehen Laudin sich furchtet. »Sie weiß, daß höhere Eigenschaften in ihm liegen als die, die er in der täglichen Fron verwertet«, dass er »seine eigentliche Lebensarbeit und -aufgabe verpaßt« (LS 371) hat, nämlich »die Grundlagen zu einer neuen Gesetzgebung zu schaffen« (LS 372). 6.2.2 Das >neue Paar< als Appell und Vorbild Mit religiösem Pathos wird in der Terminologie von Passion, Wandlung und Auferstehung nun jenes Ideal einer höheren Paarbeziehung beschworen, welches auf Freiwilligkeit, Liebe und Partnerschaftlichkeit beruht. Denn nachdem für Laudin der »Einzelpersönlichkeit infolge der modernen Überbetonung und seit dem Christentum keine praktische Wirksamkeit mehr zukommt« (LS 288-289) und sie »ihre Bedeutung eingebüßt hat« (LS 289), erhofft er sich vom idealen Paar die Umbildung der Gesellschaft. »Ich finde, der einzelne ist nicht mehr wichtig für die Gesamtheit, soweit ihre seelische und sittliche Verfassung in Frage steht. Wichtig ist nur das Paar.« (LS 289) Nach Ansicht Bergsons wird das wahrhaft >geistige Leben< von der Intuition geleitet und führt über die Selbsterkenntnis zur Schöpfung des eigenen Ich. Entsprechend ersehnt Laudin den »freien Menschen« neben sich, »dem die geistigen Dinge w i r k l i c h « sind und »nicht nur schöner Schein« (LS 285), ohne vorläufig zu ahnen, dass er in Pia einen solchen Menschen besitzt. Anstatt dieses Ideal in sich selbst zu verwirklichen, entwirft er in der Krisenphase das archaische Ideal freier Liebe und Partnerschaft, in dem alle institutionellen Beschränkungen von Moral, Tugend, Standesdünkel und Elternschaft aufgehoben sind. Ausgehend von einer dezidiert positiven Anthropologie, basiert dieses Ideal auf der Vorstellung, dass sich nach Aufgabe aller institutionellen Beschränkungen eine natürliche Ordnung einstellen werde. In Übernahme der Kulturkritik der

6.2 Die moderne Utopie des Neuen Lebens

241

Jahrhundertwende wird die erstarrte, krankhafte, >hysterische< Kulturentwicklung mit der Utopie eines ursprünglichen Menschseins in einem paradiesischen Urzustand kontrastiert, welcher jenseits aller institutioneller Regelung einzig auf der Annahme des Guten im Menschen, seiner positiven Instinkte und seines Willens zur Gemeinschaft basiert. Was die menschliche Gesellschaft durch die beständige Zunahme wirklich zusammengehöriger Paarwesen gewänne, an Frieden, an Luft, an Schwung, an Reinheit und an Reinlichkeit, ist kaum auszudenken. [...] Besitzen sie Instinkte, so werden sie ihn schärfen; regt sich in ihnen ein Wille zur Gemeinschaft, so wird er sie an ein Ziel fuhren. Nur nicht das, was jetzt Ehe heißt. Alles, nur nicht das. Besorge man nicht Verwilderung der Sitten oder gänzliche Auflösung. Was kann Schlimmeres kommen nach dem, was uns die Brust beschwert und den Geist verdüstert? Kein Preis ist zu hoch, selbst für den bloßen Versuch zur Wandlung. In jedem Menschen, auch im scheinbar gesetzlosesten, ist eine natürliche Neigung zur Gleichgewichtslage vorhanden. Die wird und muß über die Entartung schließlich siegen. Ein hysterischer Krampf verkittet unsre Welt mit Bräuchen und Gesetzen, die einmal sinnvoll und notwendig waren, von denen aber heute nur die leeren Hülsen übrig geblieben sind. (LS 289)

Einen Anfang in Richtung dieses utopischen Horizonts bildet schließlich der freie Entschluss von Laudin und Pia zusammenzubleiben. Ähnlich wie die Entwicklung Christian Wahnschaffes wird der Roman zur quasireligiösen Heiligenlegende, wenn am Ende Pia und Laudin, gleichsam als höheres Heilspaar, umgeben vom »Bund der Flamme«, zum Fleisch gewordenen Sinnbild der neuen Gesellschaft werden. Mit ihnen beginnt eine neue Lebensepoche. Durch sie hat sich ein neues »Tor in einen andern Raum des Daseins« (LS 374, vgl. LS 373-376) aufgetan. Unter Adaption an religiöse Kontexte gerät die Darstellung in den Bereich sakraler Offenbarung. Denn Laudins Vision, das »wunderbare Doppelwesen«, »das gepaarte Eins«, ist zur »Wahrheit im Fleisch« (LS 370) geworden. Es ist zum Vorbild der von Bergson beschriebenen offenen Moral gereift. »Sie brauchen nicht zu ermahnen; sie brauchen nur zu existieren; ihre Existenz ist ein Appell.« 37 Auch die Idee der Appellfunktion basiert letztlich auf der Vorstellung, dass Reformen nicht durch Konsolidierung sozialer und politischer Institutionen und Gesetze erfolgen, sondern durch Selbstreform, die zum Vorbild für andere wird. Der soziale Einfluss erfolgt nicht von außen, sondern die lebensphilosophischen Entwicklungstheorien gehen von einer subversiven Veränderung des kollektiven Geistes durch die Ausnahmeindividuen aus, die wiederum aus diesem Kollektivgeist schöpfen. Die mächtigen Gefühle, die die Seele in gewissen erhabenen Augenblicken bewegen, sind ebenso wirkliche Kräfte wie diegenigen, mit denen der Physiker sich befaßt; [...] Wir baden nach James in einer Atmosphäre, die von großen geistigen Strömungen durchzogen wird. Wenn viele unter uns dafür unempfindlich bleiben, so

37

Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (wie Kapitel 1, Anm. 287), S. 27-28.

