Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft: Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien [1 ed.] 9783205207009, 9783205206279

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Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft: Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien [1 ed.]
 9783205207009, 9783205206279

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Institut für Geschichte der Universität Hildesheim

Arbeitskreis Europäische Integration Historische Forschungen Veröffentlichungen 11

Michael Gehler · Silvio Vietta · Sanne Ziethen (Hrsg.)

DIMENSIONEN U ND PERSPEKTIVEN EI NER WELTGESELLSCHAFT Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch Frau Dr. Margot Möller-Meier (†), langjährige Gasthörerin des Instituts für Geschichte und Ehrenbürgerin der Stiftung Universität Hildesheim

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-205-20700-9

Inhalt Michael Gehler · Silvio Vietta · Sanne Ziethen Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Das Konzept Weltgesellschaft: Kulturgeschichtliche, philosophische, ökonomische und soziologische Perspektiven Hans-Heinrich Nolte Debatten über Weltgesellschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   31 Reinhard Mehring Alternative Kritiker der „totalen“ Weltgesellschaft. Carl Schmitt und Theodor W. Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   57 Mario Bosincu Die Weltgesellschaft und der Sinn der Erde: Die Zivilisationskritik und die apokalyptische Schreibart Friedrich Nietzsches und Ernst Jüngers.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 Alexander Demandt Spengler und die Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   95 Michael Corsten Weltgesellschaft – eine soziologische Theorie-Chimäre. . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ralf Elm Max Webers Konzept der „okzidentalen Rationalität“ und Martin Heideggers Überlegungen zum „Gestell“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Silvio Vietta Rationalität als zentrales Narrativ der Weltgesellschaft?.. . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Inhalt

II. Handel, Finanzen, Wirtschaft und Migration Richard Senti Die geltende Welthandelsordnung im Spiegel der regionalen Integrationsabkommen .. 179 Athanassios Pitsoulis Strukturen und Entwicklungen der globalen Ökonomie: Auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Sylvia Hahn Migration als globale Herausforderung: eine Weltgesellschaft der Wanderungen? . . . 209

III. Das koloniale Erbe, Armut und Reichtum, religiöser Fanatismus, Gender Diversity, Kommunikation, Menschenrechte und Völkerrecht Thomas Spielbüchler Die Welteroberung des Kolonialismus und die Marginalisierung indigener Kulturen . 227 Franz Mathis Armut und Reichtum auf globaler Ebene: Perspektiven einer Weltgesellschaft? . . . . 243 Susanne Schröter Der Siegeszug des radikalen Islam im 21. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Maria Mesner Die Geschlechter der Weltgesellschaft. Zwischen Universalismus und postkolonialen Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Marianne Kneuer Grenzen und Möglichkeiten einer Weltöffentlichkeit. Soziale Medien und Protestbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Herbert Reginbogin Question about the Universalization of Human Rights – Perspectives of a World Society in the 21st Century? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Harald Kleinschmidt Geschichte und Gegenwart des Völkerrechts: Perspektiven für eine Weltgesellschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

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Inhalt

IV. Die Rolle der Großräume und die Verantwortung der Mächte Michael Gehler Die EU und ihr weltordnungspolitischer Auftrag – der weltgesellschaftliche Anspruch und eine Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Thesen. . . . . 375 Hans-Jürgen Schröder Anspruch und Wirklichkeit der USA als globale Ordnungsmacht: Perspektiven für eine Weltgesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Xuewu Gu Weltmacht des 21. Jahrhunderts? China und seine Perspektiven für eine Weltgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Hans-Heinrich Nolte Russland, das postimperiale Trauma und die Folgen für die Weltgesellschaft.. . . . . 451

V. Fazit durch Kommentatoren Jürgen Nielsen-Sikora Dimensionen und Perspektiven der Weltgesellschaft. Schlusskommentar . . . . . . . 467 Gilbert Merlio Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

VI. Anhang Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514

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Michael Gehler · Silvio Vietta · Sanne Ziethen

Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven Vom 6. bis 8. Oktober 2016 fand an der Universität Hildesheim eine Tagung zum Thema „Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft. Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien“ statt. Der vorliegende Band präsentiert die überarbeiteten Beiträge und Ergebnisse dieses Symposiums. Weltgesellschaft hat viele Aspekte und es kam den Veranstaltern dementsprechend darauf an, das komplexe Thema selbst multiperspektivisch anzugehen. Vier Schwerpunkte standen dabei im Zentrum: I. Das Konzept der Weltgesellschaft, wie es sich bereits in kulturgeschichtlichen, philosophischen und soziologischen Theorien herausgebildet hat. II. Probleme und Fragen, die sich mit Handel, Finanzen und Migration der Weltgesellschaft verbinden. III. Der Themenkomplex Armut und Reichtum, religiöser Fanatismus, Gender Diversity, Kommunikation, Menschenrechte und Völkerrecht. IV. Die Bedeutung der Großräume und die Verantwortung der Weltmächte in der Weltgesellschaft, insbesondere der USA, Russlands und Chinas sowie der EU. V. Der vorliegende Band bietet bereits zwei Zusammenfassungen, die eine des französischen Germanisten und Soziologen Gilbert Merlio, die andere des deutschen Bildungsforschers, Philosophen und Historikers Jürgen Nielsen-Sikora. Beide hatten an der Hildesheimer Konferenz teilgenommen. Ihre Schlusskommentare sind Resümees. Generell waren sich die Beiträger der Tagung weitgehend einig darin, dass es die Weltgesellschaft bereits gibt, dass wir in ihr leben und agieren, dass aber die verschiedenen Wissenschaften selbst noch große Anstrengungen unternehmen müssen, die neuen Formen einer globalen Welt angemessen zu verstehen. Der vorliegende Band soll selbst ein Meilenstein sein auf diesem Weg einer weiteren Beforschung des Themas Weltgesellschaft.

I. Das Konzept Weltgesellschaft: Kulturgeschichtliche, philosophische, ökonomische und soziologische Perspektiven Der Band wird eröffnet mit einem Panoramabeitrag des Hannoveraner Historikers HansHeinrich Nolte zum Thema „Debatten über Weltgesellschaft“. Der Beitrag ist geeignet, in die Komplexität der Thematik einzuführen. Nolte resümiert: „Wenn man die gängigen Kriterien des 20. Jahrhunderts nimmt, um Gesellschaft zu definieren – Handel und Produktion,

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Informationsströme, politische Netzwerke, soziale Schichten, Rechtsinstitutionen, Vereine, Parteien – befinden wir uns fraglos in einer Weltgesellschaft.“ Der Beitrag zeigt ferner, wie sich Weltgeschichte selbst zunehmend in Richtung einer Weltgesellschaft bewegt, mit all ihren inneren Diversitäten, Widersprüchen und Spannungen. Neu ist nach Nolte der „Systemcharakter“ der heutigen Weltgesellschaft und er vertieft dies durch einen Rückgriff auf die soziologischen Debatten der 1970er Jahre, in denen der Systembegriff bereits eine zentrale Rolle spielte. In seinem Beitrag wie auch in anderen fällt dabei immer wieder der Name von Niklas Luhmann, der als einer der ersten den Begriff der „Weltgesellschaft“ offensiv verwendete und seine Genese v. a. auf die moderne Kommunikationstechnologie zurückführte. Auch die Historiker beschäftigten sich schon relativ früh mit dem Thema „World History“. Hier haben amerikanische Forscher der Universitäten Harvard, Chicago und Columbia/New York Pionierarbeit geleistet, wie Nolte detailliert zeigen kann. Auch deutsche Forscher wie Jürgen Osterhammel knüpften hier an, beklagten allerdings die „mangelnde Ausstattung“ deutscher Institute für dieses große Thema. „Weltgeschichte“ war zunächst ausgerichtet auf den Aspekt „Der Aufstieg des Westens und seine Dominanz“. Neuere Forschungen relativieren das stark, betonen Ungleichheiten in der Weltgesellschaft, insbesondere in der Einkommensverteilung, die vielfach immer noch untergeordnete Rolle der Frau in ihr, mithin die Brüche und Problemzonen. Am Ende seines Beitrages plädiert Nolte für eine Weltgesellschaft, die auch die Nationen integriert: „Die Moderne beruht auf einem Spannungsverhältnis zwischen nationaler Integration und globalen Regelungen […]. Nur wenn man das Spannungsverhältnis zwischen Autonomien und Kooperationen im politischen System angemessen abbildet, kann man auf langfristig stabile Unionen hoffen.“ Der Beitrag von Silvio Vietta akzentuiert die besondere Rolle der „okzidentalen Rationalität“ bei der Bildung und Entwicklung der Weltgesellschaft. Vietta knüpft dabei an seine eigene Publikation zum Thema „Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat“ an. Max Weber wie auch Martin Heidegger sind die geistigen Väter seines Ansatzes. Vietta geht aus von der „Revolution der Rationalität“, wie sie sich in der griechischen Antike vollzog und alle Kultursysteme revolutioniert hat. Es ist ein neuer Typus eines rational-berechnenden Denkens, der hier entsteht und allererst einen neutralen Begriff von ‚Welt‘ als berechenbarer Größe generiert. Die antike Geographie ist ein Kind dieses Denkens, Alexander der Große der erste Herrscher, der nicht nur Nachbarreiche, sondern die ganze damals bekannte Welt erobern wollte. Die neuzeitliche Rationalität, ihre Rechenmaschinen und ihre Digitalisierung auch von kognitiven Prozessen sind eine Fortentwicklung des antik-pythagoreischen Ansatzes einer Quantifizierung von ‚Welt‘, von Raum und Zeit, Naturwissenschaften und Ökonomie. Über die Rationalisierung von Militärtechnik – Phalangen-Formationen und Kriegsmaschinen in der Antike, Feuerwaffen in der Neuzeit – hat das Abendland die Welt erobert und für sich kolonisiert. Diesen Prozess beobachtet auch Thomas Spielbüchler in diesem Band (siehe weiter unten). Globalisierung erfolgte so über Kolonialismus einschließlich ihrer Finanz- und Verwaltungstechniken. In

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

diesem historischen Langzeitprozess expandierte die Welt in dem Maße, wie sie entdeckt, erforscht und erobert wurde. Auch das postkoloniale Zeitalter steht noch unter den Folgelasten der Kolonialgeschichte, die sich ihrerseits in neuen Formen von Kolonialismus fortsetzt. Vietta zeigt: Im Prozess der Rationalitätsgeschichte mit ihren heute globalen Folgen gibt es immer Rationalitätssieger und -verlierer. Das sind in der Kolonialgeschichte selbst die erobernden und die eroberten Völker, heute aber jene Kontinente, Nationen und Regionen, die mit ihren Avantgardestandards der technisch-ökonomischen Rationalität einschließlich der Formen der Organisation von Arbeit, Kommunikation und sozialem Staat reüssieren und solchen, die es nicht tun. Reichtum und Armut korrelieren direkt damit. Da Rationalitätsvorsprünge schwer einzuholen sind, wird nach Vietta Reichtum und Armut noch auf lange Sicht auf dem Globus ungleich verteilt sein, mithin die Armutsmigration noch zunehmen, zumal bei der demographischen Entwicklung eines Armenhauses wie Zentralafrika mit seiner prognostizierten zweifachen Verdoppelung der Bevölkerung noch in diesem Jahrhundert. Umso dringender erforderlich ist nach Vietta die Installierung möglichst rational-ziviler „Governance“-Strukturen im nationalen wie übernationalen Rahmen. Ralf Elms Beitrag zu Max Webers ‚okzidentaler Rationalität‘ und Martin Heideggers Überlegungen zum ‚Ge-stell‘ untersucht zwei auf den ersten Blick heterogene Theorien zur Genese der abendländisch-globalen Weltgesellschaft. Elm kann dabei aber interessante Parallelen zwischen dem Soziologen und dem Philosophen aufweisen. Sie liegen in der Bedeutung von Rationalität für die abendländische Geschichte und heutige Weltgesellschaft. Max Webers’ Analysen legen dabei v. a. jene Mentalitätsprozesse frei, in welchen die abendländische Rationalität die Religion selbst säkularisiert und als einen Triebmotor des Kapitalismus umfunktionalisiert hat. Das geschah im Protestantismus und Calvinismus. Mit Weber konstatiert Elm dabei einen „Multifunktionalismus der Rationalität“, insofern sich in ihr theologische, philosophische und soziologische Motive bündeln. Dominant sei ein „technomorpher“ Grundzug der Rationalität, der einerseits zu einer globalen „Entzauberung“ der Welt geführt hat, andererseits zu einem „universalen Verrechnungsprogramm“, in welcher die abendländische Rationalität die Welt erobert, vermarktet und auch durch-bürokratisiert. Heideggers Denkansatz kann nach Elm hiermit – bei allen Differenzen der beiden Denker – in Beziehung gesetzt werden. Auch nach Heidegger dominiert in der abendländischen Geschichte ein „Seinssinn“, der die Welt auf Vorstellbarkeit, Berechenbarkeit und somit auf Beherrschbarkeit gestellt hat. Für die Neuzeit ist Descartes’ Subjektphilosophie der Angelpunkt einer neuzeitlichen Radikalisierung des Herrschaftsanspruchs des Menschen über die Welt – René Descartes’ Formel, der Mensch sei berufen zum „Herren und Eigentümer der Natur“ ist hier einschlägig – und damit der Herrschaft einer technisch-instrumentellen Denkweise über die Welt. Elm hält fest: Im Grunde nimmt Heidegger hier Weber durchaus vergleichbar eine Mehrebenenanalyse vor, wenn er die institutionelle Wissenschaftsorganisation und die vom leitenden Seinsverständnis getragene Disposition wechselseitig miteinander verschränkt zu denken versucht. Und ähnlich

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wie Max Weber ‚Rationalität‘ in einem weiten Sinne der „Rechenhaftigkeit […] als ein Prinzip der ganzen Lebensführung“ fasst, sieht Heidegger das metaphysische Seinsverständnis tiefengeschichtlich von der ‚ratio‘ als ‚Rechnung‘ getragen.

Dem modernen Problem der „Entzauberung“ der Welt durch das „rechnende Denken“ würden bei Heidegger der „Nihilismus“, und die noch tiefer angesetzte „Seinsvergessenheit“ entsprechen. Beide Denker – Weber wie Heidegger – sehen somit die Weltgesellschaft letztlich aus der Tiefengeschichte einer abendländischen Denkform und ihrem herrschaftlichen Ausgriff auf die ‚Welt‘ entspringen, deren systemhafte Form, wie sie auch Hans-Heinrich Nolte konstatiert, Heidegger im deutschen Begriff des „Ge-stells“ zu fassen sucht. Alexander Demandt berichtet über einen der großen kulturkritischen Texte des frühen 20. Jahrhunderts, in dem allerdings der Begriff der Weltgesellschaft selbst nicht direkt vorkommt: Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. Spengler hat einen zyklischen Begriff von Weltgeschichte, deren typische Abläufe er an acht Hochkulturen untersucht. Die letzte, unsere Hochzivilisation, hat sich allerdings über den ganzen Planeten verbreitet und damit auch eine neue Form von Globalität geschaffen. Dabei hat Spengler einen Endzeitblick auf die gegenwärtige Zivilisation. Sie bildet, wie Demandt zeigt, den Übergang in eine post-historische Weltgesellschaft: „Der Untergang des Abendlandes ist der Übergang in die Weltgesellschaft.“ Solche Endphasen von Kulturen sind nach Spengler durch Dekadenzformen der Kultur geprägt, ohne dass er diesen Begriff selbst gebrauchen würde. Insbesondere ist unsere Zivilisation für Spengler geprägt durch die „Herrschaft der Maschine“, die in ihrem „faustischen Expansionsdrang“ die Tendenz hat, den Menschen selbst zu knechten und die Umwelt zu zerstören. Hier berühren sich kulturkritische Motive Spenglers mit denen von Martin Heidegger und Ernst Jünger. Expansion der Geldwirtschaft und der Urbanisierung sind, wie Demandt zeigt, Begleiterscheinungen der modernen Zivilisation. Spengler sieht die Zivilisation übergehen in einen „Cäsarismus“ und hier Deutschland in der Führungsrolle für eine kommende Weltgesellschaft. Das hat ihm auch den falschen Beifall des Nationalsozialismus eingetragen, von dem er sich aber, wie Demandt zeigt, selbst distanzierte. Am Ende aber steht bei Spengler eine „farbige Weltrevolution“, in der sich die Völker der Dritten Welt erheben gegen die wohlhabende Welt der ehemaligen Kolonialherren. „Die Farbigen sind nicht Pazifisten“, zitiert Demandt Spengler: „Ewigen Frieden gibt es nicht“, denn der Mensch ist nach Spengler ein Raubtier. „Der Ausgang bleibt offen.“ Mario Bosincu greift bei seiner Analyse von Ernst Jünger zurück auf den wichtigsten Ideengeber für die Zivilisationskritik des 20. Jahrhunderts: Friedrich Nietzsche. Sein Blick auf die europäische Kultur ist, wie Bosincu zeigt, die eines Geistesaristokraten auf die Dekadenz. Dementsprechend suchte Nietzsche „die Rolle des ‚Philosophen als Arztes der Cultur‘“, wobei er, wie Bosincu mit Rückgriff auf Michel Foucault zeigt, die antike Pastoralphilosophie wiederbelebt, aber auch auf die Rassentheorie seiner Zeit für seine Vorstellung vom „Übermenschen“ zurückgreift.

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

Ernst Jüngers epochemachende Schrift „Der Arbeiter“ von 1932 deutet den Menschen der Moderne im Rahmen einer „manufaktorischen Eschatologie“ als „homo faber“, also als Macher und Gestalter seines eigenen Geschicks. Das impliziert zugleich eine Theorie der modernen Technik, mit deren Hilfe die Erde erobert, aber auch zu einem Schlachtfeld der Interessen wird. Bosincu zitiert Jünger aus seiner Schrift „Der Friede“: „Zum ersten Male ist die Erde, als Kugel, als Planet gesehen, Schlachtfeld geworden, und die Menschengeschichte drängt planetarischer Ordnung zu. […] Als Söhne der Erde stehen wir im Bürgerkriege, im Bruderzwist.“ Ähnlich wie bei Spengler wird die neue Weltgesellschaft als ein Spannungsfeld der Konflikte gesehen, die sich hochtechnologisch gerüstet militärisch entladen. Dabei verweist Bosincu auch auf eine seltsame Dialektik der Moderne: Nietzsche hatte gezeigt, dass die Modernisierung und Rationalisierung der Welt mit einem religiösen Sinnverlust verbunden ist, er nannte das „Nihilismus“, der aber seinerseits nach Formen der Resakralisierung und der Ersatzreligionen ruft. Hier sieht Jünger auch die Aufgabe für den modernen Schriftsteller. Von besonderer Bedeutung für die Theorie der Weltgesellschaft sind Jüngers Überlegungen zum „Weltstaat“. Er entwickelt sie in der gleichnamigen Schrift von 1960. Der Weltstaat entsteht nach Jünger durch eine planetarische Ausbreitung der Technik selbst, wobei der Staat zunehmend alle Lebensfunktionen an sich bindet und die Erdgesellschaft in einem globalen Nivellierungsprozess durchbürokratisiert. Das berührt sich mit Motiven von Max Weber im Beitrag von Ralf Elm. Der so sich inszenierende ‚totale Staat‘ hat sich zwar bis heute nicht realisiert, könnte sich aber in den hochtechnologischen ‚Ersatzstaaten‘ wie den globalen Netzwerken schon andeuten. Mit Carl Schmitt und Theodor W. Adorno stellt Reinhard Mehring zwei „antipodische Kritiker des Zugs zur Weltgesellschaft“ vor. Der Verfassungsrechtler Carl Schmitt hat, wie Mehring zeigt, Georg Lukács’ Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ gelesen, das wiederum eine Hauptquelle für Horkheimer und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ war mit seiner zentralen Kritik an der „Verdinglichung“ der modernen Gesellschaft. Adorno wie Schmitt teilen das „Unbehagen an der Totalisierung der Industriegesellschaft“, der Adorno letztlich in die „ästhetische Erlösung durch avantgardistische Kunst“ zu entfliehen sucht, Schmitt in eher „alteuropäische“ Vorstellungen von Staat und Politik. Dass beide sich nicht mochten, zeigt das Spottgedicht von Schmitt auf Adorno, dessen fein ziselierte Ranküne Mehring genüsslich analysiert. Carl Schmitt spricht nicht direkt von der Weltgesellschaft, weist aber schon in seiner frühen Schrift über den „Begriff des Politischen“ wie verstärkt auch in „Die Einheit der Welt“ auf eine Tendenz zum Weltstaat, zum totalen Staat, mithin zur Verschmelzung von Staat und Gesellschaft hin. Das entspricht der Kritik von Horkheimer und Adorno am Totalitarismus der neuzeitlichen Aufklärung und der von ihr geschaffenen Gesellschaftsstrukturen. Gegen diese Tendenz aber will Schmitt „die Souveränität letztlich beim Staat monopolisieren“. Dabei argumentiert er in der Schrift „Nationalsozialismus und Völkerrecht“ von 1934 gegen die Versailler Verträge und pocht auf die „Grundrechte“ auf eigene Existenz, Selbstbestimmung wie auch Selbstverteidigung.

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In der Lage der Nachkriegsgesellschaft spielt Schmitt mit der Vorstellung einer „poli­ti­ schen(n) Einheit der Menschheit auf dem Planeten durch den Sieg der einen industriellen Weltmacht über die andere oder durch den Zusammenschluss beider mit dem Ziel, sich die gesamte Industriemacht der Erde politisch zu unterwerfen. […] Die Weltpolitik kommt an ihr Ende und verwandelt sich in Weltpolizei – ein zweifelhafter Fortschritt“, so Schmitt. Mehring bezeichnet das als „Anti-Utopie“. Sie ist in der Tat von der Dystopie eines George Orwell nicht weit entfernt. Demgegenüber hat Adorno im „Übergang zur Menschheit“ die humanisierende Wirkung des Ästhetischen betont. „Wenn Adorno den ‚Übergang zur Menschheit‘ an die Rezeption originärer Werke knüpft, an Kunstwerke wie philosophische Werke, meint er über die ästhetische Erfahrung hinausgehend wahrscheinlich keine politische Alternative, sondern eine Utopie vom geselligen Einklang einer avantgardistisch gebildeten Elite.“ Schmitt hätte darin ein Täuschungsmanöver gesehen. Der Weltstaat, den er kommen sah, „erschien ihm als ein totalitärer Verwaltungsstaat, der alle Möglichkeiten politischer Selbstbestimmung ausschließt“. Mit dem Beitrag von Michael Corsten betritt der Leser eine andere Ebene der Theoriesprache. Es ist die Sprache eines modernen Soziologen, die sich von der Eschatologie und Apokalyptik der älteren Theorien verabschiedet hat zugunsten einer pragmatisch-funktionalen Sprache. In ihr untersucht Corsten über weite Strecken die Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Er hebt dabei weniger ab auf die Genese von Weltgesellschaft durch die moderne Kommunikationstechnologie, sondern darauf, dass mit Weltgesellschaft eine „reale Einheit des Welthorizontes für alle“ gegeben sei. Das heißt eben nicht nur, dass die weltweite Kommunikation zugenommen hat, sondern auch, dass sich die Erwartungshorizonte angeglichen haben „als Erwartung der Übereinstimmung des Erwartungshorizontes anderer mit dem eigenen“. Daraus entstehe ein „kognitiver Erwartungsstil“, der auch auf Irritation und Enttäuschung der eigenen Erwartung eingestellt sei und damit eigenes „Lernen“ in Gang setze, das Luhmann auf seine systemtheoretische Weise als eine Form des Selbstbezuges interpretiert. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang gar nicht mehr von Menschen, sondern von „Menschheit“. Corsten bringt dann Rudolf Stichwehs Lektüre von Luhmann ins Spiel, der Luhmanns Weltgesellschaft ausdifferenziert in Prozesse, die die Strukturbildung von Weltgesellschaft prägen wie „die globale Diffusion institutioneller Muster“, „Formen globaler Vernetzung“ und „die Dezentralisierung von Funktionssystemen“. Allerdings bleibt dabei die Sprache der Soziologie so abstrakt wie die von Luhmann selbst, was ihm nach Corsten auch den Vorwurf eingetragen hat, der Systemtheorie fehle es „an historisch präziseren Aussagen zur Entwicklung von Gesellschaft(en)“. Der vorliegende Band hat den Vorteil, solche Defizite auszugleichen durch eine Lektüre z. B. von Hans-Heinrich Nolte zum Systemcharakter der neuzeitlichen Weltgesellschaft wie auch Viettas Geschichte der Rationalität als jener Denkform, die allererst Techniken in die Welt gesetzt hat, die moderne globale Kommunikation ermöglichten, wie auch den unten folgenden Beitrag von Thomas Spielbüchler zur historischen Genese der Weltgesellschaft.

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

In der Systemtheorie geht es formal um die Anschlussfähigkeit von Teilsystemen an das singuläre Gesamtsystem „Horizont der Weltgesellschaft“. Was aber nach Corsten Luhmann und der Systemtheorie fehlt, „ist eine Beschreibung der ‚Kommunikation der Weltgesellschaft‘ jenseits der Kommunikation als operativer Basisprozess sozialer Systeme“. Die „technischen Verbreitungsmedien“ werden hier einfach vorausgesetzt und nicht selbst als eine innovative Form der schnellen und vernetzten Kommunikation beschrieben, die allererst Kommunikation im Weltmaßstab ermöglicht hat. Lässt man die Beiträge des ersten Kapitels des vorliegenden Bandes Revue passieren, so schälen sich drei gemeinsame Ergebnisse heraus: Die Weltgesellschaft, in der wir heute leben, ist erstens eine Realität auf den verschiedensten Ebenen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, dies nicht nur in der Praxis unserer Kommunikationsprozesse, sondern auch in der Erwartungshaltung, mit der wir sie eingehen. Weltgesellschaft ist damit auch Teil unseres mentalen Systems. Zweitens hat sich die Realität der Weltgesellschaft in einem Langzeitprozess der Kolonisierung mit ihren Asymmetrien der Macht herausgebildet. Die Hauptquelle der Macht ist dabei die „abendländische Rationalität“ (Vietta) als ein universales Instrument des (wissenschaftlichen) Denkens, aber auch der Militär-, Finanz- und Verwaltungsorganisation. Die heutige Weltgesellschaft ist demnach Ergebnis eines Langzeitprozesses mit ihren Ursprüngen in der antiken „Revolution der Rationalität“ (Vietta). Der Prozess der Bildung der Weltgesellschaft scheint unumkehrbar und deren Folgen formieren die Hauptkonfliktfelder der Weltgesellschaft bis heute. Diese Langzeitperspektive auf die Weltgesellschaft unterscheidet den vorliegenden Band auch von älteren Studien, wie etwa derjenigen von Bettina Heintz, Richard Münch und Hartmann Tyrell, die die Weltgesellschaft aus Ansätzen der Modernetheorie abzuleiten versucht. (Siehe: Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell, Weltgesellschaft: Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Berlin 2005). Drittens hat sich die heutige Weltgesellschaft v. a. durch die neuen elektronischen Medien ungeheuer beschleunigt und sich in der gegenwärtigen Form einer dichten globalen Systemstruktur vernetzt.

II. Handel, Finanzen, Wirtschaft und Migration Die zweite Sektion der Tagung widmete sich den Problemstellungen und Herausforderungen von Handel, Finanzen, Wirtschaft und Migration in der Weltgesellschaft. Wie gestaltet sich eine globale Ökonomie im Spannungsfeld von World Trade Organisation (WTO) und regionalen Handelsabkommen? Kann Wirtschaft als politisches Instrument Frieden und Vereinheitlichung schaffen oder ist eine prosperierende Wirtschaft eher Anreiz für Flucht- oder Migrationsbewegungen? Welche Auswirkungen haben Globalisierungsfrust und die Folgen der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise?

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Michael Gehler · Silvio Vietta · Sanne Ziethen

Richard Senti grenzt in seinem Beitrag „Die geltende Welthandelsordnung im Spiegel der regionalen Integrationsabkommen“ die Definition der Soziologie und Politologie von „Weltgesellschaft“ als einer von Kommunikation bestimmten Sozialgesellschaft von der ökonomischen Definition einer „Welthandelsordnung“ ab. Die Ökonomen sprechen von „Weltwirtschaftsordnung“ und beziehen sich damit auf ein System weltweit vernetzter Wirtschaftsbereiche. Dazu greift Senti zunächst historisch ins 18. und 19. Jahrhundert zurück und zeigt an einigen Zollabkommen – wie etwa dem englisch-schottischen Zollabkommen von 1801, dem vereinheitlichten Zollgebiet der österreichischen Kronländer von 1775 oder dem „Deutschen Zollverein“ von 1834 Ergebnisse solcher Abkommen wie auch Reaktionsweisen anderer Länder auf solche Regelungen auf – wie etwa der „Union du Midi“ als Reaktion auf den Zollverein. Dabei hebt Senti in seinem Beitrag die Bestrebungen hervor, mittels Handelsabkommen Konflikte zu befrieden, wie etwa politische Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich durch einen mitteleuropäischen Handelsverbund abzubauen. Grenzüberschreitende Wirtschaftsverflechtungen als Instrument friedlichen Zusammenlebens werden auch im 20. Jahrhundert diskutiert. Ein Beispiel dafür ist Friedrich Naumanns Konzept von „Mitteleuropa“ (1915), das einen gemeinsamen Markt und aufeinander abgestimmte Währungs-, Steuer- und Wettbewerbssysteme vorschlug oder Richard N. Coudenhove-Kalergis Vorstellungen von „Paneuropa“, die nach dem Ersten Weltkrieg aufkamen und im Sinne eines paneuropäischen Zollbunds verwirklicht werden sollten sowie eine Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten. In den Neuordnungsbestrebungen nach 1945 gehen die Vorschläge einer künftigen Welthandelsordnung von den USA aus und treten 1948 provisorisch als „Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen“ = General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) in Kraft. Senti zeichnet nach, wie im Verlauf der Verhandlungen „systemwidrige Elemente in die Vereinbarungen“ eingehen konnten und wie diese Sonderbestimmungen „zu einem immer stärkeren Auseinanderdriften der allgemeinen Welthandelsordnung und der Ordnung der regionalen Integrationsabkommen beigetragen“ haben. Die zunehmende Bedeutung regionaler Freihandelsabkommen, die Senti im dritten Teil seines Beitrags an Beispielen aufzeigt, stellen – so der Autor – zunehmend die Welthandelsordnung und die Rolle der WTO als Regulierungsinstanz für den globalen Handel in Frage und erzeugen ein erhebliches Machtgefälle. Senti beendet daher seinen Beitrag mit einigen skizzenhaften Vorschlägen zur Überbrückung der Kluft zwischen Welthandelsordnung und den erstarkten regionalen Integrationsordnungen. Eine reformierte WTO könne allerdings nur dann als Schiedsstelle erfolgreich sein, wenn landesinterne Wirtschaftspolitiken ihre Einzelinteressen überwinden und vom Glauben abrückten, in den Freihandelsabkommen den „Stein der Weisen“ gefunden zu haben. Der Problemkonstellation von Welthandel versus politisch getragener Deglobalisierung bzw. Renationalisierung der Wirtschaftspolitik geht auch der Beitrag von Athanassios Pitsoulis „Strukturen und Entwicklungen der globalen Ökonomie. Auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft?“ nach. Dabei geht es ihm um die „wechselseitigen Einflussbeziehungen“ zwischen den

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

wirtschaftlichen und politischen Sphären, also um die sozialen und politischen Folgelasten der Globalisierung. Pitsoulis beobachtet ähnlich wie Vietta, dass es dabei Gewinner und Verlierer gibt, Letztere leisten ihrerseits aus einem „Globalisierungsfrust“ heraus gegen Prozesse der Globalisierung Widerstand. Ausgehend von der Grundannahme, dass die Entwicklung der global verflochtenen Ökonomie unter den gegebenen politischen Bedingungen „langfristig einem systemimmanent instabilen Entwicklungspfad“ folge, sei, so Pitsoulis, davon auszugehen, dass „es immer wieder Phasen geben kann, in denen die internationale Arbeitsteilung und der zwischenstaatliche Handel sich langsamer oder gar rückwärtsgerichtet entwickeln“. In fünf Thesen diskutiert Pitsoulis die vielfältigen Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen Wirtschaft und Politik und stellt v. a. die Effekte der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Ungleichverteilung von Einkommen sowie Vermögen und ihre politischen Folgen – u. a. auch den erstarkten Populismus, Globalisierungsfrust und Koordinationsdefizite globaler Ökonomie – in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Deutlich wird, wie sich in und um Europa die Nachwehen der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise, verstärkt durch demographischen Wandel und geopolitische „Kontinentaldrift“, in zentripetalen aber auch zentrifugalen Tendenzen niederschlagen. Pitsoulis’ fünfte und letzte These besagt, „dass die globale Ökonomie zunehmend schwieriger zu koordinieren wird“. Das entspricht auch dem Ergebnis anderer Beiträge dieses Bandes, so dem von Richard Senti. Ein optimistisches Plädoyer dafür, den instabilen Entwicklungspfad nicht als Umkehrung des Globalisierungstrends zu begreifen, sondern diese Phase mit Geduld zu überwinden, beschließt den Beitrag Pitsoulis’. Der Beitrag „Migration als globale Herausforderung: eine Weltgesellschaft der Wanderungen?“ von Sylvia Hahn thematisiert die globale Migration als Herausforderung der heutigen Weltgesellschaft. Haben wir eine „Weltgesellschaft der Wanderungen“? Immerhin sind derzeit rund 244 Millionen Migranten weltweit unterwegs, ein neuer Höchststand, auch wenn er nur 3 % der Weltbevölkerung ausmacht. Hahn bemüht sich, das Thema zu entdramatisieren, indem sie zeigt, dass „nationale und/oder internationale Wanderungen […] Teil des menschlichen Lebens(zyklus)“ waren und sind. Die Geschichte der Menschheit auf der Erde ist geprägt von Migrationsbewegungen. Mit dem Nationalstaat entstand aber das Bedürfnis einer scharfen Kontrolle solcher Bewegungen. „Die Zentralisierungsbestrebungen in den sich herausbildenden Nationalstaaten verstärkten diese Informationssammlung über Land und Leute.“ Dazu kamen die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema, v. a. seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den Fächern der Demographie, Sozialgeographie und der Nationalökonomie. Vielfach dominiert dabei auch der nationale Gesichtspunkt bei der Bewertung dieser Prozesse: „Die Abgrenzung zu den mobilen Bevölkerungsgruppen durch die Postulierung von Sesshaftigkeit und Stabilität als ‚die‘ gesellschaftlich respektablen Grundwerte sollte sich in der Folge durch das gesamte 20. Jahrhunderts ziehen“, so Hahn. Lange Zeit stand die Bevölkerungswissenschaft so auch in der Nähe zur Ideologie. Sie hat sich zweifellos in den letzten Jahren gewandelt im Kontext auch mit der Kolonialgeschichte und den Wanderungsbewegungen, die diese ausgelöst hat. Die Verfasserin nennt am Ende „eine wichtige Veränderung im Migrationsgeschehen, die sich bereits im 19. Jahrhundert ab-

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zuzeichnen begann, nämlich der kontinuierliche Anstieg der weiblichen Migration“. (Siehe auch: Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung. Frankfurt/Main u. a. 2012). Man wird diesen Beitrag dahingehend ergänzen können, dass die jüngsten Migrationswellen aus dem Vorderen Orient und Afrika auch massenhaft junge Männer nach Europa geführt haben, um dort eine bessere Zukunft für sich zu finden. Ein großer Beitrag zum Thema aus der Feder des Makrosoziologen Heinz Bude in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. August 2017 betont dies nachhaltig. Bude weist darauf hin, dass diese Migration ein „Wohlstandsphänomen“ ist: „Die findet nämlich nur statt, wenn es den Menschen in ihren Herkunftsländern besser geht. Damit steigen die Hoffnungen und auch die Möglichkeiten, sich das nötige Geld für das Abenteuer der Migration zu beschaffen. Mobil sind gerade nicht die Ärmsten der Armen, sondern diejenigen, die sich für ihr Leben noch etwas ausrechnen.“ Aus solchen massenhaften Migrationsbewegungen, auch aus europäischen Ländern, erwachsen „enorme Herausforderungen für die Ankunftsstaaten der alten ersten Welt“. Bude zeigt auch auf, dass die Integration der Migranten in den USA, Frankreich und England bisher keineswegs gut verlaufen ist und es eine starke Ghettobildung in diesen Staaten gibt: „Denn im Augenblick kann man auf der ganzen Welt beobachten, dass die bisherigen Strategien der Absorption von Migration scheitern. […] Migration hat jedenfalls einen wichtigen Anteil an einer neuen Klassenstruktur der europäischen Gesellschaften.“ Europa wird sich so noch auf ganz andere Konflikte einstellen müssen, als sie die vergleichsweise stillen „Gastarbeiter“ ins Land brachten. Will man die Ergebnisse der zweiten Sektion bündeln, stößt man unweigerlich auf eine eher skeptische Einschätzung: Eine global funktionierende Welthandelsordnung wird eher unterlaufen durch regionale Interessen und Abmachungen, so Senti. Die Trennung von Siegern und Verlierern der Globalisierung schafft weltweit nicht unerhebliche Enttäuschung über Globalisierung und führt auch zum Abbau von offenen Grenzen (Pitsoulis) und das Migrationsproblem ist keineswegs durch Integrationsanstrengungen schon gelöst (Hahn). Gleichwohl sind die Verfasser und Herausgeber verhalten optimistisch, dass solche Pro­ bleme auch nicht unlösbar sind.

III. Das koloniale Erbe, Armut und Reichtum, religiöser Fanatismus, Gender Diversity, Kommunikation, Menschenrechte und Völkerrecht Nach dem globalen Handel als einer der bestimmenden Faktoren der Weltgesellschaft widmete sich der dritte Teil der Hildesheimer Konferenz der Frage, welche Auswirkungen der Kolonialismus, soziale Ungleichheit, sich zunehmend radikalisierende und gewaltbejahende Religion, Geschlechterdifferenzen oder die Ausweitung westlich geprägter Konzepte von allgemeinen Menschenrechten bzw. vom Völkerrecht auf die Weltgesellschaft haben. Die Tagungsteilnehmer stellten sich die Fragen, wie es um „gemeinsame“ Werte steht und wie es um Grundrechte oder gar um demokratische Strukturen überhaupt bestellt ist.

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Lässt sich angesichts der Veränderungen von Glaube, Kultur und Politik überhaupt von einer „Weltgesellschaft“ sprechen oder handelt es sich vielmehr um eine „Zwischengesellschaft“? (Caroline Y. Robertson-von-Trotha [Hrsg.], Die Zwischengesellschaft. Aufbrüche zwischen Tradition und Moderne? Baden-Baden 2016). Der Beitrag von Thomas Spielbüchler ist materialgesättigt in der Beschreibung der „Welteroberung des Kolonialismus“ und der damit verbundenen „Marginalisierung indigener Kulturen“. Hier wird der Begriff der Gesellschaft akteurszentriert verstanden als ein konkreter Prozess der Formierung von Weltgesellschaft durch bestimmte historische Subjekte. Die handelnden Akteure sind dabei die europäischen Eroberer, der geschichtliche Prozess, den sie in Gang bringen, die europäische Expansion des Kolonialismus, in deren Verlauf, wie ja auch Immanuel Wallerstein mit seinem Begriff des „Weltsystems“ konstatiert hatte und wie er in den gängigen Kolonialismustheorien wiederkehrte, die neuzeitliche Weltgesellschaft sich gebildet hat. Spielbüchler lässt den Prozess Revue passieren: Die welterkundende Ausfahrt portugiesischer Segler schon im 15. Jahrhundert auf der Suche nach neuen Handelswegen, die Suche nach neuen Siedlungsterritorien und Fischgründen und die dabei immer flankierende Idee einer Ausbreitung des Christentums sind die Hauptmotivationen, die dazu führten, „die Völker der Welt zu vernetzen“. Spielbüchler weist darauf hin, dass auch bereits „die Wurzeln des modernen Völkerrechts“ in diese Zeit zurückreichen. Harald Kleinschmidt kommt mit seinem Beitrag in diesem Band auf diese Anfänge der Naturrechtslehre zurück. Handelsnetze entstehen, frühkapitalistische Formen der Finanzierung von Kolonisierungsprozessen sowie deren verwaltungstechnische Strukturierung, Rationalitätsprozesse auf verschiedenen Ebenen der Kultursysteme. Zu Recht weist Spielbüchler darauf hin, dass dies auch ein Prozess der Unterwerfung war, in dem der „europäische Imperialismus“ sich die Welt gefügig machte. Dabei erfolgte die Unterwerfung und Verteilung Afrikas unter den europäischen Eroberervölkern erst spät im 19. Jahrhundert. Die Weltgesellschaft, die so entsteht, bildet sich „im Schatten europäischer Werte und Normen“ und marginalisiert dabei oder vernichtet gar die indigenen Kulturen. Die Schatten dieses Prozesses liegen auch noch auf der Phase der Entkolonialisierung, die v. a. nach dem Zweiten Weltkrieg begann, aber nach wie vor von der „Phase der Ungleichheit“ geprägt ist. Die Weltgesellschaft, die sich so formiert hat, ist letztlich ein Ergebnis der Übermacht der europäischen Rationalitätskultur einschließlich ihrer Irrationalismen. „Marginalisierung ist immer ein Teilaspekt von Macht bzw. Machtlosigkeit.“ Deren Folgelasten haben bis heute einen „Hass auf den Westen“ erzeugt, wie ihn der Schweizer Soziologe Jean Ziegler beschreibt. Die Asymmetrien und daraus resultierenden Probleme der heutigen Weltgesellschaft sind zentrales Thema auch der Beiträge in den folgenden Kapiteln dieses Bandes. In seinem Beitrag „Armut und Reichtum auf globaler Ebene: Perspektiven einer Weltgesellschaft?“ thematisiert Franz Mathis den schon bei Pitsoulis anklingenden Aspekt sozialer Ungleichheit von arm und reich, wobei er v. a. nach den Gründen der Ungleichverteilung und nach der Entwicklungsrichtung globaler Armut fragt.

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Angesichts mehrerer hundert Millionen Menschen in der Welt, die in zum Teil bitterster Armut leben, mag es erstaunen, dass diese Zahl nach Angaben der Weltbank in den letzten Jahren weltweit sowohl relativ als auch absolut gesunken ist. Mathis zeigt auf, dass dieser Rückgang in erster Linie dem Prozess der Industrialisierung geschuldet ist, der vor gut 200 Jahren in West- und Mitteleuropa begann und in der Folge auch andere Regionen der Erde erfasste – dies jedoch höchst ungleich: So ist die pro Kopf ermittelte Wertschöpfung in Europa, Nordamerika, Teilen Ostasiens und Australiens deutlich höher als diejenige Lateinamerikas, Afrikas und des restlichen Asien. Warum aber unterscheidet sich der Prozess der Industrialisierung so erheblich in unterschiedlichen Regionen der Welt? Mathis bezieht zwischen den zahlreichen Erklärungsversuchen eine eigene Position: Seiner Meinung nach genügt die häufig ins Feld geführte These von der Ausbeutung der Kolonien zugunsten der Kolonialmächte nicht zur Erklärung, da sie seiner Meinung nach „weder die Industrialisierung auf der einen noch das Ausbleiben einer solchen auf der anderen Seite“ erklären und plausibel machen könne. Bei der Suche nach den Gründen macht Mathis vielmehr in der Bildung von Großstädten einen entscheidenden Faktor aus, da dort ein deutlicher Anstieg an Produktivität menschlicher Arbeit konstatierbar sei. Industrialisierung, so Mathis, fand überall dort „umso breiter und intensiver“ statt, „je größer die jeweilige Großstadtdichte“ war. Industrialisierung sei so kein nationales, sondern „ein regionales Phänomen“. Daher sei es sinnvoller, „die Welt statt in arme und reiche Länder in industrialisierte und damit auch wohlhabendere Großstadtregionen auf der einen und in vorwiegend ländliche Armutsregionen auf der anderen Seite einzuteilen“. Perspektivisch in die Zukunft geschaut, sieht Mathis eine weitere Urbanisierung und Vergroßstädterung voraus. Trotz der in vielen Großstädten noch existierenden Elendsviertel sei zu erwarten, dass sich die Weltgesellschaft in eine mehr industrialisierte und entsprechend urbanisierte Dienstleistungsgesellschaft mit weniger Armut als bisher entwickeln werde. Dennoch sei die „künftige Weltgesellschaft“ in sozioökonomischer Hinsicht eine zweigeteilte: „auf der einen Seite relativ wohlhabende, industrialisierte Dienstleistungsgesellschaften in den erweiterten Großstadtregionen […], auf der anderen Seite nach wie vor arme, vorindustrielle Agrargesellschaften“. (Siehe auch: Franz Mathis, Mit der Großstadt aus der Armut. Industrialisierung im globalen Vergleich, Innsbruck 2015). Susanne Schröter zeichnet in ihrem Beitrag „Der Siegeszug des radikalen Islam im 21. Jahrhundert“ Prozesse der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000) am Beispiel des radikalen Islam nach. Die Autorin zeigt auf, wie die von den Sozialwissenschaften prognostizierte globale Ausbreitung des Säkularismus am Ende des 20. Jahrhunderts als „Sonderweg“ (Jürgen Habermas) relativiert werden müsse. Als beunruhigend erweist sich dabei, dass die neue Hinwendung zur Religion eine stark fundamentalistische und Gewalt legitimierende Prägung aufweist. Obgleich Schröter betont, dass auch das Christentum und Judentum, der Hinduismus oder Buddhismus fundamentalistische Strömungen kennen, zeigt

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sie in ihrem Beitrag fundamentalistische islamistische Prozesse – in diesem Falle v. a. in Südasien – auf: „Die Dynamiken, die in diesen Ländern beobachtet werden können“, so ihre These, „lassen sich auch in anderen Weltregionen beobachten, so dass wir es hier mit einem generalisierbaren empirischen Beispiel zu tun haben, das Aufschluss über strukturelle Prozesse einer islamistischen ‚Übernahme‘ islamisch geprägter Gesellschaften geben kann.“ Schröter konstatiert im Vergleich verschiedener Nationen, etwa Malaysia, Indonesien und der Philippinen, eine Parallelität der Entwicklung und der Äußerungsformen islamistischer Mobilisierung, die durch die Rückkehr junger Akademiker in ihr Heimatland angestoßen wird, die an arabischen Universitäten mit wahhabitischen und salafistischen Lehren in Kontakt kommen. Lehrmaterial sowie islamistische Prediger spielen eine entscheidende Rolle im Prozess der Entwicklung eines radikalen Islam. Es sei allerdings ein Irrglaube, dass lokale Missstände diese Prozesse begünstigten, vielmehr entwickele sich der gewaltbejahende Fundamentalismus und islamischer Extremismus „durch eine gezielte Propaganda islamistischer Zentren und ihre finanzielle Flankierung“ und habe die „Errichtung einer islamischen Weltgesellschaft als Alternative zum säkularen Projekt der Moderne“ zum erklärten Ziel. Einen ersten Ansatz, Aspekte und Ergebnisse der Geschlechterforschung für Konzepte von „Weltgesellschaft“ fruchtbar zu machen, verdeutlicht Maria Mesner mit ihrem Beitrag „Die Geschlechter der Weltgesellschaft. Zwischen Universalismus und postkolonialen Herausforderungen“. Die Autorin stellt zunächst historische Bezüge zwischen Geschlechterforschung und den in ihr kritisch wahrgenommenen Prozessen von Globalisierung her, indem sie die interkontinentalen Netzwerke darstellt, die Frauenbewegungen ab dem 19. Jahrhundert bildeten und in denen sie sich transnational organisierten und austauschten. Die verschiedenen inhaltlichen Konzepte, so Mesners These, hatten „implizit und explizit universalistische Ansprüche […], wiewohl sie in ihren normativen Setzungen klar geographisch und sozial zu verorten sind“. Neben der sich als lesbisch definierenden Kritik an der Konzeptualisierung der Geschlechterdifferenz stellt Mesner in einem zweiten Schritt v. a. die Kritik der „women of color“ an den Zugängen der zweiten Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre dar, die nicht-hinterfragte, aber verallgemeinerte „weiße“ bürgerliche Vorstellungen und Lebenswelten fortschreibe und so deren globale Hegemonialität sichere. In einem dritten Schritt der Darstellung zeigt Mesner an den Debatten der Queer Studies und der postkolonialen Studien deren Potenzial für Debatten zur Gestaltung einer „Weltgesellschaft“ auf. Die Weigerung ersterer, „Identitäten zu fixieren und zu essentialisieren, und das Bestehen darauf, ihre Grenzen fließend und überschreitbar zu halten“, könnte nach Mesner auf das Unterfangen übertragen werden, „Weltgesellschaft“ zu denken und „auf dieser Basis über deren Strukturen und mögliche Regelungen zu diskutieren“. Dies könnte jedoch – so Mesners abschließendes Plädoyer – stets nur unter der Prämisse geschehen, dass alle Positionen sich bereit zeigten, auch eigene Überzeugungen grundlegend neu zu hinterfragen. Marianne Kneuers Beitrag „Grenzen und Möglichkeiten einer Weltöffentlichkeit. Soziale Medien und Protestbewegungen“ fragt nach der Herausbildung einer transnationalen Öffent-

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lichkeit und Zivilgesellschaft und untersucht dazu fünf sich im Rahmen der Banken- und Finanzkrise formierenden Protestbewegungen und deren Nutzung sozialer Medien. Im Fokus stehen dabei die sechs Aspekte, die als Merkmale für Transnationalität gewertet werden können: 1. Probleme, Themen und Ziele, 2. ein quantifizierbares Mobilisierungslevel, 3. Strategien, Taktiken und Aktionsformen, 4. Organisationsstrukturen, 5. kulturelle Rahmen („frames“), Ideen und Diskurse und 6. zeitliche Steuerung des Protests. Die Ergebnisse zeichnen ein ambivalentes Bild: Die in den Kriterien „Strategien, Taktiken und Aktionsformen“, „Organisationsstrukturen“ und „frames“ erkennbaren transnationalen Komponenten erklärt Kneuer mit Diffusionseffekten. Jenseits dieser müssten die Empörungsbewegungen jedoch jeweils als nationale Phänomene mit national geprägter onlineKommunikation betrachtet werden, da gemeinsame Ziele, eine gemeinsame Identität und der gemeinsame transnationale Kommunikationsraum fehle. „Ganz offensichtlich“, so resümiert Kneuer, „ist das rein technische Potenzial von globaler Vernetzung und Konnektivität nicht äquivalent mit der Herausbildung eines Raumes transnationaler Kommunikation mit inhaltlicher Wertigkeit. Dieses Resultat dämpft die Erwartungen an die Entstehung eines globalen Dorfes und damit die Erwartungen an das Potenzial von digitalen Medien, eine Weltgesellschaft zu formen.“ Herbert Reginbogin diskutiert in seinem Beitrag „Question about the Universalization of Human Rights – Perspective of a World Society in der 21st Century?“ mögliche Gestaltungen der allgemeinen Menschenrechte innerhalb der internationalen Beziehungen. Der Autor vollzieht einen Dreischritt in seiner Darstellung und stellt die Hauptbereiche in den Mittelpunkt der Analyse, die seiner Ansicht nach in einer Weltgesellschaft die Natur der universalen Menschenrechte herausfordern und verändern: 1. den Mythos der liberalen Weltordnung und die Dynamiken von Religion und Säkularisierung, 2. die Herausforderungen von Klima- und Energiepolitik für die Ökonomie, 3. die Entwicklung eines „Toolkit of 21st Century Statecraft“. Dabei stellt Reginbogin die Auseinandersetzung mit der „English School of Thought“ dar, deren stärker pluralistische Konzepte internationaler Politik den „solidaristischen“ Zielen gegenüberstehen, wobei letztere auch staatliche Souveränitätsansprüche in Frage stellen können. Angesichts der globalen Herausforderungen von Autoritarismus und Populismus, Schutz und Sicherheit kultureller Autonomien oder einer Energievorkommen und Umwelt schützenden Wirtschaftspolitik über Grenzen hinweg, ist globale Kooperation laut Reginbogin erforderlich. Die Staatsnationen müssen dafür, so sein Plädoyer, rethink their ontological perspective in light of the global existing challenges by re-evaluating their ontological narratives of each other by engaging in an open discourse by pairing the narra-

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tives of faith, freedom and foreign politics with regional histories, cultures and views of their security to bring about the course of consensus to enforce the principles of universal human rights.

Das „Toolkit“ dafür, die Menschenrechte für eine Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert weiter zu stärken und unerlässlich zu machen, sieht Reginbogin in der Vergegenwärtigung des Bewusstseins der jeweils eigenen kulturell bestimmten Prägungen und der spezifischen politischen Identitäten, aus denen die divergierenden Auffassungen resultieren. In diesem Bewusstsein liege die Kraft zur Konsensbildung. Kultur- und epochenspezifische Wahrnehmungen der Verfasstheit von Welt werden auch von Harald Kleinschmidt in seinem Beitrag „Geschichte und Gegenwart des Völkerrechts: Perspektiven für eine Weltgesellschaft?“ problematisiert. Der Autor stellt zunächst die sich ergebenden Schwierigkeiten dar, wenn „der Gesellschaftsbegriff auf überstaatliche Gesellungsformen ausgedehnt“ wird: Dies lasse sich keineswegs einfach geradlinig übertragen, sondern sei abhängig von den genannten „kultur- und epochenspezifischen Wahrnehmungen der Verfasstheit der Welt und der Modalitäten ihrer Unterteilung in staatlich regulierte Gesellschaften und anderer Gesellungsformen“. Kleinschmidt zeigt auf, wie die Begriffe „civitas maxima“, „Weltgesellschaft“, „Weltstaat“, „world polity“ etc. ebenso wie die Maximen des internationalen Rechts immer noch auf der Tradition und den Rechtssätzen des expansiven 19. Jahrhunderts gründen – sich sozusagen als „Hausrecht des europäischen Staatenklubs“ präsentieren –, was folglich die Kritik und Abwehr der einst kolonialisierten Länder errege. Es sei nicht möglich, so der Autor, „Weltgesellschaft in allgemeinen, universalen Kategorien des positiven Rechts“ zu bestimmen und er plädiert daher dafür, „Weltgesellschaft“ nicht wie einen funktionalen „Oberbegriff für den Weltstaatenklub und allerlei Komplexe als global ausgegebener Interaktionsweisen in Politik, Wirtschaft und Kultur“ zu konzipieren, sondern „nur als Weltzivilgesellschaft, die als solche ungesetzten und nicht immer erzwingbaren Rechtssätzen im Sinn der Naturrechtstheorien unterworfen“ werde. Da es sich bei einer Weltgesellschaft um eine „wertpluralistische und inklusionistische Konzeptionierung“ handele, könne sie nicht als „civitas maxima“ einen „Konsens über globale Rechte und Pflichten“ herbeiführen, sich jedoch sehr wohl im Bereich der elementaren Menschenrechte, des Gastrechtes, der Anerkennung von Diversität oder des Rechts auf Widerstand auf nicht-erzwingbare Rechte und Pflichten verständigen. Die Beiträge der dritten Sektion behandeln sehr unterschiedliche Themen, so die produktive Rolle, die Großstädte für die Weltgesellschaft spielen können (Mathis), die Problematik des anti-westlichen fundamentalistischen Islam (Schröter) sowie die Problematik einer Konzeptualisierung von Weltgesellschaft aus europäischer Perspektive, sei diese bezogen auf Geschlechterrollen (Mesner), Kommunikation (Kneuer), den „Mythos der liberalen Weltordnung“ (Reginbogin) oder auch auf den Versuch, für eine Weltgesellschaft im „allgemein universale Kategorien des positiven Rechts“ erfassen zu wollen (Kleinschmidt). Gleichwohl bleibt eine „Weltzivilgesellschaft“ denkbar, wenn sie tolerant und wertepluralistisch konzipiert sei und so einen „Konsens über globale Rechte und Pflichten“ herbeiführe.

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IV. Die Rolle der Großräume und die Verantwortung der Mächte Die vierte Sektion der Konferenz widmete sich dem Selbstverständnis der Großmächte EU, USA, China und Russland. Wie gehen die genannten Großräume mit ihrem selbst-definierten Führungsanspruch angesichts von Deglobalisierungstendenzen, Renaissance des Nationalismus und religiösem Fanatismus oder zunehmender machtpolitischer Konkurrenz untereinander um? Die Teilnehmer stellten sich folgende Fragen: Zeigt nicht das Beispiel China, wie gut halb-liberaler Kapitalismus und kommunistische Diktatur harmonieren und müsste man sich nicht auch die Frage stellen, ob die Weltgesellschaft der Zukunft eine Demokratie ist? Der Beitrag „Die EU und ihr weltordnungspolitischer Auftrag – Anspruch auf Weltgesellschaft und eine Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Thesen“ von Michael Gehler leitet am Beispiel der 1973 auf der EG-Gipfelkonferenz in Kopenhagen gebilligten „Erklärung zur europäischen Identität“ in die Fragen nach der Selbstpositionierung und Selbstbestimmung einer dieser Großräume ein. Ein erster Teil dieser Erklärung bestimmt den Zusammenhalt der neun damaligen EGMitgliedstaaten der Gemeinschaft, ein zweiter die europäische Identität in der Welt und ein dritter die Dynamik des europäischen Einigungswerks. Wie Gehler in seiner Quellenanalyse aufzeigt, dient die Erklärung dem Ziel, die Beziehungen der EG zu den übrigen Ländern der Welt sowie ihre Verantwortlichkeiten und ihren Platz in der Weltpolitik näher zu erklären. Sie stellt die nähere Bestimmung dieser Identität jedoch in eine dynamische Perspektive und beabsichtigt, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu vertiefen. Wie wird jedoch dieser selbstgestellte Anspruch konkret ausgestaltet und welche Auswirkungen haben konkrete politische Entwicklungen? Gehler macht in seinem Beitrag die Umsetzung dieser Zielsetzungen an den Beispielen von Handel und Wirtschaft („Überwindung der Handelshemmnisse in Europa und die EU als Welthandelsakteur“), Währung („Die 19er Eurozone, geteilte Währungsräume in Europa und der Euro als Weltwährung“), Sicherheit („Geteilte Sicherheit in US-amerikanischer Abhängigkeit“), Menschenrechten („Menschenrechte als Anspruch – Die EU als ‚Vereinte Nationen Europas‘ und zweite UNO?“), Kultur („Kultur als europäische Exportware und Weltkapital“) und Religion („Die EU als Säkularisierungskatalysator“) fest. In einem dritten Schritt diskutiert der Autor zwölf Thesen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Soziologen John W. Meyer von der Stanford School. Dessen teilweise „herablassend-skeptischen“ bis gar verächtlichen, eher allgemeinen und wenig detaillierten Äußerungen zur EU gingen – so Gehler – „mit einer nicht seltenen Haltung konform, die die Ausmaße und Folgewirkungen der europäischen Integration“ unterschätze. Im Gegenteil aber sei „die EU im Vergleich zu anderen Großräumen und Weltregionen wie China, Indien, der Russischen Föderation und den USA das im Sinne von Legitimation, Loyalität und Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger noch das aussichtsreichste, zukunftsträchtigste und verheißungsvollste Projekt für das weitere 21. Jahrhundert“.

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

Der selbstgestellte weltordnungspolitische Auftrag der EU konnte allerdings seit den 1990er Jahren nur beschränkt Außenwirkung entfalten, obgleich sie stark in internationale Verpflichtungen und globale Vernetzungen eingebunden ist. Hemmschuh weltgesellschaftlicher Visionen und Wunschvorstellungen sei – so Gehler zum Abschluss – der bestehende globale „Demokratie-Diktatur-Gegensatz“, in welchem sich die demokratisch verfassten Regime in der Defensive befänden. Das westliche Ideenkonzept von „Weltgesellschaft“ stelle sich so als „kein vollständiges Trugbild, aber doch [als] eine Art von Mischwesen“ dar, dessen Realisierung jedoch bereits begonnen habe. Mit der Untersuchung des globalen Führungsanspruches der Vereinigten Staaten setzt Hans-Jürgen Schröder mit seinem Beitrag „Anspruch und Wirklichkeit der USA als globale Ordnungsmacht – Perspektiven für eine Weltgesellschaft?“ die Untersuchung der Großräume fort. Schröder zeichnet die selbstverständliche amerikanische Überzeugung der eigenen Auserwähltheit, Exzeptionalität und Universalität der vertretenen Werte von Woodrow Wilson bis Barack Obama nach. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben die USA und ihr Aufstieg zur Welt- und globalen Führungsmacht die Verdichtung der Weltgesellschaft erheblich beschleunigt. Das ‚American System‘, das auf Selbstbestimmung, individuellen Freiheiten und wirtschaftlichem Wohlergehen beruht, wird – wie Schröder darstellt – nach dem Ersten Weltkrieg v. a. mit ökonomischen Mitteln vorangetrieben. Auch nach dem Aufstieg zur Hegemonialmacht nach dem Zweiten Weltkrieg ist der demokratische Wiederaufbau v. a. Westeuropas sozioökonomisch untermauert. In der Rhetorik amerikanischer Präsidenten tauchen nun vermehrt die Begriffe „Weltgesellschaft“ und „Weltgemeinschaft“ auf. Nach Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion schien der weltweite Sieg des „amerikanischen Modells“ sicher, erwies sich diese Prognose jedoch seit den 1990er Jahren mit dem sich ankündigenden islamistischen Terrorismus als zumindest voreilig, wenn nicht als Fehleinschätzung. V.a. die Auswirkungen des 11. September 2001 und die von den USA ausgehende globale Finanzkrise werfen die Frage auf, „ob das Modell Amerika in seiner gegenwärtigen Form eine nachhaltig konstruktive Entwicklung auf die Weltgesellschaft wird realisieren können“. Vor allem die gravierend fortgeschrittene wirtschaftlich-soziale Ungleichheit in den USA und der restlichen Welt wirken hemmend: „Wenn sich ein wachsender Teil der Weltgesellschaft als Verlierer der liberalen Weltwirtschaftsordnung“ sehe, so Schröder, werde auch „die Demokratisierungspolitik scheitern.“ Zudem stelle die Politik des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump eine zusätzliche Belastungsprobe dar. Welche Handlungsvorschläge lassen sich angesichts von Deglobalisierungstendenzen, Renaissance des Nationalismus, zunehmender machtpolitischer Konkurrenz der Großmächte oder religiösem Fanatismus nun geben? Die Realisierung einer strukturellen Reform der Vereinten Nationen und ihre Anpassung an aktuelle weltpolitische Konstellationen beurteilt Schröder aufgrund der Machtansprüche der fünf Vetomächte im Sicherheitsrat als illusorisch. Eine Demokratisierung der Weltgesellschaft, so der Autor abschließend, könne „folglich nur durch eine evolutionäre demokratische Entwicklung der einzelnen Staaten er-

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reicht werden“. Es obliege den westlichen Demokratien unter Führung der USA, „einen solchen evolutionären Prozess nicht nur politisch-moralisch, sondern v. a. wirtschaftlich zu unterstützen“. Xuewu Gu stellt in seinem Beitrag „Weltmacht des 21. Jahrhunderts? China und seine Perspektiven für eine Weltgesellschaft“ dar, wie eine westlich geprägte, „modernisierungstheoretische“ Denkweise den Blick auf China verstellt. Das westliche Ideal einer auf liberalen Werten beruhenden Weltgesellschaft steht konträr zu populistischen Vorstellungen von Renationalisierung und Abschottung – daher verwundert es nicht, dass die Wiederbelebung des Autoritarismus in Russland und China den Westen ratlos gen Osten schauen lässt und Ängste vor einer neuen Ära der Polarität zwischen Demokratien und nicht-demokratischen Regimen hervorruft. Chinas wirtschaftliche Macht und sein Aufstieg zum größten „Gläubiger des größten kapitalistischen Landes der Welt“ (USA) scheint westliche Modernisierungstheorien, „nach denen eine wirtschaftliche Liberalisierung automatisch eine politische Liberalisierung herbeiführt“ zu widerlegen und lösen Ängste und Unsicherheiten aus. Gu stellt in seinem Beitrag dar, dass die vom Westen erwartete politische Liberalisierung in China keineswegs zufällig ausgeblieben ist, sondern eine von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten beabsichtigte Entwicklung darstellt. Das autokratische Regime Pekings fuße im „Geist des Primats der Gemeinschaft“ auf einem „stillschweigenden Gesellschaftsvertrag zwischen den kommunistischen Eliten und den regierten Massen“. So lange es den Eliten gelinge, Wohlstand und Ordnung zu sichern, bleibe dieser „Unterwerfungsvertrag“ intakt und das System – in dem die Bürger ihr privates und wirtschaftliches Leben weitgehend frei gestalten können – stabil. Dass es dem Modell des westlich-liberalen Verfassungsstaates nicht gelänge, sich als politische Alternative durchzusetzen, liege – so Gu – auch in der „Demokratiefeindlichkeit der Konservativen, in der Demokratiefremdheit der Masse, in der Demokratiescheu der Intellektuellen und in der Demokratiefeindlichkeit des Mittelstandes“ Chinas begründet. Die Bereitschaft zu einer Systemänderung und des Einnehmens einer ungewissen Rolle in einer Weltgesellschaft sei daher nicht zu erkennen – im Gegenteil wirke das Modell des „erfolgreichen autoritären Kapitalismus“ zunehmend attraktiv auf einige afrikanische und lateinamerikanische Länder. Ein Ausgleich oder eine Annäherung, so Gus Resümee, könne nur „durch gegenseitiges Lernen“ stattfinden und „die politische Zähmung der Globalisierung über nationale Grenzen hinweg“ könne nicht anders erreicht werden, „als durch einen globalen Ausgleich von Interessen und Wertvorstellungen“. Hans-Heinrich Nolte blickt im abschließenden Beitrag der vierten Sektion dieser Konferenz auf „Russland, das postimperiale Trauma und die Folgen für die Weltgesellschaft“. Nachdem der Autor seine Einordnung Russlands als „halbperipheres Imperium“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Versuch des Landes geschildert hat, nach 1917 mit der kommunistischen Herrschaftsform den kapitalistischen Westen ein- oder sogar zu überholen, stellt er das russische Selbstverständnis nach 1945 dar, das die Teilhabe am Sieg über die faschis-

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Einleitung. Weltgesellschaft – Themen und Perspektiven

tische, autoritär-diktatorische deutsch-japanisch-italienische Allianz als „Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus“ deutet. Die in der Folge angestrebte militärische Parität mit den USA wird zwar teilweise erreicht, die ökonomische Parität v. a. aber nach Nolte auch deshalb nicht, weil die UdSSR die „Vierte Industrielle Revolution“ (die kommunikationstechnologische Revolution) verpasste. Der Versuch des Aufbaus eines kapitalistischen Nationalstaats nach dem Zusammenbruch des Sozialismus beförderte eine neue Besitzelite – die „Oligarchen“ –, schuf auf der anderen Seite aber auch eine extreme Armut. Unter Wladimir Putin stabilisierte sich der Staat als autoritärer Präsidialstaat, der direkte Verkäufe der Rohstoffvorkommen ans Ausland verhinderte und eine Zuwachsrate der Wirtschaft bewirkte, so lange die Brennstoffpreise hoch waren, und ein Fast-Einparteiensystem aufbaute. In einem weiteren Schritt ordnet Nolte die gegenwärtige Machtposition Russlands in der Konstellation der Vetomächte ein. Er stellt dar, dass neben den Rechtsverletzungen der USA, Chinas, Großbritanniens und Frankreichs auch Russland schon lange vor der Ukrainekrise zur Aufweichung der Rechtslage des Völkerrechts beigetragen hat, indem es sezessionistische Bewegungen unterstützte. Für die EU bedeutet diese Abwertung durch alle fünf Veto-Mächte eine Minderung ihres Einflusses und der deutschen „Zentralmacht“ Europas. Wie wird Russland mit den Mitteln seiner Macht umgehen und welche Ziele sollte die EU nach Nolte daher anstreben? Der Autor ist davon überzeugt, dass eine Eindämmung der nationalistischen Überzeugung nur durch ein Vorangehen der USA durchgesetzt werden könne. Eine Herausbildung eines amerikanischen Imperiums hält er für unwahrscheinlich, da sie eine Verfassung darstelle, „welche der multipolaren Realität der Weltgesellschaft“ wenig entspreche und die Macht inzwischen nicht nur auf Regierungen, sondern auch auf große, nichtstaatliche und global agierende Institutionen aufgeteilt sei. Russland jedoch werde seine Interessen im eurasischen Raum weiterhin vertreten. Die EU solle sich, so Noltes Votum zum Abschluss, „zu klaren Grenzen bekennen […], die ihren Möglichkeiten entsprechen“. Eine Förderung der Eurasischen Wirtschaftsunion, die Hinwirkung auf einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland seien Mittel, Russland wieder als „Teil der Familie“ zu integrieren. Die Beiträge dieser letzten Sektion mit ihrem Thema der politischen Großräume und der Verantwortung der Mächte sind in Bezug auf die politische Weltordnung eher skeptisch ausgerichtet. Immerhin vermag Michael Gehler verhalten optimistisch auf den europäischen Einigungsprozess als ein Modell hinzuweisen und auch darauf, dass das westliche Konzept von Weltgesellschaft in Ansätzen sich hier bereits realisiert habe. Die Beiträge zur USA (Schröder), China (Gu) und Russland (Nolte) stellen die Eigeninteressen dieser Machtblöcke deutlich heraus, die sich auch in ihrem Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen zeigten. Alle diese Machtblöcke verfolgen Weltmachtbestrebungen, wohingegen Russland die „vierte industrielle Revolution“ verpasst habe (Nolte) und China einen – ökonomisch sehr erfolgreichen – eigenen Weg eines autoritären Systems verfolge (Gu).

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V. Fazit Die Organisatoren der Konferenz hatten zwei Kollegen gebeten, die Tagungsergebnisse in einem je eigenen Fazit festzuhalten und zu reflektieren: den deutschen Historiker und Kulturphilosophen Jürgen Nielsen-Sikora und den französischen Germanisten, Philosophen und Soziologen Gilbert Merlio. Die beiden letzten Beiträge des Bandes enthalten diese Stellungnahmen. Jürgen Nielsen-Sikora reflektiert die Ergebnisse und Diskussionen der Hildesheimer Konferenz unter Einbindung weiterer Theorien und stellt die „Allgegenwart der Weltunterschiede und Weltprobleme“ (Ulrich Beck) in den Mittelpunkt, die im voranschreitenden 21. Jahrhundert eine gesellschaftspolitische Ausgewogenheit schwieriger denn je erscheinen lassen: „Ohne eine diskursive, interdisziplinäre und auf Methodenpluralismus basierende Analyse dessen, was unter dem Terminus der Weltgesellschaft firmiert“, so der Autor, „ohne empirische Befunde, ohne historische Recherche, ohne philosophische und soziologische Reflexionen, ohne wirtschaftswissenschaftliche Deutungen“ lasse sich „dem Begriff nicht wirklich beikommen.“ Ob sie nun existiere oder eine Chimäre sei – der Begriff „Weltgesellschaft“ bilde dennoch die Folie, vor „der sich alle politischen Entscheidungen, ökonomischen Interessen, öffentliche Rechtfertigungen, wissenschaftliche Theorien zu verantworten haben“. Gilbert Merlio strukturiert sein Fazit entlang der Fragestellungen, welche die Organisatoren als Leitlinien vorgeschlagen hatten. „Weltgesellschaft“ hat für Merlio schon lange ein „reelles Gesicht“ bekommen und ist normativ aufgeladen – er drückt eine „Hoffnung auf eine vereinheitlichte Menschheit, auf eine allgemeine Völkerverständigung, wenn nicht sogar auf ewigen Frieden“ aus. Merlio stellt v. a. die okzidentale Prägung und die „Westernisierung“ (Anselm Doering-Manteuffel) heraus, als die sich „Weltgesellschaft“ als „Kommunikations- und Interdependenzsystem“ in Folge der Globalisierung präsentiert. Die Hildesheimer Konferenz habe etwa mit den Beiträgen zum Islam oder zu China versucht, so Merlio, die nach wie vor die Debatten bestimmende eurozentrische Sichtweise zu überwinden und zu weiten. So gewinnt man u. a. einen vorläufig abschließenden Eindruck der Hildesheimer Konferenzergebnisse von einerseits bereits bestehenden querschnittartig verlaufenden Weltzwischengesellschaften, Teilweltgesellschaften und einer sich ausprägenden Weltzivilgesellschaft, der sich andererseits allerdings noch beträchtliche ideologische, ökonomische, systemspezifische und strukturelle Hindernisse in den Weg stellen. Die Herausgeber danken Herrn Frank Binkowski für die Erstellung des Personenregisters. Hildesheim im März 2018

Die Herausgeber Michael Gehler, Silvio Vietta, Sanne Ziethen

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I. Das Konzept Weltgesellschaft: Kulturgeschichtliche, philosophische, ökonomische und soziologische Perspektiven

Hans-Heinrich Nolte

Debatten über Weltgesellschaft I. Einführung Wenn man die gängigen Kriterien des 20. Jahrhunderts nimmt, um Gesellschaft zu definieren – Handel und Produktion, Informationsströme, politische Netzwerke, soziale Schichten, Rechtsinstitutionen, Vereine, Parteien – befinden wir uns fraglos in einer Weltgesellschaft.1 Die Kinder skypen mit ihren Freunden in Tokio oder Singapur, die sie beim Studium in Genf bzw. New York oder auch beim Couch-Surfen kennengelernt haben, als sie sich mal eben Bolivien oder Sibirien angesehen haben. Ein amerikanisches Gericht verurteilt einen deutschen Konzern zu einer Milliardenstrafe. Keiner Regierung gelingt es, die Teilnahme am Internet in ihren Staaten zu unterbinden. Broker in Hongkong entscheiden, welche Teilstücke der weltweiten Güterkette in Textilien in Bangladesch hergestellt werden und welche bei dem neuen Konkurrenten Vietnam. Mangas sind out, Bollywood ist in. Die Orisha-Gemeinde in London plant eine Pilgerfahrt nach Ilife, Muslime aus Moskau kommen gerade von einer nach Mekka zurück. Sieht man sich dagegen die neue Bedeutung der Nationalbewegungen an, dann scheint die „Weltgesellschaft“ weiter entfernt als je zuvor. Was war neu an der (letzten) Globalisierung? Welthandel2 und Weltreisen3 sind seit tausenden von Jahren belegbar. Bernstein wurde im alten Ägypten verwendet, chinesische Seide wurde schon in Rom gekauft. Einige Weltreligionen sind, worauf schon Karl Jaspers hingewiesen hat,4 älter als die Imperien der vergangenen Jahrtausende und erst recht älter als die modernen „Globalisierungen“. Einige Weltreligionen – etwa Schamanismus5 und Bud-

1 Ich danke Silvio Vietta und Michael Gehler für die Einladung zu der Tagung zum Thema Weltgesellschaft im Oktober 2016 in Hildesheim und ihnen sowie den Teilnehmern für die intensive Diskussion, vgl. den Bericht Hans-Heinrich Nolte, Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft? http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=6900 (abgerufen 26.02.2017). 2 John R. McNeill/William H. McNeill, The Human Web, New York 2003. 3 Nayan Chanda, Bound Together. How Traders, Preachers, Adventurers and Warriors Shaped Globalization, New Haven/Connecticut 2007; vgl. das Wandbild in Akrotiri, das von den Ausgräbern „The Voyage of the Fleet to the Ends of the Earth“ genannt und jedenfalls vor der Explosion des Vulkans von Santorin 1613 vor unserer Zeitrechnung gezeichnet wurde: Nanno Marinatos, Akrotiri, Athen 2015, 86–105. 4 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/Main 1959; vgl. zur gegenwärtigen Rezeption Saïd Amir Arjomand (Hrsg.), Social Theory and Regional Studies in the Global Age, Albany – New York 2014. 5 Z. B. Glauben an die durch Wunder zu belegende Mittlerfähigkeit der Kaiser und Könige zwischen Himmel und Erde vom „Pontifex“ Roms über die Himmelssöhne in Peking bis zur Wunderheilkraft der französischen

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dhismus, Mosaismus, Christentum und Islam – konditionieren diese vielmehr.6 Wallfahrten gibt es seit vielen tausenden von Jahren, und das älteste erhaltene Buch ist die DiamantSutra, die 868 u. Z. in China für die buddhistische Mission gedruckt wurde (in Blockdruck).7 Und auch wenn strittig ist, wie kontinuierlich philosophische Traditionen wirksam waren – immer wieder gab es im ostasiatischen Kontext Rückgriffe auf den Konfuzianismus8 und im westeuropäischen Kontext Rückgriffe auf die griechische Philosophie.9 Auch Imperien, welche Räume staatlich, wirtschaftlich und kulturell integrierten, in denen heute manchmal mehrere moderne Nationen existieren, gibt es seit 3000 Jahren.10 Ihre Spuren sind manchmal bis heute sichtbar, von der Großen Chinesischen Mauer bis zu den römischen Aquädukten, und auch ihre Prägungen wirken fort – von der lateinischen Sprache bis zum Mandarin, um einfache Beispiele zu wählen. Neu ist der Systemcharakter.11 Es gab schon früher „Weltsysteme“, aber keines war bisher so dauerhaft und so erfolgreich. Das europäische System, das zum Weltsystem wurde, wurde im 13. Jahrhundert durchgesetzt; kennzeichnend war eine Spannung zwischen Konkurrenz und Kooperation. Die europäischen Mächte expandierten seit dem Mittelalter, wurden im Mittelmeerraum zurückgeworfen, eroberten aber im 16. Jahrhundert riesige Teile des Globus von Sibirien bis Mexiko. In der selbstzerstörerischen Krise des 17. Jahrhunderts, die mit den osmanischen Angriffen auf Kiew und Wien ihren Höhe- und Wendepunkt fand, wurden moderne Nationen gegründet, die einem „großen“ Teil der erwachsenen Männer Partizipation erlauben (meist etwa einem Zehntel). Im 19. Jahrhundert unterwarfen europäische Nationen die Welt, fanden aber kein Maß für ihren Nationalismus, sondern setzten die Zugehörigkeit zu einer Nation über moralische Grundwerte, wie das der Satz des US-Kommodore Decatur

Könige. Vgl. auch die magische Verwendung des „in God we trust“ auf Geldscheinen oder „Gott mit uns“ auf Koppelschlössern.   6 Skizze Hans-Heinrich Nolte, Religions in World and Global History, Frankfurt/Main u. a. 2015.   7 Michael Mitterauer, Religion und Massenkonsum, in: Margarete Grandner/Andrea Komlosy (Hrsg.), Vom Weltgeist beseelt, Wien 2004, 243–262.   8 Einführend Heiner Roetz, Konfuzianismus, in: Brunhild Staiger u. a.: Das große China-Lexikon, Darmstadt 2003, 385–390; vgl. z. B. Dieter Kuhn, The Age of Confucian Rule. The Song Transformation of China, Cambridge/Massachusetts 2011.   9 Zuletzt Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, Baden-Baden 2016. 10 Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte, Teil 1–2, Wiesbaden 2014; Hans-Heinrich Nolte, Eine kurze Geschichte der Imperien, Wien – Köln – Weimar 2017. 11 Mein Konzept: Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme, Wien 2005 [folgend Nolte Weltgeschichte 1]; vgl. Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bde. 1–4, (englisch 1974 ff.), deutsch Frankfurt/Main 1986 – Wien 2013; vergleichend Andrea Komlosy, Globalgeschichte: Methoden und Theorien, Wien – Köln – Weimar 2011. Neuere Forschungen: Hans-Heinrich Nolte/Manuela Boatcă/Andrea Komlosy (Hrsg.), PEWS = Political Economy of the World System, Vol. 1–4;Vol. 1 = Journal of World-System Studies 22.2 (Summer/Fall 2016); Vol 2: Worldregions, Migrations and Identities = Zur Kritik der Geschichtsschreibung 13, Gleichen 2016; Vol. 3 im Erscheinen; Vol 4: Nolte Religions s. o., Anm. 6.

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1816: „Right or wrong my country“12 klassisch ausgedrückt hat. Vor allem die Unfähigkeit der deutschen Eliten, sich mit einem zweiten Platz in der Hierarchie der Mächte zu begnügen, hat in zwei Weltbürgerkriegen die Vernichtung der europäischen Machtstellung bewirkt. Die Expansionen und Krisen des Systems gingen mit religiösen und intellektuellen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen zusammen, wobei „äußere“ und „innere“ Entwicklungen stets verschränkt waren. Für einen knappen Überblick werden einige dieser Veränderungen in die historischen Kontexte des Großkontinents Eurasiafrika gestellt und vier Globalisierungen13 skizziert. Was ist neu, was war umwälzend? Diese „Revolutionen“ waren und sind vielfältig und umfassend, in ihnen werden Religionen und Konfessionen, Landwirtschaft und Fabriken, aber auch Politikformen und persönlicher Habitus verändert – in Beziehungen sowohl zu dem Pfad, den die jeweilige Gesellschaft gegangen ist, als auch zu Kenntnissen oder auch Gewinnchancen, die sich aus dem Verkehr mit Nachbarn oder Fremden ergeben. Ich greife folgende Bereiche heraus: • Verkehr • Information • Militär • Formen der Politik

II. Kurze Realgeschichte der Globalisierungen Nach dem Scheitern der „Renovatio Imperii Romanorum“ am Gegensatz zwischen Kurie und Kaiser im 12. Jahrhundert setzen sich die ständischen Königreiche und Adelsrepubliken durch, die durch kirchliche Institutionen und Universitäten sowie transnationale Arbeitsteilung ein System bildeten, zu dem auch das nun ständische „Heilige Römische Reich“ gehörte.14 Durch die andauernde Konkurrenz untereinander wurden militärische Kapazitäten im System besonders belohnt.15 Einzelne von Kaufleuten regierte Republiken (wie Venedig oder Lübeck), einzelne Fürsten (wie Balduin von Flandern oder Heinrich der Löwe) oder klerikale Organisationen (wie Templer oder Deutscher Orden) wurden Träger von Expansionen. Im Mittelmeer vernichteten die lateinischen Christen das Oströmische Reich, konnten dessen Territorien aber nicht gegen die Expansion des Osmanischen Imperiums verteidigen.16 12 Büchmann, Geflügelte Worte, 39. Auflage Berlin 1993, 399. 13 Eine gute Übersicht: Peter E. Fässler, Globalisierung, Köln – Wien – Weimar 2007. 14 Einführend Klaus Hebers/Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich, Köln – Wien – Weimar 2010. 15 P. T. Hoffmann: Why Did Europe Conquer the World, Princeton NJ 2015. 16 Nolte, Weltgeschichte 1, 113–157.

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Die im Spätmittelalter erhöhte Leistungsfähigkeit der Schiffe durch die chinesische Erfindung des Kompasses und die europäische Verbindung von Rah und Besansegel ermöglichte die Verbilligung des Güterverkehrs und die Umsegelung des Globus. Der Buchdruck ermöglichte Massenproduktionen von Texten für Eliten. Die Produktion von Feuerwaffen erforderte Manufakturen; Töten auf Distanz wurde zur Regel. Die europäische Seeherrschaft führte zu einer Zentrum-Peripherie-Struktur, aber die asiatischen „Schießpulverimperien“ waren den Europäern gewachsen und beteiligten sich ihrerseits – wie das schon erwähnte Osmanische Reich – an weltweiten Expansionen.17 Es kam zu Massenmigrationen von Europäern wie Afrikanern nach Amerika und Mongolen wie Türken nach China und Indien. Den europäischen Mächten gelang es, im 18. Jahrhundert die Oberhand über die asiatischen zu erringen – zum einen weil sie angetrieben von der innereuropäischen Konkurrenz die Führungsrolle in der „militärischen Revolution“ übernahmen18, zum anderen, weil sie als System agierten, das auch durch Kooperation und stetigen Austausch geprägt war. Die Phase war verbunden mit der Herausbildung der ersten modernen Partizipationsnationen England und die Niederlande.19 Mit der globalen wirtschaftlichen Vernetzung und der Steuerkraft stabiler Nationalstaaten waren Voraussetzungen für die technische Entwicklung von Maschinen für die Produktion von Energie und Waren gegeben, es kommt zu einer Reihe von Umwälzungen in Arbeit und Produktion.20 1. Im Kontext der ersten „Industriellen Revolution“21 im 18. Jahrhundert wurden mit der Verbindung von Dampfmaschine und Bahn sowie anderen Innovationen die Verkehrszeiten auf dem Land auf ein Zehntel reduziert. Die industrielle Produktion gab vielen Staaten genug Mittel, um Massenheere auszurüsten. Die europäischen Mächte besiegten die asiatischen Imperien und eroberten die Peripherien (auch das Innere Asiens und Afrikas). Dabei konkurrierten sie im Bau von globalen Kolonialreichen.22 2. Die zweite Globalisierung ging mit der Verkleinerung der Motoren und der damit beginnenden Massenmotorisierung zusammen. Truppen und Nachschub konnten binnen Tagen an die europäischen Fronten gebracht werden und der nun massenweise produzierte Werkstoff Stahl erlaubte vielfältige Panzerungen. Neue Wirtschaftssektoren wie Chemie und Elektrotechnik boten neue Materialien und neue Energieformen. Kontinente wurden durch 17 Zuletzt John Darwin, Der imperiale Traum, Frankfurt/Main 2010. 18 Geoffrey Parker, The Military Revolution, Cambridge 3. Auflage 2008. 19 Liah Greenfield, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge/Massachusetts 1992; Nolte wie oben Anm. 11, Kap. 3. 20 Zum gesamten Ablauf R. Findlay/K. O’Rourke, Power and Plenty. Trade, War, and the World Economy in the Second Millennium, Princeton 2007; zur Periodisierung: Peter E. Fässler, Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln 2007; zur Veränderung der Arbeitsverhältnisse: Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalgeschichtliche Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014. 21 Zum Konzept, wenn auch mit anderer Periodisierung: Klaus Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, übersetzt München 2016. 22 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München 2009.

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Eisenbahnen systematisch erschlossen und entlang der Telegraphenlinien wurden Informationen für Privilegierte fast ohne Zeitverlust verfügbar. Zugleich wurde es in den europäischen Staaten möglich, die Hauptstädte in einem Tag zu erreichen und nationale Räume entstanden.23 Im Imperialismus waren die neuen Nationen mit ihrem höheren Integrationsgrad erfolgreicher als die alten Imperien,24 die am Ende des Ersten Weltkriegs aufgeteilt werden. Die Nationsbildungen im 19. Jahrhundert25 wurden weniger mit erfolgreicher Partizipation innerhalb eines politischen Körpers (z. B. zwischen Genf und St. Gallen) als mit der Sprache begründet. Die These des Superintendenten Herder aus Weimar, dass man nur in der Muttersprache denken könne, ist für einen Philologen liebenswert, aber als die Nationalbewegung, die die These dahin verengte, dass der erhoffte deutsche Staat alles umfassen solle, „so weit die deutsche Zunge reicht“,26 gelangte Politik in die Definitionshoheit der Intellektuellen, die nun z. B. definierten, ob Niederländisch eine eigene Hochsprache oder ein niederfränkischer Dialekt war. Aber zugleich setzte die Verwissenschaftlichung ein: Deutsche Geschichte wurde als Fach begründet und die Historiker begannen, die Mythen zu hinterfragen – z. B. den von der sprachlich-nationalen Kontinuität: Die Berliner haben aber sicher mehr slawische Wurzeln und die Kölner mehr syrische als germanische. 3. Im 20. Jahrhundert verkürzte der Flugverkehr die Verkehrszeiten nochmals. Luftwaffen griffen Zivilbevölkerungen hinter Fronten an und stellten die Verteidigungsfunktion nationaler Armeen infrage. Viele Nationalstaaten nutzten moderne Techniken für „ethnische Säuberungen“, einige sogar für Massenmorde.27 Funk und Radio machten Informationen für Organisationen und Gruppen über große Entfernungen hinweg zugänglich. Im Hegemonialkrieg zwischen Deutschland gegen Großbritannien bzw. die USA zerstörten die europäischen Mächte ihre Vorherrschaft. Zugleich machte die Erfindung der Atomwaffen die Selbstvernichtung der Menschheit möglich. 4. Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in die Produktion in den 1970er Jahren reduzierte den Arbeitsanteil an den Produkten. Die Einführung von EDV in Waffensysteme vervielfältigte die Wirkung und macht gezielte Tötung über sehr weite Strecken hin möglich. Im Internet wurden Nachrichten für alle Teilnehmer ohne Zeitverlust verfügbar und 23 Ralf Roth/Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2009. 24 ... obwohl alle Staaten des Systems, vgl. Carl von Clausewitz, Vom Kriege, (19. Auflage 1832), Hrsg. v. Werner Hahlweg, Bonn 1980, 413; „… nachdem alle diese Fälle gezeigt haben, welch ein ungeheurer Faktor in dem Produkt der Staats-, Kriegs- und Streitkräfte das Herz und die Gesinnung der Nation sei … ist nicht zu erwarten, dass [erg.: die Regierungen] dieselben in künftigen Kriegen unbenutzt lassen werden …“ 25 Karl W. Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, Hrsg. v. A. Ashkenasi/P. Schulze, Düsseldorf 1972; Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, übersetzt Frankfurt/Main 1988. 26 Ernst Moritz Arndt, Des Deutschen Vaterland, in: Schauenburgs allgemeines deutsches Commersbuch, 36. Auflage Lahr 1889, 108–115. 27 Mark Levene, Warum ist das Zwanzigste das Jahrhundert der Genozide?, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 5 (2004), Heft 2, 9–38; Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, Göttingen 2011.

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dieses ist schwer zu kontrollieren. Massenmigrationen und Individualisierungen bestimmten dieses Medium. Die kulturelle Distanz zwischen den Generationen wurde verschärft. Es scheint also, dass in der dritten Globalisierungswelle zunehmend ein weltgesellschaftliches Leben herbeigeführt worden ist, die mit der vierten Globalisierungswelle immer unausweichlicher wurde. Die Gründung der UN 1945, war, wie Paul Kennedy schrieb, so etwas wie der Anfang einer Weltregierung.28 Die UN hat den Prozess der Entkolonialisierung erfolgreich begleitet, aber das Auseinanderklaffen der Großregionen nicht verhindern können. Die ökonomischen und sozialen Differenzen sind bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weiter angestiegen, betrug das Verhältnis zwischen Afrika und den USA 1950 etwa 1:6 so 1998 1:13.29 Die UN hat am Ende des 20. Jahrhunderts nicht ohne Erfolge einen Kampf gegen die schärfste Differenz, die zwischen Hunger und Wohlstand, geführt, aber im 21. Jahrhundert leben hunderte Millionen als Wanderarbeiter und Millionen fliehen vor Bürgerkriegen, Dürre oder Arbeitslosigkeit. Zugleich ist die politische Struktur der Welt auf dem Stand von 1945 festgeschrieben: Einerseits sind alle Staaten gleich welcher Bevölkerungszahl in der UNO gleichberechtigt, andererseits besitzen die fünf Sieger des Zweiten Weltkriegs ein Vetorecht, das sie (und ihre Bundesgenossen) vor Sanktionen schützt. Der Hegemon USA agiert nicht als globaler Anführer, sondern als Nation und entzieht sich den Anfängen einer internationalen Gerichtsbarkeit. Gegen die Rechtsordnungen der offiziellen Nationen kämpfen mehrere Verbände, sei es als Piraten und internationale Mafia (im Rauschgift- oder Menschenhandel), sei es als fundamentalistische Opposition (von Christen, Muslimen, Nationalisten oder auch den letzten Maoisten). Interventionen gegen terroristische Aktionen, von Afghanistan bis Libyen, schaffen keinen Frieden. Weiter haben im 21. Jahrhundert von „Britain alone“ bis „America First“ die Nationalbewegungen in den alten Industrienationen neue Bedeutung erlangt, die durch die deutsche Einigung als Angliederung der Länder der damaligen DDR und den neuen Nationalismus in Osteuropa schon am Ende des 20. Jahrhunderts einen ersten Schub erhalten hatten.30 In den globalen oder globalisierenden Eliten macht sich eine Tendenz breit, die nationalen Bewegungen als „Populismus“ abzutun. Sie versäumen damit, was eigentlich gelernt werden könnte: Eine unsolidarische Globalisierung wird kaum durchsetzbar sein. Und die jetzige verläuft unsolidarisch: 44 % des Einkommenszuwachses in den Jahren der letzten Globalisierungswelle 1988 bis 2008 gingen an die obersten 5 % der Weltbevölkerung.31 Gegen 28 Paul Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, übersetzt München 2007. Vgl. zur Anfangsgeschichte der UN: Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton/New Jersey 2013. 29 Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien – Köln – Weimar 2009, 245. 30 Eine zusammenfassende Analyse des neuen globalen Nationalismus liegt mir nicht vor; Anfänge u. a. bei Branko Milanović, Die ungleiche Welt, deutsch Berlin 2016, Tabelle einiger Stimmanteile, 219. Zur Anfangsphase in Osteuropa Margarete Mommsen, Nationalismus in Osteuropa, München 1992; André Gerrits/Nanci Adler (Hrsg.), Vampires Unstaked, Amsterdam 1995. 31 Milanović, Die ungleiche Welt, 33.

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eine derartige Verschärfung der tradierten Einkommensunterschiede und Erhöhung der Ungleichgewichte versucht der „Mittelstand“ sich zu wehren. (Dass einer der Superreichen sich zu dessen Sprachrohr macht, entspricht einem Topos der Anführung von Opposition, seitdem die altadligen Gracchen sich in Rom zu Führern der Plebs gemacht haben.) Den Nationalstaaten, aber auch transnationalen Unionen werden von den „Völkern“ neue Aufgaben zugewiesen: Sie sollen gegen die Radikalität der globalen Veränderungen schützen, Identität bewahren oder überhaupt erst herstellen, und Flüchtlinge fern halten. Die Nationen sind also nicht abgestorben und stellen die 1945 geschaffenen transnationalen Ordnungen in Frage. Auch die EU, in deren Süden auch das Versprechen, durch Ausbildung sei Sicherheit zu erlangen, angesichts des „Prekariats“ an Glaubwürdigkeit verliert. Was hat sich in den letzten Globalisierungswellen also verändert? Die Reichen sind reicher geworden, der Hunger der Armen wurde eingedämmt. Deutlich mehr Menschen als noch im 20. Jahrhundert sind so weit „abkömmlich“ geworden, dass sie an Politik partizipieren können. Es ist viel mehr globale Öffentlichkeit entstanden.32 Man kann man von einer Weltgesellschaft sprechen, aber wie ist sie verfasst? Was weiß sie über ihre eigene historische Reichweite?

III. Die Debatten der 1970er Jahre 1. Soziologie Die Expansionen des europäischen Systems geschahen im späten Mittelalter durchweg mit direkter Legitimierung durch die Kirche als Kreuzzüge ins Baltikum, ins östliche Mittelmeer und nach Spanien südlich des Duero. Die Kirche förderte auch Absprachen zwischen den konkurrierenden Mächten, und sie bot allgemeine religiöse, moralische und intellektuelle Regeln sowie Institutionen für die Zusammengehörigkeit der Mitglieder. Die orthodoxe Christenheit war unterworfen oder marginalisiert und kaum eine Herausforderung. Die Spaltung der lateinischen Christenheit durch die Reformation förderte, ja erzwang eine teilweise Säkularisierung des Systems, die sich als Erneuerung des antiken Humanismus legitimierte und für die – v. a. von der angelsächsischen Geschichtsschreibung – der Westfälische Friede 1648 als Moment der Durchsetzung gilt.33 Für die nichteuropäischen Mächte bedeutete die Durchsetzung der Regeln des europäischen Mächtesystems ein Oktroi.34 Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die erneute Expansion, die von den ersten beiden oben skizzierten Globalisierungen angefeuert wurde, in den Kate32 So dass von einer nach meiner Zählung 5. Globalisierung in der Form einer Kommunikationsrevolution gesprochen wird. 33 Henry Kissinger, Weltordnung, übersetzt München 2016, 21–54. 34 Harald Kleinschmidt, Geschichte des Völkerrechts, Tübingen 2013, 315.

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gorien dieses europazentrischen Mächtesystems diskutiert, was auch zu Absprachen untereinander führte und bei Friedenskongressen Anlass für Konzepte bot. Harald Kleinschmidt hat den Diskurs über Systemmodelle vom 18. Jahrhundert an nachgezeichnet und die Wende vom mechanistischen zu biologistischen Konzepten im 19. Jahrhundert kritisch skizziert.35 Das Verständnis der europäischen Staatengemeinschaft als System ist seit dem 18. Jahrhundert belegt, es wurde z. B. von dem Göttinger Historiker Heeren 1809 in seinem Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems benutzt,36 oder von Adolf Rein in seinem Essay über die Bedeutung der europäischen Expansion für das Staatensystem.37 In der Nachkriegszeit blieb das Konzept in Deutschland unbeachtet.38 In den USA schrieb Morton Kaplan 1957 über internationale Politik als System, wobei er, wie Heeren, das System von Staaten meinte und sich auf das Gleichgewichtssystem in der europäischen Politik als einen der (allerdings seiner Meinung nach wenigen) Fälle für ein erfolgreiches Staatensystem von langer Dauer bezog.39 In der marxistischen Diskussion über die Rolle der nichteuropäischen Gesellschaften wurden diese v. a. als Lieferanten von Mehrprodukt für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals gesehen,40 und im Rahmen der Imperialismusdiskussion als Lieferanten von Extraprofiten für die syndikalisierte Industrie der kapitalistischen Länder.41 In den nationalen Diskussionen standen Möglichkeiten einer neuen Aufteilung der Welt in Imperien und Einflusszonen im Mittelpunkt langer Debatten.42 Es entstanden jedoch auch umfassende Bemühungen um eine internationale Rechtsordnung – wenn auch nach europäischen Regeln. Trotzdem oder auch deshalb scheiterte dieser Versuch, die angesichts der Glo-

35 Harald Kleinschmidt, Repräsentanten des großen Ganzen. Bemerkungen zu Systemmodellen in Theorien des Weltsystems und ähnlichen Theorien, in: Zeitschrift für Weltgeschichte (2016), Heft 1, 95–133, hier 95–106; Ders., Die Legitimationsfalle. Universal-, Expansions- und Völkerrechtshistoriografie wird kolonialistische Ideologie, Gleichen 2015. 36 A. H. L. Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien (1809), Neuausgabe, Wien 1817. 37 Adolf Rein, Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staatensystem, Darmstadt 1953, 1965. 38 In dem schon zitierten von René König herausgegebenen Handbuch Soziologie von 1957 ist Systemtheorie, außer in einer Notiz zu George C. Homans, S. 42, nicht registriert, verblüffender Weise auch nicht im von Golo Mann mit herausgegebenen Handbuch der Außenpolitik, außer im Lemma Teilungen zu Teilungssystem in Polen nach 1772. 39 Morton A. Kaplan, The International System, in: Ernst Otto Czempiel (Hrsg.), Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Darmstadt 1969, 132–170. 40 Einführend Günter Willing, Akkumulation, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 1, Berlin 1994. 41 Einführend Jan Otto Andersson, Imperialismus, ebd., Bd. 6/1, Berlin 2004. 42 Übersicht: Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 2, Göttingen 1982. In dem Band Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier (Hrsg.), Competing Visions of World Order, New York 2007 kommen diese Stimmen wenig zum Tragen.

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balisierungen notwendige Kooperation zwischen den Mächten zu erreichen, in den beiden Weltkriegen und konkret mit dem Misslingen des Völkerbundes.43 Die USA waren virtuell seit 1917 und faktisch seit 1941 die hegemoniale Macht im globalen Mächtesystem. Sie förderten die Gründung der Vereinten Nationen an dem 1945 wichtigsten Finanzplatz der Welt, New York. In den USA wurde der Begriff Weltgesellschaft seit den 1950er Jahren von Hans Morgenthau und Georg Schwarzenberger benutzt, wenn auch nur gelegentlich. 1968 ersetzte er in der zweiten Auflage seines 1951 erschienenen Buchs „Power Politics. A Study of International Society“ im Untertitel „International Society“ durch „World-Society“.44 Schwarzenberger schränkte aber ein: „… die Welt bildet heute eine Weltgesellschaft … ihre Einheit besteht allerdings mehr materiell als geistig, sie ist objektiv deutlicher realisiert als subjektiv, oder, […] sie ist mehr die Einheit eines Handlungsgebiets als eines Gebiets der Loyalität.“45 Hinzu kam das in der Soziologie seit den 1950er Jahren von Talcott Parsons entwickelte Konzept. Vom einzelnen Akteur aus beschrieben werden in der Systemanalyse die Aktionen einzelner zu „Produkten von gesellschaftlichen Subsystemen […] denen Funktionen zugerechnet werden“. Diese Funktionen von Subsystemen – z. B. der Kultur der Kirche oder der Wirtschaft – erleichtern das Handeln, da sie die außerordentliche Komplexität der Wirklichkeit reduzieren. Andererseits eröffnen sie die Gefahr, dass der Handelnde in der Wahrnehmung des Soziologen hinter der Funktion verschwindet, dass die Funktion selbst zu handeln scheint.46 John W. Meyer ging in einer Arbeitsgruppe in Harvard von der Frage aus, wie das moderne Phänomen der Isomorphie, der Gleichheit bestimmter Strukturen (etwa des Nationalstaats) trotz der verschiedenen Weltkulturen und auch Einkommensniveaus zu erklären ist.47 Vor den 1960er Jahren war „Weltgesellschaft“ in Deutschland kein Diskussionspunkt.48 Das änderte sich in den 1970ern. Theresa Wobbe hat auf Peter Heintz verwiesen, der in der Schweiz und in engen Kooperationen mit der UN in den 1970er Jahren zum Konzept Weltgesellschaft aus soziologischer Sicht kam.49 Vor anderen hat Niklas Luhmann dann die

43 Hierzu Nolte, Kurze Geschichte der Imperien wie Anm. 11. 44 Ernst-Otto Czempiel, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Die Lehre von den internationalen Beziehungen, Darmstadt 1969, XVII. 45 Georg Schwarzenberger, The Study of International Relations, in: Czempiel (Hrsg.), Die Lehre, 108–131, Zitat 110. 46 Klaus Peter Jupp, Systemtheorie in: Harald Kerber/Arnold Schmieder (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Reinbek 1991, 598–603, Zitat 599. 47 Theresa Wobbe, Weltgesellschaft, Bielefeld 2000, 26–38. 48 Das Register des von René König herausgegebenen Fischer-Lexikons „Soziologie“ von 1958 hat keinen Eintrag zu „Welt“. René König (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Soziologie, Frankfurt/Main 1958. Das 1957 von Golo Mann und Harry Pross herausgegebene Fischer-Lexikon Außenpolitik registriert mehrere Beiträge, die mit Welt anfangen, von Weltbürgertum über Weltstaat bis Weltrevolution, aber ebenfalls keine Weltgesellschaft: Golo Mann/Harry Pross (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Außenpolitik, Frankfurt/Main 1957. 49 Wobbe, Weltgesellschaft, 14–22.

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Diskussion beeinflusst. Er argumentierte 1971,50 dass die Veränderungen in Folge der Globalisierung so grundlegend seien, dass tradierte Begriffe ihre Benutzbarkeit verloren hätten. Es sei unmöglich „neue Lagen mit den überlieferten Denkmitteln zu bearbeiten“.51 Luhmann skizzierte das tradierte Denken über die Koinonia, die Gleichheit der Naturausstattung des Menschen und das daraus folgende Konzept der Einheit der Menschheit, als „nicht instruktiv genug, und […] deshalb auf politische Kategorien der Erläuterung und auf moralische der Enttäuschungsabwicklung angewiesen“.52 Er sah in den 1970er Jahren die „Präferenz der kognitiven Erfahrungen“ als Grundzug der neuen Gesellschaft und ein Indiz dafür war für ihn „die Aufgabe des völkerrechtlichen Instituts der humanitären Intervention“ und die ins Moralische erhobene Forderung nach „Anerkennung der Realitäten“.53 Luhmann konstatierte 1975, dass sozialwissenschaftliche Arbeit der Beliebigkeit anheimfalle: „ Die Zusammenschau ist mit dem Makel des Unseriösen behaftet, die Wissensvermehrung selbst mit dem Makel der Zusammenhanglosigkeit“.54 Luhman schlug als Konzept zur Erklärung der Welt den Systembegriff vor und definierte: „Von sozialen Systemen kann man immer dann sprechen, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen sind und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nicht dazu gehörenden Umwelt.“55 Er skizziert drei Arten von Systemen, als erste die bloße Interaktion, als zweite die Gesellschaft als „das umfassende System aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen“. Dies sei heute (also 1975) die Weltgesellschaft. Ihr Problem sei, dass sie sich nicht als Organisation konstituieren könne. Organisation ist für Luhmann insofern der fortgeschrittenste Typus von System, da er die größte Komplexität bearbeiten kann; aber Organisationen setzen den Entschluss zur Mitgliedschaft und die Möglichkeit der Beendigung voraus, was bei der Weltgesellschaft nicht möglich ist. Warum erlangte die Debatte in den 1970er Jahren so große Bedeutung? Die Studentenproteste hatten 1968 ein neues intellektuelles Klima geschaffen, ein Jahr später trafen sich eine halbe Million Menschen zum Musikfestival in Woodstock. Die Reformversuche der Tschechoslowakei hatten 1968 deutlich gemacht, dass die Entwicklungskapazität des „real existierenden“ Sozialismus in Schwierigkeiten gelangte, aber nicht mehr Emanzipation bot. Konkret verbrauchte der sowjetische Militarismus zu viele Mittel, so dass die Einführung 50 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft (1971), in: Ders., Soziologische Aufklärung 2, 6. Auflage Wiesbaden 2009. 51 Ebd., 66. 52 Ebd., 65. 53 Ebd., 68. Vielleicht kann man die Wiederaufnahme der humanitären Intervention und die ins Moralische erhobene Kritik der „Russlandversteher“ seit der Jahrtausendwende im Luhmann’schen Sinn als „Enttäuschungsabwicklung“ interpretieren – Enttäuschung darüber, dass die Weltgesellschaft sich nicht so systemrational entwickelte, wie Luhmann das in den 1970er Jahren vermutete. Aber das greift vor. 54 Niklas Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anmerkungen zur Systemtheorie, in: Ders., Soziologische Aufklärung 2, 9–24, Zitat 9. Das entsprach auch meinem Eindruck in jenen Jahren. 55 Ebd., 10.

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von EDV in die Produktion weithin nicht gelang. Zugleich wuchs weltweit die antiautoritäre Bewegung als Herausforderung für die kapitalistischen Gesellschaften, aber auch die sozialistischen, weil der Habitus disziplinierter Arbeit in Frage gestellt wurde, der für die Industrie entscheidend war. Ökonomisch überholten Japan und Deutschland die USA in der Durchführung der vierten industriellen Revolution, der Einführung von EDV in die Produktion. Und in Asien wurde deutlich, dass die hegemoniale Macht USA gegenüber der Mittelmacht Vietnam militärisch auf der Verliererstraße war; auch wenn es noch einige Jahre dauerte, bis die USA die Niederlage anerkannten. USA und UdSSR, Bundesrepublik und DDR verhandelten miteinander, 1972 wurde SALT I unterzeichnet. Die Aufbruchsstimmung wurde jedoch konterkariert durch die verstärkte Wahrnehmung, dass die peripheren Länder trotz der überall durchgesetzten politischen Souveränität an dem ökonomischen Aufschwung wenig Anteil hatten. Dies wurde zum Problem der erfolgreichen Länder, die sich „Entwicklungspolitik“ zur Aufgabe machten. 1969 plädierte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung für eine jährliche Steigerung der deutschen Entwicklungshilfe um 11 %;56 1970 veröffentlichte Gunnar Myrdal seinen weltweit beachteten Aufruf gegen die „Armut des Volkes“ und erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dafür.57 Nicht zuletzt aber wurde angesichts schnell steigender Weltbevölkerung die Erkenntnis neu formuliert, dass die Ressourcen der Welt endlich sind. 1972 publizierten Dennis und Donella Meadows zusammen mit Erich Zahn und Peter Milling den Bericht über die „Grenzen des Wachstums“, für den auch sie 1973 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielten.58 Die Bruchstücke zu dem neuen Bild der Welt – absehbares Ende des sowjetischen Systems, relativer Abstieg der USA, Ende des Rüstungswettlaufs, Aufstieg Europas und Japans, fortdauernde Armut der „Dritten Welt“ und Ende der Ressourcen – wurden der akademischen Öffentlichkeit durch Bücher vorgestellt, auf welche durch Preise hingewiesen wurde. Sie wurden der allgemeinen Öffentlichkeit durch globale Fernsehreportagen verdeutlicht, welche die Ereignisse von Woodstock bis Vietnam und von Hungerkatastrophen bis zu Luxusorgien dem Zuschauer ins Wohnzimmer lieferten und Empathie oder auch Voyeurismus anheizten. Jeder hat das nackte Mädchen gesehen, das vor einem Napalm-Angriff auf sein Dorf die Straße hinunter läuft. Nichts mehr mit Fausts Osterspaziergang und dem beruhigenden „wenn hinten, fern in der Türkei …“ – Vietnam war im Wohnzimmer. Die Konjunktur des Terminus „Welt-Gesellschaft“ nach 1968 brachte also die intellektuelle Revolution dieser Jahre zum Ausdruck, und der Begriff „System“ wurde sowohl aus der Geschichte internationaler Beziehungen als auch der Systemtheorie der amerikanischen Soziologie übernommen. Damit einher ging die Diskussion darüber, was sich eigentlich veränderte. Wo blieb die Freiheit des Individuums, die 1968 doch gerade betont wurde, im 56 Helmut Falkenstörfer/Klaus Lefringhausen (Hrsg.), Entwicklungspolitische Dokumente, Wuppertal 1970, 13. 57 Gunnar Myrdal, Politisches Manifest über die Armut in der Welt, übersetzt Frankfurt/Main 1972. 58 Dennis Meadows/Donella Meadows/Erich Zahn/Peter Milling, Die Grenzen des Wachstums, Bericht an den Club of Rome, Reinbek 1973.

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Rahmen eines Systems? Verschwand der/die Handelnde in dieser Wahrnehmung ganz hinter seiner Funktion im Rahmen des Systems?59 Die klassische Formulierung dazu war Max Webers Voraussage über das Gehäuse der Hörigkeit, Silvio Vietta hat formuliert, dass wir „dem Netzwerk einer verwissenschaftlich-technischen Welt […] nicht mehr entkommen können“.60 Anthony Giddens hat im Gegensatz zu solchen Vorstellungen, die Freiheit werde durch die Globalisierung eingeschränkt, die Innovationen betont – die Welt werde entfesselt.61 Eine „Standardisierung globaler Regeln und Routinen“, wie Theresa Wobbe schreibt,62 ist nicht übersehbar. Handlungsmöglichkeiten von Einzelnen und Gruppen bleiben aber durchaus bestehen. Vielleicht kann man mit der Hoffnung auf ein Maß zustimmen: Bedingung und Gesetz, und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten …63

beschreibt demnach nur eine von mehreren Bedingungen – folgt man den goetheschen „Urworten“, lassen sich auch die „geprägte Form“ der Ausgangslage, der Zufall, die Liebe und die Hoffnung beschreiben. Aber „Nötigung“ ist eben auch dabei. Wie geht die Historie mit der Vielfalt um? 2. Geschichtsschreibung Am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es sowohl in Deutschland als auch in den USA eine kleine, aber doch gewichtige Gruppe von Historikern, welche Weltgeschichte betrieben und die z. B. in der Propyläen-Weltgeschichte publizierten. Ich skizziere zuerst die Entwicklung in den USA, überwiegend nach der Dissertation von Katja Naumann, welche die Traditionslinien in Forschung und Lehre über außereuropäische Geschichte an den Universitäten Harvard, Chicago und Columbia/New York herausgearbeitet hat.64 Schon während des Ersten Weltkriegs förderte das amerikanische Verteidigungsministerium weltgeschichtliche Themen an den genannten drei Universitäten. Es entstand ein General-History-Course, der dem „Narrativ vom Aufstieg des Westens“65 entsprach. Er wurde aber 59 Jupp, Systemtheorie. 60 Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, Baden-Baden 2016, 13. 61 Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert (1999), deutsch Frankfurt/ Main 2001. 62 Wobbe, Weltgesellschaft, 11. 63 Ernst Trunz (Hrsg.), Goethes Werke Bd. 1, Hamburg 5. Auflage 1960, 359–360, 403–407. Es handelt sich um Verse aus Goethes „Urworte. Orphisch“, „ANATKH, Nötigung“. 64 Katja Naumann: Laboratorien der Weltgeschichtsschreibung: Lehre und Forschung an den Universitäten Chicago, Columbia und Harvard von 1918 bis 1968, phil. Diss. Leipzig 2012. 65 Ebd., 201.

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an allen drei untersuchten Universitäten in den 1930er Jahren durch Diskussionen über die Schwerpunkte von Lehre und Forschung in den Boards und unter den Lehrenden infrage gestellt. In Chicago z. B. wurde in den 1930er Jahren ein „History-of-Civilization“-Kurs eingerichtet, in dem die Geschichte des Westens reduziert und ein umfassender Zivilisationsbegriff eingeführt wurde (Alphabet + Städte + Regierung). Ab den 1950er Jahren wurden in Chicago „Non-Western-Civilization“ Courses eingeführt, die ab 1955 u. a. von Marshall Hodgson angeboten wurden und „die zu einer Arena für das Überlegen darüber wurden, wie außereuropäische Vergangenheit als ein integraler Bestandteil einer allgemeinen Geschichte und dem ‚Westen‘ gleichrangig zu beschreiben“ ist.66 In der allgemeinen Vermehrung historischer Forschung – die Zahl der historischen Dissertationen in den USA stieg von 1882 bis 1970 von zwei auf 1038 – wurde von einem Anstieg der Verbreitung außereuropäischer Themen im Curriculum begleitet; zumindest an den erwähnten Universitäten (an denen ein Fünftel der Dissertationen geschrieben wurde) wurden seit 1945 regelmäßig Lehrveranstaltungen und Kurse zu Themen außer- und osteuropäischer Geschichte angeboten. Bis 1935 galten 5 % der Graduiertenprogramme nicht-westlichen Themen; 2001 waren es etwa 10 %. Der Anstieg außereuropäischer Themen war auch in der Förderung der Lehre deutlich: 1918 lehrte in Chicago ein Professor von 15 außereuropäische Geschichte; 1967 waren es 18 von 58, ihr Anteil an der Professorenschaft wurde also im Rahmen des allgemeinen Ausbaus verdreifacht. Viele dieser Professoren und Lecturers haben die Historiographie ihrer „Area-Studies“ langfristig geprägt. Marshall Hodgson wurde schon erwähnt, Arcadius Kahan und Richard Hellie haben auf die Geschichtsschreibung über Osteuropa großen Einfluss gewonnen, Tshtiag Fussain Qureshi auf die über Indien, Philip Curtin auf die über Afrika. Der Marxist Karl August Wittfogel lehrte an der University of Washington und selbst Evgenij Zhukov, Herausgeber der großen sowjetischen Weltgeschichte, war 1942–1945 Mitglied des Instituts of Pacific Relations, das von der Rockefeller Foundation gefördert wurde. Mehr als der Zeitgenosse in Deutschland ahnte, kamen Diskussionen über marxistische Themen, selbst die über die asiatische Produktionsweise, aus den USA. Die Kritik von einzelnen Gelehrten verhinderte selbstverständlich nicht, dass vor 1968 hauptsächlich das Modell von „Weltgeschichte als der Aufstieg des Westens“ in den Eliteuniversitäten vertreten wurde. 1965/6 konnte William McNeill das europazentrierte „WorldHistory“-Konzept allgemein durchsetzen. 1963 erschien sein epochemachendes Buch, das die Geschichte der Menschheit als „The Rise of the West“ zusammenfasste:67 Alles bewege sich auf die Entwicklung des Westens als den Höhepunkt der Geschichte zu. Aber auch die Kritik an diesem Geschichtsbild kam aus den USA. Der amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein hat 1974 den ersten Band seiner „Geschichte des Weltsystems“ vorgelegt, die inzwischen beim vierten Band angelangt ist und sechs Bände erreichen 66 Ebd., 187. 67 William H. McNeill, The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago 1963, Neuauflage Chicago 1991.

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soll. Wallerstein analysierte die Expansion Europas als die eines Systems, das durch einen frühen Kapitalismus bestimmt ist. Entscheidend war für ihn, dass es keinen Superstaat, kein Imperium gab, das die Wettbewerbsbedingungen, die Märkte zentral regelte bzw. durch Zölle und Abgaben eingrenzte, sondern dass in diesem System von Anfang an auch die Staaten in Konkurrenz miteinander standen. Er gliederte die Stelle der einzelnen Staaten nach ihrer Rolle in der globalen Arbeitsteilung des 16. und 17. Jahrhunderts: 1. das Zentrum in Westeuropa als Organisator des Welthandels und Produzent von Fertigwaren, 2. die Halbperipherie von Spanien bis Italien als niedergehende alte Zentrumsregion, 3. die Peripherie von der Karibik bis Polen als Lieferant von schweren Massengütern wie Molasse oder Getreide sowie 4. die Außenwelt von China und Russland bis zum Osmanischen Reich und den nicht erschlossenen Prairien in Nordamerika, die vom Weltsystem noch nicht wesentlich erfasst waren. Wallersteins Konzept wurde von zwei Seiten aus kritisiert. Von westeuropäisch marxistischer Seite z. B. wurde eingewandt, dass er den Unterschied zwischen Industriekapitalismus und Handelskapitalismus verwischt habe, und von mehreren nicht-marxistischen Historikern, dass er das System zum Akteur gemacht habe. Christian Lekon hat gerade auf Anthony Gibbons abweichendes Konzept hingewiesen.68 Meine Kritik, die 1982 in englischer Sprache erschien, lag in der Mitte. Mir war Wallersteins Ansatz zu ökonomistisch, ich sah andere Subsysteme wie politische Verfassung, Religion und Ideengeschichte ebenfalls als geschichtswirksam an. Meiner Meinung nach musste der Systembegriff viel weiter gefasst werden. Sowohl aus Gründen der Religion als auch aus solchen des Handels (mit Marinebedarfsgütern) sehe ich ganz Osteuropa einschließlich Russlands im 17. Jahrhundert als Region halbperipherer Staaten an.69 Die amerikanische akademische Welt hat bei ihrer Wendung zur Weltgeschichte auch deutsche Ansätze aufgenommen, bleibt aber doch im Kern eine endogene Entwicklung der USA. Sie fand ein Publikum, weil sie der realen globalen Verflechtung der USA entsprach, und fand Financiers in den Stiftungen von superreichen Unternehmern wie Rockefeller oder Ford.

68 Christian Lekon, Hadhramaut and its Migration to the Indian Ocean Rim. A case of periphery-periphery relations?, in: PEWS Vol. 2, 28–50. 69 Hans-Heinrich Nolte, Zur Stellung Osteuropas im internationalen System der Frühen Neuzeit. Außenhandel und Sozialgeschichte bei der Bestimmung der Regionen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 (1980), 161–197; Übersetzung ins Englische: Review VI/1 (1982), 25–84.

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In den USA wurden die einzelnen Daten zu dem Geschichtsbild des „Aufstiegs des Westen“ aus dem Curriculum „Western Civilization“ zunehmend von gelernten Historikern beforscht. Lehrer und Professoren, welche amerikanische Diplomaten und Soldaten für Kriege in Korea oder Vietnam vorbereiteten oder an amerikanischen Universitäten in Istanbul oder Beirut lehrten, gründeten 1982 die „World History Association“ (WHA), die sich schnell zu einer großen, aus privaten Mitteln finanzierten Gesellschaft mit eigenen Journalen und jährlichen Konferenzen entwickelte und übrigens bei Gelegenheit auch Jahrestagungen in Europa oder Japan abgehalten hat. Das hier durchgesetzte Narrativ des siegreichen Westens hat lange die weltgeschichtlichen Abteilungen der führenden amerikanischen Universitäten bestimmt und ihre Berufungspolitik geprägt. Ein kritisches Geschichtsbild der Rolle des Westens in der Weltgeschichte als eines Zentrums, das den Mehrwert aus den peripheren Ländern abschöpfte und dabei immer reicher wurde, während die Peripherien verarmten, konnte nur in der Soziologie einen akademischen Stützpunkt aufbauen. Die Vorwürfe der Historiker, dass einzelne Fakten nicht stimmten, prallten an den Soziologen genau so ab, wie die Vorwürfe der Soziologen an den Historikern, dass sie reine ‚Faktenhuber‘ wurden. Die beiden großen politischen Konzepte zur Weltentwicklung – der Neoliberalismus auf der einen und die Dependencia-Theorie auf der anderen Seite – waren also auch als Geschichtsbilder vertreten, allerdings von relativ wenigen Personen wie McNeill und Wallerstein, die keine Lehrstühle für Weltgeschichte hatten und sich gegenseitig eher ablehnten als rezipierten. In Deutschland gibt es eine alte Welt- und Universalgeschichtsschreibung, die von Einzelnen wie Jakob Burckhardt oder Jörg von Wartenberg stammt. Die Entwicklung ist mit Karl Lamprecht verbunden, auf den Matthias Middell verwiesen hat.70 Der Nationalsozialismus machte wissenschaftliche Diskussion unmöglich, indem alle globale Geschichte dem Rassenprinzip zugeordnet wurde. Deutschland war in der Periode des Kalten Kriegs auch intellektuell von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Ost-West-Konflikt geprägt. Auch die deutsche Geschichtswissenschaft stritt um diese Themen. Inhaltlich bedeutete das, dass wir uns an einem Geschichtsbild abarbeiteten, das die Welt in großen Blöcken sah, während in der politischen und ökonomischen Realität die Hegemonie der USA das prägende Faktum bildete. Über die USA wurde aber sehr wenig geforscht.71 Es gab auch, z. B. in Heidelberg, Institute für bestimmte Regionen. Aber es gab keine Fachleute für die Diskussion der Zusammenhänge; über die wurde viel zu schnell nach vorgefertigten Konzepten entschieden. Im Nachkriegsdeutschland hatten weltgeschichtliche Ansätze es auch deswegen schwer, weil sie mit der methodischen Grundforderung der Geschichtswissenschaft nach Archiv70 Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung, Bd. 1–3, Leipzig 2005. 71 Gerhard Weinberg, Wo bleibt amerikanische Geschichte an deutschen Universitäten?, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 2 (2001), Heft 2, 135–136.

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arbeit schwer zu verbinden waren und noch sind. Die „unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne“,72 welche in Archivarbeit entsteht, behindert zusammenfassende Ansätze. Hinzu kam im deutschen Verständnis des Kalten Kriegs eine antisowjetische Richtung auch der Geschichtsschreibung. Für viele galt Weltgeschichtsschreibung als marxistisch, und in der Tat waren die umfassendsten Arbeiten zur Weltgeschichte, die nach dem Krieg in deutscher Sprache vorgelegt wurden, DDR-Übersetzungen der sowjetischen weltgeschichtlichen Werke, meist herausgegeben eben von Zhukov. Diese Arbeiten transportierten das Geschichtsbild eines gesetzmäßigen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Da ich – wenn ich als Zeitzeuge berichten darf – einerseits von den USA aus einem Jahr als Austauschschüler eine konkrete Vorstellung besaß und andererseits als Osteuropahistoriker von 1966 an regelmäßig die UdSSR besuchte, konnte ich dem Konzept der Blöcke nicht wirklich folgen. Die Sowjetunion war m. E. ein halbperipheres Land, das die amerikanische Entwicklung „einholen und überholen“ wollte und angesichts ihrer Wirtschaftskraft zu viel Geld in die Rüstung steckte, um dabei Erfolg zu haben. Ich fand den Versuch des Nachholens sympathisch und kritisierte sowohl den sowjetischen Militarismus als auch die westeuropäische Übertreibung der „Gefahr aus dem Osten“, die nach den Daten z. B. von SIPRI zu keiner Zeit so gegeben war. Diese Perhorreszierung der Sowjetunion versperrte weithin nicht nur den nüchternen Blick auf die Grenzen des sowjetischen Potentials, sondern auch das Interesse an der Welt jenseits des Westens. Da mir ein Verlag ein Angebot machte, publizierte ich 1982 eine Weltgeschichte, die an meiner Wallerstein kritisch rezipierenden Version des Weltsystemkonzepts orientiert war. Das Buch wurde in der rechten Öffentlichkeit als „sowjetophil“ verschrien und im Fach nicht rezipiert, aber von Lehrern und anderen Interessierten ordentlich gekauft und erlebte 1993 eine zweite Auflage.73 Im Fach gab es in den 1980er Jahren keine Weltgeschichte. Meine eigene Forschung habe ich dann versucht, im Anschluss an Arbeiten über „Gefälle“ innerhalb von Staaten, „Inneren Peripherien“ von Andalusien bis Tatarstan und Irland bis Mecklenburg zusammenzufassen,74 wozu auch methodisch Neuland zu betreten war.75 Das Problem der inneren Peripherien scheint mir gegenwärtig in der EU aktuell zu sein,76 ist 72 Gert Zang, Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne (Arbeitskreis für Regionalgeschichte), Konstanz 1980. 73 Hans-Heinrich Nolte, Die eine Welt. Abriß der Geschichte des internationalen Systems, Hannover 11982, Hannover 21993. 74 Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.), Internal Peripheries in European History (Zur Kritik der Geschichtsschreibung 6), Göttingen 1991; Ders. (Hrsg.), Europäische innere Peripherien im 20. Jahrhundert (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft  23), Stuttgart 1997; Ders. (Hrsg.), Innere Peripherien in Ost und West, Redakteur Klaas Bähre (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 42), Stuttgart 2002. 75 Hans-Heinrich Nolte, Comparing Internal Peripheries: a Plea for Non-linear Research, in: Bouda Etemad u. a. (Eds.), Towards an International Economic and Social History (Mélanges à Paul Bairoch), Genf 1995, 75–83. 76 Hans-Heinrich Nolte, Zentrum und Peripherie in Europa aus historischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (1. 2. 2013) 6, 36–41. Online: http://www.bpb.de/apuz/154386/zentrum-und-peripherie-ineuropa-aus-historischer-perspektive?p=all (abgerufen 7. 2. 2018).

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aber z. B. auch in China zu beobachten.77 Die Forschung über innere Peripherien wird heute wieder aufgenommen.78

IV. Die Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren Die Fixierung auf den Ost-West-Konflikt nahm in den 1990er Jahren ab, und zwar weniger unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der UdSSR als dem des Aufstiegs Asiens. 1990 gründete die WHA die Zeitschrift „Journal of World History“, in deren erster Nummer William H. McNeill in einer Reprise seines berühmten Buchs von 1963 schrieb, dass er die Meinung, alles laufe auf den Westen zu, nur vertreten konnte, weil er damals noch nichts über die Dynastie der Song in China gelesen hatte.79 Nun kam, v. a. über die WHA, zum Tragen, dass an den großen Universitäten der USA, von Harvard bis Yale und Columbia/New York bis Chicago, seit Jahrzehnten über Weltgeschichte geforscht wurde. Die zweite Welle der Weltgeschichte aus den USA ließ sich aber auch in Deutschland nicht mehr übersehen. Mit dem Ende der UdSSR und der Wiedervereinigung verlor der Ost-West-Konflikt an Interesse und zugleich, entgegen einigen Ängsten vor einer Wiederauferstehung deutscher Macht, wurden die Grenzen des deutschen Potenzials deutlich. Die wiedervereinigte Bundesrepublik verfügt, um Herfried Münkler zu zitieren, von den „Sorten der Macht“ zwar über Ökonomie, aber eben weder über militärische noch diplomatische noch kulturelle Macht von globaler Bedeutung.80 Deutschland musste sich also endlich daran gewöhnen, dass es eine Mittelmacht ist, die in vielen Hinsichten von anderen abhängt. Nun wurde auch deutlich, dass die akademische Ausstattung der Weltgeschichte nicht ausreicht. Jürgen Osterhammel beklagte 1995, dass die – wie er es mit dem damals geläufigen Begriff nannte – „außereuropäische Geschichte“ an den deutschen Universitäten nicht institutionalisiert war.81 Eine Reihe von Sammlungen meist außerdeutscher Autoren bereiteten den Wandel vor, z. B. publizierten Wilfried Loth und Jürgen Osterhammel im Jahr 2000 Berichte französischer, britischer und amerikanischer Fachleute über Geschichte internationaler Beziehungen in diesen Ländern.82 Sebastian Conrad und Shalini Randeria publizierten 2002 theoretische Ansätze des Postkolonialismus, u. a. Fernando Coronils Argumentation 77 Hans-Heinrich Nolte, Innere Peripherien: Europa und China. Review in: Zeitschrift für Weltgeschichte 13 (2012), Heft 1, 232–247. 78 Klemens Kaps, Internal Peripheries in Global Comparison, Tagung 20./21. 10. 2017 Wien, vgl. http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/termine/id-30985 (abgerufen 15. 1. 2017). 79 William H. McNeill, The Rise of the West after Twenty-Five Years, in: Journal of World History 1 (1990), 1–21. 80 Herfried Münkler, Macht in der Mitte, Hamburg 2015. 81 Jürgen Osterhammel, Außereuropäische Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995) 11, 253–276. 82 Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte, München 2000.

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für nichtimperiale geohistorische Kategorien, die Thesen des Ehepaars Comaroff zum Hegemoniebegriff und Dipesh Chakrabartys Votum, Europa solle sich als Provinz der Welt begreifen.83 Meine eigene „Weltgeschichte vom 15.–19. Jahrhundert“, die 2005 in Wien erschien, wurde als wissenschaftliches Werk besprochen und nicht mehr einfach diffamiert bzw. nicht zur Kenntnis genommen. Den Umschwung brachte Jürgen Osterhammels schon im Wortsinn großes Buch „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“, das 2009 in München erschien.84 Das Buch wurde in allen Journalen und ganz überwiegend positiv besprochen. Osterhammel erhielt dafür den Leibniz-Preis, der es ihm ermöglichte, in Konstanz ein Zentrum der Weltgeschichtsforschung aufzubauen. Weitere fest etablierte Lehrstühle und Institute oder Abteilungen wurden in Wien, Leipzig und Berlin eingerichtet, an anderen Universitäten erhielten Lehrstühle bei der Ausschreibung zusätzliche Denominationen.85 An anderen Hochschulstandorten, etwa in Hannover oder Erfurt, ist die Etablierung von Weltgeschichte gescheitert, aber es gibt heute Fachleute für die Geschichte des Zusammenhangs. Mit der vierten Globalisierungswelle stieg das Interesse des deutschen Staates, selbst über Informationen zu verfügen und diese auch der steigenden Zahl der im Ausland tätigen Bürger zur Verfügung zu stellen. Das geht nicht allein über Spezialinstitute z. B. zu Indien, sondern erfordert zusätzlich Vertreter der Weltgeschichte in Forschung und Lehre der Universitäten, Fachleute für die Erarbeitung der Zusammenhänge. Nicht nur die einzelnen Details, sondern mehr noch der Stellenwert und Kontext in einem breiteren Rahmen wurden an einigen Orten in die akademische Ausbildung integriert; Weltgeschichte wurde institutionalisiert.

V. Die Soziologie seit 2010 Die soziologische Forschung ist auf globalem Niveau fortgeschritten. Lange waren Versuche, globale Zusammenhänge zu beschreiben, auf nationale Erhebungen von Daten angewiesen,86 da es nur wenige global gewonnene gab. Dies Problem der „Untersuchungseinheiten“ wurde diskutiert,87 aber es ließ sich selbstverständlich nicht von Einzelkämpfern lösen; man benötigt global agierende Forschungsinstitutionen dafür. Hier gibt es wesentliche Veränderungen, herausgegriffen seien Forschungen zur Ungleichheit.

83 Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt/Main 2002. 84 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 85 Hans-Heinrich Nolte, Zur Institutionalisierung von welt- und globalhistorischer Forschung und Lehre im deutschsprachigen Raum: www.vgws.org/files/vgws_dp_007.pdf (abgerufen 7. 2. 2018). 86 Vgl. noch Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien – Köln – Weimar 2009, 237–280. 87 Immanuel Wallerstein, Die Sozialwissenschaften ‚kaputtdenken‘, deutsch Weinheim 1995, 271–323.

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Kenneth Scheve (Stanford) und David Stasavage (New York)88 vergleichen die Steuerpolitik verschiedener Staaten und begründen den Anstieg der Steuerhöchstsätze als Folge des Ersten Weltkriegs, in dem „kompensatorische“ Steuern für die Belastung aller mit der auf allgemeiner Einberufung beruhenden Volksarmeen und Kriegsgewinnen erhoben wurden. Gemessen an den Steuerhöchstsätzen in 20 westlichen Ländern stiegen die Einkommenssteuern von höchstens 5 % 1900 auf um 60 % 1950 und sanken ab den 1990er Jahren auf unter 40 %. Der Anstieg der Steuer am GNP von 9 % auf 20 % zwischen 1900 und 1950 ging also nicht zuletzt auf Kosten der Reichen.89 Mit dem Ende der Volksarmeen verliere das Argument an Gewicht. Scheeve und Stasavage tragen also Argumente vor, welche die Differenz reich und arm als normal erscheinen lassen. Manuela Boatcă90 (Freiburg) kritisiert dagegen die ältere soziologische Literatur zur Ungleichheit, weil sie Nationalstaaten als Untersuchungseinheiten zugrunde gelegt hat und das in der Aufklärung entwickelte Bild des Orients als faul und rückständig weitergetragen hat. Das Orientbild legitimierte u. a. die Mission und wurde in das Frauenbild eingetragen. Sie folgte der mit Bielefelder Forschungen verbundenen Analyse der „Hausfrauisierung als dominante Tendenz der Weltwirtschaft“.91 Konkret wird Boatcăs Kritik an Marx und Weber in der Analyse von „Bürgerschaft und soziale Schließung“. Bürgerschaft habe nicht nur ausschließende, sondern auch kommunale Gleichheit fördernden Charakter (Kindergärten, Schulen etc.), so dass sie im Verhältnis zum Ausland zu einem Instrument zur Festigung globaler Ungleichheit werden könne. Sie wird in der Tat zu einem ererbten Eigentum, das man auch kaufen kann – wie das viele Russen und Chinesen in Zypern, Ungarn oder Griechenland auch tun. Malta z. B. verkauft sein Bürgerschaftsrecht für 650.000 € je Kunde und erhöhte die Summe nach einigen Stipulationen aus Brüssel auf 1.150.000 €.92 Anthony Barnes Atkinson, der in Cambridge arbeitet, hat eine bewusst für den NichtÖkonomen geschriebene politische Kampfschrift gegen die Ungleichheit vorgelegt.93 Er geht von den jeweiligen Nationalökonomien aus und zeigt z. B. (S. 29), dass in den USA zwischen 1913 und 2013 der Gini-Koeffizient seit Anfang des 20. Jahrhunderts sank, jedoch von den 1980er Jahren an wieder stieg, so wie der Anteil des obersten 1 % am Einkommen (1913 und 2013 wieder knapp unter 20 %). Es war aber keine Rückkehr zu den Vorkriegsbedingungen: Der Bevölkerungsanteil, der unter der offiziellen Einkommensgrenze lebt, sank von 35 % in den 1940er Jahren bis 1970 auf 10–15 % und stieg in den letzten Jahren nicht wieder an, sondern pendelt zwischen diesen beiden Margen. Er vergleicht den Gini88 Kenneth Scheve/David Stasavage, Taxing the Rich. A History of Fiscal Fairness in the United States and Europe, New York 2016. 89 Ebd., 10. 90 Manuela Boatcă, Global Inequalities beyond Occidentalism, Farnham 2015; London 2016. 91 Ebd., 53. 92 Ebd., 194–195. 93 Anthony Barnes Atkinson, Ungleichheit. Was wir dagegen tun können (2015), deutsch Stuttgart 2016, 474, „Das Ausmaß der Ungleichheit ist den Menschen heute bewusster als jemals zuvor“.

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Koeffizienten u. a. zwischen Schweden (24 %), den USA (36 %) und China (50 %) oder im Kontext eines Ausflugs in die globale Ungleichheit das BIP für Indien, China, Großbritannien und die USA zwischen 1820 und 2000, wobei er das bekannte Ergbnis bestätigt – die Daten lagen 1820 noch relativ nah beieinander, danach stagnierten Indien und China, aber ab 1970 holten sie auf.94 Das wichtigste Buch dieser neuen Forschungen ist wohl das von Branko Milanović,95 der, gestützt auf das Luxembourg Income Study Center, Einkommensungleichheiten auf globaler Ebene beschrieben sowie den Aufstieg der ‚globalen Mittelschicht‘ in China, die Stagnation der alten Mittelschichten „in den reichen Ländern“ und die Entstehung einer ‚gobalen Plutokratie‘ herausgearbeitet hat. Wichtig ist u. a. sein Ergebnis, dass der Anteil des superreichen 1 % am globalen Welteinkommen 2008 bei 15,7 %96 lag und dass dieses oberste Prozent mit 19 % auch den größten Anteil am Einkommenszuwachs der Jahre 1988–2008 erzielt hat.97 Die Superreichen wurden also während der letzten Globalisierung noch reicher. Seine eingehend beschriebenen Methoden erlauben es Milanović sogar, zu berechnen, welche Anteile dieses obersten einem Prozent welche Staatsangehörigkeit besitzen – von der Bevölkerung der USA sind es 12 %, von jener der Schweiz und Singapurs jeweils 9 %, von der Luxemburgs und Kanadas 7 %, von der Deutschlands und Zyperns 2 %.98 Milanović meint übrigens, dass die Ungleichheit wohl nicht den Kapitalismus an sich, wohl aber den „demokratischen Kapitalismus“ bedroht und stellt den Zulauf der nationalistischen Parteien seit dem Jahr 2000 in diesen Zusammenhang.99

VI. Institutionalisierung als Indiz Was bedeutet die zunehmende Institutionalisierung von globaler Forschung in den Fächern Geschichte und Soziologie sowohl in den USA als auch in Deutschland für die Frage nach der Weltgesellschaft? Selbstverständlich ändert sie nichts an den Niederlagen z. B. der globalen Umweltbewegung, auf die Joachim Radkau100 verwiesen hat, aber sie macht doch deutlich, dass größere Teile des wissenschaftlichen Establishments das Paradigma Nation verlassen haben. Institutionalisierung wird hier als Indiz dafür verstanden, dass ein großer und zeit- oder teilweise politisch bestimmender Sektor der Öffentlichkeit mit angemessenen wissenschaftli 94 Ebd., 34, 61.   95 Branko Milanović, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, deutsch Frankfurt/Main 2016.   96 Ebd., 47.  97 Ebd., 33.  98 Ebd., 45.  99 Ebd., 202–221, Zitat 202. 100 Auf der Hildesheimer Tagung hielt Joachim Radkau einen Vortrag zur globalen Problematik der Ökologie, den er aber leider nicht verschriftlicht vorgelegt und somit zum Druck zur Verfügung gestellt hat.

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chen Mitteln versucht, die Globalisierung zu begreifen. Umgekehrt kann man sagen, dass die Wendung der neuen Nationalisten gegen das Establishment auch in den Wissenschaften reale Anknüpfungspunkte hat: Die Nationalgeschichte hat ihre Ausschließlichkeit verloren. Die Durchsetzung des neuen Paradigmas geschah nicht aus Überheblichkeit gegenüber älteren Ansätzen und auch nicht aus Abwendung von Strategien nationaler Integration, sondern weil die tradierten Ansätze nicht ausreichen, um aus der Geschichte kommende Gegenwart adäquat zu beschreiben. Geschichtsforschung setzt immer voraus, dass man die Sprachen, Schriften und Gewohnheiten eines früheren oder gleichzeitigen, sei es durch chronologische, sei es (vielleicht außerdem) durch geographische Distanz fremden Lebens kennen und verstehen lernen muss. Je weiter man sich von der gegenwärtigen Nation entfernt, desto mehr verschiedene Lebensformen und Ordnungen lernt man kennen. Aber wie die vielen Daten ordnen, die man gegebenenfalls findet? Das erste aus den USA kommende Ordnungsmodell war liberal: Der Westen hat den alleingültigen historischen Weg gefunden, auf dem die anderen Ländern folgen müssen, wenn sie ebenfalls frei und wohlhabend werden wollen. Dieses Hinterherlaufen war in Staffeln geordnet – zuerst England, dann eine zweite Staffel mit den Beneluxstaaten und Frankreich, dann die dritte Staffel mit den USA und Deutschland. Das kritische Gegenmodell, das von der Dependencia-Theorie ausging, wurde v. a. in der Soziologie vertreten: Der Weg des Westens sei in einem solchen Ausmaß auf Kosten der peripheren Länder durchgesetzt worden, dass er nicht wiederholbar sei. Die Länder der „Dritten Welt“ müssen zum Nachholen andere Wege gehen als die erste und zweite „Staffel“ oder ganz auf das Ziel verzichten. Erst mit der Institutionalisierung werden diese Konzepte gemeinsam diskutiert und gegeneinander gewogen. Erst jetzt wurde aber auch deutlich, welche Verengung in diesen Konzepten liegt. Ein Beispiel, das am einfachsten von der Religionsgeschichte her zu schreiben ist, aber ohne Rekurse auf die National- und Weltgeschichte, ohne „Entanglement“ mit Imperial- und Systemgeschichte nicht erklärungskräftig wäre, sind die anfangs erwähnten muslimischen Wallfahrer aus Moskau. Eine der muslimischen Ethnien in Russland101 sind die Tataren.102 Seit dem 16. Jahrhundert gab es zwei tatarische Vorstädte an der Moskva. Nicht in den befestigten Zentren der russischen Städte, den Kreml, aber überall in den Vorstädten und auf dem flachen Land gab und gibt es Tataren. Einige waren Adlige, die über russische Bauern verfügten und in den russischen Armeen als Krieger dienten.103 1568, nach einem vergeblichen Versuch der Osmanen, Astrachan zu erobern, einigten sich Sultan und Zar, die Wallfahrten

101 Hans-Heinrich Nolte, Geschichte Russlands, Stuttgart 3. Auflage 2012; Ders./Bernhard Schalhorn/Bernd Bonwetsch (Hrsg.), Quellen zur russischen Geschichte, Stuttgart 2015 [Folgend Quellenbuch]. 102 Andreas Kappeler, Russlands erste Nationalitäten, Köln – Wien – Weimar 1982; M. Z. Zakiev, Istorija tatarskogo naroda, Moskva 2008. 103 Hans-Heinrich Nolte, Neuzeitlicher Kulturtransfer zwischen Islam und Christenheit: Politik, Militär, Religion, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 8 (2007), Heft 1, 105–130.

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nicht zu behindern. Es gab Moscheen und Medresen, also muslimische Hochschulen, an der Wolga.104 Das war durchaus anders als in Westeuropa, aber selbstverständlich entstanden auch hier Probleme.105 Heute gehört die Republik Tatarstan zu den stabilsten Mitgliedern der Föderation.106 In der Gegenwart leben über zwei Millionen Muslime in Moskau. Die Homophobie in Putins autoritärem Staat stützt sich auch darauf, dass Homophilie im Islam verboten ist. Einige der reichsten Oligarchen sind Muslime. Aber auch die Masse der Unterschicht in Moskau besteht aus Muslimen: Saisonarbeiter aus Zentralasien, die z. T. ohne Papiere in Moskau leben und jede Arbeit annehmen müssen. Sie senden einen großen Teil ihres Lohns in die Heimat; 2012 wurde geschätzt, dass von den sieben Millionen Einwohnern Tadschikistans etwa eine Million in Russland arbeitet und dass ein Drittel der Haushalte in Tadschikistan von den „remittances“ der Saisonarbeiter vollständig abhängig ist.107 Im Rahmen der Weltgeschichte gehört das Beispiel einmal in die Geschichte religiöser Toleranz, zum andern in die Geschichte der Imperien, aber auch in die der Werbung von Fachleuten aus anderen Ethnien und Religionen im Rahmen des Systems. Weiter gehört die größere Toleranz in Russland zur Geschichte der Konfessionalisierung und der damit zusammenhängenden Sozialdisziplinierung, die in Russland nicht so systematisch durchgesetzt wurde wie im Westen – auch, weil es im Lande so viele Nichtorthodoxe gab. Bei den gegenwärtigen tadschikischen Einwanderern liegt der Vergleich mit den deutschen Hollandgängern vom 17. bis ins 19. Jahrhundert nahe, oder der mit den Mexikanern, den Wetbacks, die über den Rio Grande in die USA kommen. Es liegt nahe, Massenmigration von Arbeitsuchenden in die Industriegebiete als Regelhaftigkeit des modernen Weltsystems zu beschreiben,108 wenn man dabei nicht übersieht, dass Migration von Beginn der Menschheit an ein konstituierendes Merkmal für diese war.109 Heute leben Millionen von Arbeitsmigranten illegal in anderen Ländern. Viele Regierungen werden gedrängt, die Illegalen zwangsweise zu vertreiben, aber meist gibt es zu viele Bürger, die ein Interesse an ihrer extrem billigen Arbeit haben, so dass es de facto selten zur Ausweisung kommt. Der jetzige Präsident der USA will das ändern. Auch bei den Russen plädiert etwa die Hälfte der 104 Hans-Heinrich Nolte, Religiöse Toleranz in Rußland 1600–1725, Göttingen 1969; Ders., Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 17 (1969), 494– 530. 105 Vgl. allgemein Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, München 1992. In dem Bemühen, eine Armee ganz nach westeuropäischem Stil zu haben, verbot Peter der Große muslimischen Adligen den Dienst in seinem Heer – stattdessen mussten sie das Holz für die Flotten des Imperiums schlagen. Erst unter Katharina der Großen erhielt der muslimische Adel seinen alten Status zurück. 106 Quellenbuch Nr. 7.6–7.8. 107 Quellenbuch Nr. 7.41. 108 Karl Husa/Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hrsg.), Internationale Migration, Frankfurt/Main 2000; TerryAnn Jones/Eric Mielants (Eds.), Mass Migration in the World-System, Boulder/Colorado 2010. 109 Nayan Chanda, Bound Together. How Traders, Preachers, Adventurers and Warriors Shaped Globalization, New Haven/Connecticut 2007; vgl. systematisch ab der Neuzeit Jochen Oltmer, Migration, Berlin 2017.

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Bevölkerung für Ausweisung der illegalen Tadschiken;110 ob der Präsident Russlands diesen Trend engagiert zu seiner Politik machen wird, ist noch nicht ganz sicher. Modern ist dies Moskau fraglos, auch und gerade mit den illegalen Saisonarbeitern, aber es ist doch eine ganz eigene Art von Modernität.

VII. Politik und Wissenschaft Weltgeschichtsschreibung ist in den USA in Kooperation von privaten Eliteuniversitäten, Stiftungen und Regierung früher entstanden als in Deutschland, aber wenn man sich vor Augen führt, dass die Dampfschiffe schon im 19. Jahrhundert Millionen Migranten nach Amerika und amerikanisches Getreide nach Europa brachten, ist Weltgeschichte eigentlich auch in den USA spät entstanden. Historiker sind selten von Geburt an reich, sie benötigen ein Gehalt und die Gesellschaft muss erst mal begreifen, dass man sie braucht und dann auch bezahlen muss. Und zwar nicht anstelle der Landeshistoriker, der Nationalhistoriker und der Europahistoriker, sondern zusätzlich. Und weil das Zeit braucht, fliegt die Eule der Minerva erst in der Dämmerung. Kann der Globalhistoriker trotz der späten Stunde etwas für die Politik tun, über das hinaus, was Fachleute für Indien oder Brasilien, deutsche Offiziere für Afghanistan oder Mali über den Umgang mit einer fernen Kultur lehren? Meines Erachtens ja. Ein aktuelles Beispiel betrifft den Umgang mit Nationalbewegungen. Weltgeschichtlich gesehen geht z. B. Liah Greenfield davon aus, dass England die erste moderne, auf Partizipation und Integration eines großen Teils der Bürger beruhende Nation war.111 Es gibt vormoderne Nationen, z. B. die polnische Adelsnation, aber die moderne Nation ist zusammen mit dem Weltsystem entstanden und nicht gegen es. Die Moderne beruht auf einem Spannungsverhältnis zwischen nationaler Integration und globalen Regelungen, das sich am ehesten in einer Union organisieren lässt. Nur wenn man das Spannungsverhältnis zwischen Autonomien und Kooperationen im politischen System angemessen abbildet, kann man auf langfristig stabile Unionen hoffen. Die Spannung zwischen Nationen und Union scheint zurzeit den Zusammenhalt der EU zu gefährden. Bekanntlich ist der Versuch vieler Europäer, eine europäische Verfassung zu schaffen, v. a. am Votum der Franzosen und Niederländer im Jahre 2005 gescheitert. Statt diese Voten anzuerkennen und den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, begann die Brüsseler Funktionärselite die nationalen Oppositionsbewegungen zu ignorieren und gegen weitere Integrationsbestrebungen auszuspielen, wenn ich Michael Gehler so zusammenfassen darf,112 110 Quellenbuch 7, 40 f. 111 Liah Greenfield, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge/Massachusetts 1992. 112 Michael Gehler, Deutschland als neue Zentralmacht, in: Ders./Paul Luif/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Die Dimension Mitteleuropa in der Europäischen Union, Hildesheim – New York – Zürich 2015, 25–78.

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um doch auf diese Weise zu unionsweiten Regelungen zu kommen. Allerdings ging das auf Kosten eines allgemeinen EU-Verdrusses, der schließlich offen nationalistische Opposition und Widerstand gefördert hat. Es wäre nichts gewonnen, wenn die Nationen entmachtet würden, sondern kommt es umgekehrt darauf an, ihre Stärken in das politische Mehrebenen-System einzubringen. Die durch es gesicherten Autonomien bilden eine Grundlage für die Erfolge der europäischen Mächte bis ins 20. Jahrhundert, die im Zusammenwirken mit asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Handlungssträngen zur Weltgesellschaft der Gegenwart geführt haben. 1. Kommune 2. Land, Bundesstaat 3. Nation 4. Großregion, Kontinent (für Deutschland: EU) 5. UNO Selbstverständlich muss jede Union, wie überhaupt jede friedfertige, nicht auf Expansion bedachte Staatsinstitution, eine feste Grenze haben – schon damit die nicht zur Union gehörenden Staaten damit rechnen können.113 Selbstverständlich muss die Union ihre Peripherien stützen.114 Vor allem aber muss sie offen bleiben für den Diskurs mit anderen Unionen und nicht zuletzt für die Vereinten Nationen. Damit zu einem anderen Problem – der Reform der UNO.115 Auch in dieser Frage ist ein Rekurs auf Geschichte bedenkenswert. Die Verfassung der Union der Vereinigten Staaten gilt als eine der erfolgreichsten, und in ihr ist die Spannung zwischen einzelnem Staat und Union in zwei Kammern gelöst: 1. in der ersten ist jeder Staat mit der gleichen Anzahl von Vertretern repräsentiert Stimme vertreten; 2. in der zweiten wird nach der Zahl der Bewohner jeden Landes gewählt, so dass die bevölkerungsreichsten Länder die stärksten Vertretungen haben. Ein nächster Punkt ist die begründete Aussage der Geschichtswissenschaft, dass die Nachkriegszeit vergangen ist. Die Privilegien der Sieger von 1945, die Sonderrechte der USA, Russlands, Chinas, Großbritanniens und Frankreichs sind überholt. Es müsste neue ständige Mitglieder geben, v. a. Indien und Brasilien. Und das Vetorecht sollte abgeschafft werden – es hebelt die Ansätze zu einer Rechtsordnung der Welt aus. Die USA griffen den Irak ohne

113 Plädoyer in der Union, zu der ich gehöre: Hans-Heinrich Nolte, Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (22. 11. 1995), 3–11. 114 Nolte, Zentrum und Peripherie, 36–41. Meiner Einschätzung nach sind zurzeit die Mittel für die Unterstützung der inneren Peripherien der Union, also insbesondere des europäischen Südens, nicht ausreichend, was Folgen für den Zusammenhalt hat. 115 Einführend: Klaus Dieter Wolf, Die UNO, München 2005, 107–123.

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vorangehendes Mandat an und Russland annektierte die Krim, ohne Intervention der UN fürchten zu müssen. Die Weltgesellschaft kann nur mit Autonomien funktionieren, sie erfordert aber auch die Bereitschaft zu Solidarität und zur Einhaltung der beschlossenen Regeln. Dies gilt für die EU, aber eben auch für die Ebene darüber, die Weltorganisation, wie für die Ebene darunter, die Nationen.