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6 Laudin und die Seinen

lassen sich andere doch auch wieder davon tragen. Und es gibt Seelen, die sich dem wohltätigen Hauch weit öffnen. Das sind die mystischen Seelen. 38

In diesem Sinne denkt May an die in vielen Seelen schlummernden Gedanken, die durch Beispiel zur gelebten Realität werden (vgl. LS 290-291). Laudin wird zum respektierten und geliebten Vorbild jener rätselhaften »Vereinigung von Stimmen«, die »im einzelnen kaum vernehmbar, im ganzen von unwiderstehlicher Gewalt« (LS 375) sind, und der »Bund der Flamme« versteht das Wesentliche seiner Idee als eine »Art Kristallisationsprodukt«, als einen »Willens· und Geistesniederschlag«, der »allenthalben so deutlich zu spüren sei wie eine atmosphärische Katastrophe« (LS 223). Veränderung durch Selbstreform und Geistrevolution ist ein Konzept, das auch Rathenau vertritt, der sich davon eine grundlegende Veränderung der inneren Strukturen erhofft. Aller Geist, der uns begegnet, auf uns wirkt, von uns leidet oder von uns vorausgesetzt wird, ist kombinierter Geist, Kollektivgeist, geistiges Massenphänomen. Haben wir dieses entscheidende Prinzip erkannt, so muß es uns gelingen, die Grunderscheinungen der Geisteskombination, vielleicht selbst gewisse Fundamente einer Geistesmechanik gleichsam im Laboratoriumsexperiment zu studieren, wenn wir diejenigen Kollektivgeister, sei es animalischer, sei es menschlicher Zusammensetzung, betrachten, die uns in ihrem Aufbau von innen zugänglich sind. 39

Pia und Laudin sind zum Hoffnungsträger jener jungen Generation geworden, die bereits eine >neue Zeit< vertritt, in der nicht Institution und Historie dominieren, sondern das Leben, und deren Vertreter über jene verfeinerten Sinne< verfügen, die das sittliche Leben unmittelbar wahrnehmen können. »Es war eine andere Zeit. Das Lebendige hatte sein Maß in sich selbst und sprach zu den Seelen ohne schönfärbende Mittler. Sie hatten Augen, sie hatten Sinne und bedienten sich ihrer im Trotz gegen das Abgelebte.« (LS 82) Als Vertreterin dieser neuen Generation wird Marlene zur Begründerin eines dem >neuen Leben< verschriebenen Bundes, dessen Zielsetzung die Gesellschaftsreform durch Selbstreform ist. Statt politisch-institutionellem Wandel oder äußerer Revolution, die mit den bestehenden Institutionen brechen, wird das bürgerliche, für die Jahrhundertwende populäre Heilsrezept der inneren Revolution, der Wandlung des Einzelnen propagiert und das Novum dieses Ansatzes dezidiert hervorgehoben. 40 Das apolitische Programm, das als Politik des Geistes verstanden wird, legt Marlene der Versammlung wie folgt dar. 38

39

40

Henri Bergson: Über den Pragmatismus von William James - Wahrheit und Wirklichkeit - [1911]. In: Ders., Denken und schöpferisches Werden (wie Kapitel 1, Anm 275), S. 234-245, hier S. 238. Rathenau, Zur Mechanik des Geistes oder Vom Reich der Seele (wie Kapitel 3, Anm. 110), S. 165. Ein in seinen Grundzügen ähnliches Konzept vertritt der positiv konnotierte Revolutionär Kapruner, ein absolut integerer Mensch, der um seine menschlichen Schwächen weiß. Auch seine Zielsetzung ist primär die Geistrevolution. Für ihn ist der säkulare Christus das Modell des >neuen humanen Menschenbenebelnden, quasi religiösen, geheimnishaften Treibern (vgl. LS 135) der für die Jahrhundertwende charakteristischen diversen Sekten und >Beglückungsprogramme< (vgl. LS 223) absetzen, wenngleich sein Programm selbst neureligiöse Züge trägt. Denn auch er propagiert jene politische Religiosität der Jahrhundertwende, die durch Rückzug auf die Revolution des Geistes eine gesellschaftliche Erneuerung anstrebt. Entsprechend versteht sich der »Bund der Flamme« als geist- und kulturschöpferische Verbrüderung im Sinne eines gemischten franziskanischen Mönchs- und Nonnenordens. 42 Neben der

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Frage verantwortlich zu machen. Der Einzelne wurde nicht als gesellschaftliches Wesen gesehen, sondern zu einer Persönlichkeit erhoben, die ihre Art der Lebensführung ausschließlich selbst verantwortet.« (Barlösius, Naturgemäße Lebensführung [wie Kapitel 2, Anm. 40], S. 203 u. S. 205-206.) Die verschiedenen apolitischen Angebote ermöglichten dem Rezipienten, vor sich und anderen den Anschein eines modernen politischen Aktivismus zu erwecken, ohne sich politisch exponieren zu müssen. Die Funktion des Religiösen besteht in seiner Bindungsfähigkeit, die den entwurzelten Menschen der Moderne, der sich aus den vormals engen Konventionen, Dogmen und Pflichten befreit hat, in ein universales Menschheitsganzes einbindet. Die immanente Religiosität basiert auf einer positiven Anthropologie sowie auf religiös konnotierten Werten wie Güte, Freundlichkeit, Liebe und Achtung. Ihre Zielsetzung ist die Leidensminderung, insbesondere der Kinder. Denn das größte Unrecht und den Gipfel aller Ungerechtigkeit bildet das Leiden Unschuldiger, jenes Kernproblem der Theodizee, welches Wassermann ebenso wie Dostojewski an den Menschen zurückverweist, der aufgrund seiner Freiheit für das Böse in der Welt ebenso verantwortlich ist wie für die Linderung des selbst geschaffenen Leidens. Entsprechend religiös ausgerichtet ist deshalb auch das Projekt der »Fürstin« in »Faber oder Die verlorenen Jahre«. Selbst »so etwas wie eine Heilige« (Wassermann, Faber oder Die verlorenen Jahre [wie Kapitel 3, Anm. 97], S. 31.) und als »Schwester Benigna« (ebd., S. 243) zeitweise Novizin eines Ursulinerinnenklosters (vgl. ebd., S. 48), ist sie das religiöse Oberhaupt einer humanitären Organisation, einer weltimmanenten »neuen Religion, bei der die Fürstin eine Art Apostelamt übernommen hat« (ebd., S. 210). Sie selbst verkörpert die Güte und Freundlichkeit, die Reinheit, Ursprünglichkeit und Natürlichkeit eines Kindes (vgl. ebd., S. 50-53 u. S. 252), dem Sinnbild von Unschuld und Reinheit, jenen Urzustand des >neuen Menschern, den ihr Projekt der »Kinderstadt« initiieren soll. Sie selbst besitzt jene »ruhige, tiefe Seelenkraft« (ebd., S. 53), die das Humane im anderen einzig durch die Ansprache seiner positiven Potenzialität zu erwecken vermag, indem sie ihm den einfachen und klaren Sinnzusammenhang allen Seins offenbart. Für Faber besitzt sie die Kraft des >reinen Menschseinsneuen Menschen< im naturnahen Urzustand des reinen Kindes drückt sowohl die Sehnsucht der Moderne nach Ursprünglichkeit und Einfachheit aus als auch den

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Wahl eines befristeten Oberhauptes mit unbeschränkten Befugnissen gelten die Gebote der Schweigepflicht und Enthaltsamkeit s o w i e der »Bewährung innerhalb jeden unberechenbaren Zwangs [...], der nur unter Verschwendung von Mitteln und Vergeudung lebendigen Menschentums beseitigt werden« (LS 224) kann. D i e Unterordnung unter einen geistigen Regenten geht v o m Ideal einer gerechten Herrschaft ohne anmaßende Vorrechte aus, die auf Übereinstimmung und Liebe basiert, wobei die Möglichkeit einer Umsetzung dieses Ideals durch den Menschen skeptisch-ironisch gebrochen wird. 4 3 D i e »Idee scheinbarer Unterwerfung« (LS 224) unter die institutionelle Gewalt beruht auf der Vorstellung, durch Gesinnungswandel subversiv Veränderungen initiieren zu können, was insbesondere für Minoritäten präferiert wird (vgl. LS 224). Was als »System der langsamen Kraftentladung« (LS 224) bezeichnet wird, basiert auf der Vorstellung, durch Wandlung des individuellen B e wusstseins das kollektive verändern und damit den Gang der Institutionen in die gewünschte Richtung umleiten zu können. D i e s e Ansicht vertritt auch Walther Rathenau. Entäußerung haben wir als den Leitstrahl der sozialen Sittlichung erkannt; Lossagung vom Dienst des Überflüssigen, von den Dingen als Machtquelle, vom Eigennutz des Familienstammes; Hinstreben zum Wesentlichen des äußeren Lebens, zur Solidarität, zur Hingabe an die Gemeinschaft, Verwerfung des ungerechten und unsittlichen Anspruchs, Übergang der Verantwortung an geistige und sittliche Mächte. Ist dies der sichtbare Weg, so liegt uns ob, den unsichtbaren zu beschreiben, den Kurvenlauf der menschlichen Gesinnung aufzuweisen, auf dem die äußere Bewegung abrollt. Wir wissen, daß das heutige Bewußtsein dieser Kinetik widersteht; der Mechanismus des äußeren Lebens würde sich klemmen und pressen, ja zertrümmern, wenn er durch Zwang vorschnell und unbereitet in neue Rhythmen gedrängt würde. Erkenntnis ist das erste; ihr folgt langsam und unaufhaltsam die Formung der Gesinnung; nun gerät das starre System in Fluß, es sucht das neue Gleichgewicht, und schon sind höhere Forderungen und Probleme entstanden, die abermals nach Erkennung ringen. Die geistigen Motoren haben wir zu prüfen, die das heutige Getriebe erhalten und dem künftigen entgegenwirken; ihre Verflüchtigung und Beseelung wird dem Ausblick ermeßbar sein. Von Trägheit, Sinnlichkeit, Leidenschaft, Eitelkeit, Herrschsucht ist zu handeln und von ihren bändigenden Gegenkräften; kann nur ein neues soziales Sittenbewußtsein das neue Gleichgewicht errichten, so werden wir die Nichtigkeit der Theoreme bestätigt finden, die Frieden und Gerechtigkeit von Einrichtungen erhoffen und vermeinen, die Widersprüche, die Aufleh-