VIII. Schlussfolgerungen 1. Ja, wir befinden uns in einer Weltgesellschaft. 2. Es verdeutlicht Zusammenhänge, wenn wir deren Entstehung als Geschichte eines historischen Systems beschreiben. 3. Das Systemkonzept darf nicht verdunkeln, dass Menschen und ihre Organisationen Akteure sind. 4. Alter und die Krisenhaftigkeit des globalen Systems, verdeutlichen die Schwierigkeiten, eine Veränderung herbeizuführen. 5. Die wachsende Distanz zwischen Reich und Arm macht wünschenswert, Änderungen herbeizuführen. 6. Historische Erfahrung deutet darauf hin, dass die politische Verfassung der Weltgesellschaft ein Mehrebenensystem sein könnte. 7. Die Privilegien der Sieger von 1945 sollten abgelöst werden. 8. Dass Welt und Globalgeschichte an einigen Universitäten als Fach institutionalisiert wird, zeigt, dass die Deutschen und ihre Regierungen die neue Lage historisch begreifen wollen. Auf weitere Probleme der Weltgesellschaft wurde hier nicht eingegangen. Hinzuweisen ist auf die Schwierigkeiten, die globalen Umweltprobleme zu lösen und dem aktuellen Militarismus sowie dem Terror zu begegnen. Zu erinnern ist daran, dass nach wie vor die Gefahr besteht, dass durch atomare, biologische oder chemische Waffen ein großer Teil der Menschheit oder sogar diese insgesamt ausgelöscht wird.

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Alternative Kritiker der „totalen“ Weltgesellschaft. Carl Schmitt und Theodor W. Adorno I. Antipodische Kritiker des Zugs zur „Weltgesellschaft“ Vor einiger Zeit sprach man gerne von „Postmoderne“ und beschwor das Ende der großen „Meistererzählungen“. Die großen Geschichtsphilosophien des Hegelianismus und Marxismus wurden in Deutschland nach 1945 aber eigentlich schon sehr früh und gründlich verabschiedet. Jacob Taubes1 und Karl Löwith2 betrachteten die modernen Geschichtsphilosophien nach Immanuel Kant und Georg Friedrich Hegel als Erben der christlichen Geschichtstheologie; Karl Popper3 bestritt die prognostische Kraft teleologischer Geschichtsbilder und verkündete das „Elend des Historizismus“. Den Erben Nietzsches erging es kaum besser: Heideggers „Seinsgeschichte“ wurde auch vom engsten Schülerkreis nicht fortgeschrieben.4 Teleologische und finalistische Geschichtsdeutungen lebten freilich unter anderen Etiketten fort. Ein triumphales Erbe war hier die gesellschaftstheoretisch versierte „Modernisierungstheorie“.5 Auch sie wurde aber schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vielfach begraben und vom Etikett der „Postmoderne“ abgelöst. Auch dieses Etikett ist inzwischen verblasst und manche Eulen der Minerva irren heute in der Dämmerung auf der Suche nach neuen Epochenbegriffen herum. „Globalisierung“ heißt dabei ein sehr starker und neuer Kandidat im semantischen Kampf um die Deutungshoheit über die Epochenbegriffe, an dem diverse konkurrierende Fächersemantiken beteiligt sind. Carl Schmitt wies früh schon starke geschichtsphilosophische Fortschrittsideologien zurück und schrieb lieber ein häretisch-„christliches“ Geschichtsbild an den Rand seines Werkes. Karl Löwiths Buch „Meaning in History“, später in Übersetzung als „Weltgeschichte und Heilsgesche1 Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947. 2 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. 3 Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965. 4 Silvio Vietta transformierte Heidegger originär. Dazu vgl. Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989; Ders., Rationalität – eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung, München 2012; eindrucksvolle „sinozentrische“ Globalgeschichte jetzt bei Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hierarchie in der Hierarchie der Staatenwelt, Berlin 2015. 5 An Max Weber anknüpfende Systematisierungen etwa bei Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979; Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/Main 1991.

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hen“ erschienen, hielt er 1950 „Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes“ entgegen.6 Junge Gesprächspartner und Schüler wie Hanno Kesting und Reinhart Koselleck verwies er dann auf das kritische Studium der modernen Geschichtsphilosophie, die er als Instrument der Planung und Waffe im „Weltbürgerkrieg“ betrachtete. Carl Schmitt (1888–1985) und Theodor W. Adorno (1903–1969) sind in mancherlei Hinsicht Antipoden. Als Schmitt-Experte perspektiviere ich das Verhältnis von Schmitt ausgehend; ob Adorno Schmitts Werk näher zur Kenntnis nahm, ist mir nicht bekannt. Der Vergleich liegt auf Anhieb auch nicht sonderlich nahe: Schmitt war Jurist und „Politischer Theologe“, Etatist, Nationalist und Nationalsozialist; Adorno war 15 Jahre jünger, Musikkritiker und Philosoph, deutscher Jude, linker Demokrat, Emigrant und Remigrant. Der Vergleich wird durch die Frage nach der „Weltgesellschaft“ überdies sehr komplex und diffus. Man könnte Adorno deshalb herauslassen und das große Thema „Schmitt und Luhmann“ bearbeiten oder sich ganz auf Schmitts anti-universalistische Weltstaatkritik konzentrieren. Mit Luhmanns Referenztext „Die Weltgesellschaft“7 von 1971 ließe sich das Thema aber auch als drei historische Stationen im Prozess der Umstellung der Leitsemantik auf den Primat des Gesellschaftsbegriffs erörtern. Luhmanns Referenztext hat nämlich eine unübersehbar polemische und begriffspolitische Note: Luhmann plädiert für eine Umstellung von Anthropologie auf Soziologie und von Aristoteles auf Luhmann. Er richtet sich gegen das antike Konzept der Koinonia, das die alteuropäische Politik trug, und möchte die Rede vom „sozialen System“, Kontingenz und System-Umwelt-Kommunikation als systemtheoretischen Ausgangspunkt etablieren. Damit historisiert er sein eigenes Konzept und gibt ihm zwischen Herkunft und Zukunft einen utopischen und normativen Touch: Das Paradigma der „Gesellschaft“ hat seinen historischen Ort: Die „Weltgesellschaft“ liegt im Trend einer möglichen Zukunft. Luhmanns Rede von der „Weltgesellschaft“ changiert zwischen einem empirischen Befund und einem theoretischen Grundbegriff; sie stellt von der alteuropäischen „Welt“ auf die soziologische Theorie der „Gesellschaft“ um und emanzipiert den Gesellschaftsbegriff von der überlieferten Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Dabei betont Luhmann die „Differenz von normativem und kognitivem Erwarten“:8 Die Weltgesellschaft ist für ihn 1971 keine politisch-rechtliche Realität, sondern eine prognostische Erwartung universaler Interdependenz. Eingangs zitiert er für die verbreitete politische Opposition gegen die Weltgesellschaft Heinrich v. Treitschke; er hätte dafür auch Carl Schmitt nennen können. Schmitt perhorreszierte Weltstaat und Weltgesellschaft und mobilisierte dagegen das alteuropäische Sou6 Carl Schmitt, Drei Stufen historischer Sinngebung, in: Universitas  5 (1950), 927–929; Wiederveröffentlichung unter dem ursprünglich von Schmitt vorgesehenen Titel in: Hans Blumenberg/Carl Schmitt. Briefwechsel 1971–1978, Hrsg. v. Alexander Schmitz/Marcel Lepper, Frankfurt/Main 2007, 161–166. 7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft (1971), in: Ders., Soziologische Aufklärung II. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 1975, 4. Auflage Opladen 1991, 51–71. 8 Ebd., 55.

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veränitätsversprechen von Staat und Politik. Adorno markiert im Prozess des Wandels der Leitsemantiken und Übergangs zum Primat des Gesellschaftsbegriffs dann ein späteres resignatives Stadium der Verabsolutierung des Gesellschaftsbegriffs. Er teilt zwar Schmitts Unbehagen an der Totalisierung der Industriegesellschaft, sieht aber keine politischen Alternativen und Auswege mehr, sondern propagiert stattdessen die individualistische Flucht in die ästhetische Erlösung durch avantgardistische Kunst. Schmitt und Adorno markieren also, so lautet meine These, zwei frühe und unterschiedliche Stadien der Rebellion gegen den Primat des Gesellschaftsbegriffs: Politik und Kunst. Im Folgenden versuche ich diese differenten Antworten vergleichend herauszuarbeiten und so das mir von den Herausgebern gestellte Thema zu beantworten.

II. Georg Lukács als Antipode Von Schmitts Werk ausgehend läge der Vergleich mit Georg Lukács (1883–1971) buchstäblich eigentlich näher. Schmitt wurde 1888 im kleinstädtischen westfälischen Plettenberg geboren. Er war also ein Generationsgefährte von Heidegger (1889–1976), Hitler (1889–1945) oder auch Lukács und Wittgenstein (1889–1951). Adorno (1903–1969) war 15 Jahre jünger als Schmitt und mehr durch die Weimarer Republik als durch den Wilhelminismus geprägt. Sucht man nach einem linken Antipoden, bietet sich Lukács an. Lukács und Schmitt beobachteten sich seit den 1920er Jahren auch wechselseitig. Schmitt hatte in Berlin, München und Straßburg studiert und in Straßburg promoviert und habilitiert. Die Wendung vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus nahm er in „südwestdeutscher“ Perspektive auf und den Deutungsstreit zwischen Rechts- und Linkshegelianismus sah er aus der Perspektive des Juristen und Etatisten. Den marxistischen Linkshegelianismus lehnte er als erklärter „Gegenrevolutionär“ zwar ab, interessierte sich aber von den philosophischen Klassikern v. a. für Hegel. Das Kapitel „Hegel und Marx“ erörterte er vor 1933 schon mehrfach. Seine ständige Frage nach der „Aktualität Hegels“ verband er dabei vor 1933 wie nach 1945 immer wieder mit dem Namen von Georg Lukács. Andere prominente Linkshegelianer, wie Bloch oder Adorno, finden in seinen Schriften dagegen keine Erwähnung. Am 28. Juli 1923 bekam Schmitt von seinem engsten Jugendfreund Georg Eisler, seiner Herkunft nach wie Lukács ungarischer Jude, „Geschichte und Klassenbewusstsein“ geschenkt. Mitte August liest Schmitt dieses Grundbuch linkshegelianischer Verdinglichungskritik – laut Tagebuch – „mit Behagen“.9 Zuvor war im Frühjahr 1923 sein berühmter Essay „Römischer Katholizismus und politische Form“ erschienen. Dieser Essay polemisiert ausgiebig gegen das „ökonomische Denken“. So schreibt Schmitt, dass die katholische Dogmatik auf der „strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation“ beruhe, was 9 Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921–1924, Hrsg. v. Gerd Giesler/ Ernst Hüsmert/Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, 235.

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im strikten „Gegensatz zum heute herrschenden ökonomisch-technischen Denken“10 stehe. Diese Opposition gegen das „ökonomische Denken“ findet sich auch 1916 schon in einer Studie über den expressionistischen Dichter Theodor Däubler.11 Schmitt bringt im Frühwerk also das religiöse und das juristische Denken gegen das „ökonomisch-technische Denken“ in Stellung. Lassen wir die „religiösen“ Motive beiseite, so ist die Auseinandersetzung mit Max Weber und Hegel für seine polemische Profilierung des „rechtswissenschaftlichen“ Denkens prägend. Schmitt wurde dann bekanntlich ein scharfer Kritiker des „Rechtspositivismus“. Er bestritt die Legitimität der Legalität namentlich gegen Weber und betonte die Differenz von Recht und Gesetz. Seine Rationalismuskritik ist als Legalitätskritik durchgängig entwickelt. Schmitt, Lukács und Adorno teilen alle drei die nach Hegel geläufige Kritik am „identifizierenden“ Denken und an der Reduktion der „dialektischen“ Vernunft auf den schematisierenden „Verstand“. Sie alle rezipierten Max Webers Analyse der „bürokratischen Herrschaft“ und sannen nach Auswegen aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“ der Moderne. Diese rationalismus- und modernismuskritischen Topoi, die sich bei vielen Adepten der „Lebensphilosophie“ und Autoren der Zwischenkriegszeit finden,12 will ich hier aber nicht weiter diskutieren.

III. Schmitts Schmähgedicht auf Adorno Eine Spurenlese der Lektüren und Bezüge zwischen Schmitt und Lukács wäre lohnend. Sie würde eine antipodische Beobachtung des kongenialen Gegners über Jahrzehnte belegen. Das Thema „Schmitt und Adorno“ ist dagegen buchstäblich weniger ergiebig. Wie Lukács war auch Adorno zwar ein Linkshegelianer und Kritiker der „Verdinglichung“ des Bewusstseins; er war für Schmitt aber kein zentraler Referenzautor mehr, mit dem er sich intensiv und nachhaltig mit theoretischem Interesse auseinandersetzte. In Schmitts bei Lebzeiten publizierten Schriften wird Adorno wohl nirgendwo signifikant erwähnt. Ein Blick in seine Bibliothek zeigt aber immerhin, dass er wenigstens den „Versuch über Wagner“, in der Suhrkamp-Ausgabe von 1952, sowie die „Aspekte der Hegelschen Philosophie“ von 1957 besessen, gelesen und durchgearbeitet hat. Erste Erwähnungen finden sich im posthum publizierten Nachkriegstagebuch „Glossarium“. Im Oktober 1953 kommentiert Schmitt hier die damalige Heidegger-Kritik von Habermas mit einem Adorno-Zitat aus den „Minima Moralia“ und schlägt so eine Brücke von Adorno zu Habermas. Er greift eine eigentümliche

10 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923/1925, Stuttgart 1984, 14. 11 Carl Schmitt, Theodor Däublers ‚Nordlicht‘. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes (1916), Berlin 1991. 12 Dazu prägnant Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989; die theoriegeschichtlich initiale Rolle von Lukács betont jetzt Stefan Breuer, Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen, Tübingen 2016.

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namenspolitische Spekulation von Adorno auf und spielt sie gegen Adorno und Habermas aus. Er spricht die Namenspolitik von „Theodor Wiesengrund Adorno“ an und notiert dazu später an den Rand: „Man sollte ihn fragen: Wie kommst du zu dem Vornamen Theodor?“13 Dazu meint er: „Habermas war der gegebene, prädestinierte Name für das Haberfeldtreiben gegen Martin Heidegger.“ Wikipedia kommentiert „Haberfeldtreiben“ als ein rituelles volkstümliches Rügegericht. Schmitt muss Adornos „Minima Moralia“ also 1953 schon aufmerksam gelesen haben, und er bezieht Adornos namenspolitische Spekulationen nun auf dessen eigene Namenspolitik: 1936 forderte Schmitt die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den „jüdischen Geist“ auf, jüdische Autoren durch jüdische Namen zu stigmatisieren.14 Schmitt greift 1953 nun Adornos Namen auf und liest den Vornamen antisemitisch. In einem Schmäh- und Spottgedicht, das noch zu erörtern ist, codiert er Adornos Vornamen dann massiv antisemitisch. Ein späterer Eintrag im „Glossarium“ berichtet davon, dass die Geburtstagsgesellschaft von Hans Freyer 1957, nach dem Erscheinen der „Aspekte der Hegelschen Philosophie“, „über Adornos enthüllende Äußerung von der ‚grandiosen Bauernschlauheit’ Hegels“ lachte. Schmitt notiert weiter: „In dieser Äußerung zeigt sich ein Pferdefuß, der zu einem Bumerang werden kann, und – wie Hans Barion hinzufügte – eine Achillesferse trifft. Wie lustig sind solche Selbstenthüllungen der Enthüller.“15 Der „Pferdefuß“ kennzeichnet die Linksauslegung zwar als teuflisch, gibt dem Teufel aber keine große Macht: Die Rechtshegelianer vertrauen noch auf eine Dialektik der „Selbstenthüllung“ des „Geistes“. Die Rede vom „Pferdefuß“ spielt dabei, als Achillesferse gedeutet, auch auf die Homer-Deutung der „Dialektik der Aufklärung“ an. Schon weil Schmitt sich Adorno gegenüber als intellektuell überlegen empfand, hielt er eine intensive Auseinandersetzung nicht für nötig. Adornos Präsenz in den öffentlichen Debatten beobachtete er aber weiter und erwähnte sie gelegentlich in seinen Korrespondenzen. Wichtig war Adorno für ihn nicht zuletzt des Benjamin-Kultes wegen, der ihn stark interessierte. Auch in Sachen Benjamin agierte er nämlich, ähnlich wie bei Hegel, ideenpolitisch und dekonstruktiv; er verstand Benjamin als antipodischen politischen Theologen und wies auf Verkürzungen und Manipulationen des bundesrepublikanischen Benjamin-Bildes hin. Sein strategischer Angelpunkt war hier der Hinweis auf die Exklusion des Benjamin-Briefes an Schmitt aus dem Jahre 1930 in der zweibändigen Briefausgabe von 1955.16 Schmitt unterstellte Adorno, dass er den Brief aus politischen Motiven absichtlich unterdrückt habe. 13 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, Hrsg. v. Gerd Giesler/Martin Tielke, Berlin 2015, 304; Schmitt zitiert Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/Main 1951, 365 („Traum der wüsten Volksgemeinschaft“). 14 Carl Schmitt, Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, in: Deutsche JuristenZeitung 41 (1936), Sp. 1193–1196. 15 Schmitt, Glossarium, 363. 16 Dazu Verf., „Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben“. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benjamin, in: Ders., Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014, 137–152.

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Darüber konferierte er Ende der 1960er Jahre auch mit dem Suhrkamp-Verlag. Schmitt lancierte den Benjamin-Brief über Hans-Dietrich Sander und Jacob Taubes dann in die Debatten und schürte so die Legende von seiner zentralen unterströmigen Wirkung auf den Linksintellektualismus der Weimarer Republik und die Frankfurter Schule. Diese Wirkung hat es gegeben; Schmitt strickte hier aber selbst an der linken Rezeption mit. Adorno beobachtete er seit den 1960er Jahren verstärkt als linken Medienstrategen und Vergangenheitspolitiker. Diese Wirkung Adornos wurde in neuerer Zeit mehrfach kritisch untersucht.17 In seinen späten Schriften äußerte Schmitt sich nicht über Adorno. Außer einigen Briefstellen gibt es aber ein antisemitisches Spottgedicht, etwa von 1960, das Schmitt nicht veröffentlichte und gegen seine sonstigen Gepflogenheiten auch nicht per Serienanhang im Kreis herumschickte. Es lautet: We call him Adorno Nun hören wir die Kunde Sie gibt uns einen Schock Von einem Wiesengrunde Da wohnt ein arger Schmock Er spuckt in jede Quelle Und pisst in jeden Bach Er sitzt auf jeder Welle Und rutscht in jedes Fach. Man hört ihn mächtig quaken In jedem Radio Den Club der Kakerlaken Regiert er sowieso. Allüberall dazwischen In jedem Kulturverweserpferch In jeder Television Totaler Riesenzwerg.18 17 Dazu vgl. Clemens Albrecht/Günther  C. Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/Friedrich  H. Tenbruck (Hrsg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/Main 1999. 18 Gedichte für und von Carl Schmitt, Hrsg. Gerd Giesler/Ernst Hüsmert/Wolfgang H. Spindler, Plettenberger Miniaturen 4, Plettenberg 2011, 26; das Gedicht habe ich auch interpretiert in dem ansonsten abweichenden Beitrag: Carl Schmitts Schmähgedicht auf Adorno, in: Verf., Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017, 256–264.

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Man wird der schlicht und regelmäßig gebauten Ballade das lyrische Format nicht absprechen können. Für Schmitts satirische Lyrik ist es typisch. Die flüchtige Niederschrift deutet auf weinselige nächtliche Entstehung hin. Vielleicht hatte Schmitt gerade eine Radiosendung Adornos gehört. Das Gedicht ist ein Hexenmeisterstück antisemitischer Häme. Kein anderes bekanntes Gedicht Schmitts ist derart offen antisemitisch. Der Wiesengrund wird hier als Sumpf gedeutet, der die reine Quelle oder Brunnen vergiftet. Schmitt konkretisiert die Quelle als „Welle“ und „Fach“, Radio und Television. Adorno erscheint als böser Geist und Grund, als Oberteufel, der den „Club der Kakerlaken“ regiert, den Kulturbetrieb herunterzieht und in einen „Kulturverweserpferch“ verwandelt. Schmitts Feindbegriff lautet am Ende: „totaler Riesenzwerg“! So metamorph wie das ganze Gedicht, das den Namen und das Bild vom Wiesengrund konkretisiert und dabei das Vornamenkürzel als jüdische Namenspolitik stigmatisiert – wie Schmitt es 1936 gefordert hatte –, so doppeldeutig ist das Wort vom „Riesenzwerg“. Zunächst meint es die Spannung von geringer Körpergröße und medialer Allpräsenz; es verzwergt dann aber sogleich die Größe der Kulturpräsenz auf den „Kulturverweserpferch“. Für unser Thema ist wichtig, dass Schmitt hier von Totalität spricht: von einem „totalen“ Riesenzwerg, der die Kultur vergiftet und mittels seiner Kakerlaken oder Unterteufel den Kulturverweserpferch weiter herunterzieht. Der Wagner-Kenner wird dabei nicht übersehen haben, wie der Riesenzwerg in Wagners „Ring“ hieß: Alberich. Wellgune spottet eingangs im „Rheingold“ „auf dem Grund des Rheines“: „Pfui du haariger, / höckriger Geck! / Schwarzes, schwieliges / Schwefelgezwerg!“19 Vielleicht war Schmitt für den Splitter im Auge blind, der ihn selbst trat: die eigene Identifikation und Wahrnehmung als ebensolcher Alberich-Riesenzwerg. Schmitt war gewiss in der Körpergröße noch einige Zentimeter kleiner als Adorno. Und er wollte wohl selber gerne über die Wellen verfügen und sein Liedchen ins Radio trällern: We call him Adorno! Vielleicht sah er die Identifikation aber auch. Adornos „Versuch über Wagner“ benannte er jedenfalls kurzerhand in einen „Mord=Versuch an Wagner“ um, und er ergänzte: „Versuch einer Überlegenheit über Wagner = destruktives Talent, doch kein Charakter[,] so das Versuchsmodell einer moralischen Vernichtung (Rufmord)[,] bei Heine dagegen noch umgekehrt: „kein Talent, doch ein Charakter“, also Verhöhnung der intellektuellen Inferiorität des deutschen „guten Kerls“ (Atta Troll)“.20 Die Formel „Kein Talent, doch ein Charakter!“ ironisiert bei Heinrich Heine im „Atta Troll“21 das Gesinnungspathos der Rede vom „Charakter“. Schmitt konstruiert also eine dekonstruktive Linie von Heine zu Adorno. Gegen Adornos „Rufmord“ identifiziert er sich mit Wagner, 19 Wellgune über Alberich in: Richard Wagner, Das Rheingold, in: Ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Hrsg. v. Wolfgang Golther, Berlin o. J., Bd. V, 205. 20 Handexemplar Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, Berlin 1952 (RW 265-28120); Abb. in: Schmittiana 1 N.F. (2011), 272–273. 21 Heinrich Heine, Atta Troll. Kaput XXIV, in: Gesammelte Werke, Hrsg. Wolfgang Harich, Berlin 1951, Bd. II, 75; zu Heine positiv umwertend vgl. Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: Ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/Main 1987, 27–54.

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dessen Polemik gegen „Das Judentum in der Musik“ er ja schon 1936 mit seiner Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ programmatisch gefolgt war.22 Man könnte nun meinen, dass diese Ausflüge in die Schmitt-Exegese und die mehr oder weniger hübsche Auslegung des Spottgedichts das Thema „Weltgesellschaft“ gänzlich aus dem Auge verloren haben. Mit dem prägnanten Gedicht wurde dazu jedoch auch einiges gesagt: Schmitt sah in Adorno den totalisierenden Kulturkritiker, der sich mephistophelisch, qua Hegelianismus, jenseits akademischer Fächergrenzen für essayistisch-allzuständig erklärte und von der breiten Öffentlichkeit in seiner Medienpolitik und seinen politisch-theologischen Motiven nicht durchschaut wurde. Er betrachtete Adorno in den 1960er Jahren selbstverständlich als einen aktuell führenden Vertreter des „jüdischen“ Geistes und „jüdischer“ politischer Theologie, der auf „Kulturverwesung“ zielt. Die Rede von „Verwesung“ ist dabei nicht auf ein Amt begrenzt, wie das Amt des „Reichsverwesers“ als Stellvertretung des Königs; Schmitt gibt der „Verwesung“ vielmehr einen Beiklang metaphysischer Liquidierung, der sich etwa auch bei Heidegger findet. Der Verweser ist nicht der getreue Verwalter, sondern der diabolische Zerstörer. Den Kritiker der „Kulturindustrie“ und „verwalteten Welt“ betrachtet Schmitt also als strategischen Destrukteur. Eine solche scharfe Auslegung, die Schmitt im Kern sicher vertreten hat, auch wenn er sie in die Ironie des Spottgedichts zurücknahm, ruft nach energischem Widerspruch. Ich möchte die philologische Basis der Auseinandersetzung aber zunächst etwas breiter legen und Schmitts Hintergründe weiter rekonstruieren.

IV. Von der Gesellschaft zur Weltgesellschaft Es wurde gesagt, dass Schmitt nicht von „Weltgesellschaft“ sprach. Schon im „Begriff des Politischen“ kritisierte er aber die universalistischen Tendenzen zu einem menschheitlichen „Weltstaat“ und betonte mit dem Differenzkriterium der Freund-Feind-Unterscheidung auch die Pluralität politischer Einheiten und Identitäten. Klare politische Identitäten gibt es nach Schmitt nur in der gegenseitigen Profilierung und Abgrenzung. Die Bipolarität des Kalten Krieges deutete er in den 1950er Jahren dagegen auch als Komplementär- und Konvergenzverhältnis; er sprach von einer allgemeinen „Tendenz zur technisch-industriellen Einheit der Welt“ und „Einheit einer geschichtsphilosophischen Selbstinterpretation“23 und optierte deshalb im Interesse des Erhalts politischer Spannungen und Energien für alternative Großraumbildungen, wie in China, und für Multipolarität. Das politische „Pluriversum“ beginnt für Schmitt eigentlich erst mit mehreren effektiven Großraumbildungen. Zur politischen Wahrheit gehören gleichsam mindestens drei Verfassungssysteme und Machtkomplexe. He22 Dazu Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, 372 ff. 23 Carl Schmitt, Die Einheit der Welt (1952), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos, Hrsg. Günter Maschke, Berlin 1995, hier 496–505, hier 499–500.

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gel und Max Weber sind dabei für Schmitt wie Adorno zwei zentrale Referenzautoren der Gegenwartsdeutung. Für Adorno wären darüber hinaus noch wenigstens Marx und Husserl zu nennen. Aus sehr unterschiedlichen politischen Erfahrungen und Optionen teilen Schmitt und Adorno eine kritische Wahrnehmung des gegenwärtigen Totalitarismus: Beide sehen eine „Dialektik der Aufklärung“ und Moderne; anders als Schmitt hält Adorno dabei aber einen positiven Bezug auf das normative Versprechen der Aufklärung fest, wie sich vermutlich schon an seiner Kant-Rezeption zeigen lässt. Schmitt ignorierte Kant und die Philosophie der Aufklärung dagegen weitgehend. Rekonstruiert man den geschichtsphilosophischen Rahmen von Schmitts Verfassungslehre, so ist für die Weimarer Republik zu sagen: Schmitt beginnt in der „Politischen Romantik“ mit einer Kritik der modernen Individualität. Mit der Ausarbeitung seines Etatismus stellt er seinen Begriff der modernen Verfassung in eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit zurück. Die Epochen von Neuzeit und Moderne unterschied er durch die politischen Formen des Absolutismus und des liberaldemokratischen Konstitutionalismus. Die Epoche beginnt nach Schmitt als Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege der frühen Neuzeit mit dem westfälischen System und der absolutistischen Loslösung und Emanzipation des säkularen, konfessionell neutralen Staates von den Kirchen. Der Konstitutionalisierungsprozess der Moderne nach 1789 ist dann ein Prozess innerhalb der Neuzeit. Schmitt beschrieb die Neuzeit vor 1933 durch eine Dialektik von Politisierung und Entpolitisierung, wonach alle Entpolitisierungsbestrebungen scheitern, weil die politische Energie sich auf immer neue „Zentralgebiete“ verlegt, wirft und verschiebt; Theologie, Metaphysik, Moral, Kunst und Technik wurden so im Prozess der Neuzeit politisiert. In seiner Verfassungsgeschichte skizzierte Schmitt einen Übergang von der Kirche zum Staat und zur Gesellschaft. Zuletzt konstatierte er vor 1933 eine Wendung zum „totalen Staat“ und zur Politisierung der Gesellschaft. In seiner Rede über Hugo Preuß führt er 1930 aus, dass die „organische Staatslehre“ die staatliche Souveränität angriff und zu einer „Integrationslehre“ führte, die den Staat als „‚Selbstorganisation‘“ und „Selbstintegrierung der Gesellschaft“24 auffasste. Das erste Kapitel des „Begriffs des Politischen“ lässt wissen, dass der „totale Staat“ als „Identität von Staat und Gesellschaft“25 zu begreifen sei. Diese Identität realisierte sich als Parteienstaat und Einparteienstaat. Solche Überlegungen führte Schmitt nach 1945 weiter: Auf den „totalen Staat“ folgte im Prozess der Neuzeit die „totale Gesellschaft“.26 Schmitt beschrieb den Zug von der Kirche über den Staat zur Gesellschaft zuletzt in einer Hobbes-Besprechungsabhandlung von 1965 sowie in der „Politischen Theo-

24 Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, 20–21; Wiederabdruck jetzt als Anhang zu Ders., Der Hüter der Verfassung, 5. Auflage Berlin 2016. 25 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, 24. 26 Dazu von Schmitt beeinflusst vgl. Bernard Willms, Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie, Köln 1967.

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logie II“. Dort formulierte er ziemlich kryptisch, dass das „moderne Kirche-Staat-Gesellschaft-Problem“27 politisch-theologisch mit der Emanzipation der Gesellschaft vom Staat bei einer revolutionären Christologie der Vergöttlichung des Menschen angekommen sei, die säkularen Humanismus entfesselte. Den Junghegelianismus und das „neue Christentum“ des Saint-Simonismus betrachtete er dabei schon früh als Auftakt zur „homo-homini-homoEschatologie“ und „hominisierenden Gesellschaft“,28 die er selbst für die rassistische Übermensch- und Untermensch-Ideologie des Nationalsozialismus mit verantwortlich machte. Schon in den 1950er Jahren setzte er seine bundesrepublikanischen Schüler auf diese politisch-theologischen Gründe und Ursprünge der modernen Soziologie und Gesellschaft an. Nicolaus Sombart und Robert Spaemann, Hanno Kesting und Reinhart Koselleck schrieben dann an der Ursprungsgeschichte der emanzipierten Gesellschaft und säkularen Soziologie. In dem Kollektivwerk „Die neue Gesellschaft“29 publizierte Schmitt 1958 einige satirische Zeitgedichte. In seiner Lesart klingt der Titel „Die neue Gesellschaft“ an Henri de Saint-Simon (1760–1825) und dessen 1825 – im Todesjahr posthum – erschienenes Werk „Le Nouveau Christianisme“ an. Die Rede von einer „neuen Gesellschaft“ ironisiert die Gesellschaft nicht nur gegenüber der untergegangenen staatlichen Souveränität, sondern kritisiert auch die religiöse Aufladung der humanistischen und anarchischen Verheißungen: das Heilsversprechen der emanzipierten Gesellschaft. Schmitt kritisiert also die Säkularisierung und Emanzipation der modernen Gesellschaft vom Staat. Er möchte den revolutionären Emanzipationsprozess der Gesellschaft und den modernen Individualismus unter dem Druck und der Definitionshoheit eines starken Staates halten, wie die Kirche die Menschen in älteren Zeiten unter ihrem Regiment hielt. Buchstäblich argumentiert er also religiös gegen die moderne Emanzipation des Individuums. Das ließe sich weiter differenzieren, aber ich will hier nicht in die verfänglichen Tiefen und Untiefen seiner „Politischen Theologie“ einsteigen.

V. Politischer Anti-Universalismus Man kann Schmitts irgendwie „christliche“ Argumentation ziviltheologisch und „gegenrevolutionär“ lesen. Das ist ja auch ganz explizit. Ganz eindeutig will Schmitt die Souveränität beim Staat monopolisieren. Gewiss sieht er die Religionspolitik, auch die Diskurspolitik des Intellektuellen, dabei als eine Waffe im Kampf an, die politisch gezielt einzusetzen sei. Hinter der religiösen Semantik und Option für staatliche „Autorität“ lässt sich überdies eine Option für das kapitalistische Wirtschaftssystem und die bürgerlichen Eigentumsverhält27 Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, Berlin 1970, 23. 28 Carl Schmitt, Politische Theologie II, 37. 29 Rüdiger Altmann/Johannes Groß, Die neue Gesellschaft, Stuttgart 1958.

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nisse vermuten. Schmitt äußerte sich wiederholt zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, sprach vor Industriellen und lehrte jahrelang in enger Kooperation mit Nationalökonomen und Wirtschaftsrechtlern (in München und Berlin) an Handelshochschulen. Eine marxistische Kritik von Schmitts Werk als Apologie des „Industriekapitalismus“ hat aber eigentlich nur Ingeborg Maus30 auf hohem Niveau unternommen. Das „ökonomische Denken“ verpönte Schmitt schon in seinem Frühwerk, und er setzte die „politische Form“ 1923 schon in seinem Katholizismus-Essay vom „ökonomischen Rationalismus“ und „Rationalismus des ökonomischen Denkens“ ab.31 Damals pries er noch den Amtsgedanken und juridischen Rationalismus der Kirche; den bürokratischen Rationalismus und die bürokratische Herrschaft der Verwaltung lehnte er als Weber-Schüler ab. Vor allem in den 1930er Jahren32 kritisierte er dann die rechtspositivistische Reduktion von Recht und Gerechtigkeit auf Gesetzesförmigkeit, die Auslegung der Legalität als teleologisch blinden „Funktionsmodus“ bürokratischer Herrschaft. Im Nationalsozialismus betrieb er deshalb auch eine massive Zerstörung des Legalitätsmodus. Die katastrophalen Folgen dieser Absorption der rechtstaatlichen Trennung von Politik und Recht sah er erst gegen Kriegsende einigermaßen klar.33 Schmitts rechtstheoretische Analyse der Auflösung des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs ist hier nicht detailliert vorzuführen. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass Schmitt als Apologet des Präsidialsystems und des Nationalsozialismus so wirksam wie wohl kein anderer NS-Rechtswissenschaftler sonst für eine Suspension des „bürgerlichen Rechtsstaats“ und Legalitätsmodus optierte. Fragt man nach seinen Gründen, so lautet die einfachste Antwort: Schmitt optierte für einen Primat der Politik; er wollte, dass die Politik das „Schicksal“ bestimmt, nicht die Wirtschaft oder eine humanistische Menschheitsideologie, die von einem „Weltstaat“ exekutiert wird, der im Namen der Menschenrechte alle „Störer“ ausschließt, die nach radikalen Alternativen suchen und nach partikularistischer kollektiver Selbstbestimmung streben. Schmitt argumentierte in seiner Theorie abstrakt für die kollektive politische Existenz und Selbstbestimmung und legte seine Option zugleich politisch-praktisch forciert aus: etatistisch, nationalistisch, nationalsozialistisch und antisemitisch. Seine Option für kollektive politische Freiheit bestritt einen Vorrang liberaler Grund- und Menschenrechte. Schmitt kennt keine universalen Rechte, die der politischen Einheit vorgängig seien. Wo er emphatisch Grundrechte reklamiert, so in der Broschüre „Nationalsozialismus und Völkerrecht“ von 1934, fordert er nur ein kollektives Recht.

30 Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976; Dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986; noch Dies., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011. 31 Dazu nur Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923/1925, Stuttgart 1984, 24–25. 32 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München 1932. 33 Carl Schmitt, Die Lage der europäischen Rechtswissenschaften, Tübingen 1950.

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Wir sprechen also wieder von Grundrechten, von Grundrechten der Völker und der Staaten […] Von dem selbstverständlichsten aller Grundrechte, dem Recht auf eigene Existenz, gehen wir aus. Es ist ein unveräußerliches, ewiges Grundrecht, in dem das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstverteidigung und auf die Mittel der Selbstverteidigung enthalten ist.34

Schmitt richtet sich hier gegen Versailler Beschränkungen, und er unterscheidet Volk und Staat. Seine Selbstbestimmung des deutschen Volkes achtet die territoriale Integrität anderer Staaten nicht. Sein Grundrecht ist das Recht des Naturzustands, die kollektive Selbstbehauptung im Kampf. Was sich als Existenz behauptet, ist im Recht. Die „Verfassungslehre“ schreibt unter Berufung auf Spinoza: „Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert.“35 Schmitts politische Theorie und Verfassungslehre polemisiert gegen die Nachkriegsordnung von Versailles, den Genfer Völkerbund und den „bürgerlichen Rechtsstaat“ der Weimarer Republik, der die politische Existenz des deutschen Volkes an die Sieger des Ersten Weltkriegs verraten habe. Schmitt sieht Weimar als überforderten Wirtschafts- und Sozialstaat aber auch an den ökonomischen Krisen scheitern. Nach dem Ende der „Epoche der Staatlichkeit“, das er nach 1945 ausruft, wird ihm in der Logik seiner Verfassungsgeschichte „die Gesellschaft“ zwar eigentlich zum zentralen Thema; er überlässt es aber nun seinen Schülern, diese Nachkriegsgesellschaft in ihren Problemen detailliert zu beschreiben.

VI. Universale Verrechtlichung als Anti-Utopie Schmitt selbst schwieg über die Lage der Nachkriegsgesellschaft nach 1945 in Bundesrepublik und DDR weitgehend. Seine letzten politischen Schriften befassten sich mehr mit der weltpolitischen Lage im Kalten Krieg. Auch hier verzichtete er aber auf eingehende Beschreibungen. Zur UNO und Europäischen Union sagte er nicht mehr viel. Stets erörterte er nur „konkrete“ Verhältnisse und lehnte Utopien ab. Der „Weltstaat“ war ihm deshalb kein Thema. Seine letzte Publikation „Die legale Weltrevolution“, pünktlich 1978 zu Schmitts 90. Geburtstag erschienen, ist in Bezug auf die Autorenschaft vorbehaltlich zu betrachten. Sie entstand in jahrelangen Anläufen, Fragmenten und Überarbeitungen unter Assistenz einiger Schüler, zuletzt Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die Argumentation ist verwickelt, wie für den Spätstil insgesamt kennzeichnend, und scheint zwischen verschiedenen Themen zu springen; sie verbindet rückblickende Betrachtungen zur nationalsozialistischen Machtergreifung mit prognostischen Ausblicken auf die Universalisierung des Rechtscodes und die fortschreitende Verrechtlichung, oder besser: legalitäre Regulierung. Schmitt spricht für den 34 Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Völkerrecht, in: Ders., Frieden oder Pazifismus?, Hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 2005, 391–406, hier 393. 35 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, 22.

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normativistischen Selbstlauf der Verrechtlichung nun von „Superlegalität“ und nennt „Fortschritts-Ideologien als treibende Motive der Superlegalität“.36 Ich möchte diesen letzten Ausblick von 1978 ausführlicher zitieren, um Konvergenzen mit dem geschichtsphilosophischen Pessimismus herauszustellen. So schreibt Schmitt: Idee und Praxis einer Welt-Revolution legitimieren sich heute unter Berufung auf FortschrittsIdeologien. Für die entwickelten Industriegesellschaften der heutigen Welt hat dabei der Gedanke des technisch-ökonomischen Fortschritts, der in seiner immanenten Funktionalität global ist, besondere Bedeutung.37

Weiter heißt es etwa: Man könnte sich vorstellen, dass die politische Einheit der Menschheit auf dem Planeten durch den Sieg der einen industriellen Weltmacht über die andere oder durch den Zusammenschluss beider mit dem Ziel, sich die gesamte Industriemacht der Erde politisch zu unterwerfen, zustande käme. Das wäre eine planetarische Industrienahme. Sie würde sich von den alten Methoden der Eroberung – der Land- und Seenahme – nur noch durch eine gesteigerte Aggressivität und die größere Zerstörungskraft der dabei eingesetzten Machtmittel unterscheiden. Hier tut sich jene Kluft auf, die den sittlichen und moralischen Fortschritt der Menschheit von ihrem industriellen und technischen Fortschritt trennt. Die Weltpolitik kommt an ihr Ende und verwandelt sich in Weltpolizei – ein zweifelhafter Fortschritt.38

Hier klingt die Weltstaatkritik mit einer gewissen Anpassung an die Semantik der Linken an. Aber die Logik der „planetarischen Industrienahme“ ist noch als politischer Prozess und Handeln von Weltmächten aufgefasst; der „Weltpolizei“ gegenüber argumentiert Schmitt für eine normative „Kluft“, die politische Akteure auf eigene Gefahr als Widerstand mobilisieren und organisieren. Man wünschte sich Adorno als Leser solcher Zeilen. Einen „Zusammenschluss“ der bipolaren Weltmächte als souveränes politisches Bündnis hätte er wohl bestritten. Vor allem hätte er die Einheit der Welt als Regime einer „Weltpolizei“ als Faktum behauptet und die von Schmitt konstatierte Kluft zwischen dem „sittlichen und moralischen Fortschritt der Menschheit“ und dem „industriellen und technischen Fortschritt“ mit einer Fülle und Kette additiver Beispiele als trügerischen Schein und Illusion entlarvt. Die Formulierung einer solchen „Kluft“ steht mit Rousseaus „Erstem Discours“ am Beginn der Moderne. Auch Schmitt hat aber eigentlich nicht an eine solche klare Kluft geglaubt; wie Adorno hat auch er den Druck der modernen Technik auf die moralische Selbstauffassung 36 Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution. Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität (1978), in: Ders., Frieden oder Pazifismus?, Berlin 2005, 919–936, hier 923. 37 Schmitt, Die legale Weltrevolution, 923. 38 Ebd., 926.

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des Menschen gesehen. Schmitt beschrieb diesen Druck als Zug zum Positivismus in der Identifizierung von Recht und Gesetz. Die Auslegung von Legitimität als Legalität war sein diagnostisches Terrain der Kritik. Er sah dabei auch die Machtmittel des modernen Leviathan, die Kluft zu kassieren und Differenz von Legalität und Moralität, die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums, ideologisch und propagandistisch zu überspielen. Aber er schloss die permanente und unausrottbare Möglichkeit des politischen Widerstands und Aufstands nicht aus, selbst wenn sie in den Terrorismus führt. Die „Theorie des Partisanen“ von 1963 ist hier seine letzte hellsichtige Schrift, die auch die fragwürdige Legitimität des Partisanen an der Grenze des modernen Terrorismus eindringlich stellt.

VII. Ästhetische Erlösung statt politischer Alternativen Kommen wir damit endlich zu Adorno. Adorno war Hegelmarxist.39 Erst als Remigrant wird er in der Bundesrepublik bekannt, zu einem Zeitpunkt, wo Schmitt als Autor der Bundesrepublik verstummt. Für sein Denken war bekanntlich die „Dialektik der Aufklärung“ grundlegend, die er zusammen mit Horkheimer während des Krieges im kalifornischen Exil schrieb. Das Buch skizziert eine Geschichte und Genealogie der „Selbstzerstörung der Aufklärung“:40 den Umschlag der „Entzauberung“ des Mythos in die „Herrschaft“ der „formalisierten Vernunft“, die in der planförmigen Vernichtung und „Barbarei“ des Faschismus ihre Realisation findet. Rationale „Selbsterhaltung“ betrachten die Autoren bereits als Terror der Vernunft. Es ist die Vernunft selbst, die sich terrorisiert. Der Kapitalismus erscheint als blinde Folge. „Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“,41 heißt es explizit. Die „Dialektik der Aufklärung“ exemplifiziert die Entwicklung bekanntlich an Homer und de Sade. Der Sadismus kennzeichnet die Praxis der Aufklärung: Was Kant transzendental begründet hat, die Affinität von Erkenntnis und Plan, die der noch in den Atempausen durchrationalisierten bürgerlichen Existenz in allen Einzelheiten den Charakter unentrinnbarer Zweckmäßigkeit aufprägt, hat mehr als ein Jahrhundert vor dem Sport Sade schon empirisch ausgeführt.42 39 Die Adorno-Literatur ist uferlos. Sie kommt heute allerdings mehr aus der Philosophie als aus der Soziologie. So finden sich die hier wichtigen Stichworte „Gesellschaft“, „Weltgesellschaft“ oder auch „Menschheit“ etwa nicht in: Richard Klein/Johannes Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011; zum hier vertretenen Adorno-Bild vgl. Verf., Die „negative Imago des Lehrers“. Adorno über schulische Disziplinargewalt, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2015, 185–203; auch Ders., Das ‚Problem der Humanität‘. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 93 ff., 102 ff. 40 Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften Bd. III, Frankfurt/Main 1981, 13. 41 Ebd., 59. 42 Ebd., 107.

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Schon im Sport vermutete Adorno eine Form von Autoritärem. Nietzsche und der „deutsche Faschismus“ erscheinen dann als Vollstrecker des rationalen und planvollen Sadismus. Die Utopie herrschaftsfreier Vernunft, die „Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen“,43 ist in der „totalitären Ordnung“ der „formalisierten Vernunft“ negiert. Erst nach dieser Vollstreckung scheint es möglich, „die Utopie aus ihrer Hülle zu befreien“.44 Hegels Kantkritik steht dieser „Dialektik der Aufklärung“ Pate: Hegels Kritik an der Reduktion von Vernunft auf den schematisierten Verstand. Von Marxismus und Kapitalismus ist jenseits allgemeiner Formeln von der Restriktion der Werke auf Ware dabei ernstlich kaum die Rede. Eine Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems fehlt. Das jüngste Kapitel der Dialektik erörtert die „Aufklärung als Massenbetrug“ am Beispiel der „Kulturindustrie“45 und richtet sich hier v. a. gegen Hollywood, das Radio und die Barbarei des Jazz. Als letztes Opfer des aufgeklärten Sadismus erscheint der Konsument der Unterhaltungsindustrie. Die Autoren erörtern den Antisemitismus dann zwar mit psychoanalytischem Vokabular als paranoide Mythologie des Spätkapitalismus und beschließen so die Dialektik der Aufklärung als neue Mythologie, sehen den Faschismus aber doch primär in marxistischer Linie als ideologische Formation des „Spätkapitalismus“. Adorno verschreibt sich nach 1945 und nach seiner Remigration dann bekanntlich einer „traurigen Wissenschaft“ „im Angesicht der Verzweiflung“: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“.46 Der Begriff changiert hier zwischen ästhetischer und religiöser Erlösung. Den Standpunkt der „Erlösung“ arbeitete Adorno in seiner Philosophie v. a. als ästhetische Erlösung in der Erfahrung der Kunst aus. Während die ältere Generation, wie Schmitt und Heidegger, hier mehr auf die moderne Lyrik nach Hölderlin, Baudelaire und George setzte, meinte er v. a. die „neue Musik“, die er als „Werk“ von der „Kulturindustrie“ der „verwalteten Welt“ des „Spätkapitalismus“ abhob. Ein Blick auf die Kette seiner Buchpublikationen in der Adenauerzeit lohnt, um die Dominanz der musikalischen Schriften im Werk und der Publikationspolitik des Autors zu erinnern: Nach der „Dialektik der Aufklärung“, die 1947 noch in Amsterdam bei Querido erschien und bis 1969 auf dem bundesdeutschen Buchmarkt nicht wieder greifbar war, folgten außer den „Minima Moralia“ v. a. Schriften zur Musik musikalische Schriften. Zunächst erschien 1949 die „Philosophie der neuen Musik“. Mit den Würdigungen der „neuen Musik“ und ihrer avantgardistischer Meister korrespondierten weitere Kritiken des Musikbetriebs in der „verwalteten Welt“: so die Dissonanzen und auch

43 Ebd., 102. 44 Ebd., 140. 45 Dazu noch Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1955, 7–31; Ders., Résumé über Kulturindustrie, in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Bd. X.1, 337–345. 46 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main 1951, 480.

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die „Einleitung in die Musiksoziologie“. Die „Minima Moralia“ universalisierten den Ansatz aphoristisch und die „Prismen“ erweiterten ihn zur allgemeinen „Kulturkritik“. Schmitts Spottgedicht trifft diesen Kritiker der „Kulturindustrie“. Jenseits der kultur- und kunstkritischen Schriften tritt Adorno als Philosoph zunächst nur mit kleineren „Studien“ zu Husserl und Hegel auf. Erst 1966 löst er dann das Versprechen größerer philosophischer Werke durch die „Negative Dialektik“ ein. Nimmt man die Reihe der selbstständigen Publikationen, denen in der Publikationspolitik ein größerer Geltungsanspruch zukommt, so tritt Adorno nach der grundlegenden „Dialektik der Aufklärung“ also lange v. a. als Fürsprecher der „neuen Musik“ auf, genauer: der sog. Zweiten Wiener Schule, von der er einst als Schüler Alban Bergs ausgegangen war. Er analysiert die Kultur der Gesellschaft und trennt und wertet – so in der „Philosophie der neuen Musik“ – dabei scharf zwischen „Fortschritt“ und „Reaktion“, E- und U-Musik, „Kulturindustrie“ und den wenigen wahren Werken. Wenn er auch Wien und Hollywood v. a. im Blick hat, spricht er doch pauschalisierend von einer Gesellschaft des „Spätkapitalismus“, die in den USA „in gleichsam vollkommener Reinheit“47 zu finden sei. Adorno besteht gegenüber dem Alternativbegriff „Industriegesellschaft“ auch später noch auf dieser marxistischen Auffassung der „Produktionsverhältnisse“ und der Rede vom „Spätkapitalismus“.48 Benennen wir einige Unterschiede zu Schmitt: Adornos Thema ist die Kultur der „Gesellschaft“. Recht und Staat, Schmitts Themen, betrachtete er dagegen allenfalls sekundär, weil er die „Gesellschaft“ in marxistischer Tradition vom Primat der kapitalistischen Wirtschaft her sieht. Allerdings analysierte er den „Spätkapitalismus“ nicht eingehend; eine entwickelte politische Ökonomie mit starken ökonomischen Thesen schrieb er nicht, sondern setzte den Primat des Spätkapitalismus als transhumanes System gleichsam axiomatisch voraus. Den Einflussraum des Kapitalismus bestimmte er dabei nicht territorial, auch nicht gegenüber dem sozialistischen Lager oder sowjetischen Einflussbereich. Sehr abstrakt erscheint der „Spätkapitalismus“ als ein totales, totalisierendes oder gar totalitäres „System“ der „Verdinglichung“. Mit solchen Worten ist allerdings nur eine Tendenz des Werkes benannt, dem viele einzelne Aussagen und Publikationen sich nicht fügen mögen. Die pauschalisierende Charakteristik verdeutlicht v. a.: Adorno konstatiert die Universalität und Totalität spätkapitalistischer Vergesellschaftung der Kultur. Sein Fluchtpunkt und seine Alternative ist die ästhetische Erfahrung avantgardistischer Kunst. Schmitt dagegen setzt mit seinem Begriff des Politischen die stete Möglichkeit politischer Alternativen voraus und macht die Institutionalisierung politischen Handelns im Verfassungssystem zum zentralen Thema seines Werkes. Er identifiziert personale Akteure und betrachtet Gesellschaften als politische Interaktionssysteme. Die Existenz einer „Weltgesellschaft“ lehnt er als Utopie ab. In seiner 47 Theodor W. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: Ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/Main 1969, 113–148, hier: 146. 48 Dazu noch Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968), in: Ders., Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. VIII, 354–370.

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politischen Optik geht der „Weltstaat“ der „Weltgesellschaft“ voraus. Adorno scheint die „Weltgesellschaft“ dagegen an die Universalität des Kapitalismus zu binden.

VIII. Der Geist der Gesellschaft Profiliert man derart die unterschiedlichen Zugänge und Themen, so fehlt ein klarer Angelpunkt des Vergleichs. Schaut man auf die Theoriebildung, bietet sich aber ein Zugang über Hegel an: Adorno entwickelte seine „negative Dialektik“ von Hegel her; Adornos „Aspekte der Hegelschen Philosophie“ hat Schmitt gelesen; auch für ihn war Hegel der wichtigste philosophische Referenzautor; allerdings publizierte er niemals eigene Studien zu Hegel und verstand sich auch nicht als Hegelianer. Adorno und Schmitt ließen sich als Autoren allzu billig durch die Differenzierung von Links- und Rechtshegelianismus charakterisieren. Schmitt hat aber keine Ontologie und Metaphysik von Hegel her entworfen und seine „Theologie“ allzu kryptisch gehalten. Adorno ist da schon greifbarer. Das Verhältnis seiner Hegel-Studien zur „Negativen Dialektik“ ist hier nicht zu erörtern. Zweifellos sind die „Drei Studien zu Hegel“ aber eine Art Einleitung in die „Negative Dialektik“. So hat der eröffnende Vortrag „Aspekte“ programmatischen Charakter. Adorno liest Hegels Dialektik hier mit Marx. Der junge Marx habe die Dialektik als Einsicht ins „Wesen der Arbeit“ begriffen. Adorno spricht von einer „Übersetzung des Hegelschen Geistbegriffs in gesellschaftliche Arbeit“ und meint: Der Gesellschaft kommt eben das zu, was Hegel dem Geist gegenüber allen isolierten Einzelelementen der Empirie reserviert. […] Das Prinzip der Äquivalenz gesellschaftlicher Arbeit macht Gesellschaft im neuzeitlichen bürgerlichen Sinn zum Abstrakten und zum Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt.49

Adorno kritisiert Hegel für seine idealistische Auffassung der Gesellschaft als „Geist“. Das zeigt er auch an Hegels Staatsbegriff und Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft: Er kritisiert zwar Hegels Primat des Staatsbegriffs, anerkennt als Schüler von Marx aber auch die forcierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft: „Nirgends ist die hegelsche Philosophie der Wahrheit über ihr eigentliches Substrat, die Gesellschaft, nähergekommen als dort, wo sie ihr gegenüber zum Aberwitz wird.“50 Adorno setzt gegen Hegel den Gesellschaftsbegriff primär. Sein Komplementärbegriff heißt aber nicht „Staat“, sondern „Geist“. Adorno spricht nicht von konkreten Gesellschaften, sondern ontologisiert die Gesellschaft 49 Theodor W. Adorno, Aspekte, in: Ders., Drei Studien zu Hegel, Frankfurt/Main 1963, 13–65, hier: 32; wenig konkrete Begriffsbestimmung auch bei Adorno, Gesellschaft (1965), in: Ders., Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. VIII, 9–19. 50 Ebd., 43.

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zum Totalitätsbegriff. Das schließt einen konkreten Begriff von der „Weltgesellschaft“ und auch der „Produktionsverhältnisse“ im „Spätkapitalismus“ wohl aus. Man könnte vielleicht sagen, dass Adornos „Weltgesellschaft“ Hegels „Weltgeist“ korrespondiert, als metaphysischer Letztbegriff, der nicht sozialwissenschaftlich und gesellschaftsgeschichtlich empirisiert wird. Adorno setzt die Totalität der spätkapitalistischen Gesellschaft als basale Wirklichkeit und Agens einfach voraus. Der Anfang seiner Logik lautet dann: Gesellschaft, reine Gesellschaft. Das Wesen und Werden der Gesellschaft heißt dann „Arbeit“.

IX. Die Utopie der Autorschaft Viele Publikationen Adornos analysieren den Vorrang des Allgemeinen und der Gesellschaft gegenüber der individuellen „Natur“ und den autonomen „Werken“. So endet die (posthum erschienene) Ästhetische Theorie mit einem Kapitel „Gesellschaft“, das den „Doppelcharakter der Kunst“ als Werk und Ware an Beispielen expliziert und die „Immanenz der Gesellschaft im Werk“51 als objektiven „Gehalt“ und „Wahrheit“ der Kunst hervorhebt, nicht als kruden „Realismus“, sondern als „Befreiung der Form“52 in der ästhetischen Erfahrung von „autonomen“ Werken. In einer „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, 1957 erstmals publiziert, exemplifiziert Adorno das an Gedichten von Mörike und George gut nachvollziehbar. Er spricht von einem „Vorrang der Sprachgestalt in der Lyrik“53 dabei in einer Weise, die starke Konvergenzen mit Heidegger geradezu aufdrängt: Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt, sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet, sondern als dessen eigene Stimme.54

Solche Sätze hätte vielleicht auch Carl Schmitt unterschrieben und etwa auf seinen expressionistischen Dichterfreund Theodor Däubler verwiesen. Adornos negativ-dialektischer Hegelianismus und seine Zugehörigkeit zur idealistischen Tradition der Ästhetik sind hier nicht weiter auszuführen. Abschließend betrachte ich nur noch einen kleinen Text Adornos etwas näher, einen Radiovortrag von 1965, der „Auf die Frage: Was ist deutsch?“ antwortet. Zunächst problematisiert Adorno hier die Frage nach nationalen Stereotypen: „Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem 51 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. VII, Frankfurt/Main 1970, 344. 52 Ebd., 379. 53 Theodor W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: Ders., Noten zur Literatur, Frankfurt/Main 1981, 48–68, hier 56. 54 Ebd., 57.

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Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widerstrebt.“55 Er verweist dann positiv auf Kants „Begriff der Autonomie“ und den deutschen Idealismus, der das „Pathos des Absoluten“ und einen „Radikalismus des Geistes“56 gepflegt habe. Adorno assoziiert die Entstehung dieser philosophischen Kultur mit gesellschaftlicher Rückständigkeit Deutschlands als „verspätete Nation“. Von einer politischen Soziologie des deutschen Idealismus kann aber ernsthaft nicht die Rede sein. Adorno gibt keine starke sozialwissenschaftliche Antwort auf die Entstehungsbedingungen des deutschen Idealismus seit Kant, stellt sich aber in diese Tradition einer „Geisteskultur“, die ein Publikationswesen schuf, dass das „Recht des Autors auf die integrale Gestalt seiner Produktion verfocht“.57 Adorno schlägt also eine kurze Verbindung von Kants „Autonomie“ zum Autorenrecht. Schon Kant hatte bekanntlich die Möglichkeit von Aufklärung an die normative Forderung von Publizität geknüpft. In seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, an die Adornos Text anknüpft, forderte Kant die Freiheit zum „öffentlichen Gebrauch“ der Vernunft und schränkte diese Forderung auf die Wissenschaftsfreiheit ein: „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht.“58 Dass das deutsche Hochschulwesen Wissenschaftsfreiheit nicht unbeschränkt garantierte, hatte Adorno spätestens bei seiner Vertreibung von der Frankfurter Universität furchtbar erfahren. Auch durch die flüchtige Form des Radiovortrages ist deshalb kaum gedeckt, dass er hier von der nationalsozialistischen Zerstörung der akademischen Freiheiten schweigt und stattdessen ein beiläufiges negatives Beispiel aus den USA anführt: Die Bundesrepublik ermögliche heute Publikationsfreiheit; in den USA habe die Redaktion einer Fachzeitschrift ihm dagegen einen Text auf ihre Marktbedingungen und Standards zurechtgestutzt. Adorno antwortet also auf die Frage, was deutsch sei, recht merkwürdig: Autonomie realisiert sich im Autorenrecht auf Individualstil! Diese Antwort idealisiert die deutschen Verhältnisse nicht nur im Vergleich mit Editionspraktiken in den USA, sondern abstrahiert auch gänzlich von der Marktgängigkeit des eigenen Stils oder Jargons und dem spezifischen Verhältnis zum Suhrkamp-Verlag,59 das Adorno als Autor viele Freiheiten gab. Zuletzt nimmt Adorno seinen narzisstischen Kurzschluss von Kants Autonomie auf seine Suhrkamp-Autorschaft deshalb auch wieder zurück, wenn er der deutschen Muttersprache als „Konstituens des Gedankens“60 dankt. Adorno verwandelt die Ausgangsfrage aber in eine Apologie seiner Autorschaft. Eigentlich begründet er 55 Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch, in: Ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/ Main 1969, 102–112, hier 102. 56 Ebd., 106. 57 Ebd., 108. 58 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke, Hrsg. v. Weischedel, Bd. IX, hier 53–61, hier 55. 59 Dazu vgl. Wolfgang Schopf (Hrsg.), ‚So müsste ich ein Engel und kein Autor sein‘. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, Frankfurt/Main 2003. 60 Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch, 112.

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damit nur seine Remigration. Die Brücke zur Apologie der „neuen Musik“ liegt im starken Werkbegriff: Freiheit heißt Werkherrschaft, Autonomie beweist sich im individuellen Werk; Werke realisieren den „Übergang zur Menschheit“.61 Das dankt Adorno seiner deutschen Bildungstradition. Carl Schmitt hat sich selbstverständlich auch der idealistischen Tradition verpflichtet gewusst. Auf Kant hat er sich allerdings nicht berufen, die liberale Aufklärung ignorierte er. Die Divergenzen im Kanon sind hier nicht weiter zu bestimmen. Schmitt hätte nach seinen Erfahrungen gewiss bestritten, dass die deutsche Wissenschaftskultur durch besonders liberale Publikationsbedingungen gekennzeichnet sei. Adornos Ausführungen dazu sind auch einigermaßen absurd und abstrahieren von der allgemeinen Kapitalismuskritik und Analyse des Warencharakters der „Kulturindustrie“, die er sonst herausstellt. Adorno karikiert die klassische Frage nach dem deutschen „Kollektivsubjekt“ im Vortrag gleichsam durch die inkongruente Behandlung und verweigert die ernsthafte Antwort. Als Philosoph schaut er über die Bestandsvoraussetzungen des deutschen Idealismus hier großzügig hinweg. Die großen Fragen nach dem Traditions- und Zivilisationsbruch und der Möglichkeit einer Wiederanknüpfung an das „klassische“ Erbe der goethezeitlichen Nationalkultur sind im Radiovortrag auch übergangen. Für welche Traditionen sein Werk einsteht, ist im Kontext aber hinreichend bekannt.

X. Menschheitsutopie? Mit dem Schlusswort vom „Übergang zur Menschheit“ scheint Adorno den Konnex von „Weltbürgertum und Nationalstaat“ wiederaufzurufen, den Friedrich Meinecke62 einst als Vermächtnis der Goethezeit an das 20. Jahrhundert proklamiert hatte und Thomas Mann nach 1945 in eigener Auslegung erneuerte. Aber es ist eine ernste Frage, welchen Begriff der „Menschheit“ Adorno hatte. Die „Weltgesellschaft“ wird meist irgendwie ökonomisch verstanden. Man kann den Begriff der Gesellschaft aber im Kontext der Aufklärung auch mit romantischen Theorien der „Geselligkeit“ lesen, als kultivierte Begegnungsräume zwischen den Klassen, wie sie die Clubs und Logen der Spätaufklärung stifteten. Solche Begegnungsräume verstanden sich oft auch als Modelle und Utopien einer herrschaftsfreien Weltbürgerlichkeit. Wenn Adorno den „Übergang zur Menschheit“ an die Rezeption originärer Werke knüpft, an Kunstwerke wie philosophische Werke, meint er über die ästhetischen Erfahrungen hinausgehend wahrscheinlich keine politische Alternative, sondern eine Utopie vom geselligen Einklang einer avantgardistisch gebildeten Elite. Schmitt meinte (mit Proudhon)

61 Ebd. 62 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats, 6. Auflage München 1922.

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auf politische Menschheitsrhetorik bezogen: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“63 Eine politische Einheit der Welt lehnte er ab. Der Weltstaat erschien ihm als ein totalitärer Verwaltungsstaat, der alle Möglichkeiten politischer Selbstbestimmung ausschließt. Schmitt und Adorno waren sehr ungleiche Kritiker der „Weltgesellschaft“. Eine starke Theorie der Weltgesellschaft konnten sie beide nicht haben. Schmitts Anti-Utopismus verbot prognostische Fragen und Adornos Auffassung des „Spätkapitalismus“ ist zu abstrakt, um ein konkretes Szenario vom weltgesellschaftlichen Kapitalismus zu entwerfen. Den Weltstaat der „verwalteten Welt“ haben beide aber als totalitären Leviathan gefürchtet.

63 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, 55.

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Die Weltgesellschaft und der Sinn der Erde: Die Zivilisationskritik und die apokalyptische Schreibart Friedrich Nietzsches und Ernst Jüngers I. Nietzsches Analyse der Dekadenz seiner Zeit und die Idee der Wiedergeburt der Kultur Der Begriff einer globalen oder Welt-Gesellschaft war Nietzsche fremd. Seine späten Reflexionen kreisen aber um die Art und Weise, wie die Menschheit im Weltmaßstab neu gestaltet werden könnte. Den Ausgang dazu bildete die nach dem Vorbild der Vorsokratiker entwickelte Weisheitskonzeption, wie er sie in seinen Frühschriften thematisierte. „Andere Völker haben Heilige, die Griechen haben Weise“1, schrieb Nietzsche und gab die folgende kulturkritische Definition der sapientia: „Das griechische Wort, welches den ‚Weisen‘ bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende […]; ein scharfes Herausmerken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also […] die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus“, so dass sich die σοφία von der modernen Wissenschaft unterschied, die sich „ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wissbare“ stützt; das philosophische Denken dagegen „ist immer auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge“, stellte sich mithin „sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche“ als „eine Gesetzgebung der Grösse“2 dar, und darin liegt ihre Kulturbedeutung. Im Gegensatz dazu war die moderne Philosophie ein „gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufälliger Raub des einzelnen, verborgenes Stubengeheimnis oder ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern“: „Niemand darf es wagen, das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugesagt hatte“3. Das war für Nietzsche ein Symptom dafür, dass unsere „Zeit […] keine Kultur und in ihrem Leben keine Einheit des Stils hat“4, so dass er von seiner Zeit als von „unserer gegenwärtigen Barbarei“5 sprach. Zusammenfassend lässt sich also sagen,

1 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (KSA), Bd. I, München 1988, 808. 2 Ebd., 816. 3 Ebd., 812. 4 Ebd. 5 Nietzsche, Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, in: KSA I, 763.

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dass er eine „wirkliche, nach einheitlichem Stil geartete Kultur“6 als ein Ganzes begriff, dessen innere Kohärenz von der Philosophie als Gesetzgebung verliehen wurde und dessen Ideale lebenssteigernd wirken sollten: „Alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen“7. Diese Reflexionen Nietzsches gehören darüber hinaus in den größeren epochalen Kontext der von den europäischen Intellektuellen in Angriff genommenen Analyse der Dekadenz ihrer Kultur. Der Begriff des Verfalls trat nämlich an die Stelle desjenigen des Fortschritts am Ende des 19. Jahrhunderts, weil die Zersetzung der früher allgemeinverbindlichen religiösen und sittlichen Werte zur Zerstörung der „europäischen Ökumene“8 führte. Nicht von ungefähr schrieb Proudhon: „Alle Traditionen sind verbraucht, aller Glaube abgenutzt, andrerseits ist das neue Programm noch nicht fertig und noch nicht in das Bewusstsein der Massen eingedrungen. Daher kommt das, was ich Auflösung nenne“9. Paul Bourget, der einen maßgebenden Einfluss auf Nietzsches Kulturkritik ausübte, definierte die Dekadenz als den Zustand einer Gesellschaft, in der sich die Individuen bzw. die Zellen des „Gesamtorganismus“ nicht mehr seinem „Gesamtzweck“ unterordnen: „Die Folge ist eine Anarchie, welche den Verfall des Ganzen mit sich bringt“10. Demgegenüber wollte Nietzsche die Rolle des „Philosophen als Arztes der Cultur“11 nach dem Muster der vorplatonischen Denker spielen, die sich „eine Heilung und Reinigung“12 ihrer Welt zum Ziel setzten. In dieser Hinsicht ist auch Nietzsches fruchtbares Verhältnis zu Wagner nicht zu vergessen. Im Lichte des gegenwärtigen ,alexandrinischen‘ Zeitalters, in dem die „krankhaft wuchernden Mittel und Formen“ der Kunst und der Kultur überhaupt „ein tyrannisches Übergewicht über die jungen Seelen der Künstler erlangen“13, erscheint er als ein „Vereinfacher der Welt“, der „die Fülle […] eines scheinbaren Chaos […] in Eins zusammendrängt“14 und der dadurch darauf abzielt, den Menschen mithilfe der Neugründung einer einheitlichen Kulturwelt und durch seine Opern

  6 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 809.   7 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA I, 128.   8 Karl Löwith, Der europäische Nihilismus, in: Sämtliche Schriften, Bd. II, Stuttgart 1983, 487.   9 Zitiert nach Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, in: Sämtliche Schriften, Bd. II, Stuttgart 1983, 491. 10 Paul Bourget, Psychologische Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller, Minden 1903, 22. 11 Nietzsche, Nachlass 1869–1874, in: KSA VII, 545. Diesbezüglich sind Georg Bollenbecks Bemerkungen zu Nietzsches Zeitdiagnose äußerst interessant: „Auch wenn der Kulturkritiker das Bildungsbürgertum kritisiert, so bleibt er doch immer dessen abtrünniger Sohn. Deshalb fällt sein besorgter Blick besonders auf den Zustand von Bildung und Kultur als Zeichen des Verfalls“ (Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, 181), mit der Folge, dass Nietzsches Ausweg aus der Dekadenz „kulturalistisch“ (ebd., 180) ist. 12 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 810. 13 Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, in: KSA I, 455. 14 Ebd., 454.

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„von der modernen Seele“15 bzw. von seiner bourgeois-christlichen Subjektivitätsform zu befreien und ihn umzuschaffen. Wir stehen also vor der Erscheinung der Pastoralisierung der Kunst. Wie bekannt, dachte Max Weber, dass die Verbreitung des Protestantismus eine Übertragung der asketischen Selbstgestaltungstätigkeit aus der innerkirchlichen Sphäre in die weltlich-bürgerliche nach sich gezogen hatte. Aus einer ähnlichen Perspektive auf die Moderne stellt Foucault fest, dass diese durch den Eintritt von Pastoraltechnologien christlichen Ursprungs in die säkulare Welt charakterisiert ist, wobei er das Pastorat als die Machtform bezeichnet, die den Menschen in die angestrebte neuartige Identitätsform hineinzwingt: „In der Folge breitete sich die Pastoralmacht, die […] über mehr als ein Jahrtausend mit einer ganz bestimmten religiösen Institution verbunden gewesen war, auf die gesamte Gesellschaft aus und stützte sich auf eine ganze Reihe von Institutionen“16. Nach Foucaults Ansicht trägt das moderne säkulare Pastorat daher einen polyzentrischen Charakter, denn es hat sich in eine Vielzahl gesellschaftlicher Institutionen und Diskursformen verzweigt. Im Falle Wagners übernimmt die Kunst die Rolle des Inhabers einer säkularisierten und antichristlichen Pastoralmacht, da sie auf die weltimmanente ‚Erlösung‘ des Menschen von der kapitalistischen und christlichen Daseinsweise – anstelle der Erlangung des jenseitigen Heils – abzielt. Die Frage nach der Wiedergeburt der Kultur in einer stilistisch einheitlichen Form und die damit verbundene „meditatio generis futuri“17 beschäftigten schon darum den frühen Nietzsche, der später dem philosophischen Arzt die Rolle eines zur Hervorbringung des Übermenschen berufenen Seelenhirten im Rahmen der Pastoralisierung der Philosophie zuwies. Genau besehen, wurzelt die Theorie der Schaffung des Übermenschen in der Tradition des christlichen Pastorats18. In Anbetracht der Effekte der religiösen „Chirurgie der Seele“19 glaubt Nietzsche, dass sich das Christentum nicht als eine theologische Lehre negativ auf die Gläubigen ausgewirkt hat, sondern als ein „Ideal vom Menschen“, das „die Instinkte giftig und krank“20 macht. Dieses Ideal hat die Kirche aufgerichtet, deren Seelenführung Nietzsche in „Götzen-Dämmerung“ (1888) unter die Kategorie der „Zähmung der Bestie Mensch“21 subsumiert. Er interpretiert nämlich die Geschichte der Subjektivierung des abendländischen Menschen durch das Christentum als den Prozess, in dessen Verlauf der Priester als

15 Ebd., 463. 16 Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: Schriften IV (1980–1988), Frankfurt/Main 2005, 279. 17 Nietzsche, Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, 62. 18 Nicht zufällig vertrat Jaspers die folgende These: „Sein Kampf gegen das Christentum will keineswegs das Christentum einfach preisgeben, […] sondern er will es überwinden, und zwar mit Kräften, die das Christentum und in der Welt nur dieses entwickelt hat“ (Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, Hameln 1946, 9). 19 Nietzsche, Nachlaß 1887–1889, in: KSA XIII, München 1988, 348. 20 Ebd., S. 27–28. 21 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: KSA VI, München 1988, 99.

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„Thierbändiger“22 den Gläubigen zu „einer Mißgeburt“ und zu einem „Sünder“ umgestaltet hat, der „voller Hass“ gegen „die Erde und das Irdische“23 ist. Gegen die Priester und ihr Menschenideal ziehen also die Philosophen als Gegen-Pastoren zu Felde, die die Aufgabe haben, dem Menschen „einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrößerung“24 zu weisen. Insbesondere ist Nietzsche davon überzeugt, dass „die gesetzgeberischen Moralen“ das Hauptmittel sind, mit dem „man aus den Menschen gestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt“25, und verfolgt den Zweck, „den Menschen stärker und tiefer zu machen“26. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich eine stärkere Rasse im Laufe der Geschichte nur durch „Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, […] kurz den Gegensatz aller Heerden-Wünschbarkeiten“27 herausgebildet hat, geht es deshalb darum, vermöge einer „Umkehrung der Werte“ eine „neue Herren-Art und -Kaste“ heranzuzüchten, deren Pflicht es sein wird, „eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten“ zu predigen, um „die zukünftigen Herren der Erde“28 hervorzubringen. Die Erschaffung des Übermenschen resultiert folglich aus einem säkularisierten Pastorat, das seine Grundlage in der Gesetzgebung der Größe bzw. in der Verkehrung der christlichen Moral in eine antichristliche und immanentistische findet, zum Zweck der Züchtung des neuen, völlig erd- und lebenszugewandten Menschen. Nur dieses neue Geschlecht wird nämlich der Verwaltung „der Erde als Ganzes“29 gewachsen sein, und die kommende Umwandlung der kapitalistischen Produktionsweise wird es befähigen, eine nie zuvor gesehene Macht auszuüben. Der neuartige Menschentypus wird nämlich auch aus der „unvermeidlich bevorstehenden Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde“ Nutzen ziehen, denn diese „Gesammt-Maschinerie“ wird „eine Verkleinerung und Anpassung des Menschen an eine spezialisierte Nützlichkeit“ und damit seine „Machinalisierung“ mit sich bringen, die gerade die „Daseins-Vorausbedingung“ für die Erzeugung und die Herrschaft „einer stärkeren Art“30 sein wird. Nietzsche sah deshalb das künftige Aufkommen der Wirtschaftsglobalisierung sowie die Verwandlung des Erdballs in einen riesigen Handels- und Versklavungsort voraus. Es liegt deshalb auf der Hand, dass er nun für eine planetarische Kulturökumene plädierte: Hatte Proudhon das Fehlen eines neuen „Programms“ zur Überwindung der europäischen Dekadenz beklagt, so stellt Nietzsche die Theorie der Ausübung der philosophischen Pastoralmacht auf, um einen neuen Menschen zu schaffen, der eine nach einheitlichem Stil geartete Weltgesellschaft zu gründen vermag. Diese zukünftige Überart wird sich dem Ge22 Nietzsche, Nachlaß 1887–1889, 445. 23 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: KSA V, München 1988, 82. 24 Ebd., 146. 25 Nietzsche, Nachlaß 1884–1885, in: KSA XI, München 1988, 581. 26 Ebd., 478. 27 Ebd., 581–582. 28 Ebd., 582. 29 Ebd., 580. 30 Nietzsche, Nachlaß 1885–1887, in: KSA XII, 462–463.

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samtzweck einer solchen Weltkultur im Zeichen ihres gemeinsamen Wertesystems unterordnen, damit „jenes Zuviel von Leben auf Erden“ wieder möglich wird, aus dem „auch der dionysische Zustand“31 wieder erwachen soll. Im Übrigen hatte Nietzsche schon in „Der Wanderer und sein Schatten“ (1880) die folgende These ausgedrückt: „Wir müssen […] der grossen Aufgabe in’s Gesicht sehen, die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten“32. Der Fragenkomplex der Verwaltung der Erde kommt auch in „Also sprach Zarathustra“ (1883–1885) zu Wort, in dem mehrere Gedankenmotive des Buches der Offenbarung thematisiert werden, das „das Feuer“ ist, „welches die Lichtung zwischen Gott und Welt erhellt“33. Laut Jacob Taubes verdankt man den Juden die Auffassung der „Welt als Geschichte“34 sowie die Frage nach ihrem Wozu – dem Eschaton –, mit der Folge, dass die Weltgeschichte die Form der Heilsgeschichte annimmt. Dementsprechend ist die Redeform der Enthüllung bzw. der Verkündigung einer absoluten Wahrheit der für den Apokalyptiker typische Aussagemodus, weil er beansprucht, im Besitz des Wissens um den Gesamtverlauf, den Sinn und das Ziel der Geschichte zu sein. Daraus folgt, dass der Geschichtsgang seines Erachtens eisern vorbestimmt ist. In dieser Beziehung traf Martin Buber eine Wesensunterscheidung zwischen dem Prophetentum – dessen zentrales Theologumenon die Idee der Möglichkeit der geschichtsbildenden Rückwendung des Menschen zu Gott und dadurch der Nichtvorbestimmtheit der Zukunft ist – und der Apokalyptik, deren Grunddogma er wie folgt verdeutlichte: The future […] is already present in heaven […]. Therefore, it can be ‘disclosed’ to the speaker […]. His innermost question, accordingly, is not concerned with what poor men shall undertake but why things happen to him as they do. In this search, […] the question of […] Job […] is again taken up under the aspect of world history35.

Ferner wird die Geschichte als ein linearer Entwicklungsvorgang gedacht, der in Phasen gegliedert ist, denen verschiedene Machtgebilde entsprechen, und die Apokalyptik charakterisiert sich durch die Standortbestimmung der Gegenwart als der Zeit des radikalen Übels und der Leiden, für die dämonisierte Gewaltherrscher verantwortlich sind. Die apokalyptische Betrachtungsweise formuliert nämlich die Frage nach dem Woher des Bösen auch politisch und machtkritisch36. Im Besonderen wird die Endphase der Welthistorie als eine Angstzeit anbrechen, d. h. als die Phase der Krise, die durch die höchste Steige31 Nietzsche, Ecce Homo, in: KSA VI, München 1988, 313. 32 Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, in: KSA II, München 1988, 636. 33 Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947, 7. 34 Ebd., 16. 35 Martin Buber, Prophecy, Apocalyptic, and the Historical Hour, in: Pointing the Way. Collected Essays, New York 1957, 201. 36 Vgl. dazu Pasquale Arciprete, Apocalittica, terrorismo, rivoluzione. Radici religiose della violenza politica, Roma 2009, 174–175.

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rung des Bösen und durch die Zeichen geprägt werden wird, welche die eschatologischen Geburtswehen auf der ganzen Welt ankündigen werden37. Danach wird eine Messiasgestalt eine neue Welt und einen neuen Menschen schaffen. Nicht zu übersehen ist auch, dass – wie Reinhart Koselleck in seiner Analyse des Krisenbegriffs unterstrichen hat – Gott die Zeit vor dem Hereinbrechen des Weltendes verkürzen wird, um den Leiden seiner Auserwählten ein schnelles Ende zu bereiten, und „dass aus der anfangs übergeschichtlichen Zeitverkürzung sukzessive eine Beschleunigung der Geschichte selber geworden ist“38. An alledem wird somit deutlich, warum das Buch der Offenbarung als eine Trostschrift zu deuten ist: Es überzeugt den Leser davon, dass Gott ihm die Erlösung gewährleisten wird. Außerdem kann man die Apokalyptik als die Gattung bezeichnen, in der die Kategorie der Welt als eines mit entzifferungsfähigen Zeichen geschriebenen Textes erarbeitet wird, der von der Welt selbst sowohl als Menschheitsgeschichte als auch als ihrem Schauplatz (der oikuménē bzw. der Weltgesellschaft) handelt. Die Rolle des apokalyptischen Auslegers dieses Textes spielte Nietzsche, der bekanntermaßen schrieb: Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen39.

Mit dem Begriff des Nihilismus hat Nietzsche einen Schlüsselbegriff zum Verständnis seiner Epoche der Weltgeschichte als einer Phase des totalen Sinnverlustes geliefert. Dagegen nun spricht Zarathustra als „Wahrsager“40 vom Eschaton der Geschichte bzw. von der Vernichtung der Weltverleumder sowie des „Macht- und Schreib- und Lust-Gesindels“41 und v. a. vom Aufkommen des Übermenschen und seines „Erdenreiches“42, so dass das Feuer erlischt, das die Lichtung zwischen Gott und Welt erhellte. In der Tat tritt Nietzsche als Verfasser seines fünften Evangeliums und durch sein Alter Ego an die Stelle Jesu Christi mit dem Ziel, zu einer radikal neuartigen metanoia43 anzuspornen. Mit anderen Worten ist der „Zarathustra“ ein ethopoietischer Text, dessen Funktion es ist, den Leser zu veranlassen, an 37 Eine Passage aus dem Lukasevangelium verdient es, im Ganzen zitiert zu werden: „Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. / Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen.“ (Lk 21, 25–26) 38 Reinhart Koselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ,Krise‘, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/Main 2006, 214. 39 Nietzsche, Nachlaß 1887–1889, 189. 40 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: KSA IV, 287. 41 Ebd., 125. 42 Ebd., 393. 43 Vgl. dazu Henri de Lubac, Mistica e mistero cristiano, Milano 1979, 281.

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sich selbst zu arbeiten, um die bürgerlich-christliche Identität loszuwerden und um damit zur Daseinsform des Übermenschen zu gelangen. Dieser sollte der einzige geschichtliche Akteur sein und den passiven Nihilismus der „weltmüden Feiglinge“44 mittels einer Wertsetzung überwinden, dank deren die Erde zu einer „Stätte der Genesung“45 umzukodieren wäre, was impliziert, dass der neue Menschentypus als „der absolute Wertträger“46 und Sinnstifter aus dem „Menschen-Sinn“, der „tausend Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens“ zeigt, den „Sinn der Erde“47 zu machen hat.

II. Ernst Jüngers „Der Arbeiter“: Sinnverlust und Remythisierung „Der Arbeiter“ (1932) Ernst Jüngers stellt sich in die Tradition des „Zarathustra“ in dem Maße, in dem auch dieser Text eine „manufaktorische Eschatologie“48 ist, da der Homo faber die „Schicksale der Erde“49 in die Hand nehmen will, um sie in ein planetarisch-technisches Imperium zu verwandeln und um die Weltgeschichte säkular-messianisch zur Vollendung zu bringen. Auch die nietzscheanische Vision einer globalen Kulturökumene taucht folglich wieder auf: Der sich anbahnende neue „Staat von […] imperialem Rang“50 ist durch den einheitlichen Stil „einer ungeheuren Schmiedewerkstätte“ gekennzeichnet, in der „jedes Mittel […] provisorischen, […] Werkstättencharakter“51 trägt und die sich im Zeichen eines Nivellierungsvorgangs weltweit verbreitet: Tatsächlich hat die Werkstättenlandschaft, die unsere Zeit kennzeichnet und die man gemeinhin als Industrielandschaft zu bezeichnen pflegt, den Erdball bereits sehr gleichmäßig mit ihren Bauten und Anlagen, mit ihren Städten und Revieren bedeckt. Es gibt keine Region mehr, die nicht durch Straßen und Schienen, durch Kabel und Funkwege, durch Flug- und Schiffahrtslinien in Fesseln geschlagen ist. Es fällt immer schwerer, zu entscheiden, in welchem Lande, ja in welchem Erdteil die Bilder entstanden sind, die die photographische Linse festgehalten hat52.

Selbstverständlich unterscheidet sich die Welt des Arbeiters von der Erdkultur des Übermenschen dadurch, dass die moralische Gesetzgebung der Größe nihilistisch der Technik 44 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 240. 45 Ebd., 101. 46 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, Leipzig 1907, 206. 47 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA IV, 100. 48 Marion Titze, Schmerz, in: Alexander Pschera (Hrsg.), Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht, Berlin 2008, 261. 49 Nietzsche, Nachlaß 1885–1887, 87. 50 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, in: Sämtliche Werke, Bd. VIII, Stuttgart 1981, 203. 51 Ebd., 176. 52 Ebd., 226–227.

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als vereinheitlichender Prägeform weicht, was die Schmittsche Theorie der „Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete“53 in der europäischen Geistesgeschichte bestätigt. In seinem Vortrag über „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (1929) erblickte Carl Schmitt nämlich in der Verlagerung „vom Theologischen ins Metaphysische, von dort ins Humanitär-Moralische und schließlich zum Ökonomischen“54 und Technischen den vom europäischen Geistesleben beschrittenen Weg. Die Diagnose der Entstehung einer technologischen Weltgesellschaft wird im „Frieden“ (1945) wieder formuliert, in dem Jünger darauf hinweist, dass der menschliche Wille zur „Einheit“ in der Technik zum Ausdruck kommt, deren Werkzeuge „auf große Räume“ zugeschnitten sind: „Der Erdball, in Stunden überflogen und in Sekunden zu überspannen mit Bildern, mit Signalen, mit Befehlen, liegt wie ein Apfel in des Menschen Hand“55. Dennoch distanziert sich der deutsche Autor von seinem Opus magnum, indem er sich nun zu einem wiederverzauberten apokalyptischen Weltdenken bekennt. Dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung des „Arbeiters“ schildert Jünger „die roten Fronten, die zum ersten Mal die Kugel des Planeten mit glühenden Nähten“56 schweißen, und zieht daraus den folgenden Schluss: Vorzeichen der Einigung gibt die Figur des Krieges selbst. Er ist der zweite Weltkrieg, und stärker noch als im ersten tritt zutage, daß es sich nicht mehr um einen Zwiespalt handelt, der sich begrenzen ließe, sondern daß alle irdischen Nationen tätig und leidend an ihm beteiligt sind. Das ist kein Zufall; es ist das Zeichen, daß die Welt als Menschenheimat neue Form und neuen Sinn gewinnen will. Zum ersten Male ist die Erde, als Kugel, als Planet gesehen, Schlachtfeld geworden, und die Menschengeschichte drängt planetarischer Ordnung zu. […] Als Söhne der Erde stehen wir im Bürgerkriege, im Bruderzwist. Der uns bekannte Raum ist Schlachtfeld, ganz ähnlich wie in jenen großen Wirren, aus denen das römische Imperium entstand. In diesem Sinn ist es kein Zufall, daß wir im Feuer leben, wir stehen in der Schmelze und in den Schmerzen der Geburt. Uns preßt der Schicksalszwang.57

Darüber hinaus schreibt Jünger, dass „hier im Brüderkrieg ein neuer Sinn der Erde ausgetragen wurde“58, woran die Wesensunterschiede zwischen der Apokalyptik Jüngers und derjenigen Nietzsches sichtbar werden. Gerade das Weltkriegserlebnis und seine seelischen Nachwirkungen prägten nämlich die Rezeptionsweise des nietzscheanischen Philosophems des Sinnes der Erde. Diese Rezeptionsart steht unter dem gewaltigen Schatten des Nihilismus, dessen psychische Folgeerscheinungen von Carl Gustav Jung scharfsinnig analy53 Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles (1923–1939), Berlin 1988, 122. 54 Ebd. 55 Ernst Jünger, Der Friede, in: Sämtliche Werke, Bd. VII, 212. 56 Ebd., 197. 57 Ebd., 211. 58 Ebd., 199 (meine Hervorhebung).

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siert wurden. In seinem Aufsatz über „Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge“ (1932) sah er im Sinnverlust den Ausfluss des Verfalls des religiösen Glaubens, der seinerseits zur Zunahme der Neurosen geführt hatte59, denn die Psychoneurose war „im letzten Verstande ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat“60. Nach Jung ist der Neurotiker demzufolge derjenige, der daran krankt, „dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben“61, so dass die Kranken „den Seelenarzt in eine priesterliche Rolle“ zwingen, „indem sie von ihm erwarten und verlangen, von ihrem Leiden erlöst zu werden“62. Aus diesem Grund „müssen wir Seelenärzte uns mit Problemen beschäftigen, die, streng genommen, eigentlich der theologischen Fakultät zufielen“63. „Heute sind wir von der Zerstörung bereits erreicht, die Seele hat Schaden gelitten“64, fährt Jung fort und zieht daraus das folgende Fazit: „Fiktionen, Illusionen, Meinungen sind wohl die allerintangibelsten, allerunwirklichsten Dinge, die man sich denken kann, und doch sind sie seelisch und sogar psychophysisch die allerwirksamsten“65, denn „das Bedeutende nur erlöst“66. Die Paradoxie der durchrationalisierten Moderne liegt deshalb darin, dass nur resakralisierende, quasi-theologische und sinnstiftende Fiktionen die nihilistische Malaise zu heilen vermögen. Gerade die entzauberte Welt strebt nach ihrer Wiederverzauberung und einer Sinnspendung. In Anknüpfung an Jungs Diagnose betrachtete Viktor Frankl den „Willen zum Sinn“67 als einen Wesenszug des Menschseins und stellte fest, dass sich die „noogene Neurose“68 in der Form des „existentiellen Vakuums“69 aus der Sinnentnahme ergab. Inmitten des Tobens des Konflikts und angesichts der Notwendigkeit, dieser Katastrophe einen Sinn zu verleihen, sah sich auch Jünger also gezwungen, „eine priesterliche Rolle“ zu spielen und vom zielbewussten Handeln einer Gottheit – der Erde – zu sprechen, um sein nihilistisches Leiden am Sinnlosen zu bewältigen und um seiner Leserschaft dazu zu verhelfen. In diesem Sinne besteht eine Affinität zwischen der im „Frieden“ entworfenen Pathodizee70 und dem Willen zur Sinnspendung, der dem Essay „Der Krieg als inneres Erlebnis“ 59 „Es scheint mir, als ob parallel mit dem Niedergang des religiösen Lebens die Neurosen sich beträchtlich vermehrt hätten“ (Carl Gustav Jung, Die Beziehungen der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich – Leipzig – Stuttgart 1932, 14). 60 Ebd., 7. 61 Ebd., 12. 62 Ebd., 26. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd., 6. 66 Ebd., 7. 67 Viktor Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München 2007, 32. 68 Ebd., 38. 69 Ebd., 22. 70 Zu diesem Ausdruck siehe Viktor Frankl, Homo Patiens. Versuch einer Pathodizee, in: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern 1984, 162 ff.

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(1925) zugrunde lag. Unter Berufung auf Spengler mythisierte Jünger in diesem Aufsatz die Schicksalsidee zu einer Art von alttestamentarischem Gott, indem er die These vertrat, dass eine übernatürliche Macht – das Geschick – den Krieg hatte ausbrechen lassen, um ein verkommenes Geschlecht zu bestrafen und zu reinigen71. Mit anderen Worten hypostasierte Jünger den kulturmorphologischen Schicksalsbegriff zu einem zornigen Gott, um eine Antwort auf die Frage nach dem Warum einer geschichtlichen Tragödie zu finden, und es ist zu betonen, dass er – genauso wie im „Frieden“ – die heraufbeschworene Gottheit für ein wirkliches Numinosum hielt72. Ganz im Gegenteil, die weltumspannende Technisierung wurde im „Arbeiter“ als ein schicksalsbedingtes Ereignis interpretiert, weil die Spenglersche Idee des schicksalsmäßigen Modernisierungsprozesses73 die Züge der metaphysischen Gestalt des Arbeiters gewann, die sich „des tätigen und leidenden Menschen als eines Mediums“74 bediente. In diesem Sinne markiert der „Arbeiter“ den Übergang vom sinnstiftenden Mythos des Ersten Weltkriegs als schicksalhaftes Geschehnis zum politischen Mythos der Technisierung als einer metaphysisch ausgelösten und unausweichlichen Erscheinung, und man kann mit Fug und Recht von einem politischen Mythos im Sorelschen Sinne sprechen, da Jüngers ‚Technodizee‘ das Ziel hat, die Leser zu veranlassen, auf eine bestimmte Weise zu handeln75. Der Jüngersche Technikmythos basiert nämlich auf der praxisleitenden Fiktion, derzufolge 71 Laut Jünger hat seine Generation im ersten technisierten Massenkrieg mit dem Tod dafür gebüßt, dass sie den Stoff als höchsten Wert gesetzt hatte: „Ja, hier erleidet eine Zeit, die im Stoffe das höchste sah, durch den Stoff selbst ein furchtbares Strafgericht“ (Ernst Jünger, Der Krieg als inneres Erlebnis, in: Politische Publizistik 1919–1933, 105). 72 Sein Text bietet demzufolge ein gutes Beispiel für jene „Mythologisierung des Kriegserlebnisses“, die nach George Mosse im Bedürfnis wurzelte, darin einen höheren Sinn zu finden. Siehe dazu George Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, 16. Den Mythologisierungsvorgang beschreibt Mosse so: „Die Realität des Kriegserlebnisses wurde zu etwas umgemünzt, das man als den Mythos des Kriegserlebnisses bezeichnen könnte, der in der Rückschau den Krieg als sinnhaftes und nachgerade heiliges Ereignis verklärte.“ (ebd., 13). 73 Zur Technikherrschaft als Grundzug der schicksalsgehorsamen faustischen Zivilisation lese man die folgende Passage: „Diese faustische Leidenschaft hat das Bild der Erdoberfläche verändert. […] Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen. Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen. […] Was am Anfang die glühend hinaufschwebende Inbrunst des heiligen Bernhard suchte, was Grünewald und Rembrandt in ihren Hintergründen und Beethoven in den erdfernen Klängen seiner letzten Quartette ersannen, das kehrt nun wieder in dem durchgeistigten Rausch dieser dichten Folge von Erfindungen“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1972, 1188–1189). Siehe zu Spengler auch den Beitrag von Alexander Demandt in diesem Band. 74 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, 174. 75 Den revolutionären Mythos fasste Sorel als „une organisation d’images“ (Georges Sorel, Réflexions sur la violence, Paris 1910, 169) auf, die die Vision des künftigen explosionsartigen Generalstreiks und des daraus resultierenden heroischen Kampfes der Proletarier gegen die Bourgeoisie entwarfen und die dadurch fähig waren, in den Arbeitern „un état d’esprit tout épique“ (ebd., 364) hervorzubringen und sie folglich zum revolutionären Engagement zu mobilisieren.

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eine göttliche Instanz die Moderne durchwaltet, so dass nichts anderes übrig bleibt, als sich ins Schicksal zu fügen und den Technisierungsvorgang zu bejahen. In dieser Perspektive nimmt die sogenannte Wende Jüngers die Form der Rückkehr zur sinnstiftenden Mythenbildung und zum tröstlichen Gottdenken an76. In der „Friede“-Schrift vollzieht er noch einmal einen mythosgestützten Sinngebungsakt, indem er das Gemälde einer Erdapokalypse entrollt, und entwirft schon seine später vollentwickelte Poetologie. „Es gibt Abschnitte“, hält Jünger nämlich in der „Schere“ (1990) fest, „in denen die Literatur vikariiert“77. Im Zeitalter des „Rückzuges der Götter“78 erfüllt der Autor deswegen eine unentbehrliche Funktion, da er als ein „geistiger Vater“79 von der Feder Gebrauch machen soll, um „Wüsten erblühen“80 zu lassen. Mit anderen Worten: Jünger sakralisiert den Autor zu einem säkularen Seelsorger, der den „metaphysisch Enterbten“81 seine „geistige Hilfe“82 anbietet. Was den „Frieden“ anbelangt, kann man deshalb sagen, dass Jünger die Rolle eines Apokalyptiker-Schriftstellers übernimmt, der seine Rolle darin sieht, dass er den Willen einer numinosen Macht sinnstiftenderweise offenbart. Der Text nimmt daher die Form einer tröstenden und antinihilistischen Apokalypse an, die sich von der kulturtherapeutischen und auf die Hervorbringung des Übermenschen ausgerichteten Offenbarung Nietzsches unterscheidet. III. Jüngers Idee vom „Weltstaat“ Die Schrift „An der Zeitmauer“ (1959) ist das Bindeglied zwischen dem „Frieden“ und dem „Weltstaat“ (1960). „Die Gestalt des Arbeiters […] sehen wir aus jedem Brande mächtiger emporsteigen“83, schreibt Jünger in Anbetracht der Vollentwicklung seiner Weltzivilisation, in der „das technisch-ökonomische Denken“84 als „zerstörende Hauptmacht“ herrscht, die „innere Leere“ schafft, indem sie die „Entzauberung, Entweihung, Entheiligung“85 mit sich bringt. Demzufolge kann Jünger apodiktisch feststellen: „Das Abendland hat viele Wissenschaften […], aber es fehlt ihm die Wissenschaft vom Glück. Eher läßt sich behaupten, daß 76 Zur Wende Jüngers schrieb Plard: „In seinen Essays der letzten Jahre zeichnete Jünger meist eine Therapie, wenn auch nur in großen Zügen; hier [in der Schrift „An der Zeitmauer“, M. B.] aber ist keine Therapie vonnöten, denn die Verwandlung, die Jünger meint, soll schon an sich und ohne menschliches Zutun den Qualen und Zweifeln unserer Gegenwart abhelfen“ (Henri Plard, Ernst Jüngers Wende. An der Zeitmauer und Der Weltstaat, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Wandlung und Wiederkehr. Festschrift zum 70. Geburtstag Ernst Jüngers, Aachen 1965, 119). 77 Ernst Jünger, Die Schere, in: Sämtliche Werke, Bd. XIX, Stuttgart 1999, 464. 78 Ebd., 449. 79 Ebd., 380. 80 Ebd., 262. 81 Jünger, Zahlen und Götter, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII, Stuttgart 1981, 323. 82 Jünger, Autor und Autorschaft, in: Sämtliche Werke, Bd. XIX, Stuttgart 1999, 21. 83 Jünger, An der Zeitmauer, in: Sämtliche Werke, Bd. VIII, 526. 84 Ebd., 417. 85 Ebd., 632.

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überall, wo es mit seinen Methoden und Apparaten eindringt, zwar Energien zuströmen, das Glück aber Abschied nimmt“86. Aus diesem Grund sieht er den Arbeiter nicht mehr als die im gleichnamigen Buch verherrlichte Übermenschenfigur an, sondern als einen elenden, versklavten und insektenartigen „letzten Menschen“87. Gerade in dieser Krisenzeit liegt in der „Schicksalsvermutung“ ein „mächtiger Trost“88, und es kommt dem Priester als „dem Hinzutretenden“89 zu, den Menschen zu verkünden, dass sich in ihren Taten „große Mächte spiegeln und sie mit Sinn belehnen“90. Die Kritik an der Arbeiterwelt wird im „Weltstaat“ radikalisiert. Am Anfang des Textes bemerkt Jünger, dass Deutschland das Land ist, „in dem die kommenden Dinge seit über hundert Jahren zentral und zuweilen auf prophetische Weise durchdacht wurden“91. Der Hinweis auf die Propheten liefert den Schlüssel zum Verständnis des „Weltstaates“, der noch einmal nur vor dem Hintergrund der apokalyptischen Denkund Schreibweise begreiflich ist. Im Rahmen einer Theosemiotik spielt Jünger wieder die Rolle eines Apokalyptiker-Schriftstellers, der eine absolute Wahrheit mitteilt, indem er sein Augenmerk auf das Handeln der Erde auf der Geschichtsbühne der Welt richtet. Er spricht nämlich von den „Zeichen“, die auf „die weitere Ausdehnung der Großräume in die globale Ordnung“ und schließlich auf das Aufkommen des „Weltstaates“92 hindeuten, und merkt dazu an: „Dafür, daß unsere alte Erde wieder einmal ihr Kleid verändern will, wie das schon oft geschehen ist, gibt es mannigfache Anzeichen“93. Es leuchtet also ein, dass er gerade die Gegenwart als eine säkular-eschatologische Endzeit deutet, da der Weltstaat als das Ergebnis der zunehmenden Interdependenz aller durch die globale Technikherrschaft unterjochten Einzelstaaten nun an die Stelle des Gottesreiches tritt. Daraus ist auch ersichtlich, dass sich Jüngers Geschichtsbild von demjenigen Nietzsches unterscheidet. Sein Menschenbild drückt sich darin aus, dass er den Menschen als den „Sohn der Erde“94 und folglich als ihren ‚Untertanen‘ versteht. Der Mensch ist nicht mehr der geschichtliche Akteur par excellence – Antäus entthront Herakles –, und die Menschheitsgeschichte wird durch die „Erdgeschichte“95 abgelöst. Die Erde, so Jünger, „hat die Ordnung der Barockstaaten zerbrochen zugunsten der Nationalstaaten und der auf sie gegründeten Imperien, und sie hat wiederum mit den Nationalstaaten zugunsten der Weltstaaten aufgeräumt“96. Ähnlich wie sein Referenzphilosoph beschäftigt sich Jünger daher mit dem Thema des Auftretens der Welt86 Ebd., 439. 87 Ebd., 540. 88 Ebd., 405. 89 Ebd., 418. 90 Ebd., 415. 91 Jünger, Der Weltstaat, in: Sämtliche Werke, Bd. VII, Stuttgart 1980, 486. 92 Ebd., 525. 93 Ebd., 495. 94 Ebd., 498. 95 Ebd., 485. 96 Ebd., 499.

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gesellschaft, und im Rückgriff auf den apokalyptischen Topos der Zeitverkürzung schreibt er, dass sich die Menschen in einer Bewegung befinden, die sich accelerando vollzieht und deren Auswirkungen mit folgenden Worten geschildert werden: „Bei unbefangener Ansicht erstaunt die große und wachsende Gleichförmigkeit, die sich über die Länder ausbreitet […]. Es sind dieselben Leitworte, die überzeugen, wie Friede, Freiheit, Demokratie; es ist ein und dieselbe Technik, die zur Perfektion getrieben wird“97. Die Globalgesellschaft wird darum als das Resultat eines schmerzlichen und weltweit voranschreitenden Nivellierungsprozesses im Zeichen eines „Erdstils“98 betrachtet, da Gäa selbst ihn in Gang gesetzt hat, so dass sich Jünger wiederum mit der Hiobfrage beschäftigt. Seine sinnspendende Erdapokalypse hat nämlich den Zweck, das Warum und das Wozu der Globalisierung zu enthüllen und die damit einhergehenden Unheilsphänomene metaphysisch zu rechtfertigen99. Sein Leser begreift sich deswegen als das Opfer eines gottgewollten und sinnvollen Vorgangs, und in seiner Eigenschaft als geistiger Vater versucht Jünger damit – angesichts des Verblassens „vertrauter Sinngebungen“100 –, die Weltgeschichte antinietzscheanisch wieder zu teleologisieren, das nihilistische Sinnvakuum auszufüllen und eine Art von Pathodizee auszuarbeiten. Hinsichtlich der Prozesse, die der Weltgesellschaft den Weg ebnen, behauptet Jünger außerdem, dass der Nivellierungsvorgang die Funktion hat, alle Hemmnisse zu beseitigen, die dem Walten des technischen Leistungsprinzips hinderlich sind. Daher rühren die Angleichung der Geschlechter und die Einebnung der Klassen „und auch der großen Naturmarken wie jener der Jahreszeiten oder der von Tag und Nacht“, die dem vierundzwanzig Stunden langen Arbeitstag „unter- und eingeordnet“101 werden. Noch wichtiger aber ist, dass die Staaten ihre Bürger zwingen, den Eros zu sublimieren, um die Arbeitsleistungen zu maximieren: „Daß dort, wo Großes ins Werk gesetzt werden soll, der Natur Zwang angetan, der Eros in Mitleidenschaft gezogen wird, ist nichts Seltenes in der Geschichte“102. Kurzum, Jünger nimmt Foucaults These der Umwandlung des modernen Staates in den Inhaber einer säkular-pastoralen und biopolitischen Macht vorweg. Diese neuartige politische Entität verfolgt den Zweck, das Individuum zum bloßen Funktionsräd 97 Ebd., 492.  98 Ebd., 496.  99 Eine reduktive Interpretation des Textes hat Jan Robert Weber jüngst geboten. In seinen Augen ist „Der Weltstaat“ „Jüngers politische Botschaft für die Zeitgenossen“, und er fügt hinzu: „In typischer Weise folgt der Essay einer apokalyptischen Umschlagtheorie, einer an Spengler, Nietzsche, Bachofen und der Gnosis geschulten Denkfigur, die in poetischen, metaphorisch eingängigen und aphoristisch abgeschlossenen Sinnbildern veranschaulicht wird. Jünger übt sich in der ästhetischen Schau von politisch aktuellen, überdies brisanten zeitgeschichtlichen Themen, ohne dass der Autor selbst eine eindeutige, d. h. politisch klar zu verortende Position bezöge“ (Jan Robert Weber, Der Weltstaat, in: Matthias Schöning (Hrsg.), Ernst JüngerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2014, 219–220). Damit wird die Sinnstiftungsfrage völlig ignoriert, die sich leitmotivisch durch das Gesamtwerk Jüngers zieht. 100 Jünger, Der Weltstaat, 497. 101 Ebd., 509. 102 Ebd., 508.

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chen des Staatsapparats zu verdinglichen103, so dass „Automaten“104 in den Mittelpunkt rücken. Zum Staatszugriff auf den bios selbst schreibt Jünger: Nicht nur der Einzelne und seine natürlichen Gemeinschaften wie die Familie, die Sippe, der Stamm, das Volk sehen sich hier einer Forderung ausgesetzt, die tief in die Substanz greift […]. Das Leben selbst steht an einem seiner großen Kreuzwege. Auf ihm begegnen sich Organismus und Organisation105.

In diesem Zusammenhang tritt ein weiterer Grundunterschied zwischen Jünger und Nietzsche zutage: Der erstere verurteilt die stilistisch einheitliche Arbeiterwelt machtkritisch als eine „dynamische Monokultur“106 und als ein stählernes Gehäuse und wendet sich von Nietzsches Plädoyer für die Robotisierung und Ausbeutung der Menschen in der planetarischen wirtschaftlichen „Gesammt-Machinerie“ ab. Es ließe sich daher sagen, dass Jünger, im Gegensatz zu Bourget, gerade die Dekadenz besingt, innerhalb deren Wirkungsbereich sich das Leben der Individuen den Zwängen des Gesamtorganismus entziehen kann. Der Grund dafür ist, dass seine Bemerkungen zum Staatswesen in der anarchistischen Denktradition stehen. „Der Anarchist“, schreibt Jünger, „ist derjenige, dessen Erinnerung am weitesten zurückreicht: in vorgeschichtliche, ja vormythische Zeiten, und der glaubt, daß der Mensch damals seine eigentliche Bestimmung erfüllt habe“107. In diesem Sinne ist der Anarchist „der Urkonservative, der Radikale, der Heil und Unheil der Gesellschaft an der Wurzel sucht“ und der den Staat „als Quelle des Übels und der Verfälschung des Humanen“108 erachtet. Eine zentrale Affinität zwischen der Kulturkritik Nietzsches und derjenigen Jüngers ist jedoch hervorzuheben. Beide greifen zum ethopoietischen Schreiben, um die Leserschaft von ihrem gegenwärtigen Sosein zu erlösen, mit dem Unterschied, dass Jünger die Beispielfigur des Anarchisten zeichnet, um seine Leser dazu zu bringen, sich selbst zu bearbeiten, um die Seinsweise eines vom Staat und von dessen zu internalisierenden Imperativen109 so103 Schon in der Novelle „Sturm“ (1923) hatte Jünger bemerkt: „Seit der Erfindung der Moral und des Schießpulvers hat der Satz von der Auswahl des Tüchtigsten für den Einzelnen immer mehr an Bedeutung verloren. Es läßt sich genau verfolgen, wie diese Bedeutung allmählich übergegangen ist auf den Organismus des Staates, der die Funktionen des Einzelnen immer rücksichtsloser auf die einer spezialisierten Zelle beschränkt. Heute gilt einer längst nicht mehr das, was er an sich wert ist, sondern nur das, was er in bezug auf den Staat wert ist“ (Ernst Jünger, Sturm, in: Sämtliche Werke, Bd. XV, Stuttgart 1978, 15). 104 Jünger, Der Weltstaat, 488. 105 Ebd., 504. 106 Jünger, An der Zeitmauer, 423. 107 Jünger, Der Weltstaat, 522. 108 Ebd. 109 Man lese diese Stelle: „Wenn nun der Staat und mit ihm organisatorisches Denken gewaltig werden, wie Menschen und Völker es in der Gegenwart erleben, so werden die Gefahren teils über-, teils unterschätzt. Sie liegen weniger in der physischen Bedrohung der Völker und ihrer Menschen, einer Bedrohung, die freilich evident ist, als in der Gefährdung der Spezies als solcher, und zwar vor allem dadurch, daß sie in ihrem Gat-

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wie von der Tyrannei des „kalkulierenden Verstandes“110 befreiten Individuums zu erlangen. Kurz gesagt: Er setzt sich für die Entstehung eines mit einer neuartigen Seelenökonomie begabten Menschentypus ein, der der normalisierenden und arbeitszentrierten Weltgesellschaft antagonistisch gegenübersteht.

tungsmerkmal, der Willensfreiheit, betroffen wird. Damit würde das Leuchten höherer Gesittung im Glanz der Perfektion dahinschwinden. […] Die Eigenart des Menschen liegt in der Willensfreiheit, das heißt im Unvollkommenen. Sie liegt in der Möglichkeit, schuldhaft zu werden, Irrtümer zu begehen. Die Perfektion dagegen macht die Freiheit überflüssig; die rationale Ordnung gewinnt die Schärfe des Instinkts. Auf solche Vereinfachung strebt offensichtlich eine der großen Tendenzen des Weltplans zu“ (ebd., 514–515). 110 Jünger, An der Zeitmauer, 406.

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Spengler und die Weltgesellschaft Das Wort „Weltgesellschaft“ kommt bei Spengler nicht vor. Gleichwohl schätzt er Begriffe, die mit dem Wort „Welt“ zusammengesetzt sind. Er spricht von Weltanschauung und Weltbild, von Weltangst und von Weltsehnsucht, von Weltblick und Weltgefühl, von Welthaftigkeit und Weltsystem, dann aber auch von Weltwirtschaft und natürlich von Weltgeschichte im Sinne von Menschheitsgeschichte.

I. Vorgeschichte – Geschichte – Nachgeschichte Die seit dem 17. Jahrhundert übliche Dreiteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit lehnt Spengler als ein „sinnloses Schema“ ab, weil es eine durchlaufende Entwicklung unterstellt. Das terminologische Problem der Verlängerung in neuere, neueste Geschichte, Zeitgeschichte, Gegenwartsgeschichte karikiert er mit dem unappetitlichen Bild des „Bandwurms, der unermüdlich Epochen ansetzt“.1 Gleichwohl zerfällt die Geschichte der Menschheit auch für ihn in drei, allerdings anders gefasste Großperioden. Die erste ist die Urzeit seit der Menschwerdung bis zum Aufblühen der ersten Hochkulturen um 3000 v. Chr. Diese frühe Zeit bleibt im Untergangsbuch ebenso außer Betracht wie die barbarische Vorzeit späterer Kulturvölker. Eine Schlacht zwischen zwei Germanenstämmen ist so unwichtig wie die „zwischen zwei Ameisenvölkern“. Das ist „Zoologie“.2 Gemäß dem von Hegel inspirierten Begriff der Prähistorie handelt es sich ja um „Vorgeschichte“, noch nicht um eigentliche Geschichte. Erst in den nach 1924 entstandenen, 1966 publizierten Fragmenten zur „Frühzeit der Weltgeschichte“ spricht Spengler von a-, b-, c-Kulturen ohne Städte und ohne Schrift.3 Ihnen lässt er mit den d-Kulturen die zweite Großperiode folgen. Das ist die Zeit der Hochkulturen, ein Begriff, den das Grimmsche Wörterbuch 1877 noch nicht kennt. Spengler nennt dies die „Geschichte des höheren Menschentums als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur“.4 Es ist die „Hochgeschichte“ nach der „Vorgeschichte“ und vor der „Nachgeschichte“.5 Spengler unterscheidet acht Hochkulturen: die babylonische, ägyp1 2 3 4 5

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes I/II, 1922/23 , hier I 20, 38. Im Folgenden (UA). UA, II, 57. Oswald Spengler, Frühzeit der Weltgeschichte, 1966, 430. Im Folgenden (FW). UA, I, 63. FW, X.

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tische, chinesische, indische, antike, arabische, mexikanische und abendländische Kultur. Jede durchlaufe einen Zyklus von rund tausend Jahren gemäß dem ihr innewohnenden Seelentum, ganz eigengesetzlich, ohne wesentliche Einwirkung älterer oder benachbarter Kulturen.6 Die Idee einer künftigen russischen Hochkultur7 wird 1924 einmal angedacht, aber nicht ausgeführt. Das wäre auch nur ein „matter Nachzügler“. Die Hochkulturen sind das Thema Spenglers, der somit eher Kulturphilosoph als Geschichtsphilosoph ist. Alle Kulturen durchlaufen drei Stadien, von der Archaik über die Klassik zur Zivilisation der Spätzeit. In dieser jeweils letzten Phase erkennt Spengler eine universalistische Tendenz, eine Ausbreitung über den Ursprungsraum hinaus. An der Expansion der chinesischen Kultur in Ostasien und am Hellenismus im gesamten Mittelmeergebiet und darüber hinaus wird das deutlich. Das gilt auch für die „westeuropäisch-amerikanische“ Kultur, die Spengler von rund 1000 bis 2000 n. Chr. ansetzt.8 Die großen Kulturleistungen sieht Spengler an die je spezifische Landschaft gebunden, in denen sie entstehen. Die Werke der Zivilisation hingegen sind überall zu Hause, einer unbegrenzten Verbreitung fähig.9 Da die unsere als die erste und einzige Kultur ihre Zivilisation über den gesamten Planeten verbreitet, gibt es keinen jungfräulichen Mutterboden mehr für eine künftige Kultur, so dass sie die letzte ist und bleiben wird. Insofern beginnt mit ihrem Ende, mit dem Untergang des Abendlandes, die dritte Großperiode, die nachkulturelle Posthistorie, eben die Spengler’sche Nachgeschichte. Wenn Spengler selbst bestreitet, dass mit ihr ein „drittes Zeitalter“ beginne, weil die „Zivilisation, welche heute die ganze Erdoberfläche ergriffen hat“, europäisch geprägt sei10, so handelt es sich doch um eine grundsätzlich neue Gesamtlage. Der quantitative Unterschied der globalisierten europäischen Spätkultur gegenüber den früheren wird zum qualitativen Merkmal, zur Sonderstellung des Abendlandes innerhalb der acht Hochkulturen. Die Überwindung des Eurozentrismus, die der Konzeption Spenglers nachgerühmt wird, findet hier ihre Grenze. Das Ende der europäischen Hochkultur ist das Ende der zweiten Großperiode, der Abfolge der Hochkulturen. Nun beginnt die dritte Großperiode. Der Untergang des Abendlandes ist der Übergang in die Weltgesellschaft.

II. Doppelsinn der Grundbegriffe Die Weltgesellschaft ist nicht eigentlich Thema bei Spengler. Dennoch können wir seine Vorstellung von ihr erkennen einerseits aus dem, was er den Zivilisationsphasen generell zuschreibt, andererseits aus seinen politischen Zukunftserwartungen und Zukunftsforde  6 UA, II, 42.   7 Oswald Spengler, Politische Schriften, 1933, 24. Im Folgenden (PS).   8 UA, I, 259.   9 UA, II, 128. 10 UA, II, 43.

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rungen. Der Begriff der Zivilisation hat bei Spengler einen chronologisch übergreifenden Doppelsinn. Zum einen bezeichnet er die letzte Phase jeder Hochkultur, gehört also noch zu ihr. Zum anderen steht er für das Leben eines Volkes in der Zeit nach dem Ende der Hochkultur. Im ersten Fall ist Zivilisation die späte Form von Kultur, im zweiten der Gegensatz zu ihr. Somit hat auch der Begriff „Kultur“ eine zweifache Bedeutung, indem er einerseits ihre zivilisatorische Spätphase einschließt, andererseits aber gegen die nachkulturelle, angeblich kulturlose Zivilisation abgegrenzt wird. Zum Dritten ist damit auch der Begriff der Geschichte ambivalent, weil er auch für das Geschehen in der Noch-nicht-Geschichte und in der Nicht-mehr-Geschichte verwendet wird und verwendet werden muss. Spengler spricht hier von „Scheingeschichte“11, von „geschichtslosem Geschehen“ ohne innere Ordnung. Zivilisation ist mithin eine Endzeiterscheinung12, die vor dem Kulturtod einsetzt und ihn überdauert. Endzeit ist ein Ende, aber hat kein Ende. Spengler bietet uns stattdessen das Bild eines abgestorbenen Baumes, der noch Jahrhunderte stehen kann, bevor ein Sturm ihn umreißt.13 Tatsächlich haben ja alle Völker, die eine Kulturblüte erlebt haben, diese als Zivilisation überdauert. Es gibt keinen Konfuzius mehr, keinen Ramses, keinen Platon; aber Chinesen, Ägypter und Griechen gibt es sehr wohl noch. Sie alle hatten und haben für uns noch Geschichte, aber die bleibt für Spengler kulturhistorisch belanglos.

III. Zivilisation ist Zoologie Für Spengler ist der Übergang von der Kultur in die Zivilisation der Rückfall aus der Geschichte in die Zoologie.14 Das Geschehen, das zuvor einer streng gesetzlichen „organischen Logik“ gehorchte, wabert und wuchert nun ohne innere Ordnung. Was jetzt noch an Geisteswerken geschaffen wird, ist nicht mehr an einen Zeitstil gebunden. Es herrscht der Stil der Stillosigkeit. Es gibt nur noch kurzfristige Moden. Spengler kommt von der Kunstgeschichte her, der Stilbegriff wird auf alle kulturellen Produkte angewandt, auch auf die Mathematik, die Wirtschaft und die Politik. Die Kunst jeder Zivilisationsphase sieht Spengler modellhaft in der nachklassischen Antike vorgeprägt. Sie ist gekennzeichnet durch Historismus und Eklektizismus, durch krampfhafte Originalität und exzentrische Effekthascherei. Massenweise wurden in Rom griechische Kunstwerke kopiert, industriemäßig und mit hoher technischer Perfektion. In der spätgriechischen Plastik werden Kranke, Krüppel und Betrunkene kunstwürdig, das Hässliche wird dargestellt. Plinius erwähnt Rhyparographen,15 Schmutzmaler, sie stellen das Gewöhnliche, Dreckige dar. Das war etwas Neues. Um 200 n. Chr. wurde 11 UA, II, 60, 130. 12 UA, I, 51. 13 UA, I, 143. 14 UA, II, 60. 15 Plinius, Gaius Secundus, Naturalis Historia, XXXV, 112.

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das Wort Pornographie erfunden; Athenaios bezeichnet damit Malerei seiner Zeit.16 In Rom stellt der Brotfabrikant Eurysaces seine Urne in einen überdimensionalen Backofen aus Marmor an die Gräberstraße vor der Porta Maggiore. Hier baute sich der Prätor Cestius sein Grab in Form einer Pyramide. Das ist antikes Multikulti. Derartiges hat Spengler im Auge, wenn er die Kunst seiner Zeit als „zivilisatorisch“ abtut. Spengler vermeidet das Wort „Dekadenz“ und wehrt sich dagegen, Pessimist zu sein.17 Er sieht sich als Realisten, respektiert aber einen qualifizierten, einen „heroischen Pessimismus“. Optimismus sei Feigheit.18 Sein Bekenntnis zur modernen Technik wirkt etwas gewollt und ist rein ästhetisch, er bewundert einen zeitgenössischen Ozeandampfer wie eine barocke Madonna, völlig losgelöst vom Gebrauchswert. In einer geradezu zyklopischen Einäugigkeit übersieht Spengler die zivilisatorischen Fortschritte in der Medizin und der Hygiene, die Verbesserungen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, in Versorgung und Versicherung und den gehobenen Lebensstandard überhaupt. All das wird als nicht geschichtswürdig banalisiert und bagatellisiert. Alles, was dem Wohlbefinden, dem Behagen dient, ist für Spengler verächtlich, plebejisch. So denken nach Spengler die „letzten Menschen“ und „blinzeln“. Spenglers Vorstellung der Zivilisation ist unterkühlt bis frostig. Daher hat man ihn den Kulturkritikern zugerechnet, die ja stets im Sinne Spenglers nur Zivilisationskritiker sind. Fraglos gehört Spenglers Liebe der sterbenden oder schon gestorbenen Kultur. Aber an deren Wiederbelebung oder nur Lebensverlängerung, die doch stets das Anliegen der konservativen Kulturkritiker war und ist, daran hat er nie gedacht. Er war Fatalist. Den Fatalismus versteht er als typische Spätzeitphilosophie und bekräftigt das durch seinen Schlussspruch, ein Zitat des Spätzeitphilosophen Seneca: „Ducunt fata volentem, nolentem trahunt“ – „Das Schicksal führt dich, wenn du freiwillig folgst; es zwingt dich, wenn du unwillig bist.“19 Es hat keinen Sinn, den Schicksalsgang der Kultur hemmen oder ändern zu wollen, man hat ihn stoisch hinzunehmen.

IV. Wirtschaft, Technik und Politik Der Untergang des Abendlandes war der Übergang von der Kultur zur Zivilisation, nicht der Untergang der Abendländler. Europa lebt, Deutschland zumal. Gibt es auch keine hohe Kultur mehr, keine große Kunst, keine echte Geschichte, so gibt es doch noch Wirtschaft und Technik, Krieg und Politik. Spengler erhebt Forderungen an die Innenpolitik und hegt Erwartungen bezüglich der Außenpolitik, die Weltgesellschaft betreffend. 16 Athenaios, 567 b. 17 Oswald Spengler, Reden und Aufsätze, 1937, 63 ff. Im Folgenden (RA). 18 Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, 1931, 88. Im Folgenden (MT). 19 Seneca, Epistulae 107, 11.

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V. Die Herrschaft der Maschine Die Industriestaaten stehen im Zeichen der im Abendland entwickelten Maschinen. Die Maschinentechnik wird von Spengler geradezu dämonisiert, sie dient nicht, sondern herrscht und bestimmt das Denken und Handeln der Arbeiter und der Unternehmer. Sie alle sind „Sklaven, nicht Herren der Maschine“. Der Ingenieur ist der „Priester der Maschine“. Spengler schreibt, „Marx hat ganz recht“20, der ja die Abhängigkeit des Schöpfers vom Geschaffenen, sozusagen die Emanzipation des Werkzeugs mit dem Bild vom Zauberlehrling erläuterte. Der „Satanismus der Maschine“ zeigt sich einerseits in ihrer Faszination bei der „Auslese des Geistes“ und andererseits in ihrem „faustischen“ Expansionsdrang, der die Umwelt ruiniert. Die Wälder verschwinden, unzählige Tierarten werden ausgerottet.21 „Die Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken in Energien geopfert“.22 Das geht so lange weiter, bis der Rationalismus eines Tages wieder in Mystik, die „zweite Religiosität“, zurückfällt, wie in der Spätantike das „Heil der Seele“ den Christen wichtiger war als die Wahrung oder Steigerung des Lebensstandards. Spenglers zyklisches Denken zeigt biologistische Züge, wenn er damit rechnet, dass die intellektuelle Energie der Abendländer irgendwann erlischt, da ja schon die wissenschaftlichen Leistungen der Griechen im Hellenismus und die der Araber im Spätmittelalter erlahmt und erloschen sind. Die von Europa inspirierten technischen Leistungen der Japaner sind so wie ihre von China angeregte Kunst für Spengler nur Zeugnisse einer „Mondlichtzivilisation“.23 So erscheint auch am Horizont der Universalzivilisation der Fundamentalismus. Dann endlich, so dürfen wir hoffen, wäre die von der und für die Maschinentechnik so schamlos ausgebeutete Natur gerettet.

VI. Geld- oder Volksherrschaft? Die Maschinenindustrie ist die Quelle des Reichtums, verkörpert im Geld. Auch das Geld wird bei Spengler dämonisiert, man könnte auch sagen: vergeistigt. Denn es besteht ja nicht mehr aus griffigen Gold- und Silbermünzen, sondern aus bloßen Zahlen auf Konten, aus Punkten in Börsenberichten. Die Arbeiter mögen so tüchtig sein wie immer, die Fabrikanten so gewissenhaft wie sonst, die Waren mögen so gut, der Bedarf so groß gewesen sein wie

20 UA, II, 628. 21 MT, 78. 22 UA, II, 626–627. 23 UA, II, 129.

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eh und je – wenn die Börse kümmert oder kracht, geht die ganze Wirtschaft zu Boden.24 Ein bloßes Zahlenspiel entscheidet über den Lebensstandard von Millionen. Das Geld wird von Spengler personifiziert. Es ist nicht nur etwas, sondern tut auch etwas. Es schafft eine Schicht von Besitzenden, von Großkapitalisten, können wir sagen, die anstelle des alten Geburtsadels einen neuen Geldadel darstellen und die Herrschaft übernehmen. Die ausrangierte Aristokratie weicht einer zeitgerechten Plutokratie. Sie dekoriert sich schamhaft mit dem Begriff „Demokratie“; Volksherrschaft ist Geldherrschaft, denn Demokratie ist laut Spengler nichts als die „vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer Macht“.25 Das Instrument der Herrschaft ist die öffentliche Meinung in der leichten Schattierung der Programme etablierter Parteien. Der Volkswille ist laut Spengler reine Manipulation. Sie erfolgt durch die Presse, die Stimme der Pressezaren. Spengler nennt Northcliffe auf englischer Seite, Hugenberg auf deutscher.26 Die Zeitung war das Medium der Meinungsmache zu Spenglers Zeiten. Es sei die Stimme der Besitzer,27 nicht die der Öffentlichkeit. Das Palladium der Pressefreiheit habe seinen Sinn verkehrt. „Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der Presse fordern.“ Aber inzwischen gehörten die Parteiführer zu den „Angekommenen“, die ihre „Stellung gegenüber der Masse“ durch die Publizistik sichern müssen.28

VII. Die Großstadt Das Schicksal der Zivilisation entscheidet sich in den Großstädten der Spätzeiten. Denn das sind die Geldplätze, da sitzt die Macht, da entsteht die öffentliche Meinung, da spielt die Musik. Gab es je eine Börse auf einer Burg, in einem Kloster, auf einem Dorf? „Am Anfang jeder Zivilisation“, heißt es, „entwickelt sich eine Intensität des Wirtschaftslebens“,29 sichtbar am Wohlstand der Großstädte. Alexandria und Rom in der Kaiserzeit bieten die Parallele zu Paris, London und Berlin. Das Schlagwort lautet heute wie damals bei Juvenal „panem et circenses“30, wir wollen „Brot und Spiele“, damals Wagenrennen, heute Fußball. Das Familienleben verkümmert. Gegen die Kinderlosigkeit suchte Augustus mit Gesetzen vorzugehen; Spengler, selbst ehe- und kinderlos, schrieb 1927 das Vorwort zu einem Buch 24 UA, II, 499. 25 UA, II 498; 603. 26 Alfred Harmsworth, First Viscount Northcliffe (1865–1922), war ein englischer Zeitungsmagnat. Ihm gehörten die Zeitungen Daily Mail und Daily Mirror. Alfred Hugenberg (1865–1951) war Inhaber des HugenbergKonzerns und kontrollierte damit etwa die Hälfte der deutschen Presse in der Weimarer Republik. 27 UA, II, 501. 28 UA, II, 573. 29 UA, II, 594. 30 Juvenal, Satiren, 10, 81. Siehe UA, II, 222.

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gegen den Geburtenrückgang in Deutschland. Die Gesellschaft in den modernen Industriestaaten ähnelt der im römischen Kaiserreich, der Begriff „Proletarier“ meint die römische Unterschicht. Spengler spricht vom „Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glücks“ von einer durchweg „materialistischen Weltanschauung“. Es werde „ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen“.31

VIII. „Cäsarismus“ Die von den Großstädten getragene Demokratie ist für Spengler momentan zeitgemäß, aber nicht die letzte Form innerstaatlicher Machtverteilung. Denn irgendwann schlägt sie um in den Cäsarismus. Denn es kommt zu Parteikämpfen, in denen sich der Stärkste durchsetzt. Spengler denkt hier wie Platon, der in seiner ‚Politeia‘ den Verfassungskreislauf beschreibt und den Umschlag der Demokratie in die Tyrannis konzipiert, nachdem das schrankenlose Freiheitsbegehren der Einzelnen zum Anarchismus führt, bis ein starker Mann wieder Ordnung schafft. Dann kommt es ganz und gar darauf an, wer das sein wird. Platon wollte aus Dionysios einen Philosophenkönig machen, aber der blieb ein Tyrann. Spengler hoffte auf einen neuen Caesar, stattdessen kam Hitler. Hitler bemerkte einmal, dass die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch jüdische Bankiers, ihm die Wähler zugetrieben habe. Die Not ruft nach dem Retter. Er kann so volkstümlich sein, dass er als Verkörperung des Volkswillen erscheint. Julius Caesar ist das Muster. Der liberale Historiker Theodor Mommsen nennt den Diktator auf Lebenszeit Caesar 1857 einen Demokraten, einen „Demokratenkönig“.32 So sah ihn auch Mussolini33; Spengler aber unterschied Sein und Schein. Er konzedierte der Demokratie unter den Cäsaren nur die Funktion einer Fassade. Als solche bliebe die Demokratie erhalten.34 Damit beantwortet sich auch die bange Frage, was nach der Demokratie komme. Angesichts der Konjunktur dieses Zauberwortes dürfen wir vermuten, dass so wie heute auch künftig alle Systeme der Weltgesellschaft sich als demokratisch bezeichnen werden, ganz gleich, wer die Macht hat und worauf sie beruht. So wie Mommsen selbst den Vereinigten Staaten einen Cäsarismus prophezeite,35 erwartete auch Spengler den Umschlag der „Diktatur des Geldes“ in den Cäsarismus.36 Er glaubte, dass die Macht des Geldes durch die Macht der Persönlichkeit überwunden werde, dass nicht den Wirtschaftsbossen, sondern den Volkshelden die Zukunft gehöre und gebühre.

31 Oswald Spengler, Briefe, 1963, 29. 32 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. III 1909, 476, 488. 33 Karl Christ, Reden zur Ehrenpromotion, Berlin 1993. 34 PS, 145. 35 Mommsen, Römische Geschichte III, 478. 36 UA, II, 628.

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1922 sah das so aus. Spengler schwärmte für Mussolini, aber nicht für Hitler, der ihm zu proletarisch daherkam. Es ist völlig unbegreiflich, wie man Spengler mit Armin Mohler zu den Konservativen rechnen kann. War Mussolini konservativ? Spengler offenbart eine gewisse Inkonsequenz, je nachdem, ob er den Cäsarismus historisch oder politisch betrachtet. Bei den Bürgerkriegen der römischen Kaiser spricht er von den „negerhaften Kämpfen“ um die Macht,37 bei denen es völlig gleichgültig war, wer gewinnt und sich behauptet. Pescennius Niger wäre ebenso gut gewesen wie Septimius Severus, aber Hitler ist für Spengler nicht ebenso gut wie Mussolini. In der Politik unterscheidet Spengler zwischen den Cäsaren.

IX. „Fellachentum“ Die innenpolitische Lage in den Staaten der zivilisierten Welt kennzeichnet Spengler durch zwei Begriffe, durch Cäsarismus und Fellachisierung. Diese beiden Merkmale sind nicht so leicht vereinbar, denn Cäsarismus setzt Militanz voraus, Fellachentum hingegen Kriegsmüdigkeit, ideologisch gefasst: Pazifismus. Vor Augen hat Spengler hier die Landarbeiter des nachpharaonischen Ägypten, arabisch die „fellahin“, die „Pflugbauern“.38 Nachdem die Streitwagen von Ramses nach Nubien, Libyen und bis ins obere Mesopotamien gerollt waren, wurde das Niltal seit dem 7. Jahrhundert ein Opfer wechselnder, zuletzt britischer Fremdherrschaft. Ägypten war aus einem Subjekt zu einem Objekt der Geschichte geworden. Das Volk war zu keiner politischen Selbstbestimmung, keiner Selbstverteidigung mehr fähig oder willens. Das Ende dieser Apathie 1945 hat Spengler nicht mehr erlebt. Er hätte es zurückgeführt auf den bei den Briten erschlafften Willen zur Macht. Ganz ähnlich war Griechenland nach seiner klassischen Glanzzeit seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. ein politischmilitärisches Vakuum, in der Römerzeit nur noch ein Ziel für Touristen, so wie Ägypten. Sodann Italien, einst das Machtzentrum der Mittelmeerwelt, war seit der Völkerwanderung ein politisches Loch, in das Goten, Langobarden, Araber, Deutsche, Franzosen, Spanier, Schweizer und Österreicher einströmten und von dem Land Besitz ergriffen. Das in diesen Ländern von Spengler diagnostizierte Fellachentum lässt sich mit dem spätrömischen Cäsarismus verbinden, da die Legionen längst aus den Provinzen rekrutiert wurden und zunehmend durch germanische Söldner verstärkt wurden. Zum letzten Mal hat Marc Aurel ausnahmsweise eine Legion in Italien ausgehoben; die Zeugnisse für die Wehrdienstverweigerung beginnen unter Augustus. Bei Fellachen-Völkern wie bei Urvölkern gibt es für Spengler nur ein „zoologisches Auf und Nieder, ein planloses Geschehen“, keine „Weltgeschichte“.39 37 UA, II, 60–61. 38 UA, II, 202; 222 ff. 39 UA, II, 204.

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X. Weltherrschaft? Betrachten wir nun das zwischenstaatliche Verhältnis der Industrienationen in der laut Spengler soeben begonnenen Zivilisationsperiode, so zeigt sich ein schleichender Übergang ins Fellachentum. Zwar ist der Herrschaftswille gegenüber den Kolonialvölkern dahin, doch treibt die Rivalität zwischen den Nationen zum Kampf um die Weltherrschaft. Ihn prognostiziert Spengler in seiner Schrift von 1933 „Jahre der Entscheidung“. Das Buch erschien im August, im November waren 125.000 Exemplare verkauft.40 Spengler sieht sich im „Zeitalter der Weltkriege“, ja „vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg“41; ihn fürchtet er nicht, denn „einen langen Frieden erträgt niemand“.42 Die Welt werde „umgeschaffen“ wie damals durch das „beginnende Imperium Romanum“, nun aber angesichts der global verbreiteten Zivilisation auf dem ganzen Planeten zum Imperium mundi.43 Friedensbemühungen sind für Spengler Vorboten des Fellachentums, so der „Völkerbund, dieser Schwarm von Sommerfrischlern, die am Genfer See schmarotzen“.44 Krieg ist für die alles bestimmende Wirtschaft unvermeidlich. Es beginnt mit dem „Kampf um Absatzgebiete und Rohstoffquellen der Industrie, darunter in steigendem Maße um die Ölvorkommen“, unentbehrlich für die Verkehrstechnik, denn die Kohle gehe zu Ende.45 Es folgt der Kampf um die Hegemonie. Das „große Spiel der Weltpolitik ist nicht zu Ende“.46 „Wessen Schwert hier den Sieg erficht, der wird Herr der Welt sein. Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es, sie zu werfen?“47 Er denkt an Caesar am Rubikon, „alea iacta sit.“

XI. Großdeutschland! Spengler erörtert die möglichen Kandidaten für die künftige Weltmacht. England und Frankreich hätten ihre große Zeit hinter sich. Italien und Japan kämen nur als Regionalmacht in Frage, für den Mittelmeerraum und Ostasien respektive. Das immense Potenzial Russlands und der USA zumal scheint ihm auch nicht ohne weiteres aktivierbar. Er blickt auf die möglichen Teilnehmer am „Würfelspiel um die Weltherrschaft“ und fragt: „Sollen nicht auch Deutsche darunter sein?“48 Eine rhetorische Frage; sie stellen, heißt: sie bejahen. Schon 40 Stefan Rebenich, C. H. Beck 1763–2013. Der kulturwissenschaftliche Verlag und seine Geschichte, Berlin 2013, 302. 41 Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, XI, 16. Im Folgenden (JE). 42 JE, 11. 43 JE, 41. 44 JE, 11. 45 JE, 35. 46 JE, VII. 47 JE, 57; 165. 48 JE, 57.

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als Gymnasiast entwarf Oswald mit „napoleonischer Phantasie“ ein Großreich Afrikasien mit der Hauptstadt Berlin, träumte dann von einem „Großdeutschland“ zwischen Atlantik und Pazifik, dessen 85jährige Geschichte er erfand, kulminierend in der Proklamation Wilhelms II. am Reichsgründungstag, dem 18. Januar 1894: „Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden“.49 Die Niederlage von 1918 wird von Spengler begrüßt. Sie sei die mildeste Form gewesen, das Notwendige zu erleiden, ein schmerzhaftes, aber heilsames Lehrstück für die Vorbereitung auf die kommenden Kämpfe. 1924 erläuterte er den Würzburger Studenten die „Politischen Pflichten der deutschen Jugend“.50 In dem immer härter werdenden Ringen um Weltgeltung sollten die jungen Männer die Gesetze der Wirtschaft studieren und sich der praktischen Politik widmen. Spengler fordert Erziehung zum Hass auf Deutschlands Feinde und zur Opferbereitschaft für den nationalen Führer und Retter, den alle erhofften. Während die anderen Nationen auf dem Abstieg ins Fellachentum schon weit fortgeschritten seien, die „Verschweizerung“51 Europas fortschreite, hätten wir als das „jüngste und unverbrauchteste unter den Völkern Europas“ noch die Chance und die Aufgabe, eine „geschichtliche Rolle zu spielen“.52 Wenn Spengler die Deutschen als die „letzte Nation des Abendlandes“ bezeichnet,53 meint er die einzige Nation, die noch politisch handeln kann. Der Weg führt nach unten, während Helmuth Plessner 1935 beziehungsweise 1959 mit seiner These von der „verspäteten Nation“ an einen Weg nach oben dachte.54 Die „geschichtliche Rolle“, die Spengler den Deutschen zuwies, hat er 1933 als Kampf um die Weltherrschaft näher bestimmt. Die Nationalsozialisten mögen sich angesprochen gefühlt haben. Aber Spengler verhöhnte ihre „Luftschlösser“ und übersandte Hitler gleichwohl ein Widmungsexemplar. Spenglers Einwendungen gegen den Rassegedanken der Antisemiten55 beruhten gewiss nicht allein darauf, dass er selbst jüdische Vorfahren hatte. Die Warnung vor einem Angriff aus Russland56 lehrte ihn die Erinnerung an Napoleon, der Hohn auf die Idee eines Dritten Reiches nach Joachim von Fiore57 entsprach dessen Unglauben an einen ewigen Frieden. In einem Einparteienstaat sei die Partei keine Partei mehr, den totalen Staat hätten einst die Jakobiner verwirklicht.58 „Quod absit!“

49 Zitiert in Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, 29 ff. 50 PS, 127 ff. 51 JE, 131. 52 JE, 162. 53 UA, II, 129. 54 Neu erschienen: Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/Main 1982. 55 JE, 157. 56 JE, 44. 57 JE, 98. 58 JE, 131–132.

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XII. Die farbige Weltrevolution Der künftige Kampf um die Weltherrschaft ist für Spengler nicht das Ende der kulturlosen Geschichte in der Zivilisationsphase. Er blickt darüber hinaus. Dieser Kampf wird ja ausschließlich unter den Weißen, unter den Industrienationen geführt. Gibt es nicht auch noch die Afrikaner und die Asiaten? Spengler nennt sie die „Farbigen“, so wie wenn weiß keine Farbe wäre. Äthiopier und Neger sind dunkelhäutig, Japaner und Chinesen sind aber nicht gelb; gelb sind, besser: waren nur die Mäntel der Mandarine. Die Formel von der „gelben Gefahr“ geht zurück auf den französischen Soziologen Jacques Novikow mit seiner Schrift von 1897 „Le péril jaune“, aufgegriffen in England als „The Yellow Danger“ oder „The Yellow Peril“, in Deutschland verkündet durch Kaiser Wilhelm II. schon vor dem Boxeraufstand. Spengler beschwor die Drohung aus der Dritten Welt zunächst im Hinblick auf die Wirtschaft angesichts der Billiglöhne und der Verlagerung nicht nur deutscher Arbeitsaufträge nach China und Indien. Darin sah er eine Ursache für die Massenarbeitslosigkeit seiner Zeit und der Zukunft. Darüber hinaus aber fürchtete er eine politische Gefahr für die gesamte westeuropäisch-amerikanische Zivilisation. Der letzte Kampf sozusagen ist nicht der um die Hegemonie, nicht ein Ost-West-Konflikt, sondern das ist der Nord-Süd-Konflikt. Dem Kampf der Industriemächte um die Hegemonie folgt der Kampf der ehemaligen Kolonialvölker gegen die Industriemächte. Spengler erwartet die „Farbige Weltrevolution“.59 Die Völker der Dritten Welt erheben sich und bedrohen unter der Führung „weißer Abenteurer“ die so viel wohlhabendere Erste Welt der ehemaligen Kolonialherren, die zwar ökonomisch reich, aber politisch müde geworden sind,60 so wie das späte Rom gegen die Barbaren nicht mehr abwehrfähig, nicht mehr abwehrbereit war. Die Römer waren fromm und friedlich geworden, reich an Gütern, arm an Kindern; die Barbaren aber waren arm an Gütern, reich an Kindern, alle Männer waren Krieger. Kritisch bemerkt Spengler: „Die Farbigen sind nicht Pazifisten“.61 Ewigen Frieden gibt es nicht, „denn der Mensch ist ein Raubtier“.62 Der Ausgang bleibt offen. Kulturphilosophisch aber ist das nach dem Untergang des Abendlandes belanglos, die Weltgesellschaft ist für Spengler ohne Interesse.

59 JE, 147 ff. 60 JE, 28. 61 JE, 164. 62 MT, 14.

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Weltgesellschaft – eine soziologische Theorie-Chimäre I. Die Gesellschaften der Soziologie Während der Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich kam es in der Medienberichterstattung zu einer kurzen Verstimmung anlässlich einer recht emotional geäußerten Kritik des Ex-Fußballers und Experten-Kommentaren Mehmet Scholl am Taktik-Trainer der DFBElf. Scholl konterte die auf ihn zurückprasselnde Gegenkritik mit einer recht sympathischen und durchaus amüsanten Entschuldigung: Er habe einen Gehirnschluckauf gehabt. In der Presse ist der Begriff so gut angekommen, dass sogar Neurobiologen gebeten wurden zu erklären, was da die Abläufe im Stirnlappen alles so durcheinander wirbeln kann. Wenn im Stirnlappen nicht mehr genügend Kapazität frei sei (so der Kölner Neurobiologie Fink im Spiegel1), lasse das Hirn alles Mögliche ungefiltert raus. Manchmal erscheint es mir so, dass auch in der gegenwärtigen (deutschsprachigen) Soziologie eine ganze Epidemie von ‚Gehirnschluckaufs‘ grassiert angesichts der nicht enden wollenden Flut von Zeit- und Trenddiagnosen. Seitdem Ulrich Beck im Jahre 1986 mit dem Begriff Risikogesellschaft2 eine weit über die Soziologie hinausgehende Diskussion ausgelöst hatte, versuchen sich Soziologinnen und Soziologen immer wieder an solchen zeitdiagnostischen Wortschöpfungen, die dem Feuilleton dann jeweils mehr oder weniger gut gefallen. Geläufig sind uns heute die Begriffe der Erlebnisgesellschaft, der Wissensgesellschaft, der Dienstleistungsgesellschaft, der Multioptionsgesellschaft, der Mediengesellschaft, der Informationsgesellschaft, der post-modernen, post-industriellen, post-fordistischen Gesellschaften bis hin eben zur Weltgesellschaft. Der Journalist und studierte Soziologe Armin Pongs hat im Dilemma-Verlag seit 1999 drei Bände mit über 30 Autoren und aktuellen Gesellschaftsdiagnosen vorgestellt3. Handelt es sich hierbei schlicht um eine Inflation von Theoriechimären, von intellektuellen Hirngespinsten? Und wenn ja, träfe dies dann auch auf den Begriff der Weltgesellschaft zu? Ja und nein. Die Flut an soziologischen Gegenwarts- und Trenddiagnosen ist aus mindestens zwei Gründen problematisch. Erstens ist es angesichts der Komplexität und Differenzierung gegenwärtiger Gesellschaften unangemessen, wenn nicht fahrlässig, sie als Gesellschaften im Singular und über nur eine Eigenschaft zu beschreiben. Hinzu kommt, dass die 1 Julia Merlot, Was passiert beim Gehirnschluckauf, in: Der Spiegel, Online-Ausgabe vom 7. 7. 2016, http:// www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/mehmet-scholl-was-steckt-hinter-der-gehirnschluckauf-ausredea-1101790.html (zuletzt abgerufen 30. 1. 2017). 2 Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft, Frankfurt/Main 1986. 3 Armin Pongs, In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, Bde. I–III, München 1999 ff.

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in den Mittelpunkt gerückte Eigenschaft häufig als ein Trend postuliert wird, der noch gar nicht zu seiner vollen Entfaltung gekommen sei. Also handelt es sich in der Regel um unzulässige Verkürzungen. Zweitens fragt sich der Leser solcher Diagnosen, gerade wenn sie wie im Fall von Pongs in Sammelwerken gegenübergestellt sind, weshalb kaum Versuche unternommen werden, die durchaus miteinander verträglichen Beobachtungen zu integrieren. Denn niemand würde ernsthaft bestreiten, dass in unserer Gesellschaft Bildung, Wissen und Information wichtig sind, dass sie auf Arbeit und Dienstleistung beruht, dass mit zunehmender und qualitativ gewandelter Industrialisierung Risiken gestiegen und neuartige Risikolagen hinzugetreten sind, dass in der Erlebnisgesellschaft vieles möglich (Multioptionen) ist, sie von kultureller Vielfalt (Multikultur) lebt sowie darin eigene und fremde Kulturen vermittelt (Transkultur). Dass Gesellschaft als „moderne“ dann auch noch flexibel und dynamisch, aber immer noch gespalten und funktional differenziert ist, wen soll dies wundern? Insofern ließe sich in Bezug auf die soziologischen Gegenwartsbestimmungen ähnlich wie beim Fußball-Kommentatoren Scholl von Hirngespinsten sprechen, in die sich die Denker euphorisiert vom Glücksgefühl, eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht zu haben, vergaloppiert haben und nur noch einen Zusammenhang anstelle der vielen gesellschaftlichen Faktoren sehen. Statt also die vielen Gesellschaften der Soziologie nebeneinander zu stellen und sich staunend zu fragen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, erscheint es klüger, die jeweils genannten Beobachtungen als wichtige, aber miteinander in Beziehung stehende und einander ergänzende Facetten zu beschreiben. Dabei wäre allerdings zu fragen, wie eine Integration der Befunde zu den vielen Gesellschaften im Plural und einer gesamtgesellschaftlichen Konstellation im Singular geleistet werden kann. Und genau auf diese Problematik des Verhältnisses verschiedener Teildimensionen der Gesellschaft und der Globalisierung als gesamtgesellschaftlichem Hintergrund treffen wir im systemtheoretischen Kompositum Welt-Gesellschaft. Bezeichnet dies nun auch nur einen Aspekt, einen Trend oder eine spezifische Dynamik der Gegenwartsgesellschaft? Und wird auch der Begriff nur durch einen gewaltigen Hirnschluckauf zur allumfassenden Theorie der Gesellschaft aufgebauscht?

II. Weltgesellschaft als (allumfassende) Theorie der Gesellschaft (als Singular) Wenn wir uns auf den Begriff der Weltgesellschaft beziehen, wie er 1971 von Niklas Luhmann im gleichnamigen Aufsatz4 eingeführt wurde, so sind zwei bedeutsame Unterschiede zu konstatieren, die Luhmanns Argumentation von den üblichen Trenddiagnosen neueren Datums positiv abheben. Seine Bestimmung des Begriffs Weltgesellschaft besitzt zwei kennzeichnende Merkmale. Es handelt sich erstens nicht um eine bloße Diagnose, die mit 4 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57 (1971), 1–35.

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beliebigen grundlagentheoretischen Voraussetzungen kombinierbar wäre. Sondern: Luhmanns Kategorie der Weltgesellschaft wird eingeführt vor dem Hintergrund und als Konsequenz seiner Theorie sozialer Systeme. Daraus folgt, dass Luhmann die Kategorie Weltgesellschaft als gesamtgesellschaftliche Konstellation (im Singular) zu den in seiner Theorie sozialer Systeme postulierten Einzelsystemen (im Plural) in Beziehung gesetzt hat, und sich diese theoretische Relationierung als schlüssig erweisen muss. Zweitens geht daraus hervor, dass sich der systemtheoretische Gebrauch des Terminus Weltgesellschaft auch systematisch mit Alternativ- und Konkurrenzkonzepten der Gesellschaftstheorie auseinanderzusetzen und relevante Aspekte aus diesen alternativen Ansätzen gegebenenfalls in die Architektur der eigenen Theorie zu integrieren hat. Ich werde in diesem Abschnitt zeigen, wie dies bereits im ersten programmatischen Aufsatz von Luhmann erfolgt (2.2) und wie dies ebenso in neueren Weiterführungen durch seine Nachfolger am Beispiel des Ansatzes von Rudolf Stichweh geschieht (2.3). Zuvor werde ich jedoch die wesentlichen Konkurrenzansätze zur Globalisierungsthematik skizzieren. 1. Der (sozialwissenschaftliche) Diskurs der Globalisierung In der hier gebotenen Kürze werde ich zunächst schlaglichtartig auf die verschiedenen Positionen eingehen, die sich gegenwärtig mit der Frage auseinandersetzen, ob und in welchen Hinsichten es sich bei der heutigen Gesellschaft um eine weltweit vernetzte, globale Gesellschaft handelt. Dazu unterscheide ich vier Gruppen von Konzepten, indem ich von der Form der Bezeichnung des untersuchten Phänomens ausgehe. Erstens finden wir Konzepte, die ebenso wie Niklas Luhmann das Kompositum „Weltgesellschaft“ verwenden. Zweitens treffen wir auf Ansätze, die andere Verbindungen mit dem Wort „Welt“ vorschlagen, v. a. die Termini „Weltsystem“, „Weltkultur“ bzw. „world polity“. Drittens existiert eine Vielzahl von Wortschöpfungen, die das Adjektiv „global“ substantivieren, wie z. B. „Globalisierung“, „Globalität“ oder es abwandeln wie in „Glokalisierung“. Viertens gibt es eine ganze Menge von Begriffen, die weder Welt noch Gesellschaft als Wort enthalten: „Imperien/Imperialismus“, „Zentrum/Peripherie“, Verbindungen mit dem Begriff „Nation“ oder „national“ (Internationalisierung, Transnationalisierung, Supranationalisierung) bis hin zur Kritik am „methodologischen Nationalismus“. Und nicht zuletzt melden sich (teils prominente) Positionen zu Wort, die eine Existenz einer weltweiten Vereinheitlichung bestreiten, wie z. B. Samuel Huntington in seiner Diagnose vom „Kampf der Kulturen“ oder Shmuel N. Eisenstadt in seiner Rede von „Multiple Modernities“.5 Worin bestehen – kurz gesagt – die wesentlichen Unterschiede der aufgezählten Ansätze?

5 Samuel Huntington, Der Kampf der Kulturen, Frankfurt/Main, 1996; Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), No. 1, 1–29.