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Wunsch, sich in einer zunehmend technisierter und komplexer werdenden Welt der Verfügbarkeit des menschlichen Lebens wieder zu vergewissern. In diesem Konzept erscheint das Einfache und Naive als das der wahren Erkenntnis und Wirklichkeit zugängliche Gute sowie das Komplexe und Weltgewandte als das die Wirklichkeit verschleiernde Böse. »[...] Marlene [...] versicherte, es ließe sich gar wohl eine Herrschaft denken, die, ohne angemaßte Vorrechte, auf Übereinstimmung und Liebe beruhe; eine Bemerkung, bei der übrigens der schlaue Apothekersohn nicht umhin konnte, ein wenig zu grinsen.« (LS 224)

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6 Laudin und die Seinen

nungen der menschlichen Natur durch Gewalt zu brechen oder durch Redensarten hinwegzutäuschen.44

6 . 2 . 3 D i e l e b e n d i g e Justiz Ebenso wie für Nietzsche die Gerechtigkeit Wesensgrund des Lebens und fur Bergson Quelle der Moral ist, manifestiert sie sich für Konrad Lanz als >innere Stimme< und lebendiger Geist< (vgl. LS 342). Dem wirklichen, nämlich geistigen Leben, das laut Bergson nur durch eine grundsätzliche Wandlung der eigenen Haltung zur Höflichkeit des Herzens möglich ist, stellt Wassermann das Leben in abstakten und relativen Ordnungsstrukturen entgegen. In ihnen entspricht die Gerechtigkeit nach Ansicht Bergsons einem starren und geometrischen Raumdenken, in dessen Kontext sie als Tausch- und Dienstgerechtigkeit merkantilen Ursprungs ist. Ein solchermaßen eingeschränkter »Trieb nach Gerechtigkeit setzt eine ängstliche Bemühung nach Gleichverteilung der seelischen Gewichte voraus, und die leiseste Verschiebung bringt die innere Natur in heillose Unordnung, so daß einem zumute wird als stürze das Weltgebäude zusammen« (LS 164). In der Folge entsteht im Kontext des erstarrten Lebens aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl nicht selten Unrecht (vgl. LS 164). Denn zum Ideal erhoben, steht sie für Bergson in Opposition zur >lebendigen< und >absoluten Gerechtigkeit, für die der Mensch inkommensurabel mit allen Werten ist und die in ihrer umfassenden Liebe nichts mit dem ängstlichen Bemühen um Gleichverteilung gemein hat. In diesem Sinne kommt Altacher zu dem Ergebnis: »Wir überschätzen eben unsere Maße und Befugnisse schon, wenn wir ein Ideal in uns aufrichten, und das Gute in einem selbst enthält dann den Keim des Übels.« (LS 164) Selbst ein »Repräsentant der irdischen Gerechtigkeit« 45 , der Richter und Strafrechtsgelehrte Anselm von Feuerbach, wird schuldig, als er glaubt, die Idee der Gerechtigkeit über die Existenz des Menschen stellen zu müssen 4 6 Feuerbach ist für Wassermann »eine der eminentesten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, Reformator des Rechts in einem hohen, humanen Sinn und im Denken und Handeln von einer exemplarischen Wahrhaftigkeit« 4 7 . Er ist jener von Laudin erstrebte »Kämpfer für das Recht, für das ursprüngliche Menschenrecht«, ein »Erneuerer abgelebter Ord-

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Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Kapitel 1, Anm. 72), S. 391. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (wie Kapitel 3, Anm. 66), S. 94. Feuerbach glaubt den Menschen der Gerechtigkeitsidee opfern zu müssen, wie er Stanhop darlegt. »Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht gedenken? Das hieße Gold wegwerfen, um Häckerling zu erhalten.« (CA 187, vgl. CA 181, 288) Dennoch verkörpert er in seiner Rechtsauffassung Wassermanns Ideal der lebendigen Justiz. Vgl. Jakob Wassermann: Der Kriminalist Feuerbach. In: Ders., Lebensdienst (wie Einleitung, Anm. 2), S. 30-36. Jakob Wassermann: Akten zur Verteidigung Caspar Hausers. In: Ders., Lebensdienst (wie Einleitung, Anm. 2), S. 113-148, hier S. 139.

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nungen; der geborene Gesetzgeber« 48 , ein »Reformator aus Leidenschaft und Menschenliebe [...]; sein Geist ist darauf gestellt, das Recht zu suchen und aus dürren Hülsen mühselig und oft mit blutig geschlagener Hand die Idee der Gerechtigkeit herauszuschälen.« 49 Feuerbach wird als Repräsentant umfassender Billigkeit dargestellt, und als solcher ist sie für ihn sowohl kompensatorisches Prinzip und abwägende Kompetenz innerhalb der Rechtsprechung als auch sittliche Grundhaltung. Von früher Jugend an habe ich mich dem Gesetz geweiht. Ich habe den Buchstaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der Mensch war mir wichtiger als der Paragraph. Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel zu finden, die Trieb von Verantwortung scheidet. Ich habe das Laster studiert wie ein Botaniker die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegenstand der Obsorge; in seinem erkrankten Gemüt wog ich ab, was von seinen Sünden auf die Verirrungen des Staates und der Gesellschaft entfiel. Ich bin bei den Meistern des Rechts und bei den großen Aposteln der Humanität in die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur Zukunft bauen. (CA 185)50 In der Verknüpfung von Recht und Humanität liegt der Anspruch einer »rettenden Gerechtigkeit« begründet, die nicht allein vor Unrecht, sondern auch noch den Täter vor einem falsch verstandenen Recht schützt. Diese Verknüpfung von Recht und Erbarmen51, die genuin religiösen Ursprunges ist, wird von Wassermann im Zuge moderner Religiosität auf den profanen Bereich menschlicher Rechtsprechung übertragen.52 Der lebensphilosophische Anspruch einer lebendigen Gerechtigkeit konfrontiert die erstarrte Rechtsprechung mit ihren Grenzen, indem ihre Forderung nach Erbarmen zum Seismographen für die Ungerechtigkeit der Gesetzesordnung wird, 53 auch wenn durch die Überhöhung des Richters zur vollkommen integeren Persönlichkeit, die nicht den Verbrecher verurteilt, sondern dem Sünder den Weg innerer Wahrhaftigkeit weist, das Richteramt gottgleiche Funktion erhält und die weltliche Gerichtsbarkeit gleichsam zum religiösen Akt avanciert. Als moralische Instanz ist dem Richter der Täter persönlicher »Gegenstand der 48 49 50 51

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Wassermann, Der Kriminalist Feuerbach (Anm. 46), S. 30. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 32. Die Einheit von Richten und Retten - nach abendländischer Vorstellung eher gegensätzliche Begriffe - ist altorientalischen Ursprungs und basiert auf einer Vorstellungswelt, in der die Gerechtigkeit Sinn- und Ursprungsprinzip der Welt ist, indem sie die Folge an die Tat bindet. Vgl. Assmann, Janowski, Welker, Richten und Retten (wie Kapitel 5, Anm. 198), S. 9. Diese Vorstellung wird durch den modernen Mythos der Alleinheit wiederbelebt. »Psalm 82 setzt den anspruchsvollen normativen Formzusammenhang von Recht und Erbarmen als die Normativität des wahren und universalen Gottes den ungerechten und schwankenden Normativitäten derjenigen Götter entgegen, die >wie Menschen sterben und wie Fürsten fallen< sollen.« (Assmann, Janowski, Welker, Richten und Retten [wie Kapitel 5, Anm. 198], S. 33.) Vgl. ebd.

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6 Laudin und die Seinen

Obsorge« 54 , dessen innere Seelenbeschaffenheit er analysiert, um aus dem Komplex von Triebstruktur und gesellschaftlichen Verhältnissen den freien Anteil persönlicher Verantwortlichkeit zu ermitteln. Zielsetzung ist nicht die Bestrafung des »erkrankten Gemütesneuen Menschen< sind die unbedingte Achtung und der Glaube an das »Gute und Tüchtige« 56 im Menschen. Dadurch erreicht Marie die Neuwerdung Eugen Hansens und Fides den Sinneswandel Valentins, wie sie Eugen Faber darlegt. Wenn jemand etwas so Unbegreifliches begeht, von unserem Standpunkt aus Unbegreifliches, nimmt er doch ein ganzes Verhängnis damit auf sich. Es ist wie eine Krankheit, die er lebenslänglich trägt, ein ewiger Aussatz. Dazu gehört schließlich ein gewisser Mut, ein gewisser Entschluß. Das habe ich ihm gesagt, um das mit der Achtung zu erklären. Es ist freilich eine finstere und qualvolle Achtung, und ich gab mir Mühe, ihm zu beweisen, daß man sie nur dem gewährt, dem man die bessere, die edlere schenken möchte. Er hat begonnen, mir zu glauben; an seinem Glauben konnte ich mich dann langsam weitertasten bis zu seinem Gewissen heran. Gräbt man tief genug in einem Menschen, so trifft man, davon bin ich überzeugt, als tiefstes und stärkstes sein Bedürfnis nach Achtung.57 Basis dieser Gerichtsbarkeit ist die »lebendige Gerechtigkeit, die ihrem Wesen nach »offene Gerechtigkeit ist, d. h. nicht kleinliches Abwägen, sondern großmütige, über den menschlichen Horizont von gut und böse hinausblickende Liebe, die den anderen >sieht< und in seiner positiven Potenzialität anspricht. Den anderen zu sehen bedeutet, sowohl die Bedingung der Empathiefähigkeit zu erfüllen als auch von einer positiven Anthropologie auszugehen. 58 Eine Rechtsprechung im Sinne der »lebendigen Gerechtigkeit, wie sie Anselm Feuerbach vertritt, geht davon aus, dass in »jedem Menschen, auch im scheinbar gesetzlosen«, eine »natürliche Neigung zur Gleichgewichtslage vorhanden« (LS 289) ist und dass jeder den Wunsch besitzt, teilzuhaben an der Achtung der Welt, indem er als ein gleich geordnetes Wesen betrachtet und ge54