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(1) Relativ zeitgleich zu Niklas Luhmann haben der Schweizer Soziologe Peter Heintz6 sowie der australische Diplomat und Politikwissenschaftler John W. Burton7 den Begriff Weltgesellschaft in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingebracht, die bis dahin noch stark von den Ansätzen der Modernitätstheorie und der Dependenztheorie beeinflusst war. Die Arbeiten können als Aktualisierungen und Korrekturen der Modernisierungstheorie gelesen werden. Sie würdigen dabei die sich andeutende neue Konstellation globaler Vernetzung und berücksichtigen die Einwände des westlich-ethnozentrischen Blicks des Modernisierungsansatzes. (2) Der Weltsystemansatz von Immanuel Wallerstein8 sowie der Weltkulturansatz von John W. Meyer9 gleichen dem Theorem der Weltgesellschaft von Niklas Luhmann insoweit, als sie ebenfalls von der Welt als letzter und allumfassender Bezugseinheit ausgehen. Jede wirtschaftliche Entscheidung sowie jede ökonomische Operation erhalten dadurch ihre Spezifik, dass sie auf das System der Weltwirtschaft bezogen werden und ihren spezifischen Wert nur im Rahmen des Weltwirtschaftssystems beziehen können. Und auf vergleichbare Weise erhält jedes institutionelle Muster seinen spezifischen Wert, indem es auf seine Stellung und Diffusion im Rahmen der Weltkultur bezogen wird. Beide Ansätze verengen bzw. verkürzen aus Sicht der Systemtheorie die Reichweite der weltweiten Vernetzung auf ökonomische Dynamiken (Weltsystemansatz) bzw. politisch-institutionelle Prozesse (Weltkulturansatz). Weltgesellschaft ist daher bewusst weiter gefasst. (3) Die Ansätze, die von den Begriffen Globalität und Globalisierung aus gedacht werden, beobachten von einem anderen Standort – von dem Ort, der es ermöglicht, auf den Globus, den Erdball, zu schauen. Dieser Blick aus dem Kosmos tendiert zu einem „Globalismus“ aller Globalisierungskonzepte.10 Die Folge ist die vermeintliche Einnahme eines MetaStandpunktes, der auf Globalisierung blickt, ohne Teil der Globalisierung zu sein bzw. sich innerhalb der Prozesse der Globalisierung selbst zu verorten. Auch Becks Wendung von der „Globalisierung als Metamachtspiel der Weltinnenpolitik“ bezeichnet sich als „kosmopolitisch“ und deutet damit zumindest sprachlich die Außensicht des Kosmos an.

  6 Peter Heintz, Der heutige Strukturwandel der Weltgesellschaft in der Sicht der Soziologie, in: Universitas 29 (1974), 449–556.   7 John W. Burton, World Society, London 1972.   8 Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. San Diego, Volumes I–III. 1974–1989.   9 John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/Main 2005. 10 Dazu Ulrich Beck, Was ist Globalisierung. Frankfurt/Main 1997. Beck versucht den Begriff Globalismus kritisch von den von ihm bevorzugten Termini Globalität und Globalisierung abzugrenzen. Der von ihm auch gewählte Begriff des Kosmopolitischen deutet aber weiterhin auf die Einnahme einer Außenperspektive auf die globale Gesellschaft als Blick aus dem Kosmos. Siehe auch: Ulrich Beck, Globalisierung als Metamachtspiel der Weltinnenpolitik. Zehn Thesen zu einer Neuen Kritischen Theorie in kosmopolitischer Absicht, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart, 521–532. Luhmanns Weltgesellschaft plädiert für einen radikalen Innenblick.

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(4) Eine letzte Gruppe von Begriffen, mit denen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellationen in weltweiter Perspektive gedacht werden sollen, übernimmt gewissermaßen die Leerstellen, die von der Dependenztheorie und dem Modernisierungsansatz hinterlassen wurden, indem sie ebenso die Ungleichheiten innerhalb der Welt und deren Folgen betonen. So werden mit den Begriffen, die Nation oder Nationalisierung als Endsilbe benutzen, ähnlich wie im Modernisierungsansatz gleichgerichtete und gegenwärtig vorherrschende Entwicklungsdynamiken beschrieben, während in Ansätzen der „Multiple Modernities“, dem Kampf der Kulturen oder den „Postcolonial Studies“ spezifische Ungleichheiten und deren historische Genesen fokussiert werden. 2. Weltgesellschaft als „reale Einheit des Welthorizonts für alle“ Der Beitrag „Die Weltgesellschaft“ von Niklas Luhmann wurde 1971 im Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie erstmalig veröffentlicht11. Der Aufsatz lässt sich in fünf Argumenten rekonstruieren. Erstens bestimmt er Weltgesellschaft als einen real gewordenen „Interaktionshorizont“. Zweitens hebt Luhmann an diesem real gewordenen Interaktionshorizont einen spezifischen Umgang mit Erwartungsenttäuschungen hervor. Drittens postuliert er, dass sich die Einheit der Gesellschaft nur noch als Einheit der Weltgesellschaft denken lasse. Dabei komme viertens der „strukturellen Kopplung“ ausdifferenzierter Selbstregulierungsprinzipien von funktionalen Teilsystemen besondere Bedeutung zu. Aus der Einheit der Gesellschaft als Weltgesellschaft ergäbe sich fünftens die Frage nach der Umwelt der Weltgesellschaft. Im Einzelnen argumentiert Luhmann wie folgt: (1) Die Weltgesellschaft bestehe nicht schlicht im Anwachsen weltweiter Interaktionen, so wie dies durch den gestiegenen (und beschleunigten) weltweiten Reiseverkehr oder der Telekommunikation zu beobachten ist, sondern in der Erwartbarkeit einer „realen Einheit des Welthorizontes“ für alle.12 Entscheidend sei, dass in den Interaktionshorizonten ein „UndSo-Weiter“ von Interaktions- und Beziehungsmöglichkeiten unterstellbar geworden sei, das realiter auf weltweite Verflechtungen hinauslaufe.13 „Die Weltgesellschaft ist dadurch entstanden, dass die Welt durch die Prämissen weltweiten Verkehrs vereinheitlicht worden ist.“14 Bei dieser Konstellation handele es sich um eine „irreversible Konsolidierung“ der Chance zu weltweiter Interaktion.15 Sie sei Folge einer nicht nur projizierten Möglichkeit, sondern einer Vereinheitlichung auf allen Ebenen der subjektiven Erwartungsbildung – als 11 Vgl. dazu Anm. 4. Im Weiteren wird der Beitrag zitiert nach seinem Wiederabdruck in den Sammelbänden Soziologische Aufklärung. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Ders., Soziologische Aufklärung  2, Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 51–71. 12 Ebd., 55. 13 Ebd., 54–55. 14 Ebd., 55. 15 Ebd., 54.

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faktische Übereinstimmung des Horizontes, in dem sich Erwartungen konstituieren –, als Erwartung der Übereinstimmung des Erwartungshorizontes anderer mit dem eigenen, und – als Erwartung, dass andere erwarten, dass ihr Horizont mit dem anderer identisch ist.16 Ausschlaggebend sei also, dass sich die Fortsetzbarkeit der Interaktionsbeziehungen mit anderen, weiteren Partnern im weltweit gedachten Interaktionsgeflecht als Prämisse der Interaktionen irreversibel konsolidiert habe. Luhmann argumentiert in diesem relativ frühen Aufsatz noch nicht wie ab den 1980ern Jahren konsequent kommunikationstheoretisch, sondern rekurriert auf das Phänomen der Erwartungserwartungen.17 Es fragt sich somit, was dazu beiträgt bzw. bedingt, dass in sozialen Kontexten unterstellt wird, dass dort Erwartungen erwartet werden können. (2) Der Rekurs auf das Konzept der Erwartungen zeigt sich auch im zweiten Argumentationsschritt. Die „universell gewordenen Interaktionsfelder“ der Technik, Wirtschaft, öffentlichen Kommunikation (von Neuigkeiten) oder des Reiseverkehrs hätten auf einen kognitiven Umgang mit Erwartungsenttäuschungen umgestellt. Der kognitive Erwartungsstil bestehe darin, dass die gesellschaftliche Bearbeitung von Erwartungsenttäuschungen Moral durch Lernen ersetze. Erwartungserwartungen können dann an die in realen Verhältnissen zu erwartenden Enttäuschungen angepasst werden. Eine Währung kann steigen oder fallen. Daran anschließend können Akteure und Organisationen in der Wirtschaft entscheiden, ob sie kaufen oder verkaufen, indem sie aus dem Kauf oder Verkauf zwar Erwartungen ableiten, aus deren Bestätigung oder Enttäuschung aber nur noch gelernt werden kann. Lernen ist dabei riskanter, da sich Verluste vielleicht beklagen, aber nicht einklagen lassen. Um lernen, d. h. die Erwartungen anpassen zu können, seien Sicherheiten in Form der Verfügung über Ressourcen und Substitutionsmöglichkeiten erforderlich.18 Es ist auf den ersten Blick nicht ganz ersichtlich, wie die Universalisierung von Interaktionsfeldern (gesellschaftlichen Funktionsbereichen) und der kognitive Erwartungsstil zusammenhängen. Für Luhmann hat der Hinweis auf den kognitiven Erwartungsstil zunächst eine negative Funktion. Gesellschaftliche Funktionsbereiche sollen nicht nur nach dem Modell von Politik und Recht, insbesondere nicht in der Kombination des Rechtstaats, gedacht werden. Insbesondere der normative Erwartungsstil wie er im Nationalstaat als Regionalordnung gepflegt werde, sei für die Interaktionsfelder der Weltgesellschaft, und eben auch für Weltpolitik und Weltrecht ein zweifelhaftes Vorbild, da „Demokratisierung“ und „politische Einigung der Welt“ sich „als widerspruchsvolle Zielsetzungen entpuppen“ könnten.19 Luhmann identifiziert hier also eine operative Lücke. Nur wie gedenkt er sie zu füllen?

16 Ebd., 54–55. 17 Dieser Rekurs erfolgt schon in Luhmanns frühen Arbeiten zur Rechtssoziologie, Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek 1972. 18 Luhmann, Weltgesellschaft, 58. Gemeint sind damit Rückfalloptionen bzw. alternative Handlungsmöglichkeiten wie der sogenannte ‚Plan B‘. 19 Ebd., 57.

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(3) Dazu greift er in seiner theoretischen Erläuterung der Weltgesellschaft auf die These einer funktional differenzierten und sozial stratifizierten Gesellschaft im Singular zurück. Als umfassender Zusammenhang von Gesellschaft könne diese nur noch als Weltgesellschaft theoretisch gefasst werden20. Die einzelnen, funktional ausdifferenzierten Sozialsysteme der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst oder der Familie werden somit zwar als selbstständig operierende und selbstbezügliche Teileinheiten im Plural angenommen, die aber in der einen Weltgesellschaft zusammenfließen. Vor dem Hintergrund des Gebrauchs von Weltgesellschaft als Singularetantum hat sich deshalb in der systemtheoretischen Literatur eine Debatte um das Verhältnis von Singularität und Pluralitäten in der Weltgesellschaft entsponnen.21 Neben dem oben schon erwähnten Umstieg auf einen kognitiven Erwartungsstil und dem daraus folgenden Aspekt der „letzte(n) Bedingungen des Lernens“22 betreffen diese Fragen die Grenzen zwischen den Pluralitäten sozialer Systeme innerhalb der Weltgesellschaft und die Außengrenzen der Weltgesellschaft. (4) Wie stellt sich somit Luhmann die Weltgesellschaft als einen vereinheitlichten Interaktionshorizont für soziale Systeme vor, die sich innerhalb dieses als singulär vorgesetzten Horizonts im Plural auf verschiedene Weise differenzieren? Luhmann bietet zwei Antworten. Die erste lautet, dass funktionale Differenzierung (im Singular) als vorherrschende operative Form die Primärdifferenzierung der Weltgesellschaft bilde, der sich andere soziale Differenzbildungen (nationale, ethno-, klassen- oder geschlechtsspezifische) unterordneten. Die zweite besagt, dass die Gesellschaftssystemintegration auf der Stufe der Weltgesellschaft durch strukturelle Kopplung zustande komme, und zwar dadurch, „dass Teilsysteme ihrer eigenen Struktur nach auf schon reduzierte Komplexität ihrer Umwelt angewiesen sind23“. In der zweiten Antwort beschreibt Luhmann somit einen Mechanismus, den er später als Interpenetration zwischen funktionalen Teilsystemen bezeichnen wird, und der darin bestehen soll, dass Systeme voneinander abhängig sind und sich miteinander ko-evolutionär entwickeln, indem sie sich gegenseitig Komplexität zur Verfügung stellen24. In seinem frühen Aufsatz gibt Luhmann insofern sogar eine dritte Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang funktional-differenzierter Systeme und geht damit einen Schritt weiter als in seiner späteren Theorie sozialer Systeme, indem er Form(ation)en der strukturellen Kopplung von gesellschaftlichen Teilsystemen als mehr oder weniger verträglich mit dem Gesellschaftssystem der Weltgesellschaft angibt.

20 Ebd., 61. 21 Hartmann Tyrell, Singular oder Plural – Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft, in: Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie, Stuttgart 2005, 1–50, insb. 8–11. 22 Luhmann, Weltgesellschaft, 61. 23 Ebd., 59 (kursiv im Original, MC). 24 Dies ist bei Luhmann spätestens seit 1984 systematisch beschrieben. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main, insb. Kapitel VI und Kapitel VIII.

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(5) Bleibt noch die Frage nach der Umwelt der Weltgesellschaft. Schon in den frühen Schriften zur Systemtheorie hat Luhmann konsequent auf den Punkt verwiesen, dass die Umwelten der Systeme als Systemumwelten aufzufassen seien, die nur Umweltkontakt über Selbstkontakt herzustellen vermögen. Vereinfacht ausgedrückt setzt Luhmann daran an, wie innerhalb einer Gesellschaft Weltvorstellungen generiert und Welterfahrungen gemacht werden können. In der Neuzeit sei diesbezüglich die „Interpretation des menschlichen Bewusstseins als letztgewisses (nicht kontingentes) subjectum der Welt“ entstanden.25 Für die Gesellschaft als umfassende Systemeinheit stelle der Welthorizont – als Horizont menschlichen Erlebens – nicht mehr wie bei Husserl ein Aktkorrelat, sondern ein Interaktionskorrelat oder noch genauer ein Systemkorrelat dar: Interaktionen (…) ordnen sich als soziale Systeme, da ein Bezug auf andere Erlebende und Handelnde nur in der Ausgrenzung von anderen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns seine Ordnung finden kann. In dem Maße, als universelle Interaktionsverflechtungen realisierbar und die Erlebnishorizonte aller Menschen erwartbar werden, fließen als Bedingung der Erwartbarkeit des Erwartens alle Letzthorizonte zu einer Einheit zusammen. Die Menschheit realisiert ihre Einheit auf den beiden Ebenen der Welt und des Gesellschaftssystems.26

Das letzte Zitat Luhmanns klingt aus heutiger Perspektive doppelt dunkel. Erstens hat sich Luhmann in den 1980er Jahren von der Kategorie des Menschen verabschiedet. Insofern wäre insbesondere der Kollektivsingular „Menschheit“ als Einheit eines Letzthorizonts durch neuere Kategorien aus Luhmanns späterer Theorieperiode zu ersetzen. Zweitens wählt Luhmann mit dem Verb „zusammenfließen“ eine metaphorische Wendung, die sich auf alle „Letzthorizonte“ (Plural) bezieht. Weltgesellschaft wäre dann auf problematische Weise als Horizont hinter den „Letzthorizonten“ zu denken. Hält man diese beiden Einwände für einen Moment zurück (s. dazu den systematischeren Rekurs auf die neueren Schriften Luhmanns in Abschnitt 3), dann bleibt die Behauptung einer Einheit der Weltgesellschaft im Singular aus Welt als Horizont und Gesellschaft als Interdependenz von Funktionssystemen. 3. Stichwehs bilanzierender Kommentar zum Theorem der Weltgesellschaft Seit dem ersten Erscheinen von Luhmanns Aufsatz sind fast fünfzig Jahre vergangen. Nicht nur die Welt, sondern auch der Luhmann’sche Systemfunktionalismus hat sich in diesem Zeitraum verändert. Bevor ich diese Änderungen kritisch reflektiere (Abschnitt 3), gehe ich hier zunächst auf eine bilanzierende Re-Lektüre von Rudolf Stichweh aus dem Jahr

25 Luhmann, Weltgesellschaft, 65. 26 Ebd., 65.

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2000 ein,27 um daran drei Problematiken festzuhalten, die er in Luhmanns Ausführungen zur These der Weltgesellschaft hinterlassen sieht. In seiner bilanzierenden Kommentierung hat Stichweh die Weiterentwicklung der Luhmann’schen Theorie bis zur abschließenden zweibändigen Monographie „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ berücksichtigt.28 An Stichwehs Beitrag verfolge ich nun erstens die drei genannten Fragen an Luhmanns Theorem der Weltgesellschaft. Zweitens referiere ich die drei besonderen Innovationen, die laut Stichweh von Weltgesellschaft als Strukturbildung ausgehen. Und drittens befasse ich mich mit drei Mechanismen, die Stichweh als kausal relevant für die Dynamik der Weltgesellschaft ansieht. (1) Aus Stichwehs Sicht habe Luhmann mit dem Theorem der Weltgesellschaft v. a. drei Probleme zurückgelassen, deren Lösungen im Rahmen der Systemtheorie zu präzisieren seien. Zunächst handele es sich um das Problem des Singulars – dass Gesellschaft als System „nur noch einmal zu vergeben sei“.29 Im Umkehrschluss folge daraus, dass von nationalen oder kulturellen Gesellschaften im Plural (etwa die deutsche, die christliche, bürgerliche usf.) nicht mehr geredet werden könne. „Nur noch das weltweite System erfüllt die Definitionsbedingungen des Gesellschaftsbegriffs“.30 Stichweh berücksichtigt in seiner Argumentation die spätere, kommunikationssoziologische Weiterentwicklung der Systemtheorie, wenn er zweitens Gesellschaft konsequent über Kommunikation und kommunikative Erreichbarkeit zu definieren beabsichtigt. Dies zwinge zu der „Konklusion, dass nur noch die Weltgesellschaft als das einzige auf der Basis der Operation Kommunikation selbst operativ geschlossene System für die Anwendung des Gesellschaftsbegriffs in Frage kommt“.31 Drittens sieht Stichweh in der einheitlichen Basis der Kommunikation jedoch keine Unverträglichkeit mit der Beobachtung, dass die Weltgesellschaft inhomogen, d. h. „durch Ungleichheiten und andere Differenzbildungen gekennzeichnet sei“.32 (2) Innovative Strukturbildungen sieht Stichweh auf den Ebenen der funktional-differenzierten Teilsysteme, der Organisationen und der Telekommunikation (Verbreitungsmedien). Für die funktionale Differenzierung von Teilsystemen sei nicht nur kennzeichnend, dass sie über einen je spezifischen Operationsmodus und je spezifische symbolische generalisierte Medien verfügen würden.33 Wenn die Wirtschaft über das Medium Geld entlang der Differenz zahlen/nicht-zahlen operiere oder die Wissenschaft über das Medium Wahrheit an der Differenz wahr/falsch, dann setzten sich diese spezifischen Kommunikationszusammenhänge 27 Rudolf Stichweh, Zur Genese der Weltgesellschaft, in: derselbe, Die Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 2000, 245–267. 28 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Bände, Frankfurt/Main 1997. 29 Stichweh, Genese, 245. 30 Ebd., 245. 31 Ebd., 246 (kursiv im Original MC). 32 Ebd., 246. 33 Ebd., 251–252.

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weltweit fort. Das von Luhmann im frühen Aufsatz postulierte „Und-So-Weiter“ der Interaktionszusammenhänge werde in funktional ausdifferenzierten Sozialsystemen somit über die Fortsetzbarkeit der jeweils vorliegenden Operationsmodi generiert und sichergestellt. Unterstützt werde diese funktionssystemische Universalisierung der Kommunikation durch zwei Typen von weltweit agierenden Organisationen: den multinationalen Konzernen und den Nicht-Regierungsorganisationen. Beiden Organisationsformen sei gemein, dass sie sich aus den nationalstaatlichen Grenzen und Einbindungen herauszulösen vermögen und eben transnational operierten.34 Und die dritte strukturbildende Entwicklung beobachtet Stichweh in der Ablösung der Telekommunikation von den Verkehrstechniken. Die Verbreitung von Informationen beschleunigt sich durch Telegraphie, Rundfunk und Fernsehen, indem sie nicht mehr auf die Transportwege für Güter und Menschen zurückgreifen müsse.35 (3) Zu den Mechanismen und Dynamiken, die diese Strukturbildungen tragen bzw. fortsetzen, zählt Stichweh v. a. (a) die globale Diffusion institutioneller Muster, (b) Formen globaler Vernetzung (Interrelation) und (c) die Dezentralisierung von Funktionssystemen. Stichweh integriert hierbei Mechanismen, die bereits in alternativen Ansätzen beschrieben wurden. So fokussiert der Weltkultur- bzw. World-Polity-Ansatz von John W. Meyer insbesondere auf das Phänomen der weltweiten Diffusion institutioneller Muster. Als Standards in die globale Kommunikation eingestreute institutionelle Muster werden teilweise über Weltorganisationen (z. B. die WHO) in immer mehr einzelne Regional- und Nationalgesellschaften hineinkopiert. Besonders augenfällig ist die Übernahme von Programmen des Wohlfahrtsstaates, von Strukturen des Schulsystems oder des Gesundheitssystems. Gesetzt werden dadurch v. a. Gesichtspunkte des Vergleichs, in denen sich einzelne Gesellschaften oder Organisationen ‚verbessern‘ können. In Bezug auf die globale Interrelation interpretiert Stichweh Luhmanns „Und-So-WeiterHypothese“ vor dem Hintergrund der „Small-World-Hypothese“ aus der Netzwerktheorie. Wir haben bereits oben gesehen, dass Luhmann nicht die vordergründige weltweite Ausdehnung von Interaktionskontakten zum Kriterium der Weltgesellschaft erhoben hatte, sondern die Konsolidierung des „Und-So-Weiter“ dieser Interaktionen in Beziehungen mit weiteren Personen als ausschlaggebend ansah. Die Small-World-Forschung interessiere sich dabei für Ketten indirekter Bekannter, also für Bekannte-von-Bekannten-von-Bekannten. Dabei gehe es jedoch nicht darum, dass aus den indirekten Kontakten direkte werden sollten, sondern um unter ‚disembeddedness‘ „funktionierende Muster symmetrischen und asymmetrischen Tauschs unter wiederholt miteinander Kontakt aufnehmenden Zugehörigen des Netzwerks“36. Solche dekontextualisierten, räumlich bzw. territorial leeren, aber kommuni-

34 Ebd., 253. 35 Ebd., 254. 36 Ebd., 260.

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kativ verketteten Netzwerke-ties verdrängten ältere „Formen der Strukturbildung wie die Gruppe oder die Gemeinschaft“.37 Mit der letzten Hypothese baut Stichweh die von Wallerstein und aus der Dependenztheorie stammende Differenz „Zentrum/Peripherie“ ein. Demnach würden von der Diffusionswirkung der Weltgesellschaft und ihrer Funktionssysteme auch die Peripherien betroffen, so dass diese sich den Zentren anglichen. Durch die Angleichung der Peripherien komme es dann auch zu einer Erosion der Zentren, oder weniger dramatisch, verlören die Zentren ihre Position als Zentren. Diffusion und Netzwerkbildung unterminierten daher in ihrer Operationsweise den Zentralitätsprämissen, die Startbedingungen der Weltgesellschaft gewesen seien.38 Den historischen Zeitraum des Übergangs in die Weltgesellschaft datiert Stichweh dann mit Wallerstein im langen 16. Jahrhundert, ohne allerdings (wie Wallerstein) die Genese der Weltgesellschaft auf Ökonomie beschränken zu wollen. Weltgesellschaft beginne, „indem eines der Gesellschaftssysteme nicht mehr akzeptiert, dass es neben ihm noch andere Gesellschaftssysteme gibt“.39 Andere Gesellschaftssysteme würden von nun an in das System der Weltgesellschaft inkorporiert. Danach könne sich kein Wirtschaften, keine Erziehung, kein Wissen und sogar keine Religion mehr außerhalb dieses Weltsystems halten.40 Damit aber gelangen zwei Fragen erneut in den Blickpunkt. Erstens wäre nach wie vor zu spezifizieren, worin der vereinheitlichende operative Modus des Gesellschaftssystems als Zusammenhang der Funktionssysteme besteht. Zweitens rückt das Problem der Umwelt der Weltgesellschaft in den Vordergrund, wenn sich „außerhalb des Weltsystems“ kein weiteres soziales System selbst aufrechterhalten könne.

III. Weltgesellschaft als irreversible Hintergrundkonstellation Wie das kurze Referat des klassischen Beitrags von Luhmann und seine Kommentierung in dem neueren Text von Stichweh bereits andeuten, ist die systemtheoretische Diskussion um den Begriff Weltgesellschaft mittlerweile weit verzweigt und alles andere als unkompliziert.41 Dies hängt zentral damit zusammen, dass Luhmanns Kategorie Weltgesellschaft als Theorie der Gesellschaft im Singular schlüssig mit der Theorie sozialer Systeme im Plural verbunden werden muss. Worin ist dabei der Kern der These der Weltgesellschaft zu sehen? Und welche Annahmen der Theorie sozialer Systeme sind als wesentlich zu berücksichtigen, um eine verträgliche Zusammenführung zu sichern? Darüber hinaus wäre aufzuweisen, worin der Ertrag dieser aufwändigen Rekonstruktion für eine theoretisch grundlegende und 37 Ebd. 38 Ebd., 262. 39 Ebd., 249 (mit Bezug auf Parsons Rede vom instrumentellen Aktivismus). 40 Ebd., 250. 41 Vgl. dazu unbedingt: Heintz/Münch/Tyrell (Hrsg.) Weltgesellschaft.

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umfassende Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft besteht, und zwar auch im Vergleich mit anderen Bestimmungsversuchen der Globalisierung. Dazu möchte ich Luhmanns ursprüngliche Argumentation auf die folgende These zuspitzen: Der Horizont der Weltgesellschaft ist mittlerweile unhintergehbar. Die Bezugnahme einer jeden sozialen Praxis auf den Horizont der Weltgesellschaft ist irreversibel konsolidiert. Diese These werde ich zunächst auf Luhmanns kommunikationssoziologische Fundierung der Theorie sozialer Systeme beziehen (III. 1.) und dann in einer anderen (praxissoziologischen) Theoriesprache reformulieren (III. 2), um die quasi-normativen bzw. para-ethischen Implikationen des Luhmann’schen Theorems der Weltgesellschaft herauszuarbeiten (III. 3). 1. Die kommunikationssoziologische Grundlegung des Theorems „Weltgesellschaft“ Seit der kommunikationssoziologischen Neujustierung seiner Theorie sozialer Systeme geht Luhmann von folgender funktionaler Problemstellung aus: den drei Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation und den Medien ihrer Bearbeitung.42 Die erste Unwahrscheinlichkeit bestehe im Verstehen der Kommunikation durch den Adressaten. Evolutionär ermögliche das Medium Sprache eine Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Verstehens, auch wenn Sprache wiederum neue Formen des Missverstehens hervorbringen kann und insofern die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens wiederum expandiere. Die zweite Unwahrscheinlichkeit sei das Erreichen des Adressaten, insbesondere solcher Adressaten, die nicht in einer konkreten Situation anwesend sind. Zur Minderung dieser Unwahrscheinlichkeit tragen Verbreitungsmedien (Presse, Telegraphie, Rundfunk, Fernsehen, Internet) bei. Als dritte Unwahrscheinlichkeit bezeichnet Luhmann die Unsicherheit (Kontingenz) des Erfolgs einer Kommunikation. Gemeint ist damit, dass der Adressat den selektiven Inhalt einer Kommunikation als Prämisse seines Anschlusshandelns übernimmt43. In Bezug auf dieses Problem übernehmen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien funktional ausdifferenzierter Teilsysteme die Aufgabe, die Annahmewahrscheinlichkeit des kommunikativen Inhalts beim Adressaten zu steigern. Geld sorge im Bereich der Wirtschaft, Macht im Feld der Politik oder Wahrheit im System der Wissenschaft für Steigerung der Wahrscheinlichkeit, kommunikative Selektionen als Prämisse für Anschlussoperationen zu übernehmen. Diese Problematik der Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation ist nun aus folgenden Gründen relevant für die Konstruktion des Theorems der Weltgesellschaft. Für Luhmann bestehen soziale Systeme und demnach auch Gesellschaft als übergreifendes Sozialsystem aus Kommunikation, und zwar ausschließlich aus Kommunikation. Darin zeigt sich jedoch schon eine Differenz. Gesellschaft als Menge aller sozialen Systeme würde dann in der Menge aller Kommunikationen bestehen. Damit wäre aber nicht 42 Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Ders., Soziologische Aufklärung Bd. 3, Opladen 1981, 25–34, 26; auch: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1984, 216–218. 43 Luhmann, Unwahrscheinlichkeit, 26–27; Luhmann, Systeme, 218.

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zwingend gegeben, dass es sich bei der Menge aller Kommunikationen um miteinander zusammenhängende Kommunikationen handelt. Denn es könnte sich einerseits um die Kommunikationen nebeneinander operierender sozialer Systeme handeln, die nur insofern Gesellschaft wären, als sie sich durch ihren operativen Charakter, Kommunikation zu sein, von Nicht-Kommunikation unterscheiden würden. Wie Hartmann Tyrell sehr scharfsinnig bemerkt, besteht in Luhmanns Theorie insbesondere zwischen den sozialen Systemen der Interaktion (einfache Sozialsysteme), der Organisation und den funktionalen Teilsystemen „Interdependenzunterbrechung; die drei Typen sind aufeinander nicht reduzierbar und soziale Systembildungen je eigenen Rechts“.44 Gesellschaft, vielleicht genauer Gesellschaften, bestehen hier also im Plural. Andererseits spricht Luhmann in seinen Veröffentlichungen in Bezug auf die Weltgesellschaft stets konsistent im Singular. Insofern ist für ihn Weltgesellschaft ein allumfassendes, übergreifendes System der Kommunikation. Luhmann vermengt beide Aspekte, wenn er schlussfolgert: Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern. Es werden immer weitere Kommunikationsmöglichkeiten vorausgesetzt und immer symbolische Medien verwendet, die sich nicht auf regionale Grenzen festlegen lassen.45

Aber in der zitierten These bleibt ungenau bezeichnet, auf welche Weise in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert sein soll – als thematischer Horizont oder als eine Art Prämisse, die operativ in die Codierung jeder Kommunikation der Weltgesellschaft eingeht. Was Luhmanns Theorem also fehlt, ist eine Beschreibung der ‚Kommunikation der Weltgesellschaft‘ jenseits der Kommunikation als operativer Basisprozess sozialer Systeme. Hartmann Tyrell hat zu dieser Problematik auf eine ähnlich lautende Kritik aus der Tenbruck-Schule am Theorem des Gesellschaftssystems bzw. der Weltgesellschaft als Singular Bezug genommen.46 Tenbruck selbst hat in seinem Spätwerk den Gesellschaftsbegriff im Singular abgelehnt und für Mehr-Gesellschafts-Modelle plädiert.47 Tenbruck setzt dabei auf den Begriff „Weltgeschichte“ „als jene zeitliche Kette raumgreifender Vorgänge, durch die sich nach und nach eine Vielheit selbständiger Gesellschaften mit je eigener Geschichte in einen durchgängigen Zusammenhang mit einer potentiell gemeinsamen Geschichte verwandeln“.48

44 Tyrell, Singular, 41. 45 Luhmann, Gesellschaft, 150. 46 Tyrell, Singular, 3 ff., 38–40. 47 Friedrich  H. Tenbruck, Gesellschaftsgeschichte oder Weltgeschichte?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41, 417–439. 48 Ebd., 432.

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Im Anschluss daran stellt sich die Frage, ob es in historischer Perspektive eine Zäsur gegeben haben kann, die zur Herausbildung einer weltgesellschaftlichen Konstellation geführt hat. Im Anschluss an eine Arbeit von Horst Firsching interessiert sich Tyrell für das Problem, ob es eine der Weltgesellschaft historisch vorangehende Pluralität von Gesellschaften gegeben haben kann.49 Denn auch empirisch führe es zu erheblichen Schwierigkeiten, Gesellschaften als „unverbundene Pluralität und kommunikationslos im Verhältnis zueinander zu denken“.50 Umgekehrt erweist es sich ebenso plausibel, sich Verbindungen zwischen Gesellschaften im Plural vorzustellen, ohne dass diese zu einer Einheit aller Kommunikation zusammenlaufen müssten. Es war aber eine der wesentlichen Thesen des frühen Aufsatzes von Niklas Luhmann, dass in der Weltgesellschaft „alle Letzthorizonte zu einer Einheit zusammen“ fließen und die „Menschheit […] ihre Einheit auf den beiden Ebenen der Welt und des Gesellschaftssystems“51 realisiere. Explizit wurde die Bestimmung zurückgewiesen, dass bereits die gesteigerte Möglichkeit der erreichbaren Interaktionen zum Nachweis der Weltgesellschaft ausreiche. Ähnlich dürfte auch die mit den gegenwärtigen technischen Verbreitungsmedien gesteigerte Möglichkeit des Erreichens nicht in einer konkreten Situation anwesenden Adressaten durch Kommunikation allein keine ausreichende Bestimmung für ein Zusammenfließen der Kommunikation zu einer Einheit darstellen. Denn auch Erreichbarkeit verweist lediglich auf einen weltgesellschaftlichen Möglichkeitshorizont der Kommunikation, präjudiziert aber nicht ihren operativen Erfolg. Denn: Briefe müssen nicht geöffnet, Telefonhörer nicht abgenommen und E-Mails können Opfer von Spam-Filtern werden. Und wer zählt die schlafenden Zuschauer vor den eingeschalteten Bildschirmen? Wer mit Luhmann daran festhalten will, dass sich mit der weltweiten kommunikativen Erreichbarkeit aller Adressaten Weltgesellschaft irreversibel konsolidiert habe, dem ist mit der technisch realisierbaren weltweiten Verbreitung von Kommunikation allein noch nicht geholfen. Der kommunikative Welthorizont der Erreichbarkeit aller darf dann nicht nur als eine Möglichkeit gedacht werden, sondern als Unmöglichkeit, die weltweite Verbreitungsmöglichkeit jeder Kommunikation außer Acht zu lassen. 2. Was macht die Beachtung des Welthorizonts in sozialer Praxis so dringlich? Wenn also Weltgesellschaft mehr ist als ein In-Erwägung-Ziehen-Können, insofern es als operative Prämisse der Fortsetzung von Kommunikation die Beachtung des Welthorizonts kommunikativer Erreichbarkeiten impliziert, dann bedarf es einer genaueren Explikation der Bedingungen der Ermöglichung dieses operativ unhintergehbaren Horizonts. 49 Tyrell, Singular, 38; Horst Firsching, Ist der Begriff ‚Gesellschaft‘ theoretisch haltbar? Zur Problematik des Gesellschaftsbegriffs, in: Niklas Luhmanns ‚Die Gesellschaft der Gesellschaft‘, in: Soziale Systeme 4, 161– 173. 50 Tyrell, Singular, 38. 51 Luhmann, Weltgesellschaft, 65.

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Hier scheint Luhmann v. a. an eine Verkopplung von Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierten Medien zu denken. Für alle Teilsysteme der Gesellschaft sind Grenzen der Kommunikation (im Unterschied zu Nichtkommunikation) die Außengrenzen der Gesellschaft. Darin, und nur darin, kommen sie überein. An diese Außengrenze muss und kann alle interne Differenzierung anschließen, indem sie für die einzelnen Teilsysteme unterschiedliche Codes und Programme einrichtet. Sofern sie kommunizieren, partizipieren alle Teilsysteme an der Gesellschaft.52

Um die Irreversibilität des Welthorizontes herauszuarbeiten, der aus dem Zusammenspiel von technischen Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien folgt, wäre aufzuzeigen, wie aus der Möglichkeit des Erreichens aller möglichen Adressaten weltweit, indirekt und nicht intendiert Kommunikationsketten entstehen, deren Rückwirkungen den Sender wieder zu erreichen vermögen. Genau diese Art komplexer Rückwirkungen aus weltweiten Kommunikationsverflechtungen macht Weltgesellschaft zu einer Kontingenz, die nicht nur denkmöglich, sondern auch realwirksam ist. Hierzu greift Luhmann nun auf die Bedeutung der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft (im Singular) zurück. Aus ihrer Dynamik leitet Luhmann die Unmöglichkeit einer regionalen Differenzierung der Weltgesellschaft in (nationale) Subgesellschaften ab: „Eine primär regionale Differenzierung widerspräche dem modernen Primat funktionaler Differenzierung. Sie würde daran scheitern, dass es unmöglich ist, alle Funktionssysteme an einheitliche Raumgrenzen zu binden, die für alle gelten. Regional differenzierbar in der Form von Staaten ist nur das politische System und mit ihm das Rechtssystem der Gesellschaft“.53 Es sind also v. a. die Systeme der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kommunikation durch Massenmedien, die aus Luhmanns Sicht regionale Differenzierungen unterlaufen.54 In Verbindung mit der massenhaften Entwicklung des globalen Reiseverkehrs und der weltweiten Abhängigkeit der Lebensführung von technischen Entwicklungen führe dies auch zur globalen Veränderung von Familienökonomien und demographischen Schüben (insbesondere der transnationalen Migration).55 Luhmann begnügt sich allerdings in seiner Argumentation damit, den Horizont der Weltgesellschaft negativ zu bestimmen. Für ihn reicht es zu zeigen, dass eine Rückkehr zu Regulationsprinzipien der regionalen Differenzierung irreversibel scheint. Er verdeutlicht aber nicht, wie es in den universellen Funktionssystemen a) zu weltweiten Rückkoppelungs52 Luhmann, Gesellschaft, 150. 53 Luhmann, Gesellschaft, 166. 54 Ebd., 171. 55 Ebd., 161, zur transnationalen Migration auch Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt, Frankfurt/Main 2008.

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schleifen kommt und b) ob und wie solche Rückkoppelungsschleifen zu einer Einheit zusammenfließen. Dies ist insofern auch im Rahmen der Systemtheorie nicht unproblematisch, da aus Luhmanns Sicht auch die Politik und das Recht ausdifferenzierte Funktionssysteme mit weltweiter Bedeutung sind. Hinzu treten weitere Gesellschaftsbereiche wie Kultur oder Religion, deren Status als Funktionssystem bzw. deren weltweite Interdependenzen nicht eindeutig bestimmt sind, aber keinesfalls nach dem Muster von Wirtschaft, Wissenschaft oder Massenmedien operieren. Ähnliches scheint für das ‚technologiedefizitäre‘ System der Erziehung zu gelten. Die systemtheoretische Literatur antwortet auf die beiden genannten Probleme tendenziell ungenau. (a) Dies sieht man bereits bei Luhmann selbst, wenn er in „Gesellschaft der Gesellschaft“ die Existenz regionaler Unterschiede konstatiert, allerdings einwendet, dass „die aber nicht die Form der Systemdifferenzierung annehmen“.56 Hier bleibt zu fragen, was sie stattdessen ausbilden. Luhmann rechnet sie – konsequent differenzierungstheoretisch – als kausal von den Funktionssystemen hervorgebrachte Effekte zu: „Sie erklären sich aus Unterschieden der Teilnahme an und der Reaktion auf die dominanten Strukturen des Weltgesellschaftssystems“.57 Allerdings ist das Argument Luhmanns an dieser Stelle ambivalent, denn es rechnet den lokalen Prozessen durchaus so etwas wie Agency zu, wenn auch ohne ein Subjekt zu nennen, das für die Unterschiede der Teilnahme und der Reaktion verantwortlich wäre. Die Systemtheorie gerät hier erneut in die Schwierigkeit genauer anzugeben, wer oder was da reagiert und teilnimmt. Auch behandelt Luhmann in der zitierten Passage58 von dem „Regime der Funktionssysteme“ ausgehende Selektionsverstärkungen, die sich selbst steigernde Dynamiken der Exklusion auslösten. Aber auch hier bleibt die Frage: Wie – anhand welcher Kategorien der Systemtheorie – lässt sich ein solches Regime der Funktionssysteme denken, das als Auslöser von Selektionsverstärkungen und Dynamiken der Exklusion bezeichnet wird? Die Luhmann’sche Systemtheorie verwandelt sich an dieser Stelle der Argumentation in eine Art Zentrum-Peripherie-Konzept, das auf der einen Seite das vereinheitlichende System der Weltgesellschaft als regulatives Zentrum setzt und auf der anderen Seite die Heterogenitäten und Disparitäten der lokalen und regionalen Sozialsysteme als von Exklusion bedrohte Peripherien konzipiert. Da die Systemtheorie (in bewusstem Unterschied zum Weltsystemansatz) nicht ein Funktionssystem zum zentralen Motor dieser Entwicklung macht, bleiben die Beziehungen der verschiedenen Systeme mit universellem Rückkoppelungspotenzial (wie Wirtschaft, Wissenschaft/Technik, Massenmedien, Fernverkehr) und Systemen mit stärker regionalem Bias (wie z. B. Staaten, Familien) so unbestimmt, dass sich fast beliebige Erklärungen daraus stricken lassen. 56 Luhmann, Gesellschaft, 167. 57 Ebd., 167. 58 Ebd., 167–170.

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(b) Auf diese Problemlage reagiert Stichweh in einem Beitrag zum Verhältnis von Wohlfahrtstaaten und globalisierten Funktionssystemen, wenn er neben Startbedingungen und Beschleunigungsmechanismen auch „Auffangmechanismen der Exklusion“ erörtert, die er v. a. aus „strukturellen Kopplungen“ zwischen Systemen abzuleiten versucht.59 Dabei diskutiert er am Fall von Brasilien die Problematik einer dreistelligen strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft, Politik und Recht. Im Fall Brasiliens sei es zu einer folgenreichen „Kopplung zweier Funktionssysteme“ als „enge Kopplung von Politik und Recht“ gekommen, „wo sich eine politisierte, nicht auf autonome Entscheidungsverfahren gestützte Justiz beobachten lässt“.60 Die Justiz könne in diesem Fall nicht als Stopp- oder Auffangmechanismus in die Exklusionsdynamiken treten, weil die Politik nicht eigentlich eigene Exklusionsinteressen verwalte, „sondern als Durchlaufmechanismus für wirtschaftliche Interessenlagen fungiere“.61 Diese Diagnose, die Stichweh übrigens für Brasilien und andere Fälle Lateinamerikas für empirisch gut beschrieben hält, ist nun insofern interessant, weil sie den Systemen der Politik und des Rechts ein Autonomisierungsdefizit als Funktionssystem innerhalb der Weltgesellschaft zurechnet. Die Systemtheorie schreibt somit nicht allen ausdifferenzierten Funktionssystemen in gleicher Weise universelles Autonomisierungspotenzial zu, sondern sieht offenbar ein Autonomiegefälle zwischen Politik/Recht und der Wirtschaft. Dabei hängt aber der Argumentation Stichwehs zufolge, die Autonomisierungschance von Recht und Politik von der regionalen Politik und speziell der Gewaltenteilung innerhalb des Rechtsstaates ab, und eben nicht von einem irreversibel konsolidierten System der Weltgesellschaft. Tyrell macht diese Schwierigkeiten der Systemtheorie an einem anderen Beispiel – dem Vergleich von Weltpolitik und Weltreligionen – deutlich. Weltpolitik bestehe in der ausdifferenzierten Funktionsweise „des politischen Systems mit einer Vielzahl von Staaten“.62 Genau dieses „isomorphe Nebeneinander der Territorialstaaten“ sei dem weltpolitischen System „durchaus adäquat“.63 Hierbei entsprächen sich die Territorialstaaten nicht nur, sondern ihre Existenz hinge auch davon ab, dass sie einander anerkennten64. Genau darin aber unterscheide sich die Operationsweise der Weltpolitik von der der Weltreligionen (im Plural). Denn um eine Religion zu sein, bedürfe sie „der Akzeptanz bei den anderen eben nicht“.65 Die hier genannten Schwierigkeiten weisen Ungenauigkeiten und Ungeklärtheiten im Rahmen des Luhmann’schen Theorems der Weltgesellschaft auf. Insbesondere bleibt ungeklärt, worin der vereinheitlichende Horizont der Weltgesellschaft als Gesellschaftssystem 59 Rudolf Stichweh, Wohlfahrtsstaat, Nationalstaat, Globalisierte Funktionssysteme, in: Ders. Die Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 2000, 91–102, hier 97. 60 Ebd., 98. 61 Ebd. 62 Niklas Luhmann, Funktion der Religion. Frankfurt/Main 2000, 272. 63 Tyrell, Singular, 43. 64 Ebd., 44. 65 Ebd.

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zu betrachten ist, der über die basale Annahme hinausgeht, dass soziale Systeme (per definitionem) in der Operationsweise der Kommunikation beruhen. Diese Definition bleibt aber so unbestimmt, dass sie den (universellen oder nicht-universellen) Ort des kommunikativen Operierens weitgehend offen lässt und insofern nicht klärt, wie es zur Weltgesellschaft als Regime oder hegemonialem Zentrum funktionaler Differenzierung kommt. Nicht zuletzt die Operationsweise weltweit operierender Funktionssysteme offenbart in der Beschreibung durch systemtheoretische Autoren (und bei Luhmann selbst) erhebliche Divergenzen. 3. Weltgesellschaft – eine para-ethische Theorie-Chimäre Das Theorem der Weltgesellschaft geht von der Frage aus, wie soziale Systeme als Menge kommunikativer Operationen Anschlüsse und darüber Kontinuitäten herzustellen vermögen. Mit der prinzipiellen Erreichbarkeit aller durch moderne Verbreitungsmedien der Kommunikation und der weltweiten Ausdehnung generalisierter Kommunikationsmedien (wie Geld, Wahrheit, Publikumserfolg) gelingt es einigen funktional ausdifferenzierten Teilsystemen der Gesellschaft (v. a. Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien) weltweit anhand ihrer eigenen Schemata zu operieren. Gestützt werden diese durch technische und infrastrukturelle Entwicklungen sowie durch die Ausbildung multinationaler Organisationsformen. Dadurch werden gesellschaftliche Einheiten (soziale Systeme) auf lokaler Ebene ebenfalls dazu gezwungen, die weltweit operierenden Rückkopplungsschleifen der Teilsysteme zu beachten. Diese Konstellation gilt schon dem frühen Luhmann als „irreversibel konsolidiert“. Dabei schalte der Horizont der Weltgesellschaft um auf einen Modus der kognitiven Verarbeitung (Lernen) von Erwartungserwartungen. Dieses Erfordernis einer Anpassung von Strukturen an die Folgen weltweiter Systemoperationen wird auch in späteren Arbeiten Luhmanns und seiner Nachfolger beibehalten, wenn sie Unumkehrbarkeit funktionaler Differenzierung mit der Folge eines Weltgesellschaftssystems postulieren. Implizit plädieren die Autoren damit aber für die Anerkennung der Weltgesellschaft als einer normativen Kraft des Faktischen, und zwar aufgrund von soziologischtheoretischen Argumenten. Genau darin liegt aus meiner Sicht die Theorie-Chimäre in der Architektur des Theorems der Weltgesellschaft. Sie weist – wie Ulrich Beck in einer frühen Arbeit bereits für die Systemtheorie insgesamt behauptet hat66 – einen paraethischen Argumentationsstil auf. Der paraethische Kern der systemtheoretischen Argumentation besteht darin, die Weltgesellschaft aufgrund der (potenziellen) Erreichbarkeit aller als Adressaten jedweder Kommunikation als stets zu beachtenden Welthorizont der Kommunikation einzuführen. Es wird insofern für jede soziale Einheit relevant, die Relationen und Folgen der eigenen Kommunikationsbeiträge im Rahmen einer potenziell weltweiten kommunikativen Vernetzung zu antizipieren. Dies sei nur noch als Erfahrung der Kontingenz fassbar, da aufgrund der 66 Ulrich Beck, Objektivität und Normativität, Reinbek 1972, v. a. 166 ff.

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schwachen Konnektivität weltweiter kommunikativer Vernetzung stets mit indirekten und unintendierten Folgen kommunikativer Selektionen zu rechnen ist. Diese Kontingenz könne dann zwar durch Leitmedien symbolisch generalisierter Kommunikation orientiert, aber nicht im Hinblick auf ihre grundlegende (und irreversible) Kontingenz aufgelöst werden. Die theoretische Leistung des Luhmann’schen Systemfunktionalismus, den Horizont weltweiter kommunikativer Vernetzungen beobachten zu können, hypostasiert allerdings die funktionalen Erfordernisse an jegliche Kommunikation, genau jenen allumfassenden Horizont in Rechnung stellen zu müssen. Oder anders formuliert: Der allumfassende Horizont wird in jeder Kommunikation in der Weltgesellschaft schon als mitimpliziert vorausgesetzt, so dass ein Nicht-Beachten dieses Horizonts in der Kommunikation wie die Verletzung eines funktionalen Erfordernisses aussieht (den Horizont zu beachten). Wenn wir die Vorzüge der Luhmann’schen Rekonstruktion der funktional differenzierten Weltgesellschaft darin sehen, dass sie auf funktionale Umstellungen von Moral/Normativität auf Lernen verweist, und damit die Politik, dem Recht und dem Nationalstaat als normative Formen der Enttäuschungsverarbeitung die Systeme der Wirtschaft, Wissenschaft oder Massenmedien als durch lernende Anpassung rückgekoppelte Operationsweisen gegenüberstellt, dann favorisiert er (und seine Nachfolger) jedoch häufig ohne Not das Motiv der lernenden Behandlung von Erwartungen innerhalb der Konstellation der Weltgesellschaft gegenüber den normbildenden Funktionen von Recht und Politik in nationalen und supranationalen Institutionen. In einer anderen Theoriesprache ausgedrückt: Transnationale Vergesellschaftungsmodi werden gegenüber nationalen, d. h. auch inter- und supranationalen Vergesellschaftungen, favorisiert und noch mehr: Transnationalisierung wird als eigentliche Kraft, als Motor der Weltgesellschaft unter der Hand ausgewiesen.

IV. Fazit Ausgangspunkt des Beitrags war die Frage, ob es sich bei Luhmanns Diktum der „Weltgesellschaft“ um eine den inflationär grassierenden Bindestrichgesellschaften (à la Informationsgesellschaft, Mediengesellschaft, Erlebnisgesellschaft usf.) ähnliche Form der „Pars-ProToto-Gesellschaft“ handelt. Luhmanns Weltgesellschaft will keine Gesellschaft unter vielen aufdecken, sondern im Rahmen seines grundlagentheoretischen Ansatzes die allumfassende Ebene des Weltgesellschaftssystems im Einklang mit der Theorie zugleich heterogener und eigensinniger sozialer Systeme theoretisch entfalten. Dieses Vorhaben zwingt ihn zu einem hohen Maß an theoretischer Komplexität und Differenzierungen, und nicht zuletzt zu einer meist modifizierenden Integration auch konkurrierender Ansätze (z. B. dem Weltsystemansatz). Trotz der nach wie vor beeindruckenden Architektur des Luhmann’schen Theoriebaus bleiben Schwierigkeiten zu beanstanden, die in anderer Hinsicht den Verdacht einer Chi-

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märe erhärten: So erzeugt das Festhalten an der Idee einer regulativen Systemebene auf dem Niveau der Weltgesellschaft als Singular paradoxe Formen der theoretischen Integration der Gesellschaft als Gesamtzusammenhang mit den in sich differenzierten und durchaus auch regional lokalisierten sozialen Systemen, die sich sowohl miteinander in Interdependenz als auch mit dem Gesamthorizont der Weltgesellschaft befinden soll. Hier können Luhmann und seine Nachfolger nicht hinreichend präzisieren, worin die Systemebene besteht, auf der die selbstregulativen Systeme mit ihren je eigenen Operationen als Welthorizont zusammenfließen sollen. Denn in der Regel löst sich die behauptete Einheit jeweils in Differenzen der Funktionssysteme, der Organisationen und Interaktionen auf, die dann sowohl auf globaler als auch lokaler Ebene sich (selbst) strukturieren (wie z. B. Staaten). Insofern erscheint es durchaus attraktiv, im Anschluss an Tenbruck den Argumenten von Firsching zu folgen und von Konstellationen mehrerer Gesellschaften in der Weltgeschichte auszugehen. Dieser Vorschlag könnte zudem einhergehen mit der Möglichkeit, ein weiteres Defizit der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie zu bearbeiten. Denn wie Cornelius Torp67 sehr aufmerksam beobachtet hat, fehlt es in der Systemtheorie an historisch präziseren Aussagen zur Entwicklung von Gesellschaft(en), die sich in Form empirischer Geschichtsforschung zuverlässiger überprüfen ließen. Oftmals – und auch hier in Bezug auf die These der Genese der Weltgesellschaft – wird eher diffus auf Epochenschwellen (wie die der Neuzeit) verwiesen und weniger exakt kürzere Zäsuren68 in den Konstellationen der Weltgeschichte periodisiert. Diese Ungenauigkeiten der Systemtheorie manifestieren sich zudem in den normativpraktischen (hier: para-ethischen) Implikationen des Ansatzes. Hier tendiert die Systemtheorie zu einer tendenziell negativen, eben ablehnenden Stellungnahme gegenüber steuerungsoptimistischeren und zeitgeschichtlich auf kleinere Zeiträume orientierten politik- und geschichtswissenschaftlichen Positionen. Damit gerät die Gesellschaftstheorie auch in ein diagnostisches Defizit und verliert als Orientierungswissenschaft für die Gesellschaft an Attraktivität. Die Folge dieser para-ethischen Steuerungsskepsis kann dann auch eine (unnötige oder wenigstens übertriebene) Einschränkung von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen von sozialen Einheiten in der Weltgesellschaft sein. Wenn es jenseits der allgemeinen Operationsweise der Kommunikation, die für alle sozialen Systeme bereits gegeben ist, keine spezifischere Regulation auf der letzten Ebene weltgesellschaftlicher Zusammenhänge gibt, sondern diese nur Resultat kontingenter Interdependenzen ist, dann wäre zwar mit dem Horizont solcher kontingenter Interdependenzen zu rechnen, jedoch obläge die Steuerung (Regulation) dieser Kontingenzen den lokalen Sys67 Cornelius Torp, Weltgesellschaft und Weltereignis, in: Stefan Nacke/René Unkelbach/Tobias Werron (Hrsg.), Weltereignisse, Wiesbaden 2008, 41–60, insb. 51–53. 68 Vgl. dazu Michael Corsten/Michael Gehler/Marianne Kneuer (Hrsg.), Welthistorische Zäsuren. 1989–2001– 2011, Hildesheim 2016.

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temzusammenhängen. Denn auch die weltweit operierenden Funktionssysteme der Wirtschaft, von Wissenschaft, Recht, Politik etc. wären in ihren basalen Operationsmodi nicht veränderbar. Es bleibt aber die Frage, ob sich nicht doch auch im Sinne Torps historisch kürzere Perioden an den Varianten moderner Funktionssysteme identifizieren lassen, z. B. im Wirtschaftssystem als Varianten der Produktionsweise (industriell, post-industriell), der Marktregulation (liberal, wohlfahrtstaatlich), der übergreifenden Währungssysteme oder Finanzmarktregulationen oder auch als Varianten der parlamentarischen Demokratien. Darin zeigten sich wiederum lokale oder überregionale Kopplungen von Funktionssystemen – aber nie regulative Modi der Weltgesellschaft, die alle Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionen der Gesellschaft jenseits von Kommunikation operativ verbinden würden. Weltgesellschaft bleibt somit allenfalls ein Bezugshorizont, der in jeder Kommunikation möglich, aber nicht unausweichlich ist. Spielräume in der Art und Weise, wie operative Modi von Funktionssystemen gestaltet werden können – z. B. als Kopplungen von Raum, Personal und Organisation in multinationalen Unternehmen. Richtig ist, dass lokale, einzelsystemische Einheiten in ihrer Steuerung aufgrund ihrer Kopplung mit anderen Systemen auf kontingente Interdependenzen verwiesen sind, und dass diese Interdependenzen globale Ausmaße annehmen können. Und richtig ist auch, dass diese Kontingenzen nicht ohne Lernen (Erwartungsanpassungen von Systemen) bewältigt werden können. Die Theorie-Chimäre im Gebrauch des Begriffs Weltgesellschaft in der soziologischen Systemtheorie besteht letzten Endes im Festhalten am Kompositum im Singular statt der Auflösung des Begriffs in den Plural der interdependenten Gesellschaften bzw. Sozialsysteme im Horizont einer Welt. Schuldig geblieben ist die Systemtheorie v. a. der Nachweis einer spezifischen Operationsweise der Weltgesellschaft als Gesellschaftssystem, das als reales Systemkorrelat mit dem Sinnpotenzial des Welthorizontes korrespondiert.

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Max Webers Konzept der „okzidentalen Rationalität“ und Martin Heideggers Überlegungen zum „Gestell“ Die „Weltgesellschaft“ unserer Zeit ist in der Genese ihrer globalen Interdependenzen wesentlich von geschichtlichen Einflüssen Europas mitbestimmt. Was hier an Logizität, Rationalität, Vernünftigkeit des Weltganzen, des Menschen als „zoon logon echon“ bzw. „animal rationale“, der individuellen wie kollektiven Lebensführung und Weltgestaltung dem Selbstverständnis nach in der abendländischen Tradition gedacht, nach politischen Machtkonstellationen umgesetzt und wo immer möglich technisch angewandt worden ist, kann nicht getrennt werden von den modernen gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen als Globalisierungsschüben. Entsprechend sind weltgeschichtliche – als weltgesellschaftliche – Probleme nicht erst in unseren Tagen möglicherweise je schon rationalitätsimmanente, auf jeden Fall immer auch Probleme von europäischer Herkunft. Folgerichtig impliziert die Klärung der Dimensionen und Perspektiven (der Tendenzen hin zu) einer Weltgesellschaft die Einbeziehung von Überlegungen zur europäischen Rationalitätsgeschichte. Für diese Aufgabe sollen im Folgenden lediglich zwei paradigmatische Positionen der Rekonstruktion einer solchen Rationalitätsgeschichte herangezogen werden, zunächst Max Webers Konzept aus soziologischer Perspektive, sodann die philosophischen Überlegungen Martin Heideggers.1 1 Bereits Webers wie Heideggers Zuwendung zur Geschichte der okzidentalen Rationalität bzw. MetaphysikGeschichte ist aufschlussreich. Sie erfolgt in einer Situation, in der sich mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts und nach Nietzsches Zäsur des ‚Todes Gottes‘ das Ende der großen Erzählungen deutlich ankündigt. Der Verlust aller traditionell verbindlichen Referenzrahmen bringt unweigerlich Desorientierung mit sich. Was bleibt, ist der zurückgelegte Weg, die eigene Herkunftsgeschichte als unverzichtbare Bezugsordnung, die vielleicht doch über die Situation hinaus geschichtlich die weitere Richtung anzuzeigen vermag. – Obwohl die gemeinsame Problemlage offenkundig ist, scheinen Weber und Heidegger bislang kaum zusammen bedacht worden zu sein, und wenn, dann auch nicht beidseitig auf das Ganze ihres Werkes. Hervorheben möchte ich gleichwohl Johannes Weiß (Hrsg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001, der in seiner Einführung mehrfach Weber und – freilich wieder: nur den frühen – Heidegger aufeinander bezieht (14, 21, 44). – Die fehlende Inbeziehungsetzung des großen Heidelberger Soziologen und des wie auch immer in Deutschland umstrittenen, dafür weltweit philosophisch diskutierten Freiburger Philosophen erstaunt umso mehr, als beide mit dem südwestdeutschen Neukantianismus einen gemeinsamen Hintergrund hatten. Max Weber (Jg. 1864) und Heinrich Rickert (Jg. 1863) waren (wie bereits die Eltern) befreundet (vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1984, bes. 216), und Heidegger (Jg. 1889) hatte sich 1915 bei Rickert habilitiert (s. ihren Briefwechsel, Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente, Hrsg. v. Alfred Denker, Frankfurt/Main 2002). Der junge Heidegger hatte Webers wissenschaftsmethodologische Schriften 1919/20 partiell exzerpiert

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I. Weltentzauberung und Weltbeherrschung bei Max Weber. Skizze und Vorblick auf den Zusammenhang mit Martin Heidegger Gleichsam im Vorgriff unserer Aufgabe hat Max Weber nach Maßgabe seiner 1920 verfassten „Vorbemerkung“ zu seinen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ „universalgeschichtliche Probleme“ über eine „Verkettung von Umständen“ vom „okzidentalen Rationalismus“ her behandeln wollen.2 Weber konnte zu diesem Zeitpunkt sowohl seine Forschungen zu Wirtschaft und Gesellschaft wie auch die Ergebnisse seiner komparativ angelegten Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen überblicken, deren Erforschung er als einen „Beitrag zur Typologie und Soziologie des Rationalismus selbst“ verstanden hat.3 Dabei ließen sich im Vergleich der Kulturreligionen untereinander unter dem Gesichtspunkt ihrer Haltungen und Einstellungen zur „Welt“ in bestimmten Traditionssträngen der monotheistischen Religionen schon Ursprünge einer „rationalen Beherrschung der Welt“ angelegt sehen.4 Doch zeigte sich die untergründige Wirksamkeit eines solchen religionsgeschichtlichen Rationalismus erst über einen Langzeitprozess – wie Weber von seiner Protestantismus-Studie aus den Jahren 1904/05 wusste – in der Ethik des asketischen Protestantismus. In ihr kam Webers These zufolge der mit der altjüdischen Prophetie ein- und von

(vgl. GA 58, 189–196). – Heidegger zitiere ich nach seiner Gesamtausgabe (= GA, Bd., Seite), Frankfurt/Main 1975 ff. – In der Jaspers-Rezension, entstanden 1919/21, kritisiert Heidegger Jaspers dahingehend, Webers Methodologie der Soziologie, ihre wissenschaftstheoretische Fundierung à la Rickert, überhaupt die strikte Trennung von wissenschaftlicher Theorie und Wertung zu unkritisch auf das philosophische Erkennen, auf die Psychologie und Existenzphänomene übertragen zu haben (GA 9, 40–41). Von Weber wird Heidegger weiter aufgrund des regelmäßigen Austausches mit Jaspers in Heidelberg mit Sicherheit auch mehr gewusst haben, als in ihrer Korrespondenz explizit wird (Heidegger/Jaspers, Briefwechsel, 1920–1963, Hrsg. v. Walter Biemel/Hans Saner, München – Frankfurt/Main 1992, bes. 148, 167/170). Beim Erhalt von Jaspers Schrift „Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Oldenburg 1932, antwortet Heidegger nach lobenden Worten zum Buch: „Max Weber kenne ich freilich nicht genug, und er wird mir wohl auch immer im Letzten fremd bleiben“ (Brief v. 8. 12. 1932, Briefwechsel, 148). – V.a. wäre für eine weitergehende Inbeziehungsetzung von Weber und Heidegger die Philosophie Emil Lasks einzubeziehen, der Rickert in der Weise weiterführte, dass man sehen kann, wie einerseits Weber durch die erkenntnistheoretischen („gnoseologischen“) Grundlagenprobleme im Einflussbereich des neukantianischen Ansatzes verblieb, wohingegen Lasks Wahrheitsverständnis, seine sog. „aletheiologischen“ Einsichten für Heidegger bestimmend wurden. – Lask war hochgeschätzt im sog. Weber-Kreis (vgl. Marianne Weber, 1984, bes. 372, 538), von dem m. E. als „Intellektuellenkreis“ im Heidegger/Jaspers-Briefwechsel die Rede ist (1992, 167/170). – Lask wiederum war für Heidegger mindestens seit 1912 wegweisend (vgl. GA 1, 24–26, 32–34). – Vor diesem reichen Bezugshintergrund kann unser vorliegender Beitrag nur eine erste, vorläufige Inbeziehungsetzung von Weber und Heidegger sein. 2 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (= RS) I – III, zitiere ich nach der Taschenbuchausgabe, Tübingen 1988, RS I, 1–3. 3 RS I, 537. 4 RS I, 534.

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aller Magie sich absetzende „Prozeß der Entzauberung der Welt“ zum Abschluss.5 Zugleich galt ihm die protestantische Asketik durch ihre „rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee“ ursächlich mitverantwortlich für die Entstehung des modernen bürgerlichen Betriebskapitalismus als einem immer mächtiger werdenden, da umfassender den Menschen bestimmenden „Kosmos“, „Triebwerk“ und „stahlharten Gehäuse“.6 Aber erst die Einbeziehung weiterer notwendiger Kausalbedingungen bzw. Wirkungszusammenhänge führte Weber zur These des „spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“.7 Die bekannte These birgt eine gleichwohl nicht auf den ersten Blick erfassbare Klimax an Bedeutung und Tragweite. Denn daraus allein, dass ausschließlich die okzidentale Kultur rationale Kulturerscheinungen von vielleicht universeller Bedeutung hervorgebracht habe, wird weder wirklich (schon) die Eigenart des Westens erklärlich noch ist mit ihr das Absprechen gleichwertiger Ursprünge und bedeutsamer Errungenschaften anderer Kulturen verbunden.8 Vielmehr ergibt sich für Weber, insofern Wirklichkeit für ihn stets umfassender Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist, die Singularität der okzidentalen Rationalität des Westens just aus der einzigartigen „Verkettung von Umständen“, die in der wechselseitigen Beeinflussung und also in ihrer spezifischen Gesamtheit religiöser, ethischer, wissenschaftlich-technischer, wirtschaftlicher und ähnlicher Faktoren zusammen eben zu der Art von okzidentaler Rationalität führten, die – mit einem Ausdruck Husserls – dann als „Europäisierung der Welt“ auch auf die Welt übergriff. Vor allem aber ist Webers These weitreichend und eine echte Herausforderung (auch für alles Fragen nach einer Weltgesellschaft) unter Einbeziehung der Deutung des religionsgeschichtlichen Prozesses in eins als „Entzauberung“ wie als Freisetzung „rationaler Beherrschung“ von Selbst und Welt im Beruf. Denn auf der einen Seite fand der Entzauberungsprozess seinen „Abschluss“ im Prädestinationsglauben des asketischen Protestantismus und bedeutete „den Verzicht auf die Zugänglichkeit eines Sinnes der Welt für menschliches Verstehen, welcher damit auch aller Problematik dieser Art [d. h. eines derartigen normativen Referenzrahmens, R. E.] ein Ende machte“.9 Ebenso sehr trug er im selben Zuge auf der anderen Seite zu der neuzeitlich okzidentalen Rationalität der Weltbeherrschung in ihren sich wechselseitig hervorrufenden Rationalitätsformen bei: als moderner rationaler Betriebskapitalismus, als rationale Nutzung freier Lohnarbeit, von Markterwerbschancen mit legalen Mitteln, von Techniken zur ausschließlichen 5 6 7 8

RS I, 94, vgl. ebenfalls explizit zur „Entzauberung der Welt“, 114, 156, 158. RS I, 202–203. RS I, 11. Zum Eurozentrismus-Vorwurf vgl. Gerhard Hauck, Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes: Wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften, Münster 2003. – Vgl. zum Werk Webers und dem Stand der WeberForschung einschließlich der neueren Literatur den sehr guten Überblick bei: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hrsg.), Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2014. – Entsprechend sei für Heidegger auf den ebenfalls sehr guten Überblick hingewiesen bei: Helmuth Vetter, Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg 2014. 9 RS I, 573.

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Produktivitätssteigerung, als rationale Rechnungsführung und Kalkulation, als rationale Verwaltung, berechenbares Recht, verlässliches Finanzsystem etc. Kurzum: der Entzauberung von Welt korrespondiert die Bemächtigung von Welt, Weltentzauberung ermöglicht Weltbeherrschung, durch Rationalisierung und „Intellektualisierung“ „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen (zu) können“.10 Webers Interesse an dem okzidentalen Rationalismus in der Verkettung der Umstände seiner Entstehung und weiteren Entwicklung in der Moderne über die sich wechselseitig bedingenden gesellschaftlichen Ordnungen ist in Erweiterung der soziologischen Perspektive und unter dem Stichwort der „Multifunktionalität der Rationalität“ bereits in weltgeschichtlicher Perspektive umfassend analysiert und wird im vorliegenden Buch in der Rekonstruktion als „Rationalitätsgeschichte“ in ihrer narrativen Strukturrelevanz für die Weltgesellschaft zur Diskussion gestellt.11 Ich möchte mich deshalb im Folgenden bei Weber auf drei Aspekte beschränken. Erstens sei der für Webers Systematisierung religiöser Rationalisierung und ihrer religionsgeschichtlichen Deutung zentrale Ausgangsgedanke der Erlösungsidee im Lichte von Vollkommenheit (bzw. ihren Idealen) skizziert (Abschnitt II). Sodann wende ich mich dem religionsgeschichtlichen Abschluss der Entzauberung in Webers Auslegung der Ethik des asketischen Protestantismus zu (III). Schließlich: Im Übergang von der religiös-(wert) rationalen Lebensführung der protestantischen Asketik einerseits („Protestantische Ethik“) und ihrer Entwicklung hin zur säkular-(zweck)rationalen Lebensführung in der modernen Kultur rein um des Berufs und Erwerbs willen andererseits („Geist des Kapitalismus“) ändert sich der Status der Idee der Zweckrationalität, auch bei und für Weber selbst (IV). Zu vielen Befunden Webers gibt es sachliche Parallelen in Heideggers Analysen der Metaphysik, des „Seinsgeschicks“, des „rechnenden Denkens“ und natürlich der modernen Technik als „Ge-stell“. Mit dieser deutschen, den Versammlungsaspekt betonenden Übersetzung von „Sys-tem“ als dem „Zusammen-Gestellten“ versucht Heidegger zu klären, wie sich die geschichtlich anbahnende und heute globalisierende Notwendigkeit von Steuerung und stets höherstufig zu regelnder Sicherung der diversen Systemtechniken zeigt und was sie in ihren Auswirkungen bedeutet – geschichtlich für das Mensch-Welt-Verhältnis ebenso wie für die Weltgesellschaft. Das Vorgehen ist dabei parallel zu Weber gegliedert. Vom metaphysisch technomorphen Vollkommenheitsdenken der griechischen Antike (V) wird von Platon bis Nietzsche über die abendländische Geschichte der Metaphysik als gleichzeitige Geschichte der Subjektivierung und des Willens zur Macht (VI) schließlich die welthistorische Bedeutung des „rechnenden Denkens“ für das „Gestell“ angesprochen (VII).

10 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (= WL), zitiere ich nach der Taschenbuchausgabe Tübingen 1988, obiges Zitat: WL, 594. 11 Vgl. hierzu v. a. Silvio Vietta, Rationalität – Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung, München 2012, 23–25, zu Weber, 35–36 zur multifunktionalen Rationalität sowie Ders., Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, Baden-Baden 2016. Siehe auch Viettas Beitrag in diesem Band.

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II. Religiöser Rationalismus und metaphysisches Vollkommenheitsdenken In Max Webers religionssoziologischem Versuch einer Typologie der Religionen als Beitrag zu einer solchen des Rationalismus haben schon die religiösen Rationalisierungsversuche spezifischer Welterfahrungen Eingang gefunden. Natürlich haben zunächst unmittelbare Bedürfnisse und „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen“ die Lebenspraxis der Menschen v. a. im Umgang mit Schlüsselerfahrungen letztlich von Leid und Tod bestimmt. Aber aus den sozial bestimmten und von „Ideen“ getragenen Richtungen des Umgangs entstanden „Weltbilder“, die ihrerseits wieder die Weichen für die weitere soziale Interessendynamik stellten. „Nach dem Weltbild richtete es sich ja: ‚wovon‘ und ‚wozu‘ man ‚erlöst‘ sein wollte und – nicht zu vergessen: – konnte.“12 Je nach Deutung der Schlüsselerfahrungen sublimierten dementsprechend die Intellektuellenschichten den einst magisch „religiösen Heilsbesitz zum ‚Erlösungs‘-Glauben“. Klammer war gleichsam die Erlösungsidee, gleichermaßen „Ausdruck eines systematisch-rationalisierten ‚Weltbildes‘“ wie der „Stellungnahme dazu“. Wovon man erlöst werden wollte und wozu – das bildet sozusagen den Horizont der Rationalisierung(-smöglichkeiten). Hinter dem ‚Wovon‘ des Erlösungswunsches verbarg sich die Erfahrung des ‚Leids‘ als des Sinnwidrigen oder Sinnlosen der realen Welt.13 Das ‚Wozu‘ der Erlösungsperspektive14 implizierte „die Forderung: daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ‚Kosmos‘ sei oder: werden könne und solle“. In diesem „Verlangen“ sieht Weber „das Kernprodukt des eigentlich religiösen Rationalismus“.15 In ihm sind auch die Dualismen der Weltreligionen angelegt, die Möglichkeiten unterschiedlicher Gottesverständnisse, aber auch der Weltverhältnisse16 einschließlich der weiteren Rationalisierungsmöglichkeiten, theoretisch im ‚Erkennen‘ des ‚objektiven Sinns des Weltganzen‘ wie praktisch in der subjektiv entsprechenden Lebensführung.17 12 RS I, 252 (Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“). 13 Ebd.: Von politischen und sozialen Abhängigkeiten, von rituellen Verunreinigungen oder der durch Inkarnation, von der Vergeblichkeit menschlichen Begehrens und Leidens, vom sündhaft Bösen, vom Wiedergeburtskreislauf, von der Sinnlosigkeit alles Tuns und dergleichen – siehe folgende Anm. 14 Ebd.: – hin zu einem messianischen Zukunftsreich im Diesseits, zur Reinheit und Loslösung vom Körper hin zu einem rein geistigen Sein, zum Aufgehen im Nirvana, zum gnadenhaften Wiederauferstehen im Jenseits und dergleichen. 15 Ebd., 253. 16 Zentral sind nach wie vor die großen Studien von Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung. Bd. 1. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, sowie Bd. 2. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt/Main 1988. Vor allem in seinem 2. Band geht Schluchter Webers Analysen und Haltungen zur Welt nach, so dem Weltverhältnis als Weltanpassung (im Konfuzianismus und Taoismus), als Weltüberwindung (im okzidentalen Mönchtum), als Weltflucht (im Hinduismus und Buddhismus) sowie eben als Weltbeherrschung in der Protestantischen Ethik. 17 Vgl. dazu RS I, 265–266: Danach kann „Rationalismus“ für Weber Verschiedenes bedeuten und gleichwohl

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Die Besonderheit, die ich in diesem Kontext ansprechen möchte, liegt darin, dass der religiöse Rationalismus mit seiner Erlösungsidee ein metaphysisches Vollkommenheitsdenken berührt. Von rational möglicher Leidüberwindung, vom Heil zu sprechen, macht Sinn ja nur im Lichte einer Erlösungsidee und d. h. im Lichte einer vollkommenen Ordnung des Weltganzen bzw. einer Vollkommenheit Gottes, der beispielsweise mit den Attributen „absoluter Unwandelbarkeit, Allmacht und Allwissenheit, kurz absoluter Überweltlichkeit ausgestattet“ ist.18 Gleichzeitig forderte die erfahrene Inkompatibilität von unvollkommener Welt und Vollkommenheit göttlicher Ordnung in Form der Theodizee-Frage sowohl den religiösen Rationalismus wie die metaphysische „priesterfreie Philosophie“ zu immer neuen Rationalisierungen heraus, theoretisch wie praktisch, allein schon aus dem Gedanken der Konsequenz der Forderung, dass „Welt und ‚Lebensführung‘ je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien“.19 Welt und Leben so rational ‚anzusehen‘, bleibt nicht ohne Auswirkungen. Weber spricht dem Rationalen selbst ob seiner „logischen oder teleologischen ‚Konsequenz‘“ bei den „intellektuell-theoretischen oder praktisch-ethischen Stellungnahmen […] Gewalt über die Menschen“ zu.20 In Entsprechung zur Annahme einer hinter allem Leid verborgenen sinnvollen Weltordnung wird auch die Lebensführung als ganze religiös insofern rationalisiert, als sich nur auf bestimmten Wegen und mit spezifischen Mitteln Vollkommenheit bzw. Erlösung bzw. Bewährung des möglichen Gnadenstandes erreichen lässt. Damit bekommen Weltmodell und Lebensmodell im Hinblick auf unterstellte bzw. zu erreichende Vollkommenheit, Erlösung, Bewährung technomorphen, die Lebensführung jedenfalls tendenziell instrumentellen Charakter (als sei das Leben ein aus religiösen Gründen technisch lösbares Problem). Leicht ließe sich das für die zwei konsequentesten Theodizee-Rationalisierungen, für die Karma-Lehre in Indien und die Prädestinationslehre im Okzident ausführen; doch soll hier nur die letztere interessieren, weil von ihr Weber zufolge – zugespitzt gesagt: – Selbst- und Weltbeherrschung (über die spezifische Berufsidee) professionalisiert wurde.

eine Zusammengehörigkeit ausmachen. „Je nachdem dabei entweder an jene Art von Rationalisierung gedacht wird, wie sie etwa der denkende Systematiker mit dem Weltbild vornimmt: zunehmende Beherrschung der Realität durch zunehmend präzise abstrakte Begriffe, – oder vielmehr an die Rationalisierung im Sinne der methodischen Erreichung eines bestimmten gegebenen praktischen Zieles durch immer präzisere Berechnung der adäquaten Mittel. Beides sind sehr verschiedene Dinge trotz der letztlich untrennbaren Zusammengehörigkeit.“ 18 Siehe dazu den religionssoziologischen Teil in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (= WuG), Tübingen 1980, § 8, 314. 19 WuG, § 7, 307–308. 20 RS I, 537 – weshalb Weber im Übrigen selbst hofft, dieser Ursächlichkeit „durch zweckmäßig konstruierte rationale Typen […] der innerlich ‚konsequentesten‘ Formen“ (ebd.) auf die Spur zu kommen.

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III. „Rationale Beherrschung der Welt“ als professionelle Selbst- und Weltbeherrschung – Webers „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ Bei seinem Versuch, konstitutive Grundzüge des modernen okzidentalen Rationalismus herauszuarbeiten, lehnte Weber es ab, „die Entwicklung des ‚kapitalistischen Geistes‘“ ausschließlich von den ökonomischen Voraussetzungen her und einfach nur „als Teilerscheinung in der Gesamtentwicklung des Rationalismus zu verstehen“. Sein Vorschlag war, den historischen Erscheinungen in ihrer Individualität dadurch gerecht zu werden, dass man die dafür spezifischen „Kausalreihen“, „genetischen Zusammenhänge“, „Wahlverwandtschaften“ in ihrer geschichtlichen ‚Mitbeteiligung‘ aufdeckt.21 In Ergänzung zur Relevanz der „ökonomischen Bedingungen“ sollte „auch der umgekehrte Kausalzusammenhang“ beachtet werden. „Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig.“ Nun war in der Vergangenheit die Lebensführung ihrerseits stets von Magie und Religion geformt und mitbestimmt worden; also muss auch von ihnen und den in ihnen verankerten „ethischen Pflichtvorstellungen“ her22 – oder mindestens im Verhältnis zu ihnen die Etablierung des modernen rationalen Wirtschaftsethos rekonstruiert werden.23 Für diese Rekonstruktion gilt es, den religiösen Rationalismus in seiner in sich differenzierten Einheit stets als Ganzes zu berücksichtigen, also gleichermaßen a) von der jeweils relevanten theologischen Systematik des ‚Weltbildes‘ und b) von der entsprechenden rationalen Ethik her. Denn es sind die wechselnden und doch miteinander in Zusammenhang stehenden Konstellationen (von a) und b)), die die spezifischen ‚Theologieen‘ je für sich als ganze bilden, die im geschichtlichen Langzeitprozess teils durch Wegfall, teils durch Zurückdrängung (bei untergründig wirksamer Latenz), teils durch Verstärkung spezifischer Tendenzen und Motive die weitere Konstellation ihrer Rationalisierung bestimmten. Auf diese Weise vermag Weber (sowohl im Kontrast zur Magie als auch im späteren typologischen [Religions-]Vergleich) das jeweils systematisierte Gott-Welt-Mensch-Verständnis einschließlich der Heilsauffassung (a) und die zur Heilserlangung erforderlichen Lebensführungen, Heilswege wie Heilsmittel (b) idealtypisch herauszuarbeiten und auch im Lichte zusätzlicher Aspekte (z. B. des Berufs, von Trägergruppen, Vergemeinschaftungsprozessen) zu beleuchten und im geschichtlichen Längsschnitt deutend zu erklären. Den Fluchtpunkt bildet der asketische Protestantismus calvinistischer Prägung mit der Einheit von Theologie 21 Vgl. zusammen RS I, 1, 12, 30–31, 82–83, 204–206. 22 RS I, 12. 23 Siehe dazu die besonders wichtigen Stellen RS I, 37 u. 165 (Anm. 3). – Um die Einseitigkeit seiner Analysen weiß Weber, da er hier mehr dem inneren „Geist“ des modernen Kapitalismus, weniger seinen (durchaus von weit her kommenden) äußeren „Formen“ nachgeht (vgl. RS I, 12, 192 [Anm.], 205–206).

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der Prädestinationslehre (a) und Pastorallehre mit ihrer rational-professionalisierten Lebensführung innerweltlicher Bewährung (b). Die Bedeutung der Lebensführung stellt die systematische Verbindung von der protestantischen Ethik zum kapitalistischen Geist her. In ihren antiken und mittelalterlichen Ausprägungen war sie noch in der Form der sich von der Welt zurückziehenden (deshalb außer-weltlichen) christlichen Askese stets eine religiös-rationale, die griechische Vollkommenheitsmetaphysik aufnehmende, an Gottesschau und Seelenheil ausgerichtete Lebensweise, durch die der Mensch seine immanente Christusförmigkeit und also sein ‚wahres Menschsein‘ zu der ihm möglichen Vollkommenheit bilden sollte. Der Augustinermönch Luther war einerseits zutiefst mit dieser Tradition verbunden. Andererseits transformierte er sie jedoch in Richtung innerweltlicher Askese – zusammen mit dem Wandel seines Verständnisses von Gott als dem verborgenen Gott und der neuen Stellung des Menschen als in seinen Beruf geschickt. Ihre radikalste Form prägte die rationale Lebensführung im Puritanismus aus, hauptsächlich im Calvinismus. Um auch hier „,objektiv mögliche‘ Zusammenhänge“ zu „,erschließen‘“24, deutet Weber die mit dem Calvinismus einhergehende Radikalisierung „idealtypisch“25 auf die Sinnbezüge in ihren letzten Konsequenzen hin, in denen sich das Verstehen und (so subjektiv sinnhaft motivierte) Handeln der Menschen hält. Sein Deutungsversuch operiert wesentlich – durchgängig auch in seiner Protestantismusstudie – mit den Kategorien „Mittel“ und „Zweck“. Inwieweit Weber damit selbst noch im Einflussbereich des überkommenen dominant-technomorphen Denkens der abendländischen Tradition steht, wird im nächsten Punkt eigens zu befragen sein. Auffällig ist jedenfalls, dass im Lichte des oben skizzierten religiösen Rationalismus das religiös-(wert)rationale Denken und Handeln des asketischen Protestantismus sowohl von seiner theoretisch-rationalen Seite der normativen Dogmatik her (a) wie von seiner rational-ethischen Seite (b) „technomorph“ deutend erklärt wird, mithin nach einer Grundidee von Technik vorrangig in Mittel-Zweck-Bezügen modelliert wird. Ich gehe zunächst auf diese theoretisch-rationale Seite der Prädestinationslehre, sodann auf die praktisch-rationale Seite der Lebensführung ein, um anschließend die zentralen Konsequenzen zu betrachten. (a) Der calvinistischen Grundprämisse zufolge wird Gottes Weltschöpfung unter der Idee verstanden, dass die Schöpfung, die Menschen (mithin ihre gesamte Lebensführung), überhaupt alles Geschehen rein um Gottes willen da sind. In den deutenden Worten Webers kann alles „seinen Sinn ausschließlich als Mittel zum Zweck der Selbstverherrlichung von Gottes Majestät haben“.26 Ausdruck der Allmächtigkeit und schlechthinnigen Freiheit Gottes ist seine Gnadenwahl, einige Menschen zur Seligkeit berufen, andere zum Tode verdammt zu haben. Von diesem Gott und seinem Weltenplan sind wir „durch eine unüberbrückbare 24 WL, 130. 25 RS I, 87, programmatisch formuliert für den zentralen Teil II seiner Protestantismusstudie. 26 RS I, 92.

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Kluft“, ja: in einem Bild von Rawls gesprochen: gleichsam durch einen unabziehbaren ‚Schleier des Nichtwissens‘ getrennt. Irdische Maßstäbe an die Souveränität Gottes anzulegen, erscheint als sinnlos und vermessen, da es die unbedingte göttliche Freiheit, Allmacht und Allgüte geradezu definiert, von keiner Vorgabe welcher Art auch immer abhängig, mithin bedingt zu sein. Das schließt die Annahme menschenmöglicher Beeinflussung durch Verdienst oder Verschuldung radikal aus, weil ein solcher Gedanke wiederum hybrisartig die Notwendigkeit des Ganzen und damit wieder Gottes Tun in Frage stellte.27 (b) Dieser theoretisch-(wert)rationalen Dogmatik, die alles Geschehen als Willensausdruck Gottes lehrt und es deshalb wiederum – in technizistischer Weise – als Mittel auf den letzten Zweck der Gottesverherrlichung bezieht, entspricht nun die praktisch-(wert)rationale Lebensführung. Weber untersucht die „Praxis der Seelsorge“. Auch sie steht m. E. im Zeichen einer technomorphen Rationalitätsauffassung. Im Lichte der Prädestinationslehre geht es jetzt für die Gläubigen um das transzendente Ziel der Seligkeit im Jenseits und um die Frage der Erkennbarkeit des eigenen Gnadenstandes („certitudo salutis“). Empfohlen werden zwei Typen (explizit) von Mitteln, einmal die „Pflicht …, sich für erwählt zu halten“, – da Zweifel und dergleichen im Grunde schon Indizien mangelnder Reichweite der Gnadenwirkung seien. Zum zweiten „wurde, um jene Selbstgewißheit zu erlangen, als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft“, – da nur sie die Gewissheit des Gnadenstandes indizieren könne.28 Wo beides zusammenkommt – die technomorph-wertrationale Dogmatik wie die entsprechend technomorph-wertrationale Lebensführung – entfalten sie eine geradezu unheimliche Allianz. Die Gemeinschaft Gottes mit seinen Begnadeten konnte … nur so stattfinden und zum Bewusstsein kommen, dass Gott in ihnen wirkte (‚operatur‘) und dass sie sich dessen bewusst wurden, – dass also ihr Handeln aus dem durch Gottes Gnade gewirkten Glauben entsprang und dieser Glaube wiederum sich durch die Qualität jenes Handelns als von Gott gewirkt legitimierte.29

Die Allianz der Wirkung Gottes im Gläubigen und dessen gnadengewirktes Tun zeigt sich im Calvinismus wiederholt im Bilde des Werkzeugs, dass der Mensch sich „als Werkzeug göttlicher Macht fühlt“, er in der Gewissheit wirkt, „Rüstzeug Gottes und Vollstrecker seiner providentiellen Fügungen zu sein“.30 27 Ebd. 28 RS I, 105. – Ich vernachlässige die psychologischen Momente der durch die angeführten Mittel möglichen Angstkompensation, die Weber ebenfalls wiederholt als wichtig herausstreicht, z. B. RS I, 106. Erwähnt sei aber immerhin die technizistische Ausdrucksweise Webers S. 110, wo „gute Werke“ als „absolut ungeeignet […], als Mittel zur Erlangung der Seligkeit zu dienen“, angesprochen werden. Als „Zeichen der Erwählung“ deutet Weber sie als „technische Mittel […]: die Angst um die Seligkeit loszuwerden“. 29 RS I, 108. 30 RS I, 108, 125. Vgl. auch 141, Anm. 2.

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Zusammen zeitigt das von seiner strukturellen Anlage her technomorphe, zunächst noch Mittel-Zweck-wert-rationale Welt- und Selbstverständnis mehrere Konsequenzen, aus der – als unbeabsichtigte Folge – der „Geist des Kapitalismus“ mit-generiert wird. Diese Konsequenzen deute ich nur unter dem Gesichtspunkt der unter der Akkumulation von spezifischen Umständen sich herausbildenden Herrschaft der reinen instrumentellen Rationalität an. 1. Die Notwendigkeit einer permanenten Ausrichtung des Tuns am Zweck der Verherrlichung Gottes verlangte nicht nur sozusagen punktuell rationales Tun, einzelne ‚gute Werke‘, sondern eben eine durchgängig rationale Lebensführung, „eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit“,31 so dass eben das „‚ganze Leben‘ … unter den Imperativ der Rationalisierung gebracht“ wird.32 Die dadurch erforderliche Dauerreflexion und -kontrolle, die ständige Selbstüberprüfung des eigenen Tuns verband sich übrigens für die Puritaner – worauf Weber explizit hinweist – mit Descartes’ Formel des „cogito ergo sum“.33 – Offenkundig sieht Weber also den asketischen Protestantismus in die neuzeitlichen Rationalisierungsprozesse eingebunden. 2. Auch die Nächstenliebe und Sozialität der Calvinisten werden im normativ-religiösen Horizont instrumentell verstanden. „Da sie ja nur Dienst am Ruhme Gottes, nicht: der Kreatur, sein darf“, hat die soziale Arbeit sich als strengste Erfüllung der vorgegebenen Berufsaufgaben zu zeigen, nicht mehr primär als persönliche Nächstenliebe zu bewähren. Diese Art der Sakralisierung und gleichzeitigen Professionalisierung transformiert die Beziehungsqualität ins ‚Sachlich-unpersönliche‘ und wirkt mit an der „rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“.34 Eine solche Nächstenliebe hat nichts mehr mit Barmherzigkeit, nichts mit der gefühlsmäßig getragenen solidarischen Hilfe um des anderen willen zu tun, wie im Katholizismus und dem ursprünglichen Luthertum. Analog zur versachlichten Zwischenmenschlichkeit35 liegt die Sachlage bei „calvinistischen sozialen Organisationen“. „Sie ruhen alle auf innerlich ‚individualistischen‘, ‚zweck-‘ oder ‚wertrationalen‘ Motiven. Nie geht das Individuum gefühlsmäßig in sie ein.“36 3. Mit rationaler Methodik in permanenter Übung, was der griechische Ausdruck ἄσκησις („askesis“) eigentlich bedeutet, also mit methodischer Askese in Distanzierung von der Welt und allem Kreatürlichen Gott näher zu kommen und auf ihn hin vollkommen zu werden, kennzeichnet schon die christliche, sich von der Welt zurückziehende Mönchstradition. So 31 RS I, 114. 32 Vgl. RS I, 114–116 und Peter Gosh (in Müller/Sigmund 2014, 248 b) betont entsprechend zu Recht Webers ‚holistische Wendungen‘ in diesem Kontext. – Vgl. auch die mit der „Systematisierung der ethischen Lebensführung“ einhergehenden Elemente der „Kontrolle“, der ständigen „Kalkulation“ bis hin zur „Heiligung des Lebens“ nahezu nach Art eines „Geschäftsbetriebs“ RS I, 123–124. 33 RS I, 115. 34 RS I, 101 (dort folgt dann ausführlicher die kosmosbezogene Begründung). 35 Sie ist „sozusagen abgestorben“, RS I, 101 (Anm.). 36 RS I, 97, Anm. 2.

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sehr der asketische Protestantismus damit einerseits in „innerlicher Kontinuität“ steht, so bildet er andererseits eine auffällige Diskontinuität insofern aus, als er die umfassende Lebensmethodik der rationalen christlichen Askese aus den Klöstern hinaus in das weltliche Berufsleben hinübertrug. Mehr als irgendwo sonst hatte sich der gnadengewirkte Glauben im innerweltlich-asketischen Wirken des Berufs zu bewähren37, „innerhalb der Welt“ freilich immer „im Hinblick auf das Jenseits“.38 Aus dieser „religiösen Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels“ – wie Weber wiederholt in der Terminologie der instrumentellen Rationalität sagt – „und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit“ ergibt sich nun als „denkbar mächtigster Hebel der Expansion“ der ihr korrespondierenden „Lebensauffassung“ – die Weber mit dem „,Geist‘ des Kapitalismus“ bezeichnet39 – 4. eine Art sich selbst steigernder (formaler) Rationalität. Denn mit der Askese in der rastlosen Berufsarbeit ist zunächst Askese auch beim Erarbeiteten verbunden. Bei der Produktion oder dem „Erwerb zeitlicher Güter“ kommen ein „Ausruhen auf dem Besitz“ oder „der Genuß des Reichtums“ – oder was sonst „persönlichen Zwecken“ dienen könne – nicht in Frage, da sie „Ablenkung“ vom normativen Letztzweck der Gottesverherrlichung und also Zeitverschwendung seien.40 Damit schiebt die innerweltlich protestantische Askese einerseits dem unreflektierten Konsum einen Riegel vor. Andererseits entfesselt sie das Gewinnstreben (das, wenn es um Gottes willen erfolgt, selber gottgewollt ist).41 Beides zusammen, Einschränkung des Konsums und Entschränkung des Erwerbsstrebens, führten – obwohl so gar nicht beabsichtigt – zum Ergebnis: „Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang“. Dabei betont Weber nachdrücklich, dass „nicht die bloße Kapitalakkumulation“, vielmehr die religiös motivierte „asketische Rationalisierung des gesamten Berufslebens das Entscheidende (war)“.42 5. Dieser religiöse Motivationszusammenhang, mittels rationaler innerweltlicher Askese im Beruf der ethischen Pflicht zur Gottesverherrlichung nachkommen und des eigenen See37 S. dazu besonders RS I, 114–120. Prägnant 120: „… und mit der Verankerung seiner Ethik [der des Calvinismus] an der Prädestinationslehre trat so an die Stelle der geistlichen Aristokratie der Mönche außer und über der Welt die geistliche Aristokratie der durch Gott von Ewigkeit her prädestinierten Heiligen in der Welt.“ – Dann folgt der Hinweis auf die im Vergleich zu früheren Klostermauern noch größere, „prinzipiell unüberbrückbarere und in ihrer Unsichtbarkeit unheimlichere Kluft“ zwischen den ‚prädestinierten‘ Heiligen und der übrigen Menschheit. 38 RS I, 163. 39 RS I, 192 (Herv. R. E.); vgl. z. B. 105–106, 137, 169, 200. 40 RS I, 187–189, z. B. 188, Anm. 1: „Das ist das Entscheidende: was man persönlichen Zwecken zuwendet, wird dem Dienst zu Gottes Ruhm entzogen.“ Vgl. S. 187 zur Verwerflichkeit des Theaters für den Puritaner, was beispielsweise zur Schließung des Theaters in Stratford durch die puritanische Stadtbehörde führte, obwohl Shakespeare selbst sich dort in seiner letzten Lebenszeit aufhielt (Anm. 1). 41 RS I, 190. 42 RS I, 192–193 mit Anm. 2.

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lenheils über den beruflichen Erfolg zumindest würdig werden zu können, repräsentiert für Weber die „Fähigkeit und Disposition der Menschen“ zu jener Art „praktisch-rationaler Lebensführung“, von der der „ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung“ neben seiner Angewiesenheit auf rationale Technik und rationales Recht „überhaupt abhängig“ ist. Er ‚bedingt‘ in seiner umfassenden Wirksamkeit im asketischen Protestantismus die „Entstehung einer ‚Wirtschaftsgesinnung‘: des ‚Ethos‘, einer Wirtschaftsform, durch bestimmte religiöse Glaubensinhalte“.43 Er „war es, welcher der Lebensführung des Unternehmers ‚neuen Stils‘ den ethischen Unterbau und Halt gewährte“.44 Er wirkte sich auf spezifische Trägergruppen und Institutionen aus. So erschuf er die „stahlharten puritanischen Kaufleute“ mit, die sich selbst ihrem Besitz als „‚Erwerbsmaschine‘“ unterordneten und denen „an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung standen“.45 Er führte zur „Arbeit als Beruf“ – und nichts als Beruf.46 6. Die einst religiöse Rationalität mit den ihr eigenen Rationalisierungsmöglichkeiten setzte so, je mehr die religiös-wert-rationale Wurzel abstarb, umso stärker den rein säkularzweck-rationalen „Geist des Kapitalismus“ frei.47 Da der religiöse Rationalismus stets aufs Weltganze ging, hat auch die utilitaristische Wendung in bestimmter Weise etwas Umfassendes. Denn war etwa der calvinistischen Dogmatik zufolge der Kosmos der Welt ausschließlich um der Selbstverherrlichung Gottes willen da, der erwählte Mensch ebenfalls ausschließlich um Gottes willen, dann galt dies auch für die um Gottes willen sachlich-unpersönlich gestaltete Berufs- und Sozialordnung in ihrer Gesamtheit. Mit dem Zurücktreten der normativen Verpflichtung Gott gegenüber und dem Hervortreten ausschließlicher Pflicht dem Beruf gegenüber durchdringt der Utilitarismus in Form unpersönlichen Nützlichkeitsdenken die Berufswelt des ökonomischen Kosmos in seiner ganzen Breite.48 Stärker als alle Lebenskunstlehren es je vermocht hätten, ließ der religiöse Rationalismus als „lebensumwälzende Macht“49 Weber zufolge auf ungewollte Weise einen bürgerlichen Betriebskapitalismus mit rationaler Organisation freier Arbeit mit-entstehen. Bürgerliches Berufsethos und Nutzenkultur des rationalen Kapitalismus gehen ab jetzt Hand in Hand.

43 RS I, 12, vgl. 40–41, 82–83, wo Weber dem Selbstverständnis seiner Studie nach auch zeigen will, wie „‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden“. 44 RS I, 60. 45 RS I, 105 (vgl. 183), 189, 198. 46 RS I, 201. 47 RS I, z. B. 197, 199, 202–204. 48 Vgl. RS I, 99–100 und 174 (Anm.): „Der Utilitarismus ist also […] Konsequenz der unpersönlichen Gestaltung der ‚Nächstenliebe‘ und der Ablehnung aller Weltverherrlichung durch die Exklusivität des puritanischen ‚in majorem Dei gloriam.“ – Vgl. auch 203–204. 49 RS I, 40–41 (Anm.).

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IV. Max Webers anthropologisch-instrumentales Rationalitätsverständnis Weber teilt selbst entscheidende Rationalitätsauffassungen der abendländischen Tradition. Basis ist der Mensch als „animal rationale“. Die Rationalität des Menschen wird als Fähigkeit verstanden, sich „hoch hinausgehoben über die Irrationalität des rein ‚Natürlichen‘“ im Menschen als „Persönlichkeit“ verwirklichen zu können. Diese präge sich ihrem Begriff nach „in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘“ aus. Eine solche persönliche Wert- und Lebensorientierung „münzt“ sich in der entschieden konstant orientierten Person „zu Zwecken aus und setzt sich so in teleologisch-rationales Handeln um“. Je freier eine Persönlichkeit erwägt, urteilt und entscheidet, „desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘ ein.“50 Notwendigerweise sieht sich Weber beim Verstehen des menschlichen Handelns auf die Zweck-Mittel-Zusammenhänge verwiesen bzw. auf die übergreifenden kulturellen Sinnzusammenhänge, von denen her die Akteure ihre letzte Orientierung als Ausmünzung entsprechender Zwecke und also dafür erforderlicher Mittel gewinnen.51 Natürlich ist das sich in seinen Sinnbezügen voll bewusste, sinnhafte Handeln realiter nur ein „Grenzfall“.52 Ihm entspricht auf Seiten der Deutung Webers Lehre vom Idealtypus als einem „reinen idealen Grenzbegriff“. Weil menschliche Handlungsorientierung tendenziell rationalitäts- = sinnbezogen ist, die Deutung solchen Handelns diesen Sinn-Bezug rational konsequent zu Ende denkt, ist dem Limes nach optimale „Sinnadäquanz“ v. a. „bei rationalen (wert- oder zweckrationalen) Begriffen und Regeln“ erreichbar.53 Diese Art eines bestimmten Ineinandergreifens ließ, wie gesehen, Weber auch die Religionen eben einerseits durch ihre Theodizee-Antworten einer Rationalisierungstendenz unterliegen (womit die Religionen selbst für Weber eigentlich an einer geschichtlichen Rationalisierung der Wirklichkeit arbeiteten), wie er andererseits deren Tendenzen idealtypisch in ihren „,konsequentesten‘ Formen“ ‚herauszupräparieren‘ versuchte.54 Die besondere Konsequenz des „Rationalismus des Protestantismus“ ergab sich aus der am Prädestinationsglauben verankerten systematischen Vereinheitlichung theoretischer und praktischer Kom50 Hier habe ich unter Absehung des Problems der Willensfreiheit Webers Argumentationsgang in WL, 132–133, vom Ende her rekonstruiert. 51 Vgl. z. B. die programmatischen Einstiegsformulierungen für die jeweiligen Argumentationen in WL 127: „Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte ‚Zwecke‘ bei klarer Erkenntnis der ‚Mittel‘ bedingt ‚verstehen‘, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß an ‚Evidenz‘.“ Und ebd., 149: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘.“ 52 WuG, 10. 53 Ebd. – Vgl. WL, 194: … einem Grenzbegriff, „an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird“. 54 RS I, 537.

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ponenten. Sie ist wirklich „grandios“, macht man sich die Bedeutung der Prädestination nur klar genug, für den Protestantismus – und für Weber selbst. Als unvordenkliche Gnadenwahl ist sie „anerkannte Unmöglichkeit“, göttliche Souveränität in menschliche Rationalität zu übersetzen, also eigentlich das Eingeständnis des Scheiterns der Theodizee. Sie bedeutete, so interpretiert Weber sie wohl im Hinblick auf die Gläubigen: „den Verzicht auf die Zugänglichkeit eines Sinnes der Welt für menschliches Verstehen“ – aber wohl auch für Webers eigene wissenschaftliche Position, denn er fährt fort: – „welcher [sc. Verzicht] damit auch aller Problematik dieser Art ein Ende machte“.55 Das Eingeständnis der Unzugänglichkeit eines normativen Sinnes der Welt – und das meint ja: eine Welt, die entzaubert, sinn-los bzw. sinn-frei geworden ist und deshalb keine Normativität mehr bietet – führt zu einer unerträglichen Situation. Warum? Weil unter den Bedingungen eines Entzugs eines letzten Orientierungshalts, also im Modus des Orientierungsverlustes trotzdem Handlungsorientierung erforderlich ist. Oder mit Blick auf die kulturellen Sinnzusammenhänge, weil bei radikalem Sinnentzug der Sinnbezug für den Menschen als rationalem = sinnbezogenem Wesen unverzichtbar ist. – Sollte diese Situation auch paradigmatisch für Max Webers Wissenschaftsmethodologie sein? Einerseits lässt sich im Hinblick auf die Letztorientierung der Ethik des asketischen Protestantismus – so die gängige Auslegung – sagen, dass ihr Ideal der Pflicht, sich für erwählt zu halten, und die ihr folgende innerweltliche Berufsaskese einer ‚wertrationalen‘ Handlungsorientierung entsprechen. Eine solche Wertrationalität als Eigenwertorientierung würde Zweckrationalität als Erfolgsorientierung umfassen, aber nicht mit ihr identisch sein, mithin würde Wertorientierung in der konstant rational orientierten Person sich „zu Zwecken ausmünzen“ und „in teleologisch-rationales Handeln umsetzen“. Insofern würde jene Ethik den ‚Geist des Kapitalismus‘ zunächst wertrational fundiert haben, der aber nach Verblassen des religiösen Sinnes rein zweckrational weiter funktionierte.56 Andererseits ist die Frage: Was bedeutet jenes mit der Prädestination verbundene Eingeständnis der Unzugänglichkeit eines normativen Sinnes der Welt für menschliches Verstehen? Ließe sich die Pflicht, sich für erwählt zu halten und rational sein Leben zu führen, also die Pflicht zur rationalen Selbstwahl und Lebensführung, auch als eine Art Rationalitätspflicht im Rahmen einer lediglich unterstellten Vernunftordnung deuten, also nach Maßgabe einer Als-ob-Teleologie?57 Dann bekäme die (bislang so angesprochene) religiös-(wert) 55 Vgl. neben unseren oben ausgeführten Punkten RS I, 512–513, dazu 111–112 (Anm. 4) zur Bedeutung des Rationalen und der ‚Grandiosität‘ der gedanklichen Struktur calvinistischer Theologie und Ethik, sowie 537 und 572–573 (mit Herv. R. E.). 56 So Wolfgang Schluchter, Handlung, Ordnung und Kultur. Grundzüge eines weberianischen Forschungsprogramms, in: Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Claus Wendt (Hrsg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2005, 42–74, 63–64. 57 Hier müsste in einer Einzelanalyse einmal der Zusammenhang vom asketischen Protestantismus und Kant untersucht werden. Birgt der asketische Protestantismus ob seiner Prädestinationsauffassung gleichsam in vorkantischer Fassung ein Denken in der Struktur einer Als-Ob-Teleologie, wie sie Kant dann später in seiner

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rationale Handlungsorientierung einen zusätzlichen Akzent: Sie würde – statt Verlängerung von Gnade und paulinischem Festmachen der Berufung zu sein – zur willentlichen Setzung! Aber kann eine willentlich gesetzte, disponierte Wertorientierung wirklich eine solche – eine Wertorientierung um Gottes oder eines anderen willen – überhaupt sein? Um es in religiöser Terminologie paradox zuzuspitzen: Kann eine von Gnaden des Subjekts gesetzte rationale Lebensführung je für eine religiös-wertrationale Orientierung stehen, die gerade nicht von Gnaden des Subjekts fundiert sein soll? Meine bereits angedeutete These ist nun, dass – wenngleich unterschiedlich – sowohl die Ethik des asketischen Protestantismus wie Weber selbst die Handlungsorientierungen und Lebensordnungen technomorph im Lichte von Mittel-Zweck-Bezügen auffassen; mit ihnen rational – als Beherrschung von Welt – umzugehen, heißt aber auch: sie willentlich zu setzen, was sich auch auf Verständnis und Status der sog. Wertrationalität auswirkt. Das sei als Antwort auf die Entzauberung der Welt einmal für den Rationalismus des Protestantismus vom Werkzeugcharakter der Gläubigen und ihrer Herstellung von Gewissheit, anschließend für Webers These der modernen Intellektualisierung und Rationalisierung als Beherrschung aller Dinge durch Berechenbarkeit ausgeführt. Die protestantische Rede und Webers idealtypische Re-Konstruktion vom „Werkzeugcharakter“ des Menschen sind im Zusammenhang des Technomorphismus der abendländischen Überlieferung zu sehen. In bestimmter Weise kennzeichnet er die jüdisch-christliche Tradition beispielsweise mit ihrem überweltlichen Schöpfergott, dem entsprechenden Menschenbild und den asketischen Techniken zur Heilserlangung ebenso wie die griechischphilosophische Tradition mit ihren Lebensformen, menschlichen Vollendungsmöglichkeiten und den schulspezifischen Anwendungen von Lebenstechniken zur Selbstperfektionierung. Aber während die antike Philosophie im Zuge ihrer kritischen Unterscheidung von Poiesis und Praxis immer wieder technizistische Verengungen zu vermeiden suchte, radikalisierte sich die Tendenz in der jüdisch-christlichen Tradition eher. Im Gegensatz allerdings zu den Anfängen bei den jüdischen Propheten, die infolge ihrer Charisma bezogenen „Fähigkeit rationalen Verstehens Jahwes“ dessen „Werkzeug und Knecht“ sein konnten58, war in letzter Konsequenz der „intellektuellen Rationalisierung religiösen Heilsbesitzes“59 durch die Theologie selbst bei der Prädestinationslehre der Rationalitätszusammenhang gerissen – und dennoch wurde die technizistische Selbstauslegung nicht preisgegeben. Im Gegenteil: Weber denkt die Vorgestalt von Autopoiesis an, indem er das protestantische Verstehen der Gläubigen „als Werkzeug göttlicher Macht“60 im Grunde als selbst-legitimatorisches Projekt „Kritik der Urteilskraft“ als systematische Zusammenführung seiner ersten beiden Kritiken bzw. als deren Abschluss denkt? Oder konstruiert Weber in einer nachkantischen Situation, die gleichermaßen durch Nietzsches Moralkritik wie durch den südwestdeutschen Neukantianismus hindurchgegangen ist, im Zuge seiner idealtypischen Deutung des Protestantismus dessen Als-Ob-Teleologie? 58 Vgl. RS III, 309–311, bes. 311–313. 59 WL, 610. 60 RS I, 108, vgl. 141.

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deutet. Gerade mit der innerweltlich rational-asketischen Lebensführung durch „systematische Selbstkontrolle“ würde der Calvinist sich die „Gewißheit“ seiner Seligkeit „selbst ‚schaffen‘“.61 Sie suchen sich durch ihr Tun selbst zu legitimieren, als ob sie zu den Auserwählten gehörten – also im Sinne einer Rationalität einer Selbsterschaffung potentiellen Auserwähltseins. Der Prädestination und sinn-frei werdenden, entzauberten Welt wird mit Selbstbeherrschung, mehr noch mit Selbsterschaffung geantwortet. Schließlich umfasst die Antwort auch den Weltbezug: „Den Calvinisten begeistert der Gedanke: dass Gott in der Weltgestaltung, auch der sozialen Ordnung, das sachlich Zweckvolle als Mittel der Verherrlichung seines Ruhms wollen müsse: […] Der durch die Gnadenwahllehre entbundene Tatendrang der Heiligen strömt daher ganz in das Streben nach Rationalisierung der Welt ein.“62 „Der echte Christ […] ein brauchbares Instrument, die Welt rational umzuwälzen und zu beherrschen“63 – auf der Basis der Berufsidee: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein […]“.64 Überdeutlich wirkt im Protestantismus in der Deutung Webers eine von weither sich durchhaltende technomorphe Grundeinstellung von Vervollkommnung nach, sich selbst bei der in die Schwebe geratenen Gnade des eigenen zumindest noch möglichen Gnadenstandes würdig erweisen zu wollen (um zumindest die Chance auf das Seelenheil zu wahren), ohne je zu wissen, ob es ausreicht, also ohne um Zielerreichung je wissen zu können! – Fast nur ein Zwischenstadium auf dem paradox anmutenden Wege humantechnologischer Perfektionierungsbestrebung. Der Technomorphismus zeigt sich auch in Max Webers eigenem Denken. Jedenfalls ist bei der Lektüre von Webers Protestantismusstudie seine durchgängige Terminologie zweckrationalen Denkens unübersehbar. Die mehr oder weniger unterstellte religiös-(wert) rationale Orientierung wird in ihrer innerweltlichen Berufsaskese gänzlich im Lichte der Zweckrationalität angesprochen und gedeutet! Was aus der Handlungsperspektive der Gläubigen höchste (Wert)Orientierung um Gottes willen sein mag, deutet Weber vornehmlich als Zweck, für den alle Mittel einzusetzen sind, auch die Rationalität selbst in der methodischreflexiven Kontrollfunktion für die innerweltlich asketische Lebensführung.65 Gleichermaßen wird das soziale Handeln im Lichte einer rational erstellbaren Ordnung idealtypisch konstruiert – eindeutig wieder in der Mittel-Zweck-Schematik und im Horizont einer entsprechenden Weltrationalisierung.66

61 RS I, 111, vgl. 143–145. 62 RS I, 99 (Anm.). 63 RS I, 535. 64 RS I, 203. 65 Weber deutet Calvin RS I, 92, dahingehend, dass wirklich „alles Geschehen … seinen Sinn ausschließlich als Mittel zum Zweck der Selbstverherrlichung von Gottes Majestät haben (kann)“. Dieses Instrumentalisierungsdeutungsschema wird auch bei gleicher Terminologie für soziales Handeln und seine Organisationen ebd. 99 angelegt. 66 Ich erinnere noch einmal an: RS I, 99 (Anm.).

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Überdies umreißen für Weber die Konsequenzen von Prädestinationslehre als Abschluss des Entzauberungsprozesses und von der entsprechenden Pastorallehre als Selbsterschaffung zumindest subjektiv möglicher Heilsgewissheit einen Übergangsbereich, der – im weiteren geschichtlichen Kontext gesehen – nicht allein die Transformation von der Erlösungsidee zur Berufsidee umfasst. Es ist für Weber zugleich der Transformationsbereich, in dem nach dem Wegfall einer wie auch immer gearteten normativen Klammer nunmehr auf Basis dieser entzauberten, sinn-freien Welt in der Folge die moderne okzidentale Rationalität sich zur bürokratischen Herrschaft in ihren Organisationen prozedural selbst konstituiert, d. h. permanent rationalisiert, aber damit auch zu einer neuen Form der Weltbeherrschung führt.67 Diese wirkt gerade aufgrund ihres umfassenden Welt-Verständnisses als Berechenbarkeit aller Dinge selbst sich steigernd in Zeit und Raum, in Tempo und Expansion. Ihre Dynamik und Universalisierung durchgreift 1) das moderne Auseinandertreten der Eigengesetzlichkeiten etwa der Sphären von Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, zeigt sich 2) als deren wechselseitige Beeinflussung und ‚zwingt‘ sie 3) alle auch auf der Basis der Berufsidee weiterhin und verstärkt in die Permanenz des modernen Rationalisierungsprozesses.68 Vor diesem Hintergrund führt Webers Deutung der modernen Situation, der wissenschaftlich konsequent in einen „kausalen Mechanismus“ entzauberten Welt keinen normativen Sinn mehr entnehmen zu können,69 und seine gleichzeitige Skepsis gegenüber Normativität beanspruchenden (wert)philosophischen Ansätzen folgerichtig zu seiner eigenen These vom Polytheismus der Werte und der Wertekollision.70 In seiner Situation nach Kant, Hegel, Marx, in Anbetracht von Nietzsches Umwertung der Werte und Rickerts offenem System sieht Weber eigentlich die okzidentale Rationalität in den Selbstrationalisierungsprozess der gegeneinander ausdifferenzierten und gleichwohl voneinander abhängigen Lebensordnungen übergegangen, ohne dass hier eine verbindend-verbindliche Rationalität noch orientieren könnte. Entsprechend seien auch Wertkonflikte durch „keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art“ als Metaregel entscheidbar.71 Von welcher übrig bleibenden Rationalität haben wir dann noch zu sprechen? Weber gibt letztlich zwei Hinweise: a) wissenschaftliche Expertise umfassender Verrechnungskompetenz und b) Selbstwahl in der Konstanz letzter Wertsetzung und Lebensführung.

67 Siehe hierzu v. a. WuG 551–553. 68 Siehe bes. WuG 561–563. 69 Vgl. RS I, z. B. 564, 573. 70 WL bes. 507: Selbst „eine echte Wertphilosophie … würde … nicht verkennen dürfen, daß ein noch so wohlgeordnetes Begriffsschema der ‚Werte‘ gerade dem entscheidendsten Punkt des Tatbestandes nicht gerecht würde. Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ‚Gott‘ und ‚Teufel‘. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht.“ 71 WL, 508.

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a) Bekanntlich vermag nach Weber wissenschaftliche Analyse die Geeignetheit der Mittel (als Ursachen, Wirkungsmechanismen) zu gegebenen Zwecken (als beabsichtigten Wirkungen) zu beurteilen. Sie kann Chancen abwägen, mit bestimmten verfügbaren Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu realisieren, und so indirekt auch unter Berücksichtigung der objektiven Lage der Dinge die Zwecksetzung als „praktisch sinnvoll oder […] sinnlos kritisieren“. Wissenschaft ist ferner bei angenommener Realisierbarkeit des beabsichtigten Zweckes in der Lage, Aussagen über gewollte und ungewollte Folgen zu machen. Damit verbunden kann Wissenschaft für Weber schließlich eine Art Kostenabwägung der ungewollten gegenüber den gewollten Folgen anbieten, nämlich unter der Fragestellung: „Was ‚kostet‘ die Erreichung des gewollten Zwecks in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte?“72 Solche wissenschaftsbasierten (Technik)Folgenabschätzungen sind für Weber immer in den Grenzen des Wissbaren einer historischen Zeit in verantwortliche Entscheidungen einzubeziehen. Die Entscheidung selbst ist allerdings nicht die Sache der Wissenschaft, sondern Aufgabe des jeweiligen Akteurs, der nach seinem „Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten (wählt)“.73 b) Die Wahl zwischen Werten kennt bei Weber Rationalitätsgrade. Je bewusster, klarer, freier, konstanter in der Orientierung an „letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘“ Zwecke gewählt und durch geeignete Mittel realisiert werden, desto rationaler sind für ihn wohl die Abwägungs- und Entscheidungsprozesse, „desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘ ein“. Aber ist damit etwas zur Rationalität der Werte in ihrer normativen Verbindlichkeit selbst gesagt? Auch die weiteren Bestimmungen der Persönlichkeit aufgrund ihrer Selbstbewusstheit, Lebensführungsstabilität, Redlichkeit, Hingabe an Aufgaben und Pflichten lassen die Güte der Werte wie die praktische Vernunft der Lebensführung selbst als ganzer im Dunkeln. Auch Webers eigene Bestimmung von „Wertrationalität“ als lebensordnungsspezifische Eigenwertorientierung befragt ihre Vernünftigkeit nicht weiter.74 Nimmt man beide Punkte zusammen, so bekommen wir ein paradoxes Ergebnis im Hinblick auf die Bestimmung der Rationalität. Die sog. Zweckrationalität bezieht sich auf die Geeignetheit der Mittel zu vorgegebenen Zwecken, ist also eigentlich lediglich eine Mittelrationalität. Niemals zuvor galt jedoch ein Handeln schon dadurch als rational, dass es irgendeinen vorgegebenen Zweck verwirklichte, vielmehr nur dann, wenn der angezielte Zweck wirklich vernünftig war und zwar im Zusammenhang eines ‚guten Lebens‘. Und bei der Wertrationalität, bei der man hofft, etwas über die Vernünftigkeit der gesetzten Zwecke zu erfahren, wird lediglich auf die Bewusstheit, Konsistenz und Konstanz letzter Wertorientierung auf Seiten des Subjekts gesetzt, als sei etwas wiederum schon dadurch vernünftig,

72 WL, 150 (Herv. R. E.). 73 Ebd. 74 Vgl. WuG, 12–13.

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dass man es als solches setzt bzw. für vernünftig hält – und nicht allein dadurch, dass etwas tatsächlich vernünftig ist. Weber hat die Spannungen niemals geleugnet. Er erinnert selbst daran: „Der ‚Rationalismus‘ ist ein historischer Begriff, der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt.“75 Führt man sich die entsprechenden Gegensätze von Zweck- und Wertrationalität, ferner von formaler und materialer Rationalität und schließlich von theoretischem und praktischem Rationalismus im kulturellen Horizont vor Augen, dann kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass durch diese Rationalitätsformen hindurch, damit aber auch quer durch alle Lebensordnungen das Selbstverständnis einer von der Subjektivität des Menschen getragenen instrumentellen Rationalität dominiert. Wir haben dies bei der wissenschaftlichen Expertise umfassender Verrechnungskompetenz gewollter und ungewollter Folgen gesehen; ebenso ist es sogar als Schema der Wertrationalität immanent, sofern konstante Wertorientierung bewusst nach Zwecken umgemünzt und mittelrational verwirklicht werden soll, ja so erst Persönlichkeit sich herausbilde. Gleiches gilt bei den im gesellschaftlichen Rationalisierungsprozess zunehmenden Spannungen zwischen formal-instrumenteller Rationalität und materialer Rationalität. Der formale Imperativ, immer effizienter Zwecke und adäquate Mittel berechnend aufeinander zu beziehen und sachlich Zweckvolles stets effektiver umzusetzen, gerät unabwendbar in Konflikt mit einer material-inhaltlichen Rationalität, die z. B. weiterhin religiöse, ethische, politische oder einfach individuelle Maßstäbe an gesellschaftliche Modernisierungsprozesse anlegt.76 Diese Ambivalenzen hat Weber selbst in seiner Protestantismusstudie nachdrücklich hervorgehoben, da der Rationalisierungsprozess in seiner Mechanik wohl ein die Freiheit gefährdendes ‚stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit‘, „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ mit sich bringe.77 Aber hat Weber bei aller Skepsis diesem Rationalisierungsprozess gegenüber nicht seinerseits schon der Lösungsrichtung vorgedacht? In der oben angeführten Fragestellung: „Was ‚kostet‘ die Erreichung des gewollten Zwecks in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte?“ steckt ein universales Verrechnungsprogramm, sei es monetärer Verrechnung etwa sozialer, klimatischer, politischer Folge-Kosten, sei es rein subjektiver Verrechnung nach dem Motto: „Was ist mir dieses oder jenes an Folgen ‚wert‘?“ Die instrumentelle Rationalität, gesteigert durch die Möglichkeiten eines alle Wertsphären und Lebensordnungen verrechnenden Denkens liegt nun aber ganz in der von Weber selbst herausgestellten Tendenz der „rationalen Beherrschung der Welt“, freilich nicht mehr puritanisch sektenmäßig, sondern in der Professionalität aller rationalen Berufsausübung in weltweiten Rationalisierungsprozessen. Es ist die 75 RS I, 62. 76 „Denn – um nur eins zu erwähnen – hinter der ‚Handlung‘ steht: der Mensch. Für ihn kann die Steigerung der subjektiven Rationalität und objektiv-technischen ‚Richtigkeit‘ des Handelns als solche über eine gewisse Schwelle hinaus – ja, von gewissen Anschauungen aus: ganz generell – als eine Gefährdung wichtiger (z. B. ethisch oder religiös wichtiger) Güter gelten.“ Entsprechend sieht er: „Diejenigen, welche solchen Rationalisierungen opponieren, sind durchaus nicht notwendig Narren.“ (WL, 530). 77 RS I, 203–204, vgl. 3, 37.

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fortwährend nicht nur sich selbst überbietende, sondern stets zugleich die in immer weiter ausgreifende Projekte sich umsetzende Einstellung, dass man „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“78 Damit klingt in Weber nicht nur ein bestimmtes, von weither kommendes anthropologisch-instrumentelles Rationalitätsverständnis nach, sondern er hat es selbst geteilt. Was das bedeutet, lässt sich vielleicht von Heidegger her einschätzen.

V. Heidegger und der technomorphe „Seinssinn“ der antiken Metaphysik Heideggers Überlegungen zur okzidentalen Rationalität nachzugehen, ist gegenwärtig in Deutschland kein leichtes Unterfangen. Die wiederkehrenden Vorwürfe des Antisemitismus, des Rückgangs hinter die Aufklärung, der Preisgabe jeglicher Ethik, fehlender Einbeziehung der Einzelwissenschaften, gekünstelter Mythologie, überhaupt der Unzugänglichkeit seiner Sprache verhindern gegenwärtig mehr denn je eine sachlich-produktive Auseinandersetzung mit ihm. Vielleicht haben solche Kritiken bislang immer schon teils zur nur partiellen Berücksichtigung des Werkes von Heidegger, teils zur Vernachlässigung der interdisziplinären Einbeziehung Heideggers auf breiter Front geführt. Expliziten Inbeziehungsetzungen von Max Weber und Martin Heidegger kommt jedenfalls Seltenheitswert zu. Dabei gibt es bei diesen beiden Geistesgrößen bei näherem Hinsehen Einsichten, die im Hinblick auf die Rationalitätsthematik äußerst aufschlussreich sind, freilich auch bleibende Differenzen erkennen lassen. Ähnlich wie Max Weber die ‚universalgeschichtlichen Probleme‘ sieht auch Martin Heidegger die weltgeschichtlichen Konstellationen zutiefst aus einer Kontinuität abendländischer Geschichte hervorgehen. Ebenfalls zeigt sich eine gewisse Parallele im Ansatz, moderne Dispositionen des Menschen von ihren letztlich das Weltverhältnis betreffenden Verständnis- und Auslegungsweisen her zu verstehen. In diesem Sinn rekonstruiert Weber, wie gesehen, die Entstehung der für den modernen okzidentalen Rationalismus paradigmatischen Wirtschaftsgesinnung auch von der jüdisch-christlichen Weltreligion mit Zuspitzung im Calvinismus, von ihren religiösen Ideen und Glaubensinhalten her. Und Heidegger deutet nicht nur das ökonomische Denken, sondern überhaupt das neuzeitlich-moderne, technischfunktionale Weltverhältnis von bestimmten Seinsverständnissen her. Während Weber jedoch den wechselseitigen Kausalbeziehungen zwischen den Lebensordnungen der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft soziologisch nachgeht und dabei das überkommene Wissenschaftsverständnis über seine idealtypische Methodik radikalisiert, fragt Heidegger, ob 78 WL, 594.

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nicht überhaupt aufgrund abendländischer Prägung quer durch alle Lebensordnungen hindurch jeweils epochal ein bestimmtes Seinsverständnis tragend, führend, bedingt-bedingend ist. Ein Schlüsselbegriff, der beide Ansätze miteinander verbindet, ist im „Sinn“-­Begriff zu sehen. Da Akteure Weber zufolge 1. mit ihrem Handeln einen „subjektiven Sinn verbin­ den“,79 es 2. als soziales auf Andere bezogen ist und beides, Handlungsorientierungen wie Handlungskoordination, 3. gleichermaßen von übergreifenden Sinnzusammenhängen her erklärend gedeutet werden sollen, haben Soziologen von einer „Mehrebenenanalyse“,80 von einem „dreipoligen Raum von Handlungsabläufen, Strukturbildungen und Sinn­pro­ jektionen“81 oder von „Handlung, Ordnung und Kultur“82 gesprochen, die in Webers Forschungsprogramm integral behandelt werden. Bei Heidegger werden diese Dimensionen über seine Rede vom „Sinn des Seins des Seienden im Ganzen“ angedacht. Im Ausgang von einer kurzen Auslegung dieser sprachlichen Wendung lässt sich, so meine These, Heideggers Kritik an dem technomorphen – zunächst substanzontologischen, später subjekt- und werttheoretischen – Rationalitätsverständnis des Abendlandes und der Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum „Gestell“ rekonstruieren. „Sinn“ ist Heideggers „Sein und Zeit“ zufolge „das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält“,83 vereinfacht gesagt, wovon her wir etwas im Letzten verstehen. Von der griechischen Antike her, so Heidegger, habe sich zunächst ein leitend-dominanter (Seins-)Sinn ausgebildet, der das Seiende wesentlich teleologisch – in Analogie zu Herstellungsprozessen – auf sein spezifisches „Fertigsein“ hin versteht.84 Heidegger hat in der Auslegung paradigmatischer Texte insbesondere von Aristoteles zeigen können, dass dies im Horizont der technisch angeleiteten Poiesis natürlich für die handwerklich-poietischen Herstellungsvorgänge unserer alltäglichen Gebrauchsgegenstände zutrifft, aber nicht darauf beschränkt ist. Selbst dort, wo Platon wie Aristoteles gleichermaßen meinten, Praxis, ja die Lebenspraxis als Ganze klar von poietischen Herstellungsvorgängen unterscheiden zu können, vermag Heidegger mögliche technizistische Verkürzungen herauszuarbeiten, insofern auch hierbei beispielsweise das individuelle „Leben“ im Hinblick auf seine sittliche Exzellenz und Bestheit (ἀρετή) jeweils „als ein zu idealer Gestalt herstellbarer Umgangsgegenstand“ vorausgesetzt, also wiederum tendenziell technomorph verstanden wird. Das gilt sogar für das Verständnis von Philosophie und Wissenschaft als Theoria, die die Griechen und später die Christen in 79 WuG, § 1, 1. 80 Mit Blick auf Webers Protestantismusstudie vgl. Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/Main – New York 1993, 98–100. 81 Mario Rainer Lepsius, Eigenart und Potenzial des Weber-Paradigmas, in: Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund/Claus Wendt (Hrsg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2005, 32–41, 33. 82 So der Titel des oben angeführten Aufsatzes von Wolfgang Schluchter. 83 GA 2, 428 (Einzelausgabe S. 324). 84 GA 62, 250–252, 385.

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der mönchischen Tradition der Kontemplation zwar als unüberbietbar höchste Lebensform angesetzt haben. Jedoch sind für Heidegger „solche Ansetzungen des menschlichen Daseins in einer zu erreichenden Vollkommenheit und himmlischen Natürlichkeit selbst“85 wiederum Ausdruck für das leitende Verständnis von „Sein als Hergestelltsein“ und „Fertigsein“. Wenn dann schließlich die Griechen bzw. die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie die Welt selbst als „οὐρανός“ auffassten, „der in sich geschlossen und in sich fertig ist“86, also ‚vollkommen gut‘, dann sagt Heideggers Formel nichts anderes, als dass der einst teleologisch verstandene „Sinn“ des Seins „als Hergestelltsein“ und „Fertigsein“ wirklich alles Seiende umfasste bzw. das Seiende im Ganzen meinte. Kurz: Der Sinn des Seins des Seienden im Ganzen wird teleologisch im Lichte von Perfektion verstanden. Dieser Lesart kommt eine große Plausibilität zu. Sie kann in Entsprechung zu den Tätigkeitsvollzügen in ihren typischen Formen die unterschiedlichen Grade von (jeweils als herstellbar unterstellter) Vollendetheit und nach griechischem Selbstverständnis überhaupt das teleologische Denken einsichtig machen, das die Verbundenheit von Poiesis, Praxis und Theoria im menschlichen Lebenszusammenhang als Ganzem mit trägt. Natürlich wird diese Verbundenheit auch inhaltlich getragen. Denn für Heidegger bleibt die Ausrichtung auf das Fertige als das technisch-poietisch Verfertigte und entsprechend für die (Gebrauchs-)Praxis verfügbar Zuhandene („Τὰ ὄντα – οὐσία – ὄν; Hausstand, verfügbare Welt des Besorgens“87) auch über das unmittelbare Besorgen hinaus maßgeblich. Sie hält sich nämlich auch dort durch, wo man zunächst um des besseren umgänglichen Besorgens willen den Dingen in ihrem Werden wie den alltäglichen Erfahrungen – wissenschaftlich – auf den Grund geht.88 Selbst wenn dies mit einer Distanzierung von der Umgangspraxis einhergeht, wird die Orientierung am Fertigen und zur Verfügung Stehenden, am Sein als Präsentem (οὐσία als Anwesenheit) nicht aufgegeben. Die Tendenz wird über die weitergehende Einbeziehung von Hinsichten bis zu „letzten Hinsichten“, warum etwas ursächlich so ist, wie es ist, geradezu über die ‚Professionalisierung‘ alltäglichen Erfahrungswissens hin zu Technik und Wissenschaft bis hin zur Ausbildung ihrer Höchstform von philosophischer Theoria immer reiner ausgeprägt.89 Damit gehört Aristoteles’ Genesis der Wissenschaft nicht nur integral zum und in den Zusammenhang von Poiesis, Praxis und Theoria. Mehr noch zieht sich der maßgebliche Seinssinn des Seienden als Hergestelltsein, Fertigsein, als Verfügbar- und Gegenwärtigsein durch alle Formen des Herstellens, Umgehens wie Wissens durch, ohne dass die Griechen oder Aristoteles es vermocht hätten, ‚ihr‘ Seinsverständnis des ‚Immergleichen‘, des substantiell bleibenden und mit sich identischen Seins des Seienden letztlich aus dem Horizont der Zeit zu verstehen. 85 GA 62, 356. 86 GA 18, 39. 87 GA 62, 96. 88 Das ist Heideggers Ansatz der Auslegung der aristotelischen „Metaphysik“. 89 Ebd. GA 62, 96–98 mit Blick auf Met. I 1–2.

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Genau diese Einheit einer quasi technomorph gedachten, an und für sich vollkommenen, urbildlich geordneten bzw. durch Artkonstanz und essentielle Vollständigkeit ausgezeichneten Ewigkeit der Welt und ihrer Entsprechung auf Seiten des Menschen, der als ζῶον λόγον ἔχον (animal rationale) im Zuge seiner Wissenschaft die ‚objektiv‘ seiende Vernunft des Weltganzen zu erkennen und nach Maßgabe dieser Vollkommenheit zu leben und politisch zu organisieren versucht, also die Einheit von Substanzontologie und der ihr entsprechenden menschlichen Logizität (Rationalität) gilt Heidegger ab Beginn der 1920er Jahre als Metaphysik. Entscheidend ist: Im Zuge der Genesis der griechischen Metaphysik ändert sich Heidegger zufolge das Verhältnis des Menschen zu dem Seinszusammenhang des Seienden im Ganzen. Nicht allein, dass die Faktizität, der „‚Daß‘-Seinssinn“90, mit der Fixierung auf das substantielle Was-Sein des Seienden aus dem Blick gerät. In eins damit bleibt das Sein(sgeschehen) in seinem prozessualen, physishaften Moment des Aufgehens, Anwesens, Entbergens, des Sich-zeigens des Seins des Seienden – für Heidegger ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen – verborgen und also ungedacht, gerade wegen der im Ansatz vergegenständlichenden, dominanten Konzentration auf das essentialistische Was-Sein. Das heißt auch, die Zusammengehörigkeit von Sein und Mensch als geschichtlichem In-der-Welt-sein, von Seinszusammenhang und Seinsverstehen wird nicht eigens beachtet und tritt vergessenerweise umso mehr in den Hintergrund, je mehr der Mensch mit der Ausbildung der abendländischen Logik und der aussagenlogischen Fassung von Wahrheit in den Vordergrund tritt. Zugespitzt: „Der Beginn der Metaphysik im Denken Platons ist zugleich der Beginn des ‚Humanismus‘“,91 mithin handelt es sich um eine Transformation im Wahrheitsverständnis (‚Beginn der Metaphysik‘) hin zur Richtigkeit eines Blickens und entsprechenden Aussagens, das den Menschen zunehmend über die Wahrheit und die darin gründende Formung seiner selbst verfügen lässt (‚Beginn des Humanismus‘). Damit ist die Bahn für die Geschichte der Metaphysik bereitet, an deren ‚Ende‘ über neuzeitliche Transformationsprozesse „das technisch-wissenschaftlich-industrielle Gepräge als die einzige Maßgabe für den Weltaufenthalt des Menschen“ steht.92 Max Weber sprach von „Ideen“, die „Weltbilder“ von dem Format schaffen können, dass diese ihrerseits als „Weichensteller“ für die weitere Ausrichtung kollektiver Lebensführung fungieren konnten.93 Für Heidegger ereignet sich eine solche Weichenstellung durch das Seinsverständnis der griechischen Metaphysik. Weber analysiert die Religionen komparativ typologisch unter dem Gesichtspunkt ihrer sukzessiven Rationalisierung. Die zwei zentralen Maßstäbe zur Bestimmung ihrer Rationalisierungsstufe sind der Grad der Abstreifung aller Magie sowie „der Grad systematischer Einheitlichkeit, in welche das Verhältnis von Gott 90 GA 62, 113; vgl. 180. 91 GA 9, 236. 92 GA 14, 75 (Herv. R. E.). 93 RS I, 252.

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und Welt und demgemäß die eigene ethische Beziehung zur Welt von ihr (einer jeweiligen Religion) gebracht worden ist“94. Heidegger wiederum sieht dieses Verhältnis von Gott und Welt in der Metaphysik mitgedacht, da sie seit ihren Anfängen bei Platon und Aristoteles Ontologie und Theologie als Onto-theo-logie zusammendenkt. Deshalb müsste eine weitergehende Inbeziehungsetzung von Weber und Heidegger, von der Geschichte der okzidentalen Rationalität und Metaphysik den einzelnen Verflechtungen von Theologie und Philosophie (auch im Verhältnis zu Wissenschaft und Technik) nachgehen. Diese Aufgabe ergibt sich aber nicht nur im Hinblick auf den Beginn der griechischen Metaphysik, weil ihr Fragen nach dem höchsten Seienden, dem Göttlichen, und der in ihm als dem Guten schlechthin gegründeten Normativität immer auch Theologie ist, sondern ebenso umgekehrt, weil seit dem Hellenismus und der Patristik die abendländische Theologie in ihrer Dogmatik zutiefst von der Metaphysik und ihrer ontologischen Begrifflichkeit geprägt ist. Auch im Hinblick auf den Abschluss des Entzauberungsprozesses (nach Weber) bzw. auf die Vollendung der Metaphysik (nach Heidegger) ließen sich Entsprechungen herausarbeiten, die die technomorphe Erlösungsrationalität ebenso transformieren wie die metaphysische Perfektionsrationalität – und zwar in Richtung auf eine sich weiter transformierende umfassende Rationalität, die sich die Bedingungen ihrer Realisierung selbst schafft. Voraussetzung dafür ist allerdings – und hier könnten sich die Überlegungen Webers und Heideggers selbst in ihrer Gegenläufigkeit wechselseitig ergänzen –, dass auf der Linie Webers die Sinnzugänglichkeit der Wirklichkeit über die augustinisch-franziskanisch-lutherische Radikalisierung der Omnipotenz Gottes sich am Ende aufhebt und wirklich eine entzauberte, sinnfrei gewordene Weltverfasstheit im Ganzen übrig lässt, der wiederum auf der Linie Heideggers die Transformation des Menschen zum Maß aller Dinge, zum Subjekt und „zur Bezugsmitte des Seienden als solchen“ entspricht.95 Diese Transformation sei im Folgenden als Hintergrund für Heideggers Überlegungen zum „Gestell“ kurz skizziert.

VI. Zum Wandel des Seinssinns in der neuzeitlichen Metaphysik Es war Descartes, in dessen Modell der Reflexivität Weber eine Parallele zur systematischen Kontrolle der asketischen Lebensführung der Calvinisten sah. Und es ist Descartes, über den sich für Heidegger die „Zeit des Weltbildes“ metaphysisch profiliert. Mit ihm nimmt das Verhältnis, wie der Mensch vom Sein angegangen wird und entsprechend alles Seiende wiederum im Lichte eines Seinssinnes verstanden wird, eine neue Gestalt an. Für Heidegger liegt darin keineswegs eine schlichte Abfolge von Zeitaltern, sondern Sein (als der keinem Algorithmus unterliegende Seinszusammenhang eines ebenso welthaft wie geschichtlich offenen Ganzen) „gibt“, „schickt“, „enthüllt“ sich just in den Weisen, in denen die (metaphy94 RS I, 512. 95 GA 5, 88.

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sischen) Denker das Seiende hinsichtlich seines Seins verstehen: etwa als bleibende Anwesenheit von Idee bzw. Substanz bei Platon und Aristoteles, als Geschaffensein von Gott im christlichen Mittelalter, als Gegenständigkeit und Objektivität für eine vorstellend-berechnende Subjektivität bei Descartes zu Beginn der Neuzeit, als Wille und Wille zur Macht von Leibniz bis Nietzsche, als disponibler Bestand für die jederzeitige von überallher mögliche Bestellbarkeit in der Technik.96 Bei Descartes erweist sich der Sinn des Seins – worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält – zunächst als Gegenwärtigsein- und Gegenständigsein-für-ein-Subjekt. Nur was für es vorstellbar, damit gegenständlich und verfügbar wird bei gleichzeitiger Gewissheit der Wahrheit dieses Vorstellens, darf als wahr und seiend gelten.97 (Schon hier kann man eine gewisse Nähe zu Webers Interpretation des methodischen Selbstschaffens von Gewissheit der Calvinisten mit Descartes konstatieren.) Das Seiende „in einem Vor-stellen“ zum verfügbaren Gegenstand zu machen, heißt indessen, sich vom Seienden der Welt nicht nur ein Bild zu machen, sondern „Welt als Bild“ zu begreifen, so zwar, „daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht“. Deshalb vollzieht sich mit der Konstitution eines solchen „Weltbildes“ eine „Entscheidung über das Seiende im Ganzen“.98 Im selben Zuge jedoch, wie die „Welt als Bild“, das Sein zum Objekt-Sein (konstituiert) wird, erweist sich der Mensch als Bild produzierendes „Subjectum“. „Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen“99, was Descartes auch mit seinem Programmwort des Menschen als „Herren und Eigentümer der Natur“ aus dem sechsten Teil des „Discours de la méthode“ nachdrücklich zum Ausdruck bringt.100 Was mit Descartes hier metaphysisch gefasst wird, ist auf die neuzeitlichen Wissenschaften zu beziehen, die durch die spezifische Art, wie sie sich als Forschung im Zusammenhang mit ihrem Gegenstand konstituieren, zugleich technisch sind. Paradigmatisch ist für Heidegger die neuzeitliche Wissenschaft in Gestalt der mathematischen Physik. Ihr Entwurf hat vorgezeichnet, was Natur sein soll (nämlich der Zusammenhang aller Vorgänge „raumzeitlicher Bewegungsgrößen“), damit Naturerkenntnis methodisch möglich ist (in Form von   96 Vgl. GA 11, 72–73: „Es gibt Sein nur je und je in dieser und jener geschicklichen Prägung: Physis, Logos, Hen, Idea, Energeia, Substanzialität, Objektivität, Subjektivität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen.“ – Auf dem Hintergrund dieser ontologischen Leitkodierung in ihren epochalen Gestalten vgl. zu Gemeinsamkeit und Unterschied von Seinsverständnis und Thomas S. Kuhns Begriff des Paradigmas auch R. Elm: Philosophie und Europa-Wissenschaft. Martin Heideggers Analysen zur Metaphysik und neuzeitlichen Rationalität als Beitrag zur Europäistik, in: Michael Gehler/Silvio Vietta (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Projekte, Methoden, Inhalte, Wien – Köln – Weimar 2009, 287–318, hier 289.  97 Vgl. GA 5, 110: „Der Mensch begründet sich selbst als die Maßgabe für alle Maßstäbe, mit denen ab- und ausgemessen (verrechnet) wird, was als gewiß, d. h. als wahr und d. h. als seiend gelten kann.“  98 GA 5, 89–90; vgl. 94: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens.“  99 GA 5, 88; vgl. 92. 100 René Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Stuttgart 1984, 58.

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„Messung mit Hilfe der Zahl und der Rechnung“).101 Auf diese Weise ist längst vor aller (vermeintlichen) „Neutralität“ der Technik und wissenschaftlicher Beobachtung je schon durch die wissenschaftsimmanente Form technologischen Denkens in der Einheit von „Vorgriff“ und „Eingriff“,102 über Entwurf und Verfahren eine Entscheidung über die Einrichtung der Bedingungen gefallen, unter denen sich das Seiende allein zu zeigen hat.103 Das wissenschaftlich-technische Vorstellen entwirft und fixiert Natur daraufhin, „sich in einer berechenbaren Gegenständlichkeit zu zeigen“, stellt und zwingt sie durch ihre Berechnung in eine Form des Gegenwärtig- und Gegenständigseins. Denn „nur die Berechenbarkeit gewährleistet, im voraus und ständig des Vorzustellenden gewiß zu sein“. „Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend“.104 Dieses Seinsverständnis kann sich (welt-)geschichtlich auswirken, ‚ausbreiten und verfestigen‘, weil die neuzeitliche Wissenschaft – für Weber wie Heidegger ‚Erscheinung der modernen europäischen Kulturwelt‘ – als Forschung Betriebscharakter annimmt.105 Auf der Basis von Entwurf und Verfahren, von Etablierung der Einzelwissenschaften und weitergehender Spezialisierung, institutionalisiert sich Wissenschaft und ‚vernetzt sich‘ in Wissenschaftsorganisation, -kommunikation, -evaluation, im Austausch – Mobilität (!) – der Arbeitskräfte, in der Prägung eines neuen Menschenschlages, in dem immer weiteren Zusammengehen von Wissenschaft und Technik. Mühelos ließen sich Heideggers Analysen bis in unsere Tage ausdifferenzieren, auch unter dem Gesichtspunkt der Erfordernisse immer weiter reichender Planungen im Lichte der methodisch auf den Weg gebrachten Berechenbarkeit – Messbarkeit (!) – aller Dinge. Geschichtlich setzt sich damit „die Sicherstellung des Vorrangs des Verfahrens vor dem Seienden (Natur und Geschichte), das jeweils in der Forschung gegenständlich wird“, durch.106 Im Grunde nimmt Heidegger hier Weber durchaus vergleichbar eine Mehrebenenanalyse vor, wenn er die institutionelle Wissenschaftsorganisation und die vom leitenden Seinsverständnis getragene Disposition wechselseitig miteinander verschränkt zu denken versucht.107 101 GA 5, 83–85. 102 GA 16, 747. 103 Vgl. auch den Brief an Takehiko Kojima: „Der in der theoretischen Physik sich vollziehende mathematische Entwurf der Natur und das ihm gemäße experimentelle Befragen der Natur stellen sie nach bestimmten Hinsichten zur Rede. Die Natur wird daraufhin herausgefordert, d. h. gestellt, sich in einer berechenbaren Gegenständlichkeit zu zeigen“ (GA 11, 155–156; vgl. zum wichtigen Zusammenhang von Experiment und Bedingungen, durch welche Bewegungszusammenhänge in ihrer Notwendigkeit als „verfolgbar und d. h. für die Berechnung im voraus beherrschbar“ vorstellig werden. GA 5, 81). 104 GA 5, 108, 87. Heidegger zeigt übrigens auch die Entsprechungen bei den historischen Geisteswissenschaften in ihrer Art der Vergegenständlichung von Geschichte auf: ebd. 82–83. 105 Vgl. GA 5, 83–85. 106 GA 5, 84 (Herv. R. E. – Auf den hervorgehobenen Aspekt wird zurückzukommen sein). 107 Vgl. GA 5, 86: „Das wirkliche System der Wissenschaft besteht in dem jeweils aus den Planungen sich fügenden Zusammenstehen des Vorgehens und der Haltung hinsichtlich der Vergegenständlichung des Seienden.“ Heidegger weist ebd. weiter auf die immanenten Erfordernisse der potentiell möglichen Produktivi-

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Und ähnlich wie Max Weber „Rationalität“ in einem weiten Sinne der „Rechenhaftigkeit […] als ein Prinzip der ganzen Lebensführung“ fasst,108 sieht Heidegger das metaphysische Seinsverständnis tiefengeschichtlich von der „ratio“ als „Rechnung“ getragen.109 Ihre Möglichkeiten bis hin zur „totalen ‚Rationalisierung‘“110 habe v. a. Leibniz auf den Begriff gebracht. Seine Herausstellung des „Satzes vom Grunde“ zeige gleichermaßen die rationale Verfahrensweise der Subjektivität als auch den dieser Subjektivität latent zu Grunde liegenden Willenscharakter. Der Grundsatz „nihil est sine ratione“ ist streng genommen der „Grundsatz vom zuzustellenden zureichenden Grund“.111 Als zureichend gelten Gründe, die die Vollständigkeit (perfectio) der Bestimmungen für das Gegebensein eines Gegenstandes ausmachen.112 Dem Satz des zureichenden Grundes gemäß kann dann als seiend nur das auf seine ratio als zureichenden Grund Zurückgeführte gelten. Er impliziert allerdings in eins, dass die so erneut in der Subjektivität gründende ratio als die Zustellung dieses Grundes, als Rechenschaft, als das Verfahren der Vernunft bestimmend wird. Mit Blick auf Kant heißt dies dann: „Vernunft (ratio) und Sein gehören zusammen, und zwar so, daß die reine Vernunft, die ratio, jetzt nichts anderes ist als das Setzen, d. h. Zustellen des zureichenden Grundes für jegliches im Hinblick darauf, wie es als Seiende erscheinen, d. h. vorgestellt und bestellt, behandelt und gehandelt werden kann.“113 Zu Grunde liegt diesem Prozess in gewisser Weise auch der mit Leibniz’ Satz vom zureichenden Grunde verbundene Anspruch, für alles Seiende die zureichenden Gründe vermittels eines universalen Kalküls errechnen zu können. In Leibniz’ Dialog über die „Lingua rationalis“ im Jahre 1677, in dem es um das Kalkül der Durchrechnung der Beziehungen von Wort, Zeichen und Sache für alles Seiende geht, sind dementsprechend die moderne technische Denkweise und moderne Denkmaschine vorweg genommen. Heidegger sieht deshalb in der „Perfektion der Technik nur das Echo des Anspruches auf die perfectio, d. h. die Vollständigkeit der Begründung“.114 Freilich hatte Leibniz die Möglichkeit der durchgängigen Berechenbarkeit auf Gott als die summa und ultima ratio hin bezogen (also aus der Sicht Webers erneut im Horizont einer das Gott-Welt-Verhältnis systematisierenden Einheitstheo-

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tätssteigerungen etwa durch Flexibilität, restlose Ausdifferenzierung, Professionalisierung und Utilitarisierung hin – Momente, die alle Eingang in das finden, was er dann später „Gestell“ nennen wird (s. u.). RS I, 167 (mit Sombart in Anm. 2). GA 10, 149–151. GA 10, 155. Principium reddendae rationis sufficientis, vgl. Monadologie § 32. GA 10, 175: „Erst die Vollständigkeit der zu-zustellenden Gründe, die perfectio, gewährleistet, daß etwas für das menschliche Vorstellen als Gegenstand im wörtlichen Sinne ‚fest‘-gestellt, in seinem Stand gesichert ist. Die Vollständigkeit der Rechenschaft, die Perfektion verbürgt erst, daß jedes Vorstellen jederzeit und überall auf den Gegenstand und mit ihm rechnen kann.“ Vgl. auch ebd. 50, 105, 177 (wonach zur Perfektion der modernen Technik auch die „Sicherung der Berechenbarkeit der Rechnungsmöglichkeiten“ gehört). GA 10, 108. GA 10, 177, vgl. 150–151.

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rie). Gott als die letztliche ratio sufficiens hat das endliche Seiende, die vorstellend-strebenden Monaden, in einer prästabilierten Harmonie aufeinander abgestimmt. Vor dem Hintergrund des perfectio-Anspruches und seinem Echo in der Technik zitiert Heidegger Leibniz’ These „Cum Deus calculat fit mundus. Wenn Gott rechnet, wird Welt“ und fährt dann fort: „Es bedarf nur eines bereitwilligen Blickes in unser Atomzeitalter, um zu sehen, daß, wenn nach Nietzsches Wort Gott tot ist, die gerechnete Welt noch bleibt und den Menschen überall in ihre Rechnung stellt, indem sie alles auf das principium rationis verrechnet“.115 Was das bedeutet, erhellt aus Heideggers Interpretation von „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“. Deutete Nietzsche selbst den Nihilismus seiner Zeit aus der Erfahrung der Entwertung der bisherigen Werte, die für die überkommene Metaphysik und Religion als oberste Ziel- und Maßinstanz gegolten haben, ohne dass sich diese Tradition der Bedeutung der Wertsetzung und damit ihrer Macht und Freiheit bewusst war, so ergab sich daraus für ihn ein Grunderfordernis. Im Gegenzuge gegen Platons Metaphysik und das sie popularisierende Christentum sei auf das (früher sich selbst verborgene) wertsetzende Leben und seinen Willen zur Macht zurückzugehen, um mittels einer Umwertung der Werte den Nihilismus zu überwinden. Doch Nietzsches Rekurs auf einen – sei es plural, sei es singulär gedachten – Willen zur Macht und auf ein Denken in Werten stellt für Heidegger keine Überwindung, sondern letzte Zuspitzung des Nihilismus dar. Seiner Deutung nach liegt im Willen zur Macht die Tendenz, stets mehr zu wollen und in eins damit die es ermöglichenden Mittel zu wollen. Die Mittel sind indessen die aus dem jeweiligen Machtwillen von Einzelnen oder Kollektiven gesetzten Werte, nach denen alles andere abgeschätzt und über anderes herrschaftlich verfügt wird, durch die er sich aber zugleich erhält und in der Selbstgewissheit der eigenen Freiheit und Macht fortwährend steigert. Eine permanente Selbstermächtigung im ‚Verfügenwollen-über‘ überwindet Metaphysik gerade nicht, ist vielmehr „die in sich erblindete äußerste Inanspruchnahme ihres Leitentwurfes“.116 Vor allem auf der Linie der neuzeitlichen Subjektivität rückt Nietzsches Lehre „den Menschen, wie keine Metaphysik zuvor, in die Rolle des unbedingten und einzigen Maßes für alle Dinge“.117 Ließ Nietzsche den „tollen Menschen“ nicht nur verkünden „Gott ist tot“, sondern ergänzte noch: „Wir haben ihn getötet – ihr und ich!“, so ist Heidegger zufolge just „das Denken in Werten das radikale Töten“.118 Alles kann sich nur noch im Horizont der Wertsetzung des neuzeitlichen Subjekts in je reduzierter Gegenständlichkeit zeigen. Übrig bleibt allein der den Wertsetzungen untergeordnete, berechenbare, bestellbare, technisch disponible Bestand des Seienden. Seine Disponibilität haben bereits Nietzsche wie Heidegger – wenngleich in unterschiedlicher Weise – als „Kampf um die unbeschränkte Ausnützung der Erde als Rohstoffgebiet und um die illusionslose Verwendung des ‚Menschenmaterials‘ im Dienste der unbedingten 115 116 117 118

GA 10, 151. GA 6.2, 6. Ebd. 127. GA 5, 263.