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Wassermann, Der Kriminalist Feuerbach (Anm. 46), S. 32 u. S. 34. Fides sieht in Valentin nicht einfach den Dieb, sondern empfindet schmerzhaft die Erniedrigung, die eine solche Tat für den Täter bedeutet. »Jammervoll, in so ein verstörtes Sündergesicht zu schauen.« (Wassermann, Faber oder Die verlorenen Jahre [wie Kapitel 3, Anm. 97], S. 198.) Vgl. Wassermann, Der Kriminalist Feuerbach (Anm. 46), S. 32. Wassermann, Faber oder Die verlorenen Jahre (wie Kapitel 3, Anm. 97), S. 199. Ebd; vgl. ebd., S. 53. Vgl. Jakob Wassermann: Joseph Kerkhovens dritte Existenz. Amsterdam: Querido 1934, S. 82-83. Die innere Vorstellungsgabe öffnet den Blick selbst für das Leiden des Täters, wie Achim Ursanner Agathe erläutert. »Man braucht oft nur ein wenig Einbildungskraft, um dem Häßlichen einer Tat die Qual anzumerken, die sie dem Täter bereitet.« (Wassermann, Der Mann von vierzig Jahren [wie Kapitel 5, Anm. 36], S. 140.)

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würdigt wird (vgl. LS 349). Eine gerechte Rechtsprechung empfindet Mitleid mit der leidenden Kreatur, die an ihrem Charakter krankt, ohne aus eigener Kraft zur Verwandlung fähig zu sein.59 Ihre Zielsetzung ist nicht Strafe und Verurteilung des Verbrechers, sondern Sühne im Hinblick auf eine humane Höherentwicklung. Denn während die Sanktion ein Festhalten an Leid und Verrat impliziert, bedeutet die Sühne im positiven Sinne der Gemeinschaftskonstitution ein Lösen von den negativen Anhaftungen, wie es Zielsetzung der buddhistischen Lehre ist. Entsprechend bezeichnet Walther Rathenau den Weg Buddhas als den wahrhaft königlichen Weg zur Seele.60 Durch ihn wird jene auf einfühlender Menschenkenntnis beruhende metaethische Ebene erreicht, in welcher der menschliche Dualismus von gut und böse aufgehoben ist. Einfühlende Menschenkenntnis fuhrt nie zur Verachtung und nie zur Überhebung. Das organische Empfinden, auf dem sie beruht, begreift die Notwendigkeit der Schöpfungsfülle, die in der gleichzeitigen Harmonie aller Möglichkeiten, im lebenden Aufbau der Stufenglieder sich vollendet; Verachtung ist doppelte Blindheit: gegen sich selbst und gegen die Allseitigkeit der Natur. Die Wertung verliert hier ihren pharisäischen Geschmack, der aller beschränkten Ethik anhaftet und sie schöpferischen Naturen verleidet; die Frage lautet nicht mehr, was ist besser und schlechter, was ist selbstgerecht und verächtlich, erlöst und verdammt, sondern vielmehr: was weist ins Künftige und was ins Vergangene? Was verlangt nach Verantwortung und was nach Schonung? Was fordert Leben, und was neigt zum Tode? 61

Entsprechend maßt sich Marlene kein negatives Urteil über menschliche Verfehlungen an. Sie verachtet und wertet nicht und empfindet die Gram über das Schlechte als etwas »Niedriges« und »Krankhaftes« (LS 220), weil ihr Denken nicht am Übel der Gegenwart haftet, sondern auf das zukünftige Gute gerichtet ist. Wissen soll man es ja, und es ist gut, wenn man vieles weiß; aber daran leiden, [...] das wäre ja als nähm ich mein Herz und würfs in einen Eimer voll schmutzigem Wasser. [...] Ich verachte sie nicht; wer darf verachten? aber ich muß weiter. Du auch. Wir müssen weiter. Wo anders hin. (LS 220)

Ebenso wie bei der Läuterung von Niels Heinrich bewirkt die Ansprache der positiven Potenzialität, die eine unbewusste Antwort in der Tiefe der Seele erfahrt, den Sinneswandel Brigitte Hartmanns. Laudins >tiefer, heiliger, schmerzlicher Ernst< (vgl. LS 348) hat eine zerbrechende Wirkung, eine »vollkommene Bewältigung und Entwaffnung« (LS 348) ihrer durch Klassenzugehörigkeit, Charakter und Gesellschaft bewirkten »Herzensdürre« (LS 349). Laudins Lösung des Problems zielt nicht auf die Durchsetzung justiziabler Möglichkeiten, sondern auf einen mediativen Ausgleich und Friedensschluss, der sowohl Täter und Opfer als auch den Täter mit sich selbst ver59

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In dieser Weise empfindet Pia ebenso Mitleid mit Brigitte Hartman wie May mit Konstanze Altacher, obwohl sie Sinnbild für den Weltzustand von Unrecht, Dünkel, Sklavenmoral und sittlicher Verkommenheit sind (vgl. LS 182, 286). Vgl. Rathenau, Von kommenden Dingen (wie Kapitel 1, Anm. 72), S. 310. Ebd., S. 386.