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Ermächtigung des Willens zur Macht“ von der überkommenen Metaphysik her heraufkommen sehen.119 In Heideggers Versuch, Metaphysikgeschichte als Rationalitätsgeschichte der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik v. a. von der Tiefenstruktur des je epochalen Seinsverständnisses auszulegen, lässt sich also tatsächlich zumindest partiell eine Parallele zu Webers Überlegungen zum religionsgeschichtlichen Entzauberungsprozess erkennen. Gemeinsam erscheint ihnen auch bis zu einem gewissen Grad die historische Situation – und unsere Gegenwart weltgesellschaftlichen Zusammenhangs würde für beide strukturell noch dazugehören – als die eines Kampfes, in dem wiederum „das Schicksal walte“, wie Weber formuliert,120 bzw. der Ausdruck eines „Seinsgeschicks“ sei, wie Heidegger sagt (siehe unten). Hatte der „großartige Rationalismus“ methodischer Lebensführung, so Weber, über die Entthronung zunächst des Polytheismus, dann der weitergehenden Entzauberung des Monotheismus zuletzt wieder zum Polytheismus und „Kampf der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte“ geführt, so habe man sich diesem „Schicksal der Zeit“ zu stellen.121 Ähnlich führt nach Heidegger die von ihm reflexiv umfasste Metaphysikgeschichte als „jener geschichtliche Vorgang, durch den das ‚Übersinnliche‘ in seiner Herrschaft hinfällig und nichtig wird, so daß das Seiende selbst seinen Wert und Sinn verliert“,122 in die historische Situation des Nihilismus, „daß alle Ziele weg sind“123 und einzig Bestandssicherung und Selbstsicherung im Kampf dominieren.124 An dieser Stelle zeichnet sich aber auch der vielleicht gravierendste Unterschied zwischen Weber und dem Heidegger ab den 1935er Jahren auf. Denn so sehr Weber einerseits den modernen Rationalismus in Form permanenter Rationalisierung der bürokratisch-kapitalistischen Ordnungen als „durch die Natur der heutigen Technik“125 bedingt für unentrinnbar hält, ja, in der staatlichen und ökonomischen Bürokratie die schlechthin „unentfliehbare Macht“126 sieht, so stellt er andererseits die „zentrale Frage“, „was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“.127 Und tendenziell ist die Antwort: Die Ambivalenzen der Rationalisierung sollen durch Rationa119 120 121 122 123 124

GA 5, 256. Beispielsweise WL mehrfach 604–605. WL 604–605. GA 6.2, 25. GA 65, 138. Sehr prägnant sind die Abschnitte XIX–XXI von „Überwindung der Metaphysik“ in Vorträge und Aufsätze, GA 7. Zur modernen Willensmetaphysik gehört übrigens „die höchste und unbedingte Bewußtheit der rechnenden Selbstsicherung des Rechnens“ (ebd. Abs. XXI). 125 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (=SS), zitiere ich nach der Taschenbuchausgabe, Tübingen 1988, 499. 126 Max Weber, Gesammelte Politische Schriften (=PS), zitiere ich nach der Taschenbuchausgabe, Tübingen 1988, PS 333. Vgl. dort auch zur Auszeichnung der Bürokratie durch „Unentrinnbarkeit“, 330–331. 127 SS 414. Zuvor hat Weber noch bestritten, irgendetwas an der Entwicklung ändern zu können.

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lisierungsteigerung, Probleme technomorphen Denkens durch weitergehende Technik kontrolliert werden, natürlich jeweils im heroischen Bewusstsein konstanter Orientierung an letzten Wert(schätzung)en. Am deutlichsten manifestiert sich dieser Ansatz in Webers Auffassung von Wissenschaft.128 Ihre Leistung ist 1. Vermittlung von Technikkenntnissen, „wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht“, 2. Professionalisierung der entsprechenden Methodik, 3. Klarheit über die jeweils in Frage kommenden Mittel-Zweck-Zusammenhänge, für die Wissenschaft – wie oben gesehen – im Aufzeigen der gewollten und ungewollten Folgen einen Verrechnungsschlüssel anbietet, der in den einzelnen Lebensordnungen quasi als Wertschätzungsschlüssel angewandt wird. Kurzum: Wenngleich die Wertkonflikte auch als solche für Weber nicht aufhebbar sind, so denkt er tendenziell doch, sie durch eine Steigerung der instrumentellen Rationalität ‚beherrschen‘ zu können.129 – Für Heidegger jedoch hält sich dieses Denken noch im neuzeitlich-metaphysischen Horizont des Setzens von Werten und entsprechenden Berechnens von allem, wodurch es zu dem beiträgt, was er „Gestell“ nennt.

VII. Martin Heideggers Überlegungen zum „Gestell“ Die Genesis der Metaphysik, so sahen wir, ereignete sich in der antiken Philosophie im Zuge ihrer essentialistischen Artikulation, als was sich das Seiende in seinem Sein zeigte. Überhaupt, „daß Seiendes ist“,130 weiter unser elementares Dass-Sein, alles unscheinbar Kontingente in seinem unberechenbaren Dass seines Auftretenkönnens, waren ob der Selbstverständlichkeit je schon übergangen zugunsten dessen, was sich beständig durchhält, immer schon transzendiert auf eine kontingenzfreie und überzeitliche Ordnung hin. Das aletheiologische Ereignisgeschehen des jeweiligen Anwesens des Seins (beim Sich-zeigen von Welt und Dingen von sich aus) bleibt in seinen es ermöglichenden Zusammenhängen eines offenen In-der-Welt-seins im Verborgenen. Nach diesem Sein zu fragen, wird vergessen. In solcher Urfiguration des Primats der Essenz vor der Existenz und Seinsfrage vertieft sich die Vergessenheit des Seins umso so nachhaltiger, je mehr die Subjektivität des Subjekts in der Neuzeit an Mächtigkeit gewinnt. Grund wie Manifestation derartiger Seinsvergessenheit ist für Heidegger (vom Frühwerk an) schon in dem „alltäglichen, vorphilosophischen herstellenden Verhalten des Daseins“131 angelegt. Das entsprechend in der antiken Ontologie artikulierte Seinsverständnis des Seienden setzt sich in der oben vorstellig gemachten Art

128 WL, bes. 607–608. 129 Das betrifft im Politischen durchaus sogar die „Technik der Bildung des Staatswillens“ und ihre dazugehörigen Kontrollformen (vgl. PS, 308–310), durch technisch geregelten Parlamentarismus zur Einschränkung von Bürokratismus kommen zu wollen. 130 GA 9, 307. 131 GA 24, 162 (Herv. R. E.).

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technomorphen Denkens fort, das gewöhnlich alle Technik instrumental als ein Mittel für Zwecke und anthropologisch als ein Tun des Menschen auffasst. Es verstärkt sich nachcartesianisch, wenn wir uns als Subjekte des Denkens und Handelns im Gegenüber zur Welt der Objekte denken, wenn wir Wissenschaft als (wertneutral) theoretische Erforschung von Naturgesetzlichkeiten und Erstellung von Messwerten auslegen, deren praktische Anwendung die moderne Technik zu von uns (wertorientiert) gesetzten Zwecken darstelle. Und wie es offenkundig das Rationalitätsverständnis Max Webers war, hält es sich ebenso durch bei unserem Verständnis selbst der modernsten Techniken als Mittel zu Zwecken und dem Ruf nach kontrollierter ‚Handhabung‘.132 Der anthropologisch-instrumentalen Technikbestimmung widerspricht Heidegger nicht, sie sei sogar „unheimlich richtig“. Und dennoch ist sie für ihn gleichsam nur die ‚halbe Wahrheit‘, insofern sie sich aus der Zugehörigkeit zum Seinszusammenhang eines dia- und synchron kontingent-komplexen In-der-Welt-seins herausgenommen wähnt, um ihm umso einseitiger zu unterliegen. Aber gerade weil Heidegger sich auf die Metaphysikgeschichte von ihrer Seinsvergessenheit über die Subjektdominanz bis hin zu ihrem ausschließlichen Willen zur Macht besinnt und sie von einem Ausgesparten zu verstehen sucht, möchte er nach dem „Wesen der Technik“ „fragen“ und darüber eine „freie Beziehung zu ihr (sc. der Technik) vorbereiten“. Heidegger ist damit keineswegs ein Technikkritiker; indem er vielmehr den ‚Mut der Besinnung‘ aufbringt, „die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen“,133 erweitert er den bisherigen Verstehens- und ‚Rationalitäts‘-Raum auf das Seinsgeschehen hin, das die moderne Technik in zweideutiger Weise austrägt. Anders gesagt und von allergrößter Bedeutung: „Die Frage nach der Technik“ stellen heißt auch hier, einen „Schritt zurück“ hinter die Metaphysik zu gehen, „ursprünglicher als die Metaphysik“ zu verstehen. Aber das bringt nicht allein einen Rückgang hinter die überkommenen Disziplineinteilungen der Philosophie mit sich. Impliziert ist zugleich, die Begriffe etwa von Poiesis, Praxis und Theoria aus ihrer metaphysisch substanzontologischen, subjekttheoretischen oder instrumentalistischen Perspektive zu befreien und aus der weiten Zusammengehörigkeit von Sein und Mensch gleichfalls ursprünglicher zu verstehen. Das ist nun entscheidend für das Verständnis sowohl der antiken Technik wie der modernen in ihrer systemischen Ausprägung. Ein achtsameres Eingehen auf die griechische Poiesis zeige bei ihr zunächst keine Vorherrschaft eines instrumentalen Wirkens und Bewirkens. Geht man nämlich hinter die römisch mit „causa“ (materialis, formalis, efficiens, finalis) übersetzte und interpretierte sog. Vierursachenlehre (der Stoff-, Form-, Wirk- und Zweckursache) des Aristoteles aufs Griechische zurück, dann findet sich von dieser Art Ursächlichkeit nichts. Die Rede ist vielmehr von „αἴτιον (aition), das, was ein anderes verschuldet“. Damit verdanke sich das Werden von etwas vier Weisen des „Verschuldens“ genau desje132 GA 7, 8. 133 GA 5, 75. Siehe dazu nochmals Elm, Philosophie und Europa-Wissenschaft, besonders 314–316.

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nigen, das sich im poietisch Erzeugten dann auch als an-wesend zeige. Heidegger betont bei all ihrer Verschiedenheit ihre Zusammengehörigkeit, ihr Zusammenspiel, ihre Versammlung – und fragt einmal mehr nach dem darin einheitlich ‚waltenden‘, „anfänglichen Sinn“ (‚worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält‘). Es ist der eines „Lassens“ und „Her-vorbringens“, da im Zusammenspiel der vier Weisen diese „das noch nicht Anwesende ins Anwesen ankommen lassen“ und es so „in den Vorschein bringen“. Poiesis ist Her-vor-bringen. Und weil das „Her-vor-bringen“ das „Gewachsene der Natur“ (die griechische physis), das „Verfertigte des Handwerks und der Künste“ ins Erscheinen kommen, an-wesen lässt, ist es zugleich ein Geschehen des Entbergens, „aus der Verborgenheit her in die Unverborgenheit vor“.134 Auch die moderne Technik entbirgt etwas, aber nicht mehr im Sinne ursprünglicher Poiesis, nicht mehr Dinge in ihrem Welt versammelnden Charakter, sondern ein „Herausfordern“, ein „Stellen“ der Natur im Ganzen, mithin auch unserer Natur. Moderne Technik – erst recht dort, wo sie das Entwerfen moderner Wissenschaftsprojekte in eins mit ihren wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten prägt – enthüllt quer durch alle Lebensordnungen hindurch Seiendes so, dass sie es herausfordert, nur auf seine förder- und verwertbaren Potenziale hin nach Maßgabe „größtmöglicher Nutzung bei geringstem Aufwand“ berechnet, verfügbar macht und jederzeit und überall „zur Stelle (stellt) für die Bestellung“.135 Das solchermaßen vielfach in seine Speicherbarkeit, Verfügbarkeit, Bestellbarkeit transformierte Seiende „hat seinen eigenen Stand […] den ‚Bestand‘“.136 Deshalb haben wir auch nicht mehr mit ‚Gegen-ständen‘ zu tun. Ihre einstige Gegenständigkeit ist aufgrund des neuen technischen Niveaus in Logistik und Informatik über den Modus gewisser ‚Gegenstandslosigkeit‘ zur ‚Ständigkeit‘ des Bestandes überführt.137 Und seine Bestandssicherung ist total, nichts ist ausgenommen, auch der Mensch nicht. Er wird selbst in geschichtlich-epochaler Weise herausgefordert, in Anspruch genommen, den Bestand zu bestellen, mithin ihn umfassend und stets höherstufig – bei und in aller Vernetzung – zu steuern und zu sichern,138 d. h. ihn als reibungsloses Funktionieren auf Dauer zu stellen, zu beständigen, eben „die totale ‚Rationalisierung‘“139 in den jeweiligen Bereichen zu betreiben. „Setzen wir uns endlich davon ab, das Technische nur technisch, d. h. vom Menschen und seinen Maschinen her vorzustellen. Achten wir auf den Anspruch, unter dem in diesem Zeitalter nicht nur der 134 GA 7, 13. Selbst für den Handwerker muss sich das Her-vor-zu-bringende jeder Verfertigung zuvor erst einmal entborgen haben, bevor es im Denken als versammelnder Überlegung Gestalt annimmt. Erst nach und gemäß dieser Versammlung der Momente wird die Verfertigung vom Handwerker ausgeführt, der mit dem Ding in seinen Bezügen zugleich Welt entbirgt. 135 GA 7, 16. 136 Ebd., 17. 137 GA 10, 51. 138 GA 7, 17, 28 und öfters: „Steuerung und Sicherung werden sogar die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.“ 139 GA 10, 155.

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Mensch, sondern alles Seiende, Natur und Geschichte, hinsichtlich seines Seins steht. […] Unser ganzes Dasein findet sich überall herausgefordert, sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen.“140 Genau dieses – uns heute angehende und m. E. die Weltgesellschaft weitreichend mit beeinflussende – Phänomenganze nennt Heidegger „Gestell“. „Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d. h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.“141 Deshalb muss es, das ‚Gestell‘ als ‚Wesen der modernen Technik‘ unbedingt unterschieden werden von der Technik selbst, von dem unmittelbar Instrumentalen des Werkzeugartigen, des Maschinenartigen, von der konkreten Infrastruktur der modernen Systemtechniken, wiewohl es damit natürlich zutiefst verbunden ist. ‚Ge-stell‘ ist auch die deutsche Übersetzung von ‚sys-tem‘ als dem Zusammen-Gestellten und meint den Inbegriff der uns beanspruchenden versammelnden Weisen im systemischen Gesamtzusammenhang der modernsten Techniken, von denen Heidegger beispielsweise schon die modernen Nachrichten-, Informations- und Kommunikationstechniken, die Verkehrs- und Transporttechniken, die Energietechniken, die Nahrungsmitteltechniken, Bio- und medizinischen Techniken klar vor Augen hat und anspricht. Inwieweit ist das ‚Gestell‘ selber nichts Technisches? Und welche Implikationen gehen damit einher? Dazu drei kurze abschließende Bemerkungen und ein Schlusswort. 1. Wie unsere Ausführungen zur Metaphysik als Geschichte der Erfahrungs- und Auslegungsweisen des Seienden in seinem Sein vorbereiteten (wie etwas jeweils prozessual ‚anwest‘, also sich zeigt und in seiner ‚Anwesenheit‘ verstanden wird), ist das ‚Gestell‘ geschichtlich zu verstehen. Heidegger versucht damit den geschichtlichen Wandel im Seinsverständnis des Seienden von seiner Gegenständlichkeit zur Bestellbarkeit zu fassen. Seiner Überzeugung nach ist dieser Wandel weder einfachhin ein äußerer Ansichtswechsel der Philosophen noch ein neutraler Austausch von Paradigmen, sondern ergibt sich aus der spezifischen Responsivität der Denker auf ihre historischen Situationen, die die Menschen eben immer schon in je geschichtlicher Weise angehen.142 Von der systematischen Tiefe und Tragweite der Antworten hängen wiederum die institutionellen Auswirkungen und darüber die weiteren Einstellungen ab. So kann Heidegger einerseits beispielsweise in der neuzeitlichen Metaphysik noch ein Verbleiben in der metaphysischen Blickbahn ausmachen, andererseits aber auch zentrale Elemente von Neuem hervorheben. Herkünftig gesehen ist etwa „die neuzeitliche Physik“ einerseits noch auf die Anwesenheit des Anwesenden – freilich 140 GA 79, 123–124. 141 GA 7, 21 (Herv. R. E.). 142 Vielleicht gibt es hier eine sachliche Nähe einerseits des Zusammenhangs von Anspruch und Entsprechung bei den Philosophen (Heidegger) und der ‚inneren Not‘ auf Seiten der religiösen Virtuosen andererseits (Weber).

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für das Subjekt – gerichtet, andererseits wird sie „der in seiner Herkunft noch unbekannte Vorbote des Ge-stells“, weil die ihr immanente technische Vorstellungsweise über Entwurf, Verfahren und forschungsbetriebliche Institutionalisierung nicht mehr etwas von sich her anwesen lässt, sondern über „Vor-“ und „Eingriff“ zum „Angriff“ in der durchgängigen Berechenbarkeit des Seienden und der Vermessung der Welt übergegangen ist.143 Und als zukünftiges Medium aller Bestandsicherung und -steigerung durch Steuerung und Sicherung erkennt Heidegger früh die transformative Reduktion der Sprache auf die Information, deren Herausforderungen wieder zu Einrichtungen führen mussten, in deren Konsequenz die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilfunkt, Internet, Big Data etc. quer durch alle Lebensbereiche nur eine Frage der Zeit waren.144 – Das epochale Sich-Auftun eines Seins-Sinns geht also für Heidegger mit gesellschaftlichen Institutionalisierungsprozessen in den unterschiedlichsten Bereichen einher, ohne freilich darin aufzugehen.145 Vielleicht ist deshalb das Seinsverständnis des Gestells und seine Art globaler Aus- und Einrichtungen als des Produzierens von Beständen jedweder Art und nutzenden Bestellens der Bestände jederzeit von überallher bei stets höherstufigen Steuerungs- und Sicherungsvorgängen implizit schon ein weltgesellschaftliches. Und wenn Heidegger zeitweilig nicht den Einzelnen, sondern die Industriegesellschaft als das für alle Objektivität maßgebliche Subjekt bestimmt,146 dann nimmt er später diese Bestimmung aufgrund des überholten Subjekt-Objekt-Schemas zurück. Stattdessen sei sie, die „Industriegesellschaft“, „von der selben Macht des herausfordernden Stellens in die Botmäßigkeit gestellt“, die die Transformation der vormaligen Gegenständlichkeit zur bloßen Bestellbarkeit der Bestände in der Epoche des Gestells mit auf den Weg brachte.147 Aber ist diese Gesellschaft nicht der

143 Vgl. GA 16, 747 und GA 5, 108, 256, 290. 144 Vgl. besonders GA 10, 182: Denn indem „die Information in-formiert, d. h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d. h. sie richtet ein und aus. Die Information ist als Benachrichtigung auch schon die Einrichtung, die den Menschen, alle Gegenstände und Bestände in eine Form stellt, die zureicht, um die Herrschaft des Menschen über das Ganze der Erde und sogar über das Außerhalb dieses Planeten sicherzustellen.“ – Heidegger zufolge gilt der Kybernetik der Mensch bislang noch als „,Störfaktor‘“, aber ihrem Vorgriff nach zielt sie darauf ab, „die Freiheit des Menschen als eine geplante, das heißt steuerbare zu bestimmen“ (GA 16, 623). 145 Heidegger sieht deutlich, dass diese ihrerseits ob der Modernisierungserfordernisse dann weiterer „Funktionalisierung“, „Automatisation“ und „Bürokratisierung“ unterliegen. Vgl. etwa GA 11, 60–61. – Soziologisch gesehen wären also durchaus in Heideggers je epochalen Seinsverständnissen die übergeordneten Sinnzusammenhänge der kulturellen Deutungsmuster als Makro-Ebene sowie in jenen Institutionalisierungen die gesellschaftlichen Vermittlungen der Meso-Ebene wiederzuerkennen. Weitere Analysen könnten hier auch die vielen Maschinenbezüge bei Max Weber („Erwerbsmaschine“, „lebende Maschine“, „tote Maschine“, „Menschenmaschine“ etc. RS I, 189; PS 332; SS 413) und seine Sorge des Freiheitsverlustes im „Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft“ mit dem omnipräsenten Herausgefordertsein im Zeitalter des Gestells im Sinne Heideggers in Beziehung setzen. 146 GA 75, 251. 147 GA 16, 625 (Herv. R. E.).

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Tendenz nach die heutige Weltgesellschaft? Negativ: Der Inbegriff hochkomplexer sowohl wechselseitiger als auch global alle angehender Herausforderungen? 2. Nun bilden Seinsverständnis und Sinndimension stets eine Einheit. Der epochal geschichtliche Sinn des Seins des Seienden im Ganzen lässt im „Weltalter der Technik“ Seiendes nur als ‚Bestandstücksein von Beständen‘ begegnen. Nichts scheint besser geeignet zu sein als umfassende Bestände gleichgültiger Bestandstücke, auf die man als Mittel zur Realisierung angeforderter Zwecke zugreifen, die man entbergen und über die man je nach Bedürfnis und Interessenlage frei disponieren kann. Deshalb scheint auch in der Situation der Moderne das anthropologisch-instrumentale Technikverständnis mitnichten überholt. Die gigantischen Erfolge in der Entwicklung der modernen Techniken legen es sogar nahe, den Menschen als „Herrn der Technik“ anzusprechen.148 Doch wo immer dies geschieht, entspricht der Mensch aus Heideggers Sicht dem geschichtlichen Geschick des Gestells und damit dem Wesen auch der modernen Technik bloß einseitig, insofern er in seinen jeweiligen Herausforderungsfeldern „nur das im Bestellen Entborgene“ verfolgt und von dort „alle Maße“ nimmt, anstatt vielseitig auch auf das Entbergen selbst mit allem, was dazugehört, aufmerksam zu werden.149 Die intentionale Fixierung am Entborgenen, der Versuch der immer höherstufigen Kontrolle der Technik durch mehr Technik ver-stellt das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit dem Wortsinne von dis-ponere nach und substituiert sein Weltverhältnis durch anthropologisch-instrumentelle Rationalitätsschemata bis zu dem Punkt, wo er sich selber bestandsmäßig nimmt und alles als „ein Gemächte des Menschen“ als „Herrn der Erde“ zu sein scheint. Wo auf diese Weise die global-systemische Disponibilisierung von allem und jedem überall und jederzeit am erfolgreichsten zu sein scheint, gefährdet das Gestell qua perfekt berechneter bzw. geregelter „Steuerung und Sicherung des Bestandes“ nicht allein das „Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu allem, was ist“. Mehr noch „verbirgt es das Entbergen als solches“, damit aber auch die Möglichkeit, dass etwas von sich her sich zeigen kann. „Das Ge-stell verstellt das Scheinen und Walten der Wahrheit.“150 3. Dieser äußersten Gefahr denkt Heideggers spätere Philosophie nach und er begegnet ihr – freier gesprochen –, indem er die Intentionalität des Menschen in seiner anthropologisch-instrumentellen Rationalitätsausrichtung angesichts der ihn angehenden Herausforderungen auf ihre de-intentionalen Momente hin untersucht. Dazu gehört das geschichtlich-geschickliche Sichzeigen des Seins, „die Anwesenheit selbst in der Geschichte ihres Wandels“,151 in eins mit dem Verhältnis, durch welches dem Menschen der Sinn des Seins immer schon epochal erschlossen ist und er es in seinem geschichtlichen In-der-Welt-sein 148 GA 16, 627. 149 GA 7, 26–27 (Herv. R. E.). 150 Alle letzten Zitate GA 7, 27–28. – Etwas freier gesagt: Diese Art Rationalität schließt andere Formen von Rationalität aus. 151 GA 16, 627.

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jeweils austrägt. Erfährt der Mensch dabei, dass er selbst bei und in den Herausforderungen des Gestells immer schon beansprucht und gebraucht ist, so vermag er über seine „gebrauchte Zugehörigkeit zum Entbergen“ überhaupt die Zusammengehörigkeit von Sein und Mensch anzudenken. Sich darauf zu besinnen, eröffnet – äußerst abgekürzt gesprochen – vielleicht die Möglichkeit eines gewandelten, gelassenen Weltaufenthalts.152 Max Weber sprach vom Kapitalismus als „schicksalsvollster Macht unseres modernen Lebens“, von einem „Verhängnis“, das die Sorge um die materiellen Güter zum „stahlharten Gehäuse“ werden ließ, von einer tatsächlich aufs Ganze gehenden „zweckhaften Durchrationalisierung des Weltbildes und der Lebensführung“.153 Für ihn hält sich in der okzidentalen Rationalitätsgeschichte die gewissermaßen anonyme Tendenz auf Weltbeherrschung, in seiner modernen Form noch einmal gesteigert durch den Anspruch der Berechnung aller Dinge, durch. Von ihm her bleibt die Frage: Was bedeutet diese Rationalismustendenz für eine Weltgesellschaft, die tendenziell von der Mentalität berechnend-totalisierenden Denkens dominiert ist und den Globus samt seiner Atmosphäre entsprechend einrichtet? Was bedeutet es, wenn eine sich konstituierende Weltgesellschaft aus ihren jeweiligen Bedürfnis- und Interessenlagen heraus alles auf die eine Karte sich totalisierender Berechenbarkeit in Form von Steuerung und Sicherung aller Steuerungs- und Sicherungssysteme quer durch alle Lebensordnungen setzt? Was bedeutet dieser ‚Geist‘ für die (geschichtlichen) Lebens-, Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisse? Auch Martin Heidegger gibt eher Fragen auf. Eingedenk der Einsicht in die geschichtlich unverfügbar sich wandelnden Seinsverständnisse, ist für ihn die Zugehörigkeit des Menschen zum Sein (auch als der keinem Algorithmus unterliegende Seinszusammenhang eines ebenso welthaft wie geschichtlich offenen, uns je an-gehenden ‚Ganzen‘) maßgeblich, denkwürdig. Wo immer jedoch das rechnende Denken – in den Formen moderner Rationalität – „beansprucht, ein oder gar das maßgebende Wissen zu sein“154, oder mit der Meßbarkeit und Berechenbarkeit von Welt ihr ‚Sein ge-stellt‘ zu haben, ist für Heidegger an jenem weltgeschichtlich offenen Zueinander von Mensch und Sein vorbeigedacht. Deshalb fragt er: Dürfen wir […] dieses Denkwürdige preisgeben zugunsten der Raserei des ausschließlich rechnenden Denkens und seiner riesenhaften Erfolge? Oder sind wir daran gehalten, Wege zu finden, auf denen das Denken dem Denkwürdigen zu entsprechen vermag […]? Das ist die Frage. Es ist die Weltfrage des Denkens. An ihrer Beantwortung entscheidet sich, was aus der Erde wird und was aus dem Dasein des Menschen auf dieser Erde.155 152 Zur Zusammengehörigkeit von Sein und Mensch in einem gewandelten Weltaufenthalt siehe auch Ralf Elm, Im Freien? – Platons Ideenoptik und Heideggers Aufenthaltsdenken. Zur Bedeutung der FeldwegGespräche für den „Humanismusbrief“, in: Alfred Denker/Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und der Humanismus (Heidegger-Jahrbuch 10), Freiburg – München 2017, 34–61. 153 RS I, 12, 203, 253. 154 GA 65, 141. 155 GA 10, 189.

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Rationalität als zentrales Narrativ der Weltgesellschaft? Meine These ist als Frage folgendermaßen formuliert: Ist die Rationalität und ihre Geschichte ein so zentrales Motiv, dass an ihr entlang durch an ihm entlang zumindest wesentliche Züge der Geschichte der Weltgesellschaft erzählt werden können? Meine Antwort auf diese Frage ist: Ja, und ich werde versuchen, dies auf knappem Raum plausibel zu machen. Ich gehe dabei in einem ersten Erzählschritt zurück in die Antike und skizziere die Revolution der Rationalität, will sagen: ihre Erfindung in der frühgriechischen Kultur. Ich zeige dann in einem zweiten Schritt die machtpolitischen Folgelasten dieser Erfindung der Rationalität auf, insbesondere ihre Bildung von Weltreichen in der Geschichte und dann drittens: die Folgelasten der Rationalitätskultur für unsere eigene Weltgesellschaft.1 Punkt (1) Die Revolution der Rationalität. Bevor ich darauf zu sprechen komme, ein Wort zur Herkunft meines ideengeschichtlichen Ansatzes. Er ist einerseits von Heidegger, andererseits von Max Weber inspiriert. Heidegger war der erste, der die abendländische Philosophie- und Metaphysikgeschichte als einen globalen Zusammenhang rekonstruiert hat und auch erkannte, dass die Weltpolitik aus solchen Zusammenhängen zu begreifen ist. Heidegger hat aber den Schritt in die Politik- und Soziologiegeschichte nie getan. Auf dem Felde war ein anderer zu Hause: Max Weber. Er hat den Begriff der „okzidentalen Rationalität“ als einen Leitbegriff der europäischen Kultur geprägt, aber seinerseits nie nach dessen philosophischen Wurzeln gefragt.2 Die Erfindung der Rationalität in der griechischen Antike ist selbst ein historischer Prozess gewesen, der sich über mindestens drei Jahrhunderte vollzog, vom 8.–5. Jahrhundert v. Chr. In dieser Zeit haben die Griechen die Philosophie-Wissenschaft – damals noch eins und ungetrennt – erfunden und sogleich deren technische Anwendungen eingeübt.3 Die Griechen waren dabei, wie schon Herodot wusste, „Erben“, d. h. haben wichtige rationale Einsichten aus dem Ostmittelmeerraum als dem Schnittpunkt großer Kulturen übernommen, so von den Babyloniern die Mathematik und ihre Anwendung auf die Astronomie, von den Ägyptern die Geometrie, von den Phöniziern das phonetische Alphabet als Voraussetzung 1 Ich stütze mich dabei auf mein Buch: Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012. 2 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Hrsg. von Marianne Weber, Bd. 1, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1988, 1–7. 3 Entgegen der Auffassung von Aristoteles, dass die Wissenschaft eine „reine“ Angelegenheit sei und damit von der Praxis abgehoben, würde ich betonen, dass auch die „episteme“ bereits der Praxis dient, der Wissenschaft vom Menschen, der Staatstheorie, der Mathematik, der Geographie und anderen Praxisfeldern. Siehe dazu: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg. von Joachim Ritter u. a., Darmstadt 1979–2007, Stichwort „Episteme“.

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abstrakter Begriffsbildung.4 Dabei nun ist die griechische Philosophie-Wissenschaft als deren eigenständige Erfindung nicht mehr geheimes Priesterwissen, wie in den genannten Vorgängerkulturen, sondern im Bürgerdiskurs entwickelt, damit auch öffentlich und somit eine Erscheinungsform der Demokratie, nicht der Königsherrschaft oder Tyrannis. Dass die Athener Bürger solche Denker dabei auch mit dem Tode abstraften, steht auf einem anderen Blatt.5 Die Philosophie-Wissenschaft entwickelt ein radikal neues Konzept des Kosmos. Der Kosmos und seine Geschichte werden nicht mehr aus dem Mythos und damit aus der Schaffenskraft der Götter abgeleitet, sondern post-mythisch aus stofflichen Prinzipien wie eben Wasser, Luft, Feuer, das Sein, wie in den Lehren der Vorsokratiker. Man sieht, dass hier schon eine gewisse Konkurrenz der Ideen auftaucht, mithin rationales abendländisches Denken genau diesen Grundzug eines offenen Diskurses aufweist, wie das folgende Schaubild zu den unterschiedlichen Erklärungsmodellen des Kosmos aufweist: Thales von Milet um 625 v. Chr.–547 v. Chr.

Anaximander um 610 v. Chr.–546 v. Chr.

Anaximenes um 585 v. Chr.–526 v. Chr.

Heraklit um 550 v. Chr.–480 v. Chr.

Parmenides um 515 v. Chr.–450 v. Chr.

wasser

unbe-

luft

feuer

das sein

grenzte

Empedokles um 485 v. Chr.–435 v. Chr.

Demokrit um 460 v. Chr.–370 v. Chr.

vier ele-

unteilbare

mente

atome

Rationalität meint also eine Denkform, die kausallogisch vorgeht, an dem Erkennbaren orientiert ist, gleichwohl aber eine hohe Abstraktionsleistung erbringt, insofern sie ja alles Seiende aus ihren stofflichen Prinzipien – griechisch „archai“ – her erklären will. In der Rationalität steckt also ein Erkenntnisanspruch, der auf das Ganze des Seins abzielt und nicht nur auf pragmatisches Teilwissen und dies in einer Konkurrenz der Wissenschaftler: Das ist der Beginn der europäischen Wissenschaft und damit haben wir auch den Anfang unseres roten Fadens nach dem Hauptnarrativ und der Leitkultur der abendländischen Geschichte gefunden. Nun gibt es bereits in der antiken Philosophie einen Kandidaten, der das Rennen um die wahre Erkenntnisform machen sollte: Die Zahl. Es waren die Pythagoreer, die im Numeri4 Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, zugleich Begründer der europäischen Geschichtswissenschaft, betont diese Abhängigkeit insbesondere im Verhältnis der Griechen zu den Ägyptern und hier auf dem Felde der Geometrie und Landberechnung im Zusammenhang mit den Nilüberschwemmungen: „Mir scheint, daß hierbei die Kunst der Landvermessung erfunden wurde, die dann nach Griechenland kam.“ Herodot, Historien, Griechisch-deutsch, Hrsg. von Josef Feix, München 1963, Historien II, 110; Herodot hat Griechenland, Kleinasien, Ägypten und Babylonien als Quellräume der griechischen Kultur besucht. 5 Bekanntlich wurde der erste Philosoph in Athen und Freund des Perikles, Anaxagoras, wie später Sokrates der „Gottlosigkeit“ angeklagt, der sich Anaxagoras durch Flucht entzog. Sokrates aber hat – wie bekannt – bewusst das Todesurteil angenommen und an sich durch einen Giftbecher vollstreckt.

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schen den Code für das Weltverstehen frei legten. Die Pythagoreer gingen dabei selbst noch von einfachen natürlichen Zahlen aus und hielten diese für Elemente des Kosmos selbst, wie wir das z. B. in den Klangharmonien hören können. Aber mit den Pythagoreern wird das quantitative Denken zur Grundform der abendländischen Welterkenntnis, so wie es Philolaos, ein Schüler des Pythagoras und Zeitgenosse des Sokrates im 5. Jahrhundert v. Chr., lehrte: Denn erkenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend in jeglichem, das ihm zweifelhaft und unbekannt ist. Denn nichts von den Dingen wäre irgendwem klar, weder in ihrem Verhältnis zu sich noch zu einander, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen. Du kannst aber nicht nur in den dämonischen und göttlichen Dingen die Natur der Zahl und ihre Kraft wirksam sehen, sondern auch überall in allen menschlichen Werken und Worten und auch auf dem Gebiet der technischen Verrichtungen und der Musik.6

Die Zahl als die Grundform aller Erkenntnis – die neuzeitlichen europäischen Naturwissenschaften eines Kopernikus und Galilei setzen direkt hier ein. Galilei ist ja – wie die Pythagoreer – der Meinung, dass die Natur in der „Sprache der Mathematik“ verfasst sei und daher auch mit dem menschlichen Verstand messtechnisch und rechnerisch objektiv erkennbar. Mithin, folgert Galilei kühn, sei die menschliche Rationalität dem göttlichen Intellekt zumindest in der quantitativen Erkenntnisform kompatibel. Freilich erkennt der göttliche Geist unendlich viel mehr mathematische Wahrheiten, denn er erkennt sie alle. Die Erkenntnis der wenigen aber, welche der menschlichen Geist begriffen, kommt meiner Meinung an objektiver Gewißheit der göttlichen Erkenntnis gleich.7

Der Neopythagoreer Leibniz schreibt beinahe wörtlich wie Philolaos: Dagegen gibt es nichts, das nicht der Zahl unterworfen wäre. Die Zahl ist die metaphysische Grundgestalt, und die Arithmetik eine Art Statik des Universums, in der sich die Kräfte der Dinge enthüllen.8

Leibniz überträgt die mathematische Darstellung daher konsequent auch auf die Sprache, wenn er versucht, Sätze mathematisch wie Gleichungen zu schreiben und so die Logik der

6 Ich zitiere im Folgenden die Fragmente der Vorsokratiker nach der Ausgabe von Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Nach der von Walther Kranz hg. achten Auflage, mit Einführung und Bibliographien von Gert Plamböck, Hamburg 1957, hier Philolaos, Fragment 11, 78. 7 Galileo Galilei, Siderius Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, Hrsg. von Hans Blumenberg, Frankfurt/Main 1965, 157. 8 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, Hrsg. von C. Gerhard, VII, Berlin 1890, 184.

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Satzprädikation zu berechnen.9 Er experimentierte auch schon mit einer binären Arithmetik, die alle Zahlenwerte nur durch 0 und 1 ausdrückte.10 Hier kann man die Anfänge unserer heutigen Rechnerkultur erkennen. Leibniz hat eine der ersten Rechenmaschinen erfunden, sozusagen eine Vorform des Computers.11 Wir bewegen uns hier geschichtlich direkt auf dem Wege in unsere heutige Rechnergesellschaft. Damit haben wir auch schon ein Stück des roten Fadens freigelegt: die abendländischwissenschaftliche Idee einer rationalen Erforschung des Universums, insbesondere das Erkenntnisziel, ihre berechenbaren Strukturen aufzudecken. Die abendländische Geschichte ist entscheidend durch dieses rational-wissenschaftliche Projekt geprägt und dessen Progress einschließlich der technischen Anwendungen prägt unsere Geschichte und dies immer universaler und totaler. Das zeichnet die heutige Weltgesellschaft im digitalen Zeitalter aus. Dass dies oft über lange Phasen der Latenz und sogar Disruptionen hinaus erfolgt, ändert nichts an der letztlich weltweiten Durchsetzungskraft der von Europa ausgegangenen Rationalitätskultur. Dabei vollzieht sich die antike „Revolution der Rationalität“, wie ich sie nenne, nicht nur im Bereich der Wissenschaft. Sie hat vielmehr alle Kultursektoren erfasst und verändert. Ich spreche hier von Kultursektoren, nicht Systemen, wie Niklas Luhmann, weil es eben ein und dasselbe rationale Denkvermögen ist, das sich auf den verschiedenen Kultursektoren durchsetzt. Luhmann betont ja bekanntlich die Ausdifferenzierung der als „selbstreferentiell“ gedachten Systeme gegeneinander.12 Der Begriff „Sektor“ betont dagegen den inneren Zusammenhang der Segmente mit dem Ganzen, in diesem Falle: der Rationalitätskultur. Ich nenne vier weitere Kultursektoren, die durch die Revolution der Rationalität fundamental umgewandelt wurden: (a) Die Ökonomie durch die Erfindung des Münzgeldes im 7. Jahrhunderrt v. Chr. Geld ist ja ebenfalls eine quantitative Form der Berechnung von Dingen. Sie werden dadurch zu bezahlbaren Waren und Dienstleistungen, wenn die Gesellschaft das „Nomisma“, wie Aristoteles das Geld nennt, als Zahlungsmittel anerkennt.13

  9 Diese Ansätze finden sich v. a. in seinen Fragmenten zur Logik. Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules et fragments inédits de Leibniz […], par Louis Couturat, Hildesheim 1961. 10 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die mathematischen Zeitschriftenartikel, übersetzt und kommentiert von HeinzJürgen Heß und Malte-Ludolf Babin, Hildesheim 2011, 383. 11 Sigvard Strandh, Die Maschine. Geschichte, Elemente, Funktion. Ein enzyklopädisches Sachbuch, Freiburg – Basel 1980, 187. 12 Nach Luhmann werden soziale Systeme durch „Autopoietizität“ wie „Selbstreferentialität“ definiert und eingegrenzt. Generell gilt, „dass „soziale Systeme […] zweifelsfrei selbstreferentielle Objekte“ seien. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984, 593. Diese Ansicht übersieht aber, dass sich Paradigmenwechsel in der Kultur der Durchsetzung eines neuen Denktypus verdankt und dies nicht nur in einem, sondern in verschiedenen Kultursystemen. 13 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133a.

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(b) Die Rationalisierung der Ästhetik, u. a. in der griechischen Plastik. Sie erfolgt so, dass deren ideale Darstellung des Menschen mit seinem freien Schritt in den Raum hinein selbst auf ideale mathematische Proportionen gebracht wird und ja auch alle menschlichen Proportionen eines normalwüchsigen Griechen von damals ca. 1,60 m Höhe hochgerechnet werden müssen auf Proportionen einer Figur über zwei Meter oder sogar über zehn Meter wie die Statue der Athene auf der Akropolis. Die geometrische Rationalität setzt sich auch in der griechischen Architektur und Stadtplanung durch, insofern der pythagoreische Architekt Hippodamus die durch die Perser zerstörte Stadt Milet Mitte des 5. Jahrhunderts in streng rechtwinkliger Anlage der Straßen und Wohnblöcke aufbauen ließ.14 Die geometrische Anlage von Städten und Kriegslagern wird dann zum Grundmodell auch der Römer. Die Idealstädte der Renaissance folgen diesem Modell und die Stadtarchitektur eines Le Corbusier hat weltweit den Sieg der geometrischen Bauweise in Neuzeit und Moderne bedeutet.15 Wir haben hier auch so etwas wie einen roten Faden der Raum- und Städteplanung von der Antike über die Renaissance bis hin in die Weltmetropolen des 20. und 21. Jahrhunderts. (c) Zeit: Nicht weniger stark hat unser Leben auf der Erde die Rationalisierung der Zeit, will sagen – ihre Mathematisierung und genaue Messung – verändert. Das ist ein langer Prozess, der ebenfalls bereits in den Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens beginnt, in der griechischen und römischen Antike zur Erfindung von Wasser- und Sonnenuhren führt, im Mittelalter zur Erfindung der mechanischen Uhr und ihrer immer messtechnisch genaueren Einteilung der Zeit. Bereits im Mittelalter wird die Uhr so als Regulierungsinstrument der Arbeit eingesetzt und regelt in der Moderne den kompletten Tagesablauf der rationalen Hochzivilisation.16 (d) Gender: Für die Griechen korrelierte der männliche Samen mit dem Logos, das Weibliche mit der amorphen Materie. Mithin wurde das männliche Prinzip mit dem Gestaltenden und Aktiven verbunden, die ungeformte passive Materie (hyle) aber mit dem Weiblichen.17 Diese These von der Dominanz des Männlichen hat sich auch – christlich überformt – bis ins 20. Jahrhundert gehalten, wurde dann allerdings im 20. Jahrhundert entschieden korrigiert durch die Entwicklung der rationalen Medizin selbst, denn: Rationalität ist auch ein Prozess der Selbstkorrektur falscher Annahmen. Schließlich (e): Rationale Militärtechnik: Das führt uns sogleich zu Punkt (2): Entwicklung der Rationalitäts-Kultur im Verlauf der europäischen, heute globalen Kulturgeschichte:

14 Siehe dazu Wolfram Hoepfner und Ernst Ludwig Schwandner, Haus und Stadt im klassischen Griechenland, München 1994, 20. 15 Siehe Vietta, Rationalität, 125–166 („Rationalität und Raum“). 16 Siehe Vietta, Rationalität, 171–228 („Rationalität und Zeit“). 17 Aristoteles, Von der Zeugung und Entwicklung der Tiere, 729 b.

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Damit sind wir auch schon bei dem Weltgeschichte als einer Expansionsgeschichte der Rationalität, bedingt nämlich durch ihre Kriegstechnik: Die rationale Kriegstechnik des Abendlandes ist der eigentliche Grund seiner Überlegenheit – nicht größeren Weisheit! – über alle anderen Weltkulturen und der Hauptgrund auch für die erstaunliche Expansionsgeschichte Europas über 2500 Jahre hinweg.18 Dabei geht es v. a. um zwei Formen der militärischen Überlegenheit: Die geometrisierte Kriegsformation der Phalanx in der Antike und die Feuerwaffen in Neuzeit und Moderne. Zunächst zur Form der Phalanx: Die Infanteriestrategie der Phalanx, wie sie die Griechen ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. praktizierten, begründete ein neues rationales Verhältnis des Kriegers zu Raum, Zeit und Gesellschaft. Der Krieger läuft nicht als wilder Einzelkämpfer schreiend auf den Gegner zu wie etwa die Kelten und Germanen, sondern fügt sich ein in ein Kollektiv, dessen Bewegungen durch Drill und Disziplin geschult wurden, in der Regel ca. drei Jahre.19 Die Phalanx bildet eine gesichtslose Reihe von Schilden und Helmen, aus der kein aristokratischer Kämpfer mehr hervorsticht und fördert auch so das Gleichheitsprinzip. Zur Rationalisierung der Kriegstechnik gehört, wie erwähnt, spätestens seit den Römern auch die gleichförmig-geometrische Anlage der Lager („castra“) wie auch die Konstruktion eines Netzwerkes von Heerstraßen. Die Erfolgsgeschichte der Rationalität im Kriegswesen verdankt sich auch einem neuen Umgang mit der Zeit: Tempovorstöße werden schlachtentscheidend. Die neue Kriegsführung, wie sie die Griechen, dann Alexander, dann die Römer praktizierten, charakterisiert eine insgesamt veränderte Mentalität der Rationalität, die Vorteile schnell und entschlossen nutzt, neue Techniken und Kriegsgerät einsetzt, auch neue wissenschaftlich konstruierte Kriegsmaschinen, mithin nicht auf Tradition und Dauer, sondern auf Innovation und durchschlagende Erfolgsstrategie setzt.20 Die Übernahme dieser Kampfstrategie durch die griechischen Poleis wohl im 7. Jahrhundert v. Chr. verbindet sich auch mit der Entwicklung von demokratischen Entscheidungsprozessen der sich selbst ausrüstenden griechischen Männer betreffend Krieg und Frieden und damit: der Erfindung von Demokratie und Freiheit in Griechenland. In der Schlacht bei Marathon 490 v. Chr. behaupteten sich so die Griechen in Phalanxformation gegenüber der Satrapie Persiens. Das führt uns zu einem weiteren wichtigen Aspekt der abendländischen Rationalitätskultur (f): Die zivile Organisation des Staates einschließlich des Gerichtswesens. Insbesondere 18 Ich stütze mich hier auf mein Buch: Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, Baden-Baden 2016. 19 „Drei Jahre lang wurden den jungen Männern täglich die entsprechenden Phalanxtaktiken einexerziert.“ Michael Mann, Geschichte der Macht, 3 Bde., I, Frankfurt/Main 1990, 324. 20 Die rationale Schlachtorganisation der Phalanx (griech. „Baumstamm“, „Walze“) war allerdings auch keine griechische Erfindung. Wie eine Stele des Königs Enneatum aus Lagasch zeigt, verfügten bereits die Sumerer über diese effektive Kampfformation. Richard Gabriel/Karen Metz, From Sumer to Rome. The Military Capability of Ancient Armies, New York 1991, 108. Siehe dazu auch Vietta, Die Weltgesellschaft, 61–112 („Militärische Rationalität: Weltgeschichte als Welteroberung“).

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die Römer haben hier Entscheidendes geleistet in der zivilen Verrechtlichung ihrer Binnenkonflikte wie auch der Konflikte zwischen Römern und Nichtrömern, in Klärung auch deren Rechtsstellung. Am Ende der Antike hat Justinian als Erbe dieser römischen Rechtspraxis einen Codex hinterlassen, das „Corpus Iuris Civilis“, das über die mittelalterliche Tradition der Rechtsschule von Bologna auch in die neuzeitliche Geschichte der Staats- und auch in die modernen bürgerlichen Rechtsordnungen einging. Aber zurück zur militärischen Rationalität: Ihr Einsatz in der Kriegsführung der Infanterie bedeutet also in der Antike: Kollektivierung und Geometrisierung der Kampfformationen mit den taktischen Varianten der Flügelverstärkung, Manipelbildung und der effektivsten Waffenwahl für den Kampf sowie der möglichst rationalen Nutzung von Raum und Zeit für die eigene Taktik. Solche Rationalität eröffnet bei aller Standardisierung ein großes Feld für die Genialität und auch den Mut von Feldherren und ihren Truppen. Gleichwohl ist der entscheidende Faktor in der Rationalitätsgeschichte nicht der Einzelakteur, sondern die Denkform und die daraus entspringende Strategie, die der Einzelakteuer allerdings genial zu handhaben weiß. Die Rationalitätsgeschichte weist hier verwandte Motive auf mit dem NeoInstitutionalismus der Soziologie der Princeton-School, die den Einfluss der Institutionen über den der Einzelakteure stellt.21 In der Neuzeit sind es natürlich die Feuerwaffen, mit deren Hilfe die kleinen Länder Europas die Welt gegen die dort ansässigen indigenen Bevölkerungen erobert und kontrolliert haben, dies über 550 Jahre hinweg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die militärische Rationalität Europas ist somit der eigentliche Triebmotor der Bildung von Weltreichen und damit der Bildung von Weltgesellschaft gewesen. Diese war in der Antike noch begrenzt auf jene Dimensionen von ‚Welt‘, die bereits Alexander der Große im Blick hatte: vom Ganges bis zu den Säulen des Herakles, also der Straße von Gibraltar. In der Neuzeit expandiert der Begriff von ‚Welt‘ in dem Maße, wie die Kolonialisierung vorangetrieben und immer neue Teile der Welt entdeckt, erforscht und erobert wurden. Die Weltgesellschaft, die sich in diesem Prozess der Welteroberung herausbildet, ist immer eine gespaltene zwischen Rationalitätssiegern und -verlierern, will sagen: der Eroberer und der eroberten Völker. Darauf kommen wir noch im Folgenden zurück. An dieser Stelle können wir konstatieren: Militärische Rationalität bedeutete also immer auch militärische Überlegenheit, damit auch: Macht und immer mehr Macht, vielfach bis zum eigenen Kollaps durch Überdehnung der Macht, wie dies für die Imperien Alexanders, Roms und auch die neuzeitlichen kolonialen Reiche gilt. In diese Geschichte gehört – horribile dictu – auch das Dritte Reich Adolf Hitlers. In diesem Auf und Ab der Imperien aber entwickelt sich die Rationalitätsgeschichte – nicht kontinuierlich, sondern über Brüche und Latenzphasen hinweg – doch als ein Kontinuum.22 21 Siehe dazu John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/Main 2005. Meyer greift ebenfalls auf den Begriff der „okzidentalen Rationalität“ von Max Weber zurück. 22 Zur Geschichte der Imperien und ihren Auf- und Abstiegen siehe Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.),

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Mit der Rationalitätsgeschichte als einer Geschichte der Macht kommen wir zu einem ständigen Begleiter, nämlich: dem Irrationalen. Was ist das Irrationale an der abendländischen Rationalitätsgeschichte? Die abendländische Expansionsgeschichte war immer angetrieben v. a. durch die Gier nach Geld und Gold, und dies von den Anfängen an bis in unsere Gegenwart. Das geht einher mit der Entwicklung eines Geld- und Bankenwesens, mit dem Import von Geld und Gold und anderen Wertartikeln aus den Kolonien in die Erobererländer. Rationalität wird auch deshalb vom Irrationalen begleitet, weil die militärische Überlegenheit im Allgemeinen nicht zu einer weisen und maßvollen Politik einlädt, sondern im Gegenteil zu immer weiteren Eroberungen neuer Gebiete. Das hängt auch damit zusammen, dass die Armeen beschäftigt und unterhalten werden mussten und dass es viel Geld kostet, eine Armee zu unterhalten – zur Zeit des Philipps von Makedonien 30.000 Leute, zur Zeit des Augustus ca. 300.000, am Ende des Römischen Reiches ca. 600.000, das dann eben durch Eroberungen verdient werden musste, was aus den exploitierten Provinzen aber am Ende kaum noch herausgepresst werden konnte. Rationalität und das Irrationale begleiten sich auf diese Weise durch die ganze abendländische Kulturgeschichte. Auf den Aspekt, dass Rationalitätskultur nicht automatisch auch eine rationale Politik hervorbringt und auch nicht automatisch den rationalen Menschen, wie einige Philosophen und Ethiker annehmen, kommen wir zurück. Ich komme damit zum dritten und letzten Teil meiner Ausführungen: (3) Auswirkungen und Folgelasten der Kulturgeschichte der Rationalität auf unsere Gegenwart und ihre Probleme: die heutige Weltgesellschaft. Ich fasse meine Überlegungen in fünf Thesen zusammen: These 1: Die heutige Weltgesellschaft ist ein Produkt der Rationalitätsgeschichte und wird geprägt von ihrer Dominanz auf allen relevanten Kultursektoren. Wie wir bereits sahen, kann man die heutige Rechnergesellschaft als Erfüllung eines Programmes ansehen, das erstmals die Pythagoreer mit ihrer einfachen Mathematik formuliert haben: nämlich das Programm einer quantitativen Erfassung des Kosmos und einer Programmierung der Kultur auf ihre mathematische Erkennbarkeit und Berechenbarkeit hin. Dazu gehört wesentlich auch deren technische Umsetzung. Die Neuzeit hat dieses Programm mit Männern wie Galilei, Descartes, Hobbes, Leibniz aufgenommen, hat die ersten Rechenmaschinen erfunden, hat den Raum global geometrisiert, hat die Zeit uhrentechnisch rationalisiert und die Welt militärtechnisch in verschiedenen Phasen des Kolonialismus Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Unter Mitarbeit von Sabine Fick und Simone Pittl, 2 Teile, Wiesbaden 2014. Im Rahmen dieses umfänglichen Forschungsprojektes habe ich bereits die These entwickelt, dass „Das Imperium der Rationalität“sich in einer Langzeitgeschichte die einzelnen Imperien und ihrerAuf- und Untergänge hindurch „durchsetzt und fortentwickelt, bzw. die imperialen Machtzentren der Geschichte nur selbst dadurch zu solchen werden und sich als solche behaupten können, weil und wenn sie jeweilige Spitzenstandards der Rationalität adaptieren und weiter entwickeln“, (Bd. II, 1520).

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erobert und verwaltet. Sie hat auch die Zahlenlehre auf eine binäre Form gebracht, alles Grundlagen der Computertechnologie in unserer heutigen Weltgesellschaft. Diese erfüllt mithin in einem geradezu atemberaubenden Tempo eben jenes Rationalitätsprojekt, das die Antike angestoßen und die Neuzeit aufgenommen hat. Das Projekt durchdringt heute die Gesamtgesellschaft in der Form der Digitalisierung der menschlichen Denk- und Sprachprozesse, in der Rationalisierung und Digitalisierung der Produktionsprozesse – Stichwort Industrie 4.0 – in der digitalen Steuerung von Bauen und Wohnen – Stichwort smart city –, in der angeglichen geometrisierten Bauweise unserer Metropolen, in der globalen Verkehrsund digitalisierten Kommunikationstechnik. Insbesondere letztere haben die Welt zu einem Netzwerk zusammengezurrt, in dem praktisch jeder Ort auf der Erde von jedem anderen innerhalb von ein, zwei Tagen erreicht werden kann und virtuell sogar in Sekundenbruchteilen, also eine Art Schrumpfung der Welt zu einer Art „global village“, wie das schon vor Jahrzehnten Marshall McLuhan und auch Martin Heidegger prognostiziert haben. These 2: In dem Prozess, den die europäische Rationalitätsgeschichte bis zur heutigen Globalisierung durchlaufen hat, wie auch in der heutigen Weltgesellschaft, gibt es Rationalitätssieger und -verlierer. In der Kolonialgeschichte waren natürlich die erobernden Völker die Sieger, die unterworfenen die Verlierer. Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte zwar das Ende Europas als primärer Kolonialmacht, nicht aber das Ende der Kolonialpolitik selbst. Diese nahm allerdings andere Formen an. Wenn wir heute eine massive Form der Landnahme – „land grabbing“ – in Afrika beobachten können durch Länder wie China, Indien, aber auch westliche Länder und Firmen, so geschieht das nicht mehr primär in direkter militärischer Intervention, sondern in der Form eines Neokolonialismus durch das Scheckbuch.23 Agrarisch fruchtbare Landstriche und seltene Erden werden v. a. in Afrika gekauft, um in den eigenen Ländern deren Versorgungsprobleme, auch bei zunehmender Landtilgung durch Verstädterung, besser bewältigen zu können. Das ist nicht irrational von den Akteuren her, aber irrational von Seiten Afrikas und hängt natürlich auch zusammen mit der Korruption ihrer Eliten, die sich solche für ihre Völker lebenswichtige Rechte um der Selbstbereicherung willen abkaufen lassen. In dem Zusammenhang möchte ich noch auf eine These zu sprechen kommen, welche der Philosoph John Rawls aufgestellt hat und die ja auch viele andere Philosophen und Ethiker umtreibt: die These nämlich von der grundlegenden Rationalität des Menschen auch in ethischer Hinsicht. In seiner „Theory of Justice“ und anderen Texten entwickelt Rawls die 23 Siehe Fred Pearce, Land Grabbing. Der globale Kampf um Grund und Boden, München 2012. Darin heißt es: „Wie viel Land bisher dem Land Grabbing zum Opfer fiel und wie fest der Griff der Landnehmer ist, lässt sich nicht genau beziffern. Im Jahre 2010 nannte die Weltbank die Zahl von 47 Millionen Hektar. […] Wenige Wochen später [nach Mitte 2011] veröffentlichte die Hilfsorganisation Oxfam ihre Schätzung, die sich auf 227 Millionen Hektar belief. Die Wahrheit ist, dass es niemand weiß.“

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These, dass der Mensch als „rationale Person“ sich durch Selbsteinsicht und Selbstverpflichtung auf „Gerechtigkeitsgrundsätze“ einigen könne und leitet daher auch die Forderung wie auch Hoffnung ab, dass in der Gesellschaft „alle gesellschaftlichen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und soziale Grundlagen der Selbstachtung – […] gleichmäßig“ zu verteilen seien.24 Diese schöne ethische Utopie widerspricht aber den grundlegenden Befunden zur Rationalitätsgeschichte der Menschheit. In dieser nämlich ist Rationalität immer auch als Machtfaktor und Mittel der Vorteilnahme genutzt worden. Es ist nicht einmal sicher, ob auch ethisch ein solcher Verteilungsutopismus wünschenswert wäre, weil er letztlich auch die Unterentwicklung solcher Völker und Regionen festschreibt, die allererst durch Bildung einen höheren Rationalitätsstandard erreichen sollten. These 3 lautet: Rationalitätsvorsprünge korrelieren mit materiellem Reichtum, Rationalitätsrückstände mit Armut. Die Hauptquelle der Reichtumsmehrung in Antike und langen Phasen der Neuzeit war die Eroberung und Ausbeutung von Kolonien und deren Kulturen. Rom und auch spätere Kolonialmächte wie Spanien und Portugal produzierten selbst relativ wenige Waren. Bereits die römischen Provinzstatthalter wie auch die neuzeitlichen Kolonialmächte, insbesondere Spanien und Portugal, beuteten ihre Kolonien aus. Spanien insbesondere hat Schiffsladungen voll Gold und Silber aus Mittel- und Südamerika nach Europa verfrachtet.25 Diese Strategie der Eroberung und Ausbeutung tributärer Völker hat dann in der Spätantike auch der Islam übernommen und in seinen Herrschaftszonen eingesetzt. Die Hauptquelle des Reichtums in den modernen Industrienationen ist aber, wie schon Adam Smith erkannte, die industrielle Arbeit. Dabei ist der Hauptproduktivitätsfaktor moderner industrieller Arbeit nicht, wie Karl Marx meinte, die menschliche Arbeit an sich, sondern deren rationale Organisation. Man kann beinahe die Formel aufstellen: Je technisch fortschrittlicher organisiert, desto effizienter, bzw. je weniger rational organisiert, desto weniger produktiv – und wir fügen sogleich hinzu: im Rahmen der Rationalitätskultur. Dabei hat diese Rationalitätskultur eine geradezu unheimliche Tendenz zur Selbstperfektionierung, will sagen: rationalen Selbststeuerung der Industrieproduktion und ihrer technischen Produkte, wie die Industrie 4.0, aber auch die Tendenz zur „smart city“, zu selbstfahrenden und selbstgesteuerten Objekten anzeigt. Reichtum und Armut in der heutigen globalisierten Welt verteilen sich entscheidend nach dem Rationalitätsstandard dieser Länder und auch der Regionen innerhalb der Länder, und

24 Zitiert in H. L. A. Hart, Rawls über Freiheit und ihren Vorrang, in: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 2006, 119. 25 Siehe dazu: Ward Barrett, World Bullion Flows 1450–1800, in: James D. Tracy, The Rise of Merchant Empires, Cambridge 1990, 224–254. Kaiser Karl V. kaufte seine Kaiserwahl von 1519, indem er seinem Bankier Jakob Fugger das Geld zum Kauf der Kurfürsten in der Form von Rechten zur Minenausbeute in Südamerika rückerstattete.

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Rationalität als zentrales Narrativ der Weltgesellschaft?

das umfasst sowohl den ökonomischen Produktionssektor wie auch die rationale Organisation des Staates oder deren Teilen.26 Dazu gehören natürlich auch Dienstleistungen, wie die ärztliche Versorgung auf hohem Niveau medizinischen Wissens, medizinischem Gerät u. a. Der Standard der medizinischen Versorgung definiert ja auch den Wohlstand eines Landes. Programme wie das United Nations Development Program zeigen an, dass 90 % des Reichtums der Erde in den Händen von Ländern der nördlichen Erdhemisphäre erzeugt werden und zwar mit den Schwerpunkten USA, Kanada, Europa, China, Japan, Südkorea, während große Teile Afrikas südlich der Sahara, Indiens und auch Südasiens von „mehrdimensionaler Armut“ betroffen sind – und dies gemessen an den Indices Bildung, Gesundheit, Lebensstandard, die eben vom Stand der rationalen Entwicklung eines Landes und damit seiner Finanzkraft abhängen.27 Das wird auch auf unabsehbare Zeit so bleiben, weil Rationalitätsvorsprünge schwer einzuholen sind und je höher entwickelt, desto weniger, die auf Rationalität beruhende Zivilisation in ihren verschiedenen Facetten aber – und dies auch auf unabsehbare Zeit – die dominante Weltkultur definiert –, ob uns das genehm ist oder nicht. Dabei zeigt sich, dass Wohlstand in der rationalen Zivilisation nicht notwendig mit Demokratie korreliert. Der Lebensstandard im totalitären China ist um ein Vielfaches höher als im demokratischen Indien, nämlich 8200 gegenüber 1700 US-Dollar pro Kopf und Jahr.28 China gibt auch mehr Geld für Gesundheit, Freizeit, Bildung aus als Indien, eben weil es ein höheres BIP produziert. Möglicherweise wird auch der Kampf gegen Korruption in China schärfer geführt als in Indien. Aus These 3 folgt These 4: Armutsdifferenzen werden sich mit der Entwicklung der Rationalitätskultur auf der Erde noch vergrößern. Das bedingt eine Zunahme der Armutsmigration in der Weltgesellschaft. Wenn es richtig ist, dass ein Spitzenplatz in der Rationalitätskultur auch materiellen Wohlstand garantiert, dieser aber schwer zu erreichen ist, wird es auf unabsehbar lange Zeit auch Armutsregionen auf der Erde dort geben, wo die ökonomische Rationalität nicht in 26 Davon unabhängig ist die Diskussion, die der französische Ökonom Thomas Picketty angestoßen hat, ob nämlich die Erträge aus Kapitalspekulationen rascher wachsen als die Gesamtwirtschaft und Formen der produktiven Arbeit. Dabei erkennt auch Picketty an, dass es Rationalitätsstandards sind, die für die Einkommensskalen ausschlaggebend sind: „Auf lange Sicht sind Bildung und Technologie für die Lohngestaltung die ausschlaggebenden Kräfte.“ Thomas Picketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, 405. Gleichwohl stellt das Problem der Ungleichverteilung in der Welt ein Hauptproblem der heutigen Weltgesellschaft dar. Nach dem neuen Oxfam-Bericht von 2017 besitzen die acht reichsten Männer der Welt, die übrigens ihren Reichtum über die neuesten Kommunikationstechnologien angehortet haben, so viel wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. Das ist zwar eine Nutzung von Rationalität, aber mit höchst irrationalen Folgen. 27 Zum neuen Armuts-Index des UNDP siehe: https://www.kfw-entwicklungsbank.de/Download-Center/PDFDokumente-Development-Research/2010_08_EK_Lepenies-MPI_D.pdf (abgerufen 15. 6. 2017). 28 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19411/umfrage/bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-in-indien/und https://de.statista.com/statistik/daten/studie/19407/umfrage/bruttoinlandsprodukt-pro-kopf-in-china/ (abgerufen 1. 1. 2017).

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Silvio Vietta

der Form einer entwickelten Eigenproduktivität und rationaler Organisation ziviler Formen des Staates zum Zuge kam und kommt, dies umso mehr, als in den Armenhäusern der Weltgesellschaft wie Südostasien und Mittelafrika, die Fertilität und daher der Bevölkerungszuwachs am größten ist. Das heißt ja auch, dass jeglicher Produktivitätszuwachs in solchen Ländern sogleich von der Bevölkerungsvermehrung verzehrt wird. Bereits Mitte des 21. Jahrhundert wird sich laut Prognosen die Bevölkerung Afrikas auf über 2 Milliarden verdoppeln und bis Ausgang des Jahrhunderts noch einmal auf über 4 Milliarden. Die Bevölkerung Afrikas wird dann die größte der Weltgesellschaft sein, ihr Anteil steigt von aktuell 16 % auf knapp 40 %.29 Man muss kein Visionär sein, um zu sehen, was daraus folgen wird: große Migrationsbewegungen aus den Armutsregionen in die Wohlstandsregionen der Weltgesellschaft. Ich sehe auch die Fundamentalisierung von Religion als eine Reaktion auf Rationalitätsdefizite will sagen: Armut solcher Regionen.30 Europa und andere Wohlstandsregionen in der nördlichen Erdhemisphäre werden in diesem Jahrhundert noch mit ganz anderen Immigrationswellen zu kämpfen haben als der von 2015. Zur letzten 5. These: Welche rationale will sagen: sinnvolle und vernünftige Politik lässt sich aus diesen Entwicklungen ableiten? Ich denke, dass auf lange Sicht die Rationalitätsentwicklung auf der Erde von einer reflexiveren und nachhaltigeren Form von Rationalität betrieben werden muss, sehr viel vorsorglicher auch in Bezug auf Länder der Dritten Welt, wenn die Menschheit auf diesem Planeten mit seinen endlichen Ressourcen auf Dauer überleben und nicht in schreckliche humanitäre Katastrophen hineinschlittern will. Das heißt: Nicht gegen die rationale Wissenschaft und Technik, sondern mit diesen und im Rahmen von möglichst rationalen zivilen politischen Strukturen nationaler Regierungen sowie Governance-Strukturen im übernationalen globalen Rahmen. Dazu finden sich gewichtige Vorschläge in diesem Band.

29 https://www.welt.de/politik/deutschland/article144603847/Afrikas-Bevoelkerung-vervierfacht-sich.html (abgerufen 1. 1. 2017). 30 Ich würde in diesem Punkt der Huntington-These vom „Clash der Kulturen“ aus Religionsgründen widersprechen, insofern die Radikalisierung der Religion, insbesondere des Islam, bereits eine Folge eines Rationalitätsrückstandes dieser Kulturen ist und daher mit der Fundamentalisierung der Religion kompensiert werden soll.

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II. Handel, Finanzen, Wirtschaft und Migration

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Die geltende Welthandelsordnung im Spiegel der regionalen Integrationsabkommen I. Begriffliche Abgrenzung Die Soziologen und Politologen verstehen unter dem Begriff „Weltgesellschaft“ ein „Sozialsystem, das alle Kommunikationen und Handlungen in der Welt aufeinander bezieht und sie füreinander zugänglich macht“1. Die Ökonomen sprechen von „Weltwirtschaftsordnung“, wenn sie sämtliche Wirtschaftsbereiche in ihrer weltweiten Vernetzung betrachten, und von „Welthandelsordnung“ oder „internationaler Handelsordnung“, wenn es sich um die Außenhandelsbeziehungen zwischen den Staaten beziehungsweise den autonomen Zollgebieten innerhalb der „Weltwirtschaftsordnung“ handelt.2 Der erste Abschnitt des Beitrags zeigt an einzelnen Beispielen, wie die gegenwärtigen Integrationsbemühungen weit in die Vergangenheit zurückreichen. Gegenstand des zweiten Teils ist das Entstehen der heutigen Welthandelsordnung im Rahmen des Allgemeinen Zollund Handelsabkommens („General Agreement on Tariffs and Trade“, GATT). Die anschließenden Ausführungen verdeutlichen drittens, wie zurzeit die ursprüngliche Welthandelsordnung durch das Entstehen regionaler Integrationsabkommen aus dem Lot gerät. Der Beitrag schließt mit Reformvorschlägen zur Frage der gegenseitigen Aufeinanderabstimmung der geltenden Welthandelsordnung und des gegenwärtig wachsenden Regionalismus.

II. Die Integration vor und nach dem Ersten Weltkrieg Die ersten Integrationsbestrebungen der neueren Zeit beschränkten sich auf landesinterne Märkte und politisch nahestehende Gebiete. Auf das Jahr 1707 geht das Zollabkommen zwischen England und Schottland und auf 1801 der Zollvertrag zwischen England und Irland zurück. Im Jahr 1775 entstand das vereinheitlichte Zollgebiet zwischen den österreichischen Kronländern, mit Ausnahme einer Vereinbarung zwischen Österreich und Ungarn. Die Französische Revolution von 1789 beseitigte die Zollgrenzen innerhalb Frankreichs. In Preu-

1 Wikipedia unter „Weltgesellschaft Handbuch“ (abgerufen 1. 9. 2017). 2 In der soziologischen Systemtheorie würde es sich bei der Welthandelsordnung um ein „Teilsystem“ bzw. um ein „Funktionssystem“ handeln (vgl. „Funktionale Differenzierung“ – Wikipedia). Siehe hierzu auch den Beitrag von Michael Corsten in diesem Band.

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ßen fielen die Schlagbäume zwischen den staatseigenen Gebieten im Jahr 1818 und in der Schweiz 1848. 1. Vor dem Ersten Weltkrieg Der erste grenzüberschreitende Integrationsvertrag trat unter dem Namen „Deutscher Zollverein“ in der Neujahrsnacht 1833/34 in Kraft.3 Der Deutsche Zollverein löste den Preußisch-Hessischen Zollverein, den Mitteldeutschen Handelsverein und den Süddeutschen Zollverein ab. Im Gründungsjahr gehörten dem Deutschen Zollverein Preußen, HessenDarmstadt und Hessen-Kassel, Bayern, Württemberg, Sachsen sowie der Zoll- und Handelsverein der Thüringischen Staaten an. Später traten Baden, Nassau, Frankfurt, Braunschweig, Luxemburg, Hannover und Oldenburg dem Deutschen Zollverein bei. Hamburg, Bremen und Lübeck verpflichteten sich dem Zollverein unter Aufrechterhaltung ihrer Freihäfen außerhalb des deutschen Zollgebiets. Auf eine Mitgliedschaft verzichteten Österreich, Liechtenstein, Holstein und Mecklenburg.4 Sämtliche Vorschläge, den geltenden Deutschen Zollverein zu vertiefen und auf weitere Märkte auszuweiten, scheiterten am preußischen Widerstand. Otto von Bismarck (1815–1898, Ministerpräsident Preußens 1862–1890 und Reichskanzler des Deutschen Reichs 1871–1890) verweigerte sich allen Neuerungen, welche die Vorherrschaft Preußens beziehungsweise des Deutschen Reichs hätten beeinträchtigen können. Bekannt ist in diesem Zusammenhang Bismarcks Äußerung: „Ausserdem hatte ich damals allgemein und habe ich auch heut noch sporadisch nicht das nöthige Vertrauen zu undeutschen Unterbeamten im Osten.“5 Der Deutsche Zollverein endete mit dem Ersten Weltkrieg und der 1919 erfolgten Neuordnung der Landesgrenzen. Die damalige Bezeichnung „Zollverein“ entspricht nach heutiger Terminologie einem „partiellen Völkerrechtsvertrag“, der die Zölle der beteiligten Staaten gegenüber Drittpartnern vereinheitlicht und den Binnenhandel zwischen den Vereinsmitgliedern von Zöllen befreit. „Partiell“ ist der Vertrag in dem Sinne, dass die internen Grenzkontrollen zur Einforderung der unterschiedlichen Monopolabgaben und Verbrauchssteuern nicht aufgehoben werden.

3 Ab 1867 mit einem vom Volk direkt gewählten Zollparlament und einem von den Regierungen bestellten Zollbundesrat. Vgl. Ignaz Seidl-Hohenveldern/Gerhard Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, Köln u. a. 1992, Rz 0209. 4 Ein großes Verdienst um den Deutschen Zollverein kommt dem Ökonomen Friedrich List (1789–1846) zu, der in der an den Bundestag gerichteten Eingabe des Vereins Deutscher Kaufleute und Fabrikanten beklagte: „Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern […]. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchreisen, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen […].“ Zitiert nach: Wolf Julius, Vorläufer und Parallelen einer europäischen Zollunion, in: Hanns Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion, Berlin 1926, 10–11. 5 Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. I, Stuttgart 1898, 86.

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Der französische Politiker und Ökonom Léon Faucher (1803–1854) reagierte 1837 auf den Deutschen Zollverein mit der „Union du Midi“, einer Gegenorganisation, der Frankreich, Spanien, die Schweiz und Belgien angehören sollten. „Kooperation statt Kampfansage“ forderte der Elsässer Graf Paul de Leusse (1835–1906) in seiner Veröffentlichung von 1888 „Der Frieden mittels des deutsch-französischen Zollvereins“6. Das Ziel eines mitteleuropäischen Handelsverbundes sei nicht im Sinne Fauchers, Vergeltungsmaßnahmen zu schaffen. Vielmehr gehe es darum, die politischen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich abzubauen. Bemerkenswert ist der Integrationsvorschlag des damaligen österreichischen Handelsministers Karl Ludwig von Bruck (1798–1860, Handelsminister 1848–1851) in den Jahren 1849/50. Brucks Plan war, eine „Mitteleuropäische Zolleinigung“ zwischen Deutschland und Österreich anzustreben. Eine „Zolleinigung“ habe sich indessen nicht allein auf den Abbau der relativ hohen Zölle und der vielen regionalen Zollschranken zu begrenzen. Die Aufgabe eines solchen Projekts sei die gleichzeitige Vergemeinschaftung der deutschen und österreichischen Währungs- und Steuersysteme.7 Auf das Jahr 1860 geht schließlich der zwischen Frankreich und England abgeschlossene Cobden-Vertrag zurück. Die beiden Handelspartner verpflichteten sich zur gegenseitigen Reduktion der Zölle sowie zur gemeinsamen Einhaltung des Prinzips der Nichtdiskriminierung (des Meistbegünstigungsprinzips, wonach Zugeständnisse und Vorteile, die einem Handelspartner zugestanden werden, unverzüglich und bedingungslos allen Vertragspartnern für gleiche und gleichartige Güter und Dienstleistungen auch gewährt werden). In den folgenden Jahren traten Belgien, Italien und die Schweiz dem Cobden-Vertrag bei. Der „Cobden-ähnliche“ Zollvertrag, den Frankreich im Jahr 1862 mit dem Deutschen Zollverein eingegangen war, endete mit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Den Vertrag mit England kündigte Frankreich im Jahr 1892. 2. Nach dem Ersten Weltkrieg Während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Politik, Kultur und Wirtschaft Stimmen laut, die internationale Zusammenarbeit aufs Neue zu intensivieren. Nur über internationale Friedensanstrengungen sei eine nochmalige Tragödie zwischen den einzelnen Staaten zu verhindern. Auf politischer Ebene entstand im Jahr 1920 der Völkerbund. Die rund 50 Gründungsmitglieder und später beitretenden Länder verpflichteten sich zur schiedsgerichtlichen Beilegung von internationalen Konflikten sowie zur Sicherung des 6 Paul von Leusse, Der Frieden mittelst des deutsch-französischen Zollvereins, Straßburg 1888. Titel der französischen Veröffentlichung: „La Paix par l’union douanière franco-allemande“. Graf Paul de Leusse, Vertreter des Landadels, Politiker und Verfasser von wirtschaftspolitischen Schriften. 7 Vgl. sog. „Denkschriften“ Brucks vom 26. 10. und 30. 12. 1949 sowie 30. 5. und 29. 12. 1850. Weitere geschichtliche Hinweise zu den Integrationsbestrebungen der letzten zwei Jahrhunderte finden sich in: Wolf Julius, Vorläufer und Parallelen einer europäischen Zollunion, in: Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion, 9–22.

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Friedens über die Abrüstung.8 Kulturelle Kreise gründeten 1921 den heute noch bestehenden Autorenverband P.E.N. (Poets, Essayists, Novelists). Mit Blick auf die Schreckensjahre 1914/18 bemühte sich P.E.N., möglichst viele Nationen einzubinden, um über die internationale Gemeinsamkeit Völkerverständigung und Frieden zu fördern.9 Wie in Politik und Kultur standen auch in der Wirtschaft grenzüberschreitende Integrationsprojekte zur Diskussion. Einen hohen Bekanntheitsgrad erzielte die von Friedrich Naumann (1860–1919) im Jahr 1915 veröffentlichte Arbeit „Mitteleuropa“.10 Unter „Mitteleuropa“ versteht Naumann den Zusammenschluss vom Deutschen Reich und der österreichisch-ungarischen Monarchie. In Anlehnung an den seinerzeitigen Vorschlag des österreichischen Handelsministers Bruck fordert Naumann einen gemeinsamen Markt, in dem neben den Zöllen ebenso die ländereigenen Währungs- und Steuersysteme sowie die nationalen Wettbewerbs-, Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen aufeinander abzustimmen seien.11 Dem heutigen Ökonomen fällt es indessen schwer zu verstehen, warum Naumann die Kleinbetriebe und das lokale Gewerbe vom Auslandwettbewerb ausnimmt. Zudem bedrückt zu lesen, mit welcher Begeisterung Naumann den Ersten Weltkrieg als notwendiges Mittel eines „dauernden Bundes“ beurteilt, als „Schöpfer einer mitteleuropäischen Seele“ preist und über alledem seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass „Krieg vereint“.12 Ebenfalls in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen ist die 1922 von Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi (1884–1972) gegründete „Paneuropa-Union“. In Anlehnung an Bruck und Naumann versucht Coudenhove-Kalergi ganz Europa zu vereinen und zu konstituieren, „um seine Wirtschaft, Kultur und Geistigkeit zu retten […]“.13 Dessen Vorschlag, im Sinne Nordamerikas die „Vereinigten Staaten von Europa“ anzustreben, wurde jedoch in der Fachliteratur nicht unbesehen hingenommen. Theodor Heuss (1884–1963, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland 1949–1959) meinte in einer Stellungnahme von 1926 zu Coudenhove-Kalergis Vorschlag, es habe geradezu etwas Schmerzliches, „die Zug um Zug vom Landmesser hergerichteten westlichen Staaten der Union, die sich mit Auswande  8 Nachdem der Völkerbund nicht in der Lage war, die Kriege Japan – China und Italien – Abessinien sowie den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, beschlossen die 34 noch verbliebenen Mitglieder nach Ende des Zweiten Weltkriegs, den Völkerbund mit sofortiger Wirkung aufzuheben.   9 P.E.N. setzt sich für die freie Meinungsäußerung ein, kämpft gegen die Zensur, Inhaftierung und Ermordung von Publizisten und schützt Autoren vor Verfolgung. 10 Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915. 11 Ebd., 199. 12 Naumann, Mitteleuropa, 3, 4 und 11. Kriegsbegeistert waren damals v. a. die Studenten und die intellektuellen Kreise, die nach neuerer Geschichtsschreibung kaum 1 % der Bevölkerung ausmachten. Dass seinerzeit die kritischen Stimmen nicht in die Geschichte eingingen, ist u. a. auf die zu Kriegsbeginn in Deutschland und Österreich erlassenen Zensurbestimmungen zurückzuführen. Kriegskritische Stimmen durften von den Medien nicht übernommen werden. Vgl. Barbara Galaktionow, Allgemeine Kriegsbegeisterung ist eine Mär, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin, 6. 8. 2014. 13 Theodor Heuss, Der Einfluss von Krieg und Frieden auf das europäische Problem („Mitteleuropa“ – „Paneuropa“), in: Heiman, Europäische Zollunion, 33.

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rern aus aller Herren Ländern, aller Vergangenheit ledig, schnell füllen, in einem Atem mit den national gebundenen und geschichtlich überlasteten Staaten Europas zu nennen“.14 Trotz dieser Kritik war es Coudenhove-Kalergis Verdienst, nach dem Ersten Weltkrieg als erster die Diskussion über eine Europäische Integration wieder aufzunehmen.15 Aber sowohl der Vorschlag von Coudenhove-Kalergi als auch das Projekt der beiden französischen Politiker Édouard Herriot (1872–1957) und Aristide Briand (1862–1932) von 1930, die europäischen Länder in einer „Politischen Organisation“ zusammenzufassen, gingen in den 1930er Jahren im Lärm des aufkommenden Nationalismus und der weltweit zunehmenden Aufrüstung unter.16 Rückblickend betrachtet, trieb die Diskussion über die Schaffung von Wirtschaftsbündnissen und grenzüberschreitenden Wirtschaftsräumen nach dem Ersten Weltkrieg seltsame Blüten. Je nach ausgewählten Märkten war die Rede von Mitteleuropa, Donauraum, Zwischeneuropa, Paneuropa mit oder ohne England etc. Die Autoren der Vorschläge bedienten sich auffallend oft des Militärjargons und sprachen von „Fronten“ anstelle von Landesgrenzen und von „Verteidigungsstellungen“, wenn sie handelspolitische Maßnahmen meinten. Der österreichische Ökonom Gottfried Haberler (1900–1995) bezeichnet die Vorschläge dieser Zeit als „Konstruktionen, die politische, geografische und pseudowirtschaftliche Argumente durcheinanderwerfen“.17 Ähnliche Integrationsbestrebungen wie in Europa finden sich auch in den USA. Das „Reciprocal Trade Agreements Act 1934“ ermächtigte die US-Exekutive, Integrationsabkommen mit ausländischen Handelspartnern abzuschließen. In den Jahren 1934 bis 1945 kam es aufgrund dieses Gesetzes zu insgesamt 32 internationalen Handelsverträgen, die anfänglich v. a. das Meistbegünstigungsprinzip zum Gegenstand hatten, bald aber Teil der nationalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden und vom Prinzip des Freihandels abrückten.18

III. Die Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg Wie nach dem Ersten, folgten auch nach dem Zweiten Weltkrieg Jahre der Sehnsucht nach Frieden, gegenseitiger Versöhnung, Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit. Aber im Gegensatz zu dreißig Jahren vorher, tat sich nach dem zweiten Kriegsgeschehen ein Graben zwischen dem Westen und dem Osten auf. Das Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat verhin14 Theodor Heuss, Der Einfluss von Krieg und Frieden, in: Heiman, Europäische Zollunion, 34. 15 Die von Coudenhove-Kalergi 1922 gegründete Vereinigung „Paneuropa-Union“ ist 1933 von den Nationalsozialisten Deutschlands verboten und nach dem Zweiten Weltkrieg erneut gegründet worden. 16 Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rz 0219. 17 Gottfried Haberler, Der internationale Handel, Berlin 1933, 283 und 288. 18 Zu „Reciprocal Trade Agreements Act 1934“ vgl. John H. Jackson, World Trade and the Law of GATT, Indianapolis u. a. 1969; Richard Senti, WTO. System und Funktionsweise der Welthandelsordnung, Zürich – Wien 2000, Rz 21 ff.

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derte eine wirksame Aufrechterhaltung des Weltfriedens.19 Als Reaktion auf die im Westen 1948 gegründete „Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OEEC) entstand ein Jahr darauf der „Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe“ im Osten (RGW, COMECON). Und als Antwort auf den westlichen „Nordatlantikpakt“ von 1949 (NATO) kam es in den Oststaaten zum „Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ (Warschauer Pakt von 1955). Unmittelbar nach Kriegsende veröffentlichte das „US Departement of State“ die Vorschläge einer künftigen Welthandelsordnung, die „Proposals for Expansion of World Trade and Employment“. Der Vertragsentwurf erschien im Herbst 1946 unter dem Titel „Suggested Charter for an International Trade Organization of the United Nations“. Die letzte Verhandlungsrunde begann im November 1947 und endete im März 1948 mit der Unterzeichnung der „Havana Charter for an International Trade Organization“. Kapitel IV der Havanna Charta bildet die Grundlage des am 1. Januar 1948 provisorisch in Kraft getretenen „Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens“ (GATT). Die Entstehungsgeschichte der heute geltenden Welthandelsordnung verdeutlicht, wie im Verlauf der Verhandlungen systemwidrige Elemente in die Vereinbarung eingingen. Diese Sonderbestimmungen haben im Verlauf der Jahre zu einem anfänglich eher bescheidenen, mit der Zeit jedoch zu einem immer stärkeren Auseinanderdriften der allgemeinen Welthandelsordnung und der Ordnung der regionalen Integrationsabkommen beigetragen. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die integrationsrelevanten Aspekte der einzelnen Verhandlungsstufen. 1. Die „Proposals“ Im November 1945 regte das „US State Departement“ mit seinen „Proposals for Expansion of World Trade and Employment“ eine internationale Konferenz über Handel und Beschäftigung an. Das Ziel der Konferenz war, die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder aufeinander abzustimmen. In einer Zeit, in der die Handelspartner ihre Wirtschaftsbeziehungen neu auszurichten hätten, gehe es darum zu verhüten, dass sich die Welt in separate Wirtschaftsblöcke aufteile.20 Es liege in der Macht der jeweiligen Staaten, die aus der Kriegszeit verbliebenen übermäßigen Handelshemmnisse („excessive governmental barriers“) auszuräumen. Dies werde dazu beitragen, dass immer mehr Schiffe mit größeren Frachten verkehrten, mehr Männer und Frauen Arbeit fänden, mehr Güter produziert würden und die Nahrungs-, Bekleidungs- und übrigen Konsummöglichkeiten verbessert werden könnten.21 19 Seidl-Hohenveldern/Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rz 0221. 20 „[…] in order that the world may not separate into economic blocs“, in: US Department of State, Proposals for Expansion of World Trade and Employment, Publication 2411, Washington DC 1945, Foreword. 21 „When that happens and to the extent that it happens, more ships will sail with fuller cargoes, more men will be employed, more goods will be produced, and more people will have better things to eat and wear and otherwise consume.“, in: US Department of State, Proposals for Expansion of World Trade and Employment, Publication 2411, Washington DC 1945, 4.

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Die von den USA angeregte Konferenz schlug die Schaffung einer „Internationalen Handelsorganisation“ („International Trade Organization“, ITO) vor22. Dieser Organisation komme die Aufgabe eines internationalen Zentrums für die Gestaltung des Welthandels zu. Als Kernelemente der künftigen Ordnung erwähnen die „Proposals“ die Einhaltung der Prinzipien der Meistbegünstigung und der Inlandgleichbehandlung sowie den Abbau von Zöllen und mengenmäßigen Handelsschranken. Erstmals kommen in dieser Verhandlungsphase die Erleichterung des unmittelbaren Grenzverkehrs und die Schaffung von Zollunionen zur Sprache. Kap. III Sec. H, Ziff. 2 der „Proposals“ hält fest, die künftigen Vertragsbestimmungen sollen ein ITO-Mitglied nicht daran hindern, unter bestimmten Voraussetzungen Zollunionen mit Vertragspartnern bilden zu dürfen.23 2. Die „Suggested Charter“ Die im folgenden Jahr erzielten Verhandlungsergebnisse finden sich in der von der US-Regierung im September 1946 veröffentlichten „Suggested Charter for an International Trade Organization of the United Nations“. Die vorgesehene Charta wird als Vorschlag der Vereinten Nationen (UNO) angekündigt. Der Bezug zur UNO ist – wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird – für das Verständnis der vorgeschlagenen Integrationspolitik von Bedeutung. Im Hinblick auf die Beziehungen der künftigen Welthandelsordnung zu den Integrationsbestrebungen der einzelnen ITO-Mitglieder sind drei Sachverhalte von Bedeutung: Erstens erlaubt Art. 8.2 der Charta die Beibehaltung der am 1. Juli 1939 zwischen den künftigen Partnern des Abkommens geltenden Präferenzen. Es geht um die Vereinbarungen zwischen den USA und Kuba, zwischen Großbritannien und den Commonwealth-Ländern, zwischen Frankreich und den überseeischen Gebieten, zwischen den BNL-Staaten und ihren Kolonien sowie zwischen Chile einerseits und Argentinien, Bolivien und Peru andererseits. Diese Ausnahmen konnten den USA und Großbritannien nicht ausgeschlagen werden. Ohne Teilnahme dieser beiden Handelspartner wäre die Schaffung einer neuen Welthandelsordnung nicht denkbar gewesen. Art. 33.2(a) des Vertragsentwurfs übernimmt zweitens den Vorschlag der „Proposals“ im Hinblick auf Handelserleichterungen im unmittelbaren Grenzverkehr. Es handelt sich um den örtlichen Handel in Dörfern und Städten, die von Landesgrenzen durchschnitten werden.24 22 „The Organization should be designed as the central international agency to deal with trade. It should be brought into relation with the Economic and Social Council in the manner provided in the Charter of the United Nations.“ US Department of State, Proposals for Expansion of World Trade and Employment, Publication 2411, Washington DC 1945, Analysis, Kap. V. 23 Abs. C, Kap. III, Sec. H, Ziff 2 der „Proposals“: „The provisions of Chapter III should not prevent any member a) from according advantages to adjacent countries in order to facilitate frontier traffic or b) from joining a customs union, provided that such customs union meets certain agreed criteria. […].“ 24 In einem Radius von ca. 15 km. Vgl. Jackson, World Trade and the Law of GATT, 581.

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Drittens wiederholt Art. 33.2(b) des Entwurfs die in den „Proposals“ bereits erwähnte Schaffung einer Zollunion. Unter „Zollunion“ versteht die „Suggested Charter“ das Ersetzen von zwei oder mehreren Zollgebieten durch ein einziges Zollgebiet, das Zusammengehen von zwei oder mehreren Territorien zu einem gemeinsamen Territorium. Dabei sind bei der Bildung einer Zollunion die internen Zölle und anderen Handelshemmnisse zwischen den Territorien des Zusammenschlusses aufzuheben und die Handelsbestimmungen gegenüber den Nicht-Mitgliedern der Union zu vereinheitlichen.25 Die Zollunion darf nicht dazu missbraucht werden, die Zölle oder andere Handelshemmnisse gegenüber Drittpartnern anzuheben. Auch hat sich die Zollunion auf annähernd den gesamten Handel zu beziehen. Zollunionsähnliche Abmachungen für einzelne Handelsprodukte oder Produktgruppen sind nicht erlaubt. Dass die „Suggested Charter“ das Zusammengehen von zwei oder mehreren Territorien als „Zoll“-Union bezeichnet, erklärt sich durch die Bedeutung der Zölle in der Nachkriegszeit im Ausmaß von 40 bis 50 % des Handelswertes. Die Zölle bildeten ein wesentliches Merkmal der Gebiets-Eigenständigkeiten. Die Bezeichnung „Zoll“-Union weist somit auf die Absicht des territorialen Zusammenschlusses, die Schaffung eines gemeinsamen Gebiets hin. Die von den Entwicklungsländern in den Verhandlungen über die „Suggested Charter“ geforderten regionalen Präferenzen haben bei den übrigen Verhandlungspartnern kein Gehör gefunden. In einer Zeit, in der man sich um den Abbau der gegenseitigen Bevorzugung und Nichtdiskriminierung bemühe, gehe es nicht an, neue regionale Präferenzen zu schaffen.26 3. Die „Havana Charter“ Die in den „Proposals“ vorgeschlagene und in der „Suggested Charter“ ausformulierte Welthandelsordnung fand in der Havanna-Konferenz vom November 1947 bis Ende März 1948 ihre Schlussfassung. Am 24. März 1948 unterzeichneten 54 Staaten die „Havana Charter for an International Trade Organization“. Die Havanna Charta weicht im Integrationsbereich in zwei Bereichen von der „Suggested Charter“ ab. In Art. 15 erlaubt die Charta den Entwicklungsländern, „[…] zum Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung und des Wiederaufbaus“ Präferenzabkommen abschließen zu dürfen. In Art. 44 weitet die Charta das Recht, Zollunionen zu schaffen, auf die Freihandelszonen aus. 25 Art. 33.4 der „Suggested Charter“: „A union of customs territories for customs purposes shall be understood to mean the substitution of a single customs territory for two or more customs territories, so that all tariffs and other restrictive regulations of commerce as between the territories of members of the union are substantially eliminated and the same tariffs and other regulations of commerce are applied by each of the members of the union to the trade of territories not included in the union.“ 26 William Adams Brown Jr., The United States and the Restoration of World Trade, Washington DC 1950, 72–73.

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Bei den Präferenzen zugunsten der wirtschaftlich schwachen Staaten handelt es sich um ein politisches Zugeständnis. Die Vereinbarungen hätten sich auf eine bestimmte Region zu beziehen und seien zeitlich zu beschränken. Sie dürften eine Dauer von zehn Jahren nicht überschreiten.27 Die den Entwicklungsländern gewährten Präferenzen weckten bei den übrigen Verhandlungsdelegierten der Havanna-Konferenz Begehrlichkeiten. Und so stand die Gewährung von Präferenzen beziehungsweise die Schaffung von Freihandelszonen zur Diskussion. Für Freihandelszonen sprachen sich folgende Handelspartner aus: Dänemark, Tschechoslowakei, Haiti, Chile, Libanon, Indien, Türkei, Syrien, Ekuador, Irak, Argentinien, Ägypten, Burma, Salvador und Venezuela. Die Belgier unterbreiteten am 7. Januar 1948 den Delegierten der Havanna-Konferenz den Vorschlag, regionale Präferenzräume unter der Bedingung zu erlauben, dass die Zölle gegenüber Dritten nicht angehoben würden und die Präferenzen Drittpartnern auf deren Antrag hin auch zu gewähren seien.28 Am folgenden Tag setzten sich Libanon und Syrien für die Freihandelszone29 ein. Sie verlangten für alle ITO-Mitglieder das Recht auf Schaffung zollfreier Räume, ohne gleichzeitig ihre Zollhoheit aufgeben und einheitliche Außenzölle einführen zu müssen. Auf diese Weise könnten Freihandelsräume entstehen, welche die nationalen Gefühle („nationalistic feelings“) der ITO-Mitglieder nicht verletzten. Die Verhandlungsdelegierten stimmten schließlich dem Vorschlag Libanon/Syrien zu. Frankreich angeblich mit Blick auf künftige Integrationsmöglichkeiten in Europa. Die USA standen dem Recht auf Freihandelszonen skeptisch gegenüber. Dass sie trotzdem dem Antrag Libanon/Syrien zustimmten, erklären sich die Kommentatoren der HavannaVerhandlung dadurch, dass die US-Delegation in den Schlussverhandlungen die Ablehnung des Vertrags durch den US-Kongress wegen der vielen Ausnahmen bereits vorausahnte und aufgrund dieser Perspektive den Widerstand gegen weitere Vertragsveränderungen aufgab. Die Zustimmung erfolgte letztlich mit dem Argument, neue Präferenzen würden das Entstehen von Zollunionen begünstigen (was sich bis heute noch nie bewahrheitet hat).30 Die vielen Ausnahmebestimmungen, die im Verlauf der Verhandlungen in die Havanna Charta Eingang fanden, führten schließlich in der Tat zu einem Welthandelskonzept, das den ursprünglichen US- beziehungsweise Cordell Hull-Vorgaben über weite Strecken wi27 Art. 15.4 und Art. 15.5 Havanna Charta. Vermutlich kam es zu dieser Kehrtwende aus politischen Erwägungen und/oder weil den Präferenzen zugunsten der Entwicklungsländer handelspolitisch keine große Bedeutung zugemessen wurde. 28 Brown, The United States and the Restoration of World Trade, 155–156. 29 Mit gleicher Bedeutung werden die Bezeichnungen Freihandelsabkommen, Zollgemeinschaft, Präferenzabkommen („preferential agreement“), regionales Handelsabkommen („regional trade agreement“) und wirtschaftliche Partnerschaft verwendet. 30 Zur Diskussion über die Aufnahme der Freihandelszone in die Havanna Charta vgl. Brown William Adams Jr., The United States and the Restoration of World Trade, Washington DC 1950, 155; Clair Wilcox, A Charter for World Trade, New York 1949, 71; Jackson, World Trade and the Law of GATT, 42–51; Michael A. Heilperin, How the U. S. Lost the ITO Conferences, in: Fortune (September 1949), 80–82.

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dersprach. Die US-Monatszeitschrift „Fortune“ kam in ihrem Urteil über das vorliegende Vertragswerk zu dem Schluss: „The charter is all exceptions“.31 Bei den Sonderregelungen handelte es sich um Importbeschränkungen zum Schutz der Zahlungsbilanz und der Vollbeschäftigung, um Maßnahmen zum Vorteil der Landwirtschaft und der Schifffahrt, zu Präferenzen zugunsten der wirtschaftlich schwachen Staaten, und über alledem zum Recht auf Freihandelszonen und damit zur Missachtung des Meistbegünstigungsprinzips. Die geplante ITO war letztlich den Liberalen der USA zu protektionistisch und den Protektionisten zu liberal, so dass eine Mehrheit der Kongressabgeordneten den Vertrag aus gegensätzlichen Erwägungen abzulehnen drohte. Vor diesem Hintergrund verzichtete 1950 der US-Präsident Harry S. Truman (1884–1072, US-Präsident 1945–1953) darauf, das Abkommen dem Kongress zur Ratifizierung vorzulegen. Und mit dem Verzicht der Vereinigten Staaten auf eine Annahme der Vereinbarung war das Schicksal der Internationalen Handelsorganisation besiegelt.32 4. Das GATT als Provisorium Als die ITO-Verhandlungen auf Ende 1947 nicht zum Abschluss kamen, entschieden sich die Verhandlungsdelegierten, Kapitel IV der Havanna Charta beziehungsweise des ITO-Vertrags als „Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen“ (GATT) auf den 1. Januar 1948 provisorisch in Kraft zu setzen.33 Die vorzeitige Inkraftsetzung drängte sich auf, weil das USZollangebot Ende 1947 auslief, die ITO-Verhandlungen zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen waren. Es bestand die Absicht, das Provisorium des GATT nach Beendigung der ITO-Verhandlungen in den Hauptvertrag der ITO zurückzuführen. Die während Jahren konzipierte und bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitete ITO-Welthandelsordnung trat aber, wie erwähnt, nicht in Kraft, wogegen das Provisorium GATT, vorerst als Einzelvertrag und ab 1995 als Teil der Welthandelsorganisation („World Trade Organization“, WTO), die Ordnung des Welthandels bis in die Gegenwart prägt.34 Nicht in das GATT aufgenommen wurde Art. 15 der Havanna Charta über die Präferenzabkommen „zum Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung und des Wiederaufbaus“ der wirtschaftlich schwachen Staaten. Diese Bestimmungen seien Teil der künftigen Entwicklungspolitik der ITO und würden später ohnehin im Rahmen der ITO in Kraft treten. 31 Fortune (Juli 1949), 61 („Short Article“ des Monats). 32 Vgl. dazu Destler I. Mac, American Trade Politics, 2. A., Washington DC u. a. 1992, 33–34. Eine kritische Analyse der US-Verhandlungsposition findet sich in: Heilperin, How the U. S. Lost the ITO Conferences, 80 ff. 33 Das ursprüngliche GATT ist am 1. Januar 1948 in Kraft getreten und ist ab 1995 Teil der Welthandelsorganisation (WTO). Der zweite und dritte Hauptvertrag der WTO sind das Allgemeine Dienstleistungsabkommen („General Agreement on Trade in Services“, GATS) und das Abkommen über die handelsrelevanten Aspekte der geistigen Eigentumsrechte („Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights“, TRIPS). 34 Das „Provisorium“ des GATT erinnert an das französische Sprichwort „rien ne dure que le provisoire“.

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Einzelne GATT-Partner vertraten zudem die Meinung, die in der Charta getroffenen Entwicklungspräferenzen seien mit den Regeln des GATT nicht vereinbar und könnten nur zusammen mit den übrigen ITO-Bestimmungen akzeptiert werden.35 Die Anfang 1948 in die Havanna Charta aufgenommene Bestimmung, neben Zollunionen auch Freihandelszonen abschließen zu dürfen, ist in der ersten Revision des GATT vom 24. März 1948 dem Art. XXIV GATT beigefügt worden, und zwar zu den Bedingungen, die in der „Suggested Charter“ für das Entstehen einer Zollunion festgelegt worden waren. Mit der Erweiterung des GATT um die Freihandelszone ist in der Welthandelsordnung ein Damm eingebrochen, der in den folgenden Jahrzehnten das Entstehen einer Ordnung der regionalen Freihandelszonen hätte verhindern können.

IV. Das Auseinanderdriften von traditioneller Welthandelsordnung und Ordnung der regionalen Freihandelsabkommen Unabhängig davon, ob der gegenwärtig mäßige Erfolg der WTO die regionalen Freihandelsabkommen stärkt, oder die wachsende Bedeutung der Abkommen die WTO schwächt: Tatsache ist, dass sich in den letzten Jahrzehnten zwischen der WTO und den regionalen Abkommen ein immer tieferer Graben geöffnet hat. Die folgenden Ausführungen weisen auf die wachsende Bedeutung der regionalen Abkommen hin, und die Gefahren, die daraus der geltenden Welthandelsordnung erwachsen. 1. Die wachsende Bedeutung der regionalen Freihandelsabkommen Zählte das GATT in seinen ersten Jahren einige wenige Freihandelsabkommen, beteiligt sich heute jedes der über 160 WTO-Mitglieder an mehreren regionalen Vereinbarungen. Bis 1. Juli 2016 sind dem GATT und der WTO insgesamt 635 regionale Abkommen notifiziert worden, wovon zurzeit 423 Abkommen in Kraft stehen. Im März 2016 hat die WTO zudem eine Liste von weiteren 72 heute geltenden Abkommen veröffentlicht, die der WTO nicht gemeldet worden sind.36 Über die Hälfte der notifizierten Vereinbarungen bezieht sich auf den Güterhandel (Art. XXIV GATT), knapp ein Drittel auf den Handel mit Dienstleistungen (Art. V und Vbis GATS) und der Rest auf Präferenzen zugunsten der Entwicklungsländer.37 35 Zur Begründung der Nicht-Aufnahme von Art. 15 der Havanna Charta ins GATT vgl. Brown William Adams Jr., The United States and the Restoration of World Trade, Washington DC 1950, 242. Die heutige Präferenzen-Regelung des GATT zugunsten der Entwicklungsländer geht auf die 1960er und 1970er Jahre zurück, d. h. auf die Ergänzung des GATT um Teil  IV „Handel und Entwicklung“ im Jahr 1966, das „Allgemeine Präferenzensystem“ („Generalized System of Preferences“, GSP) von 1971 und die „Ermächtigungsklausel“ („Enabling Clause“) von 1979. 36 WTO, WT/REG/W/103 (22. 3. 2016). 37 https://www.wto.org/english/tratop_e/region_e/region_e.htm (abgerufen 1.11.2017), Richard Senti, Regio-

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Quelle: https://www.wto.org/english/tratop_e/region_e/rtajuly-dec16_e.pdf.

Der zahlenmäßige Verlauf der Freihandelsabkommen lässt sich in drei Phasen gliedern: In den 1950er und 1960er Jahren entstanden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Freihandelszone (EFTA), der Zentralamerikanische Markt (CACM) und das Tripartite-Abkommen zwischen Ägypten, Indien und Jugoslawien. In der zweiten Phase der 1970er und 1980er Jahre folgten die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften (EG), die Abkommen der USA mit Israel sowie mit Kanada und Mexiko (NAFTA), die karibische Zollunion und die lateinamerikanische Assoziation. Die dritte Integrationsphase setzte Mitte der 1990er Jahre ein und hält bis heute an. In diesen Jahren haben die EU und die USA je über 50 und die EFTA über 20 regionale Verträge ausgehandelt und abgeschlossen. Gleichzeitig entstand in Asien eine Vielzahl von wirtschaftlichen Partnerschaften. Die zahlenmäßige Entwicklung der Abkommen zeigt zwar die in den letzten Jahren stark wachsende Vernetzung zwischen den einzelnen Handelspartnern, sagt aber über das handelspolitische Gewicht der Handelsabkommen wenig aus. Um diesen Mangel zu beheben, wird die Bedeutung der Integrationsabkommen oft anhand ihrer Welthandelsanteile bemessen. Auf die EU entfallen zurzeit fast 40 %, auf die NAFTA und das Asia-Pacific Handelsabkommen (bis 2005 „Bangkok Agreement 1975“) je etwa 13 und auf das ASEAN-Freihandelsabkommen (AFTA) ca. 6 % des Welthandels nale Freihandelsabkommen, Zürich – Berlin 2013, 19–21.

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mit Gütern. Diese vier Abkommen decken somit rund 70 % des weltweiten Güterhandels ab. Die restlichen 30 % des Welthandels verteilen sich auf die übrigen mehreren hundert Verträge.38 Die Anzahl der Abkommen und deren Welthandelsanteile sind das eine. Die andere Frage ist, welche Handelserleichterungen die einzelnen Abkommen ihren Partnern bringen, welche Zugeständnisse sich die Partner gegenseitig gewähren. Gemäß einer WTO-Studie aus dem Jahr 2008 sind im Rahmen der WTO zurzeit bereits 50 % der gehandelten Güter zollfrei.39 Ein weiteres Viertel des Handels weist Zölle von weniger als 5 % auf. Keine oder nur bescheidene Zollzugeständnisse gewähren sich die Vertragspartner auf Agrarprodukte, Lebensmittel, Bekleidung, Textilien, Leder- und Gummiwaren (Taschen und Schuhe), auf die wertmäßig das letzte Viertel des Welthandels entfällt. Das heißt, die Zollvorteile der Freihandelsabkommen beschränken sich in der Regel bloß auf ein Viertel des Güterhandels, jenen Anteil, der bereits niedrige Zölle verzeichnet. Dazu kommt, dass die Exporteure auf die Zollvorteile der Handelsverträge verzichten, falls die Kosten des erforderlichen Ursprungsnachweises die dadurch eingesparten Zölle übersteigen. Insgesamt ist somit der Liberalisierungseffekt der Freihandelsabkommen im Zollbereich eher bescheiden. Eine größere Bedeutung kommt den Abkommen bei den nicht-tarifären Handelshemmnissen zu. Wenn es den Parteien gelingt, die unterschiedlichen Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften sowie die Dumping- und Subventionsspannen aufeinander abzustimmen oder gegenseitig anzuerkennen, die Mehrfach-Registrierungen zu verhindern, die Grenzkontrollen zu vereinfachen, die gegenseitigen Investitionen zu sichern und den Arbeitsmarkt zu öffnen, so sind diese Vereinfachungen für die Vertragspartner von großem Vorteil und für die nichtbeteiligten Drittländer von spürbarem Nachteil. Die Benachteiligung ergibt sich für die Drittstaaten dadurch, dass sie aufgrund der Verletzung des Meistbegünstigungsprinzips an den Vorteilen der Freihandelsabkommen nicht teilhaben. 2. Die Ursachen und Gefahren der gegenwärtigen Integrationsbewegung Das immer weitere Auseinanderklaffen von WTO und Freihandelsabkommen ist eine Folge der Entwicklung der regionalen Freihandelsabkommen und das Ergebnis erfolgloser Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation. Die Länder, die nach eigener Wahl mit anderen Partnern regionale Freihandelsabkommen aushandeln, in denen sie spezielle Anliegen bis in alle Einzelheiten berücksichtigen können und gegenüber Drittpartnern keine weiteren Verpflichtungen eingehen, sind immer weniger an weltweiten WTO-Vereinbarungen interessiert. Das Desinteresse ergibt sich daraus, dass die Vereinbarungen im Rahmen der WTO nicht in der Lage sind, auf länderspezifi38 Detaillierte Angaben in: Richard Senti, Internationale Freihandelsabkommen, Zürich – Berlin 2013, 23–25 (mit weiteren Literaturhinweisen). 39 Ohne EU-Intrahandel.

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sche Eigenheiten in dem Maße einzutreten, wie dies in individuellen Abkommen zwischen zwei oder einigen wenigen Handelspartnern möglich ist. Oft haben die einzelnen Partner nur in beschränktem Maße die Möglichkeit, in WTO-Abkommen, d. h. im Kreis von über 160 Handelspartnern, eigene Zugeständnisse durch Gegenleistungen anderer Vertragspartner zu kompensieren. Dies trifft v. a. für komplexe Handelsbereiche wie die Bestimmungen im Gesundheits- und technischen Sicherheitswesen sowie im High-Tech- und IT-Sektor zu. Dass viele WTO-Mitglieder ihr Interesse an gemeinsamen Verhandlungen verloren haben, mag die Doha-Runde beweisen. In der Ministererklärung von Doha im Jahr 2001 haben 78 WTO-Mitglieder den künftigen Handelsverhandlungen zugestimmt. Heute (Spätsommer 2016) beteiligen sich von den 164 WTO-Mitgliedern noch rund 35 an der Doha-Runde, die USA, die EU, Japan, Kanada, die Schweiz, die lateinamerikanischen Staaten, Südafrika, Ägypten, Indien, Südkorea und einige wenige südostasiatische Staaten.40 Ein weiteres Auseinandergehen zwischen WTO und Freihandelsabkommen schien noch 2016 – vor der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump – mit dem Inkrafttreten der beiden Mega-Integrationen, der Transpazifischen und Transatlantischen Partnerschaft (TTP und TTIP), zu erwarten.41 Diese Partnerschaften zusammen mit dem EU-Intrahandel decken an die zwei Drittel des Welthandels ab. Zudem erreichen die beiden Vereinbarungen eine Verhandlungstiefe, die weit über die GATT- beziehungsweise WTO-Bestimmungen hinausreicht. Es ist zu befürchten, dass in Zukunft die WTO auf diese Mega-Abkommen kaum mehr Einfluss haben wird und umgekehrt sich die beiden Integrationsblöcke der WTO gegenüber immer weniger verpflichtet fühlen. Auch entsteht zwischen den neuen Märkten und den restlichen WTO-Mitgliedern ein zusätzliches Machtgefälle, das künftige Handelsverhandlungen innerhalb der WTO erschwert. Die starken Partnerschaften werden nicht mehr bereit sein, Drittstaaten Zugeständnisse zu gewähren, und die Drittstaaten sehen sich nicht mehr veranlasst, eigene Leistungen ohne Zugeständnisse zu erbringen. Der WTO ist es weder in den jüngsten Ministerkonferenzen noch in der Doha-Runde gelungen, alle Interessen ihrer Mitglieder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dies birgt die Gefahr in sich, dass Teilbereiche aus den laufenden Verhandlungen herausgebrochen und in eigenständigen Gruppen behandelt werden. Solche Gruppenbildungen haben Vor- und Nachteile. Als Vorteil erweist sich die Chance, dass innerhalb eines kleineren Kreises Gemeinsamkeiten leichter zu erreichen sind als im Plenum aller WTO-Mitglieder. Nachteilig kann sich auswirken, dass in einem kleinen Rahmen die ohnehin starken Partner an Verhandlungsmacht gewinnen und einen glückhaften Abschluss der Meinungsbildung mehr erschweren als erleichtern.42 Als Beispiel eines solchen Vorhabens mag der Dienst40 https://de.wikipedia.org/wiki/Doha-Runde (abgerufen 1.11.2017). 41 Ob die beiden Abkommen nach dem Wahlerfolg von Donald Trump im Herbst 2016 als künftiger US-Präsident in der bis dahin erahnten Form in Kraft treten werden, sollte sich als fraglich erweisen. 42 So bestand die Gefahr, dass die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die TISA-Verhandlungen in Frage stellte, was sich als zutreffende Einschätzung erweisen sollte.

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leistungshandel dienen. Vor wenigen Jahren haben einige WTO-Mitglieder beschlossen, die Gespräche über den Dienstleistungshandel aus der Doha-Runde auszulagern und in einem kleineren Kreis außerhalb der WTO fortzuführen. Heute zählt die Gruppe 23 Teilnehmer.43 Ob allfällige Verhandlungsergebnisse später in Form eines eigenständigen Abkommens über den grenzüberschreitenden Dienstleistungshandel („Trade in Services Agreement“, TISA) in Kraft treten oder in Form eines plurilateralen Abkommens in die WTO zurückfinden werden, ist noch offen. Ungeklärt sind auch die Fragen, ob im TISA das Meistbegünstigungsprinzip gelten wird und ob gemachte Zugeständnisse im Rahmen von Freihandelsabkommen mit Drittpartnern den TISA-Vertragspartnern weiterzugeben sind. Ins Stocken geraten sind in Genf ebenso die Diskussionen über das geistige Eigentumsrecht, insbesondere über das Patentrecht bei Medikamenten.

V. Skizzen einer künftigen Welthandelsordnung Dem GATT ist es gelungen, das hohe Zollniveau der Nachkriegszeit abzubauen, gemeinsame Regeln in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Dumping und Subventionen auszuarbeiten, die Ordnung eines offenen Dienstleistungshandels und gemeinsame Regeln zum geistigen Eigentumsrecht anzustoßen sowie eine Schiedsstelle aufzubauen, deren Entscheide weltweit geschätzt und zu einem beachtlichen Teil befolgt werden. Im Unterschied dazu folgten in den letzten Jahren mehrere Ministerkonferenzen, die ihr Ziel nicht erreicht haben, angefangen bei den Treffen in Seattle und Cancún bis hin zu denjenigen in Bali und Nairobi. Zudem leidet das Ansehen der WTO unter der endlosen Geschichte der DohaRunde. Schließlich steht die WTO auch als Institution in der Kritik. Statt eigene Problemlösungen auszuarbeiten und vorzulegen, fordert die WTO-Leitung die Delegierten der WTOMitglieder Jahr für Jahr auf, ihrerseits Vorschläge für neue Verhandlungen einzubringen.44 Die künftige WTO-Integrationspolitik erfordert erstens eine glaubwürdigere Befolgung der geltenden Integrationsvorgaben durch die WTO-Mitglieder und zweitens eine Neuausrichtung der integrationsrelevanten handelspolitischen Maßnahmen. 1. Die geltenden WTO-Bestimmungen Die heute geltenden Integrationsbestimmungen der WTO sind in Art. XXIV GATT und Art. V GATS festgeschrieben und verlangen, dass bei der Schaffung von Integrationsräumen die Handelshemmnisse gegenüber Drittpartnern in ihrer Gesamtheit nicht angehoben werden, annähernd der gesamte Handel erfasst und die Integration der WTO notifiziert wird. 43 Die EU als „ein“ Teilnehmer gezählt. 44 Vgl. z. B. WTO News vom 25. 7. 2016: „Director-General R. A. urges WTO members to bring forward proposals for future negotiations“.

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Auch wenn Art. XXIV.5 GATT die Art der Berechnung der „Gesamtheit der Zölle und Handelsvorschriften“ offen lässt, hat diese Bestimmung in den bisherigen Integrationsverhandlungen kaum je Probleme geschaffen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als bedeutendste Zollunion ist bei ihrer Gründung von Zolldurchschnitten ausgegangen und hat länderweise Betroffenheiten in Kompensationsverhandlungen beigelegt. In der Zollgemeinschaft stellt sich dieses Problem nicht. Die Partner einer Freihandelszone haben keinen Anlass, ihre Zölle und anderen Handelsvorschriften gegenüber Drittpartnern zu verändern. Zu beachten ist zweitens Art. XXIV.8 GATT, wonach „annähernd der gesamte Handel“ der an der Integration teilnehmenden Handelspartner durch das Abkommen abgedeckt werden muss.45 Das Dienstleistungsabkommen spricht in Art. V.1 GATS von „einem umfassenden sektoralen Geltungsbereich“. Die WTO-Bestimmungen sind allgemein gehalten. Das Wort „annähernd“ erlaubt weite Interpretationsfreiheit. Im Textilstreit zwischen der Türkei und Indien kam das GATT-Panel zur tiefsinnigen Einsicht, „substantially all the trade“ sei nicht dasselbe wie der gesamte Handel, sei aber doch beachtlich mehr als bloß etwas Handel.46 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob z. B. die EFTA ohne Miteinbezug der Landwirtschaft GATT-konform ist. Sicher widerspricht die Integrationsvereinbarung zwischen China und Thailand von 2003 der vorliegenden Vorschrift. Das Abkommen beschränkt sich auf die Liberalisierung von insgesamt 188 Früchtesorten und Gemüsearten und schließt den übrigen Handel vom Vertrag aus.47 Die GATT-Bestimmung, dass „annähernd der gesamte Handel“ zu erfassen ist, wird in der Fachliteratur als „unlogisches Integrationskonzept“ beurteilt. Die Regelung, dass eine partielle Präferenzierung des Handels nicht erlaubt und schlecht ist, sich aber zunehmend rechtfertigt und verbessert, je mehr sie sich „annähernd“ auf den gesamten Handel ausweitet und sich einem alles umfassenden Präferenzsystem verschreibt, erweise sich in den Worten von Kenneth W. Dam und Frank A. Height als „abwegig“ („strange“).48 Die dritte Bedingung, die Notifizierung der Integration gemäß Art. XXIV.7 GATT und Art. V.7 GATS, leidet nicht an einer unzureichenden Ausformulierung oder missverständlichen Interpretation, sondern daran, dass die WTO-Mitglieder über ihre Verpflichtung hinwegsehen. Die WTO verlangt von ihren Mitgliedern, ihr den Beitritt zu einer Zollunion, 45 Präziser wäre die Formulierung von Art. XXIV.8.b GATT, wenn im Hinblick auf die Freihandelszone vom Handel mit den aus den teilnehmenden Gebieten der Zone stammenden „Ursprungsprodukten“ die Rede wäre. 46 Senti, Regionale Freihandelsabkommen, 134. Auf diese Aussage hat mich Christoph Herrmann hingewiesen, in seinem Beitrag „Bilateral und Regional Trade Agreements as a Challenge to the Multilateral Trading System, in: Außenwirtschaft 63 (2008), Heft III, 271. 47 China-Thailand unter: www.bilaterals.org?-China-Thailand-&lang=en (1.11.2017). Das Abkommen ist der WTO nicht notifiziert worden. 48 Die Argumentation stammt von K. W. Dam und F. A. Haight: Kenneth W. Dam, The GATT, Law and International Economic Organization, Chicago und London 1970, 289; Frank A. Haight, Customs Unions and FreeTrade Areas under GATT: A Reappraisal, in: Journal of World Trade Law 6 (1972), Heft 4, 398; vgl. Senti, Regionale Freihandelsabkommen, 135.

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einer Zollgemeinschaft oder einer vorläufigen Vereinbarung sowie die Teilnahme an einem Integrationsabkommen im Bereich der Dienstleistungen zu melden. Die WTO hält in ihren Verträgen und Ministerbeschlüssen fest, welche Stellen welche Tatbestände nach welchem Zeitplan zu überprüfen haben und wie die WTO-Empfehlungen umzusetzen sind.49 In den vielen Jahren ist das GATT ein einziges Mal in der Lage gewesen, eine Integration, die Zollunion Tschechien-Slowakei, abschließend zu beurteilen.50 In allen übrigen Fällen liegt kein Entscheid vor, teils, weil sich die Parteien nicht auf einen gemeinsamen Bericht einigen konnten, oder, was die Regel ist, weil die Notifizierungen nicht rechtzeitig eingereicht wurden. Wie die folgende Tabelle verdeutlicht, sind im Güterbereich nur 9 % aller Abkommen früher als zwei Monate vor ihrem Inkrafttreten gemeldet worden (es handelt sich um die EWG- und EFTA-Verträge sowie die EG-Erweiterungen). Fast 90 % der Notifizierungen im Güterhandel und über 90 % im Dienstleistungsbereich erfolgten erst wenige Wochen und Tage vor und mehrheitlich nach dem Inkrafttreten der Abkommen, so dass eine fristgerechte Überprüfung im Rahmen der WTO schlicht nicht möglich war. Anzahl Integrationsabkommen Güterhandel Notifizierung über 2 Monate vor Inkrafttreten Notifizierung 14 Tage bis 2 Monate vor Inkrafttreten Notifizierung bis 14 Tage vor oder am Tag des Inkrafttretens Notifizierung nach Inkrafttreten Total

Dienstleistungshandel

23 (9 %)

7 (6 %)

6 (3 %)

1 (1 %)

51 (21 %)

37 (30 %)

166 (67 %)

78 (63 %)

246 (100 %)

123 (100 %)

Zeitvergleich zwischen Notifizierung und Inkrafttreten der regionalen Integrationsabkommen

Berechnet nach WTO-Angaben.51 In diesen Zahlen sind die Erweiterungen von Integrationsräumen mitberücksichtigt. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind die Präferenzen zug Potenzial unsten der Entwicklungsländer. Um eine abschließende Beurteilung geplanter Integrationsabkommen durch WTOStellen durchführen zu können, sind die Notifizierungsfristen einzuhalten und die von den WTO-Stellen gemachten Vorbehalte auszuräumen. Zudem muss die WTO als Institution in 49 Im Güterhandel ist ein geplantes Zollabkommen dem GATT-Rat zu notifizieren, der den Antrag an den Ausschuss für regionale Abkommen („Committee on Regional Trade Agreements“, CRTA) weiterleitet. Im Dienstleistungsbereich ist der GATS-Rat die Anlaufstelle, der die Überprüfung eigenständig vornimmt oder an den CRTA delegiert. Präferenzen zugunsten der Entwicklungsländer sind dem Ausschuss für Handel und Entwicklung („Committee on Trade and Development“, CTD) zu melden. Zu Detailangaben über die zu meldenden Tatbestände und den einzuhaltenden Zeitplan vgl. Senti, Regionale Freihandelsabkommen, 138–143. 50 BISD 41S/Vol. I/112–115. 51 http://rtais.wto.org/UI/PublicPreDefRepByRTAName.aspx (abgerufen Juli 2016).

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die Lage versetzt werden, allfällige Verletzungen der WTO-Vorgaben wirkungsvoll zu ahnden, sei es über den Ausschuss für regionale Abkommen, sei es über die Streitschlichtungsstelle auf der Rechtsgrundlage von Art. XXII.1(c) GATT.52 Colin B. Picker schlägt in seiner Studie über die Reform des Art. XXIV GATT vor, dass auch in Kraft stehende Abkommen dazu verpflichtet werden müssten, allfällige Verletzungen des WTO-Vertragswerks innerhalb von fünf Jahren zu korrigieren.53 Schließlich wäre auch die Frage zu klären, ob Partner von Freihandelsabkommen, die WTO-Recht verletzen, nicht von der WTO ausgeschlossen werden könnten. 2. Integrationspolitik der WTO Die Zollunion als Zusammenschluss von zwei oder mehreren Territorien zu einem gemeinsamen Territorium steht nicht im Widerspruch zur seinerzeitigen Welthandelsordnung, die ihren Partnern im Sinne der UNO-Charta Unversehrtheit und handelspolitische Unabhängigkeit gewährt. Die durch eine Zollunion gewonnenen Wachstumseffekte („trade creation effects“) und verursachten Handelsstromumleitungen und Wohlstandseinbußen zum Nachteil von Drittstaaten („trade diversion effects“) sind gleichsam das Entgelt und der Preis für die den Handelspartnern zugestandene Souveränität. Eine andere Situation liegt vor, wenn ein Handelspartner mit einem oder mehreren Einzelpartnern oder Partnergemeinschaften Freihandelszonen aushandelt und diese Vereinbarungen – was praktisch immer zutrifft – je nach Vertrag unterschiedlich ausgestaltet. In diesem Falle führen die Freihandelszonen zur Diskriminierung der nicht oder nicht zu gleichen Bedingungen miteinbezogenen Handelspartner, zu einer Verletzung des Meistbegünstigungsprinzips, des Kernstücks der heute geltenden Welthandelsordnung. Somit nimmt mit jedem Freihandelsabkommen die gegenseitige Diskriminierung in der geltenden Welthandelsordnung zu. Das heißt, bei heute rund fünfhundert in Kraft stehenden Freihandelszonen wendet jedes WTO-Mitglied gegenüber fast jedem anderen Handelspartner unterschiedliche tarifäre und nichttarifäre Handelsmaßnahmen an. Allein in den von der EU abgeschlossenen Freihandelsabkommen finden zurzeit 33 unterschiedliche Ursprungsregelungen Anwendung, was heißt, dass die EU über wenigstens 33 unterschiedlich ausgestaltete Vereinbarungen verfügt.54 Auch die Schweiz verstößt mit ihren präferenziellen und nicht-präferenziellen Warenverkehrsbescheinigungen beziehungsweise ihren Freihandelsverträgen gegen das Meistbegünstigungsprinzip der ursprünglichen GATT-Ordnung. Ähnlich ist die Situation 52 Das heißt, die WTO als Institution müsste aktiv legitimiert werden, im Rahmen der WTO-Streitschlichtung die Errichtung eines Panels zur Beurteilung von Integrationsproblemen zu beantragen. 53 Colin B. Picker, Regional Trade Agreements v. The WTO: A Proposal for Reform of Article XXIV to Counter this Institutional Threat, in: Journal of International Law 26 (2005), 268. 54 Gabriel Felbermayr, Ökonomische Auswirkungen präferenzieller Ursprungsregeln, Vortrag auf der Tagung „Die Europäische Union als internationaler Handelspartner im Spannungsverhältnis zwischen Regionalismus und Multilateralismus“, Tutzing, 1.–3. 4. 2016 (Veröffentlichung vorgesehen).

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in den USA und den anderen Ländern. Galt bei der Gründung des GATT das Prinzip der Meistbegünstigung als Regel und die länderspezifische Sonderbestimmung als Ausnahme, ist mit der zahlenmäßig und inhaltlich wachsenden Bedeutung der Freihandelsabkommen die länderweise Differenzierung und Diskriminierung zur Regel und die Meistbegünstigung zur Ausnahme verkommen. Um die gegenwärtigen Integrationsbestrebungen auf die ursprüngliche Rechtslage des GATT vom 1. Januar 1948 abzustimmen, lassen sich mehrere Vorgehen denken. Die radikalste Lösung bestünde darin, die Schaffung von Zollunionen im Bekenntnis zur Souveränität der einzelnen Staaten zu belassen, aber das Zugeständnis zur Errichtung von Freihandelszonen zurückzunehmen beziehungsweise das Eingehen von Freihandelsabkommen zu untersagen. In Ergänzung zu diesem Vorschlag wäre auch denkbar, dass künftig die einzelnen Handelspartner ihre Zollsenkungen unilateral, d. h. eigenständig gegenüber allen ihren Handelspartnern vornehmen müssten. Die Umsetzung derartiger Vorschläge ist heute jedoch nicht denkbar. Die 164 WTO-Mitglieder, die allesamt Freihandelsabkommen abgeschlossen haben, werden nicht bereit sein, gegen ihre eigenen Interessen auf die ausgehandelten Abkommen zu verzichten und die selektiv zugestandenen Vorteile auf alle WTO-Mitglieder auszuweiten. Illusorisch ist auch der Gedanke, vereinzelte Freihandelsabkommen in Zollunionen umzuformen.55 Die Integrationsintensität zwischen Zollunion und Zollgemeinschaft ist zu unterschiedlich, um die beiden Handelsordnungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die wohl wirksamste Lösung der heutigen Probleme mit den Freihandelsabkommen läge in einer weiteren weltweiten Reduktion der Zölle und einer zusätzlichen Entschärfung der nichttarifären Handelshemmnisse. Dem GATT ist es im Zeitraum Ende 1940er Jahre bis 1995 gelungen, das Zollniveau stark abzusenken. Heute ist im Rahmen der WTO rund die Hälfte der Welthandelsgüter zollfrei und circa ein Viertel des Handels weist Zölle von weniger als fünf Prozent auf. Höhere Zölle finden sich, wie bereits erwähnt, bei Agrargütern, Lebensmitteln, Bekleidung, Textilien, Leder und Gummiwaren. Das oberste Ziel der künftigen WTO-Bemühungen muss daher sein, möglichst sämtliche Zölle auf null zu reduzieren, nicht nur auf gewerblichen und industriellen Handelsgütern, deren Zollniveau bereits sehr niedrig ist, sondern auch auf den Handelsgütern, deren Zölle in vielen Ländern nach wie vor prohibitiv hoch sind. Zum Zweiten stellt sich der WTO die Aufgabe, die länderweise unterschiedlichen nichttarifären Handelshemmnisse wie Gesundheits- und technische Sicherheitsbestimmungen, Doppelkontrollen an der Grenze und Mehrfachregistrierungen zu vereinheitlichen, zu minimieren oder zu eliminieren. In diese Richtung gehen vereinzelte WTO-Anstrengungen, so z. B. in Form des Übereinkommens über die Ursprungsregeln von 1994 („Agreement on Rules of Origin“) und des IT-Abkommens vom Dezember 1996 („Information and Technology Agreement“). Gelingt es der WTO, die Zölle und nichttarifären Handelshemmnisse ihrer Vertragspartner abzuschaffen beziehungsweise zu vereinheitlichen, 55 Brown, The United States and the Restoration of World Trade, 156.

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gehen die Freihandelsabkommen ihrer Existenzgrundlage verlustig und die weltweite Diskriminierung wird sich um ein schönes Stück reduzieren.

VI. Ausblick Das Unbehagen über das Auseinandergehen von WTO und regionalen Freihandelsabkommen findet seinen Niederschlag in der Fachliteratur: Nach Shadan Farasat, Autor der Studie über den Regionalismus Indiens, ist die gegenwärtige Integrationsbewegung eine Reaktion auf das Versagen der WTO und das bisherige Scheitern der Doha-Runde. Der Widerstand der Industrieländer, den Agrarprotektionismus abzubauen und die Dienstleistungen zu liberalisieren, hätten die WTO-Mitglieder in regionale Freihandelsvereinbarungen abgedrängt.56 Ähnlich argumentieren Linda Low und Rahul Sen in ihren Arbeiten über die Integrationspolitik in Asien. Die Bestrebungen der ostasiatischen Länder, Abkommen mit den USA, der EU, Japan, Südkorea und China auszuhandeln, so ihre Ausführungen, seien eindeutig der Erfolglosigkeit der WTO in Seattle, Cancún und Hongkong SAR zuzuschreiben.57 Mitsuo Matsushita, Mitglied des WTO-Appellate Body von 1995 bis 2000, pflichtet diesem Urteil bei und befürchtet einen Teufelskreis. In gleichem Maße wie der Misserfolg der WTO das Entstehen von regionalen Handelsabkommen bewirke, so behinderten viele regionale Abkommen die Weiterentwicklung der WTO.58 Nach Jagdish Bhagwati schließlich sind die regionalen Freihandelsabkommen mit den Termiten zu vergleichen. Sie höhlen die im letzten halben Jahrhundert geschaffene Welthandelsordnung aus und lassen ein hoffnungsloses Wrack zurück. Bhagwati zitiert Pascal Lamy, den früheren WTO-Generaldirektor, der gesagt haben soll, die Hälfte der Ökonomen sei gegen Freihandelsabkommen. Nach J. Bhagwati ist das ein „English understatement by a distinguished Frenchman“. In Tat und Wahrheit seien praktisch alle Ökonomen gegen die Freihandelsabkommen. Anderer Meinung seien nur die Politiker.59

56 Shadan Farasat, India’s Quest for Regional Trade Agreement: Challenges Ahead, in: Journal of World Trade 42 (2008), Heft 3, 434. Mit gleichem Recht könnte Indien kritisiert werden, wenn auf der WTO-Ministerkonferenz in Bali von 2013 gefordert wird, eigene Agrarprodukte aufkaufen zu dürfen, ohne der Verletzung der WTO-Subventionsbestimmungen bezichtigt zu werden. 57 Linda Low, A Case Study of Singapore’s Bilateral and Cross-Regional Free Trade Agreements, in: Saori Katada/Mireya Solis (Hrsg.), Cross Regional Trade Agreements, Berlin – Heidelberg 2008, 69. Rahul Sen, „New Regionalism“ in Asia: A Comparative Analysis of Emerging Regional and Bilateral Trading Agreements involving ASEAN, China and India, in: Journal of World Trade 40 (2006), Heft 4, 554. 58 Mitsuo Matsushita, Japanese Policies toward East Asian Free Trade Agreement: Policy and Legal Perspectives, in: Roos P. Buckley/Vai lo Lo/Laurence Boulle (Hrsg.), Challenges in Multilateral Trade, The Impact of Bilateral, Preferential and Regional Agreements, Austin u. a. 2008, 41. 59 Jagdish Bhagwati, Temites in the Trading System (2008), XII und 13.

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Indessen ist es unredlich, das Entstehen von regionalen Integrationsabkommen ausschließlich auf die missglückte WTO-Politik zurückzuführen oder den Stillstand der WTO allein mit der Erstarkung des Regionalismus zu begründen. So waren nach der asiatischen Finanzkrise 1997/98 die davon betroffenen Länder bemüht, die Krisenanfälligkeit ihrer Märkte über Vereinbarungen mit Nachbarländern zu lindern. Es handelte sich in den damaligen Verhandlungen v. a. um sogenannte „GATT-Plus-Bereiche“, um Bereiche, die in der WTO (noch) keine gemeinsame Regelung gefunden hatten, z. B. um Finanz- und Währungsfragen, Umweltschutzprobleme, Sicherung von Auslandsinvestitionen und einheitliche Anwendung von Wettbewerbsrecht. Nicht WTO-bedingt sind auch Integrationsvereinbarungen, die dadurch entstehen, dass handelsmächtige Staaten schwächere Staaten zu Integrationsvereinbarungen drängen (Dominoeffekt), oder handelsschwache Staaten sich von einem Abkommen mit einem stärkeren Partner eine Teilhabe am Größenvorteil der Gemeinsamkeit versprechen (Mitläufereffekt).60 Das seit Jahren feststellbare Auseinandergehen der ursprünglich geplanten Welthandelsordnung einerseits und der gegenwärtig erstarkenden Integrationsordnung andererseits anzuhalten und zu korrigieren, erweist sich als außerordentlich schwierig. Nicht die fehlende Einsicht in die heute verfahrene Welthandelsordnung ist die große Schwierigkeit, vielmehr die Tatsache, dass die einzelnen Handelspartner an keiner Alternative interessiert sind. In diesem Zusammenhang hat Gottfried Haberler schon vor bald hundert Jahren in seinem Lehrbuch „Der internationale Handel“ die Politiker angeklagt, sie glaubten in den Freihandelsabkommen den Stein des Weisen gefunden zu haben. Sie seien naiver Weise überzeugt, in den Freihandelsabkommen über ein handelspolitisches Instrument zu verfügen, um „der Vorteile des Freihandels teilhaftig zu werden“.61 Schließlich ist auch festzuhalten, dass die zurzeit so schwierige Situation nicht allein eine Frage der Außenhandelspolitik, sondern weitgehend auch das Ergebnis der landesinternen Wirtschaftspolitik ist. Die Interessengegensätze verlaufen, wie Wilhelm Röpke (1899–1966) bereits Anfang der 1930er Jahre feststellte, nicht nur entlang der Landesgrenzen, sie liegen auch zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb eines Landes.62 Literaturauswahl Bhagwati, Jagdish, Termites in the Trading System, How Preferential Agreements Undermine Free Trade, Oxford 2008. BISD, Basic Instruments and Selected Documents, GATT bzw. WTO, Genf (jährlich).

60 Art. XXIV GATT. Eine ausführlichere Behandlung dieser Probleme findet sich in: Senti, Regionale Freihandelsabkommen, 61–86. 61 Haberler, Der internationale Handel, 289. 62 Wilhelm Röpke, „Autarkie ein abgegriffenes Schlagwort“, in: Deutscher Volkswirt 9. 1. 1933 (zitiert nach Haberler, Der internationale Handel, 283).

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Die geltende Welthandelsordnung im Spiegel der regionalen Integrationsabkommen

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Abkürzungen AFTA ASEAN Free Trade Area APTA Asia-Pacific Trade Agreement Association of Southeast Asian Nations ASEAN Central American Common Market CACM COMECON Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe CRTA Committee on Regional Trade Agreements CTD Committee on Trade and Development EFTA European Free Trade Association Europäische Gemeinschaften EG EU Europäische Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG GATT General Agreement on Tariffs and Trade GATS General Agreement on Trade in Services ITO International Trade Organization NAFTA North American Free Trade Agreement North Atlantic Treaty Organization NATO OECD Organization for Economic Co-operation and Development OEEC Organization for European Economic Co-operation RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe TISA Trade in Services Agreement TPP Trans Pacific Partnership TRIPS Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights TTIP Transatlantic Trade and Investment Partnership WTO Welthandelsorganisation

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Athanassios Pitsoulis

Strukturen und Entwicklungen der globalen Ökonomie: Auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft? Folgt die Weltwirtschaft einem langfristig stabilen Entwicklungspfad hin zu einer globalen, arbeitsteilig organisierten Ökonomie, ähnlich der innerhalb einer Gesellschaft? Diese Frage erhält besondere Relevanz in einer Zeit, in der sich sogar in jenen Ländern, die mit am Meisten von der Globalisierung profitiert haben, Widerstand gegen offene Grenzen und freie Handelsbeziehungen regt. Viele akademische Ökonominnen und Ökonomen weltweit sehen aktuelle Tendenzen, so beispielsweise die protektionistischen Ideen der Trump-Administration in den USA, die „Brexit“-Entscheidung der Britinnen und Briten oder den Zuspruch, den fremdenfeindlich eingestellte Politikerinnen und Politiker in europäischen Kernländern erfahren, durchaus kritisch, wenn nicht sogar eindeutig negativ. Sie begründen ihre ablehnende Haltung oft mit dem Verweis auf die grundlegenden Erkenntnisse der Theorie des internationalen Handels sowie auf empirisch ermittelbare ökonomische Globalisierungsgewinne. Beim Versuch, diese der Öffentlichkeit zu erklären, beginnt dann aber oft eine wirtschaftswissenschaftliche tour de force, in der viele Zuhörerinnen und Zuhörer früher oder später den Anschluss verlieren. Der vorliegende Beitrag soll, im Gegensatz hierzu, möglichst zugänglich und – in ausdrücklich essayistischer Manier – unter weitgehender Vermeidung ökonomischen Jargons der am Anfang dieses Absatzes aufgeworfenen Frage nachgehen. Die Herangehensweise des Autors entspricht dementsprechend nicht der, die man für ein fachkundiges Publikum wählen würde. Anders als ein Fachzeitschriftenaufsatz besteht mein Beitrag im Wesentlichen in einem Problemaufriss, der sich an einigen Thesen – fünf an der Zahl – abarbeitet. Die Auswahl der Thesen erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist ausdrücklich als schlaglichtartige Beleuchtung einiger Aspekte gedacht, die das Nachdenken und die Entwicklung weiterer Fragen anregen soll. Die diskutierten Thesen sollen also nicht als Ergebnis eines Diskurses, sondern vielmehr als Einladung dazu angesehen werden. Für jede meiner fünf Thesen gilt, dass sie politisch-ökonomischer Natur ist, also von wechselseitigen Einflussbeziehungen zwischen den wirtschaftlichen und politischen Sphären ausgeht. Anstatt also anzunehmen, dass sich wirtschaftliche Prozesse ohne Bezug zu politischen Entwicklungen vollziehen, gehe ich im Folgenden stets davon aus, dass die wirtschaftlichen Effekte von Prozessen wie der Globalisierung, der Digitalisierung oder auch des demographischen Wandels soziale und politisch relevante Effekte haben. Im Kern argumentiere ich, dass die politischen und sozialen Effekte dieser und anderer Wandlungsprozesse naturgemäß eine Instabilität des Entwicklungsprozesses hin zu einer globalen ökonomischen Arbeitsteilung schaffen. Anders ausgedrückt: Die Entwicklung der global verflochtenen Öko-

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nomie folgt, unter den gegebenen politischen Bedingungen, langfristig einem systemimmanent instabilen Entwicklungspfad. Wir sollten also davon ausgehen, dass es immer wieder Phasen geben kann, in denen die internationale Arbeitsteilung und der zwischenstaatliche Handel sich langsamer oder gar rückwärtsgerichtet entwickeln. Noch einfacher gesagt: Globalisierung und internationale Arbeitsteilung sind keine automatisch ablaufenden Prozesse. Auf dem Weg zu einer Weltwirtschaftsgesellschaft befinden wir uns immer nur zeitweise. Was spricht für die Vermutung, dass die Entwicklung der global verflochtenen Ökonomie langfristig einem systemimmanent instabilen Entwicklungspfad folgt? Die erste These besagt, dass arbeitsteiliger zwischenstaatlicher Handel ein politisch-ökonomischer Prozess ist, in dem die wirtschaftlichen Folgen des Handels politische Effekte verursachen können. Die politische Ökonomie hilft dabei, die einzelnen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nachzuvollziehen. Fragen wir uns zunächst, bevor wir uns mit der Begründung dieser These befassen, warum internationaler Handel ein Prozess ist, wird doch in der Volkswirtschaftslehre Handel typischerweise als ein Zustand betrachtet, in dem eine Nation eine Autarkiesituation aufgibt und mit anderen Nationen in Güteraustausch eintritt. Betrachtet wird, v. a. in den zentralen Grundmodellen, eine modellhafte Volkswirtschaft und der „Rest der Welt“. In der Realität ist es freilich so, dass nicht alle Volkswirtschaften zu jeder Zeit in gleichem Maße in den internationalen Handel eingebunden sind: Nationen treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die globale Arbeitsteilung ein, nicht konkurrenzfähige Anbieter gehen aus dem Markt, eine Vielzahl von aktiven nationalen Handelspolitiken beeinflussen das Geschehen, manche Standorte haben besondere Vorteile etc.; dies mündet in eine Situation, in der sich Wettbewerbsfähigkeit ständig verändert: Internationaler Handel erhält den Prozesscharakter eines dynamischen Phänomens.1 Volkswirtschaften, die eng in die globale Wirtschaft eingebunden sind, sind dementsprechend den durchaus wechselhaften Einflüssen dieses Prozesses ausgesetzt. Wie kann man nun die erste These begründen? Betrachten wir zunächst eine weit verbreitete Grundannahme in der volkswirtschaftlichen Außenwirtschaftstheorie, die besagt, dass gegenseitiger Güteraustausch den beteiligten Gesellschaften stets mehr Vorteile denn Nachteile, d. h. einen Nettonutzen bringt. Diese Aussage muss man dahingehend qualifizieren, dass sie nicht gleichbedeutend mit der Aussage ist, dass internationaler Handel alle gesellschaftlichen Gruppen notwendigerweise stets besserstellt; unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen können unterschiedlichen Vor- und Nachteilen ausgesetzt sein. Mit anderen Worten: Obwohl internationaler Handel für eine Volkswirtschaft insgesamt von Vorteil ist, kann es durchaus Verlierer geben, die vom Handel geschädigt werden. Eine schöne Illustration dieses Problems bietet das sogenannte Stolper-Samuelson-Theorem, das benannt ist nach dem Wirtschaftsnobelpreisträger Paul A. Samuelson und dem deutschen Ökonomen Wolfgang F. Stolper.2 Es 1 Eine ähnliche Sicht vertritt z. B. Thomas Paulsen, Economic Diplomacy: Die Ökonomisierung der amerikanischen Außenpolitik unter Präsident Clinton 1993–1996, Wiesbaden 2013, 36. 2 Wolfgang F. Stolper/Paul A. Samuelson, Protection and Real Wages, in: Review of Economic Studies 9 (1941), Heft 1, 58–73.

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besagt u. a.: Wenn aufgrund von Handel der Preis eines exportierten Gutes (z. B. der von Autos) steigt, dann wachsen die Einkommen derjenigen, die über die Ressourcen verfügen, die in der Produktion dieses Gutes besonders intensiv genutzt werden (z. B. Kapital in Form von Maschinen), während die Einkommen derjenigen, die über nicht intensiv genutzte Ressourcen verfügen (z. B. Arbeitskraft), sinken. In diesem beispielhaft betrachteten Fall könnte man die Kapitaleigentümer als Globalisierungsgewinner und diejenigen, die nur über ihre eigene Arbeitskraft verfügen, als Globalisierungsverlierer bezeichnen. Es liegt auf der Hand, dass technologische Entwicklungen, die ja bestimmen, welche Ressourcen in der Produktion überhaupt intensiv genutzt werden, dieses Problem verstärken können. Es ist also durchaus möglich, dass eine gesellschaftliche Gruppe, z. B. die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer bestimmten Branche, gleich doppelt geschädigt werden. Da Außenhandel, Technologie und die Löhne gering und hoch qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in immer komplexer werdenden Zusammenhängen stehen, gibt es auch zunehmend viele Ursachen dafür, dass Außenhandel und Strukturwandel bestimmte Gruppen innerhalb einer Gesellschaft nachhaltig schädigen kann. Tritt eine solche Entwicklung ein, werden die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen versuchen, sich Gehör in der Politik zu verschaffen. Die so entstehenden ‚populistischen Bewegungen‘ mögen dann vielleicht die Einführung von protektionistischen Maßnahmen wie Zöllen verlangen, bestehen auf die Aufkündigung von existierenden bzw. in Verhandlung befindlichen Freihandelsabkommen wie TTIP oder strengen gar ein Referendum über einen EU-Austritt an.3 Kommen wir nun zur zweiten These. Es liegt auf der Hand, dass, wenn internationaler Handel Gewinner und Verlierer in Gesellschaften schaffen kann, sich hieraus eine gesellschaftlich problematische Veränderung der sozialen Unterschiede ergeben kann. Die Wirtschaftswissenschaften haben in der Tat lange Zeit das Problem der Einkommens- und Vermögensungleichheit sowohl in der Forschung als auch in der universitären Lehre des Fachs sträflich vernachlässigt. Spätestens seit der „großen Rezession“ ist das Thema indes wieder – mit drängender Macht – in den Vordergrund gerückt. Die zweite These besagt, dass Einkommens- und Vermögensungleichheit und internationaler Handel interdependent sind. Je mehr eine Volkswirtschaft in die internationale Arbeitsteilung eingebunden ist, desto stärker kann die „importierte Ungleichheit“ sein. Gehen wir zur Illustration einmal zurück zum oben angerissenen Stolper-Samuelson-Theorem, in dem ich den Fall skizziert hatte, dass die Globalisierung die Einkommen von Arbeiterinnen und Arbeitern verringert. Das Resultat ist, dass sich die Einkommensungleichverteilung (also die Konzentration der Einkommen bei Kapitaleigentümerinnen und -eigentümern) verstärkt. Stellen wir uns nun vor, dass der wichtige Faktor für die Produktion des Exportguts nicht Kapital in Form von Maschinen, sondern Wissen in Form von technischen Fähigkeiten der Fachkräfte ist. In diesem Fall profitieren 3 Vgl. dazu Ronald Rogowski, Commerce and Coalitions: How Trade Affects Domestic Political Alignments, in: Jeffry A. Frieden/David A. Lake (Hrsg.), International Political Economy: Perspectives on Global Power and Wealth, London 2014, 326.

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also gut ausgebildete Fachkräfte in einer wissensintensiven Exportgüterbranche überproportional vom Handel. Auf diesem Wege könnte durch internationalen Handel existierende Ungleichheit verstärkt werden. Wenn beispielsweise fortgeschrittene Entwicklungsländer in die internationale Arbeitsteilung eintreten und beginnen, wissensintensive Güter zu produzieren, die bislang exklusiv von Industrienationen produziert worden sind, könnten sie eine Erhöhung der Einkommensungleichheit erleben, da die Fachkräfte in den wissensintensiven Exportgüterbranchen rapide steigende Löhne erhalten werden. Parallel ist eine Verringerung der Löhne in den nicht mehr konkurrenzfähigen Branchen der betroffenen Industrienationen denkbar, so dass sich sowohl dort wie auch in den fortgeschrittenen Entwicklungsländern die Einkommensungleichheit verstärken kann.4 Man sollte an dieser Stelle einschränkend anführen, dass Handel neben diesem Risiko aber auch die Chance mit sich bringt, die Einkommensverteilung positiv, also in Richtung größerer Gleichheit, zu beeinflussen. Es kommt auf den Einzelfall an, ob die positiven Effekte die negativen überwiegen.5 Selbst wenn aber nicht die ganze Gesellschaft spürbar betroffen ist, weil etwa nur wenige Branchen den skizzierten Entwicklungen ausgesetzt sind, kann das politische System eines Landes aus dem wirtschaftlichen Problem weniger Menschen ein politisches Problem vieler machen. Diesen Zusammenhang skizziert die dritte These. Die dritte These besagt, dass neue Strukturen des Handels politische Folgen auf immer mehr Jurisdiktionen verteilen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Handelsstrukturen in der modernen, globalisierten Arbeitsteilung sich immer mehr weg vom klassischen sogenannten intersektoralen Handel (also dem internationalen Handel zwischen Branchen, z. B. Rohstoffe aus Entwicklungsländern für Maschinen aus Industrienationen) in Richtung des sogenannten intrasektoralen Handels bewegen (also dem Handel innerhalb einer auf verschiedene Nationen verteilten Branche).6 Inzwischen besteht rund ein Viertel des Welthandels aus intrasektoralem Handel; er wird dominiert vom Austausch von Industrieprodukten unter fortgeschrittenen Industrienationen. Betrachten wir ein Beispiel: China importiert technologisch anspruchsvolle Computerbauteile aus anderen Industrienationen und setzt diese im Inland in großen Fabriken arbeitsintensiv zusammen, um die Endprodukte dann wieder nach Europa oder in die USA zu exportieren. Hier handelt China sowohl als Importeur als auch als Exporteur von High-Tech-Produkten innerhalb einer Branche. An der betriebswirtschaftlichen Wertschöpfungskette sind dementsprechend Firmen aus verschiedenen Ländern beteiligt. Es folgt, dass Entwicklungen im Prozess des internationalen Handels nun über alle beteiligten Länder geographisch weit verteilt sein können. In Verbindung mit der ersten und

4 Vgl. dazu Elhanan Helpman/Oleg Itskhoki/Marc-Andreas Muendler/Stephen J. Redding, Trade and Inequality: From Theory to Estimation, in: Review of Economic Studies 84, 1, 357–405. 5 Vgl. dazu Florence Jaumotte/Subir Lall/Chris Papageorgiou, Rising Income Inequality: Technology or Trade and Financial Globalization?, in: IMF Economic Review 61(2013), 2, 271–309. 6 Vgl. zu diesem Thema W. Chars Sawyer, US International Trade Policy: An Introduction, Santa Barbara 2017, 83–85.

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der zweiten These folgt, dass man unter diesen Bedingungen nicht ausschließen kann, dass beispielsweise der Markteintritt einer neuen Handelsnation existierende Wertschöpfungsketten verändern und damit Verteilungseffekte und politische Reaktionen in gleich mehreren betroffenen Ländern hervorrufen kann. Hierdurch verkompliziert sich die politische Ökonomie des Außenhandels ungemein: Es wird immer weniger prognostizierbar, welche gesellschaftlichen Gruppen in welchem Land durch welche Entwicklungen in anderen Ländern wie betroffen sein werden. Diese Unsicherheit trägt sicher nicht zur Beruhigung eben jener gesellschaftlicher Gruppen bei, die sich durch den Handel bedroht fühlen. Politische Effekte, z. B. Zulauf zu populistischen Parteien, die versprechen, die Interessen der verunsicherten Gruppen zu schützen, mögen die Folge sein. Dies bringt mich zur vierten These, die besagt, dass v. a. demokratische MehrebenenSysteme für „Globalisierungsfrust“ wie oben skizziert politisch anfällig sind. Zur Untermauerung dieser These ziehe ich die ökonomische Theorie des Interessengruppenwettbewerbs in der Tradition Mancur Olsons heran, der bereits in den 1960er Jahren pointiert herausgearbeitet hat, wie Interessengruppen eine weit höhere politische Schlagkraft entwickeln können als ihr Stimmenpotenzial vermittelt.7 Eine Interessengruppe ist, Olson zufolge, typischerweise dann besonders effektiv, wenn sie nicht zu viele Mitglieder hat, recht homogen und gleichzeitig ausreichend finanzstark ist. Ist sie zu groß, gerät die Interessengruppe unter Umständen in die „Falle des kollektiven Handelns“, die darin besteht, dass sich die einzelnen Mitglieder nicht genug engagieren, weil sie darauf vertrauen, dass sich in einer großen Gruppe genügend andere engagierte Mitglieder finden werden; denken alle so, engagiert sich niemand in ausreichendem Maße. Ist die Interessengruppe sehr heterogen, d. h. vereint sie viele Mitglieder mit widerstreitenden Interessen, kann sie ihre Lobbying-Maßnahmen nicht konzentrieren, um politische Erfolge zu erzielen. Fehlt es der Interessengruppe an finanziellen Mitteln, z. B. weil sie ineffektiv darin ist, die Mitglieder zu Beiträgen und Spenden zu veranlassen, fehlt es ihr an der wichtigsten Ressource im Lobbying. Technologische Entwicklungen wiederum, wie das Aufkommen der sozialen Netze, haben Interessengruppen aber auch gleichzeitig in die Lage versetzt, Grass-Roots-Kampagnen viel effektiver als früher zu organisieren. Betrachtet man nun die Entwicklungen v. a. in den westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten, so fällt auf, dass sich in einer ganzen Reihe von vormals erfolgreichen Industriebranchen Globalisierungsfrust breitgemacht hat. Beispiele in Deutschland finden sich in der Stahlindustrie, dem Bergbau ebenso wie im Schiffbau oder anderen Branchen. Die von der Globalisierung und dem technologischen Wandel negativ betroffenen Gruppen sowie diejenigen, die fürchten, negativ betroffen zu werden, sind heute aber sehr wohl in der Lage, effektive vereinte Interessengruppen zu bilden und ihren Unmut über die aktuellen Entwicklungen politisch wirksam zu machen. Es wird in diesem Zusammenhang oft 7 Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 2004.

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unterschätzt, wie sehr sich in einem föderalen Mehrebenen-Systemen aufgrund der Vielzahl an stattfindenden Wahlen die Schlagkraft solcher Gruppen potenzieren kann. Das vielleicht beste Beispiel liefert der Wahlerfolg von Donald Trump in den USA, der dadurch ermöglicht wurde, dass sich verschiedene von der Globalisierung und Digitalisierung frustrierte Gruppen zur Unterstützung eines besonders rabiaten Kandidaten zusammengeschlossen hatten. Die fünfte und letzte These besagt schließlich, dass die globale Ökonomie zunehmend schwieriger zu koordinieren wird. Diese Vermutung folgt direkt aus den zuvor genannten Thesen. Bevor die These untermauert werden soll, möchte ich kurz auf den Begriff der Koordination eingehen. Koordination meint nicht die zentralisierte Steuerung der globalen Handelsbeziehungen und der internationalen Arbeitsteilung; mit Koordination meine ich die erforderlichen Klärungen wirtschafts- und währungspolitischer Fragen sowie die Planung gemeinsamer Aktionen, die eng verflochtene Volkswirtschaften immer wieder durchführen müssen. Diese Form der Abstimmung untereinander wird dadurch nicht gerade vereinfacht, dass es über den Staaten im internationalen Geschehen keine übergeordnete Instanz gibt. Internationale wirtschaftspolitische Koordination funktioniert am besten, wenn die Schocks, auf die reagiert werden muss, alle beteiligten Ländern betreffen und dort ähnliche Probleme verursachen. Der Einflusskanal der Weltwirtschaft schafft aber, wie oben dargestellt, in verschiedenen Ländern ganz verschiedene, schwer vorhersehbare Probleme. Vor allem in Krisenzeiten wird die internationale Koordination aus meiner Sicht immer schwieriger, da die Interessen der einzelnen nationalen Akteure divergieren. Die Euroschuldenkrise liefert ein schönes Anschauungsbeispiel: Eine abgestimmte Aktion, in der z. B. im stabilen Nordeuropa eine expansive Lohn- und Fiskalpolitik die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit durch interne Abwertung im gebeutelten Südeuropa flankiert, lässt sich aus politischen Gründen nicht realisieren. Erschwert wird die Lage dann noch zusätzlich durch nationale Alleingänge und generelle Politikverdrossenheit, die Wasser auf den Mühlen von Populisten ist. Der Verlust an internationaler wirtschaftspolitischer Koordinationsfähigkeit kann nach meinem Dafürhalten auch die Weiterentwicklung wichtiger Institutionen der globalen Ökonomie (z. B. Handelsabkommen) nicht nur verlangsamen, sondern stoppen oder sogar umkehren. Hierin zeigt sich vielleicht am besten, dass tatsächlich die Entwicklung der global verflochtenen Ökonomie langfristig keinem systemimmanent stabilen, d. h. auf Wachstum ausgerichteten, Entwicklungspfad folgt. Immer wieder werden Phasen auftreten, in denen die internationale Arbeitsteilung und der zwischenstaatliche Handel sich langsamer oder gar rückwärtsgerichtet entwickeln. Die Entwicklung hin zu einer globalen, arbeitsteilig organisierten Ökonomie ist dementsprechend nicht unumkehrbar, sondern Risiken ausgesetzt, die mit zunehmender internationaler Verflechtung immer gravierender werden. Grund für Pessimismus besteht indes aus meiner Sicht nicht: Die Tatsache, dass die Risiken immer weiter gestreut sind, impliziert eine abnehmende Wahrscheinlichkeit einer Umkehrung des Globalisierungstrends. Dies heißt aber nicht, dass der Globalisierung nicht hin und wieder „die Puste ausgehen kann“. Auf solche Phasen sollten wir uns einstellen und sie mit Geduld überwinden.

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Sylvia Hahn

Migration als globale Herausforderung: eine Weltgesellschaft der Wanderungen? I. Der Laptop, mit dem dieser Artikel geschrieben wird, ist das Produkt von einem „der größten US-amerikanischen PC- und Druckerhersteller“. Das Unternehmen ist registriert in Wilmington, Delaware, und die Zentrale befindet sich in Palo Alto in Kalifornien. Als Herstellungsort wird „Made in China“, als Registrierungsort des Gerätemodells Böblingen in Deutschland vermerkt. Über die regionale Herkunft der vielen Einzelteile, die mein Schreibwerkezug enthält, gibt es – außer zahlreiche für einen Laien nicht identifizierbare Logos auf der Geräterückseite – keine weiteren Hinweise. Wir können aber vermuten, dass die unterschiedlichen und zahlreichen Bestandteile des Computers in ebenso zahlreichen und unterschiedlichen Weltregionen hergestellt und nach langen Transportwegen schlussendlich in China zu dem Laptop, wie er nun auf meinem Schreibtisch steht, zusammengefügt wurden. Das heißt: Im Prinzip schreibe ich meinen Artikel mit einem Produkt unserer mittlerweile – produktionsbedingt – dicht vernetzten „Weltgesellschaft“. Auch die Tasse Kaffee auf meinem Schreibtisch oder das T-Shirt, das ich trage, sind typische Konsumwaren, die sich in den heutigen Haushalten befinden und aus den unterschiedlichsten Weltregionen stammen. Darüber hinaus verfügen wir durch das Internet seit knapp zwei Jahrzehnten über eine kommunikative Anbindung an das globale politische, wirtschaftliche Leben und Alltagsgeschehen. Diese dichte Vernetzung unserer kleinen Alltagswelt mit den großen globalen Geschehen „draußen“ sowie die uns umgebenden Waren und Konsumartikel, gepflanzt und produziert in den unterschiedlichsten Erdregionen, lassen eigentlich die These zu, dass wir längst in einer global vernetzten Weltgesellschaft leben. Neben den zig Millionen Touristen, die derzeit weltweit auf ihren urlaubsmäßigen Entdeckungs- und Erholungsreisen auf den verschiedenen Kontinenten unterwegs sind, kommen noch die täglichen Nachrichten über die zahlreichen freiwilligen und unfreiwilligen MigrantInnen, die als politische oder Kriegsflüchtlinge, als ArbeitsmigrantInnen oder als „modern slaves“ von Süd nach Nord oder von Ost nach West bzw. auch in umgekehrte Richtungen unterwegs sind, dazu. Gerade dieser Aspekt jedoch lässt, verfolgt man die Berichte in den lokalen oder auch internationalen Medien, die These einer Weltgesellschaft ins Wanken geraten. Denn, wie wir in den einzelnen Ländern Europas wie auch in anderen Staaten der Welt mittlerweile fast täglich nachverfolgen können, sind es gerade die Wanderbewegungen bzw. Migrationen, die die Bevölkerung verunsichern, Ängste und Befürchtungen sowie Rassismen hervorrufen. Diese Verunsicherungen der Bevölkerung werden von ein-

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zelnen politischen Parteien geschürt und genutzt, um daraus politische Erfolge zu erzielen. Es stellen sich in diesem Zusammenhang daher folgende Fragen: Warum bekennen wir uns waren- und konsummäßig zu einer dicht vernetzten Weltgesellschaft mit all ihren Vorund Nachteilen? Warum fördern wir, dass Lebensmittel, Pflanzen, Tiere, Kleidung, technische Produkte und viele andere Konsumartikel weltweit gehandelt werden, mit Schiffen und Flugzeugen quer über die Kontinente auf ihre (Handels-)Wanderwege gehen? Warum werden im Gegensatz dazu die „Wanderwege“ – die Binnen-, internationalen oder globalen Migrationen – der Menschen überwiegend als Bedrohung wahrgenommen und abgelehnt? Sollten wir uns nicht fragen, ob hier nicht doch Zusammenhänge bestehen, die wir nicht sehen wollen? Welche Verbindungen gibt es zwischen dem Welthandel, den Weltmärkten, den Warenproduktionen und den (Arbeits-)Migrationen der Menschen? Werden diese Waren von weiblichen und männlichen, freiwilligen oder unfreiwilligen (Arbeits-)MigrantInnen, teilweise auch von Kindern produziert? Warum, so müssen wir uns fragen, zerbrechen wir uns den Kopf über „fair trade“, über „fair trade“-Produkte, verschwenden aber gleichzeitig keinen Gedanken über „fair migration“ der derzeit weltweit rund 244 Millionen MigrantInnen? Rund 15 Millionen, das sind rund 8 % der derzeit weltweiten MigrantInnen, entfallen dabei auf politische oder Kriegsflüchtlinge. Der überwiegende Großteil der MigrantInnen, rund 90 %, macht(e) sich aufgrund von Arbeitssuche, Bildung, Karriere, Heirat, aus Armut oder umweltbedingt auf den Weg. Diese internationalen Migrationen haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen: von 173 Millionen im Jahr 2000, auf 222 Millionen im Jahr 2010, 232 Millionen im Jahr 2013; 2015 ist mit 244 Millionen ein neuer Höchststand erreicht worden. Trotz allem machen diese internationalen MigrantInnen nur rund 3 % der gesamten Weltbevölkerung aus. Obwohl uns das Thema der Migration direkt oder indirekt täglich begleitet und wir mittlerweile wissen, dass die Wanderungen der Menschheit so alt sind wie die Menschheit selbst, wird Migration noch immer als etwas Außergewöhnliches dargestellt und angesehen. Warum schaffen es Politik und Medien, der Bevölkerung in Europa bei jeder neuen Migrationsbewegung das Gefühl zu vermitteln, dass wir das erste Mal mit Migrationen, insbesondere mit Zuwanderung, konfrontiert sind? Dafür sind meines Erachtens mehrere Faktoren ausschlaggebend: 1. Wir wissen mittlerweile zwar, dass Migration eine lange Geschichte hat, trotzdem wird diesem Aspekt im kollektiven Gedächtnis, in der Erinnerungskultur der europäischen Gesellschaft1, aber auch in der Familiengeschichte nur wenig Platz eingeräumt. Migration wird nach wie vor zumeist als aktuelles, aber kaum als zeitüberspannendes historisches Phänomen wahrgenommen und Sesshaftigkeit als „das“ gesellschaftliche Lebensprinzip deklariert. Dass Migrationen stets als ein einmaliges und erstmals auftretendes Phänomen diskutiert und dargestellt werden können, liegt daran, dass Migrationen kaum in der (histo1 Christiane Harzig (Hrsg.), Migration und Erinnerung. Reflexionen über Wanderungserfahrungen in Europa und Nordamerika, Göttingen 2006.

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rischen) Langzeitperspektive betrachtet werden und es diesbezüglich, angefangen von den Einzelindividuen und den Familien bis hin zur Erinnerungskultur eines Staates, ein überaus kurzzeitiges Gedächtnis gibt. Die Betrachtung und Analyse von Wanderbewegungen in einer historischen Langzeitperspektive und deren Kontinuitäten und Diskontinuitäten wird kaum in den gesellschaftlichen oder politischen Diskurs einbezogen. Die „historische Perspektive“ beschränkt sich zumeist auf die letzten 50 oder 60 Jahre – auf die Ungarnflüchtlinge von 1956 oder die GastarbeiterInnen seit den 1960er Jahren. Selbst die großen Flüchtlingsbewegungen der beiden Weltkriege mit den zahlreich über das heutige Deutschland und Österreich verstreuten Flüchtlings- und Kriegsgefangenenlagern, aus denen nach Kriegsende neue Stadtviertel und Ortschaften entstanden, werden kaum noch diskutiert. Und das, obwohl wir wissen, dass das quantitative Ausmaß an Flüchtlingen und Kriegsgefangenen auf dem Gebiet des heutigen Österreich sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg ein Vielfaches der Flüchtlinge, die 2015/16 zu uns gekommen sind, betrug. 2. Auch fehlt es an Erinnerungsorten, -plätzen und -markierungen, die uns die umfangreiche und vielfältige Geschichte der Zu- und Abwanderung ins Bewusstsein bringen. Aus der Erforschung der Wanderbewegungen im Regionalen, den Wegzügen einzelner Familienmitglieder und den Neuhinzugekommenen in den Dörfern und Städten kann z. B. der Bogen bis zu den weltweiten, globalen Migrationen gespannt werden und das Lokale in das Globale eingeordnet werden. Die Migrationen auf der Mikroebene, etwa die Auswanderung aus ländlichen Gebieten, aus Dörfern (wie bspw. aus dem Burgenland in den 1950er Jahren oder davor) lassen sich in die „große“ Migrationsgeschichte auf der Makro- bzw. globalen Ebene integrieren, da sie ein Teil davon sind. Wichtig dabei ist, aufzuzeigen, dass nationale Grenzen z. B. für regionale Arbeitsmärkte weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart eine Rolle gespielt haben. Denn Menschen waren stets über natürliche, über städtische und später über nationalstaatliche Grenzen hinweg mobil; auch (regionale) Arbeitsmärkte haben sich weder in der Vergangenheit noch heute an (künstlich gezogene) nationalstaatliche Grenzen gehalten. Grenzüberschreitende regionale, nationale und/oder internationale Wanderungen waren und sind Teil des menschlichen Lebens(zyklus) – und das ohne Unterschied des Geschlechts oder des Alters, der ethnischen oder kulturellen Herkunft der Betroffenen. 3. Migration wird stets als eine nationalstaatliche Angelegenheit (der Zu- oder Abwanderung, der ankommenden, bleibenden oder weiterwandernden Flüchtlinge, der Asylsuchenden etc.) betrachtet, diskutiert und erforscht. Migration und Nationalstaat ist (fast) eine Gleichung – eine Gleichung jedoch, die zu kurz greift, um das Phänomen der Migration, der Wanderungen der Menschen, der Menschheit zu verstehen und um auf sie als globale Herausforderung zu reagieren. Diese nationale Fokussierung hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Forschungen im Bereich der Migration von einer stark staatlich-nationalen und eurozentrischen Perspektive geprägt waren und sind. Diese Gleichsetzung von Migration und Nationalstaat verdeckt auch den Blick auf eine durch die Migrationen entstandene und geprägte Weltgesellschaft.

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II. Wie kam es dazu, dass ein – sich nicht an Grenzen haltendes Phänomen wie die Migration – in der Forschung nach wie vor von einem nationalen Standpunkt aus betrieben wird? Dafür müssen wir einen Blick zurück auf die Geschichte der „Wanderungs“-Forschung, wie dieser Wissenschaftszweig bis weit ins 20. Jahrhundert hinein genannt wurde, werfen. Das Interesse und die Erforschung der Wanderbewegungen der Menschheit waren stets aufs engste verbunden mit den Interessen der (staatlichen) Obrigkeiten an seinen Untertanen, an der eigenen und fremden, zugewanderten Bevölkerung. Die Zusammensetzung der Bevölkerung in einer bestimmten Region, in einem Herrschaftsgebiet hat die Regenten bereits in der Antike beschäftigt. Wir wissen von den Römern, dass sie bereits Volkszählungen durchführten oder dass in England 1066, wie dem Domesday Book zu entnehmen ist, eine Bestandsaufnahme der Bevölkerung und Tiere erfolgte. Auch Karl V. ließ 1535 „sein Reich und underthanen beschreiben“ und Philipp II. von Spanien, auch el roy papelero (König der Papiere) genannt, war berühmt für die unter seiner Herrschaft angesammelten Akten über seine Untertanen.2 Der regionalen Herkunft bzw. dem Wanderverhalten schenkten diese zeitgenössischen (Be-)Schreiber noch wenig Beachtung; als wichtig und notierenswert hingegen wurde die religiöse Zugehörigkeit der Bevölkerung angesehen. Giovanni Botero etwa unterteilte im 16. Jahrhundert in seiner Relazioni universali die europäische Bevölkerung in „sechs Gattungen von Menschen, die sich hinsichtlich ihres Glaubens in Katholiken, Häretiker, Schismatiker, Juden, Türken und Götzenanbeter aufteilen“ ließen.3 Erhebungen zur regionalen Herkunft der Bevölkerung lassen sich seit dem 17. Jahrhundert feststellen. In Wien z. B. ordnete man 1660 die Hausbesitzer an, dass sie ein Verzeichnis der Hausbewohner führen sollten, in dem diese „mit tauf- und zunamen, beiläufig auch das alter, ob sye katholisch oder nicht, ob sye in den erbländern oder außer derselben geboren und waß ihr condition sey“4 angeführt werden sollten. Die in diesem Zusammenhang erfolgten frühen Erhebungen der regionalen Herkunft dienten v. a. dem Zwecke der Ausweisung und Abschiebung von Fremden und/oder „unliebsamen“ Personen, wie Juden, Bettlern, Prostituierten oder anderen delinquenten Personen. Die Zentralisierungsbestrebungen in den sich herausbildenden Nationalstaaten verstärkten diese Informationssammlung über Land und Leute. Was folgte war eine wahre Zählungseuphorie im ausgehenden 18. Jahrhundert: Häuser, Personen und männliche Rekruten sollten ebenso gezählt werden wie die Bäume in den Wäldern, die Kohle- und Erzvorkommen,

2 Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hrsg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert, Paderborn 1980, 15–24. 3 Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hrsg.), Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456–1813, Berlin 1994, 195. 4 Zit. n. Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2007, 27.

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Schiffe, Preise etc. Diese quantitativen Erfassungen, das Sammeln von Zahlen, Daten und Fakten über Bevölkerung und (Natur-)Ressourcen wurde für die europäischen Herrschaftshäuser zunehmend ein wichtiger politischer Faktor. Zu Beginn des 19. Jahrhundert hatten sich Zahlen und Tabellen endgültig im politisch administrativen und militärischen Bereich als Verwaltungs- und teilweise als Entscheidungsgrundlagen durchgesetzt.5 In der Habsburgermonarchie begann man ab 1804 bei den Bevölkerungserhebungen auch zwischen Einheimischen und Fremden zu unterscheiden.6 In der Folge waren es v. a. die Wissenschaftler der statistischen (Zentral-)Büros, die sich mit der regionalen Herkunft der Bevölkerung, den Wanderbewegungen und den daraus resultierenden administrativen, aber auch sozialen Aspekten und Problemen auseinandersetzten. Ausschlaggebend dafür waren die aufgrund der zunehmenden Industrialisierung und den politischen Ereignissen bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiven Migrationen in den unterschiedlichsten Regionen Europas. Wissenschaftliche Publikationen, die sich mit dem Thema der Migration auf unterschiedlicher Weise beschäftigen, erlebten im ausgehenden 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt in den Fächern der Demographie, Sozialgeographie und Nationalökonomie. Dabei versuchte man Gleichförmigkeit bzw. Gesetzmäßigkeiten von Wanderungsbewegungen ebenso zu analysieren und festzumachen wie Klassifikationen und Typologien der Wanderungen. Ein besonderer Fokus lag dabei in den meisten europäischen Staaten zunächst auf den Binnenmigrationen, insbesondere auf den Land-Stadt-Migrationen (Stichwort: Landflucht). Aber auch die (saisonalen, oft grenzüberschreitenden) Arbeitsmigrationen von zigtausenden Tagelöhnern und Arbeitern wurden ebenso thematisiert wie die Ausweisungen von Delinquenten, Vaganten, Armen oder politisch verdächtigen Personen.7 Neben der Binnenmigration schenkte man aufgrund der massiv ansteigenden transatlantischen Überseemigration diesem Bereich verstärkt ein Augenmerk. Daten zur Überseewanderung wurden zwar schon seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesammelt, jedoch blieben diese zunächst noch sehr unpräzise. Erst um 1880 konnten diese Datensammlungen durch eine zunehmende Zusammenarbeit der nationalstaatlichen Statistikzentralen mit den Hafenämtern und konsularischen Behörden erweitert sowie vermehrt Artikel dazu publiziert werden. Insgesamt verließ rund ein Fünftel der gesamten europäischen Bevölkerung im Laufe des 19. Jahrhunderts den Kontinent, wobei 35 Millionen nach Nordamerika, 8 Millionen nach Südamerika und der Rest in andere Teile der Welt gingen. Am Höhepunkt der europäischen Auswanderung zur Jahr5 Rassem/Stagl, Geschichte der Staatsbeschreibung, 4. 6 Heinrich Rauchberg, Die Heimatsverhältnisse der Bevölkerung Österreichs nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890, in: Statistische Monatsschrift 1892, 345–401; siehe auch: Harald Wendelin, „Schub und Heimatrecht“, in: Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hrsg.), Grenze und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750–1867), Wien – Köln – Weimar 2000, 173–343, 194. 7 Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008, 38.

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hundertwende (1900–1915) wanderten aus Europa 9.4 Millionen in die USA, 2.6 Millionen nach Kanada, 2.2 Millionen nach Argentinien, 1 Million nach Brasilien und rund 900.000 nach Australien und Neuseeland aus.8 Diese enormen Migrationsbewegungen sowohl innerhalb Europas wie auch die transatlantischen Überseeauswanderungen führten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dazu, dass sich die Wissenschaft neben den statistisch-demographischen und quantitativen Analysen in zunehmendem Maße auch aus soziokultureller, sozialwissenschaftlicher und/oder gesellschaftspolitischer Sicht diesem Aspekt annahm. Es entstanden Studien im Bereich der sich etablierenden Soziologie, wie etwa von Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Max Weber, Rudolf Heberle, Alexander und Eugene Kulischer etc., von Geographen und Nationalökonomen (z. B. Ernst Georg Ravenstein, Gustav Schmoller, Karl Bücher) oder von politischen Akteuren. Die dabei vertretenen Positionen waren ebenso vielfältig wie unterschiedlich und reichten von positiven über kritische bis hin zu ablehnenden und negativen Stellungnahmen und Argumentationsweisen. Für den Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie Karl Büchers brachte beispielsweise die Zuwanderung von Fremden „eine Erweiterung des Gesichtskreises, einen frischen Luftzug in verrottete örtliche Zustände“ und „manchmal eine Steigerung der Arbeitsenergie“9. Im Gegensatz dazu sah der Nationalökonom Gustav Schmoller in den Wanderbewegungen einen negativen gesellschaftspolitischen Faktor, wodurch es zum Niedergang von Familienleben und Familienbeziehungen, zu Sittenlosigkeit, Rohheit, „Vergötterung“ von Luxus und Konsum etc. kommen würde. Eine Lösung sah Schmoller in der Sesshaftigkeit der Menschheit, die er daher als „die Mutter der wichtigsten socialen und wirtschaftlichen Tugenden“10 bezeichnete. Mit dieser Idealisierung der Sesshaftigkeit und Festschreibung der angeblichen Stabilität der Bevölkerung seit der frühen Neuzeit, bei gleichzeitiger moralisierend negativer Bewertung der regionalen Mobilität, legte man den Grundstein für Wertvorstellungen und Normen, wonach Sesshaftigkeit als eine respektable und die Nicht-Sesshaftigkeit als eine nicht-respektable Lebensweise angesehen wurden (und teilweise noch immer angesehen werden). Dazu kam, dass Wanderbewegungen in zunehmendem Maße auch unter deutsch-nationalen Gesichtspunkten diskutiert wurden. Im Mittelpunkt dabei standen v. a. die Ost-WestWanderungen, d. h., die Migrationen der slawischen Bevölkerung in deutschsprachig dominierte Arbeitsmarktregionen. Als eine Kernfrage kristallisierte sich dabei jene um die Aufrechterhaltung bzw. den Verlust der Dominanz der deutschsprachigen Bevölkerung her-

  8 Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migration in the Second Millenium, Durham – London 2002, 332.   9 Karl Bücher, Die inneren Wanderungen und das Städtewesen in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung, in: Karl Bücher (Hrsg.), Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1922, 429–464, hier 448. 10 Gustav Schmoller, Der moderne Verkehr im Verhältnis zum wirtschaftlichen, socialen und sittlichen Fortschritt, in: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, 14–36, 31–32.

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aus. In diesen stark deutsch-national geprägten Positionen wurde ein sozial-kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber den MigrantInnen aus dem osteuropäischen Raum vertreten. Max Weber beispielsweise warnte vor einer „Polonisierung des Ostens“ Deutschlands: „Wir werden“, wie er ausführte, „im Osten denationalisiert, und das ist keineswegs eine blosse Nationalitätensorge, sondern das bedeutet: es wird unser Kulturniveau, der Nahrungsstand der Landbevölkerung und ihre Bedürfnisse herabgedrückt auf das Niveau einer tieferen, östlicheren Kulturstufe“11. Die Abgrenzung zu den mobilen Bevölkerungsgruppen durch die Postulierung von Sesshaftigkeit und Stabilität als „die“ gesellschaftlich respektablen Grundwerte sollte sich in der Folge durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen. In den 1930er und 1940er Jahren erfolgte im Zuge der nationalsozialistischen Ideologie und deren Antisemitismus eine Distanzierung zur Mobilität, die vielfach in stereotyper Weise mit der jüdischen Bevölkerung und den Zigeunern assoziiert wurde. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leisteten die Bevölkerungswissenschaften in den 1930er und 1940er Jahren. Zu wichtigen Repräsentanten zählten Gunther Ipsen und Friedrich Burgdörfer. Für die Beschreibungen der Wanderbewegungen benutzte Burgdörfer, ähnlich manchen literarischen Ausführungen des 19. Jahrhunderts, meteorologische Metaphern: Einem deutschen „Tiefdruckgebiet“ stünde ein osteuropäisches „Hochdruckgebiet“ gegenüber, aus dem eine „slawische Flut“ bzw. allgemein „fremde, auf tieferer Kulturstufe stehende Scharen“ nach Deutschland strömen würden12. „Am Ende des Jahrhunderts“, wie Burgdörfer feststellte, „dürfte der slawische Anteil an der europäischen Bevölkerung 50vH. erreicht, wenn nicht überschritten haben“; seine Schlussfolgerung daraus: „Europa steht im Begriff ein vorwiegend slawischer Erdteil zu werden“13. Die Nähe der Bevölkerungswissenschaften zur Ideologie und teilweise Involvierung in die Politik des Nationalsozialismus hatte zur Folge, dass dieser Wissenschaftsbereich in den unmittelbaren Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg im deutsch-österreichischen Sprachraum eine Stagnation erlitt. Das gleiche galt für die Mobilitätsforschung, die gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten mit den Millionen von Flüchtlingen und DP’s, in einer Zeit höchster Mobilität, in Europa fast zum Stillstand kam.14 Erst in den 1980er 11 Max Weber, Die ländliche Arbeitsverfassung, in: Max Weber (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Hrsg. von Marianne Weber), Tübingen 1988, 444–469, 452. 12 Friedrich Burgdörfer, Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft – der Sozialpolitik der nationalen Zukunft, Heidelberg-Berlin 1938, 411; siehe auch: Josef Ehmer, Migration und Bevölkerung – Zur Kritik eines Erklärungsmodells, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXVII (1998), 5–29, hier 26. 13 Burgdörfer, Volk ohne Jugend, 389. 14 Im Gegensatz dazu erlebte die Wanderungsforschung bereits erste Hochkonjunkturen im anglo-amerikanischen Raum, insbesondere in dem Einwanderungsland, den Vereinigten Staaten. Die Publikationen umfassten statistische Datensammlungen zur internationalen Migration sowie bahnbrechende soziologische, historische bzw. historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu den Lebens- und Arbeitssituationen, der Integration, Assimilation etc. der Migrantinnen aus Europa im Ankunftsland. Ausgeblendet blieben bis in die 1970/80er

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Jahren widmete man sich den Herkunftsregionen der ImmigrantInnen, den sozialen, ökonomischen und politischen Ausgangsbedingungen für die Auswanderung über den Atlantik. In Europa blieben die Forschungen des angelsächsischen sowie der nordischen Länder zur atlantischen Überseemigration dominierend.15 Diese wissenschaftliche „Durststrecke“ im deutschsprachigen Raum konnte erst in den 1970er und 1980er Jahren überwunden werden.16 Anknüpfung an die traditionellen Themen der Überseemigration entstanden – v. a. im Zusammenhang mit der in den 1970/80er Jahren boomenden ArbeiterInnengeschichte – Untersuchungen zur Zuwanderung in die industriellen Ballungsgebiete des 19. Jahrhunderts in Deutschland (Stichwort Ruhrpolen) und in Österreich (z. B. nach Wien, Niederösterreich, Steiermark, Vorarlberg). Seit den 1980er Jahren haben die soziologische und die historische Migrationsforschung in Deutschland und Österreich zwar enorm an Dynamik gewonnen, allerdings nach wie vor mit einer starken nationalen Fokussierung und vorrangig eurozentrischen Perspektive. Dies hat zur Folge, dass nach wie vor Studien z. B. zu den „GastarbeiterInnen in Deutschland“ oder den „GastarbeiterInnen in Österreich“, über die italienischen MigrantInnen in Deutschland, die türkischen Zuwanderer in Wien etc. dominieren. Was dabei übersehen wird, ist, um beim Beispiel der „Gastarbeiter“ zu bleiben, dass zahlreiche dieser MigrantInnen oft über mehrere Stationen, also in einer „step by step migration“, an ihren nunmehrigen Aufenthaltsort kamen. Auch befinden sich sehr oft einzelne Familienmitglieder dieser GastarbeiterInnen in den unterschiedlichsten mittel- oder nordeuropäischen und/oder auch überseeischen Städten. Ein Großteil dieser Familien verfügt mittlerweile über ein globales familiäres Netzwerk und ist Beispiel für „global families“. Derartige globale familiäre Migrationsnetze lassen sich bei Migranten aus dem südosteuropäischen Raum häufig ausmachen. Vielfach stehen sie in Zusammenhang mit den zeitlich weit zurückgehenden Wanderbewegungen, die in diesem Gebiet Europas aufgrund von Kriegen, Herrschaftsansprüchen und deren Folgen enorm waren.17

III. Ein breiter Blick über die Nation und Europa hinweg – auf eine Weltgeschichte der Migration ließ auf sich warten. Dabei gab es durchaus Vorbilder, an die man anknüpfen hätte Jahre Studien über die Immigration aus dem asiatischen Raum oder aus anderen Weltregionen. Siehe: Imre Ferenczi/Walter F. Willcox, International Migrations, New York – London – Paris 1929–1931. 15 Siehe im Detail Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht, 71–84. 16 Im deutschsprachigen Raum haben v. a. Klaus Bade, Dirk Hoerder und Christiane Harzig die historische Migrationsforschung seit den 1980er Jahren vorangetrieben: Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Hoerder, Cultures in Contact; Christiane Harzig/ Dirk Hoerder, What is Migration History?, Cambridge 2009. 17 Ulf Brunnbauer, Globalizing Southeastern Europe. Emigrants, America, and the State since the Late Nineteenth Century, Lanham/Boulder – New York – London 2016.

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können wie die von den Brüdern Alexander und Eugene Kulischer verfasste erste „Weltgeschichte“ der Wanderbewegungen.18 In ihrer Überblicksdarstellung, die sich zeitlich vom 7. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt, griffen die beiden Autoren die Frage des seit Malthus heftig diskutierten Nahrungsmittelspielraumes auf und vertraten die These, dass es kein „gleichmäßiges Verhältnis der Bevölkerungszahl zur Nahrungsmittelmenge“ gebe. Sie gingen davon aus, dass es Gebiete gibt, in denen ökonomische oder politische Kräfte die Menschen „abstoßen“ und es zu Ab- bzw. Auswanderung käme; Gebiete mit wirtschaftlich günstigen Bedingungen wiederum würden Menschen „anziehen“ und Zuwanderung war hier die Folge. Diese Theorie der „anziehenden“ und „abstoßenden“ Kräfte sollte als „push and pull“-Theorie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine der wichtigsten Theorien in der Migrationsforschung werden. Auch Forschungen im Bereich der Anthropologie, Archäologie, Geologie, Linguistik oder Genetik (v. a. mit Hilfe der DNA-Analysen) haben gezeigt, dass die Migrationen der Menschen vor einer Million Jahren, ausgehend von Afrika, für die Besiedelungen der anderen Kontinente maßgebend waren.19 Auch kartographische Darstellungen früherer Imperien lassen die enormen Wanderungen der Menschen erahnen, die bei diesen Herrschaftsexpansionen beteiligt waren. Der Eroberungsdrang dieser Kriegsherren und damaligen Herrscher war stets mit der freiwilligen und unfreiwilligen regionalen Mobilität von zigtausenden Männern, Frauen und Kindern verbunden. Denn neben den Soldaten und angeheuerten bezahlten Kriegern waren an diesen Ausdehnungen der herrschaftlichen Einflusssphären aus wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen oder religiösen Gründen noch andere gesellschaftliche und soziale Gruppen beteiligt. Allein die antiken Großreiche, wie etwa das Römische Reich, das sich von der Levante über Mitteleuropa bis nach Großbritannien erstreckte, lassen das Ausmaß der damit verbundenen Mobilität von Soldaten, Handwerkern, Händlern, Künstlern, Bauarbeitern, aber auch von Frauen und Kindern unterschiedlichster ethnischer Zugehörigkeit erahnen. Jüngere Forschungen im Bereich der Archäologie weisen darauf hin, dass schon in der Antike der kulturelle und Wissensaustausch zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen überaus wichtig war und „individual craftspeople workshops, or elite networks of exchange working across linguistic and cultural boundaries“ eine große Rolle dabei spielten.20 Fest steht, dass ohne das Weitertragen von Wissen und Kenntnissen durch die vielfältigen Migrationen der unterschiedlichsten Bevölkerungen die Menschheit sich nicht weiterentwickelt hätte. Die Mobilitätsdistanzen erweiterten sich v. a. durch die technologischen Fortschritte im Schiffbau und im Navigationsbereich ab 1400 deutlich. Damit eröffneten sich nicht nur neue Perspektiven auf die Konstitution der Erde, sondern auch auf neue – den Europäern bisher unbekannte – Kontinente. Diese Ausdehnung der Schifffahrtsrouten der frühen Kolonial18 Alexander Kulischer/Eugene M. Kulischer, Kriegs- und Wanderzüge, Berlin 1932. 19 Z. B.: Luigi Luca Cavalli-Sforza, Genes, Peoples and Languages, London 2001. 20 John North Hopkins, The Genesis of Roman Architecture, New Haven – London 2016, 14.

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mächte und die Perspektive der neuen Kontinente führte zu einer ersten Beschleunigung und Ausdehnung der bisher vorrangig auf das Festland beschränkten Migrationspfade. Weitere Erkundungsfahrten und die Entdeckung neuer Seerouten im südostasiatischen und atlantischen Raum folgten in den nächsten Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten. Die Überquerungen der Weltmeere blieben über lange Zeit ausschließlich mit den Namen Christoph Kolumbus, Amerigo Vespucci, Ferdinand Magellan oder für das 18. Jahrhundert mit James Cook verbunden. Die mit diesen Seefahrten, Entdeckungen und Eroberungen verbundenen Migrationen von ArbeitsmigrantInnen, religiösen oder politischen Flüchtlingen, von verdingten Seemännern, Sklaven, Piraten, Händlern, Kaufleuten und ihren Familien war lange in der wissenschaftlichen Forschung nicht die Rede. Eine Wende stellte die – ausgehend von den USA – seit den 1960er Jahren stark an Bedeutung gewinnende Welt- später dann Globalgeschichte dar. Insbesondere im Bereich der Globalgeschichte haben in den vergangenen Jahrzehnten Publikationen enorm zugenommen. Diese setzen sich mit der Wirkungsmacht der Staaten, der Empires, deren Tätigkeiten als Kolonialmächte, deren militärischer Dominanz und Rationalität sowie mit der Bedeutung des Handels, dem Zusammenschmelzen der Weltmeere durch die Entwicklung der Seefahrt und die Entdeckungen anderer Kontinente auseinander. Die Studien zeigen die engen Verlinkungen von Welthandel und Mobilisierung der Bevölkerung in den verschiedenen Weltteilen auf. Denn Hand in Hand mit den Entdeckungen und Eroberungen gingen umfangreiche und vielfältige Formen von Migrationen der Menschen, die von den angeheuerten Arbeitskräften auf den Schiffen, über die Flüchtlinge, Vertriebenen und „freiwillig“ ausgewanderten Siedler etc. Diese MigrantInnen wiederum bedurften beispielsweise in den USA einerseits durch die Expansion nach Westen, den Plantagenanbau, den Aufbau von Verkehrs- und Industrieinfrastruktur weiterer ArbeitsmigrantInnen, die weltweit aus dem europäischen, asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Raum rekrutiert wurden; andererseits setzten die in Nordamerika angekommenen MigrantInnen durch ihre Landnahme die Zwangsmigration und Vertreibung der „Natives“ in Gang. Ein wesentlicher Aspekt dieser umfangreichen „Globalgeschichten“21 ist, dass sie über den transatlantischen Raum hinweg auch die anderen Weltmeere und Kontinente inkludieren und versuchen, die engen Verzahnungen und Verbindungen der Weltmärkte, des Welthandels und letztendlich der durch (Arbeits-)Migrationen verbundenen Weltgesellschaft darzustellen. Kurz: Die südost- und ostasiatischen Meere werden dabei als traditionelle Handelsräume, die bereits im 13. Jahrhundert eine „Protoglobalisierung“ (Wolfgang Reinhard) aufwiesen ebenso in den Blick genommen wie der atlantische oder pazifische Raum.22 21 Maxime Berg, Writing the History of the Global. Challenges for the 21st Century, Oxford 2013; Jürgen Osterhammel, Die Flughöhe des Adlers. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017. 22 Z. B.: Kenneth Pomeranz/Steven Topik, The World That Trade Created. Society, Culture, and the World Economy, 1400 to the Present, London – New York 2013; Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton – Oxford 2000; Nayan Chanda, Bound

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Den ungeheuren Dynamiken, den wechselseitigen Beeinflussungen und Weiterentwicklungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, ob Wirtschaft, Bildung oder Soziales, betrachtet unter einer Langzeitperspektive wurde im letzten Jahrzehnt auch unter einer „welthistorischen“ Perspektive nachgegangen.23 In der historischen Migrationsforschung wurde diese welthistorische und globale Forschungsrichtung in den letzten Jahrzehnten aufgegriffen. Eine Verknüpfung der Entstehung der Handels- und Weltmarktbeziehungen und den damit in Zusammenhang stehenden vielfältigen und divergenten (Arbeits-)Migrationen konnte von einigen VertreterInnen einer globalen Migrationsgeschichte, wie Dirk Hoerder24, Patrick Manning25, Adam McKeown26, Donna Gabaccia und Dirk Hoerder27, Dirk Hoerder/ Elise van Nederveen Meerkerk/Silke Neunsinger28, Marcel van der Linden29, Jan und Leo Lucassen,30 Jan Lucassen/Leo Lucassen/Patrick Manning,31 erfolgreich umgesetzt werden. Analysiert und dargestellt werden dabei die Verbindungen von den Migrationen im Land (Binnenmigration) und den Meerzugängen (Hafenstädte), den Migrationen über die Meere hinweg bzw. die Migrationen innerhalb der einzelnen Meerräume und Kontinente und der hier (spätestens seit dem 15./16. Jahrhundert) ablaufenden Interaktionen.

IV. Eine wichtige Veränderung im Migrationsgeschehen, die sich bereits im 19. Jahrhundert abzuzeichnen begann, nämlich der kontinuierliche Anstieg der weiblichen Migration, ist in der historischen Migrationsforschung lange Zeit unbeachtet geblieben. Auch hier hat es fast ein JahrhunTogether. How Traders, Preachers, Adventures, and Warriors Shaped Globalization, New Haven – London 2007; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. 23 Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte. Imperien, Religionen und System 15.–19. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2005; Peter Feldbauer/Bernd Hausberger/Jean-Paul Lehners (Hrsg.), Globalgeschichte. Die Welt 1000–2000 (8 Bände), Wien 2008. 24 Hoerder, Cultures in Contact. 25 Patrick Manning, Migration in World History, London – New York 2005. 26 Adam M. McKeown, Melancholy Order. Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2008. 27 Donna R. Gabaccia/Dirk Hoerder (Hrsg.), Connecting Seas and Connected Ocean Rims. Indian, Atlantic, and Pacific Oceans and China Seas Migrations from the 1830s to the 1930s, Leiden – Boston 2011. 28 Dirk Hoerder/Elise van Nederveen Meerkerk/Silke Neunsinger (Hrsg.), Towards a Global History of Domestic and Caregiving Workers, Leiden – Boston 2015. 29 Marcel Van der Linden, Workers of the World. Essays towards a Global Labor History, Leiden – Boston 2008. 30 Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hrsg.), Migration, Migration History, History: Old Paradigms and New Perspectives, Bern 1997. Jan Lucassen/Leo Lucassen (Hrsg.), Globalising Migration History. The Eurasian Experience (16th–21st Century), Leiden – Boston 2014. 31 Jan Lucassen/Leo Lucassen/Patrick Manning (Hrsg.), Migration History in World History. Multidisciplinary Approaches, Leiden – Boston 2010.

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dert gebraucht, dass die von der Gründergeneration der Migrationsforscher im 19. Jahrhundert etablierte Meinung, Frauen seien weniger „mobil“ als Männer, im ausgehenden 20. Jahrhundert einer kritischen Durchleuchtung unterzogen wurde. Mittlerweile haben zahlreiche Studien aufgezeigt, dass der Anteil der Frauen am Migrationsgeschehen in früheren Jahrhunderten ebenso wie heute noch weitgehend unterschätzt wurde und wird.32 Insbesondere im 20. Jahrhundert nahm der Anteil der Frauen an den MigrantInnen in den USA und in Europa, und ab den 1970er und 1980er Jahren auch im asiatischen Raum stark zu. Wie im 18. und 19. Jahrhundert ist es auch im 20. und 21. Jahrhundert die steigende Nachfrage im Dienstleistungs- und Gesundheitsbereich, die zu diesem Anstieg beiträgt. Die starke Nachfrage nach Haushälterinnen in DoppelverdienerHaushalten sowie an Kranken- und Altenpflegerinnen in den reichen kapitalistischen Ländern in Europa, den USA, Kanada und im arabischen Raum33 haben zu einer weltweiten Mobilisierung von weiblichen Arbeitskräften in diesen Erwerbsbereichen geführt. Die Bandbreite reicht dabei von Krankenschwestern aus Surinam oder den Philippinen, den Haushälterinnen aus Mexiko in Kalifornien, dem Reinigungs- und Pflegepersonal aus Süd- und Osteuropa in West- und Mitteleuropa, den Nannys aus Puerto Rico oder aus China in New York, den Haushälterinnen aus Ostafrika und Asian in Dubai etc.34 Der Großteil dieser Frauen ist, wie die (Arbeits-)Migrantinnen des 19. Jahrhunderts, längst durch die regelmäßigen finanziellen Rücksendungen an die Familien zu female breadwinners35 geworden. Studien der UN und IOM haben aufgezeigt, dass Frauen regelmäßig und auch höhere Beträge als männliche Migranten an ihre Familien zurücksenden. Von den beispielsweise im Jahr 2005 in Rom anwesenden 26.000 weiblichen und männlichen Migranten von den Philippinen waren 16.000 (61 %) Frauen, von denen der überwiegende Teil mit einem Anteil von 73 % verheiratet und zu 34 % der Altersgruppe zwischen 36 und 45 Jahren sowie 57 % der Altersgruppe über 46 Jahren angehört. Bei durchgeführten Interviews gaben 85 % der Frauen an, dass sie jeden Monat rund die Hälfte oder mehr ihres monatlichen Einkommens (rund 600,- €) an ihre Familie überwiesen. Von den männlichen Arbeitsmigranten waren es 64 %, die ihren Familien monatlich remittances übermittelten.36 32 Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt/Main – New York 2012; Katharina  M. Donato/ Donna Gabaccia, Gender and International Migration, New York 2015. 33 Die Golfstaaten rekrutierten seit 1990 ca. 2 Millionen Inder, 1.5 Millionen Pakistanis, 200.000 Bangladescher sowie weitere Arbeitsmigranten aus Sri Lanka, den Philippinen und aus Südkorea. Um 2000 bestand die Bevölkerung der Arabischen Emirate zu 70 % aus Zuwanderern, in Katar zu 88 %. Siehe: Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016, 1273. 34 Marlou Schrover/Eileen Yeo (Hrsg.), Gender, Migration, and the Public Sphere 1850–2005, New York – Oxford 2010; Dirk Hoerder/Elise van Nederveen Meerkerk/Silke Neunsinger (Hrsg.), Towards a Global History of Domestic and Caregiving Workers, Leiden – Boston 2015. 35 Sylvia Hahn, Labour Migration and Female Breadwinners, in: Mirjam Milharčič Hladnic (Hrsg.), From Slovenia to Egypt. Aleksandrinke’s Trans-Mediterranean Domestic Workers’ Migration and National Imagination, Göttingen 2015, 39–46. 36 Gender, Remittances and Development. The case of Filipino Migration to Italy (2008) http://www.aer.ph/pdf/ papers/GenderRremittances&Devt-OFWsinItaly.pdf (abgerufen 1.11.2017).

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Durch die neuen Kommunikationskanäle hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Marktsegment eröffnet, auf dem Frauen zunehmend als Heiratssubjekte gleich Waren weltweit mit Hilfe des Internets und anderer Kommunikationsforen gehandelt werden. Dazu kommt ein weltweiter internationaler Heiratsmarkt. Ehen mit Partnern aus verschiedenen Kulturen, ethnischen und/oder nationalen Zugehörigkeiten sind heute bereits weit verbreitet und stellen v. a. bei den Angehörigen der jüngeren Generation immer mehr eine Selbstverständlichkeit dar. Aber nicht nur als Heiratspartner werden Frauen gehandelt, sondern in zunehmenden Maße auch als genannte Sex- und Arbeitssklaven für die immer größer werdende und weltweit agierende Prostitutions- und Pornoindustrie. Hier ist es in den letzten Jahrzehnten auch zu einer dramatischen Zunahme von Kinderhandel gekommen. Die Zwangsmigration von Kindern aus Indien in Textil- oder Ziegelfabriken als Arbeitskräfte oder deren „Export“ über Meere hinweg in den arabischen Raum ist mittlerweile ebenso bekannt und auch dokumentiert. Das Geschäft mit Menschen, auch human trafficking genannt, hat historisch eine lange Tradition und lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Ausmaß und Umfang haben jedoch durch die günstigen Verkehrs- und Transportmöglichkeiten und die mittlerweile global agierenden und gut vernetzten Schlepperbanden eine neue und quantitativ ungeheure Dimension erreicht. Mit einer weiteren Steigerung der weiblichen und Kindermigration wird gerechnet. Auf diesem Gebiet gibt es forschungsmäßig noch viel zu tun. Wenig Berücksichtigung finden nach wie vor die Binnenmigrationen, die v. a. im asiatischen Raum massiv in den letzten Jahrzehnten angestiegen sind. Die Verlagerung der Textil- und Bekleidungsproduktion aus Europa und den USA in die sogenannten „Billiglohnländer“ wie Indien und China hat in diesen Ländern zu einer starken Arbeitsmigration insbesondere von jungen Mädchen und Frauen geführt. Kurz gesagt: Der überwiegende Teil unserer Kleidung wird von ArbeitsmigrantInnen auf einem anderen Erdteil produziert. Auch dieses Beispiel zeigt wieder, wie stark wir mittlerweile als Weltgesellschaft zusammengefügt sind, wenn wir die Perspektiven ein wenig wechseln. Oder: Allein in China hat die Binnenmigration aufgrund des rapiden Wirtschaftswachstums insbesondere vom Land in die industrialisierten Städte in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen. Schätzungen zufolge sind 100 bis 200 Millionen Frauen und Männer vom Landesinneren an die Küste und in die Industriezentren gezogen. Dies ist derzeit die größte Migrationsbewegung, die weltweit stattfindet. Bis 2050 wird erwartet, dass weitere 300 bis 500 Millionen Menschen innerhalb von China wandern, da Erwerbstätige in Städten rund drei Mal so viel verdienen wie ein/e Landarbeiter/in. Wir können vermuten, dass einige dieser ArbeitsmigrantInnen an der Produktion, am Zusammenbau des Laptops, mit dem dieser Artikel geschrieben wird, beteiligt waren. Dasselbe können wir für den Kaffee, Kakao, die Tomaten oder andere Obst- und Gemüsesorten, die wir täglich konsumieren, annehmen. Denn wie wir wissen, war in früheren Jahrhunderten die Plantagenarbeit vielfach mit Zwangsmigration und/oder Sklavenarbeit verbunden. Auch heute noch ist die Tätigkeit auf diesen Plantagen mit saisonaler Arbeitsmigration, mit der Arbeit von billigen (freiwillig oder auch unfreiwillig) herbeigeholten Arbeitskräften sowie meist mit einem hohen Maß an Ausbeutung, die mittlerweile auch „modern slavery“ genannt wird, verbunden.

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Sylvia Hahn

Die Zukunft und Perspektiven des weltweiten (und geschlechtsspezifischen) Migrationsgeschehens vorauszusehen und abzuschätzen, ist nach dem Migrationsexperten Khalid Koser „a very unreliable exercise“.37 Zu viele Faktoren beeinflussen die Wanderbewegungen der Menschen; sie lassen sich nicht wirklich rational planen oder regulieren. Obwohl die Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert versucht hat, Gesetzmäßigkeiten bei Wanderbewegungen herauszudestillieren, um das Phänomen der Migration besser verstehen, regulieren oder rational verhandeln zu können, blieben die Lenkungsversuche der Wanderbewegung der Menschen nicht wirklich durchsetzbar. Migrationen entstehen aufgrund von individuellen und/oder kollektiven (familiären) Entscheidungen, die das Resultat von langfristigen Plänen oder kurzfristigen Entschlüssen – bedingt durch ökonomische, politische, ökologische Gegebenheiten oder aufgrund anderer aktueller Ereignisse – sein können. Migrationen waren und sind gleichsam ein Kitt, der die Menschen zu einer Weltgesellschaft zusammenschließt; gleichzeitig spalten sie aber auch unsere (Welt-)Gesellschaft durch ihre Unberechenbarkeiten, ihre meist nicht nach rationalen Kriterien und in bestimmte Richtungen lenkbaren Bewegungen. Trotz allem müssen wir uns eingestehen, wie Barack Obama es in einem BBC-Interview formulierte: „If you like or not, we live in a connected world“ – in einer durch globale (Arbeits-)Migrationen und Weltmärkte verbundenen Weltgesellschaft. Literaturauswahl Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Berg, Maxime, Writing the History of the Global. Challenges for the 21st Century, Oxford 2013. Burgdörfer, Friedrich, Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft – der Sozialpolitik der nationalen Zukunft, Heidelberg – Berlin 1938. Bücher, Karl, Die inneren Wanderungen und das Städtewesen in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung, in: Karl Bücher (Hrsg.), Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1922, 429–464. Brunnbauer, Ulf, Globalizing Southeastern Europe. Emigrants, America, and the State since the Late Nineteenth Century, Lanham/Boulder – New York – London 2016. Chanda, Nayan, Bound Together. How Traders, Preachers, Adventures, and Warriors Shaped Globalization, New Haven – London 2007. Donato, Katharina M./Gabaccia, Donna, Gender and International Migration, New York 2015. Ehmer, Josef, Migration und Bevölkerung – Zur Kritik eines Erklärungsmodells, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Band XXVII (1998), 5–29. Feldbauer, Peter/Hausberger, Bernd/Lehners, Jean-Paul (Hrsg.), Globalgeschichte. Die Welt 1000– 2000 (8 Bände), Wien 2008.

37 Khalid Koser, International Migration. A Very Short Introduction, New York 2007, 109.

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Migration als globale Herausforderung

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III. Das koloniale Erbe, Armut und Reichtum, religiöser Fanatismus, Gender Diversity, Kommunikation, Menschenrechte und Völkerrecht

Thomas Spielbüchler

Die Welteroberung des Kolonialismus und die Marginalisierung indigener Kulturen I. Einleitung Der Titel dieses Beitrags verweist auf ein nicht unbekanntes Thema. In so gut wie allen Analysen von Kolonialismus aus den unterschiedlichsten Disziplinen spielt die Marginalisierung der anderen eine Rolle. Abgesehen von deskriptiven bzw. überblicksartigen Darstellungen bringt z. B. Hannah Arendt1 diese historische Entwicklung in Zusammenhang mit Totalitarismus, während Wladimir Iljitsch Lenin2 darin, der Marx’schen Logik folgend, einen unvermeidbaren Schritt des Kapitalismus auf dem Weg zum Kommunismus erkennt. Achille Mbembe3 klagt in seiner Kritik Facetten der Moderne an, unter denen speziell Afrika bis heute leidet, und Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen4 machen die europäische Expansion in Anlehnung an die Wallersteinsche Weltsystemtheorie verantwortlich für das Entstehen einer Peripherie. In diesem Beitrag soll die Frage nach der modernen europäischen Expansion und deren Umgang mit indigenen Kulturen vor dem Hintergrund des Begriffes „Weltgesellschaft“ untersucht werden. Im Zentrum steht dabei die Überlegung, dass durch den Kolonialismus als Triebfeder der Globalisierung einerseits Werte und Normen global durchgesetzt werden konnten, diese Expansion aber keineswegs die Annäherungen der über den Globus verteilten Gesellschaften mit sich brachte, sondern vielmehr das Entstehen einer Asymmetrie zwischen ihnen förderte. Zur Vorbereitung der Konferenz „Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesell­ schaft“5 wurden leitende Fragen formuliert, die im Wesentlichen den Aufbau dieses Beitrages strukturieren: 1.) Welcher Begriff und welche Aspekte von Weltgesellschaft ergeben sich aus dem konkreten Thema, welche Hauptmerkmale sind im Rahmen der hier verwendeten Fragestellung mit einer globalisierten Weltgesellschaft verbunden? Darauf wird in Kapitel II eingegangen, das den Begriff „Weltgesellschaft“ in der Geschichtswissenschaft umreißt. Kapitel III beschäftigt sich mit der europäischen Expansion als Triebfeder der Globalisie-

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Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986. Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Peking, 1975. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014. Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2012. Michael Gehler/Silvio Vietta (Organisation), Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft? Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien, Hildesheim, 6.–8. Oktober 2016.

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rung, deren Rolle als Startschuss zu einer Weltgesellschaft in Kapitel IV hinterfragt wird. Hier wird auch die zweite Leitfrage behandelt: 2.) Vor welchem historischen Hintergrund entstand der Begriff von Weltgesellschaft im Rahmen der hier behandelten Fragestellung? Kapitel V fokussiert auf eine Weltgesellschaft im Schatten europäischer Werte und Normen, ehe in Kapitel VI die Folgen einer Marginalisierung indigener Kulturen thematisiert werden. Nach dem Fazit in Kapitel VII wird hier auch die dritte Leitfrage aufgegriffen: 3.) Welche Zukunftsperspektiven lassen sich zu dem Begriff Weltgesellschaft formulieren?

II. Der Begriff „Weltgesellschaft“ in der Geschichtswissenschaft Der Begriff „Weltgesellschaft“ spielt in der Geschichtswissenschaft bisher keine Rolle, wohingegen Versuche einer globalen Betrachtung der historischen Entwicklungen eine lange Tradition haben. Osterhammel/Niels P. Petersson fassen beispielsweise in ihrer Geschichte der Globalisierung6 die Entwicklung dieser Tradition und sich daraus ergebende Felder der Geschichtswissenschaft sehr kompakt zusammen. Explizit auf die Problematik geht auch Martin Albrow in seinem Werk „Das Globale Zeitalter“7 ein, wobei er aus soziologischer Sicht die Historiographie der globalen Geschichte beleuchtet. An dieser Stelle ist es zunächst also notwendig, den Begriff „Weltgesellschaft“ durch eine Analogie zu ersetzen, mit der sich die europäische Expansion und deren Auswirkung auf die Gesellschaft(en) beobachten lassen. Mangels Alternativen soll hier zunächst also von Globalisierung die Rede sein, die auf vielfältige Weise verbindet: wirtschaftlich, kulturell, politisch oder eben auch gesellschaftlich. Globalisierung als historisches Schlagwort umreißt dabei eine Dynamik, die nur sehr schwer zu definieren ist. Sie betrifft Subjekte (Individuen, Institutionen, Verbände etc.) genauso wie Strukturen (Politik, Handel, Wissenschaft etc.) und es bleibt eigentlich unklar, ob sie einen eigenständigen Prozess beschreibt oder die Auswirkung von verschiedenen Dynamiken darstellt. Hier wird Globalisierung als historischer Prozess betrachtet, wobei der Vernetzung von Gesellschaften als ein Teilaspekt dieser Dynamik besonderes Augenmerk zuteil wird. Gesellschaften stellen dabei Verbände von Individuen dar, die sich entlang bestimmter Parameter zusammenfinden bzw. im Rahmen von Strukturen verbunden sind. Die einigenden Faktoren definieren sich z. B. aus Kultur, Ökonomie, Politik oder Sozialem. Eine solche Arbeitsdefinition mag als zu simplifizierend erscheinen, aber sie reicht aus, um die Auswirkung des europäischen Kolonialismus/Imperialismus auf indigene Kulturen entlang der vorgegebenen Fragestellungen zu betrachten.

6 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, München 2012. 7 Martin Albrow, Das globale Zeitalter, Frankfurt/Main, 2007.

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Die Welteroberung des Kolonialismus und die Marginalisierung indigener Kulturen

Im Detail ergeben sich daraus natürlich weitere begriffliche Unschärfen, die an dieser Stelle kurz angerissen werden sollten: Kolonialismus und Imperialismus werden synonym verwendet und umschreiben die europäische Expansion beginnend mit der Neuzeit, die im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und damit als ein Charakteristikum der Moderne zu verstehen ist. Indigene Kulturen stellen Gesellschaften dar, die sich auf Basis von politischen und/oder kulturellen bzw. ethnischen Faktoren gebildet haben und einen geographischen Raum prägen, der im Rahmen der europäischen Expansion (verstärkten) Kontakt zum europäischen Kulturkreis bekommt. Die Globalisierung ist dabei keineswegs ein Prozess, der auf Egalität der Gesellschaften beruht bzw. eine solche zum Ziel hat. Vielmehr sind damit hierarchische Prinzipien verbunden, die einzelnen Gesellschaften zum Vor- bzw. Nachteil gereichen können. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der europäischen Expansion und einer damit einhergehenden Marginalisierung indigener Kulturen. Weltgesellschaft wird also, um die erste Leitfrage nach dem Verständnis des Begriffes aufzugreifen, als Teilaspekt der Globalisierung betrachtet. Dieser Teilaspekt betrifft die Vernetzung von Gesellschaftsverbänden. Dabei fällt besonders die Hierarchisierung innerhalb dieses Netzwerkes ins Auge, die eine Vormachtstellung der expandierenden Mächte umschreibt.

III. Die europäische Expansion als eine Triebfeder der Globalisierung Als im 15. Jahrhundert portugiesische Seefahrer Segel setzten, um mit ihren vergleichsweise plumpen Schiffen die europäische Expansion der Neuzeit einzuleiten, waren dies natürlich keineswegs die erstmaligen Ansätze einer Vernetzung von Wirtschaftsinteressen oder Gesellschaften. Seit der Antike gab es eine ganze Reihe von militärischen, politischen, wirtschaftlichen und/oder religiösen Reichen, die mehr oder weniger für sich in Anspruch nahmen, große Teile der jeweils bekannten Welt zu umspannen. Tatsächlich wurden durch solche Ausdehnungen Kulturen vernetzt. Europäische Gesellschaften waren dabei jedoch, falls überhaupt involviert, keineswegs immer in der Position der Stärkeren oder technisch Überlegenen. Aus diesen frühen Ansätzen ergab sich aber keine echte, die Welt umspannende Globalisierung, da nicht alle Regionen durch diese frühen Netzwerke berührt wurden. In diesem Zusammenhang ließe sich natürlich die weltweite Ausbreitung des Menschen als erstes Globalisierungsprojekt thematisieren, durch die großen Interaktionslücken, die dieser ersten Völkerwanderung folgten, sei sie aber aus der Diskussion ausgenommen. Erst durch die europäische (Wieder-)Entdeckung der amerikanischen Kontinente, Australiens oder der pazifischen Inselgruppen sowie das Vordringen ins Innere des afrikanischen Kontinents schlossen sich Lücken und verschwanden die sprichwörtlichen weißen Flecken auf den (europäischen) Landkarten. Was war also das Neue an der von Europa vorangetriebenen Expansion in der Neuzeit – eine ebenfalls europäische Periodisierung der Geschichte? Osterhammel und Petersson haben dazu eine Antwort parat:

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Die Entdeckung und koloniale Besiedelung Amerikas, das Vordringen europäischer Händler und Soldaten in den Indischen Ozean und den Pazifik, der ‚ökologische Imperialismus‘ sowie die ‚Revolutionen‘ in Militär- und Kommunikationstechnologie schufen die Voraussetzungen für die Erweiterung bestehender und die Schaffung neuer Interaktionsräume.8

Daraus ergab sich eine Situation, die der Wirtschaftshistoriker David S. Landes so zusammenfasste: Europa war militärisch überlegen, wo immer es seine Waffengewalt einsetzen wollte – und dank des erworbenen maritimen Wissens konnte man diese Waffen auch überall einsetzen.9 Damit lässt sich die Frage nach dem Wie? beantworten, nicht aber jene nach dem Warum? Was löste die europäische Expansion bzw. die unterschiedlichen Expansionen beginnend im 15. Jahrhundert aus? Folgt man der Argumentation von Gomes Eanes de Azurara, Chronist am Hof in Lissabon, so waren es fünf Gründe, die beispielsweise Heinrich den Seefahrer zur Intensivierung der portugiesischen Entdeckungsfahrten animierten: 1.) Neugier und Entdeckergeist, 2.) die Suche nach neuen Handelsmöglichkeiten, 3.) Informationen über den Feind – die Mauren – zu sammeln, 4.) die Suche nach Verbündeten – Christen – im Kampf gegen die Mauren und 5.) Ausbreitung des Glaubens. Darüber hinaus machte Azurara die Sternzeichen für Heinrichs Charakter verantwortlich, der ihn für die Suche nach dem Verborgenen geradezu prädestinierte.10 Diesen Motivationsmix strapaziert auch Ulrich Menzel,11 während der Wirtschaftshistoriker Eric Jones primär ökonomische Gründe anführt: die Erschließung neuer Fischereigründe und landwirtschaftlicher Nutzflächen.12 Ähnlich argumentiert Landes, der ebenfalls Azurara zitiert, sich dabei aber auf die Handelsmöglichkeiten beschränkt.13 Bei aller Vorsicht gegenüber Interpretationsversuchen der Motive hinter jahrhundertealten Entscheidungen lässt sich vermuten: Die europäische Expansion der Neuzeit hat wohl eher im Zeichen wirtschaftlicher und militärstrategischer Überlegungen gestanden, als es primären Bemühungen geschuldet war, die Völker der Welt zu vernetzen. Aber Europa war nun zumindest theoretisch in der Lage, seine Ziele weltweit zur Geltung zu bringen. Die Globalisierung begann – und damit die Entstehung einer Weltgesellschaft, über die sich zu  8 Osterhammel/Petersson, Globalisierung, 39.   9 David S. Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 2002, 80. 10 Gomes Eannes de Azurara, The Chronicle of the Discovery and Conquest of Guinea, vol. I, 2011, 27–30, E-Book Project Gutenberg, http://www.gutenberg.org/files/35738/35738-h/35738-h.htm (abgerufen 16. 9.  2016). 11 Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, Berlin 2015, 288. 12 Eric L. Jones, The European Miracle. Environments, Economies, and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1997, 77. 13 Landes, Wohlstand, 95.

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nächst noch fast niemand Gedanken machte. Dennoch reichen die Wurzeln des modernen Völkerrechts, starker Ausdruck einer Weltgesellschaft, in diese Zeit zurück: Francisco de Victoria (ca. 1483–1546), Francisco Suarez (1548–1617) oder Hugo Grotius (1583–1645) sind in diesem Zusammenhang zu nennen,14 wobei letzterer – für eine Globalisierung nicht unerheblich – mit seiner Abhandlung „Mare Liberum“ eine Lanze für die Freiheit des Meeres brach, das von keiner Macht beansprucht werden könne.15 Es sollte noch bis ins späte 19. Jahrhundert dauern, ehe auch Afrika vollständig von dieser Expansion durchdrungen war. Das für diesen finalen Eroberungsschritt ausgearbeitete diplomatische Regelwerk ist ein Musterbeispiel für europäische Überheblichkeit: Auf der Berliner Afrika-Konferenz von 1884–1885 wurden im Reichskanzlerpalais die Spielregeln festgelegt, nach denen sich die europäischen Staaten Afrika aufteilen durften, ohne sich dabei in gröbere Konflikte zu verstricken.16 Afrikaner waren zu dieser Konferenz nicht eingeladen. Europa scheint über sie, wie über die Gesellschaften auf anderen Kontinenten vor ihnen, gewissermaßen hereingebrochen zu sein. Adam Jones17 greift in seiner Darstellung der europäischen Expansion nach Afrika auf einen Vergleich zurück, den die Anthropologen Jacqueline S. Solway und Richard B. Lee18 bereits über 25 Jahre vor ihm bemühten: In Anlehnung an den Film „Die Götter müssen verrückt sein“19 wird eine Cola-Flasche, die in der Kalahari einem Stammesältesten vor die Füße fällt (Coke Bottle in the Kalahari Syndrom),20 zum Sinnbild der Moderne, die gleichsam aus dem Himmel auf indigene Kulturen herabstürzt. Solway und Lee haben diese Analogie zurückgewiesen wie auch Jones, der dazu den zweitausendjährigen Kulturkontakt zwischen Afrika und Europa betont.21

IV. Startschuss zu einer Weltgesellschaft? Nach zahlreichen Anläufen davor gestaltet sich die europäische Expansion der Neuzeit als Umsetzung einer tatsächlichen Globalisierung in all ihren Facetten: Warenströme begannen über die neuen Verkehrswege um den Globus zu fließen, der Nukleus eines globalen Regel14 Angelika Nußberger, Das Völkerrecht. Geschichte – Institutionen – Perspektiven, Bonn 2010, 33. 15 Menzel, Die Ordnung der Welt, 586–587. 16 Generalakte der Berliner Kongokonferenz, Berlin 26. Februar 1885, Reichstagsprotokolle 1884/85, 7, Aktenstück 290 (Kongo-Frage), No. 44, 1664–1670, http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k6_bsb 0001855_00332.html (abgerufen 25. 8. 2016). 17 Adam Jones, Afrika bis 1850 (Neue Fischer Weltgeschichte 19), Frankfurt/Main 2016, 213. 18 Jacqueline S. Solway/Richard B. Lee, Foragers, Genuine or Spurious? Situating the Kalahari San in History, in: Current Anthropology 31 (1990), No. 2, 109–146, 109–110. 19 Jaymie Uys (Regie), The Gods Must Be Crazy, Botswana 1980. 20 Solway/Lee, Foragers, 109. 21 Jones, Afrika, 213.

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werkes entstand, die Kommunikation verband Kontinente und als unvermeidbare Begleiterscheinung all dessen kamen die unterschiedlichen Gesellschaften miteinander in Berührung. Die europäische Ausdehnung, sei es die bewaffnete Penetration von asiatischen Handelsnetzen durch die Portugiesen im 16. und 17. Jahrhundert, oder die militärische Eroberung eines ganzen Kontinents wie in Südamerika ab dem 16. Jahrhundert bzw. in Afrika zeitversetzt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,22 war eine Kette von Gewaltakten. Der Historiker Urs Bitterli zeichnete dazu ein tragisches Drehbuch von Kulturberührung über Kulturkontakt zu Kulturzusammenstoß und Akkulturation oder Kulturverflechtung nach.23 Diese Herausformung der Weltgesellschaft war dabei auch mit Aktionen verbunden, die heute in den Artikeln 6 und 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zusammengefasst sind: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.24 Den allermeisten Protagonisten der Expansion wäre eine Kriminalisierung ihres Verhaltens aber unverständlich geblieben. Sie folgten einer ihrer Meinung nach natürlichen Ordnung, die Carl Schmitt 1950 in seinem Werk „Der Nomos der Erde“ zusammenfasste: Freier, kolonialer Boden außerhalb Europas war nach europäischer Auffassung jederzeit kolonisierbar, soweit er nicht bereits einem zivilisierten europäischen Staat gehörte. Völlig unzivilisierte Völker hätten keinerlei Rechte am Land noch bezüglich einer eigenen politischen bzw. gesellschaftlichen Organisationsform.25 Schmitt geht allerdings nicht so weit, wie Mbembe in seiner Kritik andeutet, dass zivilisatorische Überlegenheit auch das Recht beinhalte, die genuine Bevölkerung zu versklaven.26 Nichtsdestotrotz gilt der transatlantische Sklavenhandel als die menschenverachtendste Folgeerscheinung der europäischen Expansion. Joseph Miller untersuchte exemplarisch den Sklavenhandel aus dem südlichen Afrika nach Brasilien im frühen 19. Jahrhundert. Er stellte fest, dass bei den Sklavenjagden im Inneren des Kontinents zehn Menschen starben, um hundert versklaven zu können. Von diesen hundert erreichten 75 die Marktplätze im Hinterland, 64 schafften es an die Küste und 57 waren schließlich noch am Leben, um an Bord der Sklavenschiffe gebracht zu werden. 48 der ursprünglichen hundert überlebten die Überfahrt und konnten in Brasilien verkauft werden, wobei lediglich 28 von ihnen auch nach drei bis vier Jahren noch am Leben waren.27 Angesichts dieser Brutalität wird zwar immer auf afrikanische Mittäter hingewiesen, gar auf eine afrikanische Tradition der Sklaverei, die Entmenschlichung durch den transatlantischen Sklavenhandel und die Plantagensklaverei in der „Neuen Welt“ steht aber stellvertretend für die totale Un-

22 Osterhammel/Petersson, Globalisierung, 36–37. 23 Urs Bitterli, Die ,Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, München 1991. 24 Rome Statute of the International Criminal Court, 17. July 1998, International Criminal Court, https://www. icc-cpi.int/resource-library/Documents/RS-Eng.pdf (abgerufen 29. 8. 2016). 25 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, 171. 26 Mbembe, Kritik, 120. 27 Joseph Miller, Way of Death. Merchant Capitalism and the Angolan Slave Trade 1730–1830, Madison 1988, 440–441.

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terwerfung durch die koloniale Expansion. Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die von Schmitt angesprochene „zivilisatorische Überlegenheit“. Für indigene Kulturen bedeutete die erzwungene Vernetzung mit einer (im Detail heterogenen) sich kulturell überlegen fühlenden europäischen Gesellschaft vielfach also Unterwerfung auf zahlreichen Gebieten: militärisch, politisch, soziokulturell, wirtschaftlich. Dieser Umstand gewinnt angesichts der Tatsache an Bedeutung, dass in der Neuzeit die Mehrzahl der Völker unter Kolonialherrschaft geriet: Nord- und Südamerika, fast der gesamte afrikanische Kontinent, die Inselwelten im Nord- und Südatlantik, in der Karibik sowie im Pazifik, Australien und der überwiegende Teil Asiens.28 Weiten Teilen Europas blieb dieses Schicksal ebenso wenig erspart. David Fieldhouse nennt 85 % der Erdoberfläche, die seit dem 18. Jahrhundert auf Kolonialherrschaft zurückblicken,29 während Lenin für das Jahr 1914 zwei Drittel der Fläche und rund die Hälfte der Weltbevölkerung unter imperialer Herrschaft wähnte.30 Der Grad der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Kolonialherren und Kolonialvolk war dabei natürlich situationsabhängig und wies eine große Spannweite auf. Dabei kam es aber nur sehr begrenzt zu einem echten Austausch von Wissen. Begehrt waren Kolonialwaren, deren Exklusivität sich bis heute in Namen oder Firmenlogos gehalten hat (z. B. der Mohrenkopf im Logo von Julius Meinl, einem österreichischen Unternehmen, das ursprünglich Kaffee handelte). Ein sporadisches Eingehen der neuen Herren auf soziokulturelle Einzelaspekte, z. B. um sich den Ressourcenzugang zu erleichtern, sollte dabei nicht über die generellen Hierarchien hinwegtäuschen. Europäische Wertvorstellungen und Ideale breiteten sich als „Lead-Kultur“ über die kolonialisierten Gebiete aus und beeinflussten damit auch die wachsende Weltgesellschaft. Als portugiesische Schiffe im 15. Jahrhundert sich langsam an der afrikanischen Küste nach Süden vortasteten, mag im Motivationsgeflecht der Protagonisten auch noch wissenschaftliche Neugier eine Rolle gespielt haben. Spätestens im 19. Jahrhundert stand die Beherrschung neuer Gebiete jedoch v. a. im Zeichen nationaler Machtsteigerung (Imperialismus) bzw. wirtschaftlicher Überlegungen. Dazu kam ein gewisser Sendungsgedanke zur Missionierung und Zivilisierung. Diese viktorianische Dreifaltigkeit von „Christianity, Commerce, and Civilization“31 war auch das Motto von Protagonisten, die nicht primär im Verdacht standen, Agenten des Imperialismus zu sein. Dazu gehörte z. B. der schottische Missionar und Afrika-Reisende David Livingstone, der davon überzeugt war, damit der Entwicklung Afrikas Vorschub zu leisten.32 Der europäische Einfluss auf native Gesellschaften lässt sich aber auch unter einer anderen Dreifaltigkeit beschreiben: Bible, Beads and Booze: 28 Osterhammel/Jansen, Kolonialismus, 8. 29 David  K. Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert (Fischer Weltgeschichte 29), Frankfurt/ Main, 9. 30 Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Frankfurt/Main 1971, 72. 31 Ute Planert, Unverhoffte Früchte, in: Spiegel Special Geschichte: Afrika. Das umkämpfte Paradies 2 (2007), 50–56, 53. 32 Stephen Tomkins, David Livingstone: The Unexplored Story, Oxford 2013, 174.

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Die Bibel steht dabei stellvertretend für das christliche Missionswerk, das ein sehr komplexes Motivations- und Absichtsgeflecht aufweist und trotz aller positiven Ansätze (z. B. das Verbot der Sklaverei) nicht über den Vorwurf, ein koloniales Werkzeug gewesen zu sein, hinauskommt.33 Beads, Glasperlen, symbolisieren die billigen Güter, mit denen man die Gunst von Eliten in den indigenen Gesellschaften zu kaufen pflegte (ehe dafür moderne Waffen notwendig wurden) und Booze steht für die Zerstörung von Kulturen durch billigen Schnaps, der gleichzeitig aber auch wichtige Steuereinnahmen34 in den Kolonien brachte. Die Ambivalenz zwischen den immer wieder betonten europäischen Werten und der Vorgangsweise im Rahmen der globalen Expansion hält Mbembe fest: Der europäische Imperialismus entsteht parallel zum imperialen Streben. Auf dem Umweg über diese Expansion wird das liberale politische Denken in Europa konfrontiert mit Fragen wie dem Universalismus, den individuellen Rechten, der Handelsfreiheit, dem Verhältnis zwischen Mitteln und Zielen der nationalen Gemeinschaft und der politischen Fähigkeiten, der internationalen Gerechtigkeit, dem Wesen der Beziehung Europas zu den außereuropäischen Welten und dem Verhältnis zwischen einem außerhalb seiner eigenen Grenzen despotischen und innerhalb seiner Grenzen repräsentativen und verantwortlichen Staat.35

Dieses Zitat von Mbembe gibt in gewisser Weise auch Antwort auf die zweite Leitfrage nach dem historischen Hintergrund, vor dem sich der Begriff „Weltgesellschaft“ entwickelte. Die Vernetzung der Gesellschaften war eine nicht primär verfolgte Auswirkung der europäischen Expansion, sondern vielfach eher eine Begleiterscheinung. Der „freie Boden“ außerhalb Europas, den Carl Schmitt als Legitimation der kolonialen/imperialen Besitzergreifung anführte, war nicht unbesiedelt. Die dort lebenden Menschen hatten im rassistischen Weltbild der Protagonisten dieser Besitzergreifung allerdings keine Rechte. Es war für die europäischen Entdecker/Eroberer also nicht nur legitim, Standards zu setzen sowie Werte und Normen zu exportieren, es war gewissermaßen sogar ihre zivilisatorische Pflicht. Indigene Kulturen wurden im Rahmen der Genese dieser Weltgesellschaft marginalisiert.

V. Eine Weltgesellschaft im Schatten europäischer Werte und Normen Unter europäischer Führung wurden die Gesellschaften der Welt also (neu) vernetzt. Schon lange bevor Harry S. Truman in seiner Amtseinführungsrede als US-Präsident am 20. Januar 33 Sehr knapp und übersichtlich zusammengefasst hat die unterschiedlichen Zugänge Leonhard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 27), 177–197. Kritiker sind z. B. Mbembe, Kritik, oder Chief M. Nangoli, No More Lies About Africa, Brooklyn 2002, 127–129. 34 Eine ausführliche Studie zu Afrika publizierte Lynn Pat, Alcohol in Colonial Africa, Helsinki 1975. 35 Mbembe, Kritik, 110–111.

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Die Welteroberung des Kolonialismus und die Marginalisierung indigener Kulturen

1949 die Welt in unterentwickelte und entwickelte Länder einteilte,36 mussten sich viele indigene Kulturen einer Dominanz der Fremden beugen, die weit über die bloße Kontrolle des Landes, also Machtstrukturen vor Ort, hinausging. Ökonomische Fragen waren dabei genauso betroffen wie juristische, moralische (Verbot der Sklaverei) oder philosophische (Aufklärung). Damit war aber keineswegs in allen Fällen eine Adaption der neuen, abendländischen Spielregeln verbunden. Gerade in Fragen der Weltanschauung wussten sich viele Gesellschaften gegen die neuen, externen Normen zu wehren. Vielfach wurde ein derartiges Beharren auf Traditionen aber mit Zurückgebliebenheit gleichgesetzt, mit Unterentwicklung bzw. Modernisierungsverweigerung. Religion kann diesbezüglich als Beispiel dienen, aber auch juristische Auffassungen (z. B. Scharia) oder politische Organisationsformen (z. B. Theokratie). Die neue Weltgesellschaft war also von Anfang an ungleich gestaltet, wobei Widerstand gegen das Neue auch als Reaktion und Ratlosigkeit angesichts der Asymmetrie dieser Entwicklung verstanden werden kann. Literarisch umgesetzt hat diese Problematik z. B. der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe in seinem Roman „Okonkwo oder Das Alte stürzt“.37 Betrachtet man Metastrukturen, so ließe sich die Weltsystemtheorie von Wallerstein bemühen, mittels der auf Basis der europäischen Expansion eine fundamentale Einteilung der Gesellschaften in Peripherie, Semi-Peripherie und Zentrum nachgezeichnet wird.38 Trotz aller Kritik an Wallerstein39 lassen sich gewisse Auswirkungen der europäischen Expansion auf indigene Kulturen und deren Stellung in einem globalen (Wirtschafts-)System nicht ausblenden. Über die Folgen schreiben u. a. der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz40 oder der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler.41 Der Befund einer Marginalisierung indigener Kulturen lässt sich allerdings nicht nur auf deren wirtschaftliche Stellung anwenden, sondern gilt auch für den kulturell-philosophischen Bereich. Die Deutungshoheit der Kolonisatoren brachte epistemische Gewalt gegen traditionelle Gedankengebäude mit sich. Entwicklung wurde zu einem zentralen Ziel für Gesellschaften erklärt, was eine Akzeptanz der neuen Normen voraussetzte und kulturellen Identitätsverlust mit sich brachte.42

36 Harry S. Truman, Inaugural Address, Washington January 20, 1949, The American Presidency Project, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/index.php?pid=13282 (abgerufen 1. 9. 2016). 37 Chinua Achebe, Okonkowo oder Das Alte stürzt, Frankfurt/Main 1983 (Erstausgabe 1959). 38 Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem (1–3), Wien und Frankfurt/Main, 1986/1998/2004. 39 Conrad, Globalgeschichte, 114–119. 40 Joseph Stiglitz, Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft, München 2015. 41 Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003. 42 D. A. Masolo, African Philosophy and the Postcolonial. Some Misleading Abstractions about “Identity”, in: Emmanuel Chukwudi Eze (Hrsg.), Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, Cambridge 1997, 283–300, 294.

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Diese Marginalisierung lässt sich auch an anderen Beispielen festmachen: Als beispielsweise Woodrow Wilson 1918 seine Ideen zum Völkerbund vor dem US-Kongress präsentierte, bezeichnete er sie als: „program of the world’s peace“.43 Im dazugehörenden 14-Punkte-Programm werden die Souveränitätsrechte der kolonialisierten Gesellschaften mit den Interessen der Kolonialmächte gleichberechtigt (Punkt V). Der Völkerbund entstand als diplomatische bzw. globalpolitische Manifestation dieser Idee. Er war dabei allerdings eine von europäischen/westlichen Werten geprägte Institution und entwickelte sich trotz der verbrieften Grundsätze nicht unbedingt zu einem Sprachrohr für die Gleichberechtigung aller Völker der Weltgesellschaft, wie Susan Pedersen in ihrem Buch „The Guardians“44 eindrucksvoll darstellt. Vielmehr seien Weichenstellungen in diese Richtung passiert (unintended consequences), die zunächst aber weder die japanische Eroberung der Mandschurei, den italienischen Abessinien-Feldzug oder das Erstarken des Faschismus in Europa aufzuhalten vermochten. Wenig Änderung bezüglich der Frage nach Selbstbestimmung, um eine zentrale Problematik der Marginalisierung aufzugreifen, brachte zunächst auch die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes: die Vereinten Nationen. In ihrer Gründungscharta wird zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker erwähnt (Art. 1), Kapitel XI der Charta relativiert das Prinzip bezüglich der existierenden Kolonien aber auf ein Fernziel, dessen Umsetzung allein den Kolonialmächten überlassen bleibt.45 Es sollte bis 1960 dauern, ehe die sogenannte Entkolonialisierungsresolution verabschiedet werden konnte.46 Inzwischen ist die Entkolonialisierung weitestgehend abgeschlossen (obwohl die Vereinten Nationen noch 17 Territorien als nicht selbstregiert ausweisen).47 Das Ende der Kolonialreiche, die ein sehr deutliches Zeichen der abendländischen Dominanz im Globalisierungsprozess darstellten, bedeutete aber keinesfalls ein Ende der hierarchischen Struktur innerhalb der Weltgesellschaft. Hier hatte der Überlegenheitsanspruch des Westens/Nordens zu große Schäden hinterlassen. Versuche, einen derartigen kulturellen Minderwertigkeitskomplex intellektuell bzw. aktionistisch zu überwinden, demonstrieren (noch lange vor der Entkolonialisierung) W. E. B. DuBois und seine von den Prinzipien der Aufklärung genährte Hoffnung auf 43 Woodrow Wilson, Address to a Joint Sesson of Congress on the Condition of Peace, Washington January 8, 1918, The American Presidency Project, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index.php?pid=65405 (abgerufen 1. 9. 2016). 44 Susan Pedersen, The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire, Oxford 2015. 45 Vereinte Nationen, Charta der Vereinten Nationen, San Francisco 26. Juni 1945, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, München 1994, 23–50. 46 General Assembly of the United Nations, Declaration on the Granting of Independence to the Colonial Countries and Peoples, 15. December 1960, A/RES/1514(XV), United Nations, http://www.un.org/en/ga/search/ view_doc.asp?symbol=A/RES/1514(XV) (abgerufen 1. 9. 2016). 47 United Nations, Non-Self-Governing Territories, United Nations, http://www.un.org/en/decolonization/nonselfgovterritories.shtml (abgerufen 11. 2. 2018).

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Emanzipation,48 oder sein auf strikte Rassentrennung setzender Gegenspieler Marcus Garvey.49 Mit der heranrückenden Entkolonialisierung brachen sich unversöhnliche Ideen wie der verzweifelte Gewaltaufruf von Frantz Fanon50 ihren Weg, neben theoretischen und sehr versöhnlichen Gedankengebäuden, wie sie z. B. Leopold Sedar Senghor51 oder Aimé Césaire52 unter dem Titel „Negritude“ entwarfen. Die politikphilosophische Weiterentwicklung dieser Ansätze zur intellektuellen Befreiung begründete als Postkolonialismus ein eigenständiges Konzept innerhalb des Poststrukturalismus, in dem die Hegemonie der westlichen/ abendländischen Werte, Normen und Weltbilder kritisiert werden.53 Parallel dazu entstand seit den 1960er Jahren in Südamerika mit der Befreiungstheologie auch eine christliche Strömung gegen Unterdrückung und Ausbeutung marginalisierter Völker.54 Doch selbst im Entkolonialisierungsprozess führte die Dominanz europäischer Normen zu einer weiteren Marginalisierung indigener Gesellschaften mit dramatischen Auswirkungen. Die koloniale Grenzziehung z. B. in Afrika ließ multiethnische Gebiete entstehen, aus denen nach dem Rückzug der Europäer Staaten mit einem Staatsvolk werden sollten, politisch organisiert nach den europäischen Vorstellungen von Demokratie. In den meisten Staaten funktionierte dieser Prozess des „nation building“, also die Überführung ehemaliger Kolonien in stabile Staaten bei gleichzeitiger Modernisierung der Wirtschaft und soziokultureller Aspekte, nicht. Mechanismen zur Machtabsicherung der neuen Eliten, darunter Nepotismus, Klientelismus und Tribalismus, führten zur Marginalisierung zahlreicher Gruppen in diesen neuen Staaten – mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen wie z. B. politische, wirtschaftliche oder kulturelle Unterdrückung auf Basis von ethnischen Differenzen. Überlegungen zu einer Weltgesellschaft beinhalten aber nicht nur die Genese und Manifestation von Ungleichheit, sondern betonen auch Aspekte der unausweichlichen Gleichheit aller Gesellschaften als Folge der Globalisierung. Ulrich Beck dachte darüber 1986, im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, nach und publizierte „Risikogesellschaft“.55 2007 wurde seine Analyse in „Weltrisikogesellschaft“ ausgebaut und Beck diskutiert noch einmal globale Gefahren für die Weltgesellschaft.56

48 W. E. B. DuBois, The Conservation of Races (The American Negro Academy Occasional Papers 2), Washington D. C. 1897. 49 Vgl. UCLA African Studies Center, The Marcus Garvey and Universal Negro Improvement Association Papers Project, UCLA, http://www.international.ucla.edu/africa/mgpp (abgerufen 2. 9. 2016). 50 Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde, Frankfurt/Main 1981 (Erstveröffentlichung 1961). 51 Leopold Sedar Senghor, Negritude: A Humanism of the Twentieth Century, in: Gaurav Gajanan Desai, Postcolonialism, Oxford 2005, 183–190. 52 Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Berlin 1968. 53 Vgl. dazu Edward Said, Orientalismus, Frankfurt/Main 2014 (Erstveröffentlichung 1978). 54 Vgl. Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, München 1973. 55 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt/Main 1986. 56 Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Frankfurt/Main 2007.

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VI. Folgen einer Marginalisierung Abgesehen vom Beck’schen Zugang, der angesichts globaler Risiken (Terror, Katastrophen, Umwelt) alle in einem Boot sitzen sieht, haben theoretische Konzepte zur Überwindung der Marginalisierung bisher nicht zum Erfolg geführt. Weder der abendländische Ansatz der Entwicklung im Sinn eines Hebens der anderen auf die eigene Stufe zeigte Wirkung, noch emanzipatorische Zugänge, die von einer Nivellierung auf Basis von Gleichheit ausgehen. Es bleibt zurzeit also nur die postkoloniale Kritik an der Hegemonie abendländischer Werte, deren globaler Machtaufstieg auf die europäische Expansion der Neuzeit zurückgeht. Nach wie vor dominieren westliche/nördliche Vorstellungen die internationale/globale Politik, die Weltwirtschaft, rechtliche oder moralische Normen und kulturelle Trends. Die Geschichte bot zuletzt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks Chancen auf Änderungen. Mit dem Wegfall des politischen/ideologischen, militärischen und wirtschaftlichen Gegenspielers des Westens gab es einerseits Hoffnung auf ein Erstarken der Weltgesellschaft,57 andererseits manifestierte sich damit zunächst jedoch die Vormachtstellung westlicher/nördlicher Werte und Normen. Gleichzeitig wurden aber auch neue Risse über den Globus sichtbar, die bisher durch den Kalten Krieg weitgehend überdeckt waren. Jemand der diese Gräben aus realpolitischer Sicht zu betonen wusste, war der US-amerikanische Politologe Samuel P. Huntington. In seinem sehr umstrittenen Aufsatz „Clash of Civilizations“58 zeichnete er das Bild einer Weltgesellschaft mit verschiedenen kulturellen Bruchlinien, welche die alten ideologischen Gräben ersetzten: eine Weltgesellschaft auf Konfrontationskurs. Huntington wurde mit Recht vorgeworfen, komplexe Sachverhalte radikal zu simplifizieren, gleichzeitig sagt er eine Problematik voraus, die heute weite Teile der westlichen/nördlichen Welt beschäftigt: ein Erstarken des religiösen Fundamentalismus als Reaktion auf die kulturelle/moralische Überheblichkeit des Westens.59 Bei Huntington sind auch Sätze zu lesen, die eine gewisse Emanzipation anderer Kulturkreise beschreiben: „In the politics of civilizations, the peoples and governments of non-Western civilizations no longer remain the objects of history as targets of Western colonialism but join the West as movers and shapers of history. “60 Die Strukturen der internationalen Politik oder des Welthandels ließen dafür bis in die jüngste Vergangenheit aber wenig Spielraum. Wirtschaftsfragen oder das Thema Sicherheit und Frieden waren von westlichen/nördlichen Staaten und Interessen dominiert. Diesbezüglich sind aber Änderungen spürbar und lassen spannende Bewertungen z. B. der Rolle Chinas oder des arabischen Frühlings erwarten. 57 Vgl. z. B. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. 58 Samuel P. Huntingron, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993), Heft 3, 22–49. 59 Huntington, Clash, 40–41. 60 Huntington, Clash, 23.

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Weniger historische Gestaltungsmächtigkeit wird dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte eingeräumt. UN-Kritik an den außergerichtlichen Tötungen, zu denen er im Kampf gegen Drogenkriminalität aufrief, führte zu einer undiplomatischen Reaktion. Duterte stellte einen UN-Austritt der Philippinen in den Raum. Dabei dachte er auch laut über die Gründung einer „Gegen-UNO“ nach, zu der er auch die Volksrepublik China und afrikanische Staaten einladen wollte.61 Derartige Auftritte sind kein Zeichen eines erstarkenden Südens im Kampf um Emanzipation innerhalb der Weltgesellschaft. Ähnliches gilt für die aktuelle Kritik der Afrikanischen Union an der Vorgehensweise des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Dort werden, so der Vorwurf, afrikanische Staaten unfair behandelt.62 Viele Beobachter werten dies jedoch eher als Selbstschutz afrikanischer Staats- und Regierungschefs vor internationaler Strafverfolgung denn als berechtigten Tadel. Es ist aber zu beobachten, dass immer mehr Protagonistinnen und Protagonisten aus dem globalen Süden als Angehörige potentiell marginalisierter Gesellschaften in globalen Institutionen Führungsrollen übernehmen. Der Posten des UN-Generalsekretärs mag dafür als Beispiel dienen, wie der Posten der Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof oder der Einfluss von milliardenschweren Unternehmen aus der sogenannten Dritten Welt.

VII. Fazit Der Kolonialismus als Folge der europäischen Expansion vernetzte die Gesellschaften der Welt zu einer Einheit, die als Weltgesellschaft bezeichnet werden könnte und in erster Linie durch die simple Tatsache ihrer Vernetzung definiert ist. Diese Weltgesellschaft ist insofern homogen, als sie, gemäß der Einschätzung von Ulrich Beck, eine eher tragische Weltrisikogesellschaft darstellt, globalen Bedrohungen also mehr oder weniger gleich ausgesetzt ist. Abgesehen davon zeigt sich die Weltgesellschaft aber als höchst heterogene Ansammlung aller kulturellen Identitäten. Diese Vielfalt beruht jedoch außerhalb des Beck’schen Bedrohungsszenarios keineswegs auf Gleichheit. Vielmehr entpuppten sich bei der Genese der globalen Vernetzung die abendländischen Normen und Werte als globale Lead-Kultur, die in vielen Fällen auch gewaltsam durchgesetzt worden ist. Das Ergebnis: die Marginalisierung indigener Kulturen innerhalb der neu entstandenen Weltgesellschaft. Diese Asymmetrie ist politisch, wirtschaftlich oder kulturell zu beobachten und birgt ein Konfliktpotenzial, das teilweise bereits umgesetzt worden ist. Als Beispiel dafür dienen die Befreiungskämpfe kolonialisierter Gesellschaften, deren Motive nur schwer zu kritisieren sind. Wesentlich 61 Zeit online, Philippinen drohen mit Austritt aus den Vereinten Nationen, 21. August 2016, zeit online, http:// www.zeit.de/politik/ausland/2016-08/rodrigo-duterte-philippinen-un-austritt (abgerufen 6. 9. 2016). 62 Assembly of the African Union, Decision on Africa’s Relationship with the International Criminal Court, Addis Abeba, 12. October 2013, Ext/Assembly/AU/Dec.1 (Oct. 2013), Afrikanische Union, https://au.int/en/ decisions/extraordinary-session-assembly-african-union (abgerufen 11. 2. 2018).

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komplizierter in einer einschätzenden Bewertung ist „Der Hass auf den Westen“,63 wie Jean Ziegler ein Buch betitelte. Welche Zukunftsperspektiven, um die dritte leitende Frage anzuschneiden, damit verbunden sind, ist aus der Sicht des Historikers schwer einzuschätzen. Aber ein Blick in die Vergangenheit kann unter Umständen auch zu dieser Frage dienlich sein. Marginalisierung ist immer ein Teilaspekt von Macht bzw. Machtlosigkeit. Alle globalhistorischen Darstellungen von Mächten und Imperien handeln von Aufstieg und Fall. Der britische Historiker Paul Kennedy publizierte 1987 ein Buch mit dem Titel „The Rise and Fall of the Great Powers“.64 Mit Aufstieg, Überdehnung, Schwäche und Zusammenbruch ließen sich seine Befunde zu Imperien der Neuzeit zusammenfassen. Ähnliche (wenn in ihren Ursachen z. T. auch abweichende) Wellenbewegungen der Macht finden sich auch bei anderen Darstellungen.65 Der Niedergang einer Macht muss demnach den Aufstieg einer anderen bedeuten. Wie sehr ein asiatischer Tiger bereit zum Sprung nach vorne ist, bleibt abzuwarten – ebenso wie der vielfach bereits herbeigeschriebene Aufschwung Afrikas66 oder die Aufholjagd Südamerikas. Auch die aktuelle Bedrohung durch globalen Terror ließe sich erörtern, ohne gleichzeitig einen „Kampf der Kulturen“ zu bemühen. Interessante Gedanken zu einer Neuorganisation der Weltgesellschaft kommen ausgerechnet von Henry Kissinger, dem Großmeister der US-amerikanischen Machtpolitik während des Kalten Kriegs. In seinem Werk „Weltordnung“ findet sich folgende Überlegung: „In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls in der Welt vorstellbar.“67 Unter Führung der USA und auf Basis des Westfälischen Systems sei dies bis zu einem gewissen Grad auch gelungen, scheiterte letztendlich aber an der Konzentration der Macht bei wenigen, während andere diesbezüglich marginalisiert wurden – ein strukturelles Problem der traditionellen Weltordnung, wie Kissinger schlussfolgert.68 Er präsentiert aber auch einen (theoretischen) Ausweg aus diesem Dilemma, der ein Ende der Marginalisierung vieler Gesellschaften einleiten könnte: eine Ordnung, in der diese einerseits ihre eigenen Werte beibehalten, sich andererseits aber einer globalen Struktur unterwerfen.69 Kissinger geht dabei implizit von einer westlich geprägten Meta-Ordnung aus 63 Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, München 2009. 64 Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987. 65 Vgl. John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000, Frankfurt/Main 2010; Menzel, Die Ordnung der Welt. 66 Vgl. Christian Hiller von Gaertringen, Afrika ist das neue Asien. Ein Kontinent im Aufschwung, Hamburg 2014, Dominic Johnson, Afrika vor dem großen Sprung, Berlin 2013. 67 Henry Kissinger, Weltordnung, München 2014, 411. 68 Kissinger, Weltordnung, 413. 69 Ebd., 424.

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und wirft in seinen Überlegungen selbst die Frage auf, ob eine derartig ausdifferenzierte Weltordnung überhaupt realisierbar sei. Doch auch wenn Ansätze scheitern, die Marginalisierung einzelner Gesellschaften zu beenden, so ist die Realität einer Weltgesellschaft unumkehrbar: sei es eine Weltrisikogesellschaft, die Beibehaltung von Asymmetrie mit sich zyklisch ändernden Vorzeichen oder auch die fortgesetzte Chance, ein globales Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln.

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Franz Mathis

Armut und Reichtum auf globaler Ebene: Perspektiven einer Weltgesellschaft? Laut einem Bericht der Weltbank lebten im Jahre 2015 rund 700 Millionen Menschen in extremer Armut, d. h. sie mussten mit weniger als 1,9 Dollar am Tag ihr Auskommen finden.1 Dies waren – trotz der weit verbreiteten Vorstellung einer wachsenden Armut – nur mehr halb so viele wie noch 25 Jahre zuvor, als ihre Zahl bei rund eineinhalb Milliarden Menschen lag.2 Rund die Hälfte der aktuell in extremer Armut lebenden Menschen entfiel auf Afrika südlich der Sahara, gut 200 Millionen auf Südasien, weniger als 100 Millionen auf Ostasien, etwa 30 Millionen auf Lateinamerika und die Karibik, nicht einmal 5 Millionen dagegen auf Europa und Zentralasien. Beides, der Rückgang der Armut und ihre ungleiche Verteilung über die Welt, werfen zumindest zwei Fragen auf. Erstens: Wird die Zahl der so lebenden Menschen auch in den kommenden Jahren zurückgehen? Und zweitens: Welches sind die Gründe für die ungleiche Verteilung der Armut? Die erste der beiden Fragen fällt vielleicht weniger in das Geschäft des Historikers, die zweite dagegen sehr wohl. Ich möchte daher mit der zweiten Frage beginnen und erst danach einen Blick in die Zukunft wagen. Mehr oder weniger Armut bzw. mehr oder weniger Reichtum hängen letztlich von der Produktivität der menschlichen Arbeit ab. Je mehr ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen an Nahrungsmitteln und Sachgütern herstellt, umso mehr können sie davon konsumieren und nutzen. Diese, aus der Arbeit der Menschen resultierende Wertschöpfung wird inzwischen gemeinhin als Bruttoinlandsprodukt eines Landes oder als Bruttoregionalprodukt einzelner Regionen dargestellt. Beide fallen in größeren Ländern und Regionen naturgemäß höher aus als in kleineren. Dies lässt jedoch noch nicht auf mehr oder weniger Wohlstand oder Armut schließen, da ihre Wertschöpfung ja auch von mehr oder weniger Menschen konsumiert und genutzt wird. Es macht daher nicht nur Sinn, sondern ist für jede weitere Debatte zu Armut und Reichtum unabdingbar, die Wertschöpfung eines Landes zu seiner Gesamtbevölkerung in Beziehung zu setzen. Erst die auf diese Weise ermittelte Wertschöpfung pro Kopf oder pro Einwohner eines Landes erlaubt aussagekräftige Schlüsse auf den Wohlstand oder die Armut seiner Bewohner.

1 Weltbank meldet Erfolg in der Bekämpfung der Armut – Spiegel online: http://www.spiegel.de/wirtschaft/ soziales/weltbank-meldet-erfolge-in-der-bekaempfung-der-armut-a-1056152.html (abgerufen 22.1.2018). 2 Weltbank: Extreme Armut sinkt, Armutsgrenze … – Weltagrarbericht http://www.deutschlandfunk.de/weltbankschaetzung-extreme-armut-weltweit-geht-zurueck.1818.de.html?dram:article_id=332999 (abgerufen 22.1.2018).

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Franz Mathis

3500 3000

West‐, Mittel‐ u. Nordeuropa USA

2500

Japan Osteuropa

2000

ehemal. Sowjetunion

1500

Lateinamerika 1000

Indien

500

China Afrika

0 1700

1820

1900

1960

2008

Grafik 1: Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (West-, Mittel- und Nordeuropa um 1700 = 100) Erstellt nach eigenen Berechnungen aus: Statistics on World Population, GDP and Per Capita GDP, 1–2008 AD. Siehe: www.ggdc.net/maddison/Historical_Statistics/horizontal-file_02-2010.xls (abgerufen 19.12.2016).

Der inzwischen verstorbene britische Historiker Angus Maddison und sein Team haben sich die Mühe gemacht, das Bruttoinlandsprodukt sowohl insgesamt als auch pro Kopf der Bevölkerung für möglichst viele Länder der Erde und möglichst weit in die Vergangenheit zurück zu berechnen. Auch wenn ihre Zahlen – v. a. was die früheren Jahrhunderte betrifft – zum Teil auf Schätzungen beruhen und daher nicht unumstritten sind, reichen sie aus, die großen Entwicklungslinien erkennen zu lassen (vgl. Grafik 1). Ein Blick auf die Grafik zeigt, dass während der letzten 200 Jahre die jährliche Wertschöpfung pro Einwohner in allen Großregionen angestiegen ist, allerdings nicht überall im selben Ausmaß. Am stärksten – nämlich auf das Zwanzig- bis Dreißigfache – wuchs sie in West-, Mittel- und Nordeuropa sowie in den USA und Japan, am schwächsten in Regionen wie Indien oder Afrika, wo sie sich lediglich versechs- bzw. vervierfachte. Allerdings – auch dies wird aus der Grafik deutlich – begannen die einzelnen Regionen erst relativ spät, sich unterschiedlich schnell zu entwickeln. Lange Zeit, nämlich bis etwa 1800, waren die Unterschiede relativ gering. Über tausende von Jahren reichten die von den Menschen zunächst als Jäger und Sammler, dann immer mehr als sesshafte Bauern produzierten Güter gerade einmal aus, sie zu ernähren und am Leben zu erhalten. Eine da und dort höhere Wertschöpfung kam in erster Linie dadurch zustande, dass sich ein kleiner Teil der Menschen auf die Herstellung nichtlandwirtschaftlicher Güter spezialisierte und auf diese Weise das Warenangebot über die Deckung der Grundbedürfnisse hinaus erweiterte. Dies war v. a. in den allmählich entstehenden

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Armut und Reichtum auf globaler Ebene

Städten der Fall. Wenn daher um 1700 die Pro-Kopf-Wertschöpfung in West-, Mittel- und Nordeuropa fast doppelt so hoch ausfiel wie in der restlichen Welt, war dies v. a. dem höheren Urbanisierungsgrad geschuldet. Leider ist für diese Zeit mangels entsprechender Daten ein unmittelbarer Vergleich der einzelnen Großregionen bezüglich ihres Verstädterungsgrades nicht möglich, doch erlauben die für 1900 erhobenen Zahlen gewisse Rückschlüsse (vgl. Grafik 2). 42

18 7

7

5

6

2

  Grafik 2: Großstädte um 1900 (über 200.000 Einwohner). Erstellt nach: Brian R. Mitchell, European Historical Statistics 1750–1970, London 1975, 76–79; Brian R. Mitchell, International Historical Statistics: Africa, Asia & Oceania 1750–2005, New York 2007, 41–46.

Obwohl in West-, Mittel- und Nordeuropa um 1900 nur etwa halb so viele Menschen lebten wie in China,3 gab es hier mehr als doppelt so viele Großstädte mit über 200.000 Einwohnern und sechs- bis achtmal so viele wie in den übrigen hier angeführten Großregionen. Obwohl manche der Städte erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Großstädten aufstiegen, ist der wohl auch schon früher gegebene, deutlich höhere Urbanisierungsgrad in West-, Mittel- und Nordeuropa unbestritten. Allerdings reicht der größere Anteil, den die städtische Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung ausmachte, nicht aus, um die Unterschiede zu erklären, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts auftraten. Der Hauptgrund für die so unterschiedliche Entwicklung der Wertschöpfung ist vielmehr in der revolutionären Veränderung der Produktionsweise in diesem Zeitraum zu suchen. Es war die sogenannte industrielle Revolution, die eine ständig 3 Statistics (wie Anm. 3).

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Franz Mathis

steigende Produktivität der menschlichen Arbeit ermöglichte. An die Stelle menschlicher und tierischer Energie trat die wesentlich effizientere leblose Energie von Kohle, Erdöl und elektrischem Strom, an die Stelle der Handarbeit die ebenfalls viel produktiveren Maschinen. Die bis heute anhaltende Steigerung der industriell-gewerblichen Produktivität hatte eine Reihe grundlegender Veränderungen zur Folge. Zunächst einmal vervielfachte sie die jährliche Herstellung und damit das Angebot an bereits bekannten und ständig neuen Sachgütern. Außerdem senkte sie dank der höheren Produktionsleistung pro Arbeiter die Produktionskosten. Gleichzeitig erhöhte sie – wenn auch erst nach entsprechenden Verteilungskämpfen – die Einkommen der Produzenten. Beides steigerte die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen mit mehrfachen Auswirkungen: Zum einen regte es auch die Bauern zur Steigerung der Produktion an. Dies gelang ihnen mittels effizienterer Produktionsmethoden, d. h. v. a. eines verstärkten Einsatzes von Düngemitteln und Maschinen. Zum anderen setzte die höhere landwirtschaftliche Produktivität Arbeitskräfte frei, die außerhalb der Landwirtschaft neue Arbeitsplätze fanden. Denn trotz der Verwendung von an sich Arbeit sparenden Maschinen fanden dank steigender Nachfrage ständig mehr Menschen in der Industrie und im Dienstleistungsbereich Beschäftigung. Die höhere Produktivität führte aber nicht nur zu einer Steigerung der individuellen Netto-Einkommen. Sie erlaubte auch eine stärkere Abschöpfung von Steuern und sonstigen Abgaben von den wachsenden Bruttoeinkommen. Diese wiederum ermöglichten ihrerseits wachsende Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur sowie des Versicherungs-, Gesundheits- und Bildungswesens. Auf diese Weise wurden nicht nur der materielle Lebensstandard weit über das vorindustrielle Niveau hinaus angehoben, sondern auch die Lebenssicherheit und die Lebenschancen der Menschen ganz wesentlich erweitert. Im Unterschied zur Veränderung der Produktionsmethoden selbst, für die sich der Terminus „industrielle Revolution“ eingebürgert hat, werden die mit ihr einhergehenden, grundlegenden Veränderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur insgesamt häufig als Industrialisierung bezeichnet. Warum jedoch setzte der so beschriebene Prozess der Industrialisierung nicht überall auf der Welt zur selben Zeit ein und warum lief er nicht überall gleich schnell und in derselben Breite ab? An Erklärungen für dieses Phänomen hat es in den letzten Jahrzehnten keineswegs gemangelt. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die bislang vorgebrachten Erklärungsversuche einem empirischen und v. a. vergleichenden Test nicht standhalten. Für die zur Untermauerung der einzelnen Theorien ins Treffen geführten Belege gibt es zu viele Gegenbeispiele, um sie aufrecht erhalten zu können. Sie alle hier im Detail vorzustellen, würde zu viel Zeit beanspruchen. Nur eine, allerdings sehr mächtige und auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses weit verbreitete Theorie möchte ich kurz anreißen und gleichzeitig widerlegen. Sie besagt, dass die europäischen Kolonialmächte ihre Kolonien ausgebeutet hätten und erstere auf diese Weise reich, letztere hingegen arm geworden wären. Ein flüchtiger Blick auf die einzelnen Länder lässt erkennen, dass sich gerade die frühen und ersten Kolonial-

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mächte Spanien und Portugal, aber auch Russland nur sehr spät industrialisierten. Umgekehrt zählen Österreich, die Schweiz und die skandinavischen Länder, aber auch Deutschland und Italien zu den hoch entwickelten Industrieländern, obwohl sie keine Kolonien besaßen oder solche erst gründeten, nachdem ihre Industrialisierung bereits begonnen hatte. Auf der anderen Seite gibt es mit den USA, Kanada und Australien einige prominente Beispiele früherer Kolonien, die sich zu den führenden Industrieländern der Welt entwickelten. Unter den unabhängig gebliebenen Ländern hat sich zwar Japan stark und breit industrialisiert, nicht jedoch China, Thailand, der Iran oder die Türkei, in denen eine vergleichbare Entwicklung ausblieb. Von den für eine Industrialisierung wichtigsten Rohstoffen stammten Eisenerz und Kohle aus den europäischen Ländern selbst oder konnten von ihnen wie im Falle Italiens oder der Schweiz problemlos von außen bezogen werden. Die gerade für die Anfänge der Industrialisierung wichtige Rohbaumwolle lieferten zum größten Teil die Südstaaten der seit 1776 unabhängigen USA und nur zu einem verschwindend geringen Teil die britische Kronkolonie Indien. Bei den Gütern, die tatsächlich aus den Kolonien nach Europa gebracht wurden, handelte es sich dagegen v. a. um Nahrungs- und Genussmittel wie Zucker, Tabak, Kaffee oder Kakao, die in der Industrialisierung so gut wie keine Rolle spielten. Was die ebenfalls gerne ins Treffen geführten Absatzmärkte für die Industriewaren betrifft, fanden sich diese vorwiegend in Europa selbst. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gingen drei Viertel aller von den europäischen Ländern exportierten Güter in andere europäische Länder, ganz abgesehen davon, dass der größte Teil aller Güter auf den Binnenmärkten abgesetzt wurde.4 Zwar ist es richtig, dass umgekehrt die tatsächlich nach Übersee exportierten Industriewaren in den dortigen Ländern das heimische Handwerk zum Teil verdrängten und den Aufbau einer eigenen Industrie behinderten. Doch zeigen wiederum die Beispiele der USA, Kanadas und Australiens, dass eine solche dennoch möglich war. Und schließlich war dank des innereuropäischen Handels auch das Kapital für die Gründung von Industrieunternehmen in Europa selbst ausreichend vorhanden, und zwar umso mehr, als der anfängliche Kapitalbedarf in der Regel nicht allzu hoch war. Das seit dem 16. Jahrhundert aus Lateinamerika nach Europa geschaffte Silber wiederum wurde in erster Linie zu Kunstgegenständen verarbeitet oder als Zahlungsmittel für Gewürze und andere Produkte aus Asien verwendet. Es diente jedoch kaum der erst 200 bis 300 später einsetzenden Industrialisierung. Umgekehrt wäre mit dem Geld, das für den Kauf tropischer Produkte in die außereuropäischen Länder floss, genügend Kapital für eine eigene Industrialisierung vorhanden gewesen. Resümierend kann daher festgehalten werden, dass mit der Ausbeutung der Kolonien durch die Kolonialmächte weder die Industrialisierung auf der einen noch das Ausbleiben einer solchen auf der anderen Seite erklärt werden kann. Für die europäischen Industrielän4 Patrick O’Brien, European Economic Development: The Contribution of the Periphery, in: The Economic History Review 35 (1982), 1–18.

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der waren Kolonien weder als Rohstofflieferanten noch als Absatzmärkte und auch nicht als Quellen der Kapitalbildung von entscheidender Bedeutung. Und wenn umgekehrt in den Kolonien eine vergleichbare Industrialisierung lange Zeit ausblieb, lässt sich dies weder mit einem Abfluss an Rohstoffen oder Kapital noch mit der Konkurrenz europäischer Importe erklären. Welche Gründe waren dann aber tatsächlich für die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Länder und Regionen verantwortlich? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, den Blick von der Makroebene auf die Mikroebene, d. h. auf die eigentlichen Akteure der Industrialisierung zu richten. Neben anderem unterscheidet sich die mechanisierte, industrielle Fabrikproduktion vom traditionellen Handwerk durch die viel größeren Produktionsmengen. Damit die Produktion großer Stückzahlen für einen potentiellen Unternehmer Sinn macht, braucht er eine entsprechend große Zahl von Käufern. Darüber hinaus sollten diese möglichst konzentriert vorhanden sein, damit die Kosten für den Transport der Güter niedrig und auf diese Weise der Stückpreis der einzelnen Produkte konkurrenzfähig bleibt. Eine konzentrierte Massennachfrage dieser Art entstand insbesondere in Großstädten mit mehreren hunderttausend bis über einer Million Einwohnern. Eine solche Massennachfrage war noch größer und für potentielle Unternehmer noch lukrativer, wenn solche Großstädte in einer Region nicht isoliert, sondern in größerer Zahl auftraten. Es wird daher im Folgenden zu zeigen sein, dass überall dort, wo in der Welt solche Großstädte entstanden, auch tatsächlich eine Industrialisierung stattfand und dass diese umso breiter und intensiver ausfiel, je größer die jeweilige Großstadtdichte war. In Europa gab es lange Zeit nur wenige Großstädte: Noch 1800 zählten erst sieben Städte mehr als 200.000 Einwohner. Dies sollte sich jedoch im Zuge des insgesamt rascheren Bevölkerungswachstums schon bald ändern. Um 1850 gab es in Europa bereits 19 und 1910, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 68 Großstädte dieser Größenordnung. Allerdings waren sie keineswegs gleichmäßig über den ganzen Kontinent verteilt (vgl. Grafik 3). Aus der Zahl der in Großstädten mit über 200.000 Einwohnern lebenden Menschen und der Gesamtbevölkerung lässt sich eine Großstadtdichte errechnen, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Vereinigten Königreich bei knapp 30 % lag, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden bei zusammen etwa 12 sowie im späteren Deutschen Reich, der Habsburgermonarchie und der Schweiz bei ebenfalls rund 12 %. Deutlich niedriger war dagegen die Großstadtdichte in Italien, Spanien und Portugal mit zusammen knapp 8 % sowie in Bulgarien und Rumänien, für die sich wie für Russland eine Großstadtdichte von nur 3 % errechnen lässt. Für dieselben Länder wurde auch die jährliche Verarbeitung von Rohbaumwolle erhoben. Sie eignet sich als besonders aussagekräftiger Indikator für den Grad der Industrialisierung, da diese – wie bereits erwähnt – fast überall mit der Mechanisierung der Baumwollwarenproduktion begann (vgl. Grafik 4). Die positive Korrelation mit der Großstadtdichte ist klar zu erkennen. Dabei würde der Unterschied zwischen West- und Mitteleuropa auf der einen sowie Ost- und Südeuropa auf

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Grafik 3: Großstadtdichte in Europa um 1910 (Städte mit über 200.000 Einwohnern in Prozent der Gesamtbevölkerung); Erstellt nach eigenen Berechnungen aus: Mitchell, European Historical Statistics, 19–27 und 76–79.

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Grafik 4: Jährliche Verarbeitung von Rohbaumwolle um 1910 (Kilogramm pro Einwohner, Durchschnitt 1908– 1912); Erstellt nach eigenen Berechnungen aus: Mitchell, European Historical Statistics, 19–27 und 429–433.

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der anderen Seite noch deutlicher ausfallen, wenn man von der Habsburgermonarchie nur ihre westliche Reichshälfte mit den Sudetenländern, dem Wiener Becken und Vorarlberg der Großregion Mitteleuropa zuordnen und diese umgekehrt um den Norden Italiens und um das spanische Katalonien erweitern würde. Denn es waren v. a. diese Regionen, auf die sich die Baumwollindustrie in Österreich-Ungarn, Italien und Spanien konzentrierte.5 In den übrigen Regionen dieser Länder hatte sich eine Baumwollindustrie ähnlich schwach entwickelt wie etwa in Bulgarien oder Rumänien, wo am Vorabend des Ersten Weltkrieges pro Einwohner lediglich etwa 0,1 Kilogramm an Rohbaumwolle verarbeitet wurde. Die breitere Industrialisierung West- und Mitteleuropas kommt auch in der Produktion von Roheisen zum Ausdruck. Ihr kam gerade für die zunehmende Verbreitung von Maschinen und sonstigen Eisen- und Stahlwaren aller Art eine grundlegende Bedeutung zu. In diesem Fall setzen sich die Daten für Westeuropa aus Frankreich, Belgien und Luxemburg sowie diejenigen für Mitteleuropa aus Deutschland und allein der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie zusammen. In der ungarischen Reichshälfte, für die als einzigem Land Osteuropas entsprechende Daten vorliegen, bewegte sich die Produktion von Roheisen mit 25 Kilogramm pro Einwohner auf einem ähnlich niedrigen Niveau wie in Russland (vgl. Grafik 5).

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Russland

 

Grafik 5: Jährliche Produktion von Roheisen um 1910 (Kilogramm pro Einwohner, Durchschnitt 1908–1912); Erstellt nach eigenen Berechnungen aus: Mitchell, European Historical Statistics, 19–27 und 393–398.

5 Franz Mathis, Mit der Großstadt aus der Armut. Industrialisierung im globalen Vergleich, Innsbruck 2015, 46.

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Armut und Reichtum auf globaler Ebene

Eine Sonderstellung nimmt bei allen drei Parametern – der Großstadtdichte, der Baumwollverarbeitung und der Roheisenproduktion – das Vereinigte Königreich ein. London überschritt um 1800 als erste Stadt der Welt die Grenze von einer Million Einwohnern. Die britische Metropole stellte somit schon damals einen weit größeren Massenmarkt dar als die anderen europäischen Großstädte, von denen Paris als nächstgrößere nur etwas mehr als eine halbe Million Einwohner zählte.6 Zwischen 1772 und 1815 kam es in London zu einer Versechsfachung der Warenhäuser, die als Spiegelbild eines rasch wachsenden Marktes angesehen werden können.7 Zur selben Zeit fand in England die Mechanisierung in der Produktion von Baumwollwaren statt, mit einer Steigerung um rund das Zwanzigfache im selben Zeitraum.8 Da auf dem Kontinent eine vergleichbare Industrialisierung erst nach der Wende zum 19. Jahrhundert einsetzte und das Vereinigte Königreich seinen zuvor begonnenen Industrialisierungsprozess fortsetzte, blieb sein Vorsprung zumindest bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts erhalten. Im weiteren Verlauf nahm die Großstadtdichte überall in Europa, auch im Osten und Süden, weiter zu. Dies hatte zur Folge, dass sich der Industrialisierungsprozess – wenn auch unterbrochen durch zwei Weltkriege und zum Teil gefördert durch staatliche Planung – weiter verbreiterte.9 Wie schon zuvor, wurden nunmehr auch weniger große Städte sowie da und dort auch ländliche Gebiete in ihrem Umfeld in den Prozess der Industrialisierung mit einbezogen. Allerdings blieb das Entwicklungsgefälle, obwohl sich die Unterschiede zwischen den Großregionen Europas verringerten, bis zuletzt erhalten. Ähnliches gilt für den Doppelkontinent Amerika. Noch mehr als in Europa konzentrierten sich die im 19. Jahrhundert entstehenden Großstädte auf einen relativ kleinen Raum im Nordosten der USA (vgl. Karte 1). Einschließlich der kanadischen Städte Montreal und Toronto befanden sich um 1900 nicht weniger als drei Viertel der insgesamt 36 Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern im Gebiet zwischen Boston, Chicago, St. Louis und Washington D. C.10 Auch im etwa doppelt so großen Lateinamerika fiel die Verteilung der nur 13 Großstädte weit weniger dicht aus als im Nordosten der USA (vgl. Karte 2). Die ungleiche Verteilung der Großstädte hatte wie in Europa eine unterschiedlich starke Industrialisierung zur Folge. Sie gestaltete sich im Nordosten der USA wesentlich intensiver als im Rest des Landes und erreichte in den USA als Ganzes ein deutlich höheres Niveau als in Lateinamerika, wo sie zunächst auf wenige und relativ isolierte Großstadtregionen beschränkt blieb. Um 1909 machte die Industrieproduktion pro Einwohner im Nordosten

6 Mitchell, European Historical Statistics, 76–79. 7 S. D. Chapman, The Cotton Industry and the Industrial Revolution, in: L. A. Clarkson (Hrsg.), The Industrial Revolution. A Compendium, London 1990, 1–64, 31–32. 8 Mitchell, European Historical Statistics, 424–425. 9 Mathis, Großstadt, 49–60. 10 Brian R. Mitchell, International Historical Statistics: The Americas 1750–1993, London 1998, 46–53.

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Karte 1: Großstädte mit über 100.000 Einwohnern in den USA und Kanada um 1900; entnommen aus: Mathis, Großstadt, 71.

der USA rund sechsmal so viel aus wie in den restlichen USA,11 und 1914 zählte man in den USA ebenfalls rund fünf- bis sechsmal so viele Baumwollspindeln pro Einwohner wie in Mexiko und Brasilien.12 Daran sollte sich zumindest in Lateinamerika auch im 20. Jahrhundert nicht allzu viel ändern (vgl. Karte 3). Zwar wuchsen bis 1980 und speziell in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht weniger als 25 Städte zu Millionenstädten heran. Sie konzentrierten sich jedoch nach wie vor auf die bereits traditionellen Großstadtregionen, während der restliche Kontinent wie zuvor weitgehend ländlich geprägt blieb. Es darf daher kaum überraschen, wenn auch die weitere Industrialisierung keineswegs flächendeckend erfolgte, sondern sich auf nur wenige Regionen beschränkte. Um 1980 entfielen drei Viertel der lateinamerikanischen Industrieproduktion 11 Errechnet aus: Carol R. Heim, Structural Changes: Regional and Urban, in: Stanley L. Engerman/Robert E. Gallman (Hrsg.), The Cambridge Economic History of the United States, Vol. 3, Cambridge 2000, 93–190, 100 und 117. 12 Errechnet aus: Mitchell, International Historical Statistics, 376 und Statistics (wie Anm. 3).

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Armut und Reichtum auf globaler Ebene

Karte 2: Großstädte mit über 100.000 Einwohnern in Lateinamerika um 1900; entnommen aus: Mathis, Großstadt, 85.

auf nur sechs Provinzen bzw. Bundesstaaten, nämlich auf die Provinzen Buenos Aires und Santa Fe in Argentinien, auf die Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo in Brasilien und die Bundesstaaten México und Nuevo León mit den Ballungszentren Mexico City und Monterrey in Mexiko. In ihnen lebten nicht einmal 20 % der lateinamerikanischen Gesamtbevölkerung. Und auch das restliche Viertel der lateinamerikanischen Industrieproduktion

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Karte 3: Millionenstädte in Lateinamerika um 1980;, entnommen aus: Mathis, Großstadt, 91.

wurde hauptsächlich in den Hauptstadtregionen der einzelnen Länder wie Montevideo, Bogotá, Lima und Santiago de Chile hergestellt.13 13 Rosemary Thorp, Progress, Poverty and Exclusion: An Economic History of Latin America in the 20th Century, Washington D. C. 1998, 21–22; Mitchell, International Historical Statistics, 33 und 38–39; Statistics (wie

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Armut und Reichtum auf globaler Ebene

Deutlich anders verlief die Entwicklung in den USA. Die insgesamt 38 Städte, die bis 1980 zu Millionenstädten aufstiegen, verteilten sich nunmehr wesentlich gleichmäßiger auf das Land, als es südlich des Rio Grande der Fall war.14 Statt wie um 1900 lediglich ein Viertel der Großstädte befanden sich inzwischen gut die Hälfte aller Millionenstädte im Süden und Westen der USA. In Folge dessen präsentierte sich nunmehr auch die Industriestruktur des Landes viel ausgeglichener als zuvor (vgl. Grafik 6).

Grafik 6: Erwerbstätige in Industrie und verarbeitendem Gewerbe in den USA 1900–1990 (Prozent aller Erwerbstätigen); erstellt nach: Heim, Structural Changes, 106–112.

Die Abstände zwischen den drei Großregionen des Nordostens und dem Rest des Landes waren deutlich geschrumpft. Allerdings war dies nicht nur dem Aufholprozess des Südens und Westens geschuldet, sondern spätestens ab den 1960er Jahren auch dem relativen Rückgang der Industriebeschäftigung in den traditionellen Industrieregionen. Der aus der Grafik ersichtliche Rückgang der Industriebeschäftigung lässt sich auch in den hoch entwickelten Ländern West- und Mitteleuropas sowie mittlerweile auch in vielen anderen Ländern der Welt beobachten und wird wohl auch in Zukunft anhalten. Er soll daher an dieser Stelle – noch vor der Behandlung Afrikas und Asiens – etwas genauer beleuchtet werden. Zunächst einmal war es eine fast paradoxe Begleiterscheinung der Industrialisierung, dass über Jahrzehnte immer mehr Menschen in der Industrie Beschäftigung fanden, obwohl die menschliche Arbeitskraft zunehmend durch Maschinen ersetzt wurde. Offenbar Anm. 3); Thomas Reichart, Städte ohne Wettbewerb. Eine Untersuchung über die Ursachen der Ballung von Wirtschaft und Bevölkerung in Südkorea und in Kolumbien (Beiträge zur Wirtschaftspolitik 58), Bern 1993, 213–214 und 233. 14 Mitchell, International Historical Statistics, 50–53.

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war die Nachfrage nach ständig neuen Industriewaren lange Zeit so groß, dass zu ihrer Befriedigung trotz Mechanisierung und Automatisierung immer mehr Menschen benötigt wurden. Sie kamen v. a. aus dem ländlichen Bereich, wo es dank ebenfalls steigender Produktivität in der Landwirtschaft im Unterschied zu früher immer weniger Menschen bedurfte, um die Gesamtbevölkerung zu ernähren. Erst seit den 1960er Jahren setzte diesbezüglich eine Trendwende ein. Sie wird als Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft bezeichnet. Zum einen schreitet die arbeitssparende Automatisierung der industriellen Produktion weiter fort, zum anderen scheint in der Nachfrage nach Industriegütern eine zumindest teilweise Bedarfssättigung eingetreten zu sein. Die verfügbaren und dank steigender Produktivität weiter wachsenden Einkommen werden nunmehr noch mehr als zuvor für Dienstleistungen ausgegeben. Ein Blick auf die Grafik 6 zeigt, dass um 1990 in den verschiedenen Großregionen der USA nur noch knapp 15 bis gut 20 % aller Erwerbstätigen in der Industrie beschäftigt waren. Dies bedeutet bei einem Anteil der Landwirtschaft von insgesamt weniger als fünf Prozent, dass der allergrößte Teil der amerikanischen Bevölkerung seine Einkommen aus einer Arbeit im Dienstleistungsbereich bezieht. Dies trifft auch für die weniger industrialisierten Großregionen der USA zu, in denen der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft einsetzte, bevor sie den im Nordosten erzielten Höchststand der Industrialisierung erreichten. Dasselbe lässt sich auch für die Länder Lateinamerikas und andere, wenig industrialisierte Länder beobachten. Auch in ihnen geht der relative Anteil der in der Industrie Beschäftigten bereits seit einigen Jahren zugunsten des Dienstleistungssektors zurück. Dieses Phänomen wird v. a. beim abschließenden Ausblick auf die Zukunft zu berücksichtigen sein. Zuvor jedoch bin ich noch einen Blick auf die Industrialisierung in Afrika und Asien schuldig. In Afrika zählte man um 1900 gerade einmal acht Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern, allein fünf davon in den Mittelmeerstaaten im Norden des Kontinents.15 Trotz rascherem Wachstum speziell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewegte sich auch die Zahl der Millionenstädte um 1980 in einem überaus bescheidenen Rahmen, und sie lagen noch weiter auseinander als etwa in Lateinamerika (vgl. Karte 4). Ähnlich punktuell fiel daher auch die Industrialisierung aus, die zunächst im Norden und in Südafrika sowie seit 1950 auch in anderen Ländern Afrikas einsetzte (vgl. Grafik 7, S. 258). Nur in den wenigen in der Grafik angeführten Ländern erreichte der Anteil der Industriebeschäftigten bis zum Ende des Jahrhunderts mehr als 10 % aller Erwerbstätigen. Ihr relatives Gewicht blieb auch deswegen so gering, weil die von der Industrialisierung kaum bis gar nicht erfasste Landbevölkerung in Afrika trotz zunehmender Landflucht noch schneller wuchs als anderswo.16 Außerdem sind der armen Landbevölkerung auch die Millionen von Menschen zuzurechnen, die vom Land kommend zunächst vielfach in den Elendsvierteln 15 Mitchell, International Historical Statistics, 41. 16 Mathis, Großstadt, 111.

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Karte 4: Millionenstädte in Afrika um 1980; entnommen aus: Mathis, Großstadt, 110.

der Großstädte landen, bevor es manchen von ihnen gelingt, in die etwas besser gestellten städtischen Schichten aufzusteigen. Nach Berechnungen der UNO lebten trotz sinkender Tendenz im Jahre 2005 südlich der Sahara noch immer rund 62 % der Stadtbevölkerung in Slums.17 17 United Nations, The Millennium Development Goals Report 2007 http://www.un.org/millenniumgoals/pdf/ mdg2007.pdf, 26 (abgerufen 1. 11. 2017).

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Grafik 7: Erwerbstätige in Industrie und verarbeitendem Gewerbe in Afrika (Prozent aller Erwerbstätigen, Höchstwerte); erstellt nach eigenen Berechnungen aus: Mitchell, International Historical Statistics, 96–102.

Nicht viel besser – und damit komme ich zu Asien – sah es, was die Elendsviertel betrifft, in einer Großstadt wie dem indischen Mumbai aus.18 Das frühere Bombay zählt wie Shanghai, Hongkong, Singapur, Tokio, Osaka und manche andere zu den asiatischen Großstadtregionen, in denen noch im 19., v. a. aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Industrialisierung stattfand. Angesichts der Größe des Kontinents möchte ich mich in diesem Fall auf die größeren Länder Indien, China und Japan beschränken. Indien und China sind nicht nur nach ihrer Fläche viel größer als Japan, sie zählten um 1900 auch eine sieben- bis neunmal so zahlreiche Bevölkerung. 19 Großstädte mit über 100.000 Einwohnern gab es dagegen nur etwa dreimal so viele, was bereits auf eine dichtere Großstadtlandschaft in Japan hindeutet.20 Dazu kam, dass die Großstädte in Indien und China – wie in Lateinamerika und Afrika – über ein weit größeres Territorium verteilt waren als in Japan. Hier lagen von den acht Großstädten des Landes neben den bereits damaligen Millionenstädten Tokio und Osaka vier weitere Großstädte mit jeweils fast einer halben Million Einwohner nur etwa 400 km auseinander.21 Und wie anderswo schlug sich die höhere Großstadtdichte in einer stärkeren und breiteren Industrialisierung nieder. In Japan wurde um 1913 pro Einwohner fünfmal so viel Roh18 Dirk Bronger, Metropolen, Megastädte, Global Cities. Die Metropolisierung der Erde, Darmstadt 2004, 163. 19 Statistics (wie Anm. 3). 20 Mitchell, International Historical Statistics, 42–46. 21 Ebd.

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baumwolle verarbeitet wie in Indien und 20-mal so viel wie in China.22 Schon damals und auch in weiterer Folge konzentrierte sich die Industrialisierung hier wie dort auf die Großstadtregionen, während die ländliche Bevölkerung wie anderswo von diesem Prozess nur wenig erfasst wurde. Dies gilt auch für die folgenden Jahrzehnte. Obwohl die Zahl der Großund Millionenstädte in allen drei Ländern stark zunahm und ihre Industrialisierung weiter voranschritt, lag der Anteil der ländlichen Bevölkerung bis zuletzt in Indien und China deutlich über dem japanischen Wert.23 Dementsprechend blieben die Pro-Kopf-Werte der industriellen Produktion in Indien und China bis zuletzt weit hinter Japan zurück. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts machte die Produktion von Roheisen pro Einwohner trotz gewaltiger absoluter Zuwächse – die Großstadtregionen um Shanghai und Guangzhou zählen inzwischen zu den größten Industrieregionen der Welt –, nur einen Bruchteil der japanischen Produktion aus.24 Wie sehr mehr oder weniger Armut und mehr oder weniger Reichtum vom Anteil abhängen, den industrialisierte Großstadtregionen an der Gesamtbevölkerung eines Landes einnehmen, wird am Beispiel Singapur besonders deutlich. Wie in anderen Großstädten fand auch in Singapur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Industrialisierung statt. Im Unterschied zu anderen Großstädten jedoch war die Stadt Singapur gleichzeitig ein Staat, in dem es praktisch keine ländliche Bevölkerung und wegen der durch die nationalen Grenzen behinderten Zuwanderung auch keine Slum-Bevölkerung gab. Die hohe städtische Wertschöpfung war daher mit dem nationalen Bruttoinlandsprodukt identisch und rangierte zu Beginn des neuen Jahrhunderts hinter den USA und Norwegen an der weltweit dritten Stelle.25 Welche Perspektiven lassen sich nun aus dem Gesagten für eine künftige Weltgesellschaft ableiten? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es sich bei der Industrialisierung um kein nationales, sondern um ein regionales Phänomen handelt. Es ist müßig, etwa den Reichtum der USA oder die Armut Indiens mit spezifisch US-amerikanischen oder spezifisch indischen Faktoren erklären zu wollen. Industrialisierung hat inzwischen in fast allen Ländern stattgefunden, und es hängt allein vom Anteil der großstädtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung ab, ob sie in den einzelnen Ländern stärker oder schwächer ausfiel und diese daher zu den reicheren oder zu den ärmeren Ländern zu zählen sind. Es macht sehr viel mehr Sinn, die Welt statt in arme und reiche Länder in industrialisierte und damit auch wohlhabendere Großstadtregionen auf der einen und in vorwiegend ländliche Armutsregionen auf der anderen Seite einzuteilen. Wie aber wird – und damit komme ich auf die zweite der eingangs gestellten Fragen zurück – die weitere Entwicklung aussehen? Zunächst einmal deuten alle Daten darauf hin, 22 Errechnet aus: Mitchell, International Historical Statistics, 467 und Statistics (wie Anm. 3). 23 Mathis, Großstadt, 143–146, 165–170, 179–184. 24 Errechnet aus: Mitchell, International Historical Statistics, 467 und Statistics (wie Anm. 3). 25 Statistics (wie Anm. 3).

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dass die Landflucht und damit die Urbanisierung und speziell das Wachstum der Großstädte weiter anhalten werden, und zwar umso mehr, als sich das Wachstum der Gesamtbevölkerung dank sinkender Geburtenraten inzwischen auch in den weniger entwickelten Ländern abzuschwächen begonnen hat. Allerdings wird – und dies mag vielleicht überraschen – die weitere Verstädterung wohl kaum mit einer weiteren Industrialisierung einhergehen. Stattdessen zeichnet sich der aus den Industrieländern bekannte Trend zu einer Dienstleistungsgesellschaft seit einigen Jahren auch in den bislang weniger industrialisierten Ländern ab. Dies lässt sich daraus erklären, dass der Industrialisierungsgrad und das Einkommensniveau der Mittel- und Oberschichten in den Großstadtregionen inzwischen ein ähnliches Ausmaß wie in den Industrieländern erreicht haben und daher auch in ihnen die Nachfrage nach Dienstleistungen stärker ansteigt als die nach Sachgütern. Die vom Land in die Großstädte ziehenden Menschen werden, wenn überhaupt, eher Arbeit und Einkommen im Dienstleistungssektor als in der Industrie finden. Die künftige Weltgesellschaft wird daher in sozioökonomischer Hinsicht wie bisher eine zweigeteilte sein: auf der einen Seite relativ wohlhabende, industrialisierte Dienstleistungsgesellschaften in den erweiterten Großstadtregionen mit einem über die nationalen Grenzen hinweg ähnlichen Lebensstil und relativ engen Verbindungen untereinander; auf der anderen Seite nach wie vor arme, vorindustrielle Agrargesellschaften, zu denen auch die vom Land rekrutierten, städtischen Slum-Bevölkerungen zu zählen sind. Dank fortschreitender Verstädterung werden die einen weiter wachsen, die anderen hingegen tendenziell schrumpfen. Die weltweite Armut wird daher wohl auch in Zukunft weiter zurückgehen – eine zwar sehr optimistische, aufgrund der bisherigen Erfahrung allerdings nicht ganz von der Hand zu weisende Prognose.

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Der Siegeszug des radikalen Islam im 21. Jahrhundert I. Vom Verschwinden und der Rückkehr der Religionen Für den schottischen Ethnologen James Georg Frazer (1854–1941) bestand die soziale und kognitive Evolution des Menschen nicht zuletzt in einer Befreiung des Geistes von religiösen Vorstellungen. Am Anfang stand, so führte er in seiner berühmten Vergleichsstudie „The Golden Bough“ aus, die Magie, gefolgt von der Religion,1 die wiederum der Wissenschaft weichen musste. Jede der drei, so schrieb er, seien „theories of thought“, aber „the scientific theory of the world is the best that has yet been formulated“.2 Auch Max Weber war davon überzeugt, dass die Religion die Konfrontation mit dem Rationalismus nicht überstehen würde. Zwar habe sie die Grundlagen der Moderne, den Kapitalismus, die moderne Bürokratie und die Wissenschaft mit hervorgebracht, doch sei sie von eben dieser Moderne sukzessive entmachtet worden und habe nur in einem „hinterweltlichen Reich mystischen Lebens“3 überlebt. Nur wenige Sozialwissenschaftler bezweifelten Ende des 20. Jahrhunderts, dass Moderne gleichbedeutend mit einer umfassenden Säkularisierung sei, und dass Religion ihre Bedeutung als normative Kraft vollends verlieren würde. Die Säkularisierungstheorie, so der Münsteraner Soziologe Karl Gabriel, habe sich „tief in die Ursprünge der Soziologie […] eingelassen“ und mache „einen Teil der disziplinären Identität des Faches aus“.4 Das wird auch daran deutlich, dass die Frankfurter Ulrich Oevermann und Manuel Franzmann noch im Jahr 2006 postulierten, der Prozess der Säkularisierung sei unvermeidlich, und die zu dieser Zeit längst eingesetzten Debatten um die Richtigkeit der These dagegen als „irreführend“5 ablehnten. Als der Artikel erschien, waren die Einsprüche bereits omnipräsent. Der amerikanische Soziologe José Casanova hatte schon im Jahr 1994 die von Weber als Charakteristikum der Säkularisierungsthese ausgemachte funktionale Differenzierung zwischen Religion und Politik und die These, der zufolge Religion zunehmend 1 Mit Religion sind nur die sogenannten Hochreligionen, nicht aber lokale oder indigene Glaubenssysteme gemeint. 2 James G. Frazer, The Golden Bough. A Study of Magic and Religion. Bd. 11, Cambridge 1890/1913, 306. 3 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, 612. 4 Karl Gabriel, Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie, in: Karl Gabriel/Christoph Horn (Hrsg.), Säkularität und Moderne, Grenzfragen 42, Freiburg 2016, 78–96, hier 83. 5 Ulrich Oevermann/Manuel Franzmann, Strukturelle Religiosität auf dem Weg zur religiösen Indifferenz, in: Manuel Franzmann/Christel Gärtner/Nicole Köck (Hrsg.), Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, 49–82, hier 49.

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Susanne Schröter

zu einer privaten Angelegenheit werde, zurückgewiesen.6 Dies, so schrieb er, sei nur eine von mehreren möglichen Optionen. Casanovas Intervention konnte viele Wissenschaftler überzeugen, und im Jahr 2001 sprach der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von modernen Gesellschaften als „postsäkularen Gesellschaften“. Der Soziologe Klaus Eder beschrieb die westeuropäische Säkularisierung 2002 als europäischen Sonderweg,7 und auch Habermas schrieb: „Welthistorisch betrachtet, erscheint Max Webers ‚okzidentaler Rationalismus‘ nun als der eigentliche Sonderweg.“8 Was ist von diesem neuen Kurs im Hinblick auf eine Analyse der Weltgesellschaft zu halten? Empirisch gesehen ist unstrittig, dass es Regionen gibt, in denen das Bekenntnis der Bevölkerung zu einer Religion weiterhin stark abnimmt, während es in anderen niemals erschüttert wurde und in wieder anderen zunächst ab- und plötzlich wieder zunahm. Die „Rückkehr der Religionen“ hat der Religionswissenschaftler Martin Riesebrodt9 diese letzte Option genannt und dafür die Beispiele der christlichen Fundamentalisten in den USA und der Islamischen Revolution im Iran angeführt. Worin die Gründe für eine neue Hinwendung zum Religiösen nach einer Phase der Säkularisierung liegen, ist umstritten. Die Religionswissenschaftlerin und ehemalige Ordensschwester Karen Armstrong spricht von einer „fundamentalistischen Auflehnung gegen die Vormachtstellung des Säkularen“ und dem „Versuch, Gott ins politische Leben zurückzuholen, aus dem er vertrieben worden war“10. „Dieser Kampf für Gott“, schreibt sie, „war ein Versuch, die Leere im Herzen einer auf wissenschaftlichen Rationalismus gegründeten Gesellschaft zu füllen.“11 Für Armstrong stellt Religiosität nicht nur ein zutiefst menschliches Bedürfnis, sondern auch einen Schlüssel zu Humanität und Mitmenschlichkeit dar.12 Diese   6 José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.   7 Klaus Eder, Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (3) 2002, 331–343.   8 Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ‚öffentlichen Vernunftgebrauch‘ religiöser und säkularer Bürger, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, 119–154, hier 121.   9 Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München 2000. 10 Karen Armstrong, Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam, München 2000, 513. 11 Ebd., 514. 12 Sie bezichtigt den Säkularismus implizit, an der Radikalisierung der Fundamentalisten mitschuldig zu sein und fordert eine Hinwendung zu christlich-humanistischem Verhalten, um die Krise abzuwenden. „Wenn die Fundamentalisten zu einer stärker vom Mitgefühl geprägten Einschätzung ihrer Feinde gelangen wollen“, schreibt sie, „so müssen sich die Säkularisten ihrerseits mehr um das Wohlwollen, die Toleranz und den Respekt vor dem Menschen bemühen […] und sich mit mehr Empathie den Ängsten, Sorgen und Bedürfnissen zuwenden, die so viele ihrer fundamentalistischen Mitmenschen empfinden und die zu missachten sich keine Gesellschaft mehr leisten kann.“ Ebd., 515.

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Auffassung blieb in der Wissenschaft allerdings nicht ungeteilt, v. a., weil sich die Renaissance der Religion meist in einer rigiden normativen Form vollzog, die bis zum Extremismus gehen konnte.13 Es kann davon ausgegangen werden, dass insbesondere die Entwicklung im Iran14 zu einem Überdenken der Säkularisierungsthese führte. Dort hatte sich im Jahr 1978 eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gegen die autoritäre Herrschaft Schah Reza Pahlavis konstituiert, der es binnen eines Jahres gelang, diesen zum Verlassen des Landes zu zwingen. Die Bewegung, in der sich zunächst religiöse und säkulare Kräfte miteinander verbündet hatten, wurde binnen weniger Wochen von fundamentalistischen Schiiten unter Führung des aus dem Pariser Exil zurückgekehrten Ayatollah Khomeini übernommen, der das Land in eine sogenannte Islamische Republik umwandelte. Damit endete eine jahrzehntelange Zeit der Säkularisierung „von oben“, die durch einen Teil der gesellschaftlichen Elite gegen den Willen der religiösen Elite, der städtischen und ländlichen Armen sowie der Feudalaristokratie durchgeführt wurde. Für westliche Politiker waren sowohl der Sturz des Schahs als auch die Rigidität, mit der gegen alle Errungenschaften der säkularen Moderne vorgegangen wurde, erklärungsbedürftig. Unverständlich erschien besonders, dass die Revolution von Frauen unterstützt wurde, obwohl ihre Führer u. a. die Restauration der patriarchalischen Ordnung anstrebten.15 Von 1987 bis 1995 konstituierte sich an der „American Academy of Arts and Sciences“ ein Forschungsverbund, der sich aus interdisziplinärer Perspektive mit dem Phänomen des Fundamentalismus befasste. Das „Fundamentalism Project“ wurde von dem Religionshistoriker Scott Appleby und dem Theologen Martin E. Marty geleitet und führte zur Publikation von sechs wegweisenden Sammelbänden in der „University of Chicago Press“ und einer Reihe weiterer wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Fundamentalistische Bewegungen, so das Ergebnis der Forschungsgruppe, existieren in allen Weltreligionen und weisen eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf, darunter die Dominanz von Männern über Frauen, die Konstruktion einer vermeintlich idealen Vergangenheit als normativem Referenzpunkt, der Ablehnung von Pluralismus sowie rigiden Ein- und Ausschlusskriterien. Mittlerweile, das zeigen auch empirische Daten, die nach dem Abschluss des Projekts erhoben wurden, sind Fundamentalismen weltweit auf dem Vormarsch, spielen fundamentalistische Akteure und Organisationen in vielen Ländern eine bedeutende politische Rolle. Nicht selten stellen sie eine radikalisierende Kraft in interreligiösen Konflikten dar. Sie liefern Rechtfertigungsnarrative für Gewalt gegen Andersgläubige und fungieren als ideologische Einpeitscher. Ein 13 Vgl. Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008; Mark Juergensmeyer, Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida, Bonn 2009. 14 John L. Esposito, The Iranian Revolution. It’s Global Impacts, Gainesville 1990. 15 Riesebrodt bezeichnete den Fundamentalismus aus diesem Grund auch als „patriarchalische Protestbewegung“: Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910–28) und iranische Schiiten (1961–79) im Vergleich, Tübingen 1990.

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Beispiel für eine gewaltaffine fundamentalistische Bewegung ist die indische HindutvaBewegung, die sich dezidiert gegen Muslime richtet, aber auch Christen, Juden, Parsen und andere Nichthindus aus der Konstruktion des indischen Staatsvolkes ausschließt. Religiöser Fundamentalismus, so Bassam Tibi, der selbst Teil der Chicagoer Arbeitsgruppe war, sei ein Gespenst, das um die ganze Welt gehe.16 Die gewaltbejahende Dimension des Fundamentalismus stand stets im besonderen Fokus der Sozialwissenschaften, doch in den vergangenen Jahren fokussierte sich die Aufmerksamkeit besonders auf den islamischen Extremismus.17 Das resultiert zum einen aus den Erschütterungen, die die Anschläge auf das Welthandelszentrum in New York hervorriefen, aber auch daraus, dass die Anzahl islamistischer Attentate seitdem nicht abreißt. Auch in diesem Beitrag wird es um den Islamismus gehen, nicht nur um seine gewalttätige Seite, sondern um seine Kraft, normative Ordnungen zu verändern und dabei weder das Recht noch die Politik oder die alltäglichen Lebensweisen der Menschen unberührt zu lassen. In islamisch geprägten Ländern waren die Bedingungen dafür günstig. Denn anders als im „Westen“, so der Nahostwissenschaftler Stephan Rosiny, habe die Moderne in der islamischen Welt nicht zu einer vergleichbaren Säkularisierung geführt. Und so „erleben wir eine Rückkehr des Religiösen in viele bereits säkularisiert geglaubte Bereiche von Politik und Wirtschaft, in Medien, gesellschaftliche Rollenmodelle, Alltagskultur und Freizeitgestaltung“.18

II. Purifizierung und Radikalisierung des Islams Um zu klären, worum es in diesem Aufsatz genau gehen wird, sollen einige Begriffe erläutert werden, die in der Debatte von Bedeutung sind. Es handelt sich um die Termini „islamischer Fundamentalismus“, „Islamismus“, „politischer Islam“, „Salafismus“, „Jihadismus“ und „Wahhabismus“. Fundamentalismus meint ein Zurückgehen zu den Fundamenten des Islam, dem Koran als wichtigster normativer Quelle der Gläubigen, und der prophetischen Überlieferung (sunna) als Ergänzung bzw. als Sammlung anschaulicher Beispiele für die Gestaltung des frommen Lebens. Das Ideal des muslimischen Lebens orientiert sich folgerichtig an den 16 Tibi lehnt sich mit dieser Formulierung an Marx an, der den Kommunismus als Gespenst in Europa bezeichnet hatte. „In unserer Gegenwart geht dagegen der religiöse Fundamentalismus einem Gespenst vergleichbar um, allerdings in der ganzen Welt.“ Bassam Tibi, Von der manichäischen Teilung der Welt bis zum Kampf gegen das Unreine. Ein Versuch, zwischen Orthodoxie und Fundamentalismus zu unterscheiden, in: Bärbel Köhker (Hrsg.), Religion und Wahrheit. Religionsgeschichtliche Studien. Festschrift für Gernot Wießner zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1998, 179–194, hier 178. 17 Gilles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1991; Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg, Weilerswist 2003. 18 Stephan Rosiny, „Der Islam ist die Lösung“ – Zum Verhältnis von Ideologie und Religion im Islamismus, in: Walter Feichtinger/Sibylle Wentker (Hrsg.), Islam, Islamismus und islamischer Extremismus. Eine Einführung, Wien 2008, 61–76, hier 61.

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koranischen Prinzipien sowie am Vorbild des Propheten Mohammed, seiner Ehefrauen und Gefährten. Der Begriff des Islamismus, so der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker, zielt auf die „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“.19 Ein weiterer Begriff ist der des politischen Islam, der ein politisches bzw. gesellschaftliches Programm impliziert und historisch in der Tradition antikolonialer Bewegungen steht. Heute geht es Vertretern des politischen Islam um Einflussnahme auf die Politik und im Extremfall um die Errichtung eines islamischen Staates. Wie ich anhand empirischer Beispiele zeigen werde, sind verschiedene Zwischenstufen möglich, beispielsweise die sukzessive Einführung des islamischen Rechts. Im gegenwärtigen Diskurs haben neue Begriffe, Salafismus und Jihadismus, die oben dargestellten weitgehend ersetzt. Salafismus leitet sich von den al-salaf al-salih ab, den frommen Altvorderen, wobei der Prophet Mohammed und die Seinen sowie die ersten drei Generationen von Muslimen gemeint sind, die als besonders rein und vorbildlich gelten. Auch für Salafisten sind Koran und sunna die einzig legitimen Quellen der Orientierung. Ziel ihrer Bewegung ist die Wiederherstellung der glorifizierten Vergangenheit in normativer Hinsicht bei Beibehaltung der technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Salafisten fallen in der Öffentlichkeit auf, da sie sich meist mit großer Sorgfalt im Sinne des 7. Jahrhunderts inszenieren und beispielsweise Kleidung bevorzugen, von der sie annehmen, dass sie zur Zeit des Propheten getragen wurden. Sie werden in der Literatur gewöhnlich in mehrere Untergruppen klassifiziert: In die quietistischen Salafisten, denen es allein um die private Befolgung ihrer religiösen Vorstellungen geht, die politischen Salafisten, die gesellschaftlichen Einfluss anstreben und die Jihadisten, die ihre Ziele mit Gewalt umzusetzen versuchen.20 Wie man unschwer erkennen kann, gibt es zwischen den oben aufgeführten Begrifflichkeiten Überlappungen und teilweise verweisen sie schlicht auf das Gleiche. Der Grund für den Wechsel der verwendeten Termini liegt daher nicht in einer Unschärfe der jeweiligen Vorgängerbegriffe, sondern ist allein dem Momentum einer politischen Korrektheit geschuldet, da gewöhnlich Einsprüche von muslimischer Seite erfolgten, die eine vermeintlich mit den Begriffen verbundene Stigmatisierung beklagte. Letztendlich ist auch der neue Begriff des Salafismus kaum besser geeignet als andere Bezeichnungen, da sich viele Salafisten gar nicht selbst als solche benennen, sondern vielmehr betonen, sie seien „nur“ Muslime oder „wahre“ Muslime. Umgekehrt besitzen die salaf als Vorbilder auch für Nichtsalafisten eine gewisse Bedeutung. Vom Salafismus lässt sich der Wahhabismus unterscheiden, der im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel entstand und mit der Person Muhammad Ibn Abd alWahhab (1703–1792) verbunden ist. Abd al-Wahhab entstammte einer hanbalitischen Gelehrtenfamilie, brach aber mit der Tradition der islamischen Rechtsschulen und wollte allein den Koran und die sunna als rechtsverbindliche Quellen akzeptieren. Zudem wandte er sich 19 Tilman Seidensticker, Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen, München 2014, 9. 20 Joas Wagemakers, Salafistische Strömungen und ihre Sicht auf al-wala wa-l bara (Loyalität und Lossagung), in: Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hrsg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Bonn 2014.