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söhnt. »Es ist etwas im Menschen, etwas Wundersames: eine unauslöschliche Sehnsucht, daß dem Guten in ihm Vertrauen geschenkt wird, auch wenn von dem Guten nur ein winziges Korn da ist.« (LS 289-290) Laudin ist auf dem Weg zu jener von Bergson beschriebenen Höflichkeit des Herzens, die aus Liebe zum Mitmenschen erwächst. Ihre Zielsetzung ist nicht die Sanktion begangenen Unrechts, sondern Frieden zu schließen durch aktive, die Gemeinschaft konstituierende Sühne. Ähnlich wie für Schopenhauer die Gerechtigkeit als irrationales Gefühl des Mitleids mystischen Ursprungs ist, geht auch Laudin von einem übermenschlichen Ursprung wahrhaftigen Rechts aus. »Jedes geschehende, jedes vollzogene Recht ist eigentlich nur das wider unsere menschliche Absicht durchdrungene Mitleid eines höheren Wesens, das in uns wirkt.« (LS 346) Es ist das (buddhistische) Mitleid mit der leidenden Kreatur, die, verhaftet in ihrem praktischen Egoismus, nicht erkennt, dass sie mit dem fremden auch eigenes Leid erzeugt. Weder in Laudin und die Seinen noch in Der Fall Maurizius ist Wassermann der von Werner Böhm und Hans Rettich beschriebene analytische Rechtsphilosoph, sondern vielmehr moderner Utopist, der im Sinne lebensphilosophischer Modelle das Leben selbst als sittlichen Urgrund versteht und über das Modell apolitischer Selbstreform literarisch eine subversive Geistrevolution zu initiieren hofft. Alle Aussagen zur »lebendigen Gerechtigkeit liegen in ihrem religiösen Anspruch jenseits der Möglichkeit einer institutionalisierten Justiz. Im Sinne einer Rechtsphilosophie sind lediglich die Hinweise zur Billigkeit zu deuten. Der Roman endet mit dem Beginn der Arbeit Laudins an der Gesetzesreform, die damit zur Aufgabe der neuen Epoche wird. Inhaltliche Aussagen zur Reform beschränken sich auf den Hinweis einer Neubelebung und Angleichung an die »lebendige Gerechtigkeit. Somit bleiben sie ebenso wie der universale Lebensbegriff im mystischen Dunkel. Statt konkreter rechtsphilosophischer Ausführungen bietet Wassermann dem Leser eine Art religiöses Sinnstiftungsangebot, in dem humanistische Werte zur Selbstreform vermittelt werden und dessen Zielpunkt die neue, wahrhaft humane Gesellschaft ist, deren Existenz auf einen in die Zukunft weisenden Horizont rekurriert.

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Der Fall Maurizius: Gerechtigkeit als Wahn, Ideal, Realität und Tat

Der Fall Maurizius ist eines der meistbesprochenen Bücher der Weimarer Zeit. In der zeitgenössischen Rezeption gilt er gemeinhin als Justizroman, der sich mit Recht und Unrecht sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Justiz befasst und der insbesondere die Inadäquatheit des als veraltet empfundenen Justizsystems kritisiert.1 In juristischen Fachzeitschriften wie der Deutschen Richterzeitung, der Monatsschrift fiir Kriminalpsychologie oder dem Archiv flir Rechts- und Wirtschaftsphilosophie wird über den juristischen Wert bzw. Unwert des Romans diskutiert, er gerät zur Hintergrundfolie für eine ethische Grundsatzdiskussion, und bei der Debatte über die fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaates besitzt er Katalysatorfunktion. 2 Das Interesse an Wassermann sowie die zahlreichen Forschungsarbeiten aus dem juristischen Fachbereich sind u. a. Folge dieser lebhaften Diskussion. Angesichts der juristischen Dominanz verblassen die Hinweise, dass es sich bei den rechtsphilosophischen Aspekten im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit sowie die kriminalistische Detektivarbeit Etzels lediglich um Randerscheinungen handelt.3 Entsprechend gilt der Roman auch heute noch überwiegend als »psychologischer Justizroman« 4 oder gar als »Detektivroman par excellence« 5 .

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Dass man dem Roman auch außerhalb Deutschlands juristische Problemadäquatheit bescheinigte, belegt neben Stephen H. Garrin exemplarisch auch William Diamond. »Throughout the civilized world today there is a movement demanding a thorough revision of existing laws. It is generally recognized, especially by the younger generation, that the prevailing judicial systems are inadequate, that their forms are antiquated, and that complete reconstruction of the manner of treating criminals is imperative. This movement has found its most powerful expression and greatest impetus in Wassermann's masterful novel Der Fall Maurizius.« (William Diamond: Jakob Wassermann's Weltanschauung. Los Angeles: University of California o. J. Reprint from Monatshefte flir deutschen Unterricht 23 [1931] Η. 6, 7 u. 8; 24 [1932] Η. 1. Madison, Wis.: University of Wisconsin o. J., S. 23-24.) Vgl. Neubauer, Jakob Wassermann (wie Kapitel 3, Anm. 1), S. 69-77. Vgl. zur Kritik an der Dominanz der juristischen Rezeptionsweise exemplarisch: Voegeli, Jakob Wassermann und die Trägheit des Herzens (wie Kapitel 5, Anm. 115), S. 134. Vgl. Goldstein, Wassermann (wie Kapitel 5, Anm. 42), S. 264. Vgl. Marta Karlweis: Jakob Wassermann, S. 397 u. S. 402-403. Rudolf Koester: Jakob Wassermann. Berlin: Morgenbuch 1996 (Köpfe des 20. Jahrhunderts 122), S. 73.