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gegen den Volksislam, der sich in der Verehrung von Heiligengräbern, Bäumen und Felsen manifestierte, aber auch gegen den Sufismus und die Schia. Wahhabs radikale Lehre, die in der Bevölkerung Unmut erregte, konnte sich erst durchsetzen, als er einen Pakt mit dem politischen Führer Muhammad Ibn Saud schloss. 1932 rief ein Nachkomme Ibn Sauds den Staat Saudi-Arabien aus, und heute ist der Wahhabismus Staatsreligion. Die von Abd al-Wahhab angeführte Purifizierungsbewegung stellte keineswegs eine einzigartige Neuerung innerhalb der islamischen Welt dar, sondern gehörte, schreibt Seidensticker, „zu immer wiederkehrenden Ausbrüchen von moralischem Aktivismus, wie sie im 10. und 11. Jahrhundert in Bagdad einen ersten Höhepunkt hatte“.21 Seidensticker spielt hier auf den Gelehrten Taqi ad-Din Ahmad ibn Tamiyya an, der als Reaktion auf die Zerstörung Bagdads durch die Mongolen mit der Forderung nach einer Rückwendung der muslimischen Gemeinschaft zu den Quellen des Islams reagierte.22 Jedes Rechtsgutachten, so Ibn Tamiyya, müsse mit dem Koran oder der sunna begründet werden. Auch Ibn Tamiyya lehnte sufistische Auslegungen islamischer Quellen, Heiligenverehrung und Gräberkulte ab und distanzierte sich scharf von Christen, Juden und Schiiten. Seine Theorie wurde später sowohl von saudi-arabischen Gelehrten als auch von führenden Denkern der sogenannten Salafiyya rezipiert, einer Reformbewegung, die Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der arabischen Welt begann. Einer ihrer frühen Vertreter war Jamal al-Din alAfghani (1838–1897), der den Islam in einer purifizierten Form als antikoloniale Ideologie verstand und Zeit seines Lebens gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfte. Sein Schüler Mohammed Abduh (1849–1905) vertrat einen gemäßigten Reformislam und wurde später oberster Mufti von Ägypten. Abduhs Zögling wiederum war Rashid Rida (1865–1935), der das religiöse Programm in Richtung eines politischen Islam weiterentwickelte. 1928 wurde in Ägypten die Muslim-Bruderschaft gegründet. Hassan al-Banna, der die Bruderschaft leitete, verstand sich gleichzeitig als politischer Aktivist, der den Islam zur einstigen Größe zurückführen und die ägyptische Gesellschaft islamisieren wollte. Zur Erreichung dieses Ziels legitimierte er auch gewaltsame Mittel und propagierte den Jihad. Die Bruderschaft bildete unter seiner Führung einen militanten Flügel aus, der sich u. a. aktiv im Krieg gegen die Errichtung eines jüdischen Staates im Nahen Osten beteiligte. Sowohl die Muslim-Bruderschaft als auch der Wahhabismus spielen heute für die Ausbreitung des Islamismus und Jihadismus eine wichtige Rolle. Als noch bedeutenderer Vertreter des modernen Jihadismus gilt allerdings Sayyid Qutb (1906–1966). Bassam Tibi vergleicht die Bedeutung seiner programmatischen Schrift „Milestones“ für den Islamismus mit der des kommunistischen Manifests für den Kommunismus.23 Qutb entwickelte seine Theorien, ausgehend 21 Seidensticker, Islamismus, 20. 22 Birgit Krawietz, Ibn Taymiyya. Vater des islamischen Fundamentalismus? Zur westlichen Rezeption eines mittelalterlichen Schariatsgelehrten, in: Thorsten  G. Schneiders (Hrsg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, 67–88, hier 93. 23 Bassam Tibi, Von der manichäischen Teilung, 185.

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von einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ägypten, die damals durch eine hohe Arbeitslosigkeit und die Verelendung großer Teile der Bevölkerung gekennzeichnet waren. Diese Missstände führte er auf eine vom wahren Glauben abgefallene politische Elite, aber auch auf den Einfluss des Westens zurück. Ein zweijähriger Studienaufenthalt in den USA änderte seine Haltung nicht. Er kritisierte die materialistische Orientierung der Amerikaner, ihren Rassismus und auch den Umgang zwischen Männern und Frauen, der seinen Moralvorstellungen zutiefst widersprach. Für Qutb stand die Welt am Abgrund. Sie befinde sich in einem Zustand, den er als moderne jahiliyya charakterisierte. Der Begriff der jahiliyya bezeichnet in der islamischen Theologie die vorislamische Zeit, eine Phase der Geschichte, die als gesetzlos und barbarisch dargestellt wird. Erst der Islam habe den Menschen Moral und Ordnung gebracht, Recht und Gesetz etabliert. Eine ideale Gemeinschaft sei entstanden, die in Übereinstimmung mit den göttlichen Geboten gelebt und gehandelt habe. Jetzt, im 20. Jahrhundert, so Qutb, sei von den Prinzipien dieser idealen Gemeinschaft nicht mehr viel übrig geblieben. Im Verlaufe der Entwicklung habe sich der Mensch immer weiter von den Prinzipien entfernt, die für die ursprüngliche Gemeinde wegweisend waren. Die politische und geistliche Elite sei korrumpiert worden und habe sich von Gott abgewandt. Die jahiliyya sei zurückgekehrt, doch sie sei schlimmer und verderbter als die alte je gewesen sei. Sie basiere nicht mehr auf Unkenntnis, sondern auf Apostasie, auf Dekadenz und sowohl geistiger wie sittlicher Entartung. Die weltlichen Ordnungen, so schrieb er, seien illegitim und ungerecht. Um die göttliche Ordnung wieder herzustellen, müssten diese modernen Regime von den wahrhaft Gläubigen in einem heiligen Krieg hinweggefegt werden, weshalb der Jihad nicht nur gerechtfertigt sei, sondern geradezu eine Pflicht darstelle.24 Qutb legte Wert darauf, den Jihad nicht primär als Verteidigung zu verstehen, wie es in Kreisen antikolonialer Aktivisten üblich war. Er schrieb: „The causes of Islamic jihaad should be sought in the very nature of Islam and it’s role in the world.“25 Es gehe um die Durchsetzung der Scharia und um die Etablierung einer normativen Ordnung, die sich im Einklang mit den Geboten Gottes befinde. „Thus it strives from the beginning to abolish all those systems and governments which are based on the rule of man over men…“26 Welche Relevanz dieser Blick auf islamische Frühgeschichte noch heute besitzt, zeigen u. a. die Schriften des islamistischen Theoretikers Abdullah Jussuf Mustafa Azzam, der sich in Afghanistan einen Namen als Mujaheddin gemacht hatte und im Jahr 1989 einem Anschlag zum Opfer fiel. Alle zwei Monate, so resümierte Azzam in seiner Schrift „Schließ dich der Karawane an“, habe der Prophet einen Kriegszug angeführt. Der Jihad sei eine Pflicht jedes einzelnen Gläubigen, der durch nichts ersetzt werden könne. Das Wort Jihad bedeute „bewaffneter Kampf“, das hadith, das eine Unterscheidung in einen großen und einen kleinen

24 Sayyid Qutb, Social Justice in Islam, New York 1999. 25 Sayyid Qutb, Milestones, New Delhi 2001, 57. 26 Ebd., 61.

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Jihad vornimmt, sei gefälscht.27 Sein Ziel formuliert er folgendermaßen: „Wer sich im Streben nach Erkenntnis Gottes abmüht, führt den jihad auf seinem Weg, aber der Weg auf dem jihad Gottes bedeutet einzig und allein, dass man die Ungläubigen so lange mit dem Schwert bekämpft, bis sie Muslime werden oder sich unterwerfen und die Kopfsteuer errichten.“28 Ibn Tamiyya, Hassan al-Banna, Sayyid Qutb und andere islamistische Gelehrte, die einen streng am Koran und der sunna orientierten Islam, nicht selten auch in einer gewaltlegitimierenden Form propagierten, werden heute weltweit von Muslimen rezipiert. Die Verbreitung dieser islamistischen Theologie wird von einigen islamischen Staaten, allen voran von Saudi-Arabien, monetär und ideologisch gefördert. Sie finanzieren Moscheen und islamische Bildungseinrichtungen und gewähren Stipendien für Studienaufenthalte. Diese als Bildungsoffensive getarnte Indoktrination der zukünftigen muslimischen Elite trägt seit den 1980er Jahren sichtbare Früchte. Junge Muslime, die an den arabischen Hochschulen studierten, kamen mit der Ideologie der Muslim-Brüder und einem am saudi-arabischen Wahhabismus orientierten Islam in Kontakt, ließen sich von den fundamentalistischen Lehren beeindrucken und begannen, nach der Rückkehr in ihre Heimatländer den dort gelebten Glauben zu kritisieren. Letzterer war oft alles andere als puristisch, stellte eine Melange aus örtlichen Traditionen und islamischer Orthodoxie dar, wobei den lokalen Gepflogenheiten im Zweifelsfall der Vorzug gegeben wurde, und nahm es mit den religiösen Vorschriften und Verboten nicht so genau. Dieser Volksislam wurde jetzt von der eifernden Jugend als unerlaubte Abweichungen von göttlich begründeten Normen ins Visier genommen und entschieden abgelehnt. Was zähle, sei allein das Befolgen religiöser Gebote, wie sie im Koran und den prophetischen Überlieferungen niedergeschrieben seien, verkündeten sie, und drohten allen, die vom angeblich wahren Pfad Gottes abwichen, ewige Höllenqualen an. In Studiengruppen (halaqa) fanden sich diese jungen Absolventen bald mit interessierten Studenten zusammen, lasen gemeinsam die Lehrmaterialien arabischer Gelehrter und fingen an, sich zu organisieren. Sie gründeten Parteien, schlossen sich in sozialen Bewegungen zusammen und forderten die Einführung des islamischen Rechts und andere Maßnahmen der Islamisierung der Gesellschaften. Dort, wo sie durch einen starken Staat in ihrem Tun eingeschränkt wurden, bildeten sie klandestine Zirkel oder verlegten sich auf soziale Projekte, um ihre Massenbasis zu vergrößern; wo sie keinen entschiedenen Widerstand fürchten oder sogar auf die Zustimmung von Verbündeten aus Militär und Politik hoffen konnten, begannen sie die Gesellschaft zu verändern. Eine Begleiterscheinung der islamistischen Offensive ist die Bildung von Milizen, die Terroranschläge verüben, die Opposition einschüchtern und islamistische Normen im Alltag mit Gewalt durchsetzen. 27 Er spielt dabei auf eine innerislamische Debatte um die Bedeutung des Begriffes Jihad an, in der eine Seite zwischen einem großen und einem kleinen Jihad unterscheidet. Der große Jihad sei der Kampf gegen das innere Selbst und diene der moralischen und spirituellen Weiterentwicklung, der kleine bezeichne den Krieg. Gilles Kepel (Hrsg.), Al-Qaida. Texte des Terrors, München 2005, 207. 28 Ebd., 234.

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Was das für gesellschaftliche Transformationen in islamisch geprägten Ländern bedeutet, werde ich im Folgenden am Beispiel Südostasien illustrieren, konkret an den Ländern Malaysia und Indonesien sowie den muslimisch dominierten südlichen Provinzen Thailands und der Philippinen. Die Dynamiken, die in diesen Ländern beobachtet werden können, so meine These, lassen sich auch in anderen Weltregionen beobachten, so dass wir es hier mit einem generalisierbaren empirischen Beispiel zu tun haben, das Aufschluss über strukturelle Prozesse einer islamistischen „Übernahme“ islamisch geprägter Gesellschaften geben kann.

III. Islamisierungswettbewerb in Malaysia Malaysia ist eine konstitutionelle Monarchie, in der alle fünf Jahre ein König im Rotationsverfahren aus einer Gruppe von neun Sultanen gewählt wird, ein Parlament nach britischem Vorbild existiert und ein Premierminister die Staatsgeschäfte lenkt. Bis zum Ende der 1970er Jahre hinein schien die Religion keine prominente Rolle zu spielen. Mit der siegreichen islamischen Revolution im Iran im Jahr 1979 änderten sich jedoch weltweit die Vorzeichen für den Islam. Ihm haftete fortan der Ruf einer Erfolg versprechenden postkolonialen Ideologie an, mit dem ein neuer Aufbruch der Muslime in einer globalisierten Welt gelingen konnte, ohne die eigenen religiösen Wurzeln zu verlieren.29 Diese Botschaft wurde auch in Malaysia positiv aufgenommen. Eine lokale Besonderheit stellt der Umstand dar, dass es nur eine hauchdünne Mehrheit von Muslimen in einem multireligiösen Land gibt und dass die Religionszugehörigkeit an die ethnische Zuschreibung gebunden ist. 50 % aller Malaysier sind ethnische Malaien, 24 % der Bevölkerung sind chinesischer Abstammung, 7 % stammen aus Indien und Sri Lanka, und 11 % gehören indigenen Gruppen an, die zusammen mit den Malaien als Bumiputra (Söhne der Erde) besondere Privilegien erhalten. Grundsätzlich gelten alle Malaien als Muslime. Die seit der Unabhängigkeit in wechselnden Koalitionen regierende „United Malays National Organisation“ (UMNO) versteht sich als originäre Vertreterin dieser malaysischen Muslime und laut Satzung dürfen nur Malaien Parteimitglieder werden.30 De facto wird ihr dieser Alleinvertretungsanspruch allerdings von der „Islamic Party of Pan-Malaysia“ (Parti Islam Se-Malaysia, PAS) streitig gemacht, die sich bereits im Jahr 1951, damals

29 Zeitweise propagierten PAS-Führer wie Yusof Rawa eine islamische Revolution nach dem Vorbild des Iran und bekämpften Säkularismus und Materialismus als vermeintliche Übel der Moderne. Seyyed Vali Reza Nasr, Islamic Leviathan. Islam and the Making of State Power, Oxford 2001, 107. 30 Shamsul weist darauf hin, dass dies in der Realität nicht notwendig der Fall sein muss. A. B. Shamsul, Religion and the Ethnic Politics in Malaysia. The Significance of the Islamic Resurgence Phenomenon, in: Charles F. Keynes et al. (Hrsg.), Asian Visions of Authority. Religion and the Modern States of East and Southeast Asia. Honolulu 1994, 99–116, hier 99.

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als „Pan-Malayan Islamic Association“ (Persatuan Islam Sa-Malaya), gründete.31 Beide Parteien stehen in absoluter Konkurrenz um die Stimmen der gleichen Wählergruppe zueinander. Ursprünglich verstand sich die UMNO in erster Linie als ethno-nationalistische Partei und auch die PAS setzte in den ersten drei Jahrzehnten ihrer Existenz auf ein nationalistisches als islamistisches Profil. Das änderte sich in den 1980er Jahren, als junge Akademiker, die ihr Studium an arabischen Universitäten absolviert hatten, nach Malaysia zurückkehrten – wie oben beschrieben mit neuen Ideen über Religion und Gesellschaft.32 Nach ihrem erfolgreichen Abschluss waren sie in einflussreiche Positionen gelangt, die sie nutzten, um die neuen Überzeugungen zu propagieren. Für sie waren die malaysischen Muslime vom wahren Glauben abgefallen bzw. hatten diesen noch niemals wirklich praktiziert. Sie kritisierten den modernen malaysischen Staat als Nachahmung eines westlichen Modells und forderten eine Rückkehr zu den Prinzipien, die der Prophet Mohammed im 7. Jahrhundert gelebt hatte.33 Ihre Aufgabe sahen sie in einer inneren Mission und in einem islamistischen Umbau der Gesellschaft. Beides gelang überaus erfolgreich, u. a. durch die Implementierung neuer islamischer Strukturen. Während der Regierungszeit des UMNO-Mitglieds Mahathir bin Mohamad, der von 1981 bis 2003 das Amt des Premierministers bekleidete, wurden der „National Islamic Religions Affairs Council“, das der Koordinierung der staatlichen Religionspolitik diente, zu einem Islamzentrum (Pusat Islam) aufgewertet und direkt dem Premierminister unterstellt. An Schulen und Universitäten wurden Islamkurse eingeführt, 1982 wurde eine islamische Bank und 1983 wurde die International Islamic University eröffnet.34 Heute gibt es islamische Versicherungen, eine islamische Wirtschaftsstiftung und eine staatliche Zertifizierungsstelle für islamkonforme Produkte. Eine scharia-konforme Fluggesellschaft, Rayani Air, wurde allerdings wieder eingestellt. Auch der Einfluss der jungen Frommen auf die beiden großen Parteien war bemerkenswert. Zunächst bot sich v. a. die PAS als Verbündete an, deren fromme Führungsriege mehr als bereit war, die vollständige Islamisierung Malaysias zum parteipolitischen Ziel zu erheben. Die Implementierung von Körperstrafen (hudud)35 in den von der PAS regierten Bundesstaaten, zu denen Steinigung und Amputation von Gliedmaßen gehören, scheiterte jedoch bislang an der Verfassung und daran, dass eine Änderung von allen Nichtmuslimen abgelehnt wird. In der muslimischen 31 Zur Geschichte der PAS: Farish Noor, The Malaysian Islamic Party PAS 1951–2013. Islamism in a Motted Nation, Chicago 2013. 32 Zainah Anwar, Islamic Revivalism in Malaysia. Dakwah among the Students, Petaling Jaya 1987. 33 Jason Abbott/Sophie Gregorios-Pippas, Islamization in Malaysia. Processes and dynamics, in: Contemporary Politics 16 (2) 2010, 135–151, hier 138; Zainah Anwar, What Islam, whose Islam. Sisters in Islam and the struggle for Women’s Rights, in: Robert W. Hefner (Hrsg.), The Politics of Multiculturalism. Pluralism and Citizenship in Malaysia, Singapore, and Indonesia, Honolulu 2001, 227–252. 34 Andreas Ufen, Ethnizität, Islam, Reformasi. Die Evolution der Konfliktlinien im Parteiensystem Malaysias, Wiesbaden 2012, 168 ff. 35 Hudud-Strafen folgen auf sogenannte Vergehen gegen Gott, zu denen Diebstahl, Ehebruch und Alkoholgenuss gehören.

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Bevölkerung stießen die neuen Ideen allerdings auf breite Akzeptanz, was sich in bemerkenswerten Wahlerfolgen niederschlug. 1999 feierte die PAS erdrutschartige Wahlsiege in den Bundesstaaten Kelantan und Terengganu, in denen Malaien die Mehrheit stellen. Die UMNO, die ihre eigene Machtbasis bedroht sah, reagierte daraufhin ihrerseits mit einem Islamisierungsprogramm und kam den Forderungen orthodoxer Muslime in vielerlei Hinsicht nach. Ein islamistischer Überbietungswettbewerb setzte ein. Der parlamentarische Siegeszug der PAS war, zur Beruhigung ausländischer Beobachtung, nicht von Dauer und wurde in den Wahlen im Jahr 2004 gestoppt. Durch die Übernahme eines stärker islamischen Profils in der herrschenden UMNO ist die malaysische Gesellschaft jedoch insgesamt islamisiert worden. Auffällig ist eine fundamentale Veränderung von Bekleidungsnormen für Frauen. In den 1950 und 1960ern war westliche Kleidung, v. a. im urbanen Raum, durchaus üblich. Heute dominieren verschiedene Formen islamisch begründeter Bedeckung inklusive eines weiten, Kopf und Oberkörper verhüllenden Kopftuchs (tudung). Dieser optische Wandel geht einher mit der Durchsetzung einer patriarchalischen Geschlechterordnung, die Polygynie, häusliche Gewalt und das Verstoßen von Ehefrauen salonfähig macht.36 Dass der Islamismus im Alltag der malaysischen Bevölkerung angekommen ist, zeigt auch die Kulturindustrie. Fernsehanstalten geben populären Predigern großen Raum und punkten mit Formaten wie „Malaysia sucht die Supermuslima“ oder Koranrezitationswettbewerben. Islamische Musikgruppen (nashid) erfreuen sich großer Beliebtheit. Im Gegenzug werden regelmäßig Auftrittsverbote für westliche Musiker wie Elton John oder Avril Lavigne gefordert und teilweise auch durchgesetzt. Auch das Thema der Einführung islamischen Rechts im Bereich des Strafrechts steht dauerhaft auf der Tagesordnung. In vielen Bundesstaaten wurden bereits islamische Strafen für Ehebruch (zina) und Beziehungen zwischen nicht verheirateten Männern und Frauen (khalwat) verhängt. Die Implementierung von Körperstrafen (hudud) in den von der PAS regierten Bundesstaaten, zu denen Steinigung und Amputation von Gliedmaßen gehören, scheiterte jedoch bislang an der Verfassung. Die PAS, so Dominik Müller,37 der eine ethnographische Studie über ihren Jugendflügel durchführte, arbeite jedoch kontinuierlich daran, dass eine islamische Ordnung in Zukunft vollumfänglich durchgesetzt wird. Innerhalb der Partei ist es in den vergangenen Jahren zu einer deutlichen Radikalisierung gekommen. Auf der Ebene der Parteiführung ist eine Hinwendung zu islamistischen Positionen und die Bejahung eines islamischen Staates Malaysia zu beobachten. Demokratie werde zwar nicht gänzlich abgelehnt, und man beteilige sich durchaus erfolgreich an Wahlen, so Müller, strebe aber als Fernziel eine andere politische Ordnung an. Der Unterschied zwischen Reformisten 36 Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, gründete sich die Gruppe „Sisters in Islam“, die bis auf den heutigen Tag Aufklärungsarbeit anhand alternativer Deutungen des Korans und der sunna betreibt. Anwar, Islamic Revivalism. 37 Dominik Müller, Islamic Politics and Popular Culture in Malaysia. Negotiating Normative Change between Shariah Law and Electric Guitars, in: Indonesia and the Malay World, Vol. 43 (127) 2015, 318–344.

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und Hardlinern sei nicht, ob der islamische Staat eingeführt werden solle oder nicht, sondern lediglich, wann und wie. Hardliner streben schon jetzt eine sukzessive Abschaffung demokratischer Strukturen an, Reformorientierte dagegen bemühen eine demokratische Rhetorik und bekennen sich zu demokratischen Spielregeln, um das Fernziel eines islamischen Staates zu erreichen. Für religiöse Minderheiten und Muslime mit einem eher liberalen Islamverständnis nimmt die Repression zu. Christen wurde im Jahr 2016 durch ein Gericht untersagt, den Namen Allah für Gott zu verwenden, wie es im malaiischen Sprachraum üblich ist, die Gruppe der Ahmadiyya Muslim Jamaat und der schiitische Islam wurden verboten, Schriften von Feministinnen oder progressiven Denkern fallen der Zensur zum Opfer. Aus Kreisen der religiösen und politischen Elite werden Liberalismus und Pluralismus als „satanische Bewegungen“ und „größte Bedrohungen“38 verurteilt. In einem solchen Klima ideologischer Radikalisierung gedeihen auch Kräfte, die Gewalt im Sinne Sayyid Qutbs bejahen. Und in der Tat hat Malaysia trotz seines rigiden Staatsapparates mittlerweile ein Problem mit neuen Jihadisten, die sich von den Zielen und Methoden des IS angesprochen fühlen. Das Problem wird zusätzlich durch eine ideologisch mehr als unklare Distanz führender Politiker zu Extremismus und Terror verschärft. Mitglieder der PAS fallen immer wieder durch Begeisterung für den IS auf, und selbst der Premierminister Najib Tun Razak hatte die syrischen Jihadisten in einer Rede im Juni 2014 und den IS als vorbildlich dargestellt.39

IV. Demokratisierung und islamischer Extremismus Auch in Indonesien ist der Islamismus auf dem Vormarsch. Anders als in Malaysia gehen seine Wurzeln hier in die koloniale Vergangenheit zurück. Sowohl Nationalisten als auch Islamisten hatten gemeinsam gegen die niederländische Herrschaft gekämpft, fanden nach der Unabhängigkeit jedoch keinen tragfähigen politischen Kompromiss. Während islamistische Akteure für einen islamischen Staat votierten, vertrat der charismatische Politiker Sukarno, der erster Präsident der unabhängigen Republik werden sollte, die Vision eines multikulturellen und multireligiösen Staates und setzte diesen schließlich handstreichartig durch. Ein Zusatz zur Verfassung, die sogenannten fünf Prinzipien, Pancasila, legte die Grundlagen dafür fest. Islamistische Führer wie Sekarmadji Maridjan Kartosuwirjo in Westjava, Kahar Muzakkar in Sulawesi und Daud Beureuh in Nordsumatra kündigten daraufhin die Zusammenarbeit mit Sukarno auf und gründeten einen „Indonesischen Islamstaat“ (Negara Islam Indonesia) bzw. ein „Islamisches Haus Indonesiens“ (Darul Islam Indonesia) in ihren 38 Dominik Müller, Transit ins Paradies. IS-Rekruten und das Problem ideologischer Terrorismusbekämpfung in Malaysia, in: Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam: Dossier Salafismus und Jihadismus, Frankfurt/ Main 2016, http://www.ffgi.net/files/dossier/dossier-malaysia-mueller.pdf (abgerufen 20. 4. 2017). 39 Müller, Transit ins Paradies.

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Einflussgebieten. Bis 1962 kämpfte ihre „Islamische Armee Indonesiens“ (Tentara Islam Indonesia) gegen die „Nationale Armee Indonesiens“ (Tentara Negara Indonesia).40 Nach dem Sieg der Nationalisten wurde der politische Islam verboten und die Kämpfer, die nicht inhaftiert oder getötet wurden, verschwanden im Untergrund. Das Militär übernahm die Funktion, die staatliche Integrität nach innen und außen zu sichern und verfolgte jede Opposition mit unnachgiebiger Härte. An dieser Linie hielt auch der zweite Präsident, Suharto, fest. Mehr noch als Sukarno, der die Idee einer gelenkten Demokratie (demokrasi terpimpin) implementierte, regierte Suharto offen mit autoritären und repressiven Mitteln. Das forderte die Opposition breiter gesellschaftlicher Schichten heraus. Als der Widerstand gegen ihn Ende des 20. Jahrhunderts stärker wurde, versuchte er, die „islamische Karte“ zu spielen und durch Zugeständnisse neue Allianzpartner zu gewinnen. Er inszenierte sich durch eine medienwirksam angekündigte Pilgerfahrt nach Mekka als frommer Gläubiger, verbot das Glücksspiel und gründete die „Muslimische Organisation Indonesischer Intellektueller“ (Ikatan Cendekiawan Muslim Indonesia). Mädchen wurde gestattet, mit dem islamischen Kopftuch in die Schule zu gehen, und die erste islamische Bank wurde eröffnet. Der neue Handlungsspielraum für fundamentalistische Muslime wurde begeistert aufgenommen, verhinderte allerdings nicht die fortschreitende Erosion der Macht des Diktators. Im Jahr 1998 wurde Suharto von einer breiten Allianz zivilgesellschaftlicher Kräfte zum Rücktritt gezwungen. Bereits unmittelbar nach seinem Sturz ließen ungewohnte Bilder erahnen, dass die neu gewonnene Freiheit auch eine beunruhigende Seite hatte. Junge Männer in wallenden weißen Gewändern zogen säbelschwingend durch die Straßen Jakartas und riefen zum heiligen Krieg auf den östlichen Außeninseln auf, die traditionell von Christen dominiert wurden. Islamistische Milizen, wie die „Kampftruppen des Heiligen Krieges“ (Laskar Jihad) wüteten in christlichen Dörfern und massakrierten die Bewohner, mit dem erkennbaren Ziel ihrer Vertreibung. Dem Projekt des islamischen Staates Indonesien sollte die „Säuberung“ des Staatsgebietes von Nichtmuslimen vorausgehen. Dies glückte nicht, weil Christen auf den Molukken und in Zentral-Sulawesi, wo die Angriffe besonders massiv erfolgten, ihrerseits bewaffnete Einheiten aufstellten. Ein blutiger Bürgerkrieg erschütterte die junge Demokratie. Über mehrere Jahre hinweg standen auch Ausländer und ausländische Einrichtungen im Visier islamistischer Attentäter. Am 12. September 2002 wurden bei Bombenanschlägen auf der Insel Bali in zwei Diskotheken 202 Menschen, mehrheitlich Australier, getötet, am 5. Dezember 2003 wurde ein Anschlag auf das Marriott-Hotel in Jakarta verübt und am 9. September 2004 explodierte eine Bombe in der australischen Botschaft. Von den Attentätern und ihren Hintermännern, sofern sie bekannt sind, weiß man, dass sie sich längere Zeit im Ausland aufgehalten haben und ihre Aktivitäten im Rahmen eines transnationalen Jihads zur Durchsetzung eines weltweiten islamischen Kalifats verstanden. Ihre Netzwerke waren nicht zuletzt in Afghanistan und den grenznahen Regionen Pakistans geknüpft worden, wo sie sich in den Trainingslagern von al-Qaida und anderen terroristischen Gruppierungen 40 Cornelis Van Dijk, Rebellion under the Banner of Islam. The Darul Islam in Indonesia, The Hague 1981.

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unbeobachtet treffen und Pläne für die Zukunft schmieden konnten. Die Untätigkeit der indonesischen Behörden sowohl in den Bürgerkriegsgebieten als auch beim Kampf gegen den Terrorismus in den urbanen Zentren des Archipels nährten Befürchtungen, dass Chaos und Anarchie ausbrechen und das Inselreich womöglich zerfallen könne wie einst Jugoslawien nach dem Tode Titos. Heute hat der Staat die Kontrolle über sein Territorium wiedererlangt, ein De-Radikalisierungsprogramm für verurteilte Jihadisten aufgelegt,41 und die spektakulären großen Anschläge gehören der Vergangenheit an. Die Ausbreitung eines fundamentalistischen Islams hat jedoch zugenommen, nicht zuletzt durch den bereits für Malaysia erwähnten arabischen Einfluss. Wie in Malaysia ist die Islamisierung öffentlich sichtbar. Frauen und Mädchen kleiden sich „islamisch“, und auch viele Männer pflegen einen arabisch anmutenden Stil, der ihnen von Säkularen und Liberalen den Vorwurf der Arabisierung (Arabisasi) einbringt. Islamische Fernsehsendungen, Filme, Bücher und Musikproduktionen zeigen, dass der Islamismus auch in der Kultur angekommen ist. Nun könnte man das Argument vortragen, diese Entwicklungen seien im Rahmen einer Pluralisierung durchaus akzeptabel. Um Multikulturalität geht es jedoch nicht. Im Gegenteil. Im Jahr 2005 gab der Indonesische Rat der Religionsgelehrten (Majelis Ulama Indonesia) eine Reihe von Fatwas heraus, die sich dezidiert gegen die religiöse Vielfalt richteten. Pluralismus wurde, zusammen mit Liberalismus und Säkularismus, als haram und damit unvereinbar mit den Geboten des Islam verurteilt. Fatwas sind in Indonesien nicht rechtlich bindend, doch sie beeinflussen das gesellschaftliche Klima und werden von politischen Akteuren aufgegriffen. In Indonesien bedeutete das den Erlass einer ganzen Reihe von Regularien und Gesetzen auf Provinz- und Distriktebene, die sich an der Scharia orientierten.42 Diese neuen Verordnungen sollen eine islamische Lebensweise erzwingen, insbesondere die islamische Bekleidung der Frauen. Spektakulär ist ein Gesetz zur Vermeidung „pornographischer Handlungen“ (pornoaxi), das Frauen auferlegt, alles zu vermeiden, was das Begehren eines Mannes reizen könnte. Darunter können sogar das Tragen eines Bikinis oder einer traditionellen Tracht fallen. Flankiert werden diese Maßnahmen durch Übergriffe muslimischer Marodeure auf Minderheiten, unislamische Orte wie Diskotheken und Kunstausstellungen oder auf missliebige Personen. Vielfach herrscht ein Klima der Angst, das den kurzen Frühling der Demokratie, der gerade bezüglich der Durchsetzung von Freiheitsrechten als Aufbruch bezeichnet werden muss, in einen langen Winter des Islamismus verwandeln könnte. Ob sich die Attacken gegen Nichtmuslime und muslimische Minoritäten richten, ob die islamistischen Militanten gegen Filmfestivals, Bars oder gegen Schwule und Lesben zu Felde ziehen – auffällig stets, dass sich Polizei und Justiz entweder passiv verhalten oder sogar eindeutig auf Seiten der Angreifer positionieren. Damit 41 Suratno, Transformation of Jihad. De-radicalization and Disengagement of Extremist Muslims in Contemporary Indonesia, Frankfurt/Main 2015, unveröffentlichte Dissertation. 42 Robin Bush, Regional Sharia Regulations in Indonesia. Anomaly or symptom?, in: Greg Fealy/Sally White (Hrsg.), Expressing Islam. Religious Life and Politics in Indonesia, Singapur 2008, 174–192.

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können sie sich der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung sicher sein. Diese wird nämlich zunehmend konservativer und religiöser. Im Jahr 2016 demonstrierten radikale Gruppen, wozu sie mittlerweile fähig sind. Sie starteten einen propagandistischen Großangriff auf den amtierenden Bürgermeister von Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama, der ihrer Meinung nach als Christ nicht legitimiert sei, Muslime zu regieren. Um dieses Argument zu entkräften, hatte Purnama in einer Rede eine Koransure zitiert und war daraufhin der Blasphemie beschuldigt worden. In Folge der Anschuldigung wurde ein Strafverfahren wegen Gotteslästerung gegen ihn eröffnet, das letztendlich zu einer Gefängnisstrafe führte, und er verlor sein Amt. Das Signal, das von diesem Ereignis ausgeht, ist eindeutig: Das bevölkerungsreichste islamisch geprägte Land verwandelt sich sukzessive in einen islamischen Staat.

V. Die Salafisierung des Mainstream-Islam in Thailand Während in Ländern mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten vielfach Christen unter Repression und Marginalisierung leiden, sind dort, wo Christen oder Buddhisten die Majorität bilden, Muslime politisch und ökonomisch benachteiligt. Zu einem Pulverfass werden diese Regionen dann, wenn Bewegungen entstehen, die nicht nur Reformen, sondern Separation und Unabhängigkeit fordern. In Südostasien existieren zwei solcher „hot spots“: die südlichen Provinzen Thailands und die Südphilippinen.43 In beiden Gebieten haben sich Muslime seit den 1960er Jahren radikalisiert und in Guerillabewegungen organisiert, hat sich die Spirale von staatlicher Gewalt und lokaler Gegengewalt verselbständigt. In Thailand bekennen sich 94 % der Bevölkerung zum Theravada-Buddhismus, der damit de facto die Staatsreligion ist. Muslime stellen nur 5 % der Einwohner und konzentrieren sich auf Siedlungsgebiete an der Grenze zu Malaysia. Sie sind ethnische Malaien und sprechen die malaiische Sprache. Im 13. Jahrhundert kam das malaiische Gebiet unter die Kontrolle des Königreichs Siam, das nach Süden expandierte und das malaiische Königreich Pattani sowie einige malaiische Sultanate unterwarf. Siam intendierte allerdings keine Besetzung des Landes, sondern gab sich mit einer Tributbeziehung und regelmäßigen Zahlungen des bunga mas dan perak (Gold- und Silberblumen) zufrieden.44 Die malaiischen Herrscher behielten einen semi-autonomen Status. Erst unter König Chulalongkorn (1868–1910) erfolgten die Annexion, der Aufbau einer zentralistischen Verwaltung und ein 43 Vgl. Peter Chalk, Separatism in Southeast Asia. The Islamic Factor in Southern Thailand, Mindanao, and Aceh, in: Studies in Conflict and Terrorism 24 (4), 2001, 241–69; Thomas M. McKenna, Muslim Rulers and Rebels. Everyday Politics and Armed Separatism in the Southern Philippines, Berkeley 1998. 44 Diese Tributbeziehungen florierten ohnehin nur in Zeiten, in denen Siam diese militärisch durchsetzen konnte. Die Geschichte Patanis lässt sich als Folge von Aufständen und Niederlagen erzählen, in denen Unterwerfungen und Autonomie sich abwechselten. Moshe Yegar, Between Integration and Secession. The Muslim Communities of the Southern Philippines, Southern Thailand and Western Burma/Myanmar, Lanham 2002, 74–75.

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„Thaiisierungsprogramm“. So wurde im Schulgesetz von 1921 beispielsweise jedes Kind gezwungen, vier Jahre lang eine staatliche Schule zu besuchen und Thai zu lernen. Viele Lehrer waren buddhistische Mönche und unterwiesen die Schüler in buddhistischer Ethik.45 1939 wurde der Name „Siam“ durch „Thailand“ ersetzt, die malaiische Sprache in Behörden untersagt und die traditionelle malaiisch-islamische Kleidung verboten. Eine fundamentale Ablehnung des thailändischen Staates und der thailändischen Kultur seitens der Muslime war die Folge dieser Diskriminierungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften die Muslime, sich mit britischer Unterstützung an „British Malaya“ anschließen zu können. Ihre Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, und das malaiisch besiedelte Gebiet verblieb in Thailand. Heute existieren vier muslimische Provinzen: Pattani, Narathiwat, Yala und Satun.46 In ihnen stellen Muslime etwa 75 % der Bevölkerung. Sie fühlen sich kulturell und religiös Malaysia zugehörig und rechnen die von ihnen bewohnten Gebiete zum „Haus des Islam“ (dar al-Islam), während der Rest Thailands als „Haus des Krieges“ (dar al-harb) bezeichnet wird. Diese Zweiteilung der Welt geht auf die islamische Orthodoxie zurück und begründet sowohl einen islamischen Überlegenheitsanspruch als auch Gewalt gegen Nichtmuslime. Aus Angst vor Kulturverlust, aber auch wegen der von Regierungsseite betriebenen Dichotomisierung zwischen thailändischbuddhistischer und malaiisch-muslimischer Kultur wurden Schul- und Entwicklungsprogramme der Regierung abgelehnt, kam es immer wieder zu Sabotage und Rebellionen. Seit den 1960er Jahren organisierten sich die malaiischen Muslime Thailands politisch. Zwei Organisationen spielten eine besondere Rolle: die 1963 von dem Geistlichen Ustaz Haji Abdul Karim Hassan gegründete Barisan Revolusi Nasional (BRN), die von Ideen des PanArabismus beeinflusst war und die 1968 von dem Islamgelehrten Kabir Abdul Rahman ins Leben gerufene Pattani United Liberation Organization (PULO). Obwohl beide Organisationen eine islamische Rhetorik pflegten, agierten sie in erster Linie säkular-nationalistisch.47 Das änderte sich in den 1980er Jahren. Heimkehrende Absolventen arabischer und ägyptischer Universitäten leiteten in Thailand, wie in Malaysia und Indonesien, eine Welle der Revitalisierung des Islam ein. Junge, am Wahhabismus und Salafismus orientierte Muslime forderten Traditionalisten und Orthodoxe heraus und nutzten insbesondere die islamischen Schulen (pondoks) für ihre Zwecke.48 Die politischen Visionen und das kulturelle Selbst45 Ebd., 89. 46 Das Territorium des heutigen Regierungsbezirks Patani entspricht nicht dem einstigen Königreich. Patani wurde in der Geschichte mehrfach in kleinere Einheiten geteilt, die später wieder in größere, nämlich Patani, Narathiwat und Yala zusammengefasst wurden. Satun war ursprünglich ein Teil des Sultanats Kedah, das heute zu Malaysia gehört. 47 Zachary Abuza, A Breakdown of Southern Thailand’s Insurgent Groups, in: Terrorism Monitor 4 (17) 2006, 3–6. 48 Eine detaillierte Analyse der Veränderungen des islamischen Bildungssystems im Süden Thailands findet sich in Joseph Chinyong Liow, Islam, Education and Reform in Southern Thailand. Tradition and Transformation, Singapore 2009.

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verständnis blieben davon nicht unberührt. Aus der Selbstbeschreibung „Patani Melayu“, schreibt Patrick Jory in einem Aufsatz, wurde „Thai Muslim“. Der Islam wurde zum Identitätsmarker und löste die Dimension des Ethnischen ab. Die Zentren der neuen Organisationen befinden sich in Moscheen und Islamschulen, die auch das wichtigste Rekrutierungsfeld darstellen. Die BRN spaltete sich und erhielt ein islamistisches Profil, und auch die PULO reorganisierte sich 1995 unter einer dezidiert islamistischen Agenda. Wie Horstmann49 und Marddent50 zeigen, lässt sich der Islamismus in Thailand jedoch nicht nur als Widerstandsideologie definieren. Fromme Muslime streben nach einem gottgefälligen Leben, und die Sinnhaftigkeit einer islamischen Lebensweise erklärt sich weniger aus weltlichen als aus religiösen Werten und Normen. Traditionell trugen Frauen im Süden Thailands ein Kopftuch, befolgten aber nicht die strenge islamische Kleidernorm, die auf der anderen Seite der Grenze, in Malaysia schon üblich war.51 In jüngster Zeit ändert sich dies. Viele Frauen haben sich in den vergangenen Jahren islamischen Vereinigungen angeschlossen, sind Anhängerinnen moderner Missionsbewegungen wie der „Tablighi Jamaat“ oder der Frauenorganisation „Nahdatul Muslimat“. Sie treffen sich in Gebetskreisen, lassen sich in religiösen Schulungen belehren und sie tragen Kleidung, die sie auf den ersten Blick als fromme Musliminnen erkenntlich macht, v. a. den hijab, ein langes, den Oberkörper verhüllendes Kopftuch, der mittlerweile ein Identitätssymbol darstellt. Gerade dieses Erkennen und das Sichtbarmachen einer islamischen Identität im öffentlichen Raum lösten in der Vergangenheit widerholt Konflikte mit Vertretern der Behörden aus. 1986 kam es sogar zu regelrechten Massenprotesten, nachdem eine Lehrerin nördlich von Bangkok wegen ihres Schleiers der Schule verwiesen wurde, sich kurz darauf ein ähnlicher Zwischenfall in Pattani ereignete und im folgenden Jahr eine ganze Gruppe hijab-tragender Studentinnen des „Yala Teacher’s Training College“ vom Unterricht suspendiert wurde.52 Zu Beginn des Jahres 1988 versammelten sich Tausende von Demonstrantinnen an der Zentralmoschee von Yala, um ihrem Unmut über die Repression Ausdruck zu verleihen. Die Regierung lenkte

49 Alexander Horstmann, Female Missionaries and Women’s Participation in Southern Thailand’s Chapter of the Tablighi Jama’at, in: Susanne Schröter (Hrsg.), Gender and Islam in Southeast Asia. Women’s Rights Movements, Religious Resurgence and Local Traditions, Leiden 2013, 223–240. 50 Amporn Marddent, Gender Piety of Muslim Women in Thailand, Frankfurt/Main 2017, unveröffentlichte Dissertation; Amporn Marddent, Religious Piety and Muslim Women in Thailand, in: Susanne Schröter (Hrsg.): Gender and Islam in Southeast Asia. Women’s Rights Movements, Religious Resurgence and Local Traditions, Leiden 2013, 241–268. 51 Liow, Islam, Education and Reform in Southern Thailand, 16. Liow vertritt in seinem Buch die Ansicht, dass thailändische Muslime ohnehin einen wenig regelgetreuen Islam praktizieren. Er schreibt: „Thai Muslims sometimes eat food generally deemed to be prohibited in Islam, and they do not necessarily observe obligations of prayer and fasting very strictly.“ Ebd. 52 Chaiwat Satha-Anand, Hijab and Moments of Legitimation. Islamic Resurgence in Thai Society, in: Charles F. Keynes/Laurel Kendall/Helen Hardacre (Hrsg.), Asian Visions of Authority. Religion and the Modern States of East and Southeast Asia. Honolulu 1994, 279–300, hier 285.

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ein, und die strengen Regularien gegen muslimische Kleidung lockerten sich.53 Der Politikwissenschaftler Chaiwat Satha-Anand interpretierte die sogenannte hijab-Krise einerseits als Folge weltweiter islamistischer Revitalisierung und andererseits im Kontext eines „legitimation deficit“54 des thailändischen Staates gegenüber der muslimischen Grenzbevölkerung. Interessanterweise betont Satha-Anand den Genderaspekt der durch das Tragen des hijab zum Ausdruck gebrachten muslimischen Kritik des buddhistischen Thai-Staates. „Some analysts“, schreibt er, „argue that the hijab must be viewed in relation to the desire of ethnic groups to reassert their autonomy through a gendered discourse. Because ‘masculinization’ represents a claim to full humanity, the minority group asserts themselves by insisting on female conformity to a restricted dress code.“55 Der neue Islam richtet sich aber nicht nur gegen den buddhistischen Thai-Staat, sondern dezidiert auch eine Moderne, die gern als „westlich“ denunziert wird. Man wendet sich gegen die sogenannte „Westoxification“,56 die Vergiftung einer idealisierten autochthonen Lebensweise durch verderbliche Einflüsse von außen, die sich durch Vernachlässigung religiöser Normen, einen zunehmenden Individualismus und eine moderne Geschlechterordnung ausdrückt. Mittlerweile, so Marddent, sei der Mainstream-Islam im Süden Thailands eine Mischung aus Wahhabismus und Salafismus. Eine Begleiterscheinung ist ein enormer Anstieg von Gewalttätigkeiten, die sich sowohl gegen die Behörden, als auch gegen Muslime richten, die den jeweiligen radikalen Akteuren als Verräter gelten.57

VI. Klane, Ethnizismen und radikaler Islam auf den Philippinen Wie in Thailand stellen Muslime auch auf den Philippinen nur eine kleine Minderheit dar. Die muslimische Bevölkerung leidet unter vielfältigen Repressionsmaßnahmen, unter einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg, unter teilweise anarchischen Gewaltverhältnissen und einer kulturellen Diskriminierung. Die Ursachen gehen bis in die Zeit der spanischen Kolonialzeit zurück. Auf den Philippinen begann die Islamisierung Ende des 9. Jahrhunderts, als sich arabische Händler im Sulu-Archipel niederließen und einheimische Frauen heirateten. Das Sultanat Sulu entwickelte sich schnell zu einer Drehscheibe des maritimen Handels und ab dem 14. Jahrhundert breitete sich der Islam von dort nach Mindanao, später auch nach Mindoro und das südliche Luzon aus. Im 16. Jahrhundert reklamierten die Spanier die Philippinen als 53 Preeda Prapertchob, Islam and Civil Society. The Role of NGOs, in: Nakamura Mitsuo/Sharon Siddique/ Omar Farouk Bajunid (Hrsg.), Islam and Civil Society in Southeast Asia. Singapore 2001, 104–117, hier 109. 54 Satha-Anand, Hijab and Moments of Legitimation, 296. 55 Ebd., 299. 56 Raymond Scupin, Muslim Accommodation in Thai Society, in: Journal of Islamic Studies 9 (2) 1998, 229–58, hier 254. 57 Peter Chalk, The Malay-Muslim Insurgency in Southern Thailand. Understanding the Conflict’s Evolving Dynamic, Santa Monica 2008.

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Kolonie und begannen mit der Gegenmissionierung. Anders als in Luzon stießen sie auf den Südphilippinen auf erbitterten Widerstand,58 der auch unter Einsatz aller verfügbaren Waffen nicht zu brechen war. Sultane und muslimische Kommunen riefen zur Verteidigung des dar al-Islam auf, und selbst als Teile des Archipels im 19. Jahrhundert von spanischen Truppen besetzt wurden, dauerte der Heilige Krieg (perang sabil) an.59 Die USA, die die Philippinen im Jahr 1898/99 von Spanien erwarben, setzten die militärische Unterwerfung des Südens fort. Um den muslimischen Widerstand zu brechen, führten sie großräumige Umsiedlungsvorhaben durch und vergaben bebaubares Land in Mindanao an landlose Christen aus Luzon und den Visayas. Diese Politik änderte sich auch nach der Unabhängigkeit nicht. Im Gegenteil: In den 1950er Jahren setze eine weitere Welle staatlich geförderter Umsiedelungen von Christen nach Mindanao ein.60 Die Konsequenzen waren einschneidend. Während im Jahr 1913 auf der Insel Mindanao der Anteil der Muslime noch 98 % betrug, sind es heute nur noch 30 %. Muslime besitzen weniger als 15 % des bebaubaren Landes und 80 % von ihnen fristen ihr Leben als landlose Pächter. Der Landraub führte zu Konflikten zwischen ansässigen Muslimen und neu angesiedelten Christen, zu Zusammenstößen von christlichen und muslimischen Milizen und zu fortwährenden Interventionen des Militärs.61 Während der Regierungszeit von Ferdinand Marcos62 verschärften sich die Spannungen. Die Separatistenorganisation „Moro National Liberation Front“ (MNLF) verlangte die Unabhängigkeit, und Marcos reagierte mit der Entsendung größerer Truppenkontingente. Obgleich nach seinem Sturz neue Anstrengungen unternommen wurden, den Konflikt beizulegen und im Jahr 1996 eine Teilautonomie in mehreren Provinzen implementiert wurde, konnte keine Lösung gefunden werden.63 Heute, im Jahr 2009, hat die MNLF ihren Alleinvertretungsanspruch der Muslime Mindanaos verloren. Eine stärker islamisch orientierte Organisation, 58 Die Spanier, die sich an den Kampf gegen die „Mauren“ erinnert fühlten, nannten die Muslime des Südens daraufhin „Moros“. 59 Attentäter griffen, teilweise nur mit dem Schwert oder Messer, Spanier oder christliche Filipinos an und versuchten, so viele von ihnen wie möglich zu töten, bis sie selbst getötet wurden. Sie wurden dadurch zu Märtyrern und konnten auf die Vergebung schwerer Sünden hoffen. 60 Die Politik der philippinischen Regierung hatte aber nicht nur die Minorisierung der Muslime zum Ziel, sondern auch die ökonomische Ausbeutung der Region. 100.000 Hektar Land wurden an internationale Agrarkonzerne wie Del Monte verpachtet. 61 Außer den Muslimen waren auch die animistischen Lumads von den Maßnahmen der inneren Kolonisierung Mindanaos betroffen. 62 Marcos, der 10. Präsident der Philippinen, regierte von 1965–1986. Zwischen 1972 und 1981 verhängte er das Kriegsrecht und entmachtete große Teile der politischen Elite. Im Februar 1986 wurde er von einer nationalen Oppositionsbewegung, der sich große Teile der alten Elite angeschlossen hatten, aus dem Amt gejagt und floh nach Guam. Corazon Aquino, die Witwe des von Marcos ermordeten Politikers Benigno Aquino, trat seine Nachfolge an. 63 Zur Genese und Analyse des Konflikts McKenna, Muslim Rulers and Rebels and Yegar. Between Integration and Secession; zum Islam in Südthailand siehe auch Raymond Scupin, Muslim Accommodation in Thai Society, in: Journal of Islamic Studies 9 (2) 1998, 229–258.

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die „Moro Islamic Liberation Front“ (MILF), fordert jetzt die Regierung heraus. Gegenüber der von Katholiken dominierten Regierung und den im Laufe des letzten Jahrhunderts zugewanderten Christen aus den nördlichen Philippinen, stellt der Islam in Mindanao ein natürliches oppositionelles Bezugssystem dar. Die Kultivierung einer dezidiert islamischen kollektiven Identität hilft dabei, sich gegen die nichtmuslimische Übermacht zu behaupten. Ein deutliches und sichtbares Bekenntnis zu den Werten und Normen des Islam, auch auf der symbolischen Ebene, liegt dabei näher als eine weniger expressive Form der Frömmigkeit. Das gilt auch für Frauen, die sich in Ablehnung der christlich-philippinischen Mode an Verhüllungsvorschriften aus dem arabischen Raum orientieren. Siapno ist Recht zu geben, wenn sie schreibt: „women’s involvement in the struggle for independence in Mindanao involves symbolic forms of resistance, of which veiling is perhaps the most important“.64 Im Kontext von Marginalisierung und Diskriminierung nutzt man die fundamentalistische islamische Ordnung primär als Ideologie des Widerstandes gegen die Dominanz des katholischen Staates und als Mittel eines ethnisch-religiösen Bekenntnisses. Die neue islamische Ordnung bedeutet für Frauen allerdings einen immanenten Widerspruch zu den Rechten, die sie im 20. Jahrhundert erwarben. Wenngleich Heirat und Mutterschaft selbst bei gut gebildeten Frauen das „primary goal“65 bleibt, wie die australische Forscherin Anne-Marie Hilsdon schreibt, so haben sich doch weibliche Handlungsspielräume im Verlauf der letzten 100 Jahre beträchtlich erweitert.66 Heute besuchen Mädchen Schulen und manchmal auch Universitäten, Frauen gehen zunehmend einer Erwerbstätigkeit außerhalb des eigenen Hauses nach67 und sie partizipieren an Aktivitäten innerhalb der Gemeinschaften. Das ist das Resultat von Reformen der Regierung,68 die im ganzen Land Mädchenbildung förderte und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen schuf, andererseits aber auch 64 Jacqueline Siapno, Gender Relations and Islamic Resurgence in Mindanao, Southern Philippines, in: Camilla Fawzi El-Solh/July Mabro, Muslim Women’s Choices. Religious Belief and Social Reality. Providence – Oxford 1994, 184–201, hier 193. 65 Anne-Marie Hilsdon, Violence against Muslim Women in the Philippines, in: Linda R. Bennett/Lenore Manderson (Hrsg.), Violence against Women in Southeast Asia. Gender Inequality and Technologies of Violence, London 2003, 20–40, hier 23. 66 Luis D. Laqar, The Emerging Role of Muslim Women in a Rapidly Changing Society. The Philippine Case, in: Journal Institute of Muslim Minority Affairs 13 (1) 1992, 80–98; Vergie, L. Maglangit, The Muslim Woman in Contemporary Philippine Society. Unpublished manuscript, requested by the Philippine Commission on Islamic Affairs for the 15th Century Hijra International Conference, Manila, 9.–13. June 1980; Amina P. UsodanSumagayan, The Changing Role of Maranao Women in a Maranao Rural Society, in: Dansalan Quartely 9 (4), 1987, 165–228, hier 206–207. 67 Anfangs waren Frauen hauptsächlich in Familienunternehmen tätig, seit den 1980er Jahren aber mehrheitlich in kommunalen Einrichtungen. Auch die Berufsbilder veränderten sich. Zunächst galten nur Extensionen traditioneller weiblicher Tätigkeiten als adäquat und Frauen wurden Lehrerinnen und Krankenschwestern. Heute ist es ihnen auch möglich, Ingenieurinnen und Rechtsanwältinnen zu werden. Vgl. Carmen Abubakar, The Changing Role of Filipino Women, Diliman, Quezon City 2005, 53. 68 Die Philippinen ratifizierten CEDAW 1981.

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Ergebnis der Aktivitäten indigener und internationaler NGOs, die kontrollierten, dass Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen tatsächlich umgesetzt wurden.69 Vor allem die „Bangsa Moro Women’s Professional and Employees Association“ und die „Bangsamoro Women Foundation“, ein Dachverband, der etwa 60 Einzelorganisationen verbindet, garantieren Frauen heute Einfluss in Politik und Gesellschaft. Innerhalb Mindanaos wird diese Entwicklung als großer Schritt in Richtung women’s empowerment verstanden. Mit Stolz verweist man in örtlichen Zeitungen auf Frauen in Führungspositionen, präsentieren sich Moro-Frauen als selbstbewusst und modern. Wie in anderen Regionen Südostasiens beeinträchtigen islamistische Organisationen die neu gewonnene Freiheit in Mindanao allerdings erheblich. Wieder ist es die Bekleidungsdebatte, die sich als besonders geeignet zeigt, Frauen in die Schranken zu verweisen. Während sie in den 1970er Jahren, so Hilsdon, „tight pants and backless tops“70 tragen konnten, wird heute ein islamkonformer Bekleidungsstil erzwungen. Diejenigen, die sich nicht an die rigiden Vorschriften hielten, waren wiederholt körperlichen Misshandlungen ausgesetzt: Man rasierte ihnen die Haare, wenn sie keinen Schleier trugen, und bewarf sie mit verrottetem Obst und Gemüse, wenn nackte Haut sichtbar war.71 Weitreichendere Konsequenzen als die Durchsetzung eines islamischen Bekleidungskodexes hatte die Einführung eines an der Scharia orientierten Personenstandsrechts im Jahr 1977 durch den damaligen Präsidenten Ferdinand Marcos.72 Traditionell erhalten Frauen in erster Linie Rechte als Mitglieder von ethnischen Gemeinschaften und Klanen. Birte Brecht, die eine ethnographische Forschung bei den Maranao durchführte, verwies dabei u. a. auf ein genderkomplementäres Titelsystem, in dem Frauen als Trägerinnen von traditionellen Ehrentiteln politischen Einfluss ausüben können.73 Die Landschaft muslimischer Organisationen in Mindanao ist heute unübersichtlich. Neben den große Verbänden MNLF und MILF existieren kleinere Gruppen wie „Jama’at Tabligi“ und „Markaz al-Shabab“, aber auch eine Reihe militanter Organisationen, von denen Abu Sayyaf die international bekannteste ist, da sie immer wieder westliche Ausländer verschleppt und entweder gegen die Zahlung eines Lösegeldes herausgibt oder ihnen vor laufender Kamera den Kopf abschneidet. Die spektakulären Gewaltaktionen der Jihadisten sind aber nicht nur einem transnationalen Habitus geschuldet, sondern werden durch Fragmentierungen innerhalb der philippinischen Gesellschaft bedingt. Die politische Elite stellt eine Oligarchie dar, die ihre Interessen mit äußerster Brutalität durchsetzt und auch indigene 69 CEDAW Watch-Philippines z. B. ist eigenen Bekundungen nach „engaged in information and education advocacy campaigns to make national laws and polices consistent with CEDAW“, http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/committee.htm (abgerufen 10. 2. 2018). 70 Hilsdon, Violence against Muslim Women in the Philippines, 29. 71 Ebd., 30. 72 Es handelte sich um den Presidental Decree 1083. 73 Birte Brecht, The Influence of the National Question and the Revival of Tradition on Gender Issues among the Maranao in the Southern Philippines. Between Re-traditionalization and Islamic Resurgence, Frankfurt/Main 2011.

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oder religiöse Minderheiten agieren gewöhnlich gewaltsam, wenn ihre Interessen auf dem Spiel stehen. Viele der derzeit operierenden Verbände sind in erster Linie kriminelle Organisationen, die sich ihr Einkommen mit Schmuggel, Waffen- und Drogenhandel sowie mit Entführungen und Schutzgelderpressungen verdienen.74

VII. Kolonialismus, Imperialismus, rechtsfreie Räume und Parallelgesellschaften Welche Schlüsse lassen sich aus den skizzierten Beispielen ziehen? Und wo können Schlussfolgerungen generalisiert und auf andere Regionen übertragen werden? Offensichtlich ist, dass Islamismus in Südostasien historisch auch als Antwort auf den europäischen Kolonialismus entstanden ist.75 Diese koloniale Ordnung kann europäisch dominiert sein, wie in Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen, oder sie kann eine regionale Hegemonialmacht darstellen, wie in Thailand. Die kolonialen Wurzeln des Islamismus sind auch in anderen Teilen der Welt unübersehbar und sie stellen, wie ich eingangs gezeigt habe, gewissermaßen die Ursprungsbegründung des Islamismus dar. Alle wichtigen historischen Apologeten des Islamismus adressierten die kolonialen Machtverhältnisse und verstanden sich auch als Kämpfer gegen die Kolonialherrschaft. Dieses Narrativ ist auch heute noch wirkmächtig, da es sich problemlos auf gegenwärtige politische Konflikte anwenden lässt. Der Nahost-Konflikt und die militärischen Interventionen westlicher Armeen im Irak oder in Afghanistan werden als koloniales Kontinuum gedeutet. Muslime sind in dieser Erzählung weltweit die Opfer westlicher Gewalt und befinden sich in einer Selbstverteidigungssituation. Der Jihad lässt sich so als defensiver Krieg rechtfertigen, wenn Muslime zu Schaden kommen. Dabei kann der Gegner ein sogenannter „naher Feind“, d. h. die eigene Regierung sein, oder er ist ein „ferner Feind“, was immer den Westen meint.76 Eine Minderheitenproblematik, wie sie in Mindanao oder Thailand signifikant ist, lässt sich in vielen Regionen beobachten, die jihadistische Milizen hervorgebracht haben. Dazu gehört beispielsweise Nigeria, wo eine christliche Elite von Muslimen im muslimischen Nordosten als Besatzungsmacht empfunden wird. Aus diesem Umstand bezieht die jihadistische Miliz „Boko Haram“ ihre Legitimität.77 Auch Syrien, wo eine alawitische Elite 74 Peter Kreuzer, Die Rebellion der Muslime im Süden der Philippinen. HSFK-Report 7/2003, Frankfurt/Main; Peter Kreuzer, Politische Clans und Gewalt im Süden der Philippinen. HSFK-Report 1/2005, Frankfurt/Main. 75 In Malaysia ist dieses Element allerdings weniger ersichtlich als in Indonesien, Thailand und Mindanao. 76 Steinberg zeigt, dass es hinsichtlich des jihadistischen Kriegszieles in den vergangenen Jahren zu einer signifikanten Verschiebung vom nahen auf den fernen Feind gekommen ist, wodurch Anschläge in westlichen Gesellschaften legitim werden. Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamischen Terrorismus, München 2005. 77 Johannes Harnischfeger, Der Boko-Haram-Aufstand und die Tradition des Dschihad in Nordnigeria, in: Polykarp Ulin Agan (Hrsg.), Religionen und gesellschaftliche Konflikte heute, Siegburg 2013/14, 21–55.

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über eine sunnitische Mehrheit herrscht oder der Irak, wo nach dem Sturz Saddam Husseins die sunnitische Dominanz durch eine schiitische bzw. im Norden durch eine kurdische ersetzt wurde, passt in dieses Bild.78 Die kaukasischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion zeigen das gleiche Muster.79 Auch hier wird eine dominante nichtmuslimische Macht als Unterdrücker empfunden, gegen die alle Mittel des Widerstands erlaubt sind. In diesen genannten Fällen geht es also um die Rebellion einer sunnitischen Minderheit gegen eine nichtsunnitische Mehrheit. Diese Rebellion zielt einerseits auf eine Allokation materieller Ressourcen, konkret etwa auf Eigentum und Verfügung von Land und Bodenschätzen, andererseits aber auch auf immaterielle Ressourcen wie Kultur, religiöse Deutungshoheit oder politischen Einfluss.80 In Thailand ist evident, dass trotz eines Kurswechsels der Regierung und erheblicher Investitionen keine Beruhigung der Situation hergestellt werden konnte, da eine nichtmuslimische Regierung grundsätzlich abgelehnt wird. An dieser Stelle sei auf die eingangs zitierte Ideologie von Qutb verwiesen, die den Jihad nicht nur als Verteidigung, sondern als immanentes Ziel des Islam versteht, das sich durch den göttlichen Auftrag begründet, nichtislamische politische, rechtliche und soziale Strukturen abzuschaffen und durch islamische zu ersetzen. Diese Zielsetzung steht auch hinter den Islamisierungsbewegungen in Malaysia und Indonesien. In beiden Ländern gab es zwar eine Phase, in der islamische Widerstandsgruppen sich gegen eine nichtislamische Kolonialmacht zur Wehr setzten, doch seit der Unabhängigkeit existierte keine unmittelbare Bedrohung durch den Westen. In keinem der beiden Länder führten islamistische Führer Entwicklungsdefizite oder andere gesellschaftliche Probleme auf westlichen Einfluss zurück. Zwar existiert bis auf den heutigen Tag eine islamistisch-antiimperialistische Rhetorik, aber diese verweist auf den Nahostkonflikt oder gegenwärtig auch auf den Krieg im Irak und in Syrien. Nun mag man die These aufstellen, der Islamismus, der sich im Zuge der Demokratisierung so rapide zu einer politischen Kraft herausbildete, sei die Folge der Unterdrückung des politischen Islams durch den autoritären Staat. Ähnliche Dynamiken finden wir ja auch im Iran81, in der Türkei82 oder in Tunesien83. Das Argument ist jedoch zu kurz gegriffen. Zwar konnten Islamisten in den genannten Ländern damit punkten, dass sie nicht mit den gestürzten Diktaturen kollaboriert 78 Behnam T. Said, Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden, München 2014. 79 Uwe Halbach, Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, Berlin 2017, https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf (abgerufen 20. 4. 2017). 80 Zur Religion als Machtressource in der arabischen Welt: Mitra Moussa Nabo, Der Jihad-Diskurs in der arabischen Welt. Hegemonie und legitime Geltung, in: Zeitschrift für Politik 63 (4) 2016, 369–397. 81 Misagh Parsa, Social Origins of the Iranian Revolution, New Brunswick 1989. 82 Thomas Brackmann, Zwischen Kemalismus und Islamisierung. Das Verhältnis von Religion und Staat in der Türkei, Frankfurt/Main 2007. 83 Susanne Schröter/Sonia Zayed, Tunesien. Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus, in: Susanne Schröter (Hrsg.), Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt, Bielefeld 2013, 17–44.

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hatten, doch wären diese Länder ohne die Unterdrückung durch die Diktaturen schon vorher islamische Staaten geworden. Am Beispiel Indonesien ist dies unverkennbar. Die Führer der sunnitisch-muslimischen Mehrheit wollten den islamischen Staat bereits unmittelbar nach der Unabhängigkeit einführen, wurden aber von Sukarno daran gehindert. In Malaysia sehen wir eine ähnliche Tendenz eines Teils der politischen Elite, obgleich der Islam seit der Unabhängigkeit niemals unterdrückt war. Wir können in Thailand, auf den Philippinen, in Indonesien und Malaysia trotz unterschiedlicher ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen eine ähnliche Entwicklung beobachten, die die Islamisierung der Gesellschaft, die Einführung islamischen Rechts und einer islamischen Lebensweise sowie letztendlich auch die Errichtung eines islamischen Staates zum Ziel hat. Dieses Ziel folgt einem Programm, das auf islamistische Überzeugungen zurückgeht. In jedem der dargestellten Länder lässt sich feststellen, dass die letzte Welle islamistischer Mobilisierung zeitgleich mit der Rückkehr junger Akademiker von arabischen Universitäten erfolgt, wo sie mit wahhabitischen und salafistischen Lehren in Kontakt kamen. Zusätzlich spielt die Verbreitung islamistischer Lehrmaterialien, das Entsenden islamistischer Prediger und die Einrichtung islamistischer Institutionen aus bestimmten arabischen Ländern eine entscheidende Rolle. Das Projekt der Entwicklung eines radikalen Islam, die Auslöschung lokaler synkretistischer Islamverständnisse und die Eroberung der politischen Macht ist nicht primär durch lokale oder regionale Missstände bedingt, sondern durch eine gezielte Propaganda islamistischer Zentren und ihre finanzielle Flankierung. Die Umsetzung des islamistischen Programms scheint in allen Ländern einer gleichen Choreographie zu folgen. Elemente sind die expressivenInszenierungen von Frömmigkeit, wie sie sich beispielsweise an der islamischen Bekleidung von Frauen zeigt, die Implementierung einer normativen islamischen Ordnung mit dem Schwerpunkt der Durchsetzung des islamischen Rechts sowie die Verfolgung religiöser Minderheiten, progressiver Muslime und jeglicher Opposition, die sich dem Islamismus entgegenstellt. Das Ziel der fundamentalistischen Erneuerung ist die Errichtung einer islamischen Weltgesellschaft als Alternative zum säkularen Projekt der Moderne.84 Literaturauswahl Casanova, José, Public religions in the modern world, Chicago 1994. Eder, Klaus, Europäische Säkularisierung – ein Sonderweg in die postsäkulare Gesellschaft?, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (3) 2002, 331–343. Herrmann, Johannes, Unter dem Schatten von Garudas Schwingen. Chancen und Probleme nationaler Integration in Indonesien. Geschichte, Ideologie, Religion, Recht, Wettenberg 2005.

84 Johannes Reissner, Islam in der Weltgesellschaft. Wege in eine eigene Moderne, Berlin 2007: SWP, https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2007_S19_rsn_ks.pdf (abgerufen 20. 4. 2017); Bassam Tibi, Islamism and Islam, New Haven 2012.

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Kippenberg, Hans G., Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008. Qutb, Sayyid, Social Justice in Islam, New York 1999. Reid, Anthony, Veranda of Violence. The Background of the Aceh Problem. Singapur 2006. Schlehe, Judith, Die Meereskönigin des Südens, Ratu Kidul. Geisterpolitik im javanischen Alltag, Berlin 1998. Schröter, Susanne, Gender and Islam in Southeast Asia. An overview, in: Susanne Schröter (Hrsg.), Gender and Islam in Southeast Asia. Negotiating Women’s Rights, Islamic Piety and Sexual Orders, Leiden 2013, 7–54. Schröter, Susanne, Re-Islamisierungsprozesse in Südostasien, in: Orient 4 (2007), 17–30. Sidorko, Clemens P., Dschihad im Kaukasus. Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tschetschenen gegen das Zarenreich (18. Jahrhundert bis 1859), Wiesbaden 2007. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985.

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Die Geschlechter der Weltgesellschaft. Zwischen Universalismus und postkolonialen Herausforderungen. Was kann die Geschlechterforschung zum Nachdenken über „Weltgesellschaft“ beitragen? Wie kann das dort generierte Wissen dazu genutzt werden, eine „Weltgesellschaft“ zu gestalten? Die Antwort auf diese Frage erweist sich als voraussetzungsvoll. Einmal scheint noch nicht ganz geklärt, ob es die „Weltgesellschaft“ überhaupt, und wenn, dann in welcher Weise gibt. Außerdem ist Geschlechterforschung sowohl was die Fragestellungen als auch was die Positionen betrifft, kein homogener und widerspruchsfreier Wissenskörper, wie also die Heterogenität und Differenzen fassen? Weiterhin ist „Weltgesellschaft“ kein Konzept, dem ich in meiner Beschäftigung mit Texten, die der Geschlechterforschung zuzurechnen sind, schon einmal begegnet wäre. Was tun also? Auch wenn die Geschlechterforschenden – meiner Wahrnehmung nach – nicht von „Weltgesellschaft“ sprechen, so sie weltumspannende Kommunikations- und sonstige Austauschverhältnisse meinen, lassen sich zum Kontext und Gegenstand des Globalen in Bezug auf die Gender-Forschung doch wesentliche Bezüge herstellen. Ich habe dabei das Wissensfeld der Geschlechterforschung als Ressourcenansammlung verwendet, um für die Befassung mit Weltgesellschaft – ganz eklektizistisch – Nützliches, Brauchbares herauszusuchen.1 Vorauszuschicken ist, dass dem Begriff der „Weltgesellschaft“ in der Geschlechterforschung wohl am ehesten eine kritische Wahrnehmung von Globalisierung gegenübersteht. Globalisierung wird dabei als ein Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich die wirtschaftliche, kulturelle, politische und militärische Hegemonie der „westlichen Welt“ über den ganzen Globus ausdehnte. Dezidiert wird damit etwas Anderes in den Fokus genommen als das „Gemeinsame“ in einem Prozess, an „dessen Ende ein einziger, die ganze Welt umfassender Staat und eine einzige, die ganze Menschheit umfassende Nation stehen“.2 In der Geschlechterforschung hingegen wird Globalisierung meist als eine Entwicklung wahrgenommen, die zur weltweiten Verbreitung von Produktion und Konsum inklusive kultureller Produkte sowie kultureller Haltungen und Praxen durch internationale Konzerne, transnational agierende politische Gruppierungen und inter-gouvernementale Institutionen führt. 1 Siehe umfassender, allerdings auf dem zeitgenössischen Forschungsstand: Maria Mesner, Theoretische und methodische Suchbewegungen, in: Dies.,/Margit Niederhuber/Heidi Niederkofler/Gudrun Wolfgruber, Das Geschlecht der Politik, Wien 2004, 17–27; Maria Mesner, Geburten/Kontrolle. Reproduktionspolitiken im 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2010, 25–31. Zum Überblick siehe auch Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Zweite überarbeitete Auflage, Wien 2012, 129–181. 2 Johan Galtung, Der Preis der Modernisierung. Struktur und Kultur im Weltsystem, Hrsg. von Wilfried Graf und Dieter Kinkelbur, Wien 1997, 9.

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Dieser Prozess prägt und transformiert alle wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Formen, auf die er trifft.3 Welche Bezüge lassen sich also mit diesem Vorbehalt zwischen der Geschlechterforschung und dem Konzept der „Weltgesellschaft“ herstellen? Erstens sind das historische: Die Geschlechterforschung als wissenschaftliche Disziplin in einem modernen Sinn steht in ihrer Genese in einem engen Zusammenhang mit den Frauenbewegungen der Moderne. Diese entfalten spätestens im 19. Jahrhundert wenn schon zunächst keine globalen, so zumindest interkontinentale Netzwerke, die spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über den ganzen Globus, wenn auch sehr ungleich, verteilt sind. In diesen Netzwerken werden Problemwahrnehmungen, Konzepte, Normvorstellungen und Utopien, zwar nicht frei flottierend und in einem machtfreien Feld, ausgetauscht. Wie auch andere an den Friktionsflächen der beschleunigten Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen sozialen Bewegungen versuchten auch die Frauenbewegungen, sich transnational zu organisieren. Ende der 1920er Jahre wurde auf US-amerikanische Initiative hin die „World Women’s Party“ gegründet, die ihren Sitz in Genf nahm. Die „World Woman’s Party for Equal Rights“ wie sie sich später nannte, lobbyierte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Ebene der UNO und erreichte schließlich, dass 1946 die „UN-Commission on the Status of Women“ etabliert wurde, die immer noch tätig ist. Zweitens und damit im Zusammenhang sind es die globalen Macht- und Ungleichverhältnisse, die die Geschlechterforschung seit spätestens den 1970er Jahren stark beschäftigen, im Sinne der wissenschaftlichen Analyse und Kritik und im Sinne der Entwicklung von Prozessen und Normen, die die Austauschverhältnisse weniger hierarchisch und einseitig machen können. Meine These, die ich hier formulieren möchte, ist, dass gerade die Beschäftigung mit hierarchisch strukturierten Ungleichverhältnissen in der Gesellschaft, die ein wesentlicher Kern der Gender Studies ist, Potenziale entwickelt, die die Entstehung einer nachhaltigen Weltgesellschaft, die in einem annähernden Sinn mit demokratischen und Menschenrechtsvorstellungen kompatibel erscheint, unterstützen können. Im Zentrum der Geschlechterforschung stehen die Frage nach der Genese von gesellschaftlicher Diskriminierung sowie ihren Effekten und das Anliegen, Diskriminierungen zu vermeiden und Gleichberechtigung herzustellen. Für die Etablierung einer an den Menschenrechten orientierten „Weltgesellschaft“, so meine Prämisse, sind solche Wissensbestände von Bedeutung. Ich werde daher im Folgenden die Entwicklung verschiedener Konzepte von Geschlecht als hierarchisch strukturierter Differenzkategorie, die Frauenbewegungen im Lauf des 20. Jahrhunderts vertraten, nachzeichnen und deren soziale und geographische Perspektivierung diskutieren. Dabei werde ich auch die These belegen, dass diese Konzepte implizit und explizit universalistische Ansprüche hatten, wiewohl sie in ihren normativen Setzungen klar geographisch und sozial zu verorten sind. 3 Siehe Suzanne Bergeron, Political Economy Discourses of Globalization und Feminist Politics, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 26 (2001), Heft 4, 983.

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Es ist wohl passend, meine Darlegungen um die Kategorie Geschlecht mit Simone de Beauvoir beginnen zu lassen: 1949 erschien „Le deuxième sex“ in französischer Sprache, Anfang der 1950er Jahre wurde das Buch neben vielen anderen Sprachen unter dem Titel „Das andere Geschlecht“ auch ins Deutsche übersetzt und wird bis heute viel rezipiert. De Beauvoir, als Philosophin dem Existenzialismus zuzurechnen, schrieb „Le deuxième sex“ im patriarchalen Frankreich der 1940er Jahre. Bis 1942 war der Mann in Frankreich per Gesetz das Oberhaupt der Familie gewesen, dem die Ehefrau zu gehorchen hatte.4 Erst 1945 hatten die Frauen das Wahlrecht bekommen. De Beauvoirs wohl bekanntester Satz ist: „Denn als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht“. Damit sind schon die sozialen Prozesse angesprochen, die zu Unterordnungs- und Machtverhältnissen führten. De Beauvoir entwarf ein bi-polares Bild der Geschlechterverhältnisse: Die Situation von Männern und Frauen würde sich diametral unterscheiden, ebenso die Räume, in denen sie sich bewegten, und die Rollen, die sie einnähmen: In seinem Beruf, in seinem politischen Leben lernt er [der Mann] Änderung, Fortschritt kennen, er kann sich in Zeit und Raum ausströmen, und wenn er dieses Schweifens müde ist, gründet er einen Herd, setzt sich fest, verankert sich in der Welt. Abends findet er Sammlung in seinem Heim, in dem die Frau über Möbel und Kinder, über die Vergangenheit, die sie speichert, wacht. Sie selbst hat aber keine andere Aufgabe, als das Leben in seiner reinen Allgemeinheit zu bewahren und zu unterhalten. Sie pflanzt die unveränderliche Gattung fort, sie sichert den Gleichklang der Tage und den Bestand der Häuslichkeit, deren verschlossene Türen sie bewacht. Man erlaubt ihr kein unmittelbares Eingreifen in die Zukunft oder in die Welt. Sie überschreitet sich nach der Allgemeinheit hin nur über ihren Gatten als Vermittler.5

Insgesamt zeichnet de Beauvoir ein sehr negatives Bild von dem Schicksal der Frauen in ihrer Zeit. Ihre Unterdrückung und ihre Begrenzung auf das Haus habe sie zu missgünstigen, misstrauischen, verschlagenen Wesen gemacht. Als Resümee ihrer Gesellschaftsbeschreibung forderte sie die Befreiung der Frau aus ihrer inferioren Situation, nur dann könne sie – wie „der Mann“ in de Beauvoirs Diktion – ein ganzer Mensch werden. Nach de Beauvoir ist Gleichberechtigung nur über Gleichheit möglich: Erst wenn Frauen wie Männer würden, bekämen sie auch die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten.6 Implizit wertete de Beauvoir also das Weibliche ab und bestätigte damit die patriarchal festgelegte Hierarchie, was ihr in den folgenden Jahrzehnten grundsätzliche Kritik einbrachte. Vorderhand stand de Beauvoir mit der Thematisierung der Geschlechtszugehörigkeit und ihrer Konsequenzen aber noch ziemlich allein. Es gab keine politische Bewegung (mehr), 4 In der BRD war der Mann bis 1959 Familienoberhaupt, in Österreich bis 1975. 5 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1968 [1951], 402–403. 6 Andrea Maihofer, Geschlechterdifferenz – eine obsolete Kategorie?, in: Dominique Grisard/Ulle Jäger/Tomke König (Hrsg.), Verschieden sein. Nachdenken über Geschlecht und Differenz, Sulzbach/Taunus 2013, 30.

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die ihre Ideen aufnahm, sie schrieb gegen oder neben dem „Zeitgeist“, der von Wiederaufbau und konservativer Restauration geprägt war. Mehr als ein Jahrzehnt später sollte sich das ändern: Geschlecht wurde zum Thema von Wissenschaftlern, Wissenschaftlerinnen und politisch Aktiven gleichzeitig, und zwar aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und auch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Im Versuch, Geschlecht und Geschlechtsidentität auf die Spur zu kommen, trennten der Sexualwissenschaftler John Money und die Sexualwissenschaftlerin Anke Ehrhardt analytisch „sex“ als biologische Anlage von „gender“ als Geschlechtsidentität, die Money und Ehrhardt in den 1970er Jahren ziemlich unabhängig voneinander sahen. Sie nahmen dabei eine Idee auf, die der Psychoanalytiker Robert J. Stoller bereits einige Jahre zuvor in seiner analytischen Behandlung von Transsexuellen entwickelt hatte. Diese Wurzel der sex-gender-Dichotomie liegt also in den Sexualwissenschaften. Aus einer ganz anderen Richtung zu ganz ähnlichen Strategien gelangte zur etwa selben Zeit die britische Soziologin Ann Oakley: „,Sex‘ is a word that refers to the biological differences between male and female […] ,gender‘ however, is a matter of culture: it refers to the social classification into ‚masculine‘ and ,feminine‘. […] The constancy of sex must be admitted, but so must the variability of gender.“7 Oakley stand in einem Nahverhältnis zur zweiten Frauenbewegung. Für diese und für die gleichzeitig entstehende Frauen- und Geschlechterforschung eröffnete dieses Konzept neue Perspektiven: Frauen besonders, aber auch die Geschlechterverhältnisse im Allgemeinen steckten nun nicht mehr im Unveränderlichen der Biologie fest, sondern waren dem wandelbaren Sozialen zugeordnet. Nicht mehr ausschließlich Chromosomen, Nervenstränge, die Anzahl der Hirnwindungen oder die Größe des Gehirns bestimmten, was Frauen sind, sondern politische, soziale, ökonomische, kulturelle Umstände. Und diese sollten eben – nach Ansicht der v. a. westeuropäischen und nordamerikanischen Feministinnen – geändert werden. Tatsächlich ist das Konzept von sex und gender inzwischen fast ins Alltagswissen übergegangen. In den 1970er Jahren wurde die feministische Theorie von einem grundlegenden Auffassungsunterschied geprägt: Manche Theoretikerinnen (und Aktivistinnen) meinten ähnlich wie Simone de Beauvoir, Gleichberechtigung sei über Gleichheit herzustellen: Frauen hätten die gleichen Fähigkeiten wie Männer und seien daher auch gleich zu behandeln. Andere wiederum bestanden auf einer grundlegenden Differenz zwischen den Geschlechtern. Unter anderen die französische Philosophin Luce Irigaray kritisierte z. B., dass die Differenz zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts nur als Anderssein der Frauen gedacht werden könne, dass also das Weibliche nicht als Eigenständiges, sondern immer nur als vom Männlichen Abhängiges, auf das Männliche Bezogene gedacht werden könne, als das An-

7 Ann Oakley, Sex, Gender and Society, Melbourne 1972, 16; zitiert nach: Andrea Griesebner/Christina Lutter, Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 30 (2000) Sondernummer 1, http://vgs.univie.ac.at/VGS_alt/b00s1lp.html (abgerufen 4. 2. 2017).

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dere des Einen.8 Daran anschließend folgten Versuche, ein eigenständig Weibliches zu re-/ konstruieren: Frauen müssten in die Lage versetzt werden, selbstständig und frei von patriarchaler Unterdrückung ihre weibliche Identität, ihre weibliche Wesenheit zu entwickeln. Schon in den 1970er Jahren entzündete sich aber auch Kritik an diesen v. a. von weißen Frauen entwickelten Konzepten, und zwar in zwei grundlegende Richtungen: Zum einen würde Frauen als solchen unterschiedslos die Rolle der Opfer zugewiesen, der Unterdrückten, der daher auch Passiven. Damit würde – so lauteten die Einwände – eigentlich nur das nachvollzogen und bestätigt, was Ergebnis der Prozesse sei, die zu einer gesellschaftlichen Benachteiligung anhand des Geschlechts geführt hätten. Gleichzeitig wandte sich z. B. die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr Anfang der 1980er Jahre gegen Konzepte, die davon ausgingen, dass ein universelles Patriarchat die Frauen zu universellen Opfern, zu immer und ausschließlich Unterdrückten gemacht habe. Frauen seien im „Patriarchat“ auch Täterinnen, z. B. im Hinblick auf die Zerstörung der Welt durch Atomtechnologie und Umweltverschmutzung.9 Einerseits ist hier die Bezugnahme auf eine zu schützende Welt von Bedeutung. Andererseits erlaubt es der Ansatz auch, Frauen als Aktive, Handelnde und als Mündige zu denken. Diese beide Fäden sind wesentlich, wenn es darum geht, den Beitrag der Geschlechterforschung zum Nachdenken über eine „Weltgesellschaft“ zu überlegen: die Sorge um die Zerstörung der Welt, durch Krieg oder Ressourcenvergeudung, und die Frage, wie Benachteiligte oder Marginalisierte sich mit Handlungsmacht ausstatten könnten. Ansätze, die sich für die Möglichkeiten individuellen Handelns interessierten, wurden in den 1980er Jahren – nicht nur in der feministischen Theorie – immer bedeutsamer, theoretische Zugriffe, die Strukturelles ins Zentrum stellten, wurden damit zunehmend herausgefordert, u. a. durch konstruktivistische Ansätze: Sie fragten danach, warum sich Menschen ,ihrem‘ Geschlecht gemäß verhalten, wie die Herstellung von Geschlecht in den Praktiken des Alltags funktioniere – eine Frage, die für viele Kontexte, u. a. für die Frage der Dauerhaftigkeit der geschlechtlichen Segregation am Arbeitsmarkt, der ungebrochenen Wirksamkeit geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen und ähnliches, zentral erscheint. Geschlechtliche Subjektivität und die Vorstellung davon, wie sich diese situativ und habituell realisieren soll, entstehen in der konstruktivistischen Theoriebildung durch Interaktion: „The approach of doing gender […] conceives of gender in terms of its active production and reproduction. The focus is on activities, not only on women or men, in particular local contexts.“10 Ethnomethodologisch inspirierte Zugänge gehen davon aus, dass es die Erwartung des/der

  8 Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979.   9 Christina Thürmer-Rohr, Aus der Täuschung in die Ent/täuschung. Zur Mittäterschaft von Frauen, in: Dies., Vagabundinnen. Feministische Essays, Berlin 1987, 38–56; Dies., Der Chor der Opfer ist verstummt. Eine Kritik an Ansprüchen der Frauenforschung, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 7 (1987), Heft 11, 71–84. 10 Päivi Korvajärvi, Gendering Dynamics in White‑Collar Work Organisations, Tampere 1998, 13.

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Betrachtenden, wonach es zwei Geschlechter gäbe, sei, die zur Wahrnehmung von zwei Geschlechtern führe, indem alle Phänomene in die angenommenen dichotomen Kategorien gepresst würden. Auf die Frage, wie denn die Zuschreibung eines bestimmten Geschlechts an eine bestimmte wahrgenommene Person funktioniere, antworteten beispielsweise Suzanne Kessler und Wendy McKenna, dass der/die Wahrgenommene seinem/ihrem Gegenüber Hinweise gebe, auf Grund derer auf der Basis gesellschaftlich konstruierter geschlechtsspezifischer Normen Geschlecht zugeschrieben werde: durch Inhalt und Form des Sprechens, der Kleidung, durch die äußere Erscheinung oder die Darbietung einer Narration, die in ein Geschlechter-Stereotyp passe. Die Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht erfolge im Alltag also nicht ausschließlich auf Grund körperlicher Merkmale, sondern orientiere sich ebenso an kulturell üblichen Verhaltensweisen und Accessoires.11 Ein ausdifferenzierteres Modell der sozialen Herstellung von Geschlecht haben Candace West und Don Zimmerman vorgestellt12: Sie gingen – wiederum in der Theorietradition der Ethnomethodologie stehend – von der Alltagspraxis der Subjekte aus. Deren soziale Wirklichkeit begriffen sie nicht als vorgängige, sondern als durch das kontingente und kontinuierliche Handeln der Subjekte beständig Hervorgebrachte. Auch in ihrem Konzept wird Geschlecht performativ hergestellt – ist Produkt von „erfolgreicher“ Darstellung von gender. West und Zimmerman theoretisieren aber nicht nur das Subjekt in seiner Performation, sondern auch deren AdressatInnen, indem sie darauf hinweisen, dass Geschlecht in Interaktionsprozessen intersubjektiv bestätigt, validiert oder aber auch verworfen werden kann. Damit rücken soziale Prozesse, die den Erfolg einer Performation schließlich ausmachen, in ihrer Komplexität deutlicher ins Blickfeld. Meines Erachtens ist der Zugang von West und Zimmerman für unseren Zusammenhang von Belang, weil er die Bedeutung von sozialen Interaktionsprozessen in der Konstitution von Identität/en, fokussiert allerdings auf die Geschlechtsidentität, erfasst. Diese Fokussierung auf Geschlecht bezeichnet eine Grenze dieses Konzepts, die es jedoch mit vielen Modellen des feministischen mainstream teilt. Diese Beschränkung wird allerdings in einer späteren Arbeit von Candace West relativiert, indem zwei weitere wesentliche soziale Differenzierungskritierien, nämlich race und soziale Klasse, in das Interaktionsmodell integriert werden.13 Im deutschen Sprachraum äußerst wirksam, aber auch umstritten waren die Arbeiten der US-amerikanischen Philosophin und Rhetorikprofessorin Judith Butler. Es ist hier nicht der Ort, die umfangreiche Debatte, die ihre Texte auslösten, nachzuvollziehen. Daher sei hier nur Folgendes festgehalten: Butler verwirft das Gegensatzpaar von sex und gender, weil sie davon ausgeht, dass auch sex nie durch Kulturelles unvermittelt wahrgenommen, bedacht und besprochen werden könne. Wie wir die Materialität des Körpers fassen, so Butler, ist 11 Suzanne Kessler/Wendy McKenna, Gender: An Ethnomethodological Approach, New York 1978. 12 Candace West/Don  H. Zimmerman, Doing Gender, in: Judith Lorber/Susan A. Farell (Hrsg.), The Social Construction of Gender, London – Newbury Park – New Delhi 1991, 13–37. 13 Candace West/Sarah Fenstermaker, Doing Difference, in: Gender & Society 9 (1995), Heft 1, 8–37.

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immer auch durch Kulturelles geprägt, was nicht mit der Annahme gleichzusetzen ist, dass der Körper selbst diskursiv hergestellt werde.14 Provokant war aber auch Butlers Verweis auf die Ausschlüsse und Marginalisierungen, die politische Identitätsbildungen mit sich bringen und tatsächlich brachten, auch wenn sie im Namen des Feminismus oder „aller Frauen“ erfolgten. Dabei nahm Butler die Ansätze von marginalisierten Kritikerinnen des feministischen mainstream auf und entwickelte daraus provozierende Einwände gegen ein feministisches „Wir“: Das feministische ,Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ,Wir‘ verleugnet und sich nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht.15

Ähnliche Kritik, nur viel konkreter, hatte einige Jahre zuvor schon women of color geübt. „By and large within the women’s movement today, white women focus upon their oppression as women and ignore differences of race, sexual preference, class and age. There is a pretense to a homogeneity of experience covered by world sisterhood that does not in fact exist“,16 schrieb Audre Lorde schon 1984. Während sich also ein Strang von Kritik an den verschiedenen sex-gender-Konzepten dagegen richtete, dass diese Frauen generell als Opfer und machtlos konstruierten, wies eine zweite Gruppe von KritikerInnen darauf hin, dass in diesen Konzepten, unabhängig ob sie differenz- oder gleichheitsorientiert argumentierten, die Dichotomisierung der Gesellschaft entlang des Geschlechts und die damit in Zusammenhang stehende Hierarchisierung universell festgeschrieben würden. Gleichzeitig würden Differenzen unter Frauen, entsprechende Hierarchisierungen und Marginalisierungen ausgeblendet, durch das behauptete universelle Unterdrückungsverhältnis des Patriarchats verschleiert. Kritik, die daran ansetzte, entstand v. a. außerhalb des weißen US-amerikanischen bzw. westeuropäischen Mittelschichtfeminismus, der damit auch als solcher bezeichnet und kritisiert wurde. Etwa Mitte der 1980er Jahre verschärften die vom feministischen mainstream marginalisierten Wissenschaftlerinnen, v. a. afro-amerikanische, lateinamerikanische sowie lesbische Theoretikerinnen, ihre Kritik an der Idee eines kollektiven Subjekts Frau. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, verwiesen sie die scheinbar universelle Kategorie „Frau“ in den Bereich der Konstruktion und der hegemonialisierenden Machttechniken. Hazel Carby etwa nannte in „White Women Listen! Black Feminism and the Boundaries of Sisterhood“ 1982 das feministische ,Wir‘ der vorwiegend weißen Frauenbewegungen in den USA und Europa ein Konstrukt, das der Verschleierung von Machtbeziehungen zwischen Frauen diene und durch die Ausblendung 14 Judith Butler, Bodies that Matter. On the Discursive Limits of “Sex”, New York – London 1993. 15 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991, 209. 16 Audre Lorde, Sister Outsider. Essays and Speeches, New York 1984, 116.

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historischer rassistischer Kontexte in der aktuellen feministischen Theorie die rassistische Beziehung der Weißen zu den Nicht-Weißen nicht transzendiere.17 Chandra Talpade Mohanty kritisierte die Versuche, eine universelle „Schwesterlichkeit“, die eine „männliche“ Welt transzendiere, herzustellen, weil sie letztlich nichts seien als „a middle class, psychologized notion which effectively erases material and ideological differences within and among groups of women, especially between First and Third World women […]“.18 Dadurch würden die vorhandenen Machtdifferenzen gefestigt und gestärkt. Feministische Interessen, wie sie von bürgerlichen Frauen in den USA und Westeuropa artikuliert würden, würden wiederum gegenüber den Interessen von Frauen in der „Dritten Welt“ privilegiert. Der zentrale und normativ bestimmende Status der US-amerikanischen (und westeuropäischen) Frauen würde erneut bestätigt.19 Implizite oder explizite Kritik am feministischen „Wir“ als einem v. a. heterosexuellen übten Aktivistinnen der sich in den 1970er Jahren in den USA bildenden Lesben-Bewegung, sie stellten die dichotome Paar-Konstruktion Frau-Mann in Frage20: „Lesben sind keine Frauen“, stellte die französische Theoretikerin Monique Wittig 1978 fest: Der Begriff „Frauen“ bekomme seinen Sinn nur in Bezug auf „Männer“.21 Das Ergebnis der Auseinandersetzung lief darauf hinaus, Geschlecht mit anderen gesellschaftlichen Differenzierungs- und Hierarchisierungskategorien wie Alter, Familienstand, sexuelle Orientierung, Körperlichkeit etc. in Zusammenhang zu setzen, also als „relationale Kategorie“ zu operationalisieren.22 In der feministischen Theorie setzte sich schließlich der Begriff der „Intersektionalität“ für dieses Konzept durch. Die US-amerikanische Rechtswissenschafterin Kimberlé Crenshaw prägte den Begriff „intersecionality“ Ende der 1980er Jahre.23 Er nimmt die Metapher der Verkehrskreuzung auf: Subjektpositionen, auf deren Basis sich entsprechende Identitäten entwickeln, werden dort gedacht, wo „sich Machtwege kreuzen, überlagern und überschneiden“.24 Intersektionalität meint die „Wechselwirkungen

17 Hazel V. Carby, White Women Listen! Black Feminism and the Boundaries of Sisterhood, in: Centre for Contemporary Cultural Studies (Hrsg.), The Empire Strikes Back, London 1988 [1982], 212–235. 18 Sylvia Junko Yanagisako, Geschlecht, Sexualität und andere Überschneidungen, in: Sabine Strasser/Gerlinde Schein (Hrsg.), Intersexions. Feministische Anthropologie zu Geschlecht, Kultur und Sexualität, Wien 1997, 53–54. 19 Ebd. 20 Siehe beispielsweise Jill Johnston, Lesben Nation. Die feministische Lösung, 2. Auflage Berlin 1977. 21 Monique Wittig, The Straight Mind, in: Feminist Issues 1 (March 1980), Issue 1, 103–111; siehe auch Dies., One is not Born a Woman, in: Stevi Jackson u. a. (Hrsg.), Women’s Studies. Essential Readings, New York 1993, 24. 22 Vergleiche dazu die Begrifflichkeit, die Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten, Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien 2000, 304–305, entwickelt hat. 23 Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum 1989, 139–167. 24 Gabriele Winkler/Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, 13.

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Die Geschlechter der Weltgesellschaft

zwischen […] Ungleichheitskategorien“, und nicht ihre Addition.25 Das Erkenntnisinteresse der Intersektionalitätsforschung zielt auf die Verflechtungszusammenhänge, die sich durch das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen ergeben. Wiewohl das Konzept nicht unumstritten geblieben ist, hat es sich als eines der gegenwärtig einflussreichsten in der internationalen Geschlechterforschung erwiesen. Waren es race und gender, die ursprünglich als sich kreuzend und so neue Diskriminierungsverhältnisse erzeugend gedacht wurden, entstanden in den letzten Jahrzehnten Schemata mit zehn und mehr Diskriminierungskategorien, die, so fordert es zumindest die Theorie, in der empirischen Forschung berücksichtigt werden sollten.26 Trotz dieser Relativierungs- und Differenzierungsversuche blieb die Kategorie Geschlecht ein im globalen Westen verhaftetes Konzept, dem Wissenschafter und Wissenschaftlerinnen aus anderen Weltregionen mit Misstrauen gegenübertreten. In dieser Debatte liegt meines Erachtens wiederum wesentliches Potenzial für eine Debatte über die Gestaltung von „Weltgesellschaft“, v. a. in den Debatten der Queer Studies und der postkolonialen Theorie. Daher soll die folgende abschließende Skizze andeuten, in welche Richtung die Denkbewegungen gehen. Die Queer Studies verwehren sich gegen alle fixierten sexuellen Kategorien, sondern wollen entsprechende Normen und Praktiken fluide halten. Im Zentrum der Queer Studies steht, bei ihrer generellen Offenheit und Diversität, ein durch Vorgefasstes unverstellter Blick, der Versuch, ohne festgeschriebene Identitäten, unabhängig von welcher Differenzkategorie sie getragen werden, auszukommen. Die Weigerung, Identitäten zu fixieren und zu essentialisieren, und das Bestehen darauf, ihre Grenzen fließend und überschreitbar zu halten, stellt einen spannenden Beitrag dar für das Unterfangen, „Weltgesellschaft“ zu denken und auf dieser Basis über deren Strukturen und mögliche Regelungen zu diskutieren. Postkoloniale Theorien, die sich unabhängig von der Geschlechterforschung entwickelten, haben das Ungleichgewicht globaler Machtstrukturen und seine Konsequenzen im Fokus. Seit den 1980er Jahren erfolgte die Theoriebildung häufig im Austausch mit der Geschlechterforschung, ging es doch sowohl in den Gender Studies als auch im Postcolonialism um hierarchisierte, häufig naturalisierte Differenzen, Diskriminierungen und Machtungleichgewichte. Bereits Ende der 1980er Jahre wurde der Text der Literatur- und Sozialwissenschafterin Gayatri Spivak „Can the Subaltern Speak?“27 in der Geschlechterforschung breit rezipiert und war sehr einflussreich. Aus dieser Perspektive wird die Fokussierung auf aus dem Westen stammende Konzepte von Geschlecht und Sexualität stark kritisiert, auch wenn die Welt nicht ohne die oft mit Gewaltprozessen einhergehende Globalisierung euro25 Ebd., 15. 26 Nina Degele/Gabriele Winker, Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, https://doi.org/10.15480/882.382 (abgerufen 16. 1. 2018). 27 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, 271–313.

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Maria Mesner

päischen und nordamerikanischen Ursprungs gedacht werden könne. Durch die Benennung und Positionierung des Einflusses des Nordens werden die entsprechenden Universalismen als solche benannt und verlieren in diesem Prozess ihren universellen Anspruch.28 Auch die westliche Aufklärung, die mit ihren Begriffen von Rationalität, Individualismus und Säkularisierung die Globalisierung vorangetrieben hat, kommt aus dieser Perspektive stark unter Druck. Es bräuchte eine „neue Aufklärung“, hieß es dazu jüngst in einem Essay des indisch-britischen Soziologen Pankaj Mishra.29 Die Juristin Ratna Kapur, die in New Delhi lehrt, formulierte erst jüngst eine grundlegende Kritik am Grundrechtsdiskurs. Sie leitete die Genese der Grundrechte aus der europäischen Aufklärung her und wies auf deren Universalismus hin, der das „Andere“, das „Außen“ grundsätzlich abwerte. Dieses Außen seien historisch gesehen Frauen, Nicht-Weiße, Nicht-Christen etc. gewesen. Das Subjekt der „allgemeinen“ Menschenrechte sei also, so Kapur, ursprünglich der weiße Staatsbürger, diese historische Fundierung sei den Menschenrechten, wie sie heute diskutiert würden, immer noch eingeschrieben. Stattdessen forderte Kapur eine „Freiheit“ ein, die jenseits des westlichen Liberalismus entwickelt werden müsse.30 Mit Sicherheit ist das nicht die letzte Position in dieser Debatte über die Gültigkeit von europäischer Aufklärung und damit in Zusammenhang stehenden Menschenrechtskonzepten – ich meine aber, dass wir – und dieses „Wir“ sollte möglichst inklusiv sein – bereit sein müssen, grundlegend zu diskutieren, wollen wir auf dem Weg zu einer globalen Ordnung ein Stück weiterkommen. Die Geschlechterforschung kann dazu, das hoffe ich illustriert zu haben, einige Überlegungen, Ansätze und Konzepte beitragen.

28 Siehe beispielsweise Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton – Oxford 2000. 29 Pankay Mishra, Wir brauchen eine neue Aufklärung, in: Der Standard, Album, 20. 8. 2016, A1 f. 30 Vortrag Ratna Kapur am Juridicum der Universität Wien, 28. 6. 2016.

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Marianne Kneuer

Grenzen und Möglichkeiten einer Weltöffentlichkeit. Soziale Medien und Protestbewegungen I. Das Netz als begünstigender Faktor für die Bildung einer Weltgesellschaft? Bereits die Metapher des globalen Dorfes kondensierte die Erwartungen auf eine Weltgesellschaft, ermöglicht durch die technischen Möglichkeiten der damals aktuellen elektronischen Medien, v. a. Fernsehen. Für den kanadischen Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, der 1962 nicht nur die Metapher des globalen Dorfes schuf, sondern auch eine höchst bemerkenswerte Sicht auf die Medienentwicklung präsentierte, verband sich mit dem technologischen Potenzial eine erhebliche Wirkung auf die soziale Ordnung: Aus einem Zustand der durch die Schrift- und Zeitungskultur induzierten Individualisierung würden die Menschen durch das Fernsehen wieder eine kollektive Identität entwickeln. Die Welt werde wieder zum Dorf, in dem sich die Menschen auf dem Dorfplatz versammeln und sich gegenseitig hören und sehen könnten.1 Von dem Werk McLuhans, dessen anti-moderne und auch durchaus anti-liberale Haltung zu diskutieren wäre, blieb diese Metapher als verdichtetes Sinnbild für eine Welt, die – v. a. oder allein – durch Medientechnologie zusammenrückt. Mit dem Aufkommen des Internets und erster netzeuphorischer Interpretationen erlangte die McLuhans’sche Metapher denn auch eine Renaissance. Es waren nicht zuletzt Politiker, die das demokratiebereichernde Potenzial des Internets entdeckten; der Dorfplatz wurde erneut zum Bild für eine neue Phase in der Demokratie: eine elektronische agora als eine perfekte Informationsarena vollständig informierter Bürger, die direkt und ohne vermittelnde Instanzen partizipieren könnten, so der „European Information Society Forum Report“ von 1999. Zugleich freilich bot das World Wide Web erstmals die Perspektive einer global vernetzten Weltgesellschaft. Dabei variierten die Ansätze dazu sowohl in Bezug auf die Interpretation der Folgen (von Netzoptimismus über Netzrealismus bis Netzpessimismus) als auch in Bezug auf die Auslegung der (kausalen) Zusammenhänge, nämlich mehr oder weniger techno-deterministisch.2 Der Idee von Netzwerken ist das Merkmal der Transnationalität oder Globalität bereits inhärent. Der Netzwerktheoretiker Manuel Castells geht daher davon aus, dass das Internet den Kosmopolitismus stärkt, wobei er dies in seinem Werk The Rise of the Network Society 1 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, London 1962. 2 Marianne Kneuer, Das Internet: Stressfaktor oder Bereicherung für die Demokratie?, in: Dies. (Hrsg.), Das Internet: Stressfaktor oder Bereicherung für die Demokratie?, Baden-Baden 2013, 7–35.

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eher kritisch auf kulturell dominante gesellschaftliche Netzwerke bezieht und meint, das Internet könne die soziale Kohäsion einer kosmopolitischen Elite stützen.3 In seinem jüngsten Werk, das von den Empörungsbewegungen beeinflusst ist, betont er die Autonomie, die sich soziale Bewegungen durch das Internet schaffen – eben fern von jenen institutionalisierten Kommunikationswegen.4 Castells unterstreicht diesen Raum der Autonomie als Spezifikum der „networked social movements“5, als neue räumliche Form eines Hybrids von Cyberspace und städtischem Raum. Nicht nur die Netzwerktheorie schreibt dem Internet die Wirkung zu, dass es kosmopolitische Perspektiven stärkt und zur Verdichtung und Intensivierung des transnationalen Aktivismus beiträgt.6 Hier liegen – noch einen Schritt weitergedacht – die Voraussetzungen für die Ermöglichung einer transnationalen Öffentlichkeit und den Aufbau einer transnationalen Zivilgesellschaft: Eine weitgehend vernetzte Welt ist die Grundlage für den Aufbau einer globalen Zivilgesellschaft, in der eine transnationale Perspektive auf gesellschaftliche und kulturelle Probleme sowie Risiken entfaltet und nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird. So kann ein Gegengewicht zur gegenwärtigen Machtkonstellation geschaffen werden.7

Einen naheliegenden Untersuchungsgegenstand solch einer Herausbildung transnationaler Öffentlichkeit oder Zivilgesellschaft bilden die Empörungsbewegungen des Jahres 2011. Diese Empörungsbewegungen – damit sind zuvorderst die Acampadas in Südeuropa und die Occupy-Bewegung gemeint – schienen ein transnationales Phänomen zu sein und sich insofern von solchen Protesten zu unterscheiden, wie die deutschen (Stuttgart 21), türkischen (Gezi-Park) oder brasilianischen (Bau von Fußballstadien) Proteste, die ausgelöst wurden durch den Widerstand gegen lokale Infrastrukturmaßnahmen. Drei Aspekte mögen diesen Eindruck von Transnationalität unterstreichen: Zum einen der Hintergrund der Empörungsbewegungen in den europäischen und amerikanischen Demokratien, nämlich die globale Finanz- und Bankenkrise, die einen generellen Widerstand gegen das als Übel erkannte neoliberale Denken im Allgemeinen und gegen die Sparmaßnahmen der Regierungen als Reaktion auf die Verschuldungskrisen auslöste. Zum Zweiten ist das globale Diffundieren der Proteste und auch einzelner Elemente wie Symbole und Memes, das Protestelement des Zeltlagers und die asambleas zu nennen, in denen Demonstranten sich physisch vereinen und Basisdemokratie vor Ort praktizieren. Drittens schließlich verbindet sich mit dieser glo3 Manuel Castells, The Rise of the Network Society, Malden 2000, 393. 4 Manuel Castells, Networks of Outrage and Hope. Social Movements in the Internet Age, Cambridge 2012, 228–230. 5 Ebd., 222. 6 Rainer Winter, Widerstand im Netz? Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation, Bielefeld 2010, 34. 7 Winter, Widerstand im Netz, 27.

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balen Dimension der Empörungsbewegungen auch die Annahme, dass sich die Kommunikation transnational gestaltete. Da soziale Medien eine transnationale Vernetzung ermöglichen, lag die Vermutung nahe, dass auf diesem Wege auch transnational kommuniziert wurde oder gar transnationale Diskurse oder Deliberation entstanden. Wie global aber waren diese Proteste? Dieser Frage widmet sich dieser Artikel, wobei eine notwendige Differenzierung vorgenommen wird in: a) den Anlass (globale Bankenund Finanzkrise), b) die globale Diffusion bestimmter Protestelemente und Referenzen auf andere Proteste und c) die Entstehung (oder nicht) eines globalen Kommunikationsraumes im Sinne einer grenzüberschreitenden kommunikativen Auseinandersetzung. In Bezug auf die Untersuchung des letzten Punkts werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Globale Krisen – nationale Proteste – Empörungsbewegungen nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte und die Rolle des Internets“ einfließen, das von der Autorin und Saskia Richter unter Mitarbeit von Melanie Rudolph 2013–14 durchgeführt wurde.8

II. Transnationale Kommunikation Transnationale Politik bezeichnet klassischerweise „jene Prozesse zwischen nationalstaatlichen Regierungen und/oder zwischen transnationaler Gesellschaft und Regierung(en), deren Anstoß von Interaktionen in der transnationalen Gesellschaft gegeben werden“.9 Das heißt, transnationale Beziehungen beziehen sich auf grenzüberschreitende Interaktionen, bei denen mindestens ein Akteur nicht staatlich ist oder nicht für eine nationale Regierung oder eine intergouvernementale Organisation handelt.10 Voraussetzung für transnationale Politikprozesse ist somit, dass die transnationale Gesellschaft (oder Teile einer solchen) miteinander in Verbindung steht, kommuniziert und interagiert und Anstöße in das nationalstaatliche System hineingibt. Dies kann Veränderungen in der nationalen Gesellschaft zur Folge haben, genauso aber auch den Entscheidungskontext der Regierung beeinflussen, wenn es sich um Fragen handelt mit einer entsprechenden politischen oder sozialen Relevanz, und schließlich die Regierung möglicherweise sogar zum Handeln zwingen.   8 Teile des Papiers und die hier dargestellten Ergebnisse gehen zurück auf Marianne Kneuer/Saskia Richter, Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Frankfurt/Main 2015. Siehe auch: Marianne Kneuer/Saskia Richter, Global Crisis – National Protests. How Transnational was the Online Communication of the Occupy and Acampada Indignation Movements, in: Oscar G. Luengo (Hrsg.), Global Communication in Times of Crisis, Berlin 2016, 193–209; sowie: Marianne Kneuer/Saskia Richter, Empörungsbewegungen: Der Einfluss von Web 2.0-Medien auf die Protestbewegungen seit 2011, in: Lars Rademacher/Nadine Remus (Hrsg.), NGO-Handbuch für Kommunikation, Wiesbaden i. E.   9 Karl Kaiser, Transnationale Politik. Zu einer Theorie der multinationalen Politik, in: Politische Vierteljahresschrift 10 (1969), 80–109, hier 95. 10 Thomas Risse-Kappen, Bringing Transnational Relations Back, in: Ders. (Hrsg.), Non-State Actors, Domestic Structures and International Institutions, Cambridge 1999, 3–37, hier 3.

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Anders als mit dem Begriff „international“, der die Beziehungen zwischen Staaten als Akteuren mit völkerrechtlicher Souveränität meint, kann man mit „transnational“ jene Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen fassen, „die über Grenzen hinweg agieren und dabei gewisse über den Nationalstaat hinausgehende Strukturmuster ausbilden“.11 Damit sind staatliche Akteure weitgehend ausgeschlossen, zumindest in der Form von ausschließlicher Kommunikation von staatlichen Akteuren untereinander. Transnationalen Kommunikationsprozessen wird im Zusammenhang einerseits der Globalisierung und andererseits der Emergenz des Internets eine erhebliche Bedeutung zugemessen. Die globale Finanz- und Verschuldungskrise stellt daher einen geeigneten Untersuchungsgegenstand dar, denn einerseits hatte sie das Entstehen von Empörung getragener Bewegungen ausgelöst, die ihre massive Kritik und Unzufriedenheit sowohl über die als ungerecht empfundenen politischen und wirtschaftlichen Zustände als auch über die Spaßmaßnahmen der Regierungen zum Ausdruck brachten. Wenn also der Auslöser der Bewegungen auf der globalen Ebene zu verorten ist, dann könnte dies darauf hindeuten, dass sich eine globale Bewegung formierte mit den drei Merkmalen, die Alain Touraine klassischerweise für soziale Bewegungen definiert: einem gemeinsamen Ziel, einer gemeinsamen Identität und einem gemeinsamen Feind.12 Andererseits nutzten die Empörten intensiv soziale Medien – v. a. Facebook und Twitter – , was zu der Vermutung führte, dass auf diese Weise mehr denn je globale Verbreitung, Kommunikation und Interaktion stattfanden – Stichwort: vernetzter Aktivismus („connective action“13) – und so ein transnationaler Kommunikationskontext entstand. Der Gedanke ist einfach: Wenn Empörungsbewegungen transnationale Medien zur Verfügung haben, so müsste dies die transnationale Vernetzung verstärken. Das legt den Schluss nahe, es handelte sich um eine transnationale Bewegung mit einem transnationalen Kommunikationsraum. Eine transnationale Bewegung, so die hier vertretene Prämisse, bedarf mehr als nur der Nutzung der technischen Möglichkeit von transnationalen Netzwerkverbindungen. Wenn die Reaktion auf den Auslöser der Empörungsbewegung von 2011, nämlich der globalen Finanz- und Verschuldungskrise, tatsächlich die Formierung einer globalen Protestbewegung war, dann müssten folgerichtig die Inhalte der Online-Kommunikation entsprechend geprägt gewesen sein; erkennbar etwa an der Dominanz globaler Gegenstände (globale Probleme wie das kapitalistische Wirtschaftssystem, das globale Finanzsystem etc.) und der Adressierung globaler Akteure (Weltbank, IWF, UN, multinationale Banken etc.). Von einer transnationalen Debatte muss erwartet werden, dass ihre Akteure, selbst wenn sie sich auch an die nationalen Akteure wenden, zugleich zwingend internationale, globale 11 Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main – New York 2002, 9. 12 Alain Touraine, Sociologie de l’action, Paris 1965. 13 Lance W. Bennett/Alexandra Segerberg, The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics, in: Information, Communication & Society 15 (2012), 5, 739–768.

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oder supranationale Akteure bzw. Institutionen adressieren. Es müsste ein Wandel von bisher national geprägten Diskussionsforen zu tatsächlich vernetzten transnationalen erkennbar sein.14 Dieser Wandel dürfte dann gleichwohl nicht nur die rein technische Vernetzung beinhalten, sondern müsste sich als transnationales Diskussionsforum über transnationale Agenden austauschen und transnationale Gegenstände thematisieren. José van Dijck hat die sinnvolle Differenzierung in „(human) connectedness“ und „(automated) connectivity“ vorgenommen, dessen unterschiedlicher Bedeutungsgehalt sich im Deutschen nur schwer ähnlich sinnvoll wiedergeben lässt.15 Van Dijck, die sich sehr kritisch mit der „Kultur der Konnektivität“ auseinandersetzt und die kommerzielle Seite von Facebook (z. B. das Abschöpfen von Nutzerdaten oder das Mapping vom Verbraucherverhalten der Nutzer) detailliert entblättert, sieht in den sozialen Medien zunächst nur die Konnektivität. Hier wird, wenn ich mich auf diesen Unterschied beziehe, von (menschlicher) Netzverbindung und (automatisierter) Netzverknüpfung oder Konnektivität gesprochen. Übertragen auf die Frage nach der Transnationalisierung geht es um die Differenz zwischen der rein technischen Konnektivität, die zweifellos potenziell transnational ist, und der über das technische Moment hinausgehenden transnationalen Verbindung (im Sinne von connectedness) kommunikativer Interaktion, etwa in Diskurskontexten oder auch deliberativen Prozessen. Diese Differenz scheint auch deshalb sinnvoll, weil nur so zwischen der theoretisch angenommenen, technischen Ermöglichung transnationaler Netzwerkbildung einerseits und der tatsächlichen kommunikativen und interaktiven Wertigkeit der Netzwerkverbindung andererseits unterschieden werden kann, die sich etwa an der Nutzungsintensität und Nutzungsreichweite, den Nutzungsformen und Nutzungszielen ablesen lässt. So kann sich trotz potenziell globaler Vernetzung in einem begrenzten Raum die Netzkommunikation aggregieren, weil die Posts von bestimmten Motiven angeleitet sind, bestimmte inhaltliche Ziele angestrebt oder bestimmte Adressaten angesprochen werden, ohne dass dies transnationale Interaktionen hervorruft. Das heißt: Die Möglichkeitsstruktur einer transnationalen Kommunikation in Form von sozialen Medien führt nicht automatisch zu tatsächlich transnationalen Debatten und Diskursen. Daher bleibt es zu untersuchen, wann und auf welchem Hintergrund und mit welchen Inhalten solche Debatten entstehen.

III. Die Transnationalität der Empörungsbewegungen Bevor auf die Untersuchung der Online-Kommunikation eingegangen wird, wird ein Blick auf die transnationale Ausprägung der Empörungsbewegungen geworfen. Guigni schlägt sechs Aspekte vor, mit denen die Transnationalität sozialer Bewegungen geprüft werden kann: 1) Probleme, Themen und Ziele, 2) das rein quantitative Mobilisierungslevel (Anzahl 14 Hartmut Wessler/Michael Brüggemann, Transnationale Kommunikation. Eine Einführung, Wiesbaden 2012, 70. 15 José van Dijck, History of Social Media, Oxford 2013, 12.

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der Proteste, Anzahl der Demonstranten), 3) Strategien, Taktiken und Aktionsformen, 4) Organisationsstrukturen, 5) kulturelle Rahmen („frames“), Ideen und Diskurse, sowie 6) die zeitliche Steuerung des Protestes16. Übertragen auf die Empörungsbewegung von 2011 ergibt sich: 1. Probleme, Themen und Ziele von Acampada und Occupy gleichen sich, auch wenn die Hintergründe innerhalb der Länder jeweils sehr unterschiedlich sind. Die gesellschaftlichen Probleme Südeuropas waren gravierender als die Probleme Großbritanniens oder Deutschlands. Zweifelsohne war der Anlass der Proteste transnational, nämlich die globale Finanzkrise. Auch die generelle Kritik an Banken, Bankenmanagern, dem Bankensystem kann man als global betrachten. Andererseits adressierten die nationalen Occupy-Gruppen sowie auch die Protestierenden in Südeuropa sehr spezifisch ihre eigenen Regierungen und deren Umgang mit der Krise und weniger bzw. kaum globale Akteure wie den IWF, internationale Banken etc. In den iberischen Ländern beziehen sich die Empörten hauptsächlich auf nationale Probleme und adressieren innenpolitische Defizite, artikulieren sehr konkrete Änderungsvorschläge in Bezug auf Elemente der nationalen politischen Systeme. 2. Das Mobilisierungsniveau spricht nicht für eine transnationale Mobilisierung: Sowohl in Portugal und Spanien als auch in den USA, Großbritannien und Deutschland gingen v. a. die eigenen Landsleute auf die Straße. Eine Ausnahme bildete der globale Protesttag am 15. Oktober 2011, eine Aktion, die an etlichen Orten, weltweit und synchron durchgeführt wurde. 3. Strategien, Taktiken und Aktionsformen dagegen wurden durchaus grenzübergreifend verbreitet. Dies gilt insbesondere für das Aktionsrepertoire der Empörungsbewegungen. Hier konnte man eine transnationale Diffusion von Protestelementen beobachten. Neben dem zentralen Element der Besetzung durch Zeltlager (siehe auch 4) galt das v. a. für Memes (We are the 99 %) oder Symbole wie die Guy-Fawks-Maske. In Bezug auf die Verbreitung von Aktionsrepertoire macht der vergleichende Blick deutlich, dass insbesondere englischsprachige Memes transnational diffundierten, während spanische oder portugiesische in ihren Sprachkreisen verblieben. Das zeigt, dass auch angesichts transnationaler Konnektivität die tatsächliche inhaltliche Verknüpfung innerhalb der Protestbewegungen auf eine gemeinsame sprachliche Verständigung angewiesen ist. Oder anders gesagt: Für eine transnationale Diffusion sind eher visuell erfassbare Memes oder Symbole geeignet oder visualisierbare Phänomene wie Zeltlager. Inhaltlich orientierte Abstimmungen bedürfen einer lingua franca wie Englisch, die aber dennoch mit dem

16 Marco G. Giugni, Explaining Cross-national Similarities among Social Movements, in: Jackie Smith/Hank Johnston (Hrsg.), Globalization and Resistance. Transnational Dimensions of Social Movements, Lanham 2002, 13–29, hier 27.

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nicht zu unterschätzenden digital divide behaftet ist, denn selbst in Europa bestehen hier Klüfte in Bezug auf Bildungsstand und Land-Stadt-Bias. 4. Es diffundierten Symbolen und Memes auch neben Aktionsformen und Organisationsstrukturen wie die Zeltlager und die direktdemokratischen Versammlungen, die beide zu zentralen Merkmalen der Empörungsbewegungen wurden. Diese beiden Elemente wurden von den spanischen Empörten initiiert und dann zunächst in Europa teils aufgenommen, bevor Occupy sie emulierte. Mit der Besetzung des Zuccotti-Platzes in New York aber erst erfuhren diese Elemente der spanischen 15. Mai-Bewegung letztlich eine weltweite Nachahmung. 5. Die kulturellen Rahmen und „frames“ sind bei den Empörungsbewegungen maßgeblich von der Deutung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Demokratiedefizite bestimmt, beides drückt sich z. B. in den Slogans „We are the 99 %“ oder „Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern“ aus. Die Slogans verbreiteten sich weltweit und kondensierten die von den Demonstranten empfundene Ungleichheit im Verhältnis von ökonomischen und politischen Eliten und Entscheidungsträgern gegenüber dem Volk.43 Wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Demokratiedefizit bargen einen ausreichend großen Rahmen, um dort unterschiedliche, wiederum national unterlegte Forderungen zu formulieren oder diese frames in die nationalen Kontexte einzupassen oder ganz allgemein als Ruf nach mehr Gerechtigkeit und mehr Demokratie zu erheben. 6. Zwar ist die zeitliche Steuerung von Protestaktionen über soziale Medien einfacher geworden, dennoch gab es bei Acampada und in der Occupy-Bewegung nur wenige solcher, zentral organisierter Events, wie etwa der 15. Oktober 2011. Darüber hinaus funktionierten die lokalen Organisationsstrukturen und die lokalen oder nationalen Protestaktionen getrennt voneinander: So wurde in Frankfurt am Main das Camp im Sommer 2012 geräumt; in Hamburg bestand das Occupy-Camp bis Frühjahr 2014 und somit über zwei Jahre.17 Die Schlussfolgerungen bezüglich der Transnationalität sind also ambivalent. Die Themen und Ziele, das Mobilisierungsniveau und auch die kulturelle Einbettung der Diskurse in frames weist überwiegend nationale Bezugskontexte auf. Zweifelsohne stellt die Finanzund Verschuldungskrise als globales Ereignis die Hintergrundfolie dar; und es war der Widerstand auf dem Tahir-Platz, der den Auslöser für die iberischen Bewegungen darstellte, womit zunächst eine regionale Wirkung festgestellt werden kann. Interessant ist, dass die innovativen Elemente der spanischen Empörten (Zeltlager, asambleas) in Nordamerika aufgenommen wurden, von Occupy Wall Street emuliert wurden und von dort aus dann – sozusagen in einer zweiten Stufe – global diffundierten. Das heißt, eine globale Wirkung entfalteten die spanischen Elemente erst über die Station Occupy Wall Street. In Bezug auf die 17 Spiegel-Online, Protestbewegung Occupy-Camp in Hamburg aufgelöst, http://www.spiegel.de/wirtschaft/ occupy-camp-in-hamburg-aufgeloest-a-941991.html (abgerufen 14. 1. 2015).

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Transnationalität ist weiterhin zu unterscheiden zwischen einerseits solchen Elementen, die global diffundierten (Zeltlager, asambleas), zugleich aber auch in ihren nationalen Kontext eingepasst wurden, und andererseits Symbolen und Memes, die tatsächlich global perzipiert und genutzt wurden (der Aufruf, sich zu empören: Time for outrage!, get involved! ebenso wie „We are the 99 %“).

IV. Die Online-Kommunikation der Empörungsbewegungen Der Fokus der empirischen Untersuchung lag nicht darauf zu untersuchen, von welchen verschiedenen „Standorten“ Posts und Kommentare eingestellt wurden, um eine netzwerkartige Übersicht der Kommunikation zu erstellen. Vielmehr ging es darum, die inhaltliche Ebene in den Blick zu nehmen. Die Frage war daher, erstens, ob die in den Empörungsbewegungen kommunizierten Inhalte transnationale Bezüge herstellten. Thematisierten sie also nationale oder transnationale Probleme, adressierten sie nationale Politiker oder internationale Akteure und Organisationen wie IWF, Banken etc., wurden nationale Kritik und Lösungen formuliert oder transnationale Programme und Vorschläge erarbeitet? Und zweitens wurde untersucht, inwieweit die Interaktionen, die auf Posts entstanden (liking/sharing/commenting bei Facebook und favoriting/retweeting und answering bei Twitter) eher auf nationale oder transnationale Posts reagierten. Untersucht wurden die Facebook- und Twitter-Seiten von fünf Empörungsbewegungen (siehe Tab. 1) zu jeweils drei Zeitpunkten in den Jahren 2011 und 2012. Insgesamt ergab die Datensammlung 595 Facebook- und 469 Twitter-Posts, die in einer Online-Inhaltsanalyse untersucht wurden.18 Tab. 1 Facebook- und Twitter-Seiten der ausgewählten Fallbeispiele FdG

DRY

OWS

OL

OF

Facebook

Fórum das ­ erações G

¡Democracia Real Ya!

Occupy Wall Street

Occupy London

Occupy Frank furt

Twitter

@movimento 12m

@democracia real

@OccupyWallSt

@Occupy London1

@OccupyFrank furt

Zur Methode detailliert: Marianne Kneuer/Saskia Richter, Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Frankfurt/Main 2015, 122. 1 In Teilen überschneiden sich die Beiträge dieses Profils mit @OccupyLSX.

18 Zur Methode detailliert: Marianne Kneuer/Saskia Richter, Soziale Medien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Frankfurt/Main 2015, 120–126.

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1. Die Bezugsebene der Posts: transnational oder national Das Ergebnis der Online-Kommunikation ist in seiner Eindeutigkeit überraschend (siehe Abb. 1 und 2): Sowohl auf Facebook als auch bei Twitter waren in beiden Ländern die inhaltlichen Bezugsebenen in 2011 und 2012 überwiegend national. Zählt man alle gesammelten Posts (also auch für beide Jahre) zusammen, so handelt es sich um 55 % Posts mit nationalem Bezug bei Facebook und 59 % bei Twitter. Auf die fünf Bewegungen heruntergebrochen ergibt sich, dass in drei Fällen die Bezüge der Facebook-Kommunikation mit großem Abstand national waren, nämlich bei FdG, DRY und anders als vermutet sogar OWS, während OL und OF ein Übergewicht transnationaler Bezüge auf sich vereinen, derweil mit kleinerem Abstand. Bei Twitter ist es nur OF, das eine – leichte – Dominanz transnationaler Bezüge aufweist, ansonsten weisen alle Fälle ein eindeutiges Übergewicht nationaler Inhalte auf. Um eine mögliche Erklärung für diese Unterschiede zu finden, wurde die Kontrollvariable Beitragsform geprüft. Also: Wies eine bestimmte Beitragsform eventuell stärker nationale oder transnationale Bezüge auf, insbesondere bei den beiden Ausnahmen OL und OF? Hier konnte tatsächlich ein Zusammenhang identifiziert werden, nämlich bei solchen Beiträgen mit der Kombination Text und Link. Bei den Facebook-Posts von OL und OF waren hier doppelt so viele transnationale Bezüge vorhanden, während sich dies bei den anderen Fällen diametral entgegengesetzt darstellte (bei DRY gab es bei dieser Kombination sechsmal und bei FdG viermal so viele nationale Bezüge), weniger stark war die Ausprägung bei OWS. Des Weiteren beinhalteten auch die Kombinationen Text/Video/Link, Video/Link und nur Link im Falle von OL mehr transnationale Bezüge. In Bezug auf Twitter, wo nur OF einen Outliner markierte, hatte v. a. die Kombination Text und Bild eine deutlich höhere (fünfmal) transnationale Ausrichtung. Sofern in Beiträgen also eine transnationale Adressierung erfolgte, nutzten die Aktivisten, wie zu erwarten, vermehrt die hypertextuellen und multimodalen Strukturen der Online-Kommunikation, um sich so auch rein technisch mit anderen Bewegungen und Ländern zu verbinden. Festzuhalten ist somit, dass insbesondere visuelle Eindrücke von Ereignissen aus anderen Ländern (Proteste, Aktionen u.ä.) verlinkt worden sind. Die angenommene stärker transnationale Ausrichtung der inhaltlichen Bezüge von OWS lässt sich anhand der soeben aufgeführten Daten nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil befindet sich OWS eben in jener Gruppe, in der sowohl auf Facebook als auch auf Twitter überwiegend national kommuniziert wurde. Innerhalb dieser Gruppe stellt auf Facebook DRY den Spitzenreiter bei der nationalen Ausrichtung dar, bei Twitter wird DRY von OWS sogar übertroffen. Dieses Ergebnis ist deswegen bemerkenswert, weil OWS als Keimzelle und der Motor für die Diffusion des „Modells“ Occupy im Vergleich zu den Schwesterbewegungen in Deutschland und Großbritannien, hier in London und Frankfurt am Main, am wenigsten transnationale Bezüge aufweist, nur wenig mehr als die iberischen Fälle. In der Literatur

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Marianne Kneuer

Abb. 1: Bezugsebene der Online-Kommunikation auf Facebook; Kneuer/Richter, Soziale Medien, 159.

wurde jedoch größtenteils pauschal davon ausgegangen, dass sich OWS über soziale Medien transnational verbreitet haben musste. Betrachtet man nun die Entwicklung von 2011 zu 2012, ist das Bild hinsichtlich der Adressierung uneinheitlich. Auf manchen Plattformen nahmen transnationale Bezüge zu. Dies gilt für DRY und OWS sowohl bei Facebook als auch bei Twitter (hier auch M12M). Bei den spanischen Empörten lässt sich das allerdings eher erklären als bei den New Yorkern: In Spanien war der Protest im ersten Jahr stärker auf den nationalen Kontext ausgerichtet, wohingegen er 2012 den Blick weitete. Dies liegt u. a. auch an der starken internationalen Aufmerksamkeit, die die Bewegung – auch unter dem Etikett „Spanish Revolution“ – erlangt hatte,19 was auch dazu führte, dass – v. a. europäische Länder – Plattformen nach dem Vorbild von DRY bildeten20. Für OWS bleibt der starke nationale Bezug in 2011 erstaunlich. Bei OL, OF und FdG nahmen die transnationalen Bezüge auf Facebook 2012 ab, bei Twitter 19 Dies berichteten auch deutsche Aktivisten auf der Abschlussveranstaltung unseres Projektes im November 2014 in Berlin. 20 Um nur einige zu nennen: Deutschland: Echte Demokratie Jetzt! (http://www.echte-demokratie-jetzt.de/); Großbritannien: Real democracy now (https://www.facebook.com/realdemocracynow/; @realdemocracyuk); Frankreich: Démocratie Réelle Maintenant (www.facebook.com/LesIndignesParisReelleDemocratieMaintenant); Israel: Real Democracy NOW Israel (www.facebook.com/pages/‫היטרקומד‬-‫תיתימא‬-‫וישכע‬-RealDemocracy-NOW-Israel/159675967440208?fref=nf. Für alle Seiten gilt: abgerufen 15. 2. 2015).

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Abb. 2: Bezugsebene der Online-Kommunikation auf Twitter; Kneuer/Richter, Soziale Medien, 160.

gilt dies nur für OL. Auch dies hat eine naheliegende Erklärung: Nachdem die Kommunikation insbesondere bei OL und OF 2011 bereits ein hohes Niveau an transnationalen Bezügen aufgewiesen hatte, reduzierte sich dies im Folgejahr, als sich auch insgesamt das Protestniveau senkte. Dennoch zeigt sich insbesondere in Bezug auf die Twitter-Kommunikation, dass die meisten Beiträge nationale Inhalte thematisierten. Zusammenfassend kann man sagen: Die Ergebnisse belegen eindeutig eine Dominanz nationaler Bezüge in der Kommunikation der Empörungsbewegungen, sowohl bei Facebook als auch bei Twitter. Zugleich heben sich die iberischen Fälle hinsichtlich der FacebookKommunikation von den anderen Fällen ab, da sie den höchsten Anteil nationaler Bezüge aufweisen. Dies entspricht der evidenzbasierten Sicht auf den Entstehungshintergrund, die thematische Ausrichtung und Zielrichtung der beiden Bewegungen und stützt deren stark nationale Bezugskontexte. Interessanterweise bilden die drei Occupy-Fälle keine ähnlich homogene Gruppe, denn OWS fällt hier heraus und befindet sich insgesamt somit in einer Mittelposition. In Bezug auf Twitter ergeben alle Fälle (bis auf Frankfurt) ein ähnliches Bild. Soziale Medien können also durchaus zu einer Zunahme an international ausgerichteten Beiträgen geführt haben, dennoch überwogen nationale Bezüge innerhalb der jeweiligen Länder. Vor allem die iberischen und ebenso die New Yorker Empörten spiegeln dieses Ergebnis wider. Bei OL und OF, deren Kommunikation ganz offensichtlich stärker transnati-

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onal ausgerichtet war, deutet die Korrelation mit den Beitragsformen darauf hin, dass sich die Posts durch ihre visuellen Elemente in erheblichem Maße auf transnationale Ereignisse bezogen. Die überwiegend national geprägte Netzkommunikation von OWS erfordert bereits jetzt eine Differenzierung hinsichtlich des Eindrucks der Transnationalität: Einerseits wurde den New Yorker Empörten weltweit Aufmerksamkeit zuteil, ihre Protestform wurde in etlichen Fällen kopiert, und insbesondere zwei Demonstrationen Ende September 2011 und Anfang Oktober 2011, die zu Polizeieinsätzen geführt hatten, lösten eine massenmediale Berichterstattung zunächst in den USA und darüber hinaus international aus. Diese Berichterstattung war ein Auslöser für die Vorbereitung des weltweiten Protesttages am 15. Oktober. Gleichwohl blieb die inhaltliche Kommunikation der Aktivisten national ausgerichtet. Das deutet darauf hin, dass die transnationale Diffusion weniger auf einem Push-Effekt von den Gründungsakteuren in New York beruhte, sondern dass es eher einen Pull-Effekt aus potentiellen Protestzentren in Westeuropa gab. Ähnlich muss auch das Verhältnis von OWS gegenüber Acampada gewesen sein. Die Verschiebung von Push- zu Pull-Effekten ist deswegen so bemerkenswert, weil hier ein ganz maßgebliches Potenzial von sozialen Medien in den Empörungsbewegungen zum Tragen kommt, nämlich, dass die Nutzer selber entscheiden können, welche Inhalte sie rezipieren und welche Beiträge sie dann wiederum auch weiterverbreiten. Offensichtlich bekamen nur solche Inhalte Aufmerksamkeit, die für die Aktivisten besonders eingänglich oder anschlussfähig an jeweils nationale Problemlagen waren. 2. Auf welche Inhalte wurde reagiert: auf nationale oder transnationale? Grundsätzlich bestätigt sich der klare Trend, dass die Interaktionen überwiegend nationale Bezüge aufweisen. Die einzige Ausnahme bildet hier der wiederholt aufgetauchte Fall von OL auf Facebook, wobei sich auch diese, sich von den anderen Fällen abhebende transnationale Ausrichtung, in das Bild der bisherigen Ergebnisse zu OL fügt. Die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Interaktionsformen entspricht der weiter oben beschriebenen Logik. Bei Facebook wurde auf Beiträge, die nationale Inhalte thematisierten, insbesondere mit dem Liking, bei Twitter mit dem Retweeting reagiert. Die Anzahl von Posts mit transnationalen Bezügen, die kommentiert wurden, war sowohl bei Facebook als auch bei Twitter marginal. In Bezug auf das Teilen bei Facebook war wiederum OL eine Ausnahme, da insbesondere diejenigen Beiträge geteilt wurden, die einen transnationalen Bezug hatten. Es gibt nur einen Fall, nämlich OL auf Facebook, bei dem Reaktionen auf transnationale Inhalte überwogen. Dies entspricht der bereits mehrfach festgestellten stärker transnationalen Ausrichtung der Kommunikation in der Londoner Gruppe. Ein Beispiel soll dies besonders verdeutlichen: Der Post, der auf der Facebook-Seite überhaupt die meisten Reaktionen hervorrief, darunter die meisten Likes und Comments und die zweitmeisten Shares, ist das sehr bekannte Foto der Luftaufnahme von der dicht gedrängten Menschenansammlung auf der Puerta del Sol am 15. Oktober 2011. Das heißt, in London blickte und reagierte man sehr stark auf die anderen Bewegungen außerhalb des Landes.

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Insgesamt bestätigt dieser Befund nicht nur, dass auch die Interaktionen vorwiegend national adressiert wurden, sondern dass eben genau diese nationalen Beiträge sogar besser bei den Followern ankamen. Somit wurden nationale Nachrichten eher im Netzwerk verbreitet als transnationale Beiträge. Die Folgekommunikation stützt daher nicht nur das bereits festgestellte Ergebnis einer überwiegend nationalen Kommunikation auf den Seiten der Empörungsbewegungen. Dieses durch die Interaktionen komplettierte Bild ist ein klares Indiz dafür, dass die Kommunikation sowohl von der „Senderseite“ als auch von der „Empfängerseite“ eher national orientiert war.

V. Conclusio Der Ausgangspunkt dieses Artikels waren die Fragen, ob die global auftauchenden Empörungsbewegungen, die auf Grund eines letztlich globalen Anlasses – der Banken- und Finanzkrise – ausgelöst wurden, eine transnationale Bewegung darstellten und ob durch die intensive Nutzung sozialer Medien ein transnationaler Kommunikationsraum entstanden ist. Beides wäre ein Indiz für einen Schritt hin zu einer globalen Zivilgesellschaft – sicher noch nicht zu einer Weltgesellschaft. Die Betrachtung der fünf Empörungsbewegungen ergab ein ambivalentes Bild: Etliche Merkmale für Transnationalität trafen nicht zu. Nur bei drei von sechs Kriterien war eine transnationale Komponente erkennbar: Strategien, Taktiken und Aktionsformen; Organisationsstrukturen, „frames“. Der plausibelste Erklärungsfaktor für diese Ähnlichkeiten ist Diffusion. So lassen sich verschiedene Diffusionseffekte nachzeichnen: Zum einen der Widerstand auf dem Tahir-Platz während des arabischen Frühlings, auf den sich v. a. die portugiesischen und spanischen und auch die New Yorker Empörten bezogen. Zum zweiten das Versammeln auf zentralen Plätzen, mit dem in Portugal und Spanien ebenfalls die Ereignisse auf dem Tahir imitiert wurden. Drittens generierte die spanische Empörungsbewegung mit der Acampada ein neues Protestelement, das wiederum von Occupy New York übernommen wurde. Von dort aus strahlte die Protestidee der Besetzung – Occupy – weltweit aus. Hier finden wir somit eine zweistufige Diffusion vor: von Madrid nach New York, von dort aus mit globaler Wirkung. Auch die meisten Symbole und Memes diffundierten von New York aus. Jenseits dieser Diffusionseffekte müssen die Empörungsbewegungen jeweils als nationale Phänomene betrachtet werden. Zwar bildete die Unzufriedenheit mit der politischen und wirtschaftlichen Situation ein globales Gefühl, die Hintergründe, auch das Ausmaß der nationalen Problemlagen und schließlich die konkreten Ansatzpunkte für die Kritik der Bewegungen unterschieden sich gleichwohl signifikant. So hatte sich die Finanzkrise massiv auf die staatlichen Haushalte der südeuropäischen Länder ausgewirkt; Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot waren einige Probleme, die in der Bewegung diskutiert wurden. Dagegen war die Situation bei aller Verschärfung durch die Bankenkrise in den USA nicht annähernd so

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prekär; noch weniger in Deutschland und Großbritannien. Insofern zeigt sich an den Empörungsbewegungen auch, dass die nationalen Strukturen – das politische System und die von den Bewegungen erkannten Defizite, der Wunsch nach Veränderung des Parteiensystems etc. − einen starken Einfluss ausübten. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen diese nationale Ausrichtung der einzelnen Empörungsbewegungen. Die Online-Kommunikation war überwiegend national geprägt, und zwar unabhängig von den Inhalten. Auch die durchaus erkennbaren Unterschiede in der Ausprägung der Online-Kommunikation zwischen den einzelnen Bewegungen widerlegen, dass es sich um einen Kommunikationsraum handelte. So stachen immer wieder die Ähnlichkeiten zwischen DRY und OWS hervor, insbesondere bei der Intensität der Kommunikation, aber auch etwa in Bezug auf die Verstärkung diskursiver Inhalte in 2012. Dahingegen unterschieden sich die Occupy-Bewegungen (hier OWS, da OL und OF) untereinander deutlich stärker. Kurzum: Die Empörungsbewegungen von 2011 und 2012 müssen als nationale Protestphänomene vor dem Hintergrund einer globalen Krise verstanden werden. Für die Etikettierung einer globalen Bewegung fehlten ebenso die gemeinsamen Ziele wie die gemeinsame Identität und schließlich der gemeinsame transnationale Kommunikationsraum. Was man dagegen eher annehmen kann, ist eine grundsätzlich wachsende Diffusion von Elementen wie Symbolen, symbolträchtigen Bildern etc. Es lassen sich einige Bedingungen vermuten, wann solche Elemente „reisen“ können. So müssen sie eine internationale „Sprache sprechen“, d. h. visuell sofort zu erfassen sein oder in der lingua franca Englisch verfasst sein; Botschaften müssen so weit wie möglich aus dem nationalen Kontext abgelöst sein; und schließlich ist anzunehmen, dass Kommunikationselemente dann besonders gut reisen können, wenn sie ein gemeinsames Gefühl ansprechen oder thematisieren. Ganz offensichtlich ist das rein technische Potenzial von globaler Vernetzung und Konnektivität nicht äquivalent mit der Herausbildung eines Raumes transnationaler Kommunikation mit inhaltlicher Wertigkeit. Dieses Resultat dämpft die Erwartungen an die Entstehung eines globalen Dorfes und damit die Erwartungen an das Potenzial von digitalen Medien, eine Weltgesellschaft zu formen. So wie auf nationaler Ebene die Digitalisierung eher zu einer dezentralen Kommunikation und infolgedessen zu einer Fragmentierung oder Parzellierung von Öffentlichkeit führt, mag es daher eher für die globale Ebene angebracht sein zu fragen, inwieweit sprachliche und somit regionale oder kulturelle Kontextfaktoren ebenso wie nationale Strukturen und Akteurskonstellationen die Herausbildung von Kommunikationsräumen beeinflussen. Dies relativiert aktuelle techno-deterministische Ansätze ebenso wie McLuhans Vision vom globalen Dorf.

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Question about the Universalization of Human Rights – Perspectives of a World Society in the 21st Century? I. Introduction This article intends to provoke thought by critically addressing the tension between the forces: populism, nationalism, sectarianism, and a world society’s perspective of universal human rights in the 21st century today. Within a meta-theoretical English School1 of international relations and critical security study,2 different countries’ foreign policy is scrutinized 1 Barry Buzan, The English School: an Underexploited Resource in IR, in: Review of International Studies Vol. 27 (2001) Issue 3, 474. The English School of International Relations (IR), also called a community of states approach, attempts to find an answer as to how to incorporate the conflictual nature of the international system expressed by IR theories of realism and liberalism with a co-operative aspect of international relations as exemplified by the principles of universal human rights? Taking into consideration, how the world operates, three distinct spheres in international politics are operating simultaneously: the international system; other, international society; and third, world society. Barry Buzan provides an explanation for each sphere: 1. International System (Hobbes/Machiavelli) is about power politics amongst states, and Realism puts the structure and process of international anarchy at the center of IR theory. This position is broadly parallel to mainstream realism and structural realism and is thus well developed and clearly understood; 2. International Society (Grotius) is about the institutionalization of shared interest and identity amongst states, and Rationalism puts the creation and maintenance of shared norms, rules, and institutions at the center of IR theory; 3. World society (Kant) takes individuals, non-state organizations and ultimately the global population as a whole as the focus of global societal identities and arrangements, and Revolutionism puts transcendence of the state system at the center of IR theory. Revolutionism is mostly about forms of Universalist cosmopolitanism. This position has some parallels to transnationalism but carries a much more foundational link to normative political theory. It is the least well-developed of the English School concepts and has not yet been explicitly or systematically articulated until now. 2 See, B. Buzan/O. Waever/J. de Wilde, Security: A New Framework for Analysis, Boulder, 1998; Keith Krause/ Michael Williams, Broadening the Agenda of Security Studies: Politics and Methods, Mershon International Studies Review, Vol. 40 (1996), Issue 2, 229–254; Keith Krause/M. Williams, Critical Security Studies: Concepts and Cases, London, 1997; Barry Buzan, People, States and Fear: the National Security Problem in International Relations, Brighton/Sussex 1983; Ken Booth, Beyond Critical Security Studies, in: Ken Booth (ed.), Critical Security Studies and World Politics, Boulder/Colorado, 2005, 268. Traditional security approaches towards threat are confined to centrally government controlled military threats. These methodologies have expanded to include threats that challenge economic and environmental security and questions. In depth security studies have pursued greater understanding of the values within which security is embedded. Some critical approaches – such as the collection produced by Krause and Williams, Critical Security Studies – are deconstructionist, in a tentative sense of unpacking and problematizing prevailing understandings of security. They identify the limitations and contradictions of orthodox security studies and international relations theory

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as each state seeks to reconcile conflicting national aims, religious lifestyles, or ideas of world order. Having entered an age of acceleration, the traditional linear model of change is outdated. Ray Kurzweil, director of engineering at Google, writes, “[…] models underlying society at every level, which are largely based on a linear model of change are going to have to be redefined. Because […] the twenty-first century will be equivalent to 20,000 years of progress at today’s rate of growth […].”3 Although not a universal reality, technological advancements in instantaneous global communication (i.e. the Internet, social media, Twitter, the iPhone) and financial networks operating in real time have accelerated economic globalization. The impression is that European and American idealism about free markets and unregulated competition are lifting many people out of poverty in the world. Countries are inspired by the thought of less economic dependency and greater commercial opportunities only to realize that by joining the trading state model, economic globalization paradoxically permeates the concept of a sovereign state ignoring borders, displaces many people by rationalizing away jobs, and challenges cultural/religious identity. It produces a blowback which is the buzzword of the 21st century called populism. From Great Britain’s exit from the European Union (“Brexit”) and the presidential elections of Donald P. Trump last year to the populist presidents Venezuelan Nicolás Maduro and Ecuadorian Rafael Correa’s economic socialist policies and anti-Americanism, populism is challenging an international liberal world order and the principles of universal human rights. President Victor Orbán of Hungary and President Recep Tayyip Erdoğan of Turkey populist governments have introduced new constitutions that undermine or will undermine in the case of Turkey if the constitutional referendum is approved in April 2017,4 the checks and balances of liberal democracy. The anti-establishment populist movements symbolize what former UK Independence Party leader Nigel Farage declares, “[…] monumental changes as and point the way to a better understanding of what security means. Others propose a more coherent – and consciously alternative – agenda. However, beyond a common opposition to neo-realism, the non-traditional and critical approaches to security often fundamentally diverge. In particular, they differ on what the referent object of security should be, whether the objective should be to securitize or de-securitize (and the implications of this), and whether the emphasis should be on normative or explanatory theory. Some non-traditional approaches retain the state as the referent object of study, and broaden their analysis of the threats to the state, to include – for example – economic, societal, environmental, and political security challenges. Barry Buzan’s landmark book, People, States and Fear, suggested that the individual is the ‘irreducible base unit’ for explorations of security, but the referent of security must remain the state as it is the central actor in international politics and the principal agent for addressing insecurity. Other critical approaches challenge the state-centricity of security analysis fundamentally and argue that individuals or humans collectively should be the referent object of security. 3 Ray Kurzweil/Chris Meyer, Understanding the Accelerating Rate of Change, Kurzweil Accelerating Intelligence Essays, May 2, 2003, accessed March 1, 2017 at http://www.kurzweilai.net/understanding-the-accelerating-rate-of-change. 4 Human Rights Watch, Turkey: President Bids for One-Man Rule, January 18, 2017, accessed March 30, 2017 at https://www.hrw.org/news/2017/01/18/turkey-president-bids-one-man-rule.

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the revolution against global governance will continue across Europe.”5 Already one major casualty – the United Kingdom’s EU membership – and election of Donald Trump to become the President of the United States represents the tip of the iceberg of anger and xenophobic nationalism across Europe and America. Over the past decade buffeted by the global financial crisis, increasing economic inequality, perceived loss of national sovereignty, a resurgence in authoritarian powers, and uneasiness with cultural and demographic changes, the liberal international order has stumbled causing deep resent toward the liberal world order of free trade and globalization. For the liberal order to survive, the populations of its member countries must embrace its fundamental social and political values. That embrace is now under siege. The election outcomes this year in 2017 will demonstrate in the Netherlands, France, and Germany the momentum of populism’s capacity to attract left-wing or right-wing support determined by whom they exclude and the accompanying nationalist, sectarian or socialistic ideology. In general, they are rebelling against what is perceived as an oppressive and constraining international order. These actions are giving momentum to political authoritarianism gaining ground in Austria, Czech Republic, France, Greece, Hungary, the Netherlands, Russia, Sweden, Turkey, and the United States. The world has entered a “democratic recession” since 2006 according to the political scientist Larry Diamond.6 Human rights and democracy have come to a standstill. The unregulated financial world preceding 2008 and the bank bailouts and Great Recession that followed have shattered the peoples’ faith in government and aroused the belief that the liberal world order benefits only a narrow global elite. Populism uses all different ideological identities to perpetuate feelings through narratives of two homogenous and antagonistic groups. Populist politicians utilize terminology combining nativism and victimhood from both sides of the political spectrum to blame established corrupt elites about lower wages in which the rich get richer, and the poor get poorer. People’s emotions are stirred up by images of a national security threat to a ‘pure peoples’ local culture being diluted by immigrants, imperialists, or infidels.7 The trauma of a changing world has led many to seek comfort from much uncertainty through an initial response of reaffirming one’s self-identity and traditional values by drawing closer to the state, religious institution or any collective that is perceived as being able to reduce uncertainty and existential anxiety. 5 Lizzie Stromme, Nigel Farage Declares Revolution against Global Governance will continue across Europe, in: Express, March 15, 2017, accessed March 17, 2017 at http://www.express.co.uk/news/uk/779628/NigelFarage-revolution-against-global-governance-Europe. 6 Larry Diamond, Democracy in Decline: How Washington Can Reverse the Tide, in: Foreign Affairs (July/August 2016), accessed March 1, 2017 at https://www.foreignaffairs.com/articles/world/2016-06-13/democracydecline. 7 Cas Mudde, The Problem with Populism, in: The Guardian, February 17, 2015, accessed March 17, 2017 at https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/feb/17/problem-populism-syriza-podemos-dark-sideeurope; See Cas Mudde, Extremism and Democracy.