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7 Der Fall Maurizius: Gerechtigkeit als Wahn, Ideal, Realität und Tat

In ihrer Fokussierung auf die realistische Erzählebene wird jedoch die Ambiguität des Romans einseitig verkürzt, der mit seiner Konstruktion eines Nebenbzw. Untereinanders 6 verschiedener Erzählebenen dem Stilpluralismus der Jahrhundertwende entspricht. Im Gegensatz zu Paul Valery, der in der »sublimen Antithese« und ihrem ästhetischen Wettbewerb das Innovationsprinzip der Moderne sieht, 7 ist Wassermanns Zielsetzung jedoch die »Objektivierung der Welt« 8 , die »Synthese« als »Gleichnis für das Göttliche« 9 . Auch wenn die »sprunghaft widersprüchliche Vermischung der realistischen, symbolischen und visionären Erzählebenen« eine Technik sein mag, die »künstlerisch fragwürdig« ist, da der »subjektivistische und >mystische< Irrationalismus« die realistische Ebene unglaubwürdig erscheinen lässt und durch das symbolische Erzählen die analytischen Möglichkeiten des Zeitromans negiert werden 10 , erschließen sich die Romane Wassermanns aufgrund dieser mehrdimensionalen Erzählweise nicht allein über die Rezeption der realistischen Ebene. 11 Ähnliches trifft auf die Figuren zu, die nicht allein individualpsychologisch, sondern auch sozialpsychologisch zu verstehen sind. 12 Sie sind immer auch symbolische Repräsentanten einer sozialen oder religiösen Gruppe bzw. der Ge5

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Holger Zahnow: >Der Fall MauriziusMonstrosität< verweist auf die conditio judaica im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« 13 , Etzel ist Vertreter des Gerechtigkeitsideals, Andergast repräsentiert die in Konventionen erstarrte bürgerliche Gesellschaft und ihre die bigotte Scheinmoral schützende Justiz, Maurizius ist als dekadenter Schwächling sowohl Opfer als auch Produkt dieser Scheinmoral und La Due der Repräsentant des >neuen Menschenstarken Tatsachensinn< (vgl. MA 32, 36). Mit durchaus exzellenten Anlagen wie Geist, Verstand (vgl. MA 27-28) und vollendeter Kombinationsgabe (vgl. MA 12) ausgestattet, wird sein Charakter vom Erbe des Vaters dominiert, ein »böser Tyrann und Hypochonder« (MA 40) 14 , der es seiner Frau unmöglich gemacht hat zu leben. Während seine Herrschsucht vom Vater stammt, hat er das charakteristische Augenleiden der Andergast (vgl. MA 31) von der Mutter geerbt und das, obwohl seine ganze Wesenheit »Auge und Sammeldienst des Auges« 15 ist. Dies ist eine unselige Allianz, denn aufgrund des mangelhaften 13 14

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Ebd. Auf die Ähnlichkeit vererbter Charaktermerkmale wird hier ebenso verwiesen wie bei Peter Paul Maurizius und seinem Sohn sowie bei Baron Andergast und Etzel (vgl. MA 260-261). MA, S. 30. »Vielleicht hatte das eine tiefere Bedeutung: wer bloß mit den Augen lebt, leidet durch die Augen. Hatte doch die intensive Veilchenbläue der Augen des Herrn von Andergast etwas Abnormes.« (MA 31, vgl. MA 116, 208, 260, 527 u. ö.) Ebenso wie die Metapher des Hörens steht die Augenmetapher für die Fähigkeit der Vorstellungsgabe und Empathiefähigkeit. »Sehen« bedeutet, ein inneres Bild des Menschen zu gewinnen, wie es beispielsweise Fides von Martina besitzt. »>Das kann ich mir gut vorstellen; ich sehe sie fÖrmlichFehlsichtigkeit< nicht bewusst, hat Andergast aufgrund seiner Fähigkeiten ein Überlegenheitsbewusstsein entwickelt, das sich im Umgang mit anderen als »trockene Pedanterie und konsequente Sachlichkeit« (MA 33-34) äußert. Herrschsucht, Förmlichkeit und freudlose Grundsätze (vgl. MA 41) bedingen nicht allein sein distanziertes Verhältnis zu gerlich darüber gewesen. [...] Wenn man das Bild von einem Menschen in sich trägt, kann man viel von ihm wissen.Ich noch ein Malsteinernen und bronzenen Denkmalsfigursterilen Enthaltsamkeit (vgl. MA 182) verpflichtet. Denn er glaubt, das Besondere der Persönlichkeit seines Sohnes ausblenden zu müssen, um die Ordnung nicht zu gefährden. Andergast ist Täter und Opfer zugleich. Das Amt hat ihn isoliert. Die Anklage ist zur Sache der Gewohnheit geworden und hat ihn gegen sich und andere abgehärtet. Dabei besitzt er von Seiten der Mutter durchaus feinsinnige, zarte, geradezu feminine Wesenskomponenten. Darauf 18

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»Es war etwas eigentümlich Lautloses um ihn. Sein Gesicht sah unfroh und einsam aus.« (MA 138) »Die Gedanken gehorchten nicht mehr. Es war eine Sekunde, wo er den Wunsch mancher Kinder begriff, krank zu werden, damit sie nicht zur Schule müssen. Wozu hätte es ihm aber dienen sollen, krank zu sein? Was gab es für ihn anderes als die >Schule