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For Trump supporters, the establishment is embodied in the term ‘globalism’ in which virtually every country has taken advantage of the USA. The Chief Strategist to President Trump, Stephen Bannon, “declared a revolution for American sovereignty defined by economic nationalism and the ‘deconstruction of the administrative state.’”8 With all the momentum about rethinking about the role of the state and state power, a particularly robust combination of anti-liberal sentiments produces comfortable ontological security narratives rationalizing the present as if it could not be different.9 Technology allows social media to build echo chambers for people to hear their desired sound bites. Unsubstantiated facts turn into rumors, and ultimately online fake news spread across social media without any in-depth analysis. The end effect is many believe that rapid change slows and uncertain futures become more controllable especially for those who find globalization complicated and bewildering.10 At the same time, millions of people of all ages all over the world are dying caused by air pollution annually.11 The environmental degradation is the Achilles’ heel of the U.S antiestablishment movements negating the immediate existential seriousness of climate change while the world contends with overpopulation, baby-boomer demographics, and an ‘Energy Renaissance’ transitioning from fossil fuel to renewable energy. This conundrum has triggered the emergence of a set of claims that states need to reclaim their sovereignty to protect their values. Others believe the urge for democracy and universal human rights continue to evolve into a transnational power of popular sovereignty embodied in international law and international customary law, which together with existential issues affecting life, will trump the ontological populist narratives and will of authoritarian states.12 These efforts will effect an adherence to a codex of ethics in international relations and other models of economic growth. Religious faith and tolerance will be important fault lines in moving from the Hobbesian world to a Lockean heartland, but not at the expense of   8 Harold James, Trump’s Revolutionary Dilemma, in: The Straits Times, March 13, 2017, accessed March 13, 2017 at http://www.straitstimes.com/opinion/trumps-revolutionary-dilemma.   9 Catarina Kinnvall, Globalization and Religious Nationalism: Self, Identity, and the Search for Ontological Security, in: Political Psychology Vol. 25 (2004), No. 5, 741–767, accessed February 7, 2017 at http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467-9221.2004.00396.x/pdf; Samuel Moyn, The Last Utopia, Cambridge 2010; Nicolas Guilhot, The Democracy Makers, Human Rights and the Politics of Global Order, New York, 2005; Mark Mazower, No Enchanted Palace: The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton 2009. 10 Nehal Bhuta, Rethinking the Universality of Human Rights: A Comparative Historical Proposal for the Idea of ‘Common Ground’ with other Moral Traditions, in: Anver M. Emon/Mark Ellis, Benjamin Glahn (Hrsg.), Islamic Law and International Human Rights Law, Oxford 2012, 123–143, accessed February 19, 2017 at https://books.google.com/books?id=Y3hpAgAAQBAJ&pg=PA113#v=onepage&q&f=false. 11 International Energy Agency (IEA), Energy and Air Pollution, in: World Energy Outlook Special Report June 2016, 13, accessed August  20, 2016 at http://www.worldenergyoutlook.org/airpollution/6.5 million deaths related to air pollution– according to the World Health Organization (WHO) – much greater than the number of HIV/AIDS, tuberculosis and road injuries combined in a year. 12 Eliot Cohen, History and the Hyperpower, in: Foreign Affairs 83 (2004), No. 4, 49–63.

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acquiescing to political grievances of religious fundamentalists’ interpretation of Islam by altering the Lockean precepts of tolerance and greater efforts towards a universalization of human rights. The analytical research methodology will examine three core areas challenging and promoting the universal nature of human rights as it affects perspectives of a world society and a changing liberal world order. 1. The myth of the Liberal World Order: Analyze the dynamics of religion, freedom and foreign policy in the liberal international system as Russia challenges them as the guardian of traditional values and its potential fallout on the international system and world society. 2. Energy Renaissance as a Defining Moment in Achieving Universal Human Rights: The new energy era is producing a political stewardship economy due to human-caused climate change and globalization resulting in specific strategies to promote human security13 collectively as well as protecting cultural identity as part of the universality of human rights.14 3. The Toolkit of 21st Century Statecraft: All the elements of economic, military, diplomatic, and social engineering moulded together as a ‘grand strategy’ to make universal human rights a core part of world society’s perspective in the 21st century.

II. The Myth of the Liberal World Order The revulsions of two brutal world wars in the 20th century and an abominable shock to the world about the horrific Holocaust atrocities caused an ideal of global solidarity embed13 The term Human Security was first popularized by the United Nations Development Program in the early 1990s. In the post-Cold War era as a way to link various humanitarian, economic, and social issues in order to alleviate human suffering and assure security. Human Security focuses primarily on protecting people while promoting peace and assuring sustainable continuous development. It emphasizes aiding individuals by using a people-centered approach for resolving inequalities that affect security. 14 See, Human Rights Initiative, Definition of Human Security, February 28, 2011, accessed February 10, 2017 at http://www.humansecurityinitiative.org/definition-human-security. In describing Human Security, former Secretary General of the United Nations Kofi Annan writes in the Foreword to Human Security and the New Diplomacy: “During the cold war, security tended to be defined almost entirely in terms of military might and the balance of terror. Today, we know that ‘security’ means far more than the absence of conflict. We also have a greater appreciation for non-military sources of conflict. We know that lasting peace requires a broader vision encompassing areas such as education and health, democracy and human rights, protection against environmental degradation, and the proliferation of deadly weapons. We know that we cannot be secure amidst starvation, that we cannot build peace without alleviating poverty, and that we cannot build freedom on foundations of injustice. These pillars of what we now understand as the people-centered concept of ‘human security’ are interrelated and mutually reinforcing.”

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ded in a secular liberal conception of human rights to emerge at the end of World War II. An insipidly rationalistic global liberalism attempted to provide true universal shared aims through the creation of the United Nations. Forgotten was the messiness of history and the Anglo-American and European legal scholars, who began to believe less in jus gentium, for positivism. By the first part of the 20th century, the jurisprudential doctrine favoured in the West was legal positivism, the theory that legal rules are valid only because the existing political authority has approved the legislation and only then will be accepted as binding by the citizenry. Morality or natural laws were not proper sources of lawmaking in a positivistbased state. Thus, international law is a set of rules created by agreement among sovereign states, which left their imprint on the development of international law marked by Euro-centrism. There were no rules of international law protecting fundamental human rights.15 The International law prescribed in a Christian world did not prohibit the wholesale slaughter of 10 million murdered Congolese in the late 19th century for not meeting the production quotas set by King Leopold’s administration, which was praised by the Institut de droit international for having assumed the humanitarian task in administering the Congo.16 International law did not prohibit the elimination of groups of people on the grounds of religion, ethnicity or political belief as Nazi Germany abused its people while the world watched or the ethnic cleansing under Stalin or the Japanese war crimes in Manchuria in the 1930s. Forgotten was the Prime Minister Chamberlain’s ‘economic appeasement’ overtures exemplified by the ‘Dusseldorf Agreement’ in March 1939 or reaction to the ‘Wohlthat Mission’ two months before the outbreak of World War II. In both cases the British Prime Minister Chamberlain offered or agreed to through his ministers or other ‘confidants’ a plan to divide up the world by offering south-eastern Europe as a ‘sphere of influence’ to Hitler in exchange that he would halt his aspirations for Germany’s expansion and thereby avoid a world war.17 Also, the Munich Conference of October 1938 in which France and Great Britain ceded the sovereign territory of Czechoslovakia to the Third Reich without the sovereign present and an ultimatum that Czechoslovakia would have to stand alone against Nazi Germany unless it submits to the prescribed annexations was something of the past. Forgotten was while piracy and slavery were banned by international law, racism, apartheid and colonial exploitation was not. The decades to follow portray a straight line of an international liberal world replacing Christianity with a secularized humanism. So how secularized is the international world order today in the 21st century? In the 19th century sociologist Emile Durkheim wrote that modern science [secularism] claims to have 15 Herbert Reginbogin, The Paradigmatic Implicatios of International Law and the End of Empire, in: Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, Wiesbaden 2014, 1480. 16 Marti Koskenniemi, The Gentile Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001, 157–166; Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost: A Story of Greed, Terror and Heroism in Colonial Africa, London 1998; Edouard Descamps, L’Afrique nouvelle, Paris – Brussels 1903. 17 Walther Hofer/Herbert Reginbogin, Hitler, der Westen und die Schweiz, Zürich 2001, 443–499.

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no kinship and even opposed to religion. In the beginning, religious thought was the beginning of scientific thinking in which religious elements of sacred and holiness were attached to secular institutions.18 As Carl Schmitt points outs, “all significant concepts of the modern theory of the state are secularized theological concepts.”19 In Empire of Humanity: History of Humanitarianism,20 Prof. Michael Barnett of George Washington University refers to the International Committee of the Red Cross (ICRC) as a weapon of war to save Christian morality, which insists today that its symbol had nothing to do with Christianity. While archival records show otherwise, the ICRC has become an international institution having introduced other symbols like the Red Crescent as to not offend non-Christians. Still, Western institutions are perceived by the non-Christian world to be entrenched in Christian values, and sacred-secular institutions like the ICRC providing humanitarian aid and protecting human rights principles is seen as laundering Christian values.21 What impact do religion and secularism have on the universalization of human rights? 1. Religion and Secularism Impacts the Universal Declaration of Human Rights In the preamble of the UN Charter, four principle objectives lay the foundation for a secular and liberal world order. Two of the four principles are about upholding the principles of human rights. They are intertwined in the faith for a more humane world by “reaffirm[ing] faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small”22 and their determination “to promote social progress and better standards of life in larger freedom.”23 Also, Article 1 of the Charter of the United Nations lists as one of the four primary purposes of the United Nations the achievement of international cooperation “in promoting and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion.”24 Similarly, Article 55 of the Charter called upon the United Na18 Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912. 19 Carl Schmitt, Political Theology: Four Chapters on the Concept of Sovereignty, Chicago 2005, 36. 20 Michael Barnett, Empire of Humanity: A History of Humanitarianism, Ithaca 2011, 7. 21 Michael Barnett, Religion and the Liberal International Order, in: Michael Barnett/Clifford Bob et Al. (Hrsg.), Faith, Freedom and Foreign Policy, Washington D.C. 2015, 23. 22 Preamble to the Charter of the United Nations, accessed February 10, 2017 at http://www.un.org/en/sections/ un-charter/preamble/index.html. The other objectives are to save succeeding generations from the scourge of war which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind, and to establish conditions under which justice and respect for the obligations arising from treaties and other sources of international law can be maintained. 23 Ebd. 24 Ebd. Article 1 to the Charter of the United Nations. See Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights: Origins, Drafting, and Intent, Philadelphia, 1999, 28–34 and Ashlid Samnoy, Human Rights as International Concensus: The Making of the Universal Declaration of Human Rights, 1945–1948, Bergen 1990, chapter 7. On the important role of small and non-Western states, see Susan Waltz, Universalizing Hu-

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tions to promote “universal respect for, and observance of, human rights and fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language or religion.”25 In Article 56, all Members of the United Nations “pledge themselves to take joint and separate action in cooperation with the Organization for the achievement of the purposes set forth in Article 55.”26 The faith in general declarations of post-war optimism and goodwill led to the 1948 Universal Declaration of Human Rights (UDHR) in the hope that the humanity of all people was to be regarded as free and equal. The barbarity unleashed on the world stage in World War II had traumatized many including those among the delegates to the United Nations. But so too was the sincere desire to build a better world with nation-states, and limit the act of foreign aggression to avoid war. Shaista Ikramullah, a member of the Constituent Assembly of Pakistan and a delegate to the UN in 1948 said, “it was imperative that the peoples of the world should recognize the existence of a code of civilized behaviour which would apply not only in international relations but also in domestic affairs.”27 Her understanding of equal rights was restrictive as it did not mean same rights between men and women except in the cases “to ensure the protection of women after divorce and the safeguarding of their property.”28 Hansa Mehta, member of the Constituent Assembly in India and well known advocate for gender equality, was responsible for the wording of Article I of the UDHR: “All human beings are born free and equal in dignity and rights”29 arguing by using the word ‘men’, it would suggest excluding women and so the word ‘human beings’ was chosen.30 Other countries and individuals contributed in formulating passages found in the UDHR document to embrace universal human rights. Yugoslavia advocated that human rights be extended to include the peoples of non-self governing and trust territories. Carlos Romulo, man Rights: The Role of Small States in the Construction of the Universal Declaration of Human Rights, in: Human Rights Quarterly Vol. 1 (2001), 44–72; Susan Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal Declaration of Human Rights, in: Third World Quarterly Vol. 3 (2002), 23, 437–448; and Susan Waltz, Universal Human Rights: The Contribution of the Muslim States, in: Human Rights Quarterly Vol. 4 (2004), 26, 799–844 and Mary Ann Glendon, The Forgotten Crucible: The Latin American Influence on the Universal Declaration of Human Rights Idea, in: Harvard Human Rights Journal Vol. 16 (2003), 27–39. 25 Richard B. Lillich/Hurst Hannum, International Human Rights: Documentary Supplement, Aspen 1995, 8. 26 Ebd. 27 HRWGICA (Human Rights Working Group International Council on Archives, News from the ICA Human Rights Working Group April 2011, accessed February  28, 2017 at www.ica.org/sites/default/files/ HRWG_2011-04_newsletter_EN.pdf. 28 Ebd. 29 Universal Declaration of Human Rights, Article 1, accessed February 10, 2017 at http://www.un.org/en/universal-declaration-human-rights/index.html. 30 Gita Sahgal, Who Wrote the Universal Declaration of Human Rights?, 50.50 Inclusive Democracy, December  10, 2014, accessed March  7, 2017 at https://www.opendemocracy.net/5050/gita-sahgal/who-wrote-universal-declaration-of-human-rights. Gita Sahgal is a founder of the Centre for Secular Space, which opposes fundamentalism, amplifies secular voices and promotes universality in human rights. She was formerly Head of the Gender Unit at Amnesty International. Gita has served on the board of Southall Black Sisters and was a founder of Women Against Fundamentalism and Awaaz: South Asia Watch.

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Filippino diplomat and former President of the United Nations General Assembly (1949– 1950), expressed the view based on Philippines’ colonial experience that colonies should be given full rights.31 Thereby, Article 2 of the UDHR, ensures that subject peoples were endowed with rights, and “[…] without distinction of any kind, such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status. Furthermore, no distinction shall be made on the basis of the political, jurisdictional or international status of the country or territory to which a person belongs, whether it be independent, trust, non-self-governing or under any other limitation of sovereignty.”32 All states were to recognize these human rights unquestionably, without exception, in the hope and expectation that neither another world war nor a genocide like the Holocaust would ever occur again. It embodied the inherent political, economic and social rights with which all humans are born. Of the fifty-six countries represented in the United Nations, forty-eight countries voted for the UDHR, with none opposing and eight abstentions. They were the six Soviet bloc states (USSR, Byelorussian SSR, Czechoslovakia, Poland, Ukrainian SSR, and Yugoslavia) abstaining because the UDHR was “overly juridical” in character as well it might enable infringing upon national sovereignty.33 The Saudi Arabia’s delegation objected particularly to Article 16, related to the free choice of people to marry who they choose, and Article 18, relating to freedom of religion. As to the question of marriage, the Saudi delegate to the committee examining the draft of the declaration pointed out, “it was not for the Committee to proclaim the superiority of one civilization over all others or to establish uniform standards for all the countries of the world.”34 He continued to criticize the authors of the drafted declaration of ignoring the practices of marriage by ancient traditional civilizations, which entailed the control and exchange of women. The control of female choice in marriage was central to maintaining the patriarchal property relations. Based on these objections to Article 16 and 18,35 the Saudi delegation rejected to ratify the declaration on maintenance of patriarchal property relations. 31 Ebd. 32 Ebd., Article 2. 33 Mary Ann Glendon, A World Made New: Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York 2001. 34 Michael Ignatieff, The Attack on Human Rights, in: Foreign Affairs (November/December 2001), accessed February 21, 2017 at https://www.foreignaffairs.com/articles/2001-11-01/attack-human-rights. 35 Universal Declaration of Human Rights, accessed March 15, 2017 at www.un.org/en/universal-declarationhuman-rights/index.html. Article  16: (1)  Men and women of full age, without any limitation due to race, nationality or religion, have the right to marry and to found a family. They are entitled to equal rights as to marriage, during marriage and at its dissolution. (2) Marriage shall be entered into only with the free and full consent of the intending spouses. (3) The family is the natural and fundamental group unit of society and is entitled to protection by society and the State. Article 18: Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief, and freedom, either alone or in community with others and in public or private, to manifest his religion or belief in teaching, practice, worship and observance.

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Finally, South Africa due to the provisions on racial equality caused it to abstain.36 Still, the UDHR became the first ever to be coded universal human rights, giving effect to the United Nations’ determination “that human rights should be protected by the rule of law.”37 The UDHR was a non-binding instrument, but for some a sacred document expressing the secular universality of human rights in contemporary international relations beyond question. It led directly to two legally binding instruments of potentially global application. In 1966 the International Human Rights Covenants – International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) and the International Covenant on Civil and Political Rights (ICESCR) – incorporated many of the UDHR provisions making these three documents the foundation often referred to as the International Bill of Human Rights. The day before the UDHR was adopted, the Convention on the Prevention and Punishment of Genocide was signed making it the world’s first universal rights treaty which committed all forty-one signatories to the treaty to prevent and punish genocide as a crime under international law. A year later, on August 12, 1949 the four Geneva Conventions for the Protection of War Victims including the treatment of prisoners of war and protection of civilians was adopted by forty-three countries criminalizing various acts and making both individuals and governments responsible.38 A human-oriented discourse had ascended and by the mid-1970s the Helsinki Process, which identified four baskets of issues with the third basket emphasizing human rights values giving impetus to holding violators of the freedoms of relocation and reunification of families divided by international borders, cultural exchanges and freedom of the press accountable. The Helsinki Accord enabled dissidents to act and speak more openly than would otherwise have been possible.39 A further boost came from President Ronald Reagan, in the 1980s when he championed human rights as an entirely real fundamental human value, which was part of the reasons that the ‘evil empire’ was brought down.40 He would also be the one who 40 years later would sign the Convention on the Prevention and Punishment of Genocide after convincing Congress to pass legislation assuring that the Convention would not infringe on American sovereignty.41

36 Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca – London 2013. 37 Ebd. 38 Geneva Conventions of 12 August, 1949 and Protocols Additional to the Conventions, accessed February 17, 2017 at http://un-documents.net/gc.htm. 39 United States Department of State Office of the Historian, Helsinki Final Act, 1975, accessed March 15, 2017 at https://history.state.gov/milestones/1969-1976/helsinki. 40 Michael Barnett, Empire of Humanity: A History of Humanitarianism, Ithaca 2011. 41 David Weissbrodt/Fionnuala Ni Aolain/Joan Fitzpatrick/Fran Newman, International Human Rights: Law, Policy, and Process, Englewood/Colorado 2009, 139–140; see Christoph Safferling/Eckart Conze (Hrsg.), The Genocide Convention Sixty Years after its Adoption, The Hague 2010.

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2. Human Rights: An Integral Part of National Security A good deal of the Cold War experience involved a very small group of human rights followers. The USA and Soviet Union protected governments accused of human rights abuse making a mockery out of the principles of human rights. Countries in the Third World disliked the concept because they perceived it as an intrusion by the West. Their aim was to keep laws advocated by the West off their back, to protect the loopholes sovereignty provided, and to deal with dissidents and rivals as they saw fit.42 The end of the bipolar world protecting authoritarian governments ushered in the rise of international liberalism and an extraordinary expansion of new democracies during the 1990s. Economic globalization and international liberalism simultaneously unleashed the conceptual ideas of justice expressed in the International Bill of Rights. As Michael Barnett highlights, “democracies and markets were the touchstones of human freedom, human freedom entailed human rights, human rights included the rule of law and the rule of law was essential for economic and political liberalization…democracy, markets, and the rule of law: if not the holy trinity, then at least the troika of the liberal world order.”43 Human Rights treaty became a lingua franca attracting diverse groups of from left-leaning and conservative political spectrum to religious orientation. The vernacular of human rights became a political counter-weight to authoritarian governments brining dictatorships and military juntas in South America like President Augusto Pinochet in Chile or President Ferdinand Marcos in the Philippines to justice. In the 1970s under President Carter, human rights was elevated to a foreign policy objective and in the presidential administrations to follow human rights principles were consecrated in formulating foreign policy as a matter of international law. Human rights became increasingly associated with the effectiveness and functionality of government’s claim to rule. Human rights became a modus operandi in dealing with global crisis as the political morality of a liberal democratic constitutional order proclaimed to be part of a struggle of political systems in which international politics will deliver peace and stability. The presidential administrations since Carter portrayed the inseparability of human rights and democracy,44 which also was reflected in the use of peacekeeping forces in the 1990s in East Timor, Kosovo, and Cambodia by the United Nations Security Council.45 The more global advancement a conceptualization of universal human rights progressed as a tool of state power the more dangerous human rights became in helping to 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Joshua Muravchik, The Uncertain Crusade: Jimmy Carter and the Dilemma of Human Rights Policy, Hamilton 1986. 45 Nehal Bhuta, Rethinking the Universality of Human Rights: A Comparative Historical Proposal for the Idea of ‘Common Ground’ with other Moral Traditions, in: Anver M. Emon/Mark Ellis/Benjamin Glahn (Hrsg.), Islamic Law and International Human Rights Law, Oxford 2012, 131, accessed February 19, 2017 at https:// books.google.com/books?id=Y3hpAgAAQBAJ&pg=PA113#v=onepage&q&f=false.

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unblock its expansion because it challenged those in power. With the end of the Cold War, United Nations peacekeeping operations were deployed together with human rights units to link human rights and security as an essential part of post-conflict efforts.46 Development agencies like the United Nations Development Programme (UNDP) began to reformulate development as a ‘right’. Once limited to political rights, human rights expanded to include other rights ranging from women’s rights, civil rights, religious rights, and even economic rights. A redefinition of security to include positive and negative liberties of human rights was required. The state had to be contained from violating the liberty and life of its citizens, but individuals also needed resources to realize their potential as they defined it. In general, the discourse of human rights was promoting the idea of universality of human rights and empowering individuals who could help to dilute the power and politics of states, creating a human-epicentre approach that dissolved traditional left-right divisions, and help the international community to imbue universal values within national security policies. Human rights are not a lifeless list of terms, but a legal-political lingua franca that can be invoked to advance any number of positions and interests.47 3. Diverging View of the International World Order By the end of the Cold War, the English School of International Relations recognizes two distinct divisions of politics of the international world order. Each embraces the ideas of human rights differently as the popularity of a critical security essay by Samuel P. Huntington’s “Clash of Civilization” thesis calls upon analyzing the lessons of history to recognize the dangers to global stability. Huntington’s article points out the very different conflicting interpretations about the conduct and goals of international society. He says economic modernization and social change throughout the world are separating people from longstanding local identities. They also weaken the nation state as a source of identity. In much of the world, religion has moved in to fill this gap, often in the form of movements [found in Christianity, Judaism, Islam, Hinduism and Buddhism] that are labeled ‘fundamentalist’.48

Huntington references two works by George Weigel called ‘Un-secularization of the World,’ citing “is one of the dominant social facts of life in the late twentieth century.”49 The other work is about the revival of religion, ‘la revanche de Dieu,’ as Gilles Kepel refers to it, “pro-

46 Michael Barnett, Empire of Humanity: A History of Humanitarianism, Ithaca 2011. 47 Anthony Tirado Chase, Legitimizing Human Rights: Beyond Mythical Foundations and Into Everyday Resonances, in: Journal of Human Rights,vol. 11, 2012, No. 4, 505-525. 48 Samuel Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs (Summer 2003), accessed March 3, 2017 at https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/1993-06-01/clash-civilizations. 49 Ebd.

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vides a basis for identity and commitment that transcends national boundaries and unites civilizations.”50 In the “Grotian Conception of International Society,” which Hedley Bull in 1966 published as part of a collection of papers titled “Diplomatic Investigations: Essays in the Theory of International Politics”, there are passages which depicts a debate about two different divergent views of the role of the state comprising international society with respect to the enforcement of the law.51 In the English School of International Relations, these views are pluralism versus solidarism. These two views are captured today in forms of identity crisis in an international world order comprised of states. Pluralism is the conception in which international law is part of international society, and human rights issues are an internal matter of a sovereign country unless they include hideous crimes such as genocide, ethnic cleansing or crimes against humanity. It is a pragmatic association of states respecting some limitations on how each may pursue their purposes based on the principles and practices of international law. It is thus a society of coexistence based on the values of equal sovereignty, territorial integrity, and non-intervention of member states. Within the shrine of national sovereignty, women inequality exists in certain Islamic countries as set out in Islamic law, law sanctions religious persecution of dissenters, and political freedoms are curtailed. Religious identity imbued with Russian ontological narratives as the guardian of traditional religious values are instrumentally used by Vladimir Putin to discredit the secular liberal world order and support for the universality of human rights. Also, vast segments of the American population embrace competing religious interpretations about the origin of life, reincarnation, and paradise based on claims of religious faith not easily verifiable. As a result, different ‘rational’ ontological religious narratives in both cases are created, which are epistemically irrational about these matters. In other words, when people formulate their beliefs because there is an emotional comfort to be found intellectual standards of reasoning are relaxed for the sake of attracting greater public support for their views.52 The USA is already disenfranchising from a liberal world order in pursuit of populist slogans of nationalism such as making ‘America Great Again’ at the cost of free trade and potential protectionism and trade wars. The populist rhetoric of securing the American border of an imminent threat as millions of illegal immigrants living peacefully in the country for decades is to be deported to uphold the rule of law. Will a foreign policy called ‘spheres of influence’ also arise from the graves of the last centuries in which the major powers divided

50 Ebd. 51 Hedley Bull, The Grotian Conception of International Society, in: Herbert Butterfield/Martin Wight (Hrsg.), Diplomatic Investigations: Essays in the Theory of International Politics, London 1966. 52 Bryan Caplan, Rational Ignorance vs. Rational Irrationality, in: Kyklos Vol. 54 (February 2001), Issue 1, accessed March  1, 2017 at http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1467-6435.00138/pdf or econfaculty. gmu.edu/bcaplan/pdfs/rationalignorancevs.pdf.

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up the world without concern for universal human rights, as indigenous people were considered unable to govern themselves? Those who support a more de-formalized understanding of human rights embrace the ideas of ‘solidarism’ as referred to in the English School of International Relations. They believe that human rights hold substantive values of global political justice, individual security, and peace. In other words, the universal human right concept is an agent in transforming the normative foundations of international society. Unlike the Pluralists, they emphasize a Kantian or liberal understanding of international relations and international society. Christian Reus-Smit, Head of the Department of International Relations in the Research School of Pacific and Asian Studies at the Australian National University writes that for solidarists, “international society is more than a practical association; it exhibits – or is starting to exhibit – characteristics of a purposeful association”53 setting standards to evaluate the legitimacy of states and regimes as a whole. They believe that such an organization exists when “there is some consensus about the substantive moral purposes which the whole society of States has a duty to uphold.”54 It becomes apparent when states, for example, “reached an agreement about a range of moral principles such as individual human rights, minority rights, responsibility for nature and duties to other species, which they believe they should promote together,”55 as part of a securitized public policy.56 Drawing on these principles, Barry Buzan argues, that the “individual or humans collectively become the base unit of security”57 – human security – “capturing the total interplay amongst states and non-state actors carrying the sense that all the actors in the system are conscious of their interconnectedness and share some important values.”58 Laying claim that civilizations share in the universal secular aspirations of the UDHR depends on how religious leaders practice tolerance for others. 4. East and West – Living through an Ontological Security Narrative For over seventy years, narratives have expressed portrayals of the international liberal world order to encompass an almost exclusively linear progression of Western societies’

53 Christian Reus-Smit, Society, Power, and Ethics, in: Christian Reus (ed.), The Politics of International Law, Cambridge 2004. 54 Andrew Linklater, The Transformation of Political Community: Ethical Foundation of the Post-Westphalian Era, Cambridge 1998, 166–167. 55 Ebd. 56 Steve Smith, The Contested Concept of Security, in: Ken Booth (ed.), Critical Security Studies and World Politics, Boulder/Colorado 2005, 32. 57 See Barry Buzan, People, States and Fear: The National Security Problem in International Relations, Wheatsheaf – Brighton/Sussex 1983. 58 Barry Buzan, From International to World Society? English School Theory and the Social Structure of Globalization, Cambridge 2004, 64.

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growing shared aspirations for democracy, tolerance and participatory governance.59 These reservations are now becoming explicit. Many states in the Middle East have dissolved into Sunni and Shiite sectarian wars, ethnic-nationalist conflicts, and religious militias financed by major regional powers backing different groups in civil wars. The turmoil violates the sovereignty of other countries while causing massive migrations and countries unable to control their territory ending up as failed states. At the same time, Jihadist terrorism is spreading in the cities of Europe and other metro-poles of the world while geopolitics has returned with rivalry increasing between autocracies and democracies. China’s rise and Russia’s recovery have generated a new model of ‘authoritarian capitalism.’ When the Soviet Union dissolved in 1991 marking the end of the Cold War, many in the USA and Europe conjectured that the people living under the control of the Soviet Republic sought to emulate Western lifestyles to achieve economic prosperity, fundamental political rights, and privileges of a free society. Democracy was to be the vehicle of triumph through reforms based on foreign and domestic policies embracing universal values of human rights. Instead, the post-Cold War Era was a trauma for the Russians and a majority of the people in the former Soviet republics as their economies disintegrated and economic transformation led to unemployment, violence, and political instability. Survival was the primary goal. As people faithfully waited in the corridors for their economy to revive following the end of the Soviet Union to engage in a new liberal world order, their leader Boris Yeltsin erratically ruled while conservative and reactionary forces exploited the country hindering change and modernization because it challenged their power-base and status in society. When Yeltsin resigned and made Vladimir Putin the Acting President on December 31, 1999, he was to be subsequently elected in 2000 President of the Russian Federation for two four-year terms. Because the Russian constitution mandated term limits, Putin was ineligible to run for a third consecutive presidential term in 2008. The 2008 Presidential election was won by Dmitry Medvedev, who appointed Putin Prime Minister, beginning a period of so-called ‘tandemocracy’.60 However, with the effects of the Arab Awakening causing growing protests on the streets of Russia, Prime Minister Putin had the constitution revised and announced he would seek a third term as president. He returned to become in 2012 the strongman of Russia as president to censor the rising call for democracy and human rights. When oil prices collapsed in the second half of 2014 and the value of Russia’s ‘black gold’ depreciated from above $100 a barrel to below $30.00, significant government spending cuts were needed. The Russian economy was in free fall when President Putin had already earlier 59 Jan Eckel, Human Rights and Decolonization: New Perspectives and Open Questions, in: Humanity Journal (June  10, 2010), 1–2, accessed February  20, 2017 at http://humanityjournal.org/issue-1/human-rights-anddecolonization-new-perspectives-and-open-questions/. 60 Henry E. Hale/Timothy J. Colton, Russians and the Putin-Medvedev Tandemocracy: A Survey-Based Portrait of the 2007–08 Election Season, The National Council for Eurasian and East European Research (Washington, 2009), accessed March 17, 2017 at www.ucis.pitt.edu/nceeer/2009_823-03_2_Hale.pdf.

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in the year annexed the Crimea. The mood of the Russian people was to stand in solidarity with their president who had reinstated national pride among Russians with 80 percent public support. He demonstrated that to be a power with which not to be underestimated. Putin gave the Russian people the feeling of security and memory of the narratives of the ‘la grande nation’. The stories of the past became the ontological security of the present and rationalizing the future as if it could not be different. Putin has shown to the world how far Russia will go to challenge Western ideals and norms – at home and abroad. 5. The Universal Declaration of Human Rights in the 21st Century Why was the West so wrong about Russians longing to emulate the West? Why has the West professed that the UNDHR is a model recognized by the world community when it appears to have failed in gaining little or no respect for the human rights agenda in international affairs? In many Islamic countries, women’s inequality exists because of religious interpretation of Islamic law, persecution of religious dissenters, and curtailment of political freedoms. The Chinese model gives priority to economic growth over political liberalization. Many countries cite the ‘right to security’ to justify harsh enforcement methods with political authoritarianism increasing in different parts of the world from Russia, Middle East, Turkey, Hungary, and Venezuela. Chinese President Xi Jinping has called for a “great wall of iron” to safeguard the restive western region of Xinjiang as Islamist separatists pose the “most prominent” challenge to the country’s stability.61 Backlashes against LGBT rights have increased in countries such as Russia and Nigeria. The Arab Spring has led many to question the value promoting liberal democracy. All comes amid the Western alliance system strengthening its military deterrence in Eastern Europe and internally the EU attempting to hold their regional experiment together as populist movements across the continent gain momentum and Great Britain departs the European Union. The Japanese and Chinese economies continue to show signs of sluggishness and populist nationalism in America is attempting to dismantle the liberal world order. In Asia, China is rising to challenge Washington’s military hegemony in the South China Sea by laying claim to territorial waters and attract U.S. allies such as Philippines and Thailand into its orbit. Tensions are increasing on the Korean Peninsula as North Korea continues to test launch ballistic missiles capable of striking the USA with an armed atomic bomb. In the Middle East, the USA and its European allies have failed to engage the region in bring about a more liberal and peaceful future in light of the Arab Awakening. They have proven unable to stop the Syrian conflict and allowed Russia to re-emerge as a power broker whose influence has reached heights unforeseen since the Cold War. The country is at forefront to roll back the expanding liberal world order on its periphery by raising doubts about its intentions.

61 Reuters, China Xi Calls for ‘great wall of iron’ to safeguard restive Xinjiang, March 10, 2017.

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In vast regions of the world, the UDHR were never shared but submitted themselves to the Western concept of order according to some critics. Almost all of Africa, parts of Americas, and much of Asia were still under colonial rule at the time of adopting of the UDHR on December 10, 1948. In the 1980s and 90s Islamic states drafted the Cairo Declaration of Human Rights in Islam, as an alternative declaration. These reservations were raised on August 5, 1990 with the adoption of The Cairo Declaration on Human Rights in Islam (CDHRI) at the Organisation of the Islamic Conference in Cairo, Egypt criticizing the 1948 UDHR for its failure to take into account the cultural norms and religious values of non-Western countries by imposing their values on everyone else.62 In retrospect the idea of universal human rights in the middle of the twentieth century needs to be contextualized as a period of time to those struggling to rebuild their nation or fighting colonial suppression and those who believe that different people were endowed with separate rights. Interestingly, many of the delegates asked to contribute to writing the UDHR were anything else than ‘Westerners.’ Instead of the image of Eleanor Roosevelt as the single author of the Declaration since she chaired the Drafting Committee, or civil and political rights are classical ‘Western’ concerns, Susan Waltz illuminates through her scholarship the in-depth diversity of people and range of countries to approve each clause of the document in the drafting of the UDHR.63 For example, Ricardo Alfaro, former President of Panama, proposed the idea and first draft of an UDHR, along with Rene Casin of France together with several U.S. lawyers. The Latin American countries promoted social and economic rights, while the Soviet Union concentrated on racial discrimination pointing out the United States’ segregation policies in some states and African apartheid still existing. The emancipation of all, emphasizing universal rights applicable to everyone everywhere, emerged as a top priority with newly decolonized countries calling for the eradication of slavery and discrimination, and support for the rights of women, and the right to national self-determination.64 Religion and marriage were the two contentious human rights issues festering among Muslims but not only among Muslims. An egalitarian marriage shared by adults was ab62 This declaration is widely acknowledged as an Islamic response to the United Nations’ Universal Declaration of Human Rights (UDHR), adopted in 1948. It guarantees many of the same rights as the UDHR, while at the same time reaffirming the inequalities inherent in Islamic law and tradition in terms of religion, religious conversion, gender, sexuality, political rights, and other aspects of contemporary society at odds with various interpretations of the Islamic law and traditions. 63 Susan Waltz, Universalizing Human Rights: The Role of Small States in the Construction of the Universal Declaration of Human Rights, in: Human Rights Quarterly Vol. 1 (2001), 44–72; Susan Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal Declaration of Human Rights, in: Third World Quarterly Vol. 3 (2002), 23, 437–448; and Susan Waltz, Universal Human Rights: The Contribution of the Muslim States, in: Human Rights Quarterly Vol. 4 (2004), 26, 799–844. 64 Gita Sahgal, Who Wrote the Universal Declaration of Human Rights?, 50.50 Inclusive Democracy, December  10, 2014, accessed March  7, 2017 at https://www.opendemocracy.net/5050/gita-sahgal/who-wrote-universal-declaration-of-human-rights.

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sent at the time whether eastern or western. There were laws prohibiting marriages between races in some states in the United States at the time, which for Egypt’s Wahid Rafaat were more shocking to his country than limitations based on religion or nationality. He agreed to the language on marriage as proposed in the UDHR document. The issue of child marriage was an acceptable practice by Saudi Arabia and changing religion as a Muslim was against the Koran. However, Foreign Minister of Pakistan, Zafrallah Khan, believed that the right to change religion was consistent with Islam. The debate about universal human rights was divided, but not categorically between East and West.65 Michael Ignatieff, Professor at Harvard University, points out the cynism that arose that human rights are seen as an exercise in the cunning of Western reason: no longer able to dominate the world through direct imperial rule, the West now masks its will to power in the impartial, universalizing language of human rights and seeks to impose its narrow agenda on a plethora of world cultures that do not actually share the West’s conception of individuality, selfhood, agency, or freedom.66

Those countries which abstained in approving the Universal Declaration of Human Rights were among the pluralists which argue that the declaration represents a neo-colonialist attempt by the West to control the people in the developing world. Authoritarian leaders and states have used these arguments to violate women’s and children’s human rights under the disguise of enforcing tradition. On the other hand, Solarists emphasize that the declaration is meant to transcend cultural bias in such a way that human rights become relevant and universal to all, regardless of one’s origin or upbringing. Susan Waltz illustrates that all diverse cultures and moral pluralism can coexist and pursue their vision of a good life compatible with universal human rights without encroaching on the rights of other individuals who exist within that culture.67 The liberal world order attracts individualism which renders human rights and a universal lingua franca that validates the claims of women and children against the oppression they experience in patriarchal and tribal societies; it is the only vernacular that enables dependent persons to perceive themselves as moral agents and to act against religious practices – arranged marriages, purdah, civic disenfranchisement, genital mutilation, domestic slavery, and so on that are ratified by the weight and authority of their cultures. These agents seek out human rights protection precisely because it legitimizes their protests against oppression.68

65 Ebd. 66 Michael Ignatieff, The Attack on Human Rights, in: Foreign Affairs (November/December 2001), accessed February 21, 2017 at https://www.foreignaffairs.com/articles/2001-11-01/attack-human-rights. 67 Brian Z. Tamanaha, On the Rule of Law: History, Politics, Theory, Cambridge 2004, 41. 68 Ebd.

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While the well-known thesis by Samuel Huntington underscores a clash of civilizational customs between the “Western” rights outlined in the UDHR and local traditions, religious interpretations and lifestyles have dynamically progressed within the Muslim world as radical religious fundamentalism threaten the very essence of peace and stability. In 2016, 250 scholars from around the Muslim convened at the request of the King of Morocco in Marrakesh. They presented ‘The Marrakesh Declaration’ arguing that a progressive interpretation of Sharia law can be compatible with universal human rights. The declaration reaffirmed “the principles articulated in the Charter of Medina […] and the United Nations Charter and related documents, such as the Universal Declaration of Human Rights, are in harmony with the Charter of Medina, including consideration for public order.”69 The declaration concludes affirming, “it is unconscionable to employ religion for the purpose of aggressing upon the rights of religious minorities in Muslim countries.”70 Critics point out that the Declaration of Marrakesh is not reforming or rejecting the Qur’anic imperative to subjugate those minorities as dhimmis. In Islamic law, the dhimmis have rights; they just don’t have all the same rights that Muslims have.71 Islam today is not only a religion that inspires faith but also an ideology and perspective of the world that informs Muslims about politics, society and the lifestyle they select. Muslim authoritarian governments and opposition movements, religious leaders and laity, appeal to and use religion to legitimate their beliefs, policies, and actions. Rulers in Saudi Arabia, Sudan, Iran, and Turkey as elsewhere call to Islam for legitimacy, as do political and social movements, mainstream and extremist. Muslim societies now are often polarized between secular and more religiously oriented sectors. Just like in the Middle Ages when Christianity went from preaching the charity of St Francis of Assisi to the barbaric torture chambers of the Inquisition to fighting for both the abolition of slavery in the 19th century and universal human rights in the 20th century, what religious and cultural shifts will Islam endure? Will such scholarship surrounding the Marrakesh Declaration expose changes to Islam’s number one holy book and replete the calls to violence and terrorism against unbelievers. Koran 8:12 is one of the numerous examples: Allah declares: “I will cast terror into the hearts of those who disbelieved, so strike [them] upon the necks […].”72 That is behead them, as the Islamic State has done while citing the 69 Executive Summary of the Marrakesh Declaration on the Rights of Religious Minorities in Predominantly Muslim Majority Communities, January 25–27, 2016, accessed October 5, 2016 at www.marrakeshdeclaration.org/marrakesh-declaration.html. 70 Ebd. 71 Clarion Project tries to show that Islamic reform is possible, instead only shows how easy it is to be fooled, March 16, 2017, accessed March 20, 2017 at http://beforeitsnews.com/opinion-conservative/2017/03/clarionproject-tries-to-show-that-islamic-reform-is-possible-instead-only-shows-how-easy-it-is-to-befooled-3260984.html. 72 Quranic Arabic Corpus, Verse 8:12 of the Koran, accessed October 5, 2017 at http://corpus.quran.com/translation.jsp?chapter=8&verse=12. The following are seven different translations of the Arabic Verse 8:12. 1) Sa-

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Koran. In contrast, within less than the span of a lifetime, the West has witnessed monumental cultural shifts towards women’s rights, gay rights, and race relations. These changes have accelerated Western culture further in the direction of upholding universal human rights, but traditional religious interests and institutional contours continue to play a role in power sharing in other countries. In the United Kingdom of Great Britain and Ireland, the nation is ruled ‘by the grace of God’ a hereditary monarch who is also the head of the established church and referred to as the “defender of the faith,” with the clergy sitting in the national legislature. Culture plays a significant role in human security and a part of the principles of universal human rights. However, culture is no excuse for abuse and politically misuse outrageous. When the Vienna Declaration and Programme of Action were adopted in 1993 following the end of the Cold War, it emphasized that all human rights were universal, indivisible, interdependent, and interrelated. Culture does not divide. The protection of universal human rights was seen as a primary objective of the United Nations and the interrelationship of democracy, development, and respect for human rights fundamental to freedom. A UN High Commissioner for Human Rights was established several months later with the responsibility to address human rights issues ranging from racial discrimination, indigenous peoples, migrant workers, to the rights of women, the child, disabled, minorities and the freedom from torture.73 In General Assembly Resolution 48/141, the UN High Commissioner for Human Rights would be the UN official and principal responsibility for UN human rights activities. The High Commissioner is responsible for promoting and protecting the effective enjoyment by all of all civil, cultural, economic, political and social rights, providing through the UN hih International: [Remember] when your Lord inspired to the angels, I am with you, so strengthen those who have believed. I will cast terror into the hearts of those who disbelieved, so strike [them] upon the necks and strike from them every fingertip. 2) Pickthall: When thy Lord inspired the angels, (saying): I am with you. So make those who believe stand firm. I will throw fear into the hearts of those who disbelieve. Then smite the necks and smite of them each finger. 3) Yusuf Ali: Remember thy Lord inspired the angels (with the message): I am with you: give firmness to the Believers: I will instil terror into the hearts of the Unbelievers: smite ye above their necks and smite all their finger-tips off them. 4) Shakir: When your Lord revealed to the angels: I am with you therefore we make firm those who believe. I will cast terror into the hearts of those who disbelieve. Therefore strike off their heads and strike off every fingertip of them. 5) Muhammad Sarwar: Your Lord inspired the angels saying, I am with you. Encourage the believers. I shall cast terror into the hearts of the unbelievers and you will strike their heads and limbs. 6) Mohsin Khan: (Remember) when your Lord inspired the angels, Verily, I am with you, so keep firm those who have believed. I will cast terror into the hearts of those who have disbelieved, so strike them over the necks, and smite over all their fingers and toes. 7) Arberry: When thy Lord was revealing to the angels, ‘I am with you; so confirm the believers. I shall cast into the unbelievers’ hearts terror; so smite above the necks, and smite every finger of them!’ 73 See General Assembly Resolution 48/141, December 20, 1993. Also, A. Clapham, Creating the High Commission for Human Rights: The Outside Story, in: European Journal of International Law (EJIL) (1994), 556. See Malcolm N. Shaw, International Law, Cambridge 2008, 280–281.

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Centre for Human Rights and other appropriate institutions, advisory services and assistance including education and engaging in dialogue with all government with a view to securing respect for human rights. The High Commissioner may also make recommendations to competent bodies of the UN system to (or “intend to”) improving the promotion and protection of all human rights, has engaged in a series of visits to member states of the UN and become involved in co-ordination activities.74 However, this formal scope of responsibilities become critically diluted in the case of The United Nations Human Rights Council condemning Israel’s human rights record while those that sit on the council itself violate human rights abuse: Iraq, Egypt, China, and Saudi Arabia. While significant societal shifts to take place in designated allotments of time are involved, protests across the Muslim world frequently recur, wars rage in Syria and parts of Iraq and through the Middle East and the Persian Gulf journalists are beheaded, women are lashed and homosexuals torched. Contrastingly, sound bites are heard that Saudi women now have the right to vote in municipal elections. Prince Alwaleed Bin Talal Alsaud,75 a high-profile Saudi investor owning private and public held companies in the USA, Europe, and the Middle East, is highlighted in pointing that women should be permitted to drive because it isn’t just “a rights issue, it is also an economic, developmental and social one.”76 Incremental social changes are slow, hypocritical, customary, and still appear to embrace a direction towards universal human rights according to the narratives of the liberal world order. The UDHR has weaknesses regarding implementation problems and their endorsements. However, to claim that they or the international world order are a myth or a form of imperial control because of being ‘Western’ does not make them incompatible with other cultures. What matters is that universal human rights protect the individual interests of the powerless, in all cultures and the international liberal world order provides an institutional framework. By communicating through the lingua franca of human rights, it may be possible for all civilizational forces in a world society to join to meet the real existential challenges facing the world in the 21st century and change ontological narratives of security. Fears and bewilderment because of not understanding the complexities of a changing world need to find other models for closer cooperation among all countries and its people as all systems including the liberal world order will transition to be a more inclusive human security model.

74 Ebd. 75 Prince Alwaleed Bin Talal Alsaud, Forbes, March 19, 2017, accessed March 19, 2017 at https://www.forbes. com/profile/prince-alwaleed-bin-talal-alsaud. 76 Sarah Rieger, Prince Alwaleed bin Talal Says Saudi Women Deserve The Right To Drive, in: Huffington Post Canada, November 20, 2016, accessed March 19, 2017 at http://www.huffingtonpost.ca/2016/11/30/princealwaleed-bin-talal_n_13336662.html.

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III. ‘Energy Renaissance’ as a Defining Moment in Achieving Universal Human Rights The relation between the environment and human security has been the object of much research. In recent decades it has become the subject of many publications, but only recently it has become an important part of the discourse of universal human rights as a lingua franca in international relations. Some scholars have suggested the correlation between climate change and the Syrian War and the Arab Awakening of 2011 having imperiled human security by causing havoc for masses of people in the Middle East due to devastating droughts. Beginning in 2006 in Syria water shortage forced massive migration of angry farmers to seek a livelihood in urban centres of Syria to find no work after leaving their homes and fields behind. The migration fuelled the conditions that led to instability and a civil war.77 In the previous year 2009–2010 just before the Arab Awakening hit throwing some fortyfour million people into poverty bread prices had spiraled almost 75 percent between 2006 and until 2010 surged to an all-time high according to the Commodity Food Price Index in February 2011.78 Wheat prices alone jumped 56 percent in the second half of 2010 and the price for a barrel of oil headed more and more above the $100.00 mark79 making the costs of fertilizer and operating tractors increasingly expensive. In Russia, the world’s fourth-largest wheat exporter experienced the worst recorded drought in one hundred thirty years called the ‘Black Sea Drought,’ which included wildfires burning down vast acreage of Russian forests and parching farm fields. The Russian government banned wheat exports for a year. Christian Piantri, journalist and author of Tropic of Chaos: Climate Change and the New Geography of Violence writes that in Australia massive flooding had occurred ruining extensive areas of wheat crops and in the Midwest of the United States and Canada excessive rain damaged wheat and corn crops while 20 % of Pakistan was under water because of massive flooding.80 Extreme weather in all parts of the world is battering the economies around the world especially the belt of economically and politically postcolonial nations breeding banditry, humanitarian crisis, and state failure some in the midst of a war zone. The wealthy nations 77 Craig Welch, Climate Change Helped Spark Syrian War, Study Says: Research provides first deep look at how global warming may already influence armed conflict, National Geographic, March 2, 2015, accessed March  1, 2017 at http://news.nationalgeographic.com/news/2015/03/150302-syria-war-climate-changedrought/; Joshua Hammer, Is a Lack of Water to Blame for the Conflict in Syria?, Smithsonian.com, June, 2013, accessed March  8, 2017 at http://www.smithsonianmag.com/innovation/is-a-lack-of-water-to-blamefor-the-conflict-in-syria-72513729/#tU3HCdS2jIlJhjsy.99. 78 See Index Mundi: www.indexmundi.com/commodities/?commodity=food-price-index&months=60. 79 During the period 2011:1–2014:6, monthly average oil prices fluctuated between $ 93 and $ 118 per barrel. The World Bank, Understanding the Plunge in Oil Prices: Sources and Implications, January 2015. 80 Christian Piantri, Tropic of Chaos: Climate Change and the New Geography of Violence, New York 2011, Kap. 9 and 16.

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are not spared the effects of climate changes. Instead, they are the cause. At the United Nations Climate Change Conference (UNCCC) also known as COP21 in December 2015 in Paris, the world saw President Obama together with Chinese leader President Xi Jinping, leaders of the large emerging markets, G-7 governments and over a hundred of developing countries conclude a framework in Paris to achieve sustainable and development policies. Pledges were made by individual countries to control carbon emissions with the targeted goal to hold the increase in global average temperature from rising above 2°C (3.6°F) by 2100 with an agenda of targets set for 2030 and an ideal target of keeping temperatures rise below 1.5°C (2.7°F).81 A global consensus arose with the expectation that more of the world would transition into a low carbon economy with a “fiduciary or trustee perspective: that public policy and private conduct alike be framed within a set of duties to care for each other and the rest of the biosphere in perpetuity.”82 The agreement indicated a political resolve to enable all countries to pursue climate policies in a low carbon future economy. Markets would emerge with demand for technology to seek resilient development pathways to acquire sustainable economic security and development. It was organized so that each country’s national strategy can be mainstreamed into policies to benefit their peoples’ public health, the quality of life and social fabric of the state challenged by climate-driven violence and instability. Central to national security is environmental security, encompassing the interconnected dynamics of the different available natural resources, and the government’s capacity to deliver without interruption to the local and regional economies such raw materials to assure stability.83 1. Environment and Human Security – Parts of the Human Rights Equation In this conjunction, the ‘Energy Renaissance’ is producing various macroeconomic models, in particular, a stewardship economy in which the generation of today are custodians. The model embraces many specific strategies related to both promoting human security collectively and protecting cultural identity both as a core of universal human rights. In the role of people seeing themselves as custodians on earth, these human rights principles are reinforced, as the task of ‘human security’ moves ahead to assure coming generations will be able to live on an inhabitable, ecologically, safe planet.

81 John D. Sutter/Joshua Berlinger, Final draft of climate deal formally accepted in Paris, CNN. Cable News Network, Turner Broadcasting System, Inc. December 12, 2015, accessed December 14, 2017 at http://www. cnn.com/2015/12/12/world/global-climate-change-conference-vote/. 82 Peter Brown, Ethics, Economics and International Relations, Edinburgh 2000, 1. The form of government advocate by Brown is a world federation with a world court. Another concert of ideas might center around the Westphalian model as portrayed by Buzan. 83 Norman Myers, Environmental Security: What’s New and Different?, University of Peace, 2002, accessed March 5, 2017 at http://www.envirosecurity.org/activities/What_is_Environmental_Security.pdf.

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Critics of human security point out that it is too all encompassing and fails to achieve its ambitious goals to improve human conditions. Still, human security is relevant in addressing the world’s most pressing issues. Security is a universal problem. It is just no longer related to the security of nation states. The security of the individual now directly impacts the security of the state and vice versa with human-caused climate change requiring an ‘Energy Renaissance’ to accelerate and help avoid an environmental catastrophe. Traditional security approaches towards threat confine themselves to centrally government controlled military threats. These methodologies have expanded to include threats that challenge economic and environmental security and questions. In-depth security studies have pursued a greater understanding of the human rights values within which security is embedded. Some critical approaches – such as the collection produced by Krause and Williams, “Critical Security Studies”84 – are deconstructionist, in a tentative sense of unpacking and problematizing current understandings of security. They identify the limitations and contradictions of orthodox security studies and international relations theory and point the way to a better understanding of what security means. Both human and environmental security threats have become crucial issues all amplifying the broad definition of universal human rights. Rising public health concerns combined with droughts and famines caused by climate change are a matter of concern related to a potential rise of social and political unrest in many countries. The International Monetary Fund (IMF) has calculated by using new macroeconomic models the public cost caused by fossil fuels at US$5.3 trillion or 6½ percent of global GDP when considering health and environmental impacts.85 Consequently, macro quantitative analysts are turning to environmental, social and governance factors to measure their inefficiencies and performance based on socially responsible investment data reflective of a growing codex of ethics in international relations as such information affects the projections and needed solutions to global warming. The traditional understanding of economic wealth regarding GDP is obsolete and requiring highly scientific simultaneous macroeconomic equilibrium models “to maintain better balances between economic growth and social needs while protecting local ecologies and reducing the negative impact of growth on the global environment.”86 The understanding of critical security is emerging where an entirely new global economic framework is rising, and security of the state as the referent object is broadened to include 84 Keith Krause/M. Williams, Critical Security Studies: Concepts and Cases, London 1997. 85 Benedict Clements/Vitor Gaspar, Act Local, Solve Global: The $ 5.3 Trillion Energy Subsidy Problem, IMF Direct, May  18, 2015; accessed December 30, 2016 at https://blog-imfdirect.imf.org/2015/05/18/act-localsolve-global-the-5-3-trillion-energy-subsidy-problem. 86 John Fullerton, Regenerative Capitalism: How Universal Principles and Patterns Will Shape Our Economy, Capital Institute, April 2015, accessed October  7, 2016 at http://capitalinstitute.org/wp-content/ uploads/2015/04/2015-Regenerative-Capitalism-4-20-15-final.pdf ; See Robert Constanza, What is Ecological Economics? Yale Insights: Yale School of Management, May 11, 2010, accessed October 7, 2016 at http:// insights.som.yale.edu/insights/what-ecological-economics.

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individuals or humans collectively economic, societal, environmental, and political security. Barry Buzan’s landmark book “People, States, and Fear” suggested that the individual is the ‘irreducible base unit’ for explorations of security, but the referent of security must remain the state as it is the central actor in international politics and the principal agent for addressing insecurity. Thus, the protection of cultural identity related to human security and environmental safety are essential characteristics of a country’s security. As governments and non-state actors confront existential issues, a greater public outcry for the future is expected. According to the June 2016 Energy Outlook of the International Energy Agency,87 currently, 6.5 million people are dying annually due to air pollution, a number which will exponentially grow among the developing countries causing greater adherence to a codex of ethics in international relations driving the universalization of human rights. 2. Transitioning to a New World Order and the Role of Human Rights Under President Obama’s all-out approach towards climate change, until President Donald Trump took the Office of President of the United States in 2017, it was clear that his administration was committed to protecting and conserving the environment and the days of fossil fuels were numbered. Leaders around the world realized that environmental pollution was having a toll on the citizens of their country and decided on developing a low carbon future and trillion-dollar market demand for technology to achieve a sustainable environment. Currently, the world is confronted with three major challenges: a) Overpopulation in which projected populations between 1950 and 2050 will have increased in some cases 20-30-fold in Uganda and Niger respectively;88 b) Changing demographics in which 50 % of the people in Saudi Arabia is under 30 years,89 and 87 International Energy Agency (IEA), Energy and Air Pollution, World Energy Outlook Special Report June 2016, 13, accessed January 20, 2017 at http://www.worldenergyoutlook.org/airpollution/. 88 Adair Turner, The Real Demographic Collapse, Project Syndicate, August  21, 2015, accessed March  5, 2017 at https://www.project-syndicate.org/commentary/demographic-challenge-poor-countries-by-adairturner-2015-08 . He was a former chairman of the United Kingdom’s Financial Services Authority and former member of the UK’s Financial Policy Committee and is Chairman of the Institute for New Economic Thinking today. He writes in 2008, the UN projected the world’s population reaching 9.1 billion by 2050 and peaking at about ten billion by 2100. It now anticipates a population of 9.7 billion in 2050, and 11.2 billion – and still rising – by 2100, because fertility rates in several countries have fallen more slowly than expected (in some, notably Egypt and Algeria, fertility has actually risen since 2005). While the combined population of East and Southeast Asia, the Americas, and Europe is projected to rise just 12 % by 2050 and then start falling, subSaharan Africa’s population could rise from 960 million today to 2.1 billion by 2050 and almost four billion by 2100. North Africa’s population will likely double from today’s 220 million. 89 World Population Review, Saudi Arabia Population 2017, accessed March 5, 2017 at http://worldpopulationreview.com/countries/saudi-arabia-population/.

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c) An ‘Energy Renaissance’ involving fossil fuels to remain in the ground allowing a sustainable environment to grow.90 Many countries confronted with these axiomatic conditions have begun to overhaul their economies through investments in modernization and economic diversification hoping to leapfrog the industrial revolution curve of social unrest, which accompanied developed countries of the past centuries. The welfare states of India, China, Saudi Arabia and the GCC countries and others are accelerating differently towards privatization a la Thatcherism by reducing government subsidies. As a result, individuals or people collectively are becoming more the referent of security, and thus, the protection of human rights are being extended to more in the form of a communitarian context to include cultural identity and the environment. The Westphalian model of States remains the principal agent to address issues dealing with cross-border human security threats. Back in 2011 when Saudi Arabia withdrew such sums to pour into social services to stem any threat of a popular uprising as the Arab Awakening swept the Egyptian, Tunisian, and Libyan leaders from power and were threatening several others from Russia to across the Arabic Gulf Peninsula have such large sums been drawn down by GCC countries in the region again.91 In mid-2014 crude oil prices plummeted and like during the Arab Awakening a couple of years before, the wealthier oil producing countries seemed especially unsettled by potential widespread demonstrations and in traditional rentier-style largesse dispensed billions of dollars to quell possible unrest. However, eighteen months later into the fall of petroleum prices, overall conditions had changed. Many countries in the Middle East have over-relied on oil revenue for funding budgetary spending. Oil-export producing countries such as the United Arab Emirates, Kuwait, and Iran have worked to reduce domestic consumption, deal with skyrocketing costs, economic distortions, and potential vulnerabilities of high rates of internal energy utilization through subsidies. Saudi Arabia has reacted to these times of oil volatility as well by using energy efficient buildings, which is estimated to contribute 40 percent carbon emissions worldwide as well as utilizing more natural gas for domestic usage. In addition the country took on the burden to overhaul the country’s economy through diversification to address the demographic demands of young Saudi citizens entering the work for each year in the millions. A new economic model through privatization has been set to attract investments and diversify the country from its dependence on oil to renewable 90 Luke Sussams et al., Expected and Unexpected: The Disruptive Power of Low-carbon Technology, Imperial College London Grantham Institute and Carbon Tracker Initiative, February 1, 2017, accessed February 10, 2017 at http://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/grantham-institute/public/publications/collaborative-publications/Expect-the-Unexpected_CTI_Imperial.pdf. 91 Michael Peel/Javier Blas, Saudi Spending Could Require High Oil Price, in: Financial Times, March  31, 2011, accessed October  12, 2016 at http://www.ft.com/cms/s/0/87d60044-5bbb-11e0-b8e7-00144feab49a. html#axzz1K6WbamI0; and Saudi King Offers Benefits As He Returns from Treatment, BBC News, February 23, 2011, accessed October 12, 2016 at http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12550326.

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energy to generate revenue.92 The Arab Awakening is a reminder of the urge for democracy and human rights worldwide as all people seek protection for bodily integrity; moral, religious, and political choice; and subsistence as leaders realize that humans collectively view these fundamentals as part of their universal rights willing to protest on the streets for them. 3. Issues Facing the World in an Era of Historical Changes Historically, the transition from one energy to another as from wood to coal or coal to oil was a lengthy and tedious process. However, the surge in renewable energy forms like wind, solar, tidal, geo-thermal and others are in the pipeline taking off with such momentum because of the climate, health and existential issue surrounding the use of fossil fuel. According to a 2013 report called ‘Stranded Carbon Assets’ by Generation Foundation, the process of transitioning away from fossil fuels to renewable will be faster than expected. A low-carbon economy will revolutionize macroeconomic and financial markets to an unprecedented magnitude as the value of carbon assets like oil above the ground will lose value at unforeseen rates and an unpredictable scale as renewable energy prices decline leaving fossil fuels stranded. According to the International Energy Agency, between 2015 and 2040 global investments in renewable power capacity will total $6 trillion, accounting for 60 percent of all power-plant investment. Now more fossil fuel will need to stay in the ground following the UNCCA agreement reducing the upper threshold limit to 1.5° Celsius. In 2014, ExxonMobil published a “Carbon Asset Risk” report in which it acknowledged capping global temperature rise to 2° Celsius due to climate change, the valuation for about two-thirds of current fossil fuel reserves will need to be devalued because the oil must be left untapped through 2050.93 In an early 2015 Forbes article titled, “Oil Matters Less than Wall Street Thinks,” oil is fading into history and that oil has not hit rock bottom with prices continuing to slide, “in the long term, oil can go a lot lower […] the demand side trends all point lower.”94 A year, later on, Friday, January 15, 2016, the worldwide oversupply of oil pushed the prices of crude to an all-time low not seen since 2004 as stock markets plummet because of fear of the impact of a recession in China and its effect on the global economy. John Fullerton, a former managing director at JP Morgan, who now runs the Capital Institute, says that there are about $20 trillion in fossil fuel assets that are at risk.95 92 Karim Elgendy, Sustainable Development and the Built Environment in the Middle East: Challenges and Opportunities, Middle East Institute, May 3, 2012, accessed October 11, 2016 at http://www.mei.edu/content/ sustainable-development-and-built-environment-middle-east-challenges-and-opportunities. 93 Tina Casey, Carbon Asset Risks, Almost, Clean Technica, April 1, 2014, accessed December 10, 2016 at http:// cleantechnica.com/2014/04/01/exxonmobil-discloses-stranded-carbon-asset-risks-almost/. 94 Kevin O’Marah, Oil is Fading into History, Forbes, January 8, 2015, accessed October 20, 2016 at http://www. forbes.com/sites/kevinomarah/2015/01/08/oil-is-fading-into-history/. 95 John Fullerton, Regenerative Capitalism: How Universal Principles and Patterns Will Shape Our Economy,

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Needed are trillions of dollars to accommodate new economic, environmental, social, and political challenges in utilizing renewable energy. Currently, studies predict that gas will steadily phase out coal over the next years since current renewable cannot fill the void as in many cases is the only practical alternative. The competitive position of gas versus coal is expected to increase as technological innovations, and alternative energy makes coal prices more expensive even as United States President Donald Trump promises to revive the waning U.S. coal industry, causing shares in coal miners to soar. The world may be in for a greater shock. In a new study, “Expect the Unexpected: The Disruptive Power of Low-Carbon Technology,” which is co-authored by the Grantham Institute for the Study of Climate Change and the Environment at Imperial College, London, and the Carbon Tracker Initiative, says, “the big energy companies are severely underestimating the speed at which low-carbon technologies are advancing.”96 They estimate that by 2020 coal, oil demand might peak, and gas exploration curtailed due to dramatic falls in the cost of solar power and electric vehicles. The volume of electric vehicle sales is currently growing by 60 % annually, and there are already more than 1 million on the roads and the report says that could cut demand for oil by two million barrels per day as soon as 2025, which in 2014–2015 was the amount which prompted the drop in oil prices. The market for electrical vehicles battery costs plummeted by “73 % to $268/kWh in the seven years to 2015 according to the U.S. Department of Energy, and Tesla, the electric carmaker, predicts they will reach $100/kWh by 2020.”97 Ironically, the U.S. leadership believes that the biggest long-term threat to the survival of the human species – global warming – is a ‘hoax’ perpetrated by the Chinese.98 Although scientists overwhelming accept that climate change due to air pollution is humanly driven, President Trump pledged during his presidential campaign to shred the 2015 Paris agreement, an ambitious emissions-reduction pact. If the Trump administration abrogates the COP 21 agreement, he will close out U.S. technology from one of the fastest trillion-dollar growing market segment in the world. Secondly, while some countries will claim the agreement as dead other parties will hedge against uncertain U.S. leadership and push back when Capital Institute, April 2015, accessed October  7, 2016 at http://capitalinstitute.org/wp-content/uploads/ 2015/04/2015-Regenerative-Capitalism-4-20-15-final.pdf. See Robert Constanza, What is Ecological Economics? Yale Insights: Yale School of Management, May 11, 2010, accessed October 7, 2016 at http://insights.som.yale.edu/insights/what-ecological-economics. 96 Luke Sussams et al., Expected and Unexpected: The Disruptive Power of Low-carbon Technology, Imperial College London Grantham Institute and Carbon Tracker Initiative, February 1, 2017, accessed February 10, 2017 at http://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/grantham-institute/public/publications/collaborative-publications/Expect-the-Unexpected_CTI_Imperial.pdf. 97 Ebd. 98 Stewart  M. Patrick, Trump and World Order: The Return of Self-Help, in: Foreign Affairs (March/ April 2017), 5, accessed March  22, 2017 at https://www.foreignaffairs.com/csrouter?sid=2&c1=9029e0af5d2b94d78c0616666a152d0f&c2=221daa5ead5e7ad35b9d5e30cbe60f39c74a865731706ddc9ed7e7d4137 a4735e7906397f287648b8ea6fbf496a5ceeb44b2f10c301878d14ab20645de51249d.

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it comes to preserving a sustainable planet. There will be all types of rational commitments, but at the end, ontological security narratives will need to rationalize the irrational due to ever more pressing problems of an existential magnitude where humankind needs Mother Nature, but Nature does not need humanity.99 If the globalization of universal human rights is to be relevant in foreign policy, merely citing and confirming international rules and norms by joint declarations is insufficient. Foreign policies must foster a shared conviction such as the protection of the environment as part of the universalization of human rights by forcing long-range commitments to prevent global warming.

IV. The Toolkit of 21st Century Statecraft All the elements of economic, military, diplomatic resources combined with the art of governance and communication should provide the pillars for world leaders to develop the statecraft to make universal human rights a core part of world society’s perspective in the 21st century. By building consensus among countries in support of resolving existential environmental issues, closer trade cooperation, encourage human development, support public health initiatives, deal with overpopulation and the blowback from religious fundamentalism, such ‘statecraft’ should outweigh rival interests among states without acquiescing on the principles of universal human rights for a world society to exist in a new millennium of Enlightenment. At the heart of such statecraft is cooperation based on a liberal agenda espousing key liberal norms such as human rights, which would enjoy broad support and not perceived as the West was overreaching. The tension between great powers over a liberal world order will continue tasking the USA and its allies with managing these national security challenges over the next decade. All of this comes at a time when the impact of the global financial crisis of 2008 continues to erode the credibility of the liberal world order affecting the USA and Europe negatively because of regulatory and austerity programs taking much too long to rekindle economic growth and employment on both sides of the Atlantic. Europe set out almost 60 years ago with the signing of the Treaty of Rome in 1957 to create a framework for common economic interests to flourish within the member state’s borders with the intent to transcend the rivalry among Western European nations into peaceful coexistence. Eventually, the European Economic Community developed into a regional organization known today as the European Union attempting to design a foreign policy based primarily on the principles of a liberal world order and human rights. However, it is doubtful that claims to legitimacy sepa99 S. V. Date, Trump Has Stopped Focusing on Claim Obama Wiretapped Him – Till a German Reporter Asked About it, in: Huffington Post, March 17, 2017, accessed March 17, 2017 at http://www.huffingtonpost.com/ entry/trump-merkel-news-conference_us_58cc1ec7e4b00705db4f3f91.

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rated from a strategic concept to sustain a world order are achievable unless it gains more attributes of statehood regarding the authority to command all needed resources to defend against threats along the borders of Europe. The clash between the international economy and the political institutions that ostensibly govern the EU needs to strengthen the sense of purpose and identity to respond to the Kremlin’s ontological narratives of being the guardian of traditional values. These Russian images resonate among other proponents of traditional values creating networks of alliances with China, India, Iran, and Turkey. The moral rhetoric adopted in the USA and Europe West displays in the areas of religious faith (tolerance), freedom and foreign policy the need to take the universalization of human rights’ values as a mechanism of national security priority to socially-engineer a counteroffensive to the Kremlin’s imagery as the guardian of traditional values. The West must adopt the universalization of human rights values to counter Russia using moral imagery to draw new normative, civilizational and geopolitical dividing lines between liberals and conservatives of Western societies. The penalty for failing to put an end to President Putin’s coercive use of social engineering will become an existential issue. Not so much about major wars between states, whereby this remains to be seen in some regions, but more likely an evolution back into the 19th-century ‘spheres of influence’ type of governance and accompanying foreign policy tempted to test each other’s strength and legitimacy. A clash between regions could be more destabilizing than conventional wars between nations have been because of the existential challenges due to global warming where consensus and ethics are paramount. International world order requires a coherent strategic statecraft to establish an understanding of the importance of universal human rights within and among the various regions to triumph radical extremism, deter authoritarian military rule in an area, and preventing a stage to be set for a world crisis. A world order of states affirming tolerance, respecting individual dignity and participatory governance by cooperating by internationally agreed-upon rules (ethics), can be the hope and should be the inspiration for world leaders. However, progress only can be achieved through verifiable intermediary stages in perpetuating sustainable economic growth in which ecosystems affected by economic globalization are protected.

V. Conclusion Often policy makers consider countries belonging to the West are rational focused on wealth-accumulation and security whereas other nations’ national interest embraces values such as religion, which from the Western perspective could interfere with rational foreign policy part of the international order. Religion or other universal human rights principles related to human security are a threat because they could undermine a pluralist world order transitioning to a Kantian world embracing values of ‘solidarism’ more than just basic selfinterest and perpetuating the transitioning into new economic trading models due to climate

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change like a stewardship economy. Secularism represents the discourse to keep religion contained as states exist by power alone. A century ago, Western Powers hailed their Christian identity against those they considered uncivilized. Underscoring today the importance of Judaic-Christian values, Western Powers rely heavily on religion subliminally shaping their nation’s principles and interests known as universal human rights codified in international law. When 9/11 hit, it was a defining moment in time where the discourse about the means of fighting ‘Islamic extremists’ or ‘Godless communists’ became a watershed in U.S. relations with its strongest partners in Europe. American statecraft chose rendition and use of torture as practices in counterterrorism while many major European countries viewed these actions as a breach in the normative architecture of universal human rights causing a moral credibility gap in the liberal world order. Scholars have highlighted that the policy architecture of international institutions anchored in the Charter of the United Nations combined with the legacy of the Nurnberg Trials has established three pillars to achieve stability in the world: security, peace, and justice.100 Even the father of contemporary realism, Hans Morgenthau, refers to human nature incorporating justice with religious overtones.101 Freedom of religion and conscience is a precursor for other rights and ultimately universal rights. However, for the last 100 years, ethno-nationalism has gripped the world in most parts of the world secularizing ideologies while belittling the past and denouncing religion as obstacles to modernity. While religion in Eastern Europe served ethnic nationalism, in the many parts of the West and the rest of the post-colonial world, religion was seen as something of the enemy. Authoritarian leaders such as Egypt’s Gamal Abdel Nasser became the icon of Arab nationalism to replace Islam by outlawing its public practice and the Muslim Brotherhood. Nasser used media to carry the message that Egyptians were to repudiate their religion, unchain themselves from the past and fulfil the dream of a new future by demonstrating loyalty to the nation. He governed with an iron hand through a state apparatus of terror that he used against his rivals. However, the state often failed to deliver its promises resulting in the de-legitimization of the secular state and leaving a void of social disorientation in society. Economic liberalism and globalization offered no solutions. In response, religious authorities criticized the secular state for its addiction to Western modernity and repudiation of tradition and religion. Religious leaders called upon the masses to find fulfilment in ancient traditional values instead of adopting the superficial values of alien cultures. Secular nationalism did not meet its expectations on delivering modernity and turned into a problem instead of the solution. Religion became the voice of protest to be portrayed as a source of violence and opposed to world peace. As William Cavanaugh argued,

100 Charter of the United Nations, Article 1, accessed March 25, 2017 at http://www.un.org/en/sections/un -charter/chapter-i/index.html. 101 Hans Morgenthau, Politics among Nations: The Struggle for Power and Peace, New York 2005.

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in foreign policy the myth of religious violence serves to case non-secular social orders, especially Muslim societies, in the role of villain. They have not yet learned to remove the dangerous influence of religion from political life. Their violence is, therefore, irrational and fanatical. Our violence, being secular, is rational, peace-making, and sometimes regrettably necessary to contain their violence. We find ourselves obliged to bomb them into liberal democracy.102

The historical dilemma of religion and world society is the way they are portrayed. Religion is described as having the capacity to hypnotize an entire nation or driving a community apart while liberalism is attributed the quality of contributing to world peace because of its commitment to individual liberty and religious freedom. But like all legends, it oversimplifies history leaving narratives to unfold portraying religion as bad (reactionary) and liberalism as good. However, the facts of history tell a much more complicated story to be told. Religion has been imbued in the foreign policies of Western states and the liberal international order for ages. Religion has been a source of violence but is also used by secular societies as a scapegoat. Religion described as a destructive force in world history betrays the facts that some of the most significant moral campaigns against slavery and in support of human rights espoused by pious people. Because of 9/11, some may think that religion is the sole destructive force against civilization forgetting again the damage done by other utopian dreams from communism, secularism to ethno-nationalism. The lingua franca of universal human rights is not a national prerogative, but an attendant cross-border responsibility to promote and protect moral, religious and political choice. Peter G. Brown in his book, “Ethics, Economic and International Relations” writes, Consensus is weakest on the question of where there are rights to subsistence (survival) and if there are, who has the similar duties. For the purpose of the argument in favour of universal trusteeship […] [it] is an important ally…for the development of an international consensus on how to treat our fellow persons, and – suitably expanded – the rest of the commonwealth of life.

Human security will be the objective of each state in a world community giving moral concern for each life predicated on the principle of universal human rights because survival is non-existent unless trade cooperation among countries and individuals are environmentally friendly. Products manufactured with low carbon emissions will face low tariffs accelerating the transition to renewable energy and production in a low carbon market. Reducing global climate temperature will be the aim of each citizen and institution while developing the sustainability for billions of people to coexist without hunger and poverty. So far, geopolitical rivalries have stormed back to centre stage. With the Russian annexation of Crimea, intervention in Syria and cyber-attacks against the West, China making aggressive claims in its coastal waters, Iran clearing the road map from the Persian Gulf to the 102 William Cavanaugh, The Myth of Religious Violence, Oxford 2009, 4.

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Mediterranean Sea to dominate the Middle East, old-fashioned Cold War zero-sum power plays are back in international relations. Instead of a win-win EU and U.S. foreign policy embracing global governance, free trade, human rights, the rule of law, climate change nuclear non-proliferation, the clock has been turned back as such as in the Ukraine turning the character of international relations into a standoff between solidarists and pluralists. America and its allies misread what the collapse of the Soviet Union meant being too optimistic about the ‘end of history’ forgetting that Russia, China, and Iran never agreed to sacrifice hard power to achieve its strategic goals. The glory of liberal democracy triumphing over communism blinded them that old-fashioned geopolitics was still on the table and today authoritarian governments are using soft and hard power to overturn the liberal world order. The process will not be peaceful, and whether or not the populist governments of the west and the vanguard authoritarian revisionists succeed, their efforts have already shaken the liberal world order and changed the dynamics of international politics. However, the existential issues remain and will need cooperation, if the world is to be still inhabitable. The nations of states and its population comprising world society need to rethink their ontological perspective in light of the global existential challenges by re-evaluating their ontological narratives of each other by engaging in an open discourse by pairing the narratives of faith, freedom and foreign policy with regional histories, cultures and views of their security to bring about the course of consensus to enforce the principles of universal human rights. To celebrate a universalization of human rights, the West, Russia, and the world must find ways to adapt self-imposed identity roles in protecting traditional/human values expressed through their different ontological narratives with potentially far-reaching geopolitical implications. By embracing universal human rights principles, faith (religion), freedom and foreign policy are paired with the reality of other regions’ perceptions of histories, cultures, and views of their security need to be included through skilful statecraft and consensus building to enforce the principles of universal human rights as a sine qua non for a world society to exist in a new millennial Age of Enlightenment.

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Geschichte und Gegenwart des Völkerrechts: Perspektiven für eine Weltgesellschaft? I. Einleitung Die Zusammenfügung von Recht und Gesellschaft wirft Probleme auf. Zwar setzt die soziologische Theorie Gesellschaft als rechtlich und herrschaftlich geordnete Gesellung, lässt aber die Frage offen, wie Recht in die Gesellschaft kommt, und positioniert dann den Staat als herrschaftliche Institution zur Schaffung und Durchsetzung des Rechts.1 Eine Gesellschaft, die mit nur wenigen herrschaftlichen Institutionen ausgestattet zu sein schien, rangierte beispielsweise für Herbert Spencer im Jahr 1880 lediglich als „aboriginal tribe“, scheinbar dem Schicksal ausgesetzt, von der „Flut der Zivilisation weggeschwemmt zu werden“.2 Und noch im Jahr 1992 befand Friedrich Tenbruck, am Anfang der gesellschaftlichen Entwicklung stehe „oft die Geburt eines neuen Stammes oder Volkes aus dem Zusammenschluss von Versprengten, Migranten, Asylsuchenden, Gastarbeitern, Hilfstruppen u. ä.“,3 mithin einem zusammengewürfelten Haufen vorgeblich seltsamer Leute ohne ge1 Herman Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren 1 (1922), 35–105. Ferdinand Toennies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 81935, 21, 40, 179, 223–225 [zuerst, Berlin 1887; Berlin 21912; Berlin 31920; Berlin 4/51922; Berlin 6/71926; Nachdruck, Darmstadt 1967; Englische Fassung u. d. T.: Community and Association (Gemeinschaft und Gesellschaft). Translated and Supplemented by Charles  P. Loomis, London 1955]. Max[imilian] Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausg., Hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, 180 [Erstdruck, Tübingen 1921, geplant seit 1915]. Weber ließ den Begriff der Gesellschaft unbestimmt. Dennoch gab er mit der Wahl des Originaltitels „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“ für sein Werk, das als Abteilung III, Hauptteil I des von ihm geplanten und herausgegebenen Grundrisses der Sozialökonomik erscheinen sollte, zu erkennen, dass er Gesellschaft als auf das Normative und Herrschaftliche bezogen dachte. Dazu siehe die Kritik von: Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990, 12–14. 2 Herbert Spencer, The Study of Sociology, London 101882, 204 [zuerst London 1873; London 21874; London 4 1875; London 61877; London 71876; London 91880; London 121885; London 131887; London 181897; auch in: Ders., Collected Writings, Bd. 6, London 1873; Nachdruck dieser Ausgabe, London 1996; auch in: Ders., The Works, Bd. 12, New York und London 1912; Nachdruck dieser Ausg., Osnabrück 1966; auch in: Ders., The Works, Bd. 15, New York und London 1880; 1899; weitere Ausg., New York 1896; 1910; Nachdruck dieser Ausgabe, Whitefisch, MO 2007; Hrsg. von Talcott Parsons, Ann Arbor 1961; Deutsche Ausg., Leipzig 1875; Nachdruck, Hrsg. von Jürgen Cromm, Göttingen 1996]. In ebenso brutaler Knappheit: Heinrich von Treitschke, Politik, Berlin 1879 [Hrsg. von Max Cornicelius, 2 Bde, Leipzig 51922, Bd. 1, 126: „Zivilisierung eines barbarischen Volkes ist das Beste. Man muß die Wahl stellen, entweder unterzugehen in der überlegenen herrschenden Nation oder sich ausrotten zu lassen.“] 3 Friedrich H. Tenbruck, Was war der Kulturvergleich, ehe es den Kulturvergleich gab?, in: Joachim Matthes

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meinsames Rechtsbewusstsein. Recht scheint demnach ohne die es setzenden und durchsetzenden Herrschaftsinstitutionen in Gesellschaften nur schwer vorstellbar; der herrschaftsfreie Zustand wird daher – scheinbar folgerichtig – einem vorgesellschaftlichen Naturzustand gleichgesetzt, wie die Politiktheorie seit dem 16. Jahrhundert zu behaupten nicht müde wird.4 Wird der Gesellschaftsbegriff auf überstaatliche Gesellungsformen ausgedehnt, intensiviert sich die Schwierigkeit der Bestimmung des Bezugs von Recht auf Gesellschaft. Sie betrifft dann nicht mehr nur die Problematik der Gesellschafts- und Staatsentstehung, sondern zudem die tiefergehenden Fragen, ob in einer überstaatlichen Gesellschaft überhaupt Recht als durchsetzbar wahrgenommen werden und, sofern dies für möglich gehalten würde, welchen Ursprungs dieses Recht sein könnte. Der Bezug eines solchen, mitunter Völkerrecht genannten Komplexes von Rechtssätzen auf die Weltgesellschaft, das globale internationale System oder andere überstaatliche Gebilde5 ist also alles andere als geradlinig, sondern abhängig von den kultur- und epochenspezifischen Wahrnehmungen der Verfasstheit der Welt und der Modalitäten ihrer Unterteilung in staatlich regulierte Gesellschaften und andere Gesellungsformen. Nun herrscht in den einschlägigen Globalisierungstheorien der Rechts- und Sozialwissenschaften die Meinung vor, dass der Begriff der Weltgesellschaft eine Erfindung

(Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (Soziale Welt Sonderband 8). Göttingen 1992, 13–35, 25. 4 Justus Lipsius, De constancia libri duo [Antwerpen 1584], englische Fassung, Hrsg. von John Stradling, London 1595; Neuausg. der englischen Fassung, Hrsg. von Rudolf Kirk/Clayton Morris Hall, New Brunswick 1939, 95–96. Ders. Politicorum sive de doctrina civilis libri sex [Leiden 1589], neu Hrsg. von Jan Waszink, Assen 2004, 540. Juan de Mariana, De rege et regis institutione libri III, Toledo 1599, 21–22 [Nachdruck, Aalen 1969; auch in: Ders., Obras, Bd. 2 (Biblioteca de Autores Españoles 31), Madrid 1950, 463–876]. Francisco Suárez, SJ, De legibus (III 1–16), Hrsg. von Luciano Pereña Vicente/Vidal Abril (Corpus Hispanorum de pace 15), Madrid 1975, 24–27. Johannes Althusius [prae ]/Hugo Pelletarius [resp.], Disputatio politica de regno recte instituendo et administrando, Herborn 1602, Thesen VI–LVI. Althusius, Politica methodice digesta, Herborn 31614 [Nachdruck der Originalausg., Aalen 1981; neu Hrsg. von Carl Joachim Friedrich, Cambridge 1932, 15, 16, 90, 161; Nachdruck von Friedrichs Ausg., New York 1979]. Dazu siehe: K. Hoekstra, Hobbes on the Natural Condition of Mankind, in: Patricia Springborg (Hrsg.), The Cambridge Companion to Hobbes’ Leviathan, Cambridge 2007, 109–127. Philip Manow, ‚We Are the Barbarians‘. Thomas Hobbes, the American Savage and the Debate about British Antiquity, in: Kay Junge/Kirill Postoutenko (Hrsg.), Asymmetrical Concepts after Reinhart Koselleck, Bielefeld 2011, 141–164. 5 Otfried Höffe, Globalität statt Globalismus. Über eine subsidiäre und föderale Weltrepublik, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hrsg.), Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee der Weltrepublik, Frankfurt/Main 2002, 8–31, 8–9. Oliver Kessler/Mathias Albert, Die Transformation von Recht und Politik globaler Sicherheit aus der Perspektive der Systemtheorie, in: Andreas Fischer-Lescano/Peter Mayer (Hrsg.), Recht und Politik globaler Sicherheit (Staatlichkeit im Wandel  17), Frankfurt/Main und New York 2013, 335–360, 344–347, 355–356. Martin List/Bernhard Zangl, Verrechtlichung internationaler Politik, in: Gunther Hellmann/Klaus Dieter Wolf/Michael Zürn (Hrsg.), Die neuen internationalen Beziehungen (Weltpolitik im 21. Jahrhundert 10), Baden-Baden 2003, 361–399, 366–367.

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des 20., vielleicht des 19. Jahrhunderts sei,6 nach Niklas Luhmann geprägt als Antwort auf vermeintlich zunehmende globale kommunikative Vernetzung.7 Indem Luhmann seinen Begriff der Weltgesellschaft in den des sozialen Systems einpasste, stellte er Weltgesellschaft nicht nur an die Spitze der Hierarchie sozialer Systeme, sondern stattete sie auch, wie alle anderen Systeme in seiner Wahrnehmung, mit Eigenschaften und Kräften des lebenden Körpers aus. Zu diesen Eigenschaften zählten zuallererst, im Sinn der biologistischen Systemtheorie des 19. Jahrhunderts,8 die nach außen abgegrenzte primäre Einheit sowie die 6 Rudolf Stichweh, Konstruktivismus und Theorie der Weltgesellschaft, in: Ders., Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main 2000, 232–244, 237. Ders., Zur Genese der Weltgesellschaft [1998], in: Ders. (wie oben), 245–267, 249–250. John W. Meyer, The World Polity and the Authority of the Nation State, in: Ders./George  M. Thomas/Francisco  O. Ramirez/John Boli (Hrsg.), Institutional Structure. Constituting State, Society and the Individual, Newbury Park 1987, 41–70. World Society Research Group Darmstadt – Frankfurt, In Search of World Society, in: Mathias Albert/Lothar Brock/Klaus-Dieter Wolf (Hrsg.), Civilizing World Politic Society and Community beyond the State, Lanham, MD 1995, 1–17; Chris Brown, World Society and the English School. An “International Society” Perspective on World Society, in: European Journal of International Relations 7 (2001), Heft 3, 423–441, 426–427. Ders., The “English School” and World Society, in: Mathias Albert/Lena Hilkermeier (Hrsg.), Observing International Relation Niklas Luhmann and World Politics, London 2004, 59–71. Barry Gordon Buzan, From International to World Society. English School Theory and the Social Structure of Globalisation (Cambridge Studies in International Relations 95), Cambridge 2004. Ders./Richard Little, International Systems in World History. Remaking the Study of International Relations, in: Stephen Hobden/John Hobson (Hrsg.), Historical Sociology of International Relation Cambridge 2002, 200–221. Dagegen jedoch Mathias Albert, On the Modern Systems Theory of Society and IR. Contacts and Disjunctures between Different Kinds of Theorizing, in: Ders./Lena Hilkermeier (Hrsg.), Observing International Relation. Niklas Luhmann and World Politics, London 2004, 13–29. Ders., Weltgesellschaft und Weltstaat, in: Ders./Bernhard Moltmann/Bruno Schoch (Hrsg.), Die Entgrenzung der Politik, Frankfurt/Main 2004, 223–240; Ders., Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung. Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), Sonderheft, 223–238. Ders./ Oliver Kessler/Stephan Stetter, The Communicative Turn in IR Theory, in: Review of International Studies 34 (2008), Special Issue, 43–67. Ders., Modern Systems Theory and World Politics, in: Ders./Lars-Erik Cederman/Alexander Wendt (Hrsg.), New Systems Theories of World Politics, Basingstoke und New York 2010, 43–68. Kessler u. a., Transformation (wie Anm. 5), 342, die von der eurozentrischen Voraussetzung ausgehen, Weltgesellschaft sei mit „der Entdeckung sämtlicher Landmassen der Erde“ (Kessler) gegeben gewesen. Ian Clark, International Legitimacy and World Society, Oxford 2007, 37–59, datiert die Anfänge der „world society“ in die Zeit des Wiener Kongresses von 1814/1815. 7 Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 51–71, 55 [zuerst in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57 (1971), 1–35]. Dazu kritisch: Stefan Rossbach, “Corpus mysticum”. Niklas Luhmann’s Evolution of World Society, in: Mathias Albert/Lena Hilkermeier (Hrsg.), Observing International Relation. Niklas Luhmann and World Politics, London 2004, 44–56. 8 Das Postulat der primären Einheit der Gesellschaft ergab sich für die Theoretiker nicht aus einem deduktiv gewonnenen Postulat, sondern aus der im Evolutionismus gründenden Annahme eines metaphysischen menschheitsgeschichtlichen Prozesses der „Entwicklung“ angeblich „höherer“, funktional differenzierter aus scheinbar „primitiven“, undifferenziert einheitlichen Gesellschaften: Albert Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, Bd. 4, Tübingen 1881, 431–479. Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 71960

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aus dieser folgende sekundäre interne Differenzierung nach sogenannten „Funktionen“ und die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Systemgrenzen gegen Kräfte der Systemumwelt.9 Luhmann konzipierte seine Weltgesellschaft, ganz in der Tradition der Politiktheorie des 19. Jahrhunderts,10 als expandierendes System, getragen von Akteuren der scheinbar den Globus umspannenden Kommunikation und wies dem Recht den Status eines sich selbst erzeugenden Subsystems zu. So konnte Luhmann noch im Jahr 1987 mit uneingeschränkter Selbstverständlichkeit behaupten, es sei „wenig sinnvoll zu sagen, Gesellschaften seien keine Organismen, oder im Sinne der Schultradition zwischen organischen Körpern (bestehend aus zusammenhängenden Teilen) und gesellschaftlichen Körpern (bestehend aus [zuerst, Paris 1893], 343–406, 395–396. Otto Ritschl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie, Bonn 1906. Dazu siehe: Meyer Howard Abrams, Coleridge’s Mechanical Fancy and Organic Imagination, in: Ders., The Mirror and the Lamp, New York 1976, 167–177. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als Organismus, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/Main, 1991, 263–272. Philippe Buc, Medieval History and the Social Science ca. 1800 – ca. 1970, in: Ders., The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton 2001, 203–247, 200–201, 208, 229–231, 235, 238; Helmut Coing, Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Gunter Mann (Hrsg.), Biologismus im 19. Jahrhundert (Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts  5), Stuttgart 1973, 147–157. Thomas Ellwein, Die Fiktion der Staatsperson, in: Ders./Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften. Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, Baden-Baden 1990, 99–110. Karl M. Figlio, The Metaphor of Organization, in: History of Science 14 (1976), Heft 1, 17–53. Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Rechtsidee und Recht, Göttingen 1960, 46–66. Henry John McCloskey, The State as an Organism, as a Person, and as an End in Itself, in: Philosophical Review 72 (1963), Heft 3, 306–326. Gunter Mann, Medizinisch-biologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), Heft 1, 1–23. Ders. (Hrsg.), Biologismus im 19. Jahrhundert (Studien zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts 5). Stuttgart 1973. Judith E. Schlanger, Les métaphores de l’organisme, Paris 1971. Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt/Main 1969, 63–88. James Weinstein, The Corporate Ideal in the Liberal State. 1900–1918, Boston 1968. Hartmann Tyrell, Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen, in: Ders., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie, Hrsg. von Bettina Heintz/André Kieserling/Stefan Kricke/René Unkelbach, Wiesbaden 2008, 107–139.   9 Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, 103–133 [zuerst in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16), Opladen 1972, 81–115; auch in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Wozu noch Geschichte?, München 1977, 203–252]. Ders., Weltgesellschaft (wie Anm. 7), 59. Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, 35. Ders., The Autopoiesis of Social Systems, in: Felix Geyer/Johannes van der Touwen (Hrsg.), Paradoxe Observation, Control and Evolution of Self-Steering Systems, London 1986, 172–192, hier 179. Dazu siehe: Werner Gephart, Von der Ausdifferenzierung des Rechts zur Selbsterzeugung rechtlicher Systeme. Niklas Luhmann, in: Ders., Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1993, 97–126. 10 Johann Baptist [Giovanni Battista] Fallati, Die Genesis der Völkergesellschaft, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 1 (1844), Hefte 1, 2, 4, 160–189, 260–328, 538–608.

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unzusammenhängenden Teilen) zu unterscheiden“11. Luhmanns Weltgesellschaft war also keine originäre, als Bestandteil der Welt vorgegebene Größe, sondern ein Produkt expansiven menschlichen Handelns. Weltgesellschaft nach diesem Begriff war damit eine erst sekundär gewordene globale Institution und musste folglich auf die Rechtssätze derjenigen Akteure gegründet sein, die die Expansion eben dieser Gesellschaft betrieben. Die vollständige Kongruenz dieser Rechtssätze mit Rechtssätzen, die überall auf der Welt galten oder als gültig angenommen werden konnten, war und ist auszuschließen. Also konnte das Recht, auf dem die so konzipierte Weltgesellschaft ruhte, zwar einige global gültige universale Sätze umfassen, aber nicht in Gänze an sich, d. h. vor seiner mit politischer und militärischer Macht verfügten globalen Gültig-Setzung durch die Akteure der Globalisierung der Weltgesellschaft, global sein. Damit stellte und stellt sich die Frage nach Genese und Akzeptanz gesetzter Rechtssätze, die die Grundlage der Weltgesellschaft abgeben sollten und sollen: Wie müsste Weltgesellschaft beschaffen sein, wenn sie auf Rechtssätze gegründet sein soll, die nicht dem Verdacht und der Kritik ausgesetzt sein sollen, dass sie, sozusagen pro domo, kulturspezifische und einer vorgegebenen politischen Programmatik folgende Rechtsauffassungen globalisieren? Im Folgenden unterscheide ich zwischen ungesetztem Recht zwischen den Staaten des 18. und positivem internationalen Recht des 19. und 20. Jahrhunderts und rekonstruiere im ersten Schritt die ältere, in der Naturrechtslehre gründende Theorie der inklusionistischen civitas maxima des 18. Jahrhunderts, beschreibe dann die Entstehung der exklusionistischen sogenannten „Familie der Nationen“ als Staatenklub mit eingeschränkter Mitgliederzahl und dessen gesetztem Hausrecht während des 19. Jahrhunderts, analysiere hernach die Transformation dieses Staatenklubs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und skizziere abschließend Möglichkeiten der rechtlichen Konstituierung von Weltgesellschaft ohne Anbindung an gesetztes Recht.

11 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1987, 17. Dazu kritisch unter Berücksichtigung der Problematik eines Weltrechts: Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Collision. The Vain Search for Legal Unity in the Fragmentation of Global Law, in: Michigan Journal of International Law 25 (2004), 999– 1046. Dies., Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt/Main 2008. Andreas Fischer-Lescano, Monismus, Dualismus? – Pluralismus – Selbstbestimmung des Weltrechts bei Hans Kelsen und Niklas Luhmann, in: Hauke Brunkhorst/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen (Staatsverständnisse 16), Baden-Baden 2008, 205–232. Ders./ Philip Liste, Konstitutioneller Pluralismus der Weltgesellschaft, in: Michael Bäuerle (Hrsg.), DemokratiePerspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, 569–580. Klaus Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft. Politische Herrschaft in Asien, Afrika und Lateinamerika, Frankfurt/Main 2005, 277–283. Ders., Der internationale Staat. Parallelen staatlicher Herrschaft in Zentralasien und Afrika, in: Hans-Jürgen Burchardt/Stefan Peters (Hrsg.), Der Staat in globaler Perspektive. Zur Renaissance der Entwicklungsstaaten, Frankfurt/Main 2015, 219–241.

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II. Christian Wolff, die civitas maxima und der Inklusionismus der Aufklärung Hatten Theoretiker des 16., 17. und des längsten Teils des 18. Jahrhunderts die Ubiquität des Staats12 und damit die Universalität von Herrschaft für die Menschheit insgesamt vorausgesetzt, mithin den Wandel vom vorgesellschaftlichen zum gesellschaftlichen Zustand als allgemeinen Vorgang postuliert, so bedachten Theoretiker seit Ende des 18. Jahrhunderts den vorgesellschaftlichen Zustand mit dem Vokabular der „Wildheit“, grenzten den Wandel zum gesellschaftlichen Zustand auf Europa ein und sprachen dem größten Teil der Menschheit die Fähigkeit zu vollendeter Staatsbildung ab.13 Solange der Staat als ubiquitäre, ohne grundlegende Differenzierung allgemein verbreitete menschliche Institution gegolten hatte, konnte die Frage nach der Legitimität staatlich gebundener Herrschaft nur in Bezug auf die Menschheit als ganze gestellt werden mit der Folge, dass Antworten als ebenso allgemein, undifferenziert für die gesamte Menschheit passend anerkannt werden mussten. Zu diesem Ziel bestanden zwei breite Argumentationswege, einerseits in Richtung auf die Legitimation von Universalherrschaft, wie sie im Alten Vorderen Orient spätestens seit assyrischer Zeit und in Ostasien seit den Han-Zeit propagiert wurde, andererseits in Richtung auf das Konstrukt der herrschaftsfreien Vereinigung, wie sie bereits Konfuzius mit seiner Theorie der „Großen Union“ (da-tong)14 und der vom Konfuzianismus beeinflusste Christian Wolff 12 August Ludwig von Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungslehre, Göttingen 1793, 5: „Der Stat ist I. Erfindung: Menschen machten sie zu ihrem Wol, wie sie Brandkassen etc. erfanden. Die instructivste Art, StatsLere abzuhandeln, ist, wenn man den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt. Aber II. uralt ist diese Erfindung: wir treffen sie schon beim allerersten Anfang der Geschichte an. Und III. fast allgemein ist sie […]. Alle bisher bekannt gewordene Menschen-Haufen, alter, mittler und neuer Zeiten, leben  … in bürgerlicher Gesellschaft. Und bei weitem die allermeisten, wenngleich nicht alle, leben in Stat, Gesellschaft oder unter Obrigkeit.“ Schlözer stellte den Staat unter das Gebot der Nützlichkeit für die staatlicher Herrschaft Unterworfenen und wandte seinen Staatsbegriff ohne Unterschied auf die gesamte Welt an. Der Staat sei als „Erfindung“ „sehr leicht“: „dies beweist ihr Alter und ihre Allgemeinheit. Man brauchte nur zu bemerken, daß Menschen-Glück one Verein, und dauernden Verein, one Stat, nicht möglich sei: so unterwarf man sich freiwillig.“ Ebenso noch: Heinrich von Sybel, Politik [Vorlesung. 1. Fassung, 2. Fassung]. H Berlin: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, Nachlass Sybel, L 6o; fol. 2r: „D[er] Staat ist [eine] Einrichtung, welche überall, wo Menschen leben, erscheint, zu allen Zeiten, b[ei] allen Völkern, auf allen Culturstufen.“; dto. fol 35r: „Der Staat existirt überall, wo Menschen neben einander wohnen, denn er ist ein nothwendiges Erzeugniß der menschlichen Natur. Aber er verwirklicht seine Idee nur in dem vieltausenjährigen Fortschritt der Weltgeschichte, denn seine Aufgabe ist gleichbedeutend für die Vollendung der menschlichen Cultur.“ 13 Isaak Iselin, Ueber die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Frankfurt/Main und Leipzig 1764, 81–243. 14 Lī kī [Kong Zi, Konfuzius], The Sacred Books of China. The Texts of Confucianism, Bd. 3, Hrsg. von James Legge (The Sacred Books of the East 27), Oxford 1885, Buch VII, Kap. 1, Nr. 2, 497–498. Das Projekt der „Großen Union“ war nicht auf einen bestimmten Raum bezogen, mithin als reine Theorie aufgefasst, knüpfte jedoch an die dem Konfuzius bekannten Begebenheiten in Ostasien der der Frühlings- und Herbstperiode unmittelbar vorausgehenden Zeit an.

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mit seiner Theorie der civitas maxima konzipierten.15 Da die Universalherrschaftsprojekte an das Modell staatlicher Herrschaft anknüpften16 und folglich das universal geltende Recht aus herrschaftlichem rechtssetzenden Handeln ableiteten,17 steht für die Frage nach der rechtlichen Konstitution von Weltgesellschaft nur die Projektion der civitas maxima samt ihren Vorläufern in Betracht. Erst Wolff bezog seine Projektion ausdrücklich auf den Globus als ganzen. Sie findet sich in der Praefatio zu seinem Kompendium des Rechts zwischen den Staaten in einem Abschnitt, der der Erläuterung der in Wolffs Sicht gegebenen natürlichen Voraussetzungen der Gültigkeit eben dieses Rechts gewidmet ist.18 Wolff ging von der Ubiquität der Staaten als Souveränen, mithin als handlungsfähigen Rechtssubjekten, aus und fragte nach den Bedingungen, unter denen die Souveränität der Staaten als hauptsächliche Bestimmung des Rechts zwischen den Staaten anerkannt werden konnte. Die Möglichkeit einer Kooptation von Staaten in einen schon bestehenden Klub schloss er aus, da ein solcher Klub keine natürlich gegebene Institution hätte sein können. Vielmehr postulierte er eine naturgegebene, vertragsähnliche, virtuelle, nicht-institutionelle Vereinigung, der jeder Staat als solcher kraft seines Bestehens angehöre und die die Souveränität sowie mit dieser die Befähigung zu autonomer Gesetzgebung garantiere. Diese Vereinigung benannte er als civitas maxima und beschrieb sie als Legitimationsinstanz ohne Erzwingungsmittel. Bereits im 18. Jahrhundert bestand also ein Begriff der globalen Vereinigung, die die Legitimation staatlicher Herrschaft begründen können sollte. Dieser Begriff war sowohl von der frühneuzeitlichen Projektion des Universalreichs19 als auch von dem später ersatzweise auf der 15 Dazu siehe: Donald Frederick Lach, The Sinophilism of Christian Wolff (1679–1754), in: Journal of the History of Ideas 14 (1953), Heft 4, 561–574. Eung-Jeun Lee [= Ŭn-jŏng Yi], Anti-Europa. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung (Politica et Ars 6), Münster und Hamburg 2003. 16 Dante Alighieri, De Monarchia [um 1317], Hrsg. von Bruno Nardi, in: Ders., Opere minori, Bd. 2, Mailand und Neapel 1979, 280–503. 17 Qian Long, Kaiser von China, [Schreiben an König Georg III. von England, 3. Oktober 1793], in: Alain Peyrefitte, L’empire immobile. Ou: Le choc des mondes, Paris 1989, 246–249 [auch Hrsg. von Frederick Whyte, China and Foreign Power. An Historical Review of Their Relations, London 1927, Appendix, 39]. 18 Christian Wolff, Jus gentium methodo scientifico pertractatvm, Halle 1749, 6–9 [Nachdruck, Hrsg. von Marcel Thomann (Ders., Gesammelte Werke, Abt. B, Bd. 25), Hildesheim und New York 1972]. Dazu siehe: Georg Cavallar, The Rights of Stranger Theories of International Hospitality, the Global Community and Political Justice since Vitoria, Aldershot 2002, 208–215. Emmanuelle Jouannet, Emer de Vattel et l’émergence doctrinale du droit international classique, Paris 1998, 86–100. Nicholas Greenwood Onuf, Civitas maxima. Wolff, Vattel and the Fate of Republicanism, in: American Journal of International Law 88 (1994), 280–303 [wieder abgedruckt in modifizierter Fassung in: Ders., The Republican Legacy in international Thought, Cambridge 1998, 60–70]. Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philos-Hist. Kl. N. F., Bd. 70), München 1970, 139. Walter Schiffer, The Legal Community of Mankind, New York 1954, 68–73. 19 Zum Gebrauch dieses Modells in der Frühen Neuzeit siehe: Franz Bosbach, Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Historischen Akademie 32) Göttingen 1988. Ders., The European Debate on Universal Monarchy, in: David

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Grundlage von Max Webers Begriff des Anstaltsstaats konzipierten Weltstaat unterschieden.20 Wolff umriss mit der civitas maxima eine Weltgesellschaft als rechtliche Größe, die er zugleich inklusionistisch und global positionierte. Möglich wurde dies, indem Wolff seinen Begriff des Rechts zwischen den Staaten (ius inter gentes) wie viele seiner Zeitgenossen21 aus dem Naturrecht ableitete und als Bestandteil einer in ihren hauptsächlichen Elementen statisch wahrgenommenen Welt bestimmte. In seiner Neufassung der Wolffschen Theorie des Rechts zwischen den Staaten übersetzte Emerich de Vattel die Formel der civitas maxima mit grande Société und verwandte sie als Bezeichnung für die Gemeinschaft aller Staaten, die er als von der Natur gegeben betrachtete („la grande Société établiée par la Nature entre toutes les Nations“). Dieser großen Gesellschaft schrieb Vattel die Aufgabe zu, für die wechselseitige Unterstützung der Staaten in deren Selbstperfektionierungsprozess zu sorgen.22 Die Rechtssubjekte in dieser Vereinigung waren also Staaten, keine Personen. Gleichwohl diente das Naturrecht auch als Residualkategorie für Rechte, die einzelnen Personen verweigert, und gegen Pflichten, die diesen durch unrechtmäßiges herrscherliches Handeln illegitim auferlegt wurden. Dazu zählten neben

Armitage (Hrsg.), Theories of Empire. 1450–1800 (An Expanding World 20) Aldershot, Brookfield, VT, Singapur und Sydney 1998, 81–98. Ders., Karl V. und die Universalmonarchie. Der Konflikt mit den politischen und religiösen Mächten des 16. Jahrhunderts, in: Peter Reifenberg/Walter Seidel (Hrsg.), Erbacher Hof (Materialien. Akademie des Bistums Mainz 6/2000), Mainz 2000, 1–21. Ders., Die Habsburger und die Universalmonarchie im Dreißigjährigen Krieg, in: José Martínez Millán/Rubén González Cuerva (Hrsg.), La Dinastia de los Austria. Las Relaciones entre la Monarquía Católica y el Imperio, Bd. 1, Madrid 2011, 71–82. 20 Albert Einstein, Towards a World Government [Rundfunksendung, 24. Mai 1946], in: Ders., Out of My Later Year The Scientist, Philosopher and Man Portrayed through His Own Words, New York 1956, 138–140. Rosika Schwimmer [Rósza Bédy-Schwimmer], Der Weltstaat, in: Mitteilungsblatt der Weltstaat-Liga, Nr. 6 (München 1948), 76. Alexander Wendt, Der Internationalstaat. Identität und Strukturwandel in der internationalen Politik, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998, 381–410 [zuerst u. d. T. Collective Identity Formation and the International State, in: American Political Science Review 88 (1994); und u. d. T.: Identity and Structural Change in International Politics, in: Yussof Lapid/Friedrich Kratochwil (Hrsg.), The Return of Culture and Identity in International Relations Theory, Boulder 1996]. Wendt, Why a World State is Inevitable, in: European Journal of International Relations 9 (2003), 491–542, 504–505, 520: Wendt positioniert „World Society“ als Stufe III auf dem Weg zum Weltstaat (Stufe V) als „transfer of state sovereignty to the global level“. 21 Gottfried Achenwall, Juris naturalis pars posterior, Göttingen 1763, 195–197. Joachim Georg Darjes, Observationes ivris naturalis, socialis et gentium ad ordinem systematis svi selectee, Jena 1751, 39–48. Johann Gottlieb Heineccius [Heinecke], Elementa iuris naturae et gentium, Halle 1738 [Neudruck Venedig 1791; deutsche Fassung u. d. T.: Grundlagen der Natur- und Völkerrechts, Hrsg. von Christoph Bergfeld (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 2), Frankfurt/Main 1994], 30. David Mevius, Nucleus iuris naturalis et gentium, Frankfurt/Main und Leipzig 1686. 22 Emer[ich] de Vattel, Le droit des gen Ou Principes de la loi naturelle appliquées à la conduite et aux affairs des Nations et des Souverains Préliminaires, § 12. London [recte Neuchâtel] 1758, 8 [Paris 21773; Amsterdam 31775; Nouvelle édition, Hrsg. von Silvestre Pinheiro-Ferreira/Jean Pierre Baron de Chambrier d’Oleires/ Paul Louis Ernest Pradier-Fodéré, Philadelphia 1863; Nachdruck der 1. Aufl., Hrsg. von Albert de Lapradelle, Washington 1916; Nachdruck des Nachdrucks, Genf 1983].

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dem Widerstandrecht23 und den Rechten und Pflichten der Beherrschten24 für den binnenstaatlichen Bereich in erster Linie das Diplomatenrecht25 und das allgemeine Gastrecht26 und das 23 Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie. Leipzig 1914 [2. Aufl., Hrsg. von Rudolf Buchner, Münster und Köln 1954]. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, [A. F.] 126), Berlin 1916 [Nachdruck, Aalen 1961]. 24 Samuel von Pufendorf, De jure naturae et gentium, Neudruck, Hrsg. von Frank Böhling (Pufendorf, Gesammelte Werke, Bd. 4, 1), Berlin 1998, 148, 286, 435–443 [zuerst, London 1672]. 25 L. Alt, Handbuch des europäischen Gesandtschafts-Rechtes, Berlin 1870. Christoph Besold [prae ]/Michael Rasch [resp.], Themata juridico-politica de legatis et legationibu, jur. Diss., Tübingen 1622. Cornelis van Bynkershoek, De foro legatorum tam in causa civili quam criminali liber singularis, Leiden 1721 [wieder abgedruckt in: Ders., Opera Minora, Leiden 1730; 2. Aufl. der Opera Minora. Leiden 1744, 427–571, 451–456; Nachdruck dieser Ausg. Oxford 1946]. Heinrich von Cocceji [Koch] [prae]/Friedrich W. von Lüderitz [resp.]. Dissertatio juris gentium publici de legato sancto, non impuni, jur. Diss. Frankfurt/Oder 1699. Ders. [prae ]/Johann Victor Kothe [resp.], Dissertatio juridica inauguralis de legato rei propriae et alienae, jur. Diss. Frankfurt/ Oder 1701 [wieder abgedruckt in: Cocceji, Exercitationum curiosarum, Bd. 1, Lemgo 1722, 473–484]. Hermann Conring [prae ]/Haro Antonius Bolmeier [resp.], Disputatio politica de legati, jur. Diss. Helmstedt 1660. Johann Gryphiander [Johann Griepenkerl] [prae ]/Georg Schubhard [resp.], Velitatio politica de legati, jur. Diss. Jena 1615. Wolfgang Heider [prae ]/Johann Ernst Krosnitzki [resp.], Exercitatio de legationibu, jur. Diss. Jena 1610. Hermann Kirchner, Legatus, Lich 1604 [Marburg 21610; Marburg 31614], Buch II, Kap. 1, 263–358. Reinhard König [prae ]/Johann Eppinger [resp.], Disputatio XI: De legatis et legationibu, phil. Diss. Gießen 1618. Octavianus Magius [Ottaviano Maggi], De legato libri duo, Hanau 1596 [zuerst, Venedig 1566]. Frederik van Marselaer, Κηρυκειον. Sive legationum insignae in duos libros distribuntur, Antwerpen 1626 [zuerst, Antwerpen 1618]. Ders., Legatvs libri dvo ad Philippvm IV. Hispanicvm Regem, Antwerpen 1626 [weitere Aufl., Amsterdam 1644; Antwerpen 1666]. Alexander Miruß, Das europäische Gesandschaftsrecht, Leipzig 1847. Franz Xavier von Moshamm, Europäisches Gesandtschaftsrecht, Landshut 1805. Christian Heinrich von Römer, Versuch einer Einleitung in die rechtlichen, moralischen und politischen Grundsätze über die Gesandtschaften und die ihnen zukommenden Rechte, Gotha 1788. Gerhard von Stökken, De iure legationum, jur. Diss. Altdorf 1657. Gonzalo García de Villadiego, Tractatus de legato [geschrieben 1485], in: Tractatus universi juris, Bd. 13, Venedig 1584 [Spanische Teilausg., Hrsg. von L. García Arias, Doctrina diplomática expuesta por Gonzalo de Villadiego, in: Cuadernos de historia diplomática 3 (1956)]. Krysztof Warszewicki [Christophorus Warsevicius], De legationibus adeundis luculentissima oratio, Lich 1604 [zuerst, Krakau 1595; weitere Ausg., Rostock 1597; Danzig 1646]. Dazu siehe: Linda Frey/Marsha L. Frey, The History of Diplomatic Immunity, Columbus, OH 1999. Alain Wijffels, Le statut juridique des ambassadeurs d’après la doctrine du XVIe siècle, in: Publication du Centre Européen d’Etudes Bouguignonnes 32 (1992), 127–142. 26 Augustin Balthasar, Dissertatio inauguralis juridica de jure peregrinorum, singulari circa processum, Greifswald 1742. Johann Gotthard de Boeckel [Boecklerus], Tractatio synoptica juridica politica materia valde utilis necessaria de jure hospitiorum, Germanice von Gast-Recht. Worinnen alles das …, was zu dieser Materie gehörig, insonderheit vom Recht öffentlicher Gast- und Wirths-Häuser aufzurichten, Quedlinburg 1721 [zuerst, Helmstedt 1677; weitere Ausg., Frankfurt/Main 1727]. Pietro Esperson, Diritto diplomatico e giurisdizione internazionale marittima, Bd. 1, Rom 1872, Bd. 2, Teile 1, 2, Mailand 1874–1877. Ahasver Fritsch [prae ]/ Johann Georg Pertsch [resp.], Tractatus de jure hospitalitati Oder Gast-Recht, Jena 21673. Daniel Gralath [prae ]/Balthasar Jakob Groddeck [resp.], Exercitatio historico-iuridica de privilegio peregrinorum forensic quod Germanice Gastrecht vocatur, Gedani [Danzig] 1780. Carl Heinrich Möller [prae ]/Elias Masco [resp.], Dissertatio juridica de judicio summario peregrinorum, Germanice vom Gast-Recht, Rostock 1733. Ahasver

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Nothilferecht27 im zwischenstaatlichen Bereich. Diese Komplexe von Rechtssätzen waren bis in das frühe 19. Jahrhundert, außer in einigen bilateralen zwischenstaatlichen Verträgen, nicht positiv festgeschrieben. Gleichwohl ist die ausdrückliche Anerkennung des Diplomaten- und Gastrechts seit der Antike,28 diejenige des Nothilferechts spätestens seit dem 16. Jahrhundert29 belegt. Während des 18. Jahrhunderts entspann sich eine breit ausgefächerte, zumeist in juristischen Dissertationen niedergelegte Debatte über die Handhabung dieser Komplexe von Sätzen des ungesetzten Rechts zwischen den Staaten. Diese Debatte gipfelte in Kants Bestimmung der Anerkennung des universalen Gastrechts als eine Bedingung des allgemeinen Friedens in der Welt.30 In diesem Kontext diente die Forderung nach Anerkennung der Universalität des Gastrechts der Abwehr von Ansprüchen aus einem angeblichen Eroberungs- und Okkupationsrecht.31 Diese Debatte zeigt, dass Wolffs Begriff der Konzeption der civitas maxima kein reines Theoriekonstrukt, sondern aus der Empirie der zwischenstaatlichen Beziehungen abgeleitet war. Wolff überwand mit seiner Konzeption den Konflikt zwischen legitimer innerstaatlicher, positiver, auf Personen bezogener herrschaftlicher Rechtssetzungskompetenz und ungesetztem, überstaatlichem, nicht erzwingbarem, einzelne Personen nur bedingt als Subjekte betreffenden Rechtssätzen, indem er Weltgesellschaft als naturrechtlich konstituierte Staatenvereinigung darstellte, die innerstaatliche Gesetzgebung Georg Ostermeyer, Dissertatio inauguralis juridica de judicio in favorem peregrinorum constitution, Kopenhagen 1760. Ladislaus von Stoixner, Das Gastrecht der kurpfalzbaierischen Haupt- und Residenzstadt München, München 1784. Giacomo Filippo Tomasini, De tesseris hospitalitatis liber singularis in quo ius hospitii universum apud veteres potissimum expenditur, Amsterdam 1670 [zuerst, Udine 1647]. Dazu siehe neuerdings: Georg Cavallar, The Rights of Stranger Theories of International Hospitality, the Global Community and Political Justice since Vitoria, Aldershot 2002. Almut Loycke, Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins, Frankfurt/Main 1992. Rudolf Stichweh, Der Fremde, Berlin 2010. 27 Reinhold Curicke, Ius maritimum Hanseaticum, Hamburg 1667. Johann Karl Friedrich Gildemeister, Dissertationis qua disquitur sitne aliquod fueritve ius maritimum universal partem priorem, Göttingen 1803. Johann Gottlieb Heineccius [Heinecke], Scriptorum de iure nautico et maritimo, Halle 1740. Karl XI., König von Schweden, Sveciae Regni jus maritimum, Stockholm 1674. David Mevius, Commentarii in Jus Lubecense [ordinatio nautica], Frankfurt/Main 1744. Joachim Nerger, Ope divina et a magnifico ictorum ordine facta potestate. Dissertationem ad ius maritimum spectantem, Wittenberg 1655. Johann Franz Stypmann, Ius maritimum et nauticum, Halle 1740. Henning Wedderkop, Introductio in ius nauticum, Flensburg 1757 [weitere Ausg. Flensburg 1759]. 28 Herodot, Historiai, Kap. VII/133–136. Innozenz IV., Papst, Ex Innocentii IV registro. Epistolae saceuli XIII e regestis pontificum Romanorum selectae, Hrsg. von Karl Rodenberg, Bd. 3 (Monumenta Germaniae historica, Epistolae, 3), Berlin 1894, 72–73, 75. Güyük, Großkhan der Mongolen, [Schreiben an Papst Innozenz IV., November 1246], in: Christopher Dawson (Hrsg.), Mission to Asia (Medieval Academy Reprints for Teaching 8). Toronto – London – Buffalo 1980, 85–86. 29 Olof G. Lidin, Tanegashima. The Arrival of Europe in Japan (Nordic Institute of Asian Studies Monograph Series 90), Kopenhagen 2002. 30 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden [zuerst, Königsberg 1795], in: Ders., Werke in zwölf Bänden, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 11, Frankfurt/Main 1968, 193–251, 1., 2., 3. Definitivartikel, 204, 206–207, 209, 212–214. Dazu siehe: Cavallar, Rights (wie Anm. 26), 303–389. 31 Francisco de Vitoria, De Indis recenter inventis relectio prior, Buch I, Kap. 24, Hrsg. von Ernest Ny, Washington 1917, 217–268, 258–259. Vattel, Droit (wie Anm. 22), 78–79.

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nicht ausschloss, sondern für den Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen ergänzte. Voraussetzung für diese Konzeption war die inklusionistische Erwartung der globalen Ubiquität legitimer staatlicher Herrschaft. In dieser Erwartung traf sich Wolff mit zeitgleichen Erwartungen in vielen Teilen der Welt, z. B. in Afrika32, Südamerika33, Nordamerika34, Südasien35,

32 Frühe Beispiele: Andreas Joshua Ulsheimer [Ultzheimer], Wahrhafftige Beschreibung ettlicher Raysen, wie dieselbigen Mr. Andreas Ultzheimer vollbracht hat, Hg, v. Sabine Werg, Tübingen 1971, 136–141. Vertrag Frankreich – Madagaskar, 1. April 1775, in: Clive Parry (Hrsg.), The Consolidated Treaty Series [= CTS], Bd. 45, Dobbs Ferry 1969, 49–50. Vertrag Französische Afrikakompanie – Tunis, 24. Juni 1781, in: CTS, Bd. 47, 491–493. Vertrag Frankreich – Joal, 25. März 1785, in: Archives Nationales du Sénégal, 19D1/59; Teildruck in: Isabelle Surun, Une souveraineté a l’encre sympathique? Souveraineté autochtone et appropriations territoriales dans les traits franco-africaines au XIXe siècle, in: Annales 69, Heft 2 (2014), 319–320. Vertrag Monomotapa – Portugal, c. 1629, in: Julio Firmino Judice Biker (Hrsg.), Colleção de tratados, Bd. 1, Lissabon 1880, 234. Dazu siehe: Beatrix Heintze, Der portugiesisch-afrikanische Vasallenvertrag in Angola im 17. Jahrhundert, in: Paideuma 25 (1979), 195–223. 33 Dort belegt für das 17. Jahrhundert: Vertrag Mapuche – Spanien, 6. Januar 1641, in: José de Antonio Abreu Bertodano (Hrsg.), Colección de tratados de paz, alianza, neutralidad, garantia, protección, tregua, mediación, reglamento de limites, comercio, navegación etc., Bd. 3, Madrid 1740, 416 [nicht in Diplomform überliefert zuerst in: Alonso de Ovalle, Histórica relación del reyno de Chile, Lib. VII, Cap. IX, Rom 1646, 309]. 34 Siehe neben anderen: Vertrag Massachusetts Colony – Narragansett, Boston, 22. Oktober 1636, in: The Journal of John Winthrop. 1630–1649. Abridged Edition, Hrsg. von Richard Dunn und Laetitia Yeandle, Cambridge, MA – London 1996, 104–105. Vertrag Frankreich – Irokesen, Quebec, 20. Mai 1666, Paris, Bibliothèque nationale de France, Manuscrits, Collection Baluze, Bd. 196, fol. 72r–77v; Faksimile in: Christophe N. Eick, Indianerverträge im Nouvelle France (Schriften zur Rechtsgeschichte 64) Berlin 1994, 183–197. Vertrag Hottoways/Naneymond/Pamunkey/Waonske – Großbritannien, 29. Mai 1677, in: CTS 14, 257–263. Vertrag Maryland/Virigina – Six Nations [Native Americans], Lancaster, PA, 26. Juni 1744, in: A Treaty Held at the Town of Lancaster in Pennsylvania by the Honourable the Lieutenant-Governor of the Province, and the Honourable the Commissioners for the Provinces of Virginia and Maryland, with the Indians of the Six Nations, in June 1744, Philadelphia 1744; auch Hrsg. von James H. Merrell, The Lancaster Treaty. Boston 2008. Vertrag Seneca – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, Johnsonhall, 3. April 1764, in: CTS, Bd. 42, 499–502. Vertrag Huronen – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, Niagara, 18. Juli 1764, in: Wilhelm Carl Georg Grewe (Hrsg.), Fontes historiae juris gentium, Bd. 2, Berlin – New York 1992, 389–391. Vertrag Six Nations [Cayuga, Mohawk, Onodaga, Oneida, Seneca, Tuscarora = Haudenosaunee = The People of the Longhouse] – Vereinigte Staaten von Amerika, Fort Stanwix, 22. Oktober 1784, in: CTS, Bd. 49, 169; auch in: Barbara Graymont, The Iroquois in the American Revolution, Syracuse 1972, 297–280. Vertrag Cherokee – Vereinigte Staaten von Amerika, Hopewell, 28. November 1785, in: CTS, Bd. 49, 443– 446. Vertrag Choctaw – Vereinigte Staaten von Amerika, Hopewell, 3. Januar 1786, in: CTS, Bd. 49, 451–456. Vertrag Chickasaw – Vereinigte Staaten von Amerika, Hopewell, 10. Januar 1786, in: CTS, Bd. 49, 457–459. 35 Siehe unter vielen: [Vertrag] Edikt des Vizekönigs von Portugal für Indien über eine Übereinkunft mit den Mahrattas, Goa, 16. Januar 1764, in: CTS, Bd. 42, 475–476. [Vertrag] Edikt des Vizekönigs von Portugal für Indien über eine Übereinkunft mit den Mahrattas, Goa, 25. Dezember 1764, in: CTS, Bd. 42, 121–127. Vertrag Mahrattas – Portugal, 14. Oktober 1768, in: CTS, Bd. 44, 217–227. Vertrag Mahrattas – Portugal, 7. April 1712, in: CTS, Bd. 27, 227–229. Vertrag Englische Ostindische Kompanie – Mahrattas, 14. September 1761, in: CTS, Bd. 42, 103–104. Vertrag Kandy – Niederländische Ostindische Kompanie, Colombo, 14. Februar 1766, in: CTS, Bd. 43, 263–269. Vertrag Mahrattas – Portugal, 14. Oktober 1768, in: CTS, Bd. 44, 217–227.

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Südostasien36, Ostasien37 sowie auch für den Südpazifik 38.

III. Das internationale Recht als Hausrecht des europäischen Staatenklubs der „Familie der Nationen“ und der Exklusionismus Die Modalitäten des Theoretisierens über vorgesellschaftliche Zustände verschoben sich in wenigen Jahrzehnten um 1800. Die inklusionistische Erwartung ubiquitärer Staatlichkeit brach in Europa an der Wende zum 19. Jahrhundert unvermittelt ab. An ihre Stelle trat die exklusionistische Behauptung, dass zahlreiche nicht- oder vorstaatliche Gesellungen bestünden, deren vermeintlich niedrige „Stufe“ der Verherrschaftlichung grundlegende Unterschiede zu den in Europa sowie Teilen Nordamerikas bestehenden Staaten aufzuzeigen schien.39 Dieser Behauptung legten zuerst Rechtstheoretiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts 36 Vertrag Niederländische Ostindische Kompanie (VOC) – Solor, 7. September 1618, in: Jan Ernst Heeres (Hrsg.), Corpus diplomaticum Neerlando-Indicum, Deel 1 (Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederlandsch-Indië 87), Den Haag 1931, 138–142. Vertrag Mataram (Java) – Niederländische Ostindische Kompanie (VOC), Februar 1677, in: Jan Ernst Heeres (Hrsg.), Corpus diplomaticum Neerlando-Indicum, Deel 3 (Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederlandsch-Indië 91), Den Haag 1934, 39–47, 74–83. Vertrag Niederländische Ostindische Kompanie – Johor, 10. November 1784, in: CTS, Bd. 49, 177– 186 (niederländische Fassung), 187–196 (französische Fassung). 37 Vertrag China – Russland, Kiachta, 21./27. Oktober 1727, in: CTS, Bd. 33, 25–32. Geändert durch Vertrag vom 18. Oktober 1768, in: CTS, Bd. 44, 229–231; beide Texte auch in: Michael Weiers (Hrsg.), Die Verträge zwischen Russland und China. 1689–1881. Faksimile der 1889 in Sankt Petersburg erschienenen Sammlung mit den Vertragstexten in russischer, lateinischer und französischer sowie chinesischer, manschurischer und mongolischer Sprache (Wehling Reprints, 1), Bonn 1979, 74–83, 84–92 [zuerst u. d. T.: Sbornik dogovonorov Rossi s Kitaem. 1689–1881gg, St Petersburg 1889]. 38 James Cook, The Three Voyages of Captain James Cook, Bd. 4, London 1821, 147 [Mikrofiche-Ausg., Hildesheim 1994–1998]: „I am satisfied that the people in this Sound, who are, upon the whole, pretty numerous, are under no regular form of government, or so united as to form one body politic. The head of each tribe or family seems to be respected, and that respect may, on some occasions, command obedience; but I doubt if any amongst them have either a right or power to enforce it.“ [Cook über Neukaledonien, während seiner zweiten Reise, Oktober 1774]. 39 Christoph Meiners, Historische Bemerkungen über die sogenannten Wilden oder über Jäger- und Fischer-Völker, in: Göttingisches historisches Magazin 6 (1790), 273–311, 274–276: „Wilde Völker müssen nicht mit verwilderten Menschen verwechselt werden, dergleichen ich in dem Aufsatze über den Stand der Natur geschildert habe. Die erstern erheben sich über die letztern durch den Gebrauch künstlicher Waffen und Werkzeuge, wodurch sie sich gegen ihre Feinde vertheidigen und ihre Beute erhaschen können, durch das Zusammenleben mit andern, die sie als Mitglieder desselben Stammes oder Volks und gleichsam als ihre Verwandte ansehen, durch dauernde oder doch nicht gleich nach der Büssung der Lust wieder aufhörende eheliche Verbindungen, durch den Gehorsam gegen beständige oder wenigstens solche Anführer, die man auf eine Zeit lang für bestimmte gemeinschaftliche Unternehmungen freywillig erwählt hat, meistens auch durch eine feste Heimath oder durch den Besitz eines gewissen Bezirks, den man als gemeinschaftliches Eigenthum ansieht, und endlich entweder durch unbewegliche oder durch solche Wohnungen, die man mit eigener Hand bereitet hat. Die wenigsten Be-

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einen Staatsbegriff zugrunde, der am Modell des Nationalstaats orientiert war. Befürworter dieses Begriffs ließen als Staaten nur die ihnen als durchgängig herrschaftlich strukturiert erscheinenden Gesellungen gelten, in denen jeweils eine Bevölkerung mit einer einzigen, politisch relevanten kollektiven Identität in einem klar linear umgrenzten Gebiet unter der Kontrolle einer einzigen Regierung lebte oder leben sollte,40 nahmen mithin die am Ende desselben Jahrhunderts kanonisierte staatstheoretische Lehre von der Elementen-Trias als bestimmendes Merkmal des Staatsbegriffs vorweg41 und klassifizierten alle abweichenden Formen herrschaftlicher Organisation als Nomadismus.42 wohner unsers glücklichen und aufgeklärten Europa denken daran, daß mehr als die Hälfte der Ober-Fläche der Erde noch immer mit rohen Halb-Menschen besetzt ist, die aller Bequemlichkeiten und Freuden des gebildeteren gesellschaftlichen Lebens beraubt sind. Die unermeßlichen Wälder und Sümpfe in dem grösten Theile von America und Sibirien, die neuentdeckten meistens nackten ode unwirthbaren Süd-Länder, grosse Strecken an beyden Küsten und besonders im Innern von Afrika, die nördlichste Spitze von Europa und unzählige Ost-Indische, Afrikanische und Süd-See-Inseln sind mit kleinen Haufen von Wilden übersäet, die sich zum Theil schon glücklich dünken, wenn sie nur nicht in Gefahr zu verhungern sind. Alle dieser wilde Völkerschaften sind von einerley und nur einige derselben von vermischter Abkunft; die edleren Nationen hingegen und besonders die in unserem Erd-Theil sanken entweder nie in den Zustand von Wildheit hinab oder arbeiteten sich vermöge ihrer höheren Anlagen so schnell aus demselben heraus, daß man von keiner derselben den Zeit-Punct angeben kann, wo sie aufgehört hätte, ein rohes Jäger- oder Fischer-Volk zu seyn. Die ältesten nur einigermaassen sicheren Ueberlieferungen zeigen uns die besseren Nationen immer schon als Hirten-Völker und unter manchen war der Ackerbau so lange erfunden, daß auch nicht einmal die fernsten und dunkelsten Sagen die Wohlthäter oder das Jahrhundert erhalten haben, von welchen und in welchem die Arbeiten des Feldes zuerst eingeführt und angefangen worden. Man thut also den Barbaren unseres Erd-Theils auch von dieser Seite Unrecht, wenn man glaubt, daß sie innerhalb des Zeit-Raums der Geschichte und Ueberlieferung den Americanischen Wilden ähnlich gewesen seyen.“ Ebenso bereits: Friedrich Schiller, Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede [Mai 1789], in: Ders., Werke. Nationalausgabe, Bd. 17: Historische Schriften, Teil 1, Hrsg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, 359–376, 364 [zuerst in: Der Teutsche Merkur (November 1789), 105–135; auch in: Ders., Historische Schriften und Erzählungen, Hrsg. von Otto Dann, 2 Bde. (Schiller, Werke und Briefe, Bde. 6.7 = Bibliothek deutscher Klassiker, 171.172), Bd. 6. Frankfurt/Main 2000; Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1 (Fundamenta historica, Bd. 1), Stuttgart 1990, 521–535. 40 Julius Schmelzing, Systematischer Grundriß des praktischen europäischen Völker-Rechtes, Bd. 1, Rudolstadt 1818, § 3, 4–7; 4–5: „Der Staat als politischer Körper bedarf eines physischen Haltpunkt. Ohne Gebiet ist kein Staat denkbar. Daher wird ein umherschweifender Verein von Menschen ohne Grundeigenthum, ohne bestimmtes Gebiet, Horde genannt. Mit dem Worte: Nation bezeichnet man ein Volk, in wieferne sich dasselbe von einem andern durch seine Kultur, Sitten, Lebensweise, physische Eigenthümlichkeiten, geistige Bildung u. w. unterscheidet. Daher die Benennung: Nationalität – Volksthümlichkeit. Durch die Bezeichnung: Staat wird gewöhnlich das schon constituirte Gemeinwesen angedeutet – das Volk – als eine moralische Person – wenn auch repräsentirt durch ein Staatsoberhaupt. Die Begriffe von Nationalität und politischer Konstitution sind in der Bezeichnung: Volk vereint, obgleich dieses Wort sehr oft auch nur allein zur Bezeichnung der sogenannten Volksthümlichkeit gebraucht wird.“ 41 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 31913, 394–395, 406–407, 427 [zuerst, Berlin 1900]. 42 Theodor Anton Heinrich von Schmalz, Das europäische Völkerrecht, Berlin 1817 [Nachdruck, Frankfurt/ Main 1970], 4–5: „Völker-Stämme aber, welche noch nicht Eigenthum am Grundboden erworben haben,

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Damit verengten sie den Geltungsbereich der Wolffschen „civitas maxima“ auf Europa und Nordamerika sowie die dort souveränen christlichen und vermeintlich „zivilisierten“ Staaten.43 Sie wandten sich zugleich scharf gegen die Ableitung des den Staaten übergeordneten Rechts aus dem Naturrecht, sondern postulierten eine spezifische Ideen- und Wertegemeinschaft, aus der dieses Recht allein folgen könne, und ließen nur die im Christentum tradierten Werte als rechtsrelevant gelten. Gegen das Postulat der gegebenen globalen Gültigkeit ungesetzten Rechts zwischen den Staaten vertraten sie die These, dass das über den Staaten stehende Recht nur mit Zustimmung der Regierungen dieser Staaten gültig sein, mithin nur aus positiven Setzungen entstehen könne.44 Für dieses neu konzipierte Recht kam der im Jahr 1789 zuerst belegte Neologismus „international law“ auf.45 Er setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zuerst im englischen, dann auch im spanischen Sprachraum46 durch und – und dies wird, wie alles Eigenthum, nach natürlichem Rechte, nur durch Bearbeitung erworben – können durch ihren Verein zu bürgerlicher Gesellschaft nicht alle Rechte schützen, deren der Mensch fähig ist. Denn sie können, stets in den Wüsten umherschweifend, grade das Eigenthum am Grundboden nicht schützen und gewähren. Und dies Recht, des Ackerbaues Mutter und Tochter zugleich, ist gleichwohl das wichtigste aller erworbenen Rechte der Menschen, weil alle Ausbildung der Menschheit darauf bedingt ist. Darum hat auch unsre Sprache die Vereine der Völker ohne Grundeigenthum durch den Namen der Horden von den Staaten, als Vereine der Völker mit Grundeigenthum unterschieden. Ein Staat kann nicht ohne bestimmtes Gebiet gedacht werden, worin er seiner Mitbürger Freiheit gegen Uebel der Natur oder Bosheit der Menschen schirmet: und darum unterwirft sich jeder, mit dem Schreiten in seine Grenzen, auch nothwendig seinen Gesetzen.“ 43 Henry Wheaton, Elements of International Law, Englische Ausgabe, Hrsg. von Alexander Charles Boyd, London 31889, 46: „The law of nations or international law, as understood among civilized, Christian nations, may be defined as consisting of those rules of conduct which reason deduces, as consonant to justice, from the nature of society existing among independent nations; with such definitions and modifications as may be established by general consent.“ 44 Wheaton (wie Anm. 43), Hrsg. von William Beach Lawrence, Boston und London 21863, 20–22: „This community of ideas, founded upon common origin and religious faith, constitutes international law as we see it existing among the Christian States of Europe, a law which was not unknown to the people of antiquity, and which we find among the Romans under the name ius fetiale. International law may therefore be considered as a positive law, but as an imperfect positive law (eine unvollendete Rechtsbildung) both on account of the indeterminateness of its precepts, and because it lacks that solid basis on which rests the positive law of every particular nation, the political power of the State and a judicial authority competent to enforce the law. The progress of civilization, founded on Christianity, has gradually conducted us to observe a law analogous to this in our intercourse with all the nations of the globe, whatever may be their religious faith, and without reciprocity on their part.“ [hier Zitat aus: Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, Buch I, Kap. 2, § 11]. „It may be remarked, in confirmation of this view, that the more recent intercourse between the Christian nations of Europe and America and the Mohammedan and Pagan nations of Asia and Africa indicates a disposition, on the part of the latter, to renounce their particular international usages and adopt those of Christendom.“ 45 Jeremy Bentham, Principles of International Law [1786–1789], in: The Works of Jeremy Bentham, Hrsg. von John Bowring, Bd. 2, London 1838, 535–560 [Nachdruck, New York 1962]. 46 Andres Bello, Principios de derecho de jentes, Santiago de Chile 1832, § 1, 1: „El derecho internacional o de jentes es la colección de las laeyes o reglas generales de conducta que las naciones deben oberservar entre sì para su seguridad y bienstar comun.“

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fand hernach auch im französischen47 und deutschen48 Sprachraum Anwendung. Die Gültigkeit dieses internationalen Rechts war definitionsgemäß auf Europa und die postkolonialen Staaten in Amerika beschränkt und schloss folglich die Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Für die Staaten, deren Regierungen sich diesem internationalen Recht unterstellt zu haben schienen, kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung „Familie der Nationen“ auf.49 Nach Ende des ersten Weltkriegs traten an deren Stelle die aus der Wolffschen Terminologie abgeleiteten Formeln „Société des Nations“, „League of Nations“ und „Völkerbund“ für die in Kraft gesetzte globale internationale Organisation, deren Satzung den Bezeichnungen „Société des Nations“ und „League of Nations“ Rechtsgültigkeit verlieh. Trotz satzungsgemäß globaler Reichweite schloss der Völkerbund, wie die „Familie der Nationen“, die meisten unter Kolonialherrschaft stehenden Gebiete und deren Bewohner von der Möglichkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft aus.50 Das internationale Recht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war also das Hausrecht eines exklusionistisch organisierten Staatenklubs und darin auch Instrument der Legitimation von Kolonialherrschaft über alle Staaten und Bevölkerungsgruppen, denen Rechtstheorie und Herrschaftspraxis die Anerkennung als „Zivilisierte“ verweigerten. Das geschah, trotz hunderter, als gültig anerkannter, in der Regel unbefristet ausgefertigter zwischenstaatlicher Verträge, die Regierungen in Europa und den USA mit Regierungen von Staaten in Afrika, West-, Süd- und Südostasien sowie dem Südpazifik abgeschlossen hatten,51 und es geschah dadurch, dass europäische Regierungen und die US-Regierung den Bevölkerungen ihrer Vertragspartner den Status von Residenten verweigerten und unter Vorenthaltung des Nationalstaatsbegriffs ihnen die Fähigkeit zu legitimem autonomen Handeln unter internationalem Recht aberkannten.52 Auf diesem Weg wurden Staaten, die kraft bestehender Verträge 47 Ernest Nys, Etudes de droit international et de droit publique, Bd. 1, Brüssel – Paris 1896. 48 Alphonse Pierre Octave Rivier, Die geschichtliche Entwicklung der internationalen Rechts- und Staatenbeziehungen seit dem Westphälischen Frieden, in: Ders., Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, Berlin – Hamburg 1885, 393–523. August Michael von Bulmerincq, Das Völkerrecht oder das internationale Recht, Freiburg 2 1889. 49 Vertrag Frankreich – Russland – Sardinien – Türkei – Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland, Paris, 30. März 1856, in: CTS, Bd. 114, 410–420. Lassa Francis Lawrence Oppenheim, International Law, Bd. 1, London und New York 1905; Bd. 2, London und New York 1906, Bd. 1, § 7, 12, mit der falschen Behauptung: „For many hundreds of years this community has been called ‘Family of Nations’ or ‘Society of Nations’.“ 50 Als Gründungsmitglieder waren auf Drängen der britischen Regierung aufgenommen: Australien, Britisch Indien, Kanada und Neuseeland, obgleich diese bei Errichtung des Völkerbunds Teil des British Empire waren. Das britische Völkerbundmandat Irak wurde 1932, Ägypten 1937 Mitglied. 51 Eine Zusammenstellung eines Teils dieses Vertragskorpus, das im britischen Foreign Office vorlag, legte vor: Edward Hertslet, The Map of Africa by Treaty, London 31909, mit Auszügen aus 392 Verträgen. 52 Bulmerincq, Völkerrecht (wie Anm. 48), § 26, 206: „Die Anknüpfung eines Verkehrs durch einen außerhalb der internationalen Rechtsgemeinschaft stehenden Staat mit einem oder mehreren Staaten derselben ergibt sich nicht aus einem Recht des anknüpfenden Staates, denn kein Staat hat, ohne Glied der internationalen

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als Souveräne bestanden, zu sogenannten „Protektoraten“ mit vermeintlich „herrenloser Souveränität“ degradiert und der künftigen Annexion durch europäische und die US-Regierungen freigegeben.53 Die Begrenzung der Wolffschen „civitas maxima“ auf einen vom Exklusionismus geprägten Staatenklub führte also zur Anbindung des Gesellschaftsbegriffs an eine Institution, deren Entscheidungen aufgrund positiver Satzung global wirksam sein sollten,54 die gleichwohl nur einer Minderheit der Weltbevölkerung Partizipationsrechte einräumte. Weltgesellschaft war also im 19. und frühen 20. Jahrhundert, gerade wegen der Anbindung an positives Recht und internationale öffentliche Organisationen, ein umkämpfter Begriff, nicht nur unter den von der Mitwirkung ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen, sondern auch unter den zahlreichen Kritikern des Völkerbunds in Europa. Die Reaktionäre unter letzteren bissen sich an den Unterschieden der einzelsprachlichen Bezeichnungen für diese Institution fest. Im deutschen Sprachraum reihten während der 1920er Jahre Kritiker, auf Grund des Namens, aber gegen den Wortlaut der Satzung, den Völkerbund in die Gruppe der angeblich „bündischen“ Gesellungsformen ein und behaupteten, der Völkerbund sei, gemessen an der damals akzeptierten soziologischen Definition des Bunds,55 kein echter

Rechtsgemeinschaft zu sein, ein Forderungsrecht auf Verkehr mit anderen Staaten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß der von einem außerhalb der internationalen Rechtsgemeinschaft stehenden Staat begehrte Verkehr nicht acceptirt wird. Ein internationaler Verkehr ist durch gewisse Voraussetzungen, besonders durch eine höhere Kulturstufe, die Fähigkeit zum und die Zuverlässigkeit im internationalen Verkehr bedingt. Der gewährte Verkehr hat aber nicht den Eintritt in die internationale Rechtsgemeinschaft zur Folge, d. h. den Genuß sämtlicher Berechtigungen und die Uebernahme der Verpflichtungen der Gemeinschaft.“ John Westlake, Chapters on the Principles of International Law, Cambridge 1894 [wieder abgedruckt in: Ders., The Collected Papers on Public International Law, Hrsg. von Lassa Francis Lawrence Oppenheim, Cambridge 1914, 1–282], 137–140 (der Originalausgabe): „The Position of Uncivilized Natives with Regard to International Law“. 53 Oppenheim, Law (wie Anm. 49), § 94, 139–140: „Outside Europe there are numerous States under the protectorate of European States, but all of them are non-Christian States of such a civilization as would not admit them as full members of the Family of Nations, apart from the protectorate under which they are now. And it may therefore be questioned whether they have any real position within the Family of Nations at all. As the protectorate over them is recognized by third States, the latter are legally prevented from exercising any political influence in these protected States, and, failing special treaty rights, they have no right to interfere if the protecting State annexes the protected State and makes it a mere colony of its own, as, for instance, France did with Madagascar in 1896. Protectorates of this kind are actually nothing else than the first step to annexation.“ Dazu siehe: Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 26), Stuttgart 1984, 305–306. 54 Otfried Nippold, Einleitung [geschrieben 1917], in: Christian Wolff, Jus gentium methodo scientifica pertractatum. Nachdruck, Hrsg. von Otfried Nippold, Bd. 1, Oxford 1934, XIII–LVI, XL: „Wir wollen die Bedeutung naturrechtlicher Anschauungen keineswegs verkennen. Sie weisen der Menschheit den Weg des Fortschritts. Für die Völkerrechtspolitik können naturrechtliche Deduktionen jederzeit von größtem Werte bleiben. Nichtsdestoweniger will aber das Naturrecht vom positiven Rechte scharf geschieden werden; denn es ist kein geltendes Recht, sondern Rechtsphilosophie.“ Cornelis van Vollenhoven, The Three Stages in the Evolution of the Law of Nations, Den Haag 1919. 55 Schmalenbach, Kategorie (wie Anm. 1).

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„Bund“ unter Gleichen, sondern ein illegitimes Herrschaftsinstrument.56 Eine kleine Gruppe progressiver Kritiker hingegen legte die Begrenztheit des der „Familie der Nationen“ und dem Völkerbund zugrunde liegenden Rechts offen und forderte gegen dieses exklusionistische Recht ein zusätzliches, ungesetztes sowie ungesatztes und globales „Weltrecht“57 für eine „international society“ mit globaler Mitgliedschaft.58 Nur die kleine Minderheit dieser Theoretiker postulierte also in dieser Zeitspanne Weltgesellschaft als nicht-institutionelle, inklusionistisch konzipierte, im Naturrecht gründende Vereinigung im Sinn Wolffs. Das positive internationale Recht jedoch war ungeeignet als Legitimationsgrundlage für Weltgesellschaft als globale Institution.

IV. Dekolonisation, Staatensukzession und das internationale Recht Der dem Völkerbund zugrunde liegende Exklusionismus ging zunächst auf die Vereinten Nationen über. Diese fanden sich erst sekundär, d. h. seit der Resolution Nr. 1514 der Generalversammlung von 1960,59 zu einer, auch dann noch implizit bleibenden, Forderung nach Aufhebung der Kolonialherrschaft und der Globalisierung der Mitgliedschaft durch Aufnahme postkolonialer Staaten in Afrika, Westasien und dem Südpazifik bereit. Primär enthielt und enthält die Charta der Vereinten Nationen eine große Zahl von Artikeln, die die 56 Carl Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes (Völkerrechtsfragen, 18), Berlin 1926, 21. 57 Ernst von Beling, Vom Positivismus zum Naturrecht und zurück, in: Heinrich Stoll (Hrsg.), Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin, Arthur Benno Schmidt (Archiv für civilistische Praxis, Beilageheft 133 = N. F. 13), Tübingen 1931, 1–18. Joseph Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (Das Völkerrecht, 1.2), Freiburg 1918. Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911, 282–283 [Nachdruck, Aalen 1970]. 58 Frederick Charles Hicks, The New World Order. International Organization, International Law, International Cooperation, New York 1920, 13: „What then justifies the statement that there already was and still is a Society of Nations distinct from the League? First, that there is a generally accepted body of international law; second, that there is a well-organized official means of intercourse for the ordinary relations of states, viz., the diplomatic service; third, that there is a well-tried means of settling certain classes of differences without recourse to war, viz., arbitration and commissions of inquiry; and fourth, there are rules for the conduct of war.“; Bde.: „As a Society, it has been most successful in carrying on intercourse during peace. Its chief weakness lies in the fact that nothing but self-interest can, under the theory of absolute sovereignty, restrain a powerful state from declaring war. And war, once begun, removes most of the value of the Society.“ 59 Vereinte Nationen, Generalversammlung: Resolution 1514 vom 14.12.1960 [http://www.un.ga.org/en/ga/ search/view_doc.sap?=A/RES/1514, abgerufen 11. 8. 2014]: „Solemnly proclaims the necessity of bringing to a speedy and unconditional end colonialism in all its forms and manifestation And to this end Declares that: 1. The subjection of peoples to alien subjugation, dominion and exploitation constitutes a denial of fundamental human rights, is contrary to the Charter of the United Nations and is an impediment to the promotion of world peace and co-operation.“; Art. 1: „The subjection of peoples to alien subjugation, domination and exploitation constitutes a denial of fundamental human rights, is contrary to the Charter of the United Nations and is an impediment to the promotion of world peace and cooperation.“; Art. 5: immediate measures are to be taken, “to transfer all power to the peoples” of Trust, non-self-governing and other territories.

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Regelungen nach Artikel XXII der Völkerbundsatzung in Bestimmungen für sogenannte „Treuhandgebiete“ unter mittelbarer Verwaltung der Vereinten Nationen überführten. Die Vereinten Nationen waren also zunächst, genauso wie der Völkerbund, Legitimationsinstanz für Kolonialherrschaft, die unter der beschönigenden Bezeichnung der „Treuhandschaft“ weiterhin nistete. Gleichwohl ist zuzugestehen, dass die Vereinten Nationen schnell jeden neuen Staat aufnahmen, der aus kolonialen Herrschaftszonen entstanden war und durch Gnadenakte der sich zurückziehenden kolonialen Herrschaftsträger „Unabhängigkeit“ erlangte. Dennoch kam keine Anbindung der Vereinten Nationen an einen Begriff von Weltgesellschaft zustande, ja, sie war nicht einmal gewünscht. Für die Dissoziation von Weltgesellschaft von dem Prozess der Globalisierung der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen war neben deren Selbstverständnis als Staatenklub und Option für das positive internationale Recht als Handlungsbasis in erster Linie das von den kolonialen Herrschaftsträgern durchgesetzte Verfahren der Dekolonisation ursächlich, das die Vereinten Nationen retrospektiv durch die 1978 verabschiedete und 1996 in Kraft gesetzte Wiener Konvention über die Staatennachfolge mit Bezug auf Verträge legitimierte.60 Dieses Verfahren trug in den Bevölkerungen mindestens einiger postkolonialer Staaten zu einer weiteren Steigerung der Skepsis gegenüber dem internationalen Recht bei. Denn die kolonialen Herrschaftsträger optierten ohne Ausnahme seit Ende des Zweiten Weltkriegs für ein Dekolonisationsverfahren, demzufolge neue, postkoloniale Staaten aus kolonialen Herrschaftszonen durch „Vererbung“ aus den dort bestehenden Verwaltungs-, Gerichts- und Militärinstitutionen übergeleitet werden sollten. Dekolonisation war mithin identisch mit der Devolution kolonialer Herrschaftsinstitutionen in postkoloniale Staaten. Dabei wurden nicht nur Versatzstücke kolonialer Herrschaft erhalten, sondern es wurde auch übersehen, dass in den meisten kolonialen Herrschaftszonen Staaten einbeschlossen waren, die nicht nur aus vorkolonialer Zeit erhalten geblieben, sondern durch Abkommen nach dem europäischen internationalen öffentlichen Recht der zwischenstaatlichen Verträge mit den Trägern kolonialer Herrschaft verbunden waren. Nach diesem Recht konnten derlei Abkommen nur zwischen Staaten geschlossen werden, die wechselseitig als rechtsfähig, souverän und als Subjekte internationalen Rechts anerkannt waren.61 Da zudem die meisten dieser Verträge ohne Befristung ausgefertigt worden waren, konnten, ja mussten sie als fortdauernd gültig anerkannt werden, solange die Vertragsparteien nicht übereinkamen, sie aufzulösen oder durch andere Abkommen zu ersetzen. Auch in diesen Fällen wäre die wechselseitige Anerkennung der Subjektivität der Vertragsparteien nach internationalem Recht vorauszusetzen gewesen, mithin das genaue Gegenteil derjenigen Strategie der einseitigen Aberkennung von Subjektivität sowie mit60 Vienna Convention on Succession of States in Respect of Treaties, 23. 8. 1978, in: Andreas Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 141), Berlin – Tokio 2000, 866–889. 61 Wheaton, Elements (wie Anm. 43), Ausgabe von Boyd 1889, § 14, 22.

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unter auch Souveränität und Staatlichkeit, wie sie die europäische Seite als Ideologie der Kolonialherrschaft propagierte. Gleichwohl waren auch die europäischen Träger von Kolonialherrschaft gezwungen, mindestens diejenigen Verträge anzuerkennen, die die Grundlage eben ihrer Kolonialherrschaft, in der Regel durch Aufgabe des Rechts auf Außenbeziehungen durch die Opfer, abgaben. Es war und ist folglich nicht möglich zu behaupten, dass die vorkolonialen Staaten bereits im Vollzug der Errichtung von Kolonialherrschaft untergegangen seien.62 Im Gegenteil gilt nach wie vor: „local sovereignties did exist, but the imperial Powers interpreted the concept of a State in accordance with their own juridical criteria and their own canons.“63 Aus diesem Befund ergab sich in der Sicht der Regierungen einiger präkolonialer Staaten das Ziel der Dekolonisation als Verfahren zur Restitution der uneingeschränkten Rechtssubjektivität präkolonialer Staaten durch Annullierung der bestehenden, Kolonialherrschaft errichtenden Verträge.64 Da jedoch in den Dekolonisationsverfahren diese Forderungen in der Regel keine Berücksichtigung fanden,65 ergaben sich Konflikte zwischen den Zielsetzungen der Kolonialregierungen und der Regierungen derjenigen vorkolonialen Staaten, die mit ihren Herrschaftsinstitutionen durch die Kolonialzeit hindurch fortbestanden hatten. Da in diesen Konflikten die Regierungen der vorkolonialen Staaten ihre Dekolonisationsziele in der Regel nicht erreichen konnten, sondern die von ihnen bekämpften kolonialen Zonen in neue Staaten übergeleitet wurden, war die „Unabhängigkeit“ dieser neuen Staaten identisch mit der Zerstörung nicht nur der Souveränität, sondern oft auch der Staatlichkeit der vorkolonialen Staaten.66 Die Wahl dieses Dekolonisationsverfahrens zog also nicht nur die Schwäche der Legitimität der postkolonialen Staaten nach sich, da die Regierungen dieser Staaten 62 Franz von Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch des Völkerrechts auf Grundlage europäischer Staatenpraxis, Bd. 2. Berlin – Hamburg 1887, 98–117, 256–267: über die sogenannte „herrenlose Souveränität“. Dieselbe Behauptung war noch die Grundlage der Urteils des International Court of Justice, der im Jahr 2002 im Streit um die Hoheit über die Halbinsel Bakassi zwischen Kamerun und Nigeria entschied, der Transfer der Herrschaftsrechte von der britischen auf die deutsche Kolonialregierung sei rechtmäßig gewesen, da der dortige vorkoloniale Staat Opobo zum Zeitpunkt des Transfers im Jahr 1913 kein Souverän mehr gewesen sei. Siehe: Case Concerning the Land and Maritime Boundary between Cameroon and Nigeria, in: ICJ Report 2002, § 207, 103. Dazu siehe: Matthew C. R. Craven, Introduction. International Law and Its Histories, in: ders./Malgosia Fitzmaurice/Maria Vogiatzi (Hrsg.), Time, History and International Law, Leiden und Boston 2007, 1–25, 19–20. 63 Mohammed Bedjaoui, Second Report on Succession in Respect of Rights and Duties Resulting from Sources Other than Treaties, in: Yearbook of the International Law Commission (1969, Teil II), 69–100, 88. So auch: Yilma Makonnen, State Succession in Africa. Selected Problems, in: Recueil des cours 200 (1986, Teil V), 93–234, 118. 64 So z. B. nachgewiesen für Buganda: Buganda: Boycott and the Uganda National Movement, 1959; The Lukiiko Memorandum, 1960, in: Donald Anthony Low (Hrsg.), The Mind of Buganda. London 1971, 195–210. 65 In Afrika wurden nur die Staaten Burundi, Ruanda, Lesotho und Swaziland restituiert, in Madagaskar entstand ein neuer Staat auf dem Territorium des vorkolonialen Staates. 66 So etwa die Insel Bonny im Niger-Delta, die seit dem 19. Jahrhundert ein souveräner, durch zwischenstaatliche Verträge anerkannter Staat, nach der „Unabhängigkeit“ Nigerias im Jahr 1960 jedoch auf eine Gebiets-

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in die kolonialen Institutionen eintreten mussten, sich zur Fortführung der engen Bindungen an die sich zurückziehenden Träger von Kolonialherrschaft zu verpflichten und die Regierungen der vorkolonialen Staaten in Abhängigkeit zu halten hatten. Hinzu kamen noch Vorbehalte gegenüber dem internationalen Recht, das in der Sicht der Regierungen der vorkolonialen Staaten nicht nur der Legitimation der Errichtung von Kolonialherrschaft gedient hatte, sondern nunmehr auch zur Rechtfertigung des gewählten Dekolonisationsverfahrens zum Nachteil eben dieser Regierungen herangezogen wurde.67 Es ist also nicht möglich, dasjenige internationale Recht, das als positives Recht unter der Ägide des Völkerbunds und der Vereinten Nationen als internationalen öffentlichen Organisationen fortentwickelt wurde und dadurch ipso facto globale Gültigkeit erhalten hat, als Recht einer Weltgesellschaft zu positionieren, nicht einmal einer Weltgesellschaft im Werden. Genau dies ist aber seit den 1970er Jahren wiederholt geschehen. So hat die sogenannte Englische Schule eine Theorie der internationalen Beziehungen propagiert, die vom Bestehen einer sogenannten „international society“ ausgeht, jedoch anders als die progressiven Völkerbundkritiker der 1920er Jahre das internationale Recht als Hausrecht eben dieser „society“ ausgegeben. Dabei hat sie jedoch einfach die kolonialistische „Familie der Nationen“ als Theoriekonzept fortgeschrieben.68 Auch der revisionistische Versuch, neben die „international society“ als Institution eine „world society“ als nicht-institutionelles Instrument der Legitimation staatlicher Souveränität zu stellen, in Analogie zu Wolffs „civitas maxima“, aber ohne Bezug auf sie,69 konnte das Problem des kolonialen Erbes in dieser Theorie nicht lösen. Denn auch das Konstrukt der „world society“ berücksichtigt weder die Souveränität der vorkolonialen Staaten noch deren Zerstörung im Vollzug der Dekolonisation. Mangelnde Berücksichtigung der Folgen von Kolonialherrschaft und Dekolonisationsverfahren kennzeichnet auch die Forschergruppe um John Meyer an der Stanford University, die seit den 1980er Jahren die zunächst als „World-State System“ und als „World Polity“ bezeichnete Weltgesellschaft einer empirischen Analyse unterzogen und in Abweichung von der Theorie der sozialen Systeme Staaten als Bestandteile der Weltgesellschaft untersucht körperschaft reduziert wurde. Zu diesen Verträgen siehe: Gwylim Iwan Jones, The Trading States of the Oil Rivers, London 1963, 112–121. 67 Arnold Duncan McNair, The Law of Treaties, London 1961, 648–650. Daniel Patrick O’Connell, Independence and Succession to Treaties, in: British Yearbook of International Law 38 (1962), 84–180, 109. Ders., State Succession in Municipal and International Law, 2 Bde (Cambridge Studies in International and Comparative Law 7), Cambridge 1967, Bd. 1, 58–88. 68 Hedley Bull, The Anarchical Society, London 1977, 122–155. Ders., The Emergence of a Universal International Society, in: Ders./Adam Watson (Hrsg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984, 117–126. Dazu siehe kritisch: Harald Kleinschmidt, The So-Called ‘English School’ in International Relations, Its Concept of ‘International Society’ and the Legacy of Colonial Rule, in: Tsukuba Hōsei 61 (2014), 141–162. Ders., Decolonisation, State Succession, and a Formal Problem of International Public Law, in: German Yearbook of International Law 58 (2015) [erschienen 2016], 265–316. 69 Barry Gordon Buzan, From International to World Society. English School Theory and the Social Structure of Globalisation (Cambridge Studies in International Relations 95), Cambridge 2004, 10, 77–87, 91–98.

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hat. Damit erhob sie den Begriff der Weltgesellschaft zu einem Oberbegriff, der auch das internationale System sowie die souveränen Staaten als dessen Bestandteile umschließen sollte. Die Forschergruppe vertritt die optimistische Meinung, dass die von ihr konzipierte Weltgesellschaft zwar nicht Staaten legitimiere, dass sich aber die von der Forschergruppe betrachteten „Nationalstaaten unter sehr wenig Zwang und Kontrollen von außen standardisierte Identitäten und Strukturen zueigen machen“. In der Tradition der struktural-funktionalistischen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie betrachtet die Forschergruppe sowohl die Weltgesellschaft als auch Staaten, die sie generalisierend und ohne die Zulassung von Unterschieden als „Nationalstaaten“ bezeichnet, als handelnde Akteure, die hier sogar wie Personen mit „Identitäten“ ausgestattet sein sollen (die Spezifizierung dieser Identitäten als auf Kollektive bezogene Merkmale fehlt), modelliert Weltgesellschaft mithin nach dem lebenden Körper. In der Formulierung ihrer optimistischen Meinung über die angeblich zwangsarme identitätsbildende Rolle der Weltgesellschaft übersieht sie den von der postkolonialistischen Theorie aufgedeckten, beträchtlichen und äußerst schmerzhaften politischen Zwang, der mit dem Oktroi der erst während der Kolonialherrschaft entstandenen, nichttraditionalen kollektiven Identitäten für die betroffenen Bevölkerungsgruppen verbunden war. Die Forschergruppe und deren Anhänger verkennen zwar nicht, dass diese Identitäten von europäischen Werten geprägt sind, bestimmen Kultur als Medium der Transmission dieser Werte und benennen Intellektuelle und andere Kommunikateure als Transporteure. Aber sie präsentieren das globale Oktroi der Wahrnehmungen von Weltgesellschaft europäischen Ursprungs als einen selbstverständlichen einseitigen, vermeintlich rationalen und sogar wertfreien Vorgang, der scheinbar weder rechtlicher noch moralischer Rechtfertigung aus der Sicht derjenigen bedürfe, die Opfer dieses Vorgangs wurden. Demnach gehören auch die Erwartungen der Stanford-Gruppe genauso wie Postulate der sogenannte Englischen Schule in den Bereich des „Diskurses des Nordens“, der sich freilich nicht nur als ein dem globalen Süden fremdes Forschungsparadigma konstituiert, sondern hauptsächlich zur Erblast des Kolonialismus gehört.70 70 John W. Meyer, Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat, in: Ders., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/Main 2003, 85–132, hier 131 [zuerst in: American Journal of Sociology 103 (1997), 144–181]. George M. Thomas/John W. Meyer, Regime Changes and State Power in an Intensifying World-State-System, in: Albert Bergesen (Hrsg.), Studies in the Modern World System, New York 1980, 139–158, hier 140, 142. John W. Meyer, The World Polity and the Authority of the Nation State, in: Ders., George M. Thomas/Francisco O. Ramirez/John Boli (Hrsg.), Institutional Structure. Constituting State, Society and the Individual, Newbury Park 1987, 41–70. George M. Thomas, Differentiation, Rationalization and Actorhood in New Systems and World Culture Theories, in: Mathias Albert/Lars-Erik Cederman/Alexander Wendt (Hrsg.), New Systems Theories of World Politics, Basingstoke – New York 2010, 220–248, hier 232–238. Zur postkolonialen Theorie siehe: Adiele Eberechukwu Afigbo, The Background to the Southern Nigeria Education Code of 1903, in: Journal of the Historical Society of Nigeria 4 (1968), 197–225 [wieder abgedruckt in: Ders., Nigerian History, Politics and Affairs, Hrsg. von Toyin Falola, Trenton – Asmara 2005, 611–640]. Ders., Oral Tradition and the Political Process in Pre-Colonial Nigeria, in: Nigerian Heritage 11 (2002), 11–25. Ders., Anthropology and Colonial Administration in South-Eastern Nigeria. 1891–1939, in:

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V. Das Recht der Weltgesellschaft? Ich möchte schließen mit dem Versuch, die aufgezählten Begriffe und Bezeichnungen von „civitas maxima“, Weltgesellschaft, Weltstaat, „international society“, „world society“, „world polity“ und globale internationale öffentliche Organisationen mit Blick auf die Möglichkeit der Unterstellung unter das Recht zu ordnen. Globale öffentliche internationale Organisationen sind ex definitione mit dem internationalen Recht verknüpft, setzen dieses und entwickeln es. Sie sind jedoch bis heute als Staatenklubs Produkte der Globalisierung der kolonialistischen „Familie der Nationen“ des 19. Jahrhunderts71 und damit angreifbar.72 „International society“ ist hauptsächlich ein analytischer Begriff, auch wenn dieser mitunter zu den „aspects of international reality“ gezählt worden ist.73 Er ist geprägt auf der Grundlage der „Familie der Nationen“, umfasst globale internationale öffentliche Organisationen ebenso wie institutionalisierte Verfahren von Rechtssetzung, Kriegführung, Diplomatie und die mindestens vorgebliche Aufrechthaltung eines Mächtegleichgewichts.74 Weltstaat ist die Bezeichnung des Projekts einer Herrschaftsinstitution, die die Welt als ganze einem System von Rechtssätzen unterstellen soll, das nicht international-, sondern staatsrechtlich bestimmt ist.75 „World society“ und „world polity“ sind teilidentische postkolonialistische Mittel, die Staaten und deren Bewohner globalen Werten, Zielen und Handlungsmodi zu unterwerfen. Die „civitas maxima“ ist ein präkolonialistischer, nicht-institutioneller globaler Mechanismus der überstaatlichen Legitimation der Souveränität von Staaten und für die Bereitstellung der Möglichkeit zwischenstaatlichen Rechts.76 „World society“ und „world polity“ sind aber, anders als ihre präkoDers., Nigerian History (wie oben), 343–360. Ders., The Diplomacy of Small-Scale State. A Case Study from Southeastern Nigeria, in: Ders., Nigerian History (wie oben), 145–156. Gayatri Chakravorty Spivak, The Post-Colonial Critic, in: Dies., The Post-Colonial Critic, Hrsg. v. Sarah Harasym, London – New York 1990, 67–74, hier 72–73. Dies., A Critique of Postcolonial Reasoning, Cambridge – London 1999. Zum „Diskurs des Nordens“ siehe: Veronika Wittmann, Weltgesellschaft. Rekonstruktion eines wissenschaftlichen Diskurses (Schriftenreihe Studien zur politischen Soziologie 27), Baden-Baden 2014, 44–48, die den „Diskurs des Nordens“ als Forschungsparadigma bestimmt. 71 So schon: Lassa Francis Lawrence Oppenheim, The League of Nations and its Problems, London 1919. 72 Samir Amin, Apartheid global. Der neue Imperialismus und der globale Süden, in: Stephan Albrecht (Hrsg.), Einstein weiterdenken. Thinking Beyond Einstein, Frankfurt/Main 2006, 423–430. 73 Buzan, Society (wie Anm. 69), 10. 74 Bull, Society (wie Anm. 68), 97–193. 75 Dazu siehe: Martin List/Bernhard Zangl, Verrechtlichung internationaler Politik, in: Gunther Hellmann/Klaus Wolf/Michael Zürn (Hrsg.), Die neuen internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2003, 361–399. Andreas Zimmermann, Einsteins Idee der Weltregierung und die Praxis der Weltorganisation, in: Stephan Albrecht (Hrsg.), Einstein weiterdenken. Thinking Beyond Einstein, Frankfurt/Main 2006, 385–400. 76 Ich übergehe andere Theorien, die der Analyse globaler Interaktionen und Interdependenzen dienen sollen, wie etwa die Theorie des „Welt-Systems“ oder die Theorie der langen Zyklen der Weltpolitik. Denn diese Theorien schließen normative Aspekte globaler Interaktionen und Interdependenzen aus ihrem Geltungsrahmen aus. Siehe: Immanuel Maurice Wallerstein, The Modern World-System, Bd. 1: Capitalist Agriculture and the Origin of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York, San Francisco – London 1974,

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loniale Vorgängerin, wegen mangelnder Gründung in naturrechtlichen Universalien nicht vom „Diskurs des Nordens“ isolierbar und mit europäischen kulturellen Werten konnotiert. Wie fügt sich nun Weltgesellschaft in diese Gruppe von Begriffen und Bezeichnungen ein? Angesichts des Mangels an Möglichkeit, Weltgesellschaft in allgemeinen, universalen Kategorien des positiven Rechts bestimmen zu können, sie entweder mit dem Projekt eines Weltstaats gleichsetzen oder in das Korsett der Hierarchie biologistisch konzipierter sozialer Systeme pressen zu müssen, ist die rechtliche Konstituierung von Weltgesellschaft nur möglich, solange diese als nicht-staatsbezogene Gesellungsform positioniert und ihr Tätigkeitsbereich ungesetztem Recht unterworfen wird. Anders gesagt: Weltgesellschaft kann nicht wie ein „funktionaler“ Oberbegriff für den Weltstaatenklub und allerei Komplexe als global ausgegebener Interaktionsweisen in Politik, Wirtschaft und Kultur konzipiert werden,77 sondern nur 15. Ders., World System versus World-Systems, in: Andre Gunder Frank/Barry K. Gills (Hrsg.), The World System. Five Hundred Years or Five Thousand?, London – New York 1993, 292–298. Ders., The Rise and Future Demise of the World Capitalist System, in: Comparative Studies in Society and History 16 (1974), Heft 2, 387–415. Ders., The States in the Institutional Vortex of the Capitalist World Economy, in: International Social Science Journal 32 (1980), Heft 4, 743–751. Ders., World-Systems Analysis: Theoretical and Interpretative Issues, in: Ders./Terence K. Hopkins/Robert L. Bach/Christopher Chase-Dunn/Ramkrishna Mukherjee (Hrsg.), World-Systems Analysis, Beverly Hills, London – New Delhi 1982, 91–103. Ders., World-Systems Analysis, in: Anthony Giddens/Jonathan Turner (Hrsg.), Social Theory Today, Cambridge und Stanford 1987, 309–324. Ders., Culture as the Ideological Battleground of the Modern World-System, in: Ders., Geopolitics and Geoculture, Essays on the Changing World-System, Cambridge 1991, 158–183 [zuerst in: Hitotsubashi Journal of Social Studies 21 (1989); wieder abgedruckt in: Mark Featherstone (Hrsg.), Global Culture, London 1990]. Ders., The Modern World-System, Bd. 4: Centrist Liberalism Triumphant. 1789–1914, Berkeley, Los Angeles – London 2011, 219–273. George Modelski, Long Cycles in World Politics, Basingstoke 1987. William A. Thompson, On Global War, Columbia, SC 1988, 14, 34, 40–44. 77 Mathias Albert, Modern Systems Theory and World Politics, in: Ders./Lars-Erik Cederman/Alexander Wendt (Hrsg.), New Systems Theories of World Politics, Basingstoke – New York 2010, 43–68, 55. Buzan, Society (wie Anm. 70), 77–87. Kessler u. a., Transformation (wie Anm. 5), 344, behaupten ohne jeden Beleg, „der Konnex von Sicherheit, Politik und Recht“ beruhe „auf einer sehr voraussetzungsvollen Kopplung von Recht und Politik über den Souveränitätsgedanken. So sind Entstehung und Wandel moderner Staatlichkeit untrennbar mit der Herausbildung und Form einschlägiger rechtlicher Normen verbunden. Das ‚westfälische System‘ ist ein mit dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück durch Rechtsakt konstituiertes System.“ Weder etablierten diese beiden Verträge so etwas wie angeblich moderne Staatlichkeit noch gar ein internationales System, das die Jahrhunderte überdauerte. Es handelt sich bei dieser Aussage um einen wissenschaftlichen Mythos. List u. a., Verrechtlichung (wie Anm. 5), 366–367, betrachten unkritisch die Universalisierung des Völkerrechts als Reaktion auf die „faktischen Einwirkungen der zunehmenden Bedeutung außereuropäischer Mächte und deren formaler Anerkennung“, so als sei das in der Regel praktizierte Dekolonisationsverfahren den Trägern der Kolonialherrschaft abgetrotzt worden. John Richard Urry, Mediating Global Citizenship, in: Iichiko 11 (1999), 3–26, 8–9, bezeichnet Weltgesellschaft als „global community“ und positioniert diese als institutionellen Rahmen für ein globales Bürgerrecht, ohne sich um die Legitimität der seiner Meinung aus diesem Recht folgenden Privilegien zu kümmern; dies ist umso erstaunlicher, als diese postulierten Privilegien, würden sie denn zugestanden, zu heftigen Verteilungskämpfen würden führen müssen: „With regard to the rights to participate within a putative global community, these increasingly include the rights: to migrate from one society to another and to stay at least temporarily with comparable rights as the indigenous po-

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als Weltzivilgesellschaft, die als solche ungesetzten und nicht immer erzwingbaren Rechtssätzen im Sinn der Naturrechtstheorien unterworfen wird. Die Möglichkeit einer Weltzivilgesellschaft setzen neuere Theoretiker der internationalen Politik als gegeben voraus, verweisen dabei auf die Tätigkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen (INGOs) und das Bestehen nicht-erzwingbarer, gleichwohl befolgter Normen78 sowie globale Netzwerke des Widerstands pulation; to be able to return not as stateless and with no significant loss of rights; to be able to carry one’s culture with one and to encounter elsewhere a hybrid culture containing at least some elements of one’s own culture; of all social groups to full cultural participation within the world society (to possess information, representation, knowledge, communication); to be able to buy across the globe the products, services and icons of diverse other cultures and then to be able to locate them within one’s own culture which incrementally changes; to be able to form social movements with citizens of other societies to oppose particular states (France’s nuclear testing), sets of states (the North), corporations (News Corporation), general bads and so on; such movements often involve branding, advertising and commercialization and are not necessarily progressive even if oppositional; to migrate for leisure purpose throughout most of the countries on the globe and hence to ‘consume’ all those other places and environments (including those en route). With the elimination of many formal barriers to leisure travel, contemporary citizens expect to consume places anywhere and everywhere (especially those deemed of global significance such as UNESCO-designated World Heritage Sites); to be able to inhabit environments, which are relatively free of risks to health and safety produced by both local and distant causes: to sense the quality of each environment directly rather than to have to rely on expert systems, which are often untrustworthy; and to be provided with the means, by which to know about those environments through multi-media sources of information, understanding and reflection.“Anne-Marie Slaughter, A New World Order, Princeton 2004, argumentiert optimistisch, aber neo-neofunktionalistisch, dass es Netzwerke kooperierender Bürokraten gebe, deren Interaktionen einer globalen Governance gleichkämen. Begebenheiten seit 2004 liefern jedoch wenig Material zur Bestätigung von Slaughters Optimismus, weder auf regionaler noch gar auf globaler Ebene. 78 Marianne Beisheim, Governance jenseits der Staaten. Das Zusammenspiel staatlicher und nicht-staalicher Governance, in: Dies./Tanja Anita Börzel/Philipp Genschel/Bernhard Zangl (Hrsg.), Wozu Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Baden-Baden 2011, 251–265. Marta Bucholc, A Global Community of Self-Defense. Norbert Elias on Normativity, Culture and Involvement (Recht als Kultur 8), Frankfurt/Main 2015, 161–187. Marlies Glasius u. a., Weltzivilgesellschaft (Polylog  18), Wien 2007. Roland Roth, NGO und transnationale soziale Bewegungen, Akteure einer ‚Weltzivilgesellschaft’, in: Ulrich Brand (Hrsg.), Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Münster 2001, 43–63; Christopher ChaseDunn, Rise and Demise. Comparing World-Systems, Boulder 1997, 8; Ders./E. N. Anderson, The Historical Evolution of World-Systems, Basingstoke – New York 2005, X, bewegt sich mit seiner Bestimmung des „Welt-Systems“ in der Nähe des Begriffs der Weltzivilgesellschaft. Ebenso: Andreas Fischer-Lescano/Kolja Möller, Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre das Gröbste, Bonn 2012, bes. 64–85. Dagegen sind die der Weltzivilgesellschaft zugrunde liegenden ungesetzten Normen zu unterscheiden von acht politischen Grundsätzen des Kosmopolitanismus, wie sie unter anderen David Held formulierte; denn diese Grundsätze sind, wie beispielsweise die Verpflichtung auf Anerkennung des undifferenziert bleibenden und nicht aus demokratischer Zustimmung abgeleiteten, sondern postulierten Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen, aus der europäischen Tradition der politischen Philosophie abgeleitet und auf die Genese innerstaatlicher Legitimität ausgerichtet, sind also, auch wenn sie wie der Grundsatz der Verantwortlichkeit der handelnden Personen auch in anderen Teilen der Welt anerkannt sind, als Gesamtheit nicht auf die Weltzivilgesellschaft als wertpluralistische Gesellungsform anwendbar. Siehe: David Held, Principles of Cosmopolitan Order, in: Gillian Brock/ Harry Brighowe (Hrsg.), The Political Philosophy of Cosmopolitanism, Cambridge 2005, 10–27, 12–16. So

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wie beispielsweise die internationale Frauenbewegung und die Atomwaffengegner. Während es für die Theoretiker ein Leichtes war, Weltzivilgesellschaft als empirisch möglich, ja sogar bereits manifest zu erweisen, zögerten sie, die rechtliche Grundlage dieser Gesellungsform in Betracht zu ziehen, und vermieden folglich Antworten auf die Frage, ob Weltzivilgesellschaft nicht-erzwingbaren Rechten und Pflichten unterworfen werden kann. In Anknüpfung an die Naturrechtstradition lassen sich dazu die folgenden Bereiche anführen, die in einer Weltzivilgesellschaft eine Chance auf Anerkennung als nicht-erzwingbare Rechte und Pflichten haben könnten: – die elementaren Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Sicherheit vornehmlich in Bedrohungssituationen; – das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung und die Verweigerung der elementaren Menschenrechte; – das Gastrecht; – die Pflicht zur Anerkennung der Rechtssubjektivität nicht nur der Staaten, sondern auch der Personen; – die Pflicht zur Anerkennung von Diversität; – die Pflicht zur gleichzeitigen Anerkennung der Menschheit als Interaktionsgemeinschaft und des dokumentierten Erstsiedlungsrechts sowie zur Übernahme von Verantwortung für Zuwiderhandlungen gegen dieses Recht. Die Logik dieses Katalogs gründet in der Erwartung, die schon Pufendorf im Kontext der Naturrechtstheorie formulierte,79 dass nämlich menschliche Existenz auf die Förderung der Soziabilität ausgelegt sei. Folglich könne keine Handlung rechtmäßig sein, die einzelnen Personen die Teilhabe an Gesellungen verwehre. Entsprechende Leitbilder ergaben sich in Ostasien aus der bis ins 19. Jahrhundert fortwirkenden konfuzianischen Tradition der Theorie der nicht-erzwingbaren „Großen Einheit“ als Friedenstheorie.80 Mangelnde Erzwingbarkeit stand und steht der Erwartung nicht entgegen, dass Rechtssätze im Normalfall zur Geltung kommen, wenn sie als legitim anerkannt sind. Weltzivilgesellschaft erlaubt ihre wertpluralistische und inklusionistische Konzipierung und kann folglich diejenige nicht-staatliche „civitas maxima“ sein, die einen Konsens über globale Rechte und Pflichten herbeiführt.

auch: Charles R. Beitz, Cosmopolitan Liberalism and the States System, in: Chris Brown (Hrsg.), Political Restructuring in Europe, London 1994, 123–126. Ders., Social and Cosmopolitan Liberalism, in: International Affairs 75 (1999), Heft 4, 515–529. 79 Pufendorf, De iure (wie Anm. 24), 148: „cuilibet homini, quantum in se, colendam et conservandam esse pacificam adversos alios societatem, indoli et scopo generis humani in universam congruentem.“ 80 Lī kī (wie Anm. 14). Ju-Jia Ou, in: Zhì xīn bào, Nr. 38 (1897), 444–445 [Teilübersetzung in: Rune Svarverud, International Law and World Order in Late Imperial China. Translations, Reception and Discourse. 1840– 1911 (Sinica Leidensia 78), Leiden 2007, 202.

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IV. Die Rolle der Großräume und die Verantwortung der Mächte

Michael Gehler

Die EU und ihr weltordnungspolitischer Auftrag – der weltgesellschaftliche Anspruch und eine Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Thesen I. Vorbemerkung Welches Verhältnis besteht zwischen EU und der Welt? Wie definiert sie sich zu dieser? Welches Selbstverständnis besitzt sie von sich? Diese drei Fragen berühren auch den Aspekt ihrer Identität.1 Aufschluss liefert ein bemerkenswertes Dokument, die „Erklärung über die europäische Identität“ des Rates der Europäischen Gemeinschaften in Kopenhagen vom 14. Dezember 1973,2 welches verdeutlicht, wie Identitäten gleichsam „von oben“ konstruiert und kreiert werden.

II. Der selbstgewählte Anspruch: Die Kopenhagener Erklärung zur europäischen Identität aus dem Jahre 1973 Die seinerzeit neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Dänemark, Großbritannien und Irland) hielten die Zeit für gekommen. Warum ausgerechnet in diesem Jahr und 1 Rudolf Weiler, Zur Identität Europas, Erbe und Zukunft der Europaidee, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung (1986), 48/49, 69–72; Rémi Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/Main – New York 1993; Jörg A. Schlumberger/Peter Segl (Hrsg.), Europa – Aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht (Bayreuther Historische Kolloquien 8), Köln – Weimar – Wien 1994; Marek J. Siemek, Vernunft und Intersubjektivität. Zur philosophisch-politischen Identität der europäischen Moderne (Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung/Center for European Integration Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 13), Baden-Baden 2000; Hartmut Wagner, Bezugspunkte europäischer Identität – Territorium, Geschichte, Sprache, Werte, Symbole, Öffentlichkeit – Worauf kann sich das WirGefühl der Europäer beziehen? (Region – Nation – Europa 40), Münster – Hamburg – London 2006; Julian Nida-Rümelin/Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien (Reihe Münchner Beiträge zur europäischen Einigung), Baden-Baden 2007; Achim Trunk, Europa, ein Ausweg. Politische Eliten und europäische Identität in den 1950er Jahren, München 2007; Thomas Meyer/Udo Vorholt (Hrsg.), Identität in Europa, Bochum 2008; Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008. 2 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Dezember 1973, Nr. 12, 131–134, siehe auch http://www.cvce. eu/de/obj/dokument_uber_die_europaische_identitat_kopenhagen_14_dezember_1973-de-02798dc9-9c694b7d-b2c9-f03a8db7da32.html (abgerufen 6. 3. 2017).

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wozu? Fünf Beweggründe lassen sich benennen. Mit dieser Absichtserklärung zur Kopenhagener Erklärung zur europäischen Identität wollten sie erstens ihre Beziehungen zu den übrigen Ländern der Welt, zweitens ihre Verantwortlichkeiten ihnen gegenüber und drittens ihren Platz in der Weltpolitik selbst näher bestimmen. Diese Identität sollte viertens in eine dynamische Perspektive gestellt werden. Beabsichtigt war fünftens, sie zu einem späteren Zeitpunkt „im Lichte der Fortschritte beim europäischen Einigungswerk zu vertiefen“. Ein evidenter Hintergrund für die Abgabe dieser Deklaration war die Norderweiterung der EG mit Dänemark, Großbritannien und Irland. Mit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs erweiterte sich der Horizont der Kontinentaleuropäer auf globale Herausforderungen und Probleme und die damit verbundene Notwendigkeit der Übernahme weltpolitischer Verantwortung. Zu diesem Zwecke bedurfte es der Definition einer europäischen Identität. So erschien es erforderlich, erstens das gemeinsame Erbe, zweitens die eigenen Interessen und besonderen Verpflichtungen der Neun, drittens den Stand des Einigungsprozesses, viertens den bereits erreichten Grad des Zusammenhalts gegenüber der übrigen Welt und fünftens die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten festzustellen und dabei den dynamischen Charakter des europäischen Einigungswerks zu betonen. Das Dokument war in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten ging es um den „Zusammenhalt der Gemeinschaft“, die sich in einer Art Selbstmandatierung als Zivilisationsprojekt mit Missionsauftrag verstand. Die neun europäischen Staaten, deren belastete Vergangenheit ebenso wie die egoistische Verteidigung falsch verstandener Interessen sie zur Zerrissenheit hätte drängen können, hätten ihre Gegnerschaft überwunden und in der Erkenntnis fundamentaler europäischer Notwendigkeiten beschlossen, sich zusammenzuschließen, um das „Überleben einer [europäischen, Anm. M. G.] Zivilisation zu sichern, die ihnen gemeinsam“ sei. Dabei definierten sich die Neun als „Wertegemeinschaft“, indem sechs Aspekte herausgestellt wurden: Es gelte, die rechtlichen, politischen und geistigen Werte zu sichern, zu denen sie sich bekennen, in dem Bemühen, erstens „die reiche Vielfalt ihrer nationalen Kulturen zu erhalten“, im Bewusstsein einer gemeinsamen Lebensauffassung und zweitens eine Gesellschaftsordnung anzustreben, die dem Menschen diene. Ferner wollten sie als Grundelemente der europäischen Identität die Grundsätze drittens der repräsentativen Demokratie, viertens der Rechtsstaatlichkeit und fünftens der sozialen Gerechtigkeit als Ziel des wirtschaftlichen Fortschritts sowie sechstens der Achtung der Menschenrechte wahren. Die Gleichbehandlung der Geschlechter und der Minderheitenschutz fehlten noch als Anliegen.3 Die Mitgliedsstaaten brachten somit ihren politischen Willen zum Ausdruck, das europäische Einigungswerk zum Erfolg zu führen. Dabei beriefen sie sich auf eine Reihe von Arbeitsweisen, Grundlagen und Prinzipien, die als Mittel zum Zweck dienten: die Gemeinschaftsverträge von Paris (Montanunion) und Rom (EWG), das Folgerecht, der „gemeinsame Markt“, auf Basis der Zollunion errichtet, die geschaffenen Organe und gemeinsamen Politiken sowie Mechanismen der politischen Zusammenarbeit, um abgestimmte Haltungen 3 Ebd.

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zu erarbeiten und, „soweit möglich und wünschenswert, gemeinsam zu handeln“. Diese Kooperation zur Koordination sollte also weiterentwickelt und vor Ablauf des Jahrzehnts die Gesamtheit ihrer Beziehungen in eine „Europäische Union“ umgewandelt werden. Die „Vielfalt der Kulturen“ im Rahmen „einer gemeinsamen europäischen Zivilisation“, das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und Prinzipien, „die Annäherung der Lebensauffassungen“, „das Bewusstsein ihnen eigener gemeinsamer Interessen“ sowie „die Entschlossenheit, am europäischen Einigungswerk mitzuwirken“ würden der europäischen Identität ihren „unverwechselbaren Charakter“ und ihre eigene Dynamik verleihen. Aufnahmebereitschaft war gegeben: Das europäische Einigungswerk sollte anderen europäischen Nationen offenstehen, die die Wertvorstellungen und Ziele der Neun teilen würden. Die Weltverbundenheit wurde herausgestellt, zumal die Länder Europas sehr enge Bindungen zu zahlreichen anderen Teilen der Welt aufgebaut hätten, die einer ständigen natürlichen Weiterentwicklung als „Unterpfand für Fortschritt und internationales Gleichgewicht“ unterworfen sein sollten. Die neun EG-Mitglieder sähen sich jedoch weltpolitischen Problemen gegenüber, die sie schwerlich alleine lösen könnten. Die Veränderungen in der Welt und die wachsende Zusammenballung von Macht und die Verantwortung in Händen ganz weniger Großmächte – gemeint waren die USA und die UdSSR – würden es erforderlich machen, „dass Europa sich zusammenschließt und mehr und mehr mit einer einzigen Stimme spricht, wenn es sich Gehör verschaffen und die ihm zukommende weltpolitische Rolle spielen will“.4 Explizit war eine Absage an Abschottung und Autarkie, also an den Protektionismus, zum Ausdruck gebracht worden: Die im Welthandel den ersten Platz einnehmende Gemeinschaft könne „nicht eine nach außen abgeschlossene Wirtschaftseinheit“ sein. Die EG sollte als Handelsgemeinschaft definiert werden, die das Wohlergehen für alle verbessern würde: Eng mit der übrigen Welt verbunden, was ihre Versorgung und Märkte angehe, wolle die Gemeinschaft „die Entscheidung über ihre Handelspolitik in der Hand behalten, aber gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die Weltwirtschaftsbeziehungen ausüben und dabei die Verbesserung des Wohlergehens aller im Auge behalten“. Als wesentliches Ziel der Neun wurde „die Erhaltung des Friedens“ ausgegeben, welches nie erreicht werden könne, wenn die eigene Sicherheit vernachlässigt werde. Die NATO wurde als einziges Instrument europäischer Sicherheitspolitik angesehen. Zum atlantischen Bündnis würde keine Alternative bestehen, die die Kernwaffen der Vereinigten Staaten und die Präsenz der nordamerikanischen Streitkräfte in Europa gewährleisten. Sie stimmten darin überein, dass Europa angesichts seiner relativen militärischen Verwundbarkeit, wenn es seine „Unabhängigkeit“ bewahren wolle, seine Verpflichtungen im transatlantischen Bündnis einhalten und in ständiger Anstrengung darauf bedacht sein müsse, über eine „angemessene Verteidigung“ zu verfügen.5 Der zweite Teil des Dokuments widmete sich der näheren Bestimmung der europäischen Identität in der Welt. Dabei war eine deutliche Absage an Machtpolitik (Militärpolitik) zum 4 Ebd. 5 Ebd.

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Ausdruck gebracht worden: Die (europäische) Einigung sei „gegen niemanden gerichtet“ und entspringe auch „keinerlei Machtstreben“. Der gemeinschaftliche Zusammenschluss würde der gesamten Völkergemeinschaft nützen, weil er „ein Element des Gleichgewichts“ und „ein Pol der Zusammenarbeit mit allen Nationen“ sei – ungeachtet ihrer Größe, ihrer Kultur und ihres Gesellschaftssystems. Die Neun brachten ihren Willen zum Ausdruck, „in der Weltpolitik eine aktive Rolle zu spielen“. Unter Achtung der Ziele der Charta der Vereinten Nationen sollte ein Beitrag zu internationalen Beziehungen geleistet werden, damit sich diese auf mehr Gerechtigkeit gründen. Die Unabhängigkeit und Gleichheit der Staaten würde besser gewahrt, der Wohlstand besser verteilt und die Sicherheit jedes einzelnen besser gewährleistet. Dieser Wille sollte dazu führen, auf dem Gebiet der Außenpolitik unter den Neun gemeinsame Positionen zu erarbeiten.6 Das war die alsbald realisierte Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ).7 Hier kann aber auch schon von einem Vorläufer der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) gesprochen werden, die mit dem Vertrag von Maastricht anvisiert sein sollte. Bezüglich des Verhältnisses gegenüber Drittstaaten würde die Gemeinschaft als „eigenständiges Ganzes“ handeln, „harmonische und konstruktive Beziehungen“ fördern, diese jedoch ihren Willen weder gefährden noch verzögern oder beeinträchtigen, „auf dem Wege zur Europäischen Union nach dem vorgesehenen Zeitplan voranzuschreiten“, also gegen Ende des Jahrzehnts der 1970er Jahre. Das bedeutete auch, dass bei zukünftigen Beitrittsverhandlungen der Rahmen und die Verfahren so gewählt werden müssten, „dass der eigenständige Charakter des europäischen Ganzen gewahrt“ bleibe. In den bilateralen Kontakten der EG-Staaten mit anderen Ländern würden auch die gemeinschaftlich festgelegten gemeinsamen Positionen gelten, womit auch „ihre Bande“ zu den Mitgliedern des Europarats sowie zu anderen europäischen Ländern gefestigt werden sollte, um die bereits bestehenden engen Beziehungen der Freundschaft und Zusammenarbeit zu stärken. Der Assoziierungspolitik der EG mit Drittstaaten wurde „wesentliche Bedeutung“ beigemessen, wobei „schrittweise eine umfassende, weltweite Politik der Entwicklungshilfe zu verwirklichen“ wäre. Dabei war besonders an Gemeinschaftsverpflichtungen gegenüber Ländern des Mittelmeerbeckens und Afrikas gedacht, die sichergestellt werden sollten, „um die seit langem mit diesen Ländern bestehenden Bande zu verstärken“. Das Gleiche galt für alle Länder des Nahen Ostens, wobei die Gemeinschaft „bei der Herstellung und Wahrung von Frieden, Stabilität und Fortschritt in dieser Region mitwirken“ wollte.8 „Wahren Frieden“ könne es nicht geben, wenn die „entwickelten Länder den weniger begünstigten Völkern nicht noch mehr Aufmerksamkeit widmen“ würden. In dieser Ge6 Ebd. 7 Hans-Werner Bussmann, Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), in: Wolfgang  W. Mickel/Jan  M. Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2005, 249–252. 8 Ebd.

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wissheit und „im Bewusstsein ihrer besonderen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen“ maßen die Neun „dem Kampf gegen die Unterentwicklung in der Welt“ entscheidende Bedeutung bei. Sie unterstrichen ihre Entschlossenheit, die Beziehungen auf dem Gebiet des Handels und der Entwicklungshilfe zu intensivieren und „zu diesem Zweck die internationale Zusammenarbeit zu stärken“.9 Die „enge Bande“ zwischen den USA und dem „Europa der Neun“ bestünde aus Werten und Zielen, die laut Erklärung „einem gemeinsamen Erbe“ erwachsen und geteilt würden, beiden Seiten Nutzen bringen und gewahrt bleiben müssten. Einschränkend und nicht ohne Selbstbewusstsein wurde jedoch mitgeteilt, dass dieses Verhältnis nicht die Entschlossenheit der Neun berühre, als „ein eigenständiges, unverwechselbares Ganzes aufzutreten“. Nüchtern wurde festgehalten, dass man den „konstruktiven Dialog mit den Vereinigten Staaten beibehalten“ und die Zusammenarbeit „auf der Grundlage der Gleichberechtigung und im Geiste der Freundschaft weiterentwickeln“ wolle. Mit den übrigen Industrieländern, wie Japan und Kanada, die für die Erhaltung einer offenen und ausgewogenen Weltwirtschaftsordnung als wesentlich eingestuft wurden, sollten aber auch „die Beziehungen enger Zusammenarbeit“ unterhalten und ein konstruktiver Dialog geführt werden.10 Gemeinsam hatten die Neun zu ersten Ergebnissen der Politik der Entspannung und der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern beigetragen. Sie seien bestrebt, „diese Politik auf der Grundlage der Gegenseitigkeit weiterzuentwickeln“. Das vorhandene „Bewusstsein der bedeutenden Rolle Chinas in den internationalen Beziehungen“ trug zur Bereitschaft bei, die Beziehungen zur chinesischen Regierung zu intensivieren und „den Austausch auf den verschiedenen Gebieten sowie die Kontakte zwischen europäischen und chinesischen Führungskräften“ zu fördern. Zu den anderen asiatischen Ländern sollten auch die Beziehungen, insbesondere auf dem Gebiet des Handels, ausgestaltet werden. Verwiesen wurde auf die diesbezügliche Absichtserklärung, die die Gemeinschaft bei ihrer Erweiterung abgegeben hatte. Austausch verschiedenster Art und freundschaftliche Beziehungen mit den Ländern Lateinamerikas sollten auch weiterentwickelt werden. Den geschlossenen Abkommen wurde ebenfalls „große Bedeutung“ zugesprochen.11 Unter „Wahrung der Wesenselemente ihrer Einheit und ihrer Grundziele“ bekundeten die Neun ferner ihre Absicht, „im Geiste der Weltoffenheit an den internationalen Verhandlungen“ teilzunehmen. Einmal mehr wurde der Entschluss zum Ausdruck gebracht, „zum internationalen Fortschritt nicht nur im Rahmen ihrer Beziehungen zu Drittländern, sondern auch durch die gemeinsamen Positionen beizutragen, die sie wann immer möglich in den internationalen Organisationen, v. a. der Organisation der Vereinten Nationen und den Sonderorganisationen, einnehmen wollen“.12  9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd.

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Im dritten und kürzesten Abschnitt der Erklärung wurde die Abhängigkeit der europäischen Identitätsentwicklung von der „Dynamik des europäischen Einigungswerks“ erwähnt. In den Außenbeziehungen würden die Neun von Bemühungen getragen sein, „ihre Identität im Verhältnis zu den anderen politischen Einheiten schrittweise zu bestimmen“, womit sie bewusst ihren inneren Zusammenhalt stärken und zur „Formulierung einer wirklich europäischen Politik“ beitragen würden. Sie brachten ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass „die fortschreitende Verwirklichung dieser Politik [einer immer enger werdenden Union, Anm. M. G.] ein wesentlicher Faktor sein“ werde, der es ihnen erlaube, „die weiteren Stadien des europäischen Einigungswerks mit Realismus und Vertrauen in Angriff zu nehmen“. Diese Politik erleichtere auch „die vorgesehene Umwandlung der Gesamtheit ihrer Beziehungen in eine Europäische Union“.13

III. Die Realitäten in sechs Dimensionen Ausgehend von dieser ambitionierten und weitreichenden Absichtserklärung stellen sich zwei Fragen, nämlich was aus diesen Zielsetzungen geworden ist und wie das an den Beispielen von Handel und Wirtschaft, Währung, Sicherheit, Menschenrechten, Kultur und Religion festgemacht werden soll. 1. Überwindung der Handelshemmnisse in Europa und die EU als Welthandelsakteur Sowohl die Organization for European Economic Cooperation (OEEC) 1948 als auch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952 und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 waren mit ihren Mitgliedstaaten schon globale Akteure durch Einbeziehung in die weltweiten Runden des GATT. Zunächst gab es in den 1950er und 1960er Jahren noch einen doppelten innereuropäischen Handelskonflikt und Wettbewerb einerseits zwischen der EWG bzw. den Europäischen Gemeinschaften (EG) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) sowie andererseits zwischen EG/EFTA und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Der Handelskonflikt und die Wirtschaftsteilung zwischen EG und EFTA konnte durch bilaterale Freihandelsabkommen der EFTAStaaten mit der EG ab 1973 abgebaut werden. Der Gegensatz zwischen EG und RGW bestand jedoch fort. Nach Ende des Kalten Krieges in Europa konnte die EU als Handels- und Wirtschaftsraum geeinter und nach der EU-„Osterweiterung“14 auch geschlossener und – stärker denn je – als globaler Handelsakteur auf den Weltmärkten auftreten.

13 Ebd. 14 Markus Warasin, Die Osterweiterung der Europäischen Union. Chancen – Risiken – Interessen, Bozen 2000; Barbara Lippert (Hrsg.), Osterweiterung der Europäischen Union – die doppelte Reifeprüfung, Bonn 2000;

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Mit ihrer Außenhandelskompetenz – abgestimmt mit den Interessen der Mitgliedstaaten – ist die EU seit dem Unionsvertrag von Maastricht definitiv zu einer globalen Handels- und Weltwirtschaftsmacht aufgestiegen und damit auch zu einer politischen Macht geworden,15 d. h., dass ein EU-Außenhandelskommissar sich intern mit 28 EU-Staaten abstimmte und diese gleichzeitig nach außen repräsentierte, wenn er mit rund 140 anderen Staaten der Welt verhandelte und Arrangements vereinbarte. Die wichtigsten Handelspartner der EU waren im Jahre 2015 im Bereich der Exporte die USA mit rund 370 Milliarden €, China mit 170, die Schweiz mit 151, die Türkei mit 79, Russland mit 74, Japan mit 57 und Norwegen mit 49 Milliarden €. Bei den Importen verhielt es sich nahezu gleich mit dem Unterschied, dass China mit 350 Milliarden € vor den USA mit 246, Russland mit 136, die Schweiz mit 102, Norwegen mit 74, die Türkei mit 62 und Japan mit 60 Milliarden € rangierte.16 EU-Handelspolitik ist nicht nur Teil der EU-Außenpolitik, sondern stützt diese auch – deutlich stärker als dies bei Nationalstaaten der Fall ist.17 Zu konstatieren ist ein Rückgang an Multilateralismus bei gleichzeitig zunehmenden zwischenstaatlichen Vereinbarungen und der Bildung regionaler Freihandelszonen. 2. Die 19er-Eurozone, geteilte Währungsräume in Europa und der Euro als Weltwährung Der Dollar wurde nach 1945 zur Leitwährung der Welt. Der in Bretton Woods 1944 geschaffene Internationale Währungsfonds (IWF) bzw. International Monetary Fund (IMF) mit der International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) in Washington, weitläufig auch „Weltbank“ genannt, bedeutete eine globale währungspolitische Neuordnung.18 Dieses „Bretton-Woods-System“ konnte sich jedoch nur bis in die 1970er Jahre halten, zumal die Deckung des Dollar durch US-Goldreserven in Fort Knox seitens der hochverschuldeten Vereinigten Staaten nicht mehr gewährleistet war. Eine Trendwende zeichnete sich ab. Europa und die internationale Staatengemeinschaft sahen sich gezwungen zu reagieren. Von einer Politik im Bewusstsein und in der Erkenntnis von Globalisierung19 im jüngeren, modernen und heutigen ökonomischen Sinne einer gemeinsam zu gestaltenden WeltDies. (Hrsg.), Bilanz und Folgeprobleme der EU-Erweiterung, Baden-Baden 2004; Neill Nugent, European Union Enlargement (The European Union Studies), Houndmills – Basingstoke/Hampshire – New York 2004. 15 Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster 2007, 142–187. 16 Die wichtigsten Handelspartner der EU im Jahr 2015 in Milliarden Euro, in: Eurostat (2016). 17 Andreas Kalina/Anne Harrer, Ein unterschätzter Akteur. Die Außenhandelspolitik der EU steht auf dem Prüfstand der Wissenschaft, in: Akademie-Report (Akademie für Politische Bildung Tutzing) (2016), Nr. 3, 5–7. 18 Andreas Predöhl, Außenwirtschaft. Weltwirtschaft, Handelspolitik und Währungspolitik (Grundriß der Sozialwissenschaft 17), Göttingen 1949, 304–321. 19 Siehe das zuletzt erschienene nachschlagartige Werk von Jürgen Turek, Globalisierung im Zwiespalt. Die postglobale Misere und Wege, sie zu bewältigen, Bielefeld 2017, der die europäische Integration – trotz ma-

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wirtschaftsordnung kann man erstmals seit dem ersten Gipfel vom 15. November 1975 in Rambouillet bei Paris sprechen. Einmal jährlich kam fortan eine Gruppe der sieben bzw. acht größten Industriestaaten der Welt zusammen. Die „G7“- bzw. „G8“-Staaten bestanden aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und den USA und seit 1994 auch aus der Russischen Föderation. Von den sieben bzw. acht Weltwirtschaftsmächten waren allein vier EU-Staaten. Weil zwischenzeitlich der wirtschaftliche Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und weiterer Staaten sich als unaufhaltsam erwies, wurde die Runde um zwölf Staaten auf „G20“ erweitert. Die Europäischen Gemeinschaften waren seit den 1970er Jahren mit dem Europäischen Währungssystem (EWS) und der Korbwährung European Currency Unit (ECU) ein aufsteigender Akteur auf dem internationalen Währungssektor. Weitgehend unbeachtet geblieben ist (wenn nicht bewusst ignoriert) die eigentliche „EUBank“ mit Sitz in Luxemburg, die 1958 gegründete Europäische Investitionsbank (EIB), die doppelt so viel Volumen besitzt wie die Weltbank, um strukturschwache Regionen und förderungswürdige Unternehmen in Europa zu unterstützen.20 Im Zuge der Öffnung des Ostens wurde die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London 1991 aus der Taufe gehoben, während sich die seit 1999 bestehende Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt/Main ausschließlich um monetäre Belange kümmert. Mit dem Euro als Buchgeld (1999) und Realwährung (2002) wurde die EU nach der Handelspolitik auch auf dem monetären Sektor des internationalen Zahlungsverkehrs zu einem Mitgestalter der währungspolitischen Globalisierung. Die Einführung der Einheitswährung bedeutete für die USA eine der größten Herausforderungen durch den „alten“ Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Wettkampf Euro versus Dollar war mit 2002 eröffnet, so dass sich Kritiker an der Politik beider Seiten fragten, ob sich dieser Zustand von einer Währungskonkurrenz zu einem Währungskrieg entwickeln könnte, was der US-Notenbankchef Alan Greenspan bereits androhte und in die überspitzte Fragestellung „Dollar- oder Euroimperialismus?“ mündete.21 kroökonomischer Ungleichgewichte und institutioneller Strukturdefizite in der Eurozone, ebd., 131 – weitgehend für globale Integrationsversuche wegweisend, ebd., 363, sowie ein energieautarkes Europa als Teil einer europäischen Globalisierungsstrategie für möglich hält, ebd., 418, 422. Die EU ist laut Turek der am weitesten integrierte Markt der Welt mit hoher integrationspolitischer Ausstrahlungskraft, ebd. 81. Ihre Funktionsfähigkeit hält Turek auch ohne föderale Grundordnung weiterhin für möglich, ebd., 405, zumal der europäische Bundesstaat noch lange keine Realität sein würde, ebd. 444. 20 Hinweis von EIB-Präsident Dr. Werner Hoyer für den Verfasser, 6. 2. 2017 anlässlich seines Vortrags im Rahmen der hochschulöffentlichen Vortragsreihe „Europagespräche“ des Instituts für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim, https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/geschichte/jean-monnet-europagespraeche/europa-gespraeche/wintersemester-201617/ (abgerufen 17.11.2017). 21 Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt, Münster 2007, 235–262; siehe auch Michael Gehler, From Accidental Disagreement to Structural Antagonism. The US and Europe: Old and New Conflicts of Interest, Identities, and Values, 1945– 2005, in: Barry Eichengreen/Michael Landesmann/Dieter Stiefel (Hrsg.), The European Economy in an Ame-

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Beim „Modell Europa“ kann es sich mit Aussicht auf Erfolg und in Erwartung von Akzeptanz in der Welt allerdings nicht um ein Konzept „imperialistischer“ Konkurrenz zu den USA, sondern vielmehr um ein Modell der Demokratie, gekoppelt mit sozialer Marktwirtschaft zum Schutze der europäischen Wirtschaft handeln – im Sinne der Vorzüge des „softpower“-Konzepts von Joseph S. Nye.22 Die häufig in Europa übersehene internationale und globale Rolle des Euro bestand und besteht aus fünf Eigenschaften: Er ist erstens Reservewährung (Ende 2003 betrug sein Anteil an den offiziellen Währungsreserven der Welt 20 %), zweitens Transaktionswährung (2004 machte sein Anteil an den Gesamtumsätzen im Devisenhandel ebenfalls 20 % aus), drittens Handelswährung (2003 war sein Anteil als Rechnungswährung für z. B. deutsche Warenexporte in Nicht-Euro-Staaten 63 %), gleichzeitig aber viertens Anlage- und fünftens Emissionswährung (sein Anteil am Bestand internationaler Anleihen und Schuldentitel betrug 2004 31 %).23 Aus Ahnungslosigkeit oder Unkenntnis blieb weitgehend unbeachtet, dass Europa im Zeichen der sogenannten „Eurokrise“ (2010–2015), die eigentlich eine Staatsverschuldungs-, Leistungsbilanzdefizit- und Wettbewerbskrise von einzelnen EU-Mitgliedern gewesen ist, in den Jahren 2012–2015 über einen Europäischen Währungsfonds verfügte. Dieser existierte zwar noch nicht als eine erkennbar eigenständige Institution mit einem festen Sitz, aber im Funktionieren und Zusammenwirken durch den informellen Verbund verschiedener Institute und Organe wie der EZB in Frankfurt/Main, der EU-Kommission in Brüssel und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in Luxemburg als eine Art „EWF“. Der ESM basiert auf einen völkerrechtlichen Vertrag der 19 Euro-Staaten mit ihren jeweiligen Finanzministern und einem Managing Director.24 Im Jahre 2013 einigte sich der Europäische Rat im Grundsatz auf die zu erlassenden Rechtsvorschriften zur Abwicklung maroder Banken in Europa als Teil einer künftigen „Bankenunion“. Es erfolgte eine Einigung auf eine allgemeine Ausrichtung über einen rican Mirror, Routledge Abingdon GB, 2008, 458–499, hier 465–468; Ders., Common and Different Interests since World War II and after the End of the Cold War. Europe’s Integrated Member States and their Relations to the United States 1945–2005, in: Jan De Maeyer/Vincent Viaene (Hrsg.), World Views and Worldly Wisdom. Religion, Ideology and Politics, 1750–2000/Visions et expériences du monde. Religion, idéologie et politique, 1750–2000 (KADOC Studies on Religion, Culture and Society), Leuven 2016, 311–335. 22 Joseph S. Nye, Jr., Soft Power. The means to Success in World Politics, New York 2004; Reinhold Mitterlehner, Soziale Partnerschaft und sozialer Dialog in Europa, in: Carl Baudenbacher/Erhard Busek (Hrsg.), Europa und die Globalisierung. Referate des dritten Wiener Globalisierungs-Symposiums 16. und 17. Mai 2001, Wien 2003, 77–82; siehe auch Bo Strath, Social Models? A Critical View on a Concept from a Historical and European Perspective, in: European Review 15 (July 2007), Nr. 3, 335–352. 23 Quelle: Europäische Zentralbank (EZB), zitiert aus Zahlenbilder 715588 5/05, Berlin [2005]. 24 Expertengespräch mit Klaus Regling, Managing Director des European Stability Mechanism (ESM) in Luxemburg, 7. 5. 2015 (Tonbandgespräch im Besitz des Verfassers); siehe auch Michael Gehler/Marcus Gonschor/Hinnerk Meyer (Hrsg.), Banken, Finanzen und Wirtschaft im Kontext europäischer und globaler Krisen. Hildesheimer Europagespräche III (Historische Europa-Studien 11), Hildesheim – Zürich – New York 2015.

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einheitlichen Abwicklungsmechanismus für Banken, den Single Resolution Mechanism (SRM). Ein Jahr später stimmte das Europäische Parlament Regeln für den Umgang mit Banken in ernsten Schwierigkeiten zu, um Rettungsaktionen nicht mehr zu Lasten der Steuerzahler vornehmen zu müssen. Am 4. November 2014 trat der einheitliche Aufsichtsmechanismus für Banken in Kraft. Die EZB übernahm die Funktion, den sicheren und zuverlässigen Geschäftsbetrieb der Banken im Euro-Währungsgebiet in Kooperation mit nationalen Behörden zu beaufsichtigen. Das war ein Element der Bankenunion, die Schwachstellen im Bankensystem, die 2008 die Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelöst hatten, verhindern soll. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass es neben der EZB als zentralem Akteur der monetären Bewältigung der „Eurokrise“ immer noch die europäischen Nationalstaaten waren, die aktuelle Problemstellungen globaler wirtschaftlicher und finanzpolitischer Relevanz erkannten und berieten. Die beschlossenen Gegenmaßnahmen und entwickelten Lösungen setzten sie allerdings verstärkt über die europäische Ebene in Form der EZB sowie unter Zuhilfenahme völkerrechtlicher Vereinbarungen durch außerhalb der Unionsverträge bestehende Ersatz- und Nebenkonstruktionen (Fiskalpakt, Europäisches Semester, ESM und Bankenunion) um. Unter Nutzung des europäischen Verbunds konnten die einzelnen EUMitglieder auf globaler Ebene überzeugender und wirkmächtiger auftreten sowie ihre Anliegen rascher durchsetzen und ihre Ziele schneller erreichen. 3. Geteilte Sicherheit in US-amerikanischer Abhängigkeit Die NATO war mit ihrer Gründung und durch die Mitgliedschaft der USA und Kanadas eine global ausgerichtete Organisation, transnational und transatlantisch.25 Sie erweiterte sich ab Ende der 1990er Jahre bis 2004 um die Mitte und den Osten des Kontinents. Sie antizipierte und flankierte damit den gesamteuropäischen ökonomischen Einigungsprozess.26 Die NATO hatte sich ab April 1999 von einer militärischen Defensivallianz zu einem multifunktionellen Krisenbewältigungs- und Friedenserzwingungsbündnis entwickelt. In diesem Jahr erfolgte der erste „out-of-area“-Einsatz des Militärbündnisses im sogenannten „Kosovo-Krieg“, der eigentlich ein (Angriffs-)Krieg gegen Serbien war, aber als „humanitäre Intervention“ für die durch das Belgrader Regime von Slobodan Milošević bedrohten Kosovo-Albaner getarnt war. Gab es dabei im Kosovo-Konflikt bereits Spaltungstendenzen innerhalb der NATO aufgrund französischen Widerstands gegen das Vorgehen, so im Irak­

25 Stanley R. Sloan, NATO, the European Union, and the Atlantic Community. The Transatlantic Bargain Challenged, Lanham – Boulder – New York – Toronto – Oxford 2005. 26 Michael Gehler, Von der Eindämmungsallianz in Europa zum globalen Interventionsbündnis: Zwölf Thesen zu den transatlantischen Beziehungen im Wandel von Krisenzeiten (1949–2009), in: Felix Schneider (Hrsg.), 175 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Österreich und den USA (Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 4), Wien 2014, 73–100.

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konflikt einen Paralyse-Zustand des einst so geschlossen scheinenden und mächtigsten militärischen Zusammenschlusses der Welt.27 Zeigte das Unternehmen „enduring freedom“ im Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan (2002) noch ein relativ geschlossenes Vorgehen, so brach das Bündnis im Golfkonflikt (2003) über die Frage der Legitimation eines „preventive strike“ gegen Saddam Hussein auseinander. Damit war von einem Teil der demokratisch und rechtsstaatlich verfassten EU-Staaten ein Präventivkrieg gegen eine Diktatur – in diesem Falle gegen den Irak – nicht nur als illegal, sondern auch als illegitim betrachtet worden, zumal das behauptete Bedrohungspotenzial („weapons of mass destruction“), wie es von dem Angreifer – die USA (mit ihren Verbündeten) waren tatsächlich als die eigentlichen Aggressoren mit dem größten Massenvernichtungswaffenpotenzial der Welt ausgestattet – unterstellt worden war, durch die International Atomic Energy Organization (IAEO) in Wien auch nicht nachgewiesen werden konnte. Die NATO hatte seit Ende des Kalten Kriegs einen Wandel erfahren. Es handelte sich um einen bemerkenswerten Prozess der Globalisierung nicht nur des Bündnisses an sich, sondern eigentlich der EU-NATO-Staaten, u. a. bedingt durch ihre gesteigerte Flexibilität, eine erreichte Interoperabilität sowie ihre Bereitschaft zu umfassender Zusammenarbeit mit nahezu allen großen und maßgeblichen Staaten der Welt im Rahmen von Kooperationsund Partnerschaftsabkommen. Die NATO von heute als das größte Militärbündnis der Welt ist aufgrund der Einsicht in die Folgen und Notwendigkeiten der Globalisierung durch gewandelte, globalisierte Nationalstaaten weit mehr als nur eine Militärorganisation, nämlich auch eine sicherheitspolitische Wertegemeinschaft, ein polyvalentes Gebilde, das im humanitären und zivilen Bereich Hilfsdienste leisten kann. EU-Europa gehört im Jahre 2017 mit 22 EU-Mitgliedern der NATO (Finnland, Irland, Österreich, Schweden, Malta und Zypern zählen nicht dazu) und damit dem größten Militärbündnis der Welt an. Das Bündnis trägt zur Bewahrung, Verteidigung und zum Schutz der freien Welt bei, leistet aber auch legitimen Sicherheitsexport, wenn die Vereinten Nationen es mandatieren und die betroffenen Bevölkerungen und Nationen es gutheißen. Die EU hingegen verzichtete bisher – im Unterschied zum Römischen Weltreich – auf die Aufstellung starker Streitkräfte im Außengrenzbereich oder an seinen Randzonen wie sie auch keine militärischen Expansionen durchführt. Das atlantische Bündnis und seine Mitglieder stationierten jedoch zuletzt Einheiten in Mittel- und Osteuropa in Bataillonsstärke (2015/16) zur Abwehr russischer Bedrohungen im Zeichen der aggressiver gewordenen Revisionspolitik von Präsident Putin.

27 Stephan Bierling, Geschichte des Irakkriegs. Der Sturz Saddams und Amerikas Albtraum im Mittleren Osten, München 2010, 86–112 mit teilweise widersprüchlichen Passagen, vgl. 24 und 86.

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4. Menschenrechte als Anspruch – Die EU als „Vereinte Nationen Europas“ und zweite UNO? In einer zeitgeschichtlichen Betrachtung ging die Globalisierung der Menschenrechte ihrer Europäisierung formell, rechtlich wie zeitlich voraus. Die Vereinten Nationen verabschiedeten nach der UNO-Charta 1945 am 10. Dezember 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Die Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichneten ausgehend von diesem größeren global-universalen Kontext der United Nations am 4. November 1950 eine Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), die drei Jahre später (1953) in Kraft trat.28 Die durch 13 Zusatzprotokolle ergänzte Konvention beinhaltet auch einen Katalog grundlegender bürgerlicher und politischer Rechte, zu deren Einhaltung sich jeder Staat verpflichtete, der sich dieser Konvention angeschlossen hatte. Die Wiener Weltkonferenz für „Human Rights“ stellte 1993 die Universalität der Menschenrechte außer Frage. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch der EU-Grundrechtskonvent, der der EU die feierliche Verkündung einer Charta der Grundrechte im Jahre 2000 ermöglichte.29 Sie wurde seit 2009 indirekter Bestandteil des neuen EU-Reformvertrags von Lissabon. Die territorialen Ausmaße Europas waren und sind geographisch nicht exakt bestimmbar, aber eher schon seine kulturellen und rechtlichen Grenzen. Europa lebte wiederholt von der Aufnahme, vom Austausch und der Weitergabe von Gütern, Ideen und Werten. Die Vorstellung einer „Festung“ ergab in seiner Geschichte daher nur wenig Sinn. Dieser Befund kann an der historischen Frage des Eintritts Russlands in die europäische Staatenwelt, aber auch an der politischen Debatte über die Zugehörigkeit der Türkei zur EU abgelesen und erprobt werden. Die Grenzen der EU sind letztlich klar bestimmbar durch die Akzeptanz und Einhaltung des gemeinsamen Rechtsbestandes, der Kopenhagener Kriterien betreffend die Aufnahme neuer Mitglieder und nicht zuletzt durch die Einhaltung der EMRK und der EU-Charta der Grundrechte. 5. Kultur als europäische Exportware und Weltkapital Die europäische Integration beschritt nach 1945 den ökonomisch-technokratischen Umweg zur Einigung unter Verzicht auf Kultur und Kulturpolitik. Immer deutlicher zeigte sich in den 1990er Jahren, dass es keine nachhaltige (innere) Einigung Europas ohne (aktive) Kul28 Die Europäische Konvention über Menschenrechte, Europarat, Presse- und Informationsabteilung, Straßburg 1953. 29 Simon Gruber, Die Grundrechtscharta und der Grundrechtskonvent (1999–2000). Analyse und vergleichender Rückblick auf die Verfassungsentwicklung in den USA (1787–1791), in: Michael Gehler/Günter Bischof/ Ludger Kühnhardt/Rolf Steininger (Hrsg.), Towards a European Constitution. A Historical and Political Comparison with the United States (Europapolitische Reihe des Herbert-Batliner-Europainstituts 3), Wien – Köln – Weimar 2005, 271–302.

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turpolitik gibt. Die EU hatte wirtschaftlich nahezu alles erreicht (Zollunion, Binnenmarkt und Währungsunion). Mit Blick auf die schon seit längerem wiederholt anvisierte „Politische Union“ und eine europäische Sicherheitspolitik gab und gibt es jedoch spürbare Defizite und schwer überwindbare nationalstaatliche Grenzen. Gleichzeitig wurde offenkundig, dass Markt und Währung zu wenig Identität schaffen: Die Relevanz der Kultur bzw. Kulturen nicht nur für Europa und seine eigene Identität, sondern auch für Europas Rolle in der Welt ist seit den 1990er Jahren außer Diskussion. Nicht ohne Grund kam das Thema Kultur auf dem Gipfel in Maastricht 1991 und in Amsterdam 1997 auf die Agenda, zumal sie als Markenartikel, Wirtschaftsfaktor und somit auch als Kapital begriffen wurde, v. a. weil sie im gesteigerten Wettbewerb um globale Märkte eingesetzt wird – im Sinne der Überwindung nationalstaatlicher Reserven gegenüber fortgesetzter Integration, im Sinne von Identitätssuche und Sinnstiftung für Europa im Inneren und des vereinigten Europa von morgen, aber auch im Wettstreit mit außereuropäischen Kulturen und anderen Kontinenten.30 Dabei wurde deutlich, dass europäische Kultur sowohl durch individuelle Erfahrung als auch durch das kollektive Gedächtnis präsent und jederzeit abrufbar ist. Kennzeichnend sind eine übereinstimmende Rechtsauffassung, die lange nachwirkende Tradition des Judentums, des Christentums, des Islam, die Aufklärung und die Säkularisierung, die Attraktivität europäischer Kultur und ein hohes Maß an Originalität und Eigenständigkeit: Eigene Architektur, spezifische Baustile, Musik und Philosophie. Das Europäische an der europäischen Kultur ist gekennzeichnet durch zahlreiche Übersetzungen und wechselseitige Rezeptionen von Literaturen und Wissenschaft. Sie steht – auch die Idee der europäischen Kulturhauptstädte – für ein in sich offenes und völlig grenzenloses Europa. Zur übrigen Welt gibt es fließende Übergänge, d. h. kein Schengen der europäischen Kultur, sondern ein hohes Maß an Durchlässigkeit der sogenannten Außengrenzen. Nationale Kulturen und europäische Kulturen sind untrennbar miteinander verbunden wie auch nationale Kulturen jünger als die europäische Kultur sind. In der Gestaltung der Kultur lösten sich die verschiedenen Bevölkerungen und die sich herausbildenden Nationen ab und befruchteten sich gegenseitig. 6. Die EU als Säkularisierungskatalysator Das viel zitierte Europa des „christlichen Abendlandes“ des Mittelalters war kein rein christliches Europa, sondern ein multireligiöses. Das „Abendland“ wurde dabei der lateinischen Christenheit zugeschrieben (christlich, römisch, germanisch), Juden waren nur geduldet. Der in Spanien angesiedelte und ausgehend vom Osmanischen Reich über Südosteuropa, 30 Michael Gehler, Zwischen Europäisierung und Globalisierung. Herausforderungen und Aufgaben für eine kulturgeschichtliche Zeitgeschichte, in: Ingrid Bauer/Helga Embacher/Ernst Hanisch/Albert Lichtblau/Gerald Sprengnagel (Hrsg.), Kunst – Kommunikation – Macht. Sechster Österreichischer Zeitgeschichtetag 2003, Innsbruck – Wien – München – Bozen 2004, 273–278, hier 275.

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den „Balkan“, bis vor Wien vordringende Islam bildete eine eigene (Gegen-)Welt. Der Osnabrücker Mediävist Thomas Vogtherr sieht auch kein „wirkliches Zusammenwirken der drei Religionen“ (Judentum, Christentum, Islam), sei „es friedlich gewesen oder nicht“. Es war bestenfalls ein Nebeneinander, jedenfalls kein Miteinander, so dass ein latentes Konflikt- und Spannungspotenzial vorhanden war. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde dennoch exklusiv das „Abendland“ über die Religion des Christentums definiert.31 Das Verhältnis der EU dazu ist entspannter, lockerer und unbestimmter, ja im Grunde aufgegeben, was „negativ“ als Identitätsverlust, „positiv“ aber auch als Beitrag zur Konfliktbeseitigung, Chance zur Modernisierung und Gewinn der Säkularisierung begriffen werden kann. Die „Abendland-Idee“32 kann heute neben dem allgemeinen Verweis auf das „geistigkulturell-religiöse Erbe“ der Präambel des Lissabon-Vertrages v. a. mit der EMRK und der Grundrechtscharta verknüpft und begründet werden. Der Rückzug bzw. die Zurückdrängung der Religion aus der Politik und insbesondere die strikte Trennung von Staat und Kirche waren wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen des europäischen Einigungswerks nach 1945. Laizismus und Säkularisierung waren und sind die Basis des Rationalitätsprojekts EU. Es besteht das Erfordernis der Entschärfung von Religionen in Europa mit monotheistischem Absolutheitsanspruch, wenn Integration und Europäisierung weiter gelingen sollen. Das säkularisierte Europa des 18. und 19. Jahrhunderts ist von einem zunehmend agnostischen Europa im 20. Jahrhundert abgelöst worden, woraus sich mannigfaltige Chancen und vielfältige Effekte mit Blick auf Europas Kulturen, aber auch in Hinsicht auf seine Wahrnehmung von außen ergeben haben. Europäische Kulturen sind mit einem weltweiten Dialog der Kulturen vereinbar, wenn sich kein Kulturkreis als „höherwertig“ und „besser“ definiert oder sich davon ausschließt. Die wechselseitige Anerkennung und praktizierte Toleranz sind zentrale Voraussetzungen für den Dialog. Das Grundprinzip von offener Weltgesellschaft ist daher die Anerkennung aller Kulturen, die den anderen gegenüber tolerant sind. Das Europa der EU und des Europarats bietet dafür die Gewähr.

31 Thomas Vogtherr, Gab es ein Europa der drei Religionen im Mittelalter? Vortrag im Rahmen der „Europagespräche des Instituts für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim, 18. 5. 2009, https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/geschichte/jean-monnet-europagespraeche/europa-gespraeche/sommersemester-2009/ gab-es-ein-europa-der-drei-religionen-im-mittelalter/ (abgerufen 12. 02. 2018). 32 Heinz Hürten, Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in: Albrecht Langner (Hrsg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, 131–154.

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IV. Europa, die EU und die Frage der Weltgesellschaft – Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Thesen der Stanford School Lohnenswert erscheint nun im Zusammenhang mit den Themen Europa, EU und Weltgesellschaft33 eine Auseinandersetzung mit den Thesen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Soziologen John W. Meyer34 von der Stanford-School. Zwölf seiner Thesen sollen hier zu einer weiterführenden Diskussion einladen. These 1: Die EU sei „ohne Zweifel eine weitgehend staatslose und zentrumslose Ordnung“. Sie bestünde aus vielen verschiedenen nationalstaatlichen (und anderen) Akteuren. Als staatslose Netzwerkordnung gleiche Europa stark der Weltgesellschaft, die ebenfalls durch „Staatslosigkeit“ gekennzeichnet sei.35 Antwort des Verfassers: Meyers Auffassung, wonach „Europa“ (gemeint ist wohl die EU) der Weltgesellschaft gleiche, kann nicht widersprochen werden, worauf noch zurückzukommen sein wird, doch bedarf sie einer Präzisierung. Die Union ist eine mehrzentrische Entität. Sie verfügt über mehrere Sitz-Orte und zwar in Brüssel mit dem Rat und der Kommission, in Den Haag mit Europol, in Frankfurt mit der EZB, in Luxemburg mit dem EuGH, in München mit dem Europäischen Patentamt sowie neben Brüssel auch Straßburg mit dem Europäischen Parlament, in Warschau mit der Agentur Frontex etc. Seit dem Lissabon-Vertrag (2009) ist die EU auch eine Rechtspersönlichkeit und damit Völkerrechtssubjekt geworden mit einer Tendenz zur Staatswerdung bzw. Verstaatlichung, ohne noch ein Staat im klassischen Sinne zu sein.36 These 2: „Nationalstaaten verfügen oft nur über wenig effektive und legitime Mechanismen, um in ihrer Nachbarschaft ihre Interessen und Bedürfnisse zu vertreten – da bietet sich an, eine Kultur der Kooperation und ein paar entsprechende Organisationen zu unterhalten.“37

33 Grundlegend als umfassende Einführung mit einer historisch zu diskutierenden, geradezu linear-teleologischen Stoßrichtung aus der okzidentalen Perspektive gesehen und geschrieben: Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, Baden-Baden 2016. 34 John W. Meyer, The World Polity and the Authority of the Nation State, in: Albert Bergesen (Hrsg.), Studies of the Modern World System, New York 1980, 109–137; Ders., The European Union and the Globalization of Culture, in: S. S. Andersen (Hrsg.), Institutional Approaches to the European Union, Oslo 2001; Die Europäische Union und die Globalisierung der Kultur, in: Ders., Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/Main 2005, 163–178. 35 Meyer, Die Europäische Union, 163. 36 Ebd., 172. 37 Ebd.

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Antwort des Verfassers: Der europäische Nationalstaat ist bereits seit langem an die Grenzen seiner Handlungs- und Gestaltungsspielräume gestoßen – auch was die Möglichkeiten der Nachbarschaftspolitik anlangt –, weshalb er sich fallweise der EU als übergeordneter Wirkinstanz zu bedienen versucht, sofern sie nicht seine souveränitätspolitischen Kernbereiche tangiert. Die EU stellt dabei weit mehr dar als einen intergouvernementalen Kooperationsverbund. Regierungszusammenarbeit gilt zwar für die Fiskalpolitik, die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GESVP), Justiz und Inneres sowie die Sozial- und Steuerpolitik, während der „acquis communautaire“, der gemeinsame Rechtsbestand, gegen den Nationalstaat einklagbar ist sowie Außenhandels-, Wettbewerbs- und Währungspolitik gemeinschaftlich getragen sind, also supranationale Politik repräsentieren. These 3: Meyer erkannte in der EU „zahlreiche staatliche, gesellschaftliche und übergesellschaftliche Kräfte, die an der Erzeugung von Kultur beteiligt sind. Das Ergebnis sei die zahlenmäßige Explosion zwischenstaatlicher Organisationen und – in noch größerem Ausmaß – internationaler Nichtregierungsorganisationen“. Die Verwissenschaftlichung und das Wachstum von NGOs seien in Europa besonders ausgeprägt.38 Antwort des Verfassers: Der These Meyers kann kaum widersprochen werden – im Gegenteil ist sie zu unterstreichen, wobei sich die Frage stellt, was Meyer unter „Kultur“ versteht. Möglicherweise ist politische Kultur gemeint. Dass in Europa ein hohes Maß an aktiv tätigen Nichtregierungsorganisationen (z. B. Amnesty International, Attac, Green Peace, Oxfam, World Vision) präsent ist und zivilgesellschaftliche Tendenzen ausgeprägt gegeben sind, scheint aufgrund der am stärksten entwickelten demokratisch-freiheitlichen Grundrechtsstrukturen und vereinsrechtlichen Voraussetzungen im Vergleich zu anderen Erdteilen und Kontinenten (Afrika, Asien, Russland) sehr wahrscheinlich.39 These 4: „Europa ist von seiner Organisationsform her weniger ein Akteur als ein Komplex von Anderen – von Regeln und Vereinigungen, die für die Beratung von Akteuren und die Regulierung der Aktivitäten und Aufgaben von nationalen und organisationalen Akteuren zuständig sind. Europa ist von dieser Weise organisiert, um den angeblichen nationalen politischen Akteuren nicht zu viel Konkurrenz zu machen. Seine Stärke liegt in einer Netzwerkstruktur […] und v. a. in den kulturellen Elementen, die in diesem Netzwerk institutionalisiert sind […].“40

38 Ebd., 172–173. 39 Zu NGOs in Europa liegt kein verlässliches Daten- und Zahlenmaterial vor; siehe auch Winand Gellner/Armin Glatzmeier, Die Suche nach der europäischen Zivilgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36 (5. 9. 2005), 8–15. 40 Meyer, Die Europäische Union, 173.

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Antwort des Verfassers: Es ist der Auffassung Meyers zuzustimmen, dass die EU eine ausgeprägte Netzwerkstruktur41 aufweist, wobei sie nur bis Lissabon (2009) vertrags- und völkerrechtlich gesehen kein Akteur war. Das hat sich seither geändert. Inzwischen ist die EU „legal personality“ (s. oben). Sie blieb aber auch nach Lissabon kein wahrnehmbarer Einzelakteur, sondern hat mehrere Gesichter und spricht auch mit mehr als einer Stimme, was im multipräsidentiellen und mehrzentrischen System der EU begründet ist. Die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahre 2012 an die Union, der stellvertretend für sie gleich von drei Präsidenten der EU (José Manuel Barroso für die Kommission, Herman van Rompuy für den Rat und Martin Schulz für das Parlament) entgegengenommen wurde, sprach Bände.42 Dennoch ist unübersehbar, dass die EU mehr als ein „Komplex von Anderen“, so Meyer, bzw. auch mehr als eine klassische internationale Organisation der Regierungszusammenarbeit ist. Auf eine möglichst treffende Definition wird noch am Ende dieses Beitrags zurückzukommen sein. Der „Komplex von Anderen“ müsste außerdem näher erläutert werden: Wenn damit Dritte gemeint sind, die sich die EU zu ihrem Vorteil geschaffen haben, wie eben die Nationalstaaten, dann wäre die These von Alan S. Milward von der „europäischen Rettung des Nationalstaats“43 als Bestätigungsbeleg anzurufen. Zutreffend ist sicher der Befund der Verregelung und Verrechtlichung von Bestimmungen und Verfahren. Die EU ist zudem ein normbildendes Unternehmen mit Gesetzen, Empfehlungen, Richtlinien und Verordnungen. Es sind nicht nur nationale und „organisationale“ Akteure und Netzwerkstrukturen, sondern eben auch spezifisch europäische Institutionen, die eine Rechtsgemeinschaft konstituiert haben und damit das Wesentliche der EU ausmachen. Die „kulturellen Elemente“, so Meyer, müssten dabei auch noch näher bestimmt werden. Sie bestehen nach Ansicht des Verfassers in der Aushandlung von unterschiedlichen Positionen, der Kompromissbereitschaft der Mitglieder in Streitfragen und der Lösungsfähigkeit von Problemen. Die Kultivierung dieses Miteinanders, dieser Praktiken und Umgangsformen erscheinen als Wesenselemente der EU. These 5: Es herrscht nach Meyer „Unklarheit über den genauen Verlauf der Grenzen zwischen der Europäischen Union und Europa im Allgemeinen (und die meisten Teilnehmer kennen sie nicht), ebenso wie zwischen Europa – in welcher Definition auch immer – und

41 Michael Gehler/Wolfram Kaiser/Brigitte Leucht (Hrsg.), Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart/Networks in European Multi-Level Governance. From 1945 to the Present (Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 6), Wien – Köln – Weimar 2009. 42 Siehe die Friedensnobelpreis-Verleihung an die EU: https://europa.eu/european-union/about-eu/history/2010today/2012/eu-nobel_de (abgerufen 6. 3. 2017). 43 Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation State, London 1992.

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der größeren Welt. In vielen Hinsichten kann man Europa als eine besonders intensive Form des sich entwickelnden Systems betrachten.“44 Antwort des Verfassers: Meyer trifft zunächst eine durchaus richtige und stimmige Feststellung, bleibt aber eine Begründung bzw. Erklärung schuldig. Die Grenzen der EGKS, EWG, EG und EU waren, bedingt durch die Anziehungskraft der Gemeinschaften und die Dynamik der Integrationsentwicklung lange Zeit – bis zur EU-„Osterweiterung“ 2004/07 – relativ offen und daher unbestimmt. Dass sich dahinter geradezu eine Methode besonders mit Blick auf Offenheit und Unbestimmtheit auch im Sinne der noch im Gange befindlichen Entwicklung der Gemeinschaften verbarg, scheint Meyer nicht bewusst oder klar zu sein. Ein Element der Methode Monnet „Der Weg ist das Ziel“ war bewusst so angelegt, die Endzweckbestimmung, d. h. die „Finalitätsfrage“ und damit auch die Grenzen der europäischen Integration, ganz bewusst unbeantwortet zu lassen. Mit der sich anbahnenden EU-„Osterweiterung“ wurden allerdings bereits mit den Kopenhagener Kriterien (1993) für die Aufnahmebedingungen von Beitrittsbewerbern klare Grenzen gesetzt. Die Grundtendenz bzw. Kontinuität der ‚grenzenlosen‘ Erweiterungsbereitschaft fand mit der ausgeprägten Form der EU-„Nachbarschaftspolitik“ seit 2004 und spätestens seit der Debatte um eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei seit 2005 ihr Ende, nämlich als offen über die Absorptionsfähigkeit der EU und „ergebnisoffene“ Beitrittsverhandlungen mit Ankara gesprochen wurde. Mit der EU-„Osterweiterung“ schien auch ein gewisser Aufnahmesättigungsgrad erreicht zu sein – mit der Ausnahme des sogenannten „Westbalkans“ und den Stabilitätsund Assoziationsabkommen für Albanien, Mazedonien, Montenegro etc. (wobei die „heißen Eisen“ Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Serbien noch eine eigene Kategorie darstellen), verbunden mit einer mittel- und langfristigen Beitrittsperspektive für diese Staaten. Nicht zuletzt mit den vielfach nationalstaatlich erfolgten Entscheidungen in der „Flüchtlingskrise“ (2015/16), die im Kern eine innereuropäische Solidaritätskrise war, sind die Grenzen der EU – und zwar in jeder Hinsicht, insbesondere auch die Außengrenzen – für alle Welt sehr sichtbar geworden. Spätestens mit 2015 und der Errichtung von meterhohen Stacheldrahtzäunen an den Binnen- und EU-Außengrenzen ist das Jahr 1989 mit Niederreißung des „Eisernen Vorhangs“ zu Ende gegangen: Wenngleich die Hintergründe und Motive gänzlich unvergleichbar erscheinen mögen: Mit diesen Abwehrhaltungen und Abschottungsmaßnahmen – gegen die Zuwanderung von „andersartigen“ und „fremden“ Menschen muslimischen Glaubens – ist der weiter fortbestehende kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Eiserne Vorhang zwischen Westeuropa einerseits sowie Mittel- und Osteuropa andererseits deutlicher denn je zum Vorschein gekommen. Dieser Vorhang verläuft auch relativ genau an der sogenannten innerdeutschen Grenze bzw. der ehemaligen Staatsgrenze der DDR,45 gleichwohl auch westlich davon Ablehnung gegen Zuwanderung besteht. 44 Meyer, Die Europäische Union, 174. 45 Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, München 2. Auflage 2010, sehr stark erweiterte und komplett aktualisierte Neuauflage Hamburg – Reinbek 2018; Hannes Hofbauer, EU-Osterweiterung. His-

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These 6: „Da Europa kein Akteur ist, leidet es auch an einem Mangel an Identität (ebenso wie die Welt). Dies ergibt sich teilweise aus dem Fehlen einer klaren Unterscheidung zwischen Europa und der größeren Welt. Es scheint keine spezifischen europäischen Werte zu geben […].“46 Antwort des Verfassers: Dazu ist bereits in der letzten Erwiderung einiges festgehalten worden. Europa ist schon mit der EWG-Wettbewerbspolitik und der Zollunion seit 1968, verbunden mit einer gemeinsamen Außenhandelspolitik und der europäischen Einheitswährung, die seit 1999 als Buchgeld und seit 2002 als Realwährung existiert, ein globaler Akteur. Mit der durch den Vertrag von Maastricht beschlossenen Unionsbürgerschaft ist eine aussichtsreiche Perspektive für eine europäische Sinnstiftung gegeben.47 Richtig ist es hingegen davon auszugehen, dass familiale, kommunale, lokale, regionale und nationale Identitäten48 im Europa des Jahres 2017 nach wie stärker ausgeprägt sind als eine wie auch immer geartete europäische oder gar EU-Identität, die noch voneinander zu unterscheiden wären. Wie immer bei Umfragen hängt vieles von der Fragestellung ab. Laut einer EurobarometerUmfrage vom März 2017 fühlten sich immerhin 77 % der Deutschen und 67 % der Befragten in anderen EU-Mitgliedstaaten als „Bürger der Europäischen Union“.49 Was das Eigen- bzw. Selbstverständnis der Union angeht, mag es trotz vorhandener Symbole50 treffender sein, von einer nicht ausgeprägten bzw. noch unterentwickelten EU-Identität als von einem Mangel an Identität zu sprechen. Die Unionsbürgerschaft, wie schon erwähnt, verankert im Vertrag von Maastricht, erscheint jedenfalls als ein etwas unterschätzter Faktor im Sinne von Fortschritt in Richtung Identitätsbildung zu sein. Was Meyer entgangen zu sein scheint, ist der Umstand, dass für die EU mit der Einhaltung des seit den Römischen Verträgen von 1957 bestehenden acquis communautaire, den torische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen, Wien 2007; Oliver Schwarz, Die Erweiterung der Europäischen Union. Zum Wandel eines außenpolitischen Überinstruments, in: Andrea Brait/Michael Gehler (Hrsg.), Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg 49), Wien – Köln – Weimar 2014, 305–330; Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/Main – New York 2014, 358–370; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014. 46 Meyer, Die Europäische Union, 174. 47 Jürgen Nielsen-Sikora, Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung – eine Spurensuche (Studien zur Geschichte der Europäischen Integration/SGEI/Études sur l’Histoire de l’intégration européenne/EHIE/Studies on the History of European Integration/SHEI 4), Stuttgart 2009. 48 Michael Salewski (Hrsg.), Nationale Identität und europäische Einigung, Göttingen – Zürich 1991; Nicole Dewandre/Jacques Lenoble (Hrsg.), Projekt Europa. Postnationale Identität: Grundlage für eine europäische Demokratie, Berlin 1994; Peter Koslowski/Rémi Brague, Vaterland Europa. Europäische und nationale Identität, Wien 1997. 49 Deutsche stehen in der Mehrheit zur EU, in: Neue Presse Coburg, 4./5. 3. 2017, 5. 50 Kiran Klaus Patel, Europas Symbole. Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, in: Internationale Politik 59 (2004), Heft 4, 11–18.

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Kopenhagener Kriterien von 1993 und der EU-Grundrechtscharta von 2000, verankert im Annex des Lissabon-Vertrags von 2009 sowie für „Europa“ allgemein für die Mitglieder des Europarats mit der seit 1953 in Kraft getretenen EMRK deutlich erkennbare (Außen-) Grenzen bzw. Abgrenzungsmöglichkeiten zur übrigen „Welt“ bestehen. Die Differenzpunkte bzw. Unterscheidungsmerkmale zum Rest der Welt bestehen in der Kultur und Tradition der Gewaltenteilung und damit auch der Herrschafts- und Machtteilung sowie in der Kombination von Demokratie, Modernisierung und Rechtsstaatlichkeit. Wenn noch eine stärker ausgeprägte Solidaritätshaltung und deutlichere Sozialstaatlichkeit hinzuträten, dürfte damit die europäische Identität gefestigter werden. These 7: „Europa unterscheidet sich […] von klassischen Nationalstaaten durch seine große und beabsichtigte Langweiligkeit […] Europa selbst besteht nur aus grauen Männern im grauen Mercedes, die technische und unglaublich uninteressante Fragen besprechen.“51 Antwort des Verfassers: Tatsächlich lässt sich kaum sagen, dass – bisher jedenfalls – die EU eine „Weltmacht der Herzen“ (Romain Kirt)52 gewesen oder geworden sei, so wünschenswert dies auch sein mag. Die EU ist ein Produkt zutiefst rationalen Denkens und entsprechend Ergebnis vernunftgemäßen Handelns und daher gewiss auch kein Hort hoher Emotionalität und ausgeprägter Leidenschaft, womöglich sogar ein Imperium der Rationalität,53 das für deutlich erkennbare Andersartigkeit und Abgrenzung zu den klassischen Imperien und traditionellen Großreichen der Geschichte stehen mag wie zu der österreichisch-ungarischen Habsburgermonarchie, dem osmanischen Sultanats- oder dem russischen Zarenreich. These 8: „Das Projekt Europas ist es, jedes irgendwie interessante Handeln abzuwehren (das vermutlich gefährlich, nationalistisch, rassistisch usw. wäre), indem man es durch vernünftige Regeln unnötig macht.“54 Antwort des Verfassers: Was „interessantes Handeln“ anlangt und Meyer damit meint, bleibt nebulös und müsste näher ausgeführt werden. Möglicherweise ist ansprechendes, auffälliges, aufsehenerregendes und mitreißendes Agieren gemeint. Darüber ließe sich sicher diskutieren. Was „gefährliches“ Handeln im Sinne von Nationalismus und Rassismus angeht, kann festgestellt werden: Die EU verkörpert tatsächlich den Ausstieg aus der Geschichte Europas, wie sie bis zum Zweiten Weltkrieg erfolgte. Damit ist sie auch gleichzeitig 51 Meyer, Die Europäische Union, 175. 52 Romain Kirt, Europa – Die Weltmacht der Herzen (Historische Europa-Studien 1), Hildesheim – Zürich – New York 2009. 53 Silvio Vietta, Rationalität – Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung, München 2012; Ders., Was Europa zu erwarten hat. Die heutigen und künftigen globalen Krisen sind Folgelasten einer langen Kulturgeschichte der Rationalität, die man verstehen muss, wenn man Risiken wie Chancen des Kontinents abschätzen will, in: Wiener Zeitung. Extra, 2./3. 7. 2016, 33–34. 54 Meyer, Die Europäische Union, 175.

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eine unzweideutige Absage an Konfliktaustragung mit militärischer Gewalt in Europa und unter Europäern. Die EU ist so gesehen als europäische Antithese zum Militarismus, Nationalismus und Rassismus zu begreifen. Sie war und ist auch ein Produkt äußerer und innerer Krisen und gleichzeitig ein Resultat von Rationalität. Als Ergebnis eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls ist daher auch zu bezweifeln, ob sie jemals eine „Weltmacht der Herzen“ (Kirt) werden kann. Solange aber die Vorteile die Nachteile der Mitgliedschaft überwiegen, bleibt das Ganze auch zusammen und erhalten. Dafür spricht nach wie vor sehr viel – trotz aller ihr nachgesagter Emotionslosigkeit und Langweiligkeit. These 9: „Europa aufzubauen bedeutet daher, viel Geschichte und Primordialität beiseite zu räumen. So verliert denn auch in den europäischen Lehrplänen die jeweilige Nationalgeschichte an Bedeutung, ohne daß man sich deswegen um das Schreiben einer europäischen Geschichte bemühen würde. […] Beim Projekt Europa geht es um das vernünftige Handeln von Menschen in einer verwissenschaftlichten Umwelt, nicht um das Ausleben einer primordialen oder historischen Identität.“55 Antwort des Verfassers: Der These von Meyer ist teils zuzustimmen, teils zu widersprechen. Primordialität heißt so viel wie „Uranfänglichkeit“ und Ursprünglichkeit. Diese ist mit Blick auf die belastete Geschichte Europas durch Bürgerkriege, Feindseligkeiten, Gewalt, Nationalismus, Rassismus und Verfolgung sicherlich zu überwinden bzw. „beiseite zu räumen“, doch kommt auch die Geschichte der EU nicht ohne die Nationalgeschichte aus, zumal die Nationalstaaten selbst als EU-Mitglieder Teil der Geschichte der EU sind. So wird eine Geschichte der Nationalstaaten nach wie vor ein Thema sein, während man die europäische Geschichte und die ihrer Integration im Besonderen längst schon zu schreiben begonnen hat, wenn an Norman Davies, Pierre Gerbet, Jacques Le Goff, Tony Judt, Hartmut Kaelble, Michael Mitterauer, Pierre Renouvin, Michael Salewski oder Wolfgang Schmale56 gedacht wird. Insofern kommen auch Europa und die EU insbesondere ohne die Besinnung und Kenntnis ihrer Geschichte und Ursprünglichkeit gar nicht aus, zumal wenn ein europäisches Narrativ, sprich eine Erzählung über Europa und seine Einigungsgeschichte, gewünscht wird, was offensichtlich der Fall ist.

55 Ebd. 56 Norman Davies, Europe – A History, Oxford – New York 1996, 1997 (korrigierter Nachdruck); Pierre Gerbet, La Construction de l’Europe, Paris, 19942, 19993; Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, München 2. Auflage 2010; Jacques Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1994; Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München – Wien 2006; Ders., Große Illusion Europa. Gefahren und Herausforderungen einer Idee, München – Wien 1996; Max Beloff/Pierre Renouvin/Franz Schnabel/Franco Valsecchi, L’Europe du XIXe et du XXe siècle, Paris 1959; Michael Salewski, Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000; Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien – Köln – Weimar 2000.

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These 10: „Was jedoch in auffälliger – und beabsichtigter – Weise fehlt, ist der Versuch, als zentrales kulturelles Projekt eine eigene europäische Geschichte zu schreiben. Ebenso fehlen die älteren nationalistischen und zueinander konträren Nationalgeschichten, die im modernen europäischen Kontext grundlegend umgeschrieben werden müssen. Es ist jetzt nicht mehr damit getan, die Nachbarn als Feinde hinzustellen.“57 Antwort des Verfassers: Diese Auffassung Meyers bedarf einer berichtigenden und ergänzenden Aktualisierung. Mit dem Projekt „Haus der europäischen Geschichte“ in Brüssel, initiiert vom langjährigen Europa-Parlamentarier und EU-Parlamentspräsidenten (2007– 2009) Hans-Gert Pöttering, das im Zeichen von „60 Jahre Römische Verträge“ (1957–2017) eröffnet werden sollte, ist ein zentrales kulturelles Projekt gegeben, die eigene europäische Geschichte auch im Sinne der EU darzustellen. Abgesehen davon ist eine Neuakzentuierung bzw. Uminterpretation der nationalen Geschichten durch verschiedene Historiographien – im Sinne der Berücksichtigung, Einbeziehung und Kontextualisierung von Gegentrends zur Nationalisierung – nämlich der Europäisierung, des Transnationalismus und der Globalisierung längst im Gange. Vor diesem Hintergrund werden die Nachbarn längst nicht mehr als Feinde dargestellt, sondern die Geschichte der wechselseitigen Feindbilder und -wahrnehmungen aufgearbeitet und dekonstruiert.58 These 11: „Das europäische System ist von seiner Organisationsform her ein schnell wachsendes System aus nebeneinander stehenden Verbänden. Es ist von seiner Organisationsform her fast zentrumslos, auch wenn es einige rechtliche und politische Institutionen gibt, die ein schwaches Zentrum bilden. Es beruht auf gemeinsamen rationalistischen kulturellen Vorstellungen über die legitime Identität von Nationalstaaten, die Rechte von Menschen, die rational begreifbaren Eigenschaften, der (physischen und sozialen) Umwelt usw. Mit dem Fortschritt der europäischen Integration werden diese kulturellen Vorstellungen um immer neue Details erweitert. Ähnlich dem Staat der Gerichtshöfe und Parteien […] ist der europäische Staat ein Staat der endlosen Kommissionen und Definitionen. Darin gleicht Europa auffällig der modernen Weltgesellschaft.“59 Antwort des Verfassers: Zu diesen zutreffend aufgezeigten Charakteristika des „europäischen Systems“ ist schon einiges festgehalten worden (s. oben). Immerhin konzediert Meyer nun im Verlauf seiner Darstellung selbst, dass die EU über „politische Institutionen“ verfüge, die ein „schwaches Zentrum“ bilden würden. Zuvor hatte er noch von einem „zentrumslosen“ Gebilde gesprochen. Erweiterte Aufgabenstellungen (Funktionen) hatten tatsächlich auch erweiterte Strukturen (Formen) zur Folge. Daher ist die Agenda der EU stets aufs Neue ausgeweitet worden. Die Vielzahl der Ausschüsse, Institutionen, Gremien und Or57 Meyer, Die Europäische Union, 176. 58 Siehe beispielhaft: Sanne Ziethen, „… im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig“. Deutsch-französische Feindbilder (1807–1930) (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 57), Heidelberg 2014. 59 Meyer, Die Europäische Union, 178.

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gane führte auch zu einer immer größeren Unüberschaubarkeit und Undurchsichtigkeit der EU, worin tieferliegende Gründe für ihre Kommunikations- und Legitimationsproblematik zu suchen sind. Dennoch sollte eine Definition des „Systems sui generis“ möglich sein, auf die wir am Ende des Beitrags zurückkommen werden. These 12: „Es geht [Europa] nicht darum, interessant, dramatisch und mit einzigartigen und partikularistischen historischen Identitäten abgestimmt zu sein. Vielmehr geht es darum, vernünftig zu sein und dafür zu sorgen, daß alles in Ordnung ist und bleibt. Es muß sogar viel Geschichte unterdrückt werden, damit man diese Haltung einnehmen kann.“60 Antwort des Verfassers: Es wurde bereits festgehalten, dass es der EU an Dramatik und Emotionalität fehlt. Meyers Befunden kann daher teilweise zugestimmt werden. Grundsätzlich lässt sich aber auch festhalten, dass sich Geschichte auf Dauer nicht unbewusst verdrängen oder gar bewusst unterdrücken lässt. Die ‚historische Wahrheit‘ bricht sich irgendwann Bahn. Auch die EU kommt daran nicht vorbei. Sie braucht daher die Kenntnis und das Wissen von ihrer eigenen Geschichte, wie sich auch die Nationalgeschichten nicht aussondern lassen. Sie sind mit der Geschichte der europäischen Integration stets eng verbunden gewesen. Zwischenfazit: Insgesamt lässt sich festhalten, dass Meyer sich in einer eher allgemeinen und weniger detailkenntnisreichen Weise seinem Thema genähert, ja teilweise sich in einer herablassend-skeptischen bis hin zu einer verächtlichen Weise über die EU geäußert hat. Das geht mit einer nicht seltenen Haltung konform, die die Ausmaße und Folgewirkungen der europäischen Integration unterschätzt. Bemerkenswert ist der Befund, dass Meyer der EU Attribute einer Weltgesellschaft zuspricht, wobei er ebenfalls deren Staatslosigkeit unterstellt, was spätestens seit dem Unionsvertrag von Lissabon so aber nicht mehr zutreffend ist.

V. Was spricht für die Europäische Union als fortbestehendes Krisenbewältigungs- und Erfolgsmodell? Die Erfolge der EU wurden mit der Schaffung der Zollunion (1968), dem weit­gehend realisierten Binnenmarkt (1993), der Währungsunion (2002) und der politischen Vereinigung des Kontinents im Wege der „Osterweiterung“ (2004/07) erzielt. Rückschläge erfolgten durch das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (1954), die Politik des leeren Stuhls durch de Gaulle (1965) und der Ablehnung des EU-„Verfassungsvertrags“ (2005) durch Frankreich und die Niederlande. Die Banken-, Finanzmarkt- und Staatsverschuldungskrise (2008–2015) ist für die EU bereits zu einer Existenzfrage geworden und dies gerade einmal 65 Jahre nach ihrer Urgründung durch die Montanunion. Es drohte der größte integrationspolitische Rückschlag in der Geschichte der EU durch die befürchtete Auflösung 60 Ebd., 178.

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der Eurozone, wenn es nicht gelingen sollte, aus der Krisennot eine gemeinschaftspolitische Tugend zu machen. Dazu ist es zunächst wichtig, ihre Gründe zu nennen. Die Krisen der europäischen Integration erwuchsen aus verschiedensten Ursachen, die ihren Niederschlag in einem Kriterienkatalog für eine Typologie finden: – Ängste vor einem übermäßig starken Deutschland und seiner ursprünglichen Militär-, später auch aufgrund seiner Export- und Währungsmacht; – Befürchtungen angesichts drohender oder eingetretener nationaler Souveränitätsverluste, z. B. durch Frankreich; – Widerstände gegen weitere Kompetenzabtretungen zugunsten supranationaler Institutionen, z. B. durch Großbritannien; – Gefährdungen des integrationspolitischen Zusammenhalts, z. B. durch Großbritannien; – Existenzbedrohungen der Gemeinschaften, z. B. durch äußere, nicht mehr bewältigbare Krisen; – Sorge hinsichtlich des Verzichts auf einmal erworbene Integrationsprivilegien durch Großbritannien; – Aufnahmekapazitätsprobleme wegen divergierender Rechts- und Politikauffassungen sowie wirtschaftliche Rückstände, z. B. durch Bulgarien und Rumänien; – Inkompatibilität von Integrationsphilosophien alter, neuer oder zukünftiger Mitglieder, z. B. durch Großbritannien; – Wachstumskrisen im Zuge großflächiger Ausdehnung, z. B. durch die EU-„Oster­wei­ terung“ und – im Lichte der Banken- und Finanzmarktkrise hinsichtlich zu wenig geprüfter und kontrollierter Ausweitungen der Eurozone, z. B. nicht leistungs- und wettbewerbsfähige Mitglieder wie Griechenland. Mit der Befriedung und Stabilisierung Südosteuropas ist die EU bisher relativ erfolgreich gewesen, zweifelsohne aber auch an die Grenzen ihrer außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten gestoßen. Die Begrenzungen der Aufnahmefähigkeit im Zuge der EU„Osterweiterung“ sind klar zutage getreten. Die neu definierte Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) soll neuen Mitgliedschaftsaspiranten einen Riegel vorschieben. Es wird wohl – abgesehen von den Ländern des „Westbalkans“ – auf absehbare Zeit nur mehr Assoziationsabkommen und Nachbarschaftsarrangements geben. Der Fall Türkei ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: Die Verhandlungen stocken schon seit mehr als einem Jahrzehnt. Ein Durchbruch ist nicht in Sicht. In der Türkei selbst ist der Beitritt kein Thema mehr. Die institutionellen Reformen des Unionsvertrags von Lissabon können nicht als ausreichend und durchschlagend genug bezeichnet werden, damit die EU als politischer Akteur auf der Weltbühne mit einer Stimme sprechen und entsprechend geschlossen auftreten kann. Auf die Frage, in welche Richtung sich die EU in Zukunft entwickeln könnte, bleibt der Historiker auf Mutmaßungen und Spekulationen angewiesen: Die EU könnte mit ei-

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ner gestärkten internationalen Transaktions- und Reservewährung Euro ein Balancefaktor zwischen den USA und China sein, sozusagen ein währungspolitischer Mediator, der sich nicht durch Militärinterventionen hervortun müsste, sondern vielmehr als Rechts- und Kulturexporteur exponieren könnte. Europa muss dabei aus seiner militärischen Unterlegenheit keine Schwäche ableiten, sondern kann darin Chancen erblicken: Nicht gewaltsame militärische Expansion, sondern wirtschaftliche Attraktivität und kulturelle Angebote schufen und schaffen stabile politische Konstellationen und Strukturen von langer Dauer – nicht nur im Inneren, sondern auch an den Peripherien Europas.61 Die EU ist ein neuartiges Herrschafts- und Ordnungsmodell im Unterschied zu historischen Hegemonialreichen und Imperien. Sie hat weder gewaltsame Annexionen und militärische Basen auf fremden Territorien noch ein übermäßig starkes Machtzentrum notwendig. Das waren die Existenzbedingungen für alte und vormoderne sowie für neue und modernere Imperien. Die EU ist dagegen in vielfacher Hinsicht ein postmodernes imperiales Gebilde, ein „non-imperial“ Empire, wie es Ex-Kommissionspräsident Barroso bezeichnet hat.62 Wohin soll also die so charakterisierte und daher auch ambivalent und beliebig erscheinende EU in ihrer heutigen Form als Binnenmarkt, Eurozone, Handels- und Währungsweltmacht sowie als Grundrechts- und Wertegemeinschaft hinsteuern? Was ist ihr eigentliches Ziel? Die Beantwortung der Frage nach der Finalität und damit auch nach ihrer Mission ist offen. Was der EU nach wie vor fehlt, ist eine Endzweckbestimmung. Umso mehr erweist sich die Legitimationsfrage, die mehr als nur eine Kommunikationskrise und ein Vermittlungsproblem ist, als selbst verschuldet. Der Fortbestand der EU ist, einmal abgesehen von den globalen Herausforderungen und den nationalstaatlichen Problemlagen, v. a. angesichts von partiellen institutionellen Strukturdefiziten und fundamentalen Systemmängeln nicht als gesichert zu bezeichnen. Wird ein im Wesentlichen von Nationalstaaten dominiertes oder ein stärker vergemeinschaftetes Europa die Zukunft sein? Erstere Entitäten sind vielfach noch ein junges historisches Phänomen. In ihrem Bestreben nach Machterweiterung sind sie dem Nationalitätenstaat gegenüber mobiler und reaktionsfähiger. Wesentlich älter bzw. mitunter auch von weit längerer Lebensdauer waren Großreiche und Imperien in der Weltgeschichte. Sie waren allerdings unter stärkerem Integrationsdruck und größerem Legitimationszwang als kleinräumige und überschaubare Herrschaftsgebilde wie Nationen und ihre Staaten. Ihr Erklärungsbedarf war größer und wuchs mit zunehmender Expansion – die EU mit ihren Integrations- und Legitimationsdefiziten nach der sogenannten „Ost-Erweiterung“ (2004/07) ist

61 Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.), Internal Peripheries in European History (Zur Kritik der Geschichtsschreibung 6), Göttingen 1991; Ders., Europäische innere Peripherien im 20. Jahrhundert (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 23), Stuttgart 1997. 62 Michael Gehler, Die Europäische Union – ein postmodernes Imperium?, in: Ders./Robert Rollinger (Hrsg. unter Mitarbeit von Sabine Fick und Simone Pittl), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, 2. Teilband, Wiesbaden 2014, 1255–1307.

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ein gutes Beispiel für diesen Befund. Für ein Imperium entfällt allerdings auch das nationalstaatliche Argument der Bewahrung eines fest umrissenen Territoriums zur Integration und Legitimation. Die für eine geschlossen auftretende Nation elementaren Mittel der Beschwörung der ‚Heiligkeit der Grenzen‘ sowie der Hervorhebung der Unteilbarkeit des Staatsganzen fallen hier aus. Die EU kann größere Verluste wie Großbritannien hinnehmen, ohne gleich zu zerfallen. Erinnert sei an das Osmanische Reich und seine Territorialverluste und den lange hinausgezogenen Niedergang bzw. verhinderten Zusammenbruch. Bei einem Imperium scheint bei seiner Entstehung aufgrund der zunächst nicht vorhandenen (Langzeit-)Strategie weder ein revolutionärer Gründungsakt (Geburtsurkunde) noch ein legendenumwobener Schöpfungsvorgang (Mythos) als Integrations- und Legitimationsstoff zwingend notwendig, so wie er sich allzu häufig bei Nationsbildungen und Staatsgründungen finden lässt. Es scheint daher gar nicht so abwegig, dass die zwar noch relativ jungen, aber bereits in die Jahre gekommenen, durch die sich radikalisierende Globalisierung und den weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb sowie ihre verfehlte Haushaltspolitik geforderten und geschwächten europäischen Nationalstaaten sich weiterhin einer übergeordneten Einheit bedienen und sich im Zeichen der Banken-, Kapitalmarkt- und Wirtschafskrise unter dem Dach der größeren EU sicherer und wohler fühlen als im eigenen, kleiner gewordenen Haus. Das Bild vom Euro-„Rettungsschirm“ für Griechenland, Irland, Portugal und Spanien sprach ja Bände. Die EU verkörpert mit dem Ausstieg aus der Geschichte Europas, wie sie bis 1945 erfolgte, gleichzeitig den Abschied von Gewalt und Krieg. Sie war und ist ein Produkt äußerer Krisen sowie gleichzeitig ein Resultat von Rationalität. Mit Herz, Geist und Seele hatte sie bisher nur wenig zu tun. Mit Geschichte schon eher und mit Zukunft noch viel mehr. Mit Blick auf die globale und universelle Bedeutung der EU lassen sich zusammenfassend fünf Befunde konstatieren: 1. Die EU ist mehr als ein europäisches Projekt. Sie besitzt Weltbedeutung auf der Ebene der Handelspolitik. Schon die EGKS und die EWG hatten Relevanz für das weltweit gültige GATT. Die EU von heute ist ein eigenständiger Faktor im Rahmen der WTO. Bereits 1973 begriff und erklärte die damalige EG ihre globale und weltpolitische Verantwortung und dies nicht nur für den Bereich Handel und Wirtschaft.63 2. Mit dem gemeinsamen Rechtsbestand, dem acquis communautaire, besitzt die EU eine über ihr engeres Territorium hinaus grenzüberschreitend integrativ wirkende, anpassungsfähige, Übernahme-mögliche und Normen bildende, d. h. normative Kraft. Europarecht wird weltweit anerkannt, geprüft, studiert und übernommen. 3. Mit dem Euro wirkt die EU über die Zone der Einheitswährung hinaus wie die Bundesrepublik früher schon mit der DM in europäischen Nachbarschaftsregionen hinein, der dort 63 http://www.cvce.eu/de/obj/dokument_uber_die_europaische_identitat_kopenhagen_14_dezember_1973-de02798dc9-9c69-4b7d-b2c9-f03a8db7da32.html (abgerufen 6. 3. 2017).

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Die EU und ihr weltordnungspolitischer Auftrag

neben der nationalen als zweite Währung fungiert (Dänemark, Großbritannien, Schweden, Schweiz, Balkanraum) und damit auch eine Durchdringungs- und Expansionswährung mit hegemonial-imperialem Charakter in Europa ist. Der Euro ist zudem mehr als nur eine europäische, sondern vielmehr eine Weltwährung. Er hat eine vielfach in Europa unbeachtete oder unterschätzte globale Bedeutung als Anker-, Ausgleichs-, Devisenanlage-, Reserve- und Transaktionswährung. 4. Mit dem Lissabon-Vertrag wurde die EU auch eine eigene Rechtspersönlichkeit („legal personality“) und damit auf der internationalen Ebene und im Sinne des Völkerrechts ein eigenständiger Akteur mit einem eigenen europäischen Außendienst. 5. Mit dem Unionsvertrag von Lissabon (2009) wurde die bereits von den Staats- und Regierungschefs im Jahre 2000 feierlich verkündete Charta der Grund- und Menschenrechte, wenn auch nur als Anhang verankert, rechtsverbindlich, was neben der UNMenschenrechtscharta (1948) und der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats (1953) einen anhaltenden Beitrag zur Universalisierung für die Grund- und Menschenrechte weltweit bedeutet. Was die bisher erzielte Kombination von Demokratiepraxis, Modernisierungsfortschritt, Rechtsgemeinschaft und Wohlfahrtsstaatlichkeit unter Garantie der Grund- und Menschenrechte angeht, ist die EU im Vergleich zu anderen Großräumen und Weltregionen wie China, Indien, der Russischen Föderation und den USA das im Sinne von Legitimation, Loyalität und Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger noch das aussichtsreichste, zukunftsträchtigste und verheißungsvollste Projekt für das weitere 21. Jahrhundert.

VI. Definition, Fazit und Ausblick: Die EU und die Weltgesellschaft als Entwicklungsprozesse Bisher haben sich die Wissenschaften um möglichst genaue und treffende Definitionen der Gemeinschaften eher herumgedrückt, was nicht verwundern kann. Mehrfach hatten sie im Laufe der 1970er und 1980er Jahre und später sowieso allein schon aufgrund der Erweiterungen64 ihre Natur verändert. Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) änderte sich ihre Bezeichnung von „Europäische Gemeinschaften“ (EG) in „Europäische Union“ (EU). Wollte man sie bestimmen, kann man es mit einem Satz kaum tun, aber daran sollte ein Versuch nicht scheitern: 64 Christopher Preston, Enlargement and Integration in the European Union, London – New York 1997; Alan Mayhew, Recreating Europe. The European Union’s Policy towards Central and Eastern Europe, Cambridge 1998; Gabriele Clemens (Hrsg.), Die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union (Osteuropa. Geschichte, Wirtschaft, Politik 1), Münster 1999; Neill Nugent, European Union Enlargement (The European Union Studies), Houndmills – New York 2004.

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Bei der EU handelt es sich um einen ausgehend von historischen Ideen entwickelten, mehrzentrisch aufgebauten und multipräsidentiell geleiteten sowie verzögert direktdemokratisch legitimierten Institutionenverbund, ein Projekt zur partiellen Vergemeinschaftung von nationalen Politiken, basierend auf einer Vertragsrechtsgemeinschaft. Sie leistet einen dauerhaft angelegten gemeinsamen Aushandlungsprozess mit Kompromissbereitschaft, Krisenbewältigungsfähigkeit und Problemlösungskapazität von eigenen Organen im nationalstaatlichen Interessenausgleich durch stets neu entwickelte Ideen, erweiterte Institutionen, neu geschaffene Organe und beitretende Einzelmitglieder mit vermehrter Tendenz zur Unionsstaatlichkeit als eigenständiger Rechtspersönlichkeit im fortwährenden Wandel des Ausbaus und der Vertiefung – nicht frei von Rückschlägen, zu deren Überwindung stets neue Anstrengungen erforderlich waren. Die EU weist noch keine Unionsgesellschaft europäischer Bürger auf, bildet aber schon eine Bürgerunion europäischer Gesellschaften. Die EU bietet für die Europäer eine doppelte Reaktion: Sie ist erstens eine gemeinschaftspolitische Organisation der Souveränität der Staaten als Antwort auf die Vielfalt der nationalen Identitäten und politischen Eigenwege zur Vermeidung nationalstaatlicher Identitätskonflikte bis hin zu Kriegen in Europa sowie zweitens eine wettbewerbspolitische Antwort auf die Globalisierung, die sich durch ihren Konkurrenzdruck auf dem europäischen Kontinent am stärksten äußert. Die EU betreibt eine vorsorgende Politik in Europa selbst durch Firmenund Unternehmensförderungen in unterentwickelten Räumen. Sie bezeugt ebenfalls ihren Willen zur Leistung von humanitärer Hilfe weltweit. Was fehlt, sind stärker vermittelnde Instanzen der Kommunikation und breitenwirksame gemeinsame Symbole, zu groß sind die Abstände im dynamischen Mehrebenensystem zwischen lokaler, regionaler und nationaler Ebene65 einerseits und der EU-Ebene andererseits, zu weit sind die Wege von den Peripherien nach Brüssel. „Flexible Solidarität“ wie auf dem EU-Gipfel im September 2016 in Bratislava im Rahmen der slowakischen Ratspräsidentschaft verlautbart, kann keine ausreichende und zufriedenstellende Politik sein.66 Solange eine gemeinsame Asylpolitik und Außengrenzsicherung nicht möglich sind, erscheinen nationalstaatliche Lösungen naheliegend, bleiben aber angesichts eines wachsenden globalen Migrationsdrucks unzureichend. Umso notwendiger ist der europäische Beitrag zur Mitwirkung am Weltfrieden – sei er gesellschaftlicher, politischer oder sozialer Art. Um weltweit als Inspirationsquelle oder gar als Modell und Vorbild zu wirken, müsste die EU erst selbst noch eine Sozialunion im eigenen Rahmen werden, wobei der Weg dahin nicht mehr so weit ist: Im Jahre 1900 stellte 65 Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen 12), Bochum 2001. 66 Ulrich Ladurner, Solidarität nur aus Eigeninteresse. Nach Brexit und Flüchtlingskrise herrscht auf dem EU-Gipfel in der Slowakei schnöder Realismus. Nur das derzeit Mögliche wird verhandelt, auf Kosten der Gemeinschaft, in Zeit online, 16. 9. 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-09/bratislava-eu-gipfelangela-merkel-abschluss-erklaerung (abgerufen 6. 3. 2017).

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Die EU und ihr weltordnungspolitischer Auftrag

Europa 25 % der Weltbevölkerung, 2016 nur mehr 7 %, aber immerhin trägt es 60 % der Sozialausgaben weltweit. Nimmt man die EU und darüberhinausgehend Europa, so sind in ihren Haupt- und Metropolstädten weltgesellschaftliche Verhältnisse weitgehend verwirklicht. Das gilt natürlich auch für die urbanen Zentren in China oder in den USA. Der Trend zu immer stärker westlich-orientierten oder verwestlichten Groß- und Megastädten mit einem ausgeprägten Maß an Multiethnizität, Multikonfessionalität und Multinationalität spricht schon für globale weltgesellschaftliche Knotenpunkte. Dem inzwischen untergegangenen und weltweit auch nicht mehr vermittelbaren „American Dream“ stellte Jeremy Rifkin als nachahmenswerte Alternative den „European Dream“ gegenüber.67 Was die EU und ihren selbst gestellten weltordnungspolitischen Auftrag angeht, muss man realistischer Weise festhalten, dass sie seit den 1990er Jahren nur eine eingeschränkte Außenwirkung entfalten konnte. Dies war bedingt durch eine Reihe von Faktoren, wie die Aufnahme, Bewältigung und Verarbeitung der Folgen der deutschen Einheit 1989/90 für Deutschland wie Europa, der Befriedung des „Balkans“, die erst ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ansatzweise gelingen sollte, die angestrebte, aber letztlich ausgebliebene EU-Institutionen-Reform trotz fünf neuer Verträge (Maastricht, Amsterdam, Nizza, „Verfassung“ und Lissabon), die EU-„Osterweiterung“ (1998–2004), die Banken- und Finanzmarktkrise (seit 2008) sowie die „Flüchtlingskrise“ (Solidaritätskrise) (2015/16). So gesehen war die EU der letzten 25 Jahre seit Maastricht überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Sie wird dies wohl im Zeichen von Herausforderungen wie „Brexit“, „Grexit“ und dem Ukraine-Russland-Konflikt noch weiter bleiben. Dennoch blieb die EU auch in den schwersten Krisenjahren, die weiter anhalten dürften, eine Außenhandels-, Rechts-, Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, während sie von einer äußeren wie inneren Sicherheits-, Solidarund Sozialgemeinschaft noch weit entfernt ist. Längst sind zwar zukünftige Aufgaben wie die Lösung der Fragen Energieverteilung, Kapitalverkehr, Klimawandel, Migrationssteuerung und transeuropäische Netze als solche begriffen worden, es fehlt aber auch hier an Einigkeit und Geschlossenheit, um so benannte Projekte, wie z. B. die „Energie-“ oder „Kapitalunion“, inhaltlich substantiell zu konzipieren, konkret zu organisieren und zeitplangemäß zu verwirklichen. Die EU steht auch nicht für sich allein. Sie ist eingebunden in die internationalen Verpflichtungen, globalen Vernetzungen und weltpolitischen Veränderungen. Der im Dezember 2015 geschlossene Weltklima-Pakt von Paris mit der Zielsetzung, die Erderwärmung durch den Treibhauseffekt auf deutlich unter zwei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, fand Zustimmung von 195 Staaten der Welt, sogar eingeschlossen China und die USA,68 wenngleich sich US-Präsident Trump davon distan67 Jeremy Rifkin, The European Dream. How Europe’s Vision of the Future is Quietly Eclipsing the American Dream, New York 2004. 68 Steffen Bauer, Das Pariser Klimaabkommen und die globale Energiepolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte

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ziert und nach seiner Amtsübernahme den Austritt vom Abkommen verkündet hat. Die EU war als geschlossener Akteur und eigene Vertragspartei aufgetreten und sollte das Abkommen im Dezember 2016 ratifizieren. Sie ist auch nur ein Teil- oder Subsystem der Weltpolitik, der Weltökonomie und der Weltwährungen. Weltgesellschaftliche Visionen und Wunschvorstellungen wurden und werden auch überlagert vom globalen Demokratie-Diktatur-Gegensatz. Dieser wirkt als entscheidendes Hemmnis für eine freiwillig gewählte Weltgesellschaft, um ihrerseits als Mittel zur Konfliktregulierung zu dienen. Demokratisch verfasste Regime sind dabei weltweit in der Defensive. Die bestehenden politischen Verhältnisse in China, Russland und den Vereinigten Staaten deuten nicht auf einen ungebrochenen globalen Trend für Demokratien hin – im Gegenteil. Insofern stellt sich auch die Frage nach der demokratischen Solidarität in der Weltgesellschaft.69 Die EU kann hierfür ein Garant sein. Abschließend bleibt festzuhalten: Die Weltgesellschaft ist kein vollständiges Trugbild, aber doch eine Art von Mischwesen. Die Idee hat begonnen, die Realität zu erfassen oder anders formuliert: Die Realität hat die Idee bereits eingeholt. Es ist noch ein okzidentaler Begriff, wurzelnd in einem westlichen Ideenkonzept. Das quantitative Ausmaß einer Weltgesellschaft scheint sich bisher auf „global villages“ zu beschränken, die Entwicklung einer Weltkultur scheint aber schon im Gange. Dem Philosophen Peter Sloterdijk ist deshalb wohl zuzustimmen, dass der Weg zu einer Weltgesellschaft noch weit, aber er beschritten ist.70 So ließe sich sagen, dass die EU Teil einer Art Weltgesellschaft sein mag, aber derzeit noch zu schwach und daher auch nicht in der Lage ist, eine Weltgesellschaft auszugestalten, zu formen und zu lenken, wie es Europa noch im Zeichen des Kolonialismus und Imperialismus vor 1914 war. Dabei handelte es sich aber auch um eine „Weltgesellschaft“, die der EU von heute sicherlich nicht mehr vorschweben dürfte.

B 12–13 (21. 3. 2016), 32–38; Verena Schmitt-Roschmann, EU stimmt für Pakt von Paris. Klimaschutz auf der Zielgeraden, in: Neue Presse Coburg, 1. 10. 2016. 69 Hauke Brunkhorst, Demokratische Solidarität in der Weltgesellschaft, in: http://www.bpb.de/apuz/31216/ demokratische-solidaritaet-in-der-weltgesellschaft (8. 5. 2009), (abgerufen 11. 10. 2016). 70 Peter Sloterdijk, Der weite Weg zur Weltgesellschaft, in: Handelsblatt, 13. 1. 2017, http://www.handelsblatt. com/my/politik/international/essay-von-peter-sloterdijk-der-weite-weg-zur-weltgesellschaft/19245112.html (abgerufen 24. 1. 2017).

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Anspruch und Wirklichkeit der USA als globale Ordnungsmacht: Perspektiven für eine Weltgesellschaft? I. Vorbemerkung Die Vereinigten Staaten von Amerika haben seit ihrer Staatsgründung eine kontinuierlich wachsende Rolle im internationalen System gespielt und in zunehmendem Maße die Weltgesellschaft beeinflusst. Weltgesellschaft wird hier definiert als die Summe der innerhalb von Staaten sich entwickelnden Gesellschaften, die in ihren zunehmenden Interaktionen um die Strukturierung einer globalen Gesellschaft ringen. Das bedeutet zunächst Globalisierung der eigenen Ordnungsvorstellungen. Es heißt auch Akzeptanz (bzw. auch Nichtakzeptanz) internationaler Normen. Dies soll im folgenden Beispiel der USA verdeutlicht werden. Innerhalb von etwas mehr als einem Jahrhundert wurden die USA zur Weltmacht, innerhalb von zwei Jahrhunderten zur Supermacht. Im Zuge dieser Entwicklung haben die USA die Entwicklung der Weltgesellschaft geprägt, ja prägen wollen. In ihren außenpolitischen Zielsetzungen lassen sich die amerikanischen Führungseliten von Politik und Wirtschaft von einem Geflecht von Wertvorstellungen und Eigeninteressen leiten. Entscheidende Weichenstellungen erfolgten bereits während der Staatsgründung Ende des 18. Jahrhunderts und im Verlauf des 19. Jahrhunderts.

II. Kontinentale Expansion und außenpolitische Machtentfaltung im 19. Jahrhundert Bereits die Unabhängigkeitserklärung ist in mehrfacher Hinsicht ein globales Ereignis. Das gilt zunächst für die Proklamierung der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität. Diese werden nicht nur für die Kolonien eingefordert, sondern als universale Werte definiert. Eine weitere globale Dimension spiegelt sich in den Reaktionen in Europa. Dreizehn Jahre vor der Französischen Revolution war die Amerikanische Revolution ein europäisches Medienereignis. So hat die mediale Rezeption des Geschehens in der Neuen Welt in Europa vielerorts zu einer „Debatte um das Recht oder Unrecht von Amerikanern und Briten zur Entstehung einer kritisch räsonierenden politischen Öffentlichkeit“ beigetragen.1 In der amerikanischen Erinnerungspolitik sind diese globalen Dimensionen der Entstehung 1 Frank Becker, Die Amerikanische Revolution als europäisches Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), http://www.ieg-ego.eu/beckerf-2010-de (abgerufen 16. 1. 2018).

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der Vereinigten Staaten von Amerika ein ständiger Bezugspunkt geblieben. Der Schuss an der Brücke von Concord, der im April 1775 die Erhebung gegen die Briten einleitete, sei in der ganzen Welt gehört worden, so der Dichter Ralph Waldo Emerson in seiner Concord Hymn 50 Jahre nach dem Ereignis.2 200 Jahre später hat Präsident Ford in einer Gedenkfeier zum Bicentennial daran erinnert, dass das Echo noch immer zu vernehmen sei: „The volley fired here at Concord two centuries ago, ‚the shot heard around the world‘ still echos today on this anniversary.“3 Nach der erfolgreichen Staatsgründung stand im 19. Jahrhundert zunächst die kontinentale Expansion im Vordergrund. In der Forcierung dieser Westexpansion haben sich die weißen Siedler auf Prinzipien berufen und Mentalitäten entwickelt, die auch zur Rechtfertigung einer Expansion über die kontinentalen Grenzen hinaus herangezogen wurden: das quasi natürliche Recht auf Beherrschung Nordamerikas („Manifest Destiny“), die göttliche Vorsehung, Verbreitung der Zivilisation und Exzeptionalität (Exceptionalism) Amerikas als einzigartiger Nation, die anderen Nationen moralisch überlegen sei. Als weiterer Faktor ist das Frontier-Denken zu nennen. Die ständige Verschiebung der Besiedlungsgrenze hatte die Überzeugung geprägt, dass nach Erreichen der Westküste neue Grenzen erschlossen werden müssten. Die Expansion nach Übersee wurde als quasi natürliche Fortsetzung der kontinentalen Ausbreitung gedeutet. Überdies waren die amerikanischen Eliten von Wirtschaft und Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu der Überzeugung gelangt, dass die Erschließung von Absatzmärkten für die Überschussprodukte von Landwirtschaft und Industrie eine Expansion über die Grenzen hinaus aus wirtschaftlichen und politischen Gründen erforderlich mache. Durch Expansion nach außen sollte die Wirtschaft vor Krisen bewahrt und damit auch das politische System stabilisiert werde: Expansion als Systemerhalt.4 Bei der Realisierung der Expansion haben sich außenpolitische Instrumente ausgeprägt, die bis zur Gegenwart die Außenpolitik der USA kennzeichnen. Hier ist zunächst die Monroe-Doktrin des Jahres 1823 zu nennen. In ideologischer Abgrenzung von den europäischen Regierungssystemen haben die USA einseitig ihren Herrschaftsanspruch in der westlichen Hemisphäre proklamiert. In dieser Proklamation spiegeln sich zugleich die langfristigen Perspektiven amerikanischer Expansionsambitionen. Das Selbstvertrauen manifestiert sich auch in der Außenhandelspolitik, in der Washington den freien Zugang zu den Märkten der 2 Text auf der Homepage der Poetry Foundation, https://www.poetryfoundation.org/poems-and-poets/poems/ detail/45870 (abgerufen 31. 1. 2017). 3 Gerald Ford, Remarks at the Old North Bridge, Concord, Massachusetts, 19. 4. 1975, http://www.presidency. ucsb.edu/ws/?pid=4847 (abgerufen 31. 1. 2017). 4 Vgl. insbes. Hans-Ulrich Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900, Göttingen 1974. Zu Manifest Destiny grundlegend Albert K. Weinberg, Manifest Destiny. A Study of Nationalist Expansion in American History, New York 1993; zur Exzeptionalität neuerdings Hilde Eliassen Restad, An Ideology that Made a Nation and Re-Made the World, London 2015; Lukas D. Herr. A Myth that Matters. Der amerikanische Exzeptionalismus und der Versuch einer Konzeptionalisierung der ideationalen liberalen Außenpolitik, Kaiserslautern 2016.

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Anspruch und Wirklichkeit der USA als globale Ordnungsmacht

Welt anstrebte. Die ökonomische Komponente wird dann in der Dollar Diplomacy erweitert, die darauf abzielt, durch finanzpolitisches Engagement militärische Konflikte möglichst zu verhindern. Als Ultima Ratio stand dann zur Durchsetzung amerikanischer Interessen immer auch das Instrument der bewaffneten Intervention zur Verfügung. Die imperiale Ausbreitung der USA führte im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend zu Konflikten mit den europäischen Kolonialmächten. Die von Washington angestrebte Dominanz in Lateinamerika kulminierte Mitte der 1890er Jahre zunächst in einer Konfrontation mit London. Der Grenzkonflikt zwischen British-Guayana und Venezuela rief die amerikanische Regierung auf den Plan. Eine britische Kontrolle über die Orinoco-Mündung sollte blockiert werden, denn Washington fürchtete eine Behinderung der amerikanischen Expansionspläne in Südamerika. Unter Berufung auf eine extensive Interpretation der MonroeDoktrin hat Washington ein Interventionsrecht formuliert und die ordnungspolitische Suprematie in Lateinamerika beansprucht.5 So erklärte der amerikanische Außenminister Olney im Juli 1895: „To-day the United States is practically sovereign on this continent, and it’s fiat is law upon the subjects to which it confines its interposition.“6 London hat sich aus weltpolitischen Erwägungen dem Diktum Washingtons gebeugt. Die Venezuelakrise hatte eine über die bilateralen Beziehungen der beiden angelsächsischen Mächte hinausgreifende prinzipielle Bedeutung. Washington hatte der Welt demonstriert, dass die USA beim Aufbau eines Informal Empire in Lateinamerika und der Durchsetzung eigener Ordnungsvorstellungen vor machtpolitischen Auseinandersetzungen mit europäischen Großmächten nicht zurückschreckte. Der Krieg mit Spanien des Jahres 1898 belegt dies. Vorwand für die militärische Auseinandersetzung mit Spanien war die Brutalität der spanischen Unterdrückungsmethoden auf Kuba und die damit einhergehende Unfähigkeit der spanischen Kolonialmacht, US-amerikanische Bürger und deren Eigentum sowie die wirtschaftlichen Interessen der USA zu schützen. Die Explosion des amerikanischen Kriegsschiffs Maine im Hafen von Havanna am 15. Februar 1898 führte zur Verschärfung der Spannungen und schließlich zur Kriegserklärung an Spanien am 24. April 1898. Der Kriegsverlauf zeigte, dass die amerikanischen Kriegsziele über eine Pazifizierung Kubas weit hinausgingen. Die spanische Pazifikflotte wurde vor Manila, die Atlantikflotte vor Santiago de Kuba entscheidend geschlagen. Der Friedensvertrag von Paris vom 10. Dezember 1898 brachte den USA zahlreiche territoriale Zugewinne: Kuba, Puerto Rico, Guam und die Philippinen. Das sich hier manifestierende imperiale Ausgreifen der Washingtoner Regierung hat in den USA in den folgenden Jahren und insbesondere im Präsidentschaftswahlkampf

5 Vgl. Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, 157–190; Walter LaFeber, The New Empire. An Interpretation of American Expansion 1860–1898, Ithaca/NY 1967, 242–283. 6 Mr. Olney to Mr. Bayard, 20. 7. 1895, in: Foreign Relations of the United States [künftig FRUS], 1895, Vol. I, Hrsg. v. United States Department of State, Washington/D.C. 1895, 558: http://digicoll.library.wisc.edu/cgibin/FRUS/FRUS-idx?type=goto&id=FRUS.FRUS1895p1&isize=M&submit=Go+to+page&page=558 (abgerufen 20. 1. 2017).

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des Jahres 1900 eine lebhafte Debatte über Zielsetzungen, Methoden und Wirkungen und Legitimierung der überseeischen Expansion entfacht. Anlässlich seiner erneuten Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten hat Präsident McKinley die Motive seiner Kriegspolitik dargelegt und eine Erfolgsbilanz gezogen. Im Namen der Humanität hätten die USA einen gerechten Krieg geführt. Damit sei ihnen auch eine Verantwortung übertragen worden, der Washington selbstverständlich gerecht werden wolle. Spanien sei aus der westlichen Hemisphäre vertrieben und die amerikanische Flagge wehe über den ehemals spanischen Territorien. Kuba sei befreit, Puerto Rico werde eine segensreiche Regierung erhalten und den Philippinen wurde eine an amerikanischen Normen orientierte friedliche Zukunft in Aussicht gestellt: The Philippines are ours and American authority must be supreme throughout the archipelago. There will be amnesty broad and liberal but no abatement of our rights, no abandonment of our duty. There must be no scuttle policy. We will fulfill in the Philippines the obligations imposed by the triumphs of our arms and by the treaty of peace, by international law, by the Nation’s sense of honor, and more than all, by the rights, interests, and conditions of the Philippine people themselves.7

Die Republikaner befürworteten in ihrem Wahlprogramm uneingeschränkt die expansionistische Außenpolitik McKinleys und deren Methoden. Das amerikanische Volk habe unter seiner Führung einen Krieg für Freiheit und für Menschenrechte geführt, in dem sich die amerikanischen Werte hätten entfalteten können. Zehn Millionen Menschen habe die amerikanische Intervention die Freiheit gebracht („a new birth of freedom“) und dem amerikanischen Volk eine neue und noble Verantwortung übertragen. „We indorse the administration of William McKinley. Its acts have been established in wisdom and patriotism, and at home and abroad it has distinctly elevated and extended the influence of the American nation.“8 Auch die Demokraten unterstützten grundsätzlich die aktive Expansionspolitik der McKinley-Administration. Heftige Kritik übten sie allerdings an dem von der Regierung McKinley gegen aufständische Filipinos geführten Kolonialkrieg. Der wachsende Einfluss Amerikas in der Welt dürfe nicht mit Gewalt erzwungen werden. Vielmehr gelte es, durch die hehren und noblen amerikanischen Werte zu überzeugen, formulierten die Demokraten in ihrem Wahlprogramm:

7 William J. McKinley, Address Accepting the Republican Presidential Nomination, 12. 7. 1900, http://www. presidency.ucsb.edu/ws/?pid=76197 (abgerufen 20. 1. 2017). 8 Republican Party Platform of 1900, 19. 6. 1900, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=29630 (abgerufen 20. 1. 2017).

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Anspruch und Wirklichkeit der USA als globale Ordnungsmacht

[…] we are in favor of extending the Republic’s influence among the nations, but we believe that that influence should be extended not by force and violence, but through the persuave power of a high and honorable example.9

Die inneramerikanischen Diskussionen über Ursachen und Wirkungen des spanisch-amerikanischen Krieges belegen, dass die Expansion nach Übersee von der erdrückenden Mehrheit der Führungseliten von Wirtschaft und Politik nachdrücklich unterstützt wurde. Zu den wirtschaftlichen Motiven trat die Überzeugung von der Überlegenheit des American System, das möglichst weltweit zu verbreiten sei. Der Krieg von 1898 hatte dies für alle Welt sichtbar gemacht. Unter dem Eindruck dieser expansionistischen Dynamik10 hat der britische Journalist William Stead im Jahre 1901 die „Amerikanisierung der Welt“ prognostiziert: „The advent of the United States of America as the greatest of world-powers is the greatest political, social, and commercial phenomenon of our times.“11 Der relative Gewichtsverlust Europas im internationalen System war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Realität, der sich Zeitgenossen und Historiker allerdings erst unter dem Eindruck der amerikanischen Intervention in den Ersten Weltkrieg im Jahre 1917 bewusst wurden.

III. Von Woodrow Wilson zu Franklin D. Roosevelt 1917–1945: Postulate für eine liberal-kapitalistische Weltordnung Im Zuge der imperialen Expansion haben die amerikanischen Führungseliten von Politik und Wirtschaft immer wieder ihre Entschlossenheit formuliert, amerikanische Ordnungsprinzipien weltweit durchzusetzen. Zahlreiche programmatische Manifestationen machen dies deutlich, drei von ihnen sollen hier hervorgehoben werden: Woodrow Wilsons 14 Punkte vom 8. Januar 1918, Franklin D. Roosevelts „Four Freedoms“ vom 6. Januar 1941 und die Atlantik-Charta vom 14. August 1941. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges in Europa hatten sich die USA zunächst als neutral erklärt. Im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1916 bezeichnete es Wilson als Erfolg seiner Politik, dass es ihm gelungen sei, die USA aus dem Krieg herauszuhalten. Die formale Neutralität änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass die USA von den Ereignissen in Europa elementar betroffen waren, zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht. Daher überrascht es nicht, dass der Präsident ungeachtet der amerikanischen Neutralität den Krieg in Europa   9 1900 Democratic Party Platform, 4. 7. 1900, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=29587 (abgerufen 20. 1. 2017). 10 Zur amerikanischen Expansion vom spanisch-amerikanischen Krieg bis zur Intervention im Ersten Weltkrieg vgl. Robert E. Hannigan, The New World Power. American Foreign Policy, 1898–1917, Philadephia/PA 2002. 11 William T. Stead, The Americanisation of the World. The Trend of the Twentieth Century, New York – London 1902, 5, Einleitung aus dem Jahr 2001 (nicht in allen Ausgaben enthalten). https://babel.hathitrust.org/cgi/ pt?id=uiuo.ark:/13960/t4th8fw31;view=1up;seq=9 (abgerufen 20. 9. 2016).

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wiederholt zum Anlass nahm, zu den Prinzipien der Washingtoner Außenpolitik Erklärungen abzugeben und ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über eine europäische Nachkriegsordnung zu fordern. Schon vor dem Kriegseintritt der USA im April 1917 bezeichnete es Wilson als unvorstellbar, dass Washington an einer europäischen Friedensordnung nicht beteiligt sein könnte. Ohne amerikanische Mitwirkung müsse jeder Friede brüchig sein.12 Allerdings müssten sich die künftigen Friedensregelungen an amerikanischen Ordnungsprinzipien orientieren. Unmissverständlich forderte er die Globalisierung der Demokratie. „The world must be made safe for democracy“, lautet die berühmte Formel, die Wilson in seiner Rede vom 2. April 1917 prägte, als er den Kongress um eine Kriegserklärung an das Deutsche Reich ersuchte.13 Ähnlich äußerte sich Wilson im Juni 1917. Das amerikanische Volk führe einen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aller Völker, „[…] a war to make the world safe for the peoples who live upon it and have made it their own“.14 Am ausführlichsten hat Wilson im Januar 1918 das amerikanische Friedensprogramm in seinen viel zitierten 14 Punkten der Öffentlichkeit unterbreitet. Neben konkreten Forderungen zur politisch-geographischen Neuordnung Europas auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts und der Regelung der Kolonialfrage postulierte Wilson die weltweite Gültigkeit der Grundprinzipien amerikanischer Außenpolitik: Freiheit der Meere, Freiheit des Welthandels, Rüstungsbeschränkungen, Absage an die Geheimdiplomatie sowie die Gründung eine „general association of nations“, des Völkerbundes.15 Dass sich Wilsons Konzept einer neuen Weltordnung rigoros an amerikanischen Interessen und Wertvorstellungen orientierte, belegen seine Äußerungen über die Bedeutung der Monroe-Doktrin in der Völkerbundsatzung. Hier sei, so unterstrich Wilson wiederholt, die 1823 unilateral proklamierte Monroe-Doktrin erstmals völkerrechtlich bedingungslos anerkannt worden. Mehr noch, die Völkergemeinschaft habe das in der Monroe-Doktrin verkündete Prinzip der Nichtintervention uneingeschränkt übernommen. Diese Globalisierung der Monroe-Doktrin brachte er auf die Formel „[…] the Monroe doctrine became the doctrine of the world“.16

12 Woodrow Wilson, Address to the Senate of the United States, „A World Leage for Peace“, 22. 1. 1917, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=65396 (abgerufen 20. 1. 2017). 13 Woodrow Wilson, Address to a Joint Session of Congress Requesting a Declaration of War Against Germany, 2. 4. 1917, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=65366 (abgerufen 21. 1. 2017). 14 Woodrow Wilson, Address on Flag Day, 14. 6. 1917, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=65400 (abgerufen 21. 1. 2017). 15 Woodrow Wilson, Address to a Joint Session of Congress, 8. 1. 1918, http://www.presidency.ucsb.edu/ ws/?pid=65405 (abgerufen 21. 1. 2017). 16 „Not only may no European power impair the territorial integrity or interfere with the political independence of any state in the Americas but no power anywhere may impair the territorial integrity or invade the political independence of another power.“ Woodrow Wilson, Address at the Reno Auditorium in Reno, Nevada, 22. 9. 1919, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=117396 (abgerufen 21. 1. 2017); zur Globalisierung der Monroe-Doktrin vgl. Laura Garcés, La mondialisation de la doctrine Monroe à l’ère Wilsonienne, Lausanne 1988.

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Mit der weltweiten Durchsetzung von Monroe-Doktrin und der Open Door Policy wollte Wilson eine liberal-kapitalistische Weltordnung etablieren. Diese sollte den Imperialismus der europäischen Mächte überwinden, vor radikalen Revolutionen schützen und die ökonomische Expansion der USA sichern.17 In dieser liberalen, an demokratischen Grundwerten orientierten Weltordnung würde den USA aufgrund ihres wirtschaftlichen Potenzials im internationalen Staatensystem automatisch die Führungsrolle zufallen. Das bedeutete, zugespitzt formuliert: Hegemonie durch Demokratie. Die von Wilson proklamierte weltweite Verbindlichkeit amerikanischer Werte kollidierte allerdings mit dem Prinzip der Selbstbestimmung. Dieses Spannungsfeld von amerikanischer Hegemonie und dem Recht auf Selbstbestimmung für alle Nationen ist bis zur Gegenwart ein Kontinuum amerikanischer Außenpolitik.18 Im amerikanischen Selbstverständnis, das gilt gerade auch für Wilson, ist dies allerdings kein Widerspruch. Im Bewusstsein einer vermeintlichen Exzeptionalität des American System gehen die amerikanischen Führungsschichten von Wirtschaft und Politik davon aus, dass die amerikanischen Werte alternativlos seien. Wilsons Weltfriedenskonzept wurde allerdings nicht Realität. Seine Ordnungsprinzipien wurden durch Kompromissformeln auf der Pariser Friedenskonferenz verwässert. Eine Beteiligung der USA am Völkerbund lehnte der amerikanische Senat ab, weil dessen Mehrheit eine Einschränkung amerikanischer Souveränität befürchtete. Das implizierte freilich keinen Rückzug aus der Weltpolitik. Washington hat in den 1920er Jahren Globalisierung und politischen Einfluss auf die Staaten der Weltgesellschaft mit ökonomischen Mitteln vorangetrieben. Europa war Schwerpunkt einer Handels- und Finanzpolitik zur Stabilisierung der privat-kapitalistisch organisierten demokratischen Staaten. Deutschland stand im Mittelpunkt dieser Strategie.19 Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Nationalsozialismus haben die stabilisierenden Wirkungen dieses primär ökonomischen Ansatzes zerstört. Analog zum Ersten Weltkrieg haben sich die USA zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zunächst neutral erklärt. Unter dem Eindruck der politischen, wirtschaftlichen und territorialen Expansion der totalitären Staaten hat Washington die Kooperation mit den westlichen Demokratien gesucht und zusammen mit Großbritannien und Kanada ein transatlantisches Dreieck demokratischer Staaten organisiert. Noch vor dem Kriegseintritt im Dezember 1941 hat Washington seinen globalen Führungsanspruch angemeldet und die Grundprinzipien einer Nachkriegsordnung definiert. In seiner Jahresbotschaft an den Kongress vom Januar 1941 hat Roosevelt an die Grundprinzipien der amerikanischen Demokratie erinnert und diese in vier Punkten zusammengefasst: Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Mangel und Freiheit

17 Zur Interdependenz von politischen und wirtschaftlichen Zielen der Politik Wilsons vgl. insbes. N. Gordon Levin, Woodrow Wilson and World Politics. America’s Response to War and Revolution, New York 1968. 18 Vgl. Brad Simpson, The United States and the Curious History of Self-Determination, in: Diplomatic History 36 (2012), Heft 4, 675–694. 19 Grundlegend Werner Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921–32, Düsseldorf 1970.

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von Furcht.20 An die universale Bedeutung der Vier Freiheiten hat der Präsident wiederholt erinnert und seine Entschlossenheit formuliert, diese Grundwerte weltweit kompromisslos zu verteidigen. Die USA seien das Arsenal der Demokratie. Nach dem Zusammenbuch der Diktaturen werde Amerika zum Wohle der Menschheit eine führende Rolle spielen.21 Im August 1941 hat Roosevelt dann in der Atlantik-Charta der Weltöffentlichkeit die amerikanischen Kriegsziele mitgeteilt: Verzicht auf territoriale Erwerbungen, territoriale Veränderungen nur mit Zustimmung der betroffenen Völker, Selbstbestimmungsrecht, Gleichberechtigung im Handel und im Zugang zu Rohstoffen für alle Staaten, internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, Freiheit der Meere, Abrüstung und Gewaltverzicht sowie in direktem Bezug zu den Vier Freiheiten „freedom from fear and want“.22 Diese acht Punkte, denen der britische Premier Winston Churchill nur zögerlich zugestimmt hatte, weil sie sich auch gegen den Fortbestand des britischen Imperiums richteten, stehen in der Tradition der 14 Punkte Wilsons. Auch die Atlantik-Charta ist ein Programm zur weltweiten Durchsetzung demokratischer und liberal-kapitalistischer Prinzipien, die auf globale Dominanz zielten. In subtiler Weise wurden, wie in Wilsons Friedensprogramm, demokratische Prinzipien, wirtschaftliche Eigeninteressen und amerikanischer Hegemonialanspruch miteinander verknüpft: Hegemonie durch Demokratie. In der propagandistischen Auseinandersetzung mit Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus wurde der Weltgesellschaft das American System als alternativlos empfohlen. „There is no way like the American way“,23 lautete die Devise sogar in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Dies war auch der Tenor intensiver Propagandainitiativen während des Zweiten Weltkriegs. Dabei wurde immer wieder unterstrichen, dass die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung integraler Bestandteil des amerikanischen Demokratiemodells sei. Der Verlauf des Krieges wurde als Beleg angeführt: „This war is proving that our American Way can out-produce, out-fight and outlast any other system of the world.“24 Dieses Überlegenheitsgefühl der amerikanischen Eliten spiegelt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass der Journalist Henry Luce im Februar 1941 das 20. Jahrhundert zum American Century ausrief und die Globalisierung amerikanischer Werte als alternativlos erklärte.25 20 Franklin D. Roosevelt, Annual Message to Congress on the State of the Union, 6. 1. 1941, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=16092 (abgerufen 20. 1. 2017). 21 Franklin D. Roosevelt, Address at the Annual Dinner of White House Correspondents’ Association, 15. 3. 1941, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=16089 (abgerufen 20. 1. 1017). 22 Zur Atlantik-Konferenz vgl. FRUS, 1941, Vol. I, 341–378, Text der Atlantik-Charta enthalten in: Joint Statement by President Roosevelt and Prime Minister Churchill, 4. 8. 1941, ebd., 368, http://digital.library.wisc. edu/1711.dl/FRUS.FRUS1941v01 (abgerufen 20. 9. 2016). 23 Plakat am U. S. Highway 99, Foto der Farm Security Administration aus dem Jahre 1937, https://www.loc. gov/item/fsa2000000879/PP/ (abgerufen 20. 9. 2016). 24 Propagandaplakat, undatiert (ca. 1942–1944), National Archives, College Park/MD, Still Picture Branch, Nr. 44-PA-2107 https://catalog.archives.gov/search?q=44-PA-2107 (abgerufen 20. 9. 2016). 25 Vgl. Henry A. Luce, The American Century. With Comments by Dorothy Thompson, Quincy Howe, John

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IV. Harry S. Truman: Die Illusion einer friedlichen Weltgesellschaft Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die USA die Globalisierung und ihren politischen Einfluss auf die Staaten der Weltgesellschaft v. a. mit ökonomischen Mitteln vorangetrieben. Dieses Konzept war ungeachtet partieller Erfolge gescheitert. Die Hoffnung Wilsons, Amerika führe Krieg, um künftige Kriege zu verhindern, hatte sich nicht erfüllt.26 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen haben die USA nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit gelassen, ihre Ordnungsvorstellungen global durchzusetzen. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg sollte jetzt das gesamte außenpolitische Instrumentarium eingesetzt werden: Ökonomie, Diplomatie, Militär, Propaganda. Zunächst stand der kooperative Ansatz im Mittelpunkt. Aus den im Kampf gegen die Achsenmächte verbündeten „United Nations“ wurde die am 26. Juni 1945 gegründete Weltorganisation „United Nations“. Jetzt finden sich in der Rhetorik amerikanischer Präsidenten die Begriffe „World Society“ und „World Community“. Erklärtes Ziel der Vereinten Nationen ist Sicherung des Friedens durch internationale Zusammenarbeit. Im „Glauben an die Grundrechte des Menschen“ sollte eine internationale Kooperation herbeigeführt werden, „um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und den Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“.27 Präsident Truman bezeichnete die Charta der Vereinten Nationen als solide Grundlage für den Aufbau einer besseren Welt. Er verglich die UN-Charta mit der amerikanischen Verfassung und nahm ausdrücklich Bezug auf die Völkerbundpläne Wilsons sowie die sich in den Vier Freiheiten manifestierenden Weltordnungspläne Franklin D. Roosevelts. Hier hob er die Freiheit von Mangel besonders hervor. Ein Mindestmaß an sozialer und wirtschaftlicher Stabilität sei Voraussetzung für politische Stabilität und Frieden einer, wie Truman formulierte, zivilisierten Staatengemeinschaft: Hier sei gemeinsames entschlossenes Handeln erforderlich: Upon our decisive action rests the hope of those who have fallen, those now living, those yet unborn – the hope for a world of free countries – with decent standards of living, which will work and cooperate as a friendly civilized community of nations.28

Chamberlain, Robert G. Spivack, Robert E. Sherwood, New York 1941, Neudruck in: Diplomatic History 23 (1999), Heft 2, 159–171. 26 Vgl. Thomas J. Knock, To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, Princeton/ NJ 1995. 27 Charta der Vereinten Nationen, Präambel und Kapitel I, Artikel 1, 26. 6. 1945, http://www.unric.org/de/charta (abgerufen 20. 1. 2017). 28 Harry  S. Truman: Address in San Francisco at the Closing Session of the United Nations Conference, 26. 6. 1945, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=12188 (abgerufen 20. 9. 2016).

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In seiner „State of the Union Address“ vom Januar 1946 unterstrich Truman die in der Nachkriegszeit intensivierten vielfältigen Interdependenzen der Staatenwelt. Durch Fortschritte in der Wissenschaft, der Kommunikation und dem Verkehr sei die Welt zu einer Gemeinschaft komprimiert worden. „The economic and political health of each member of the world community bears directly on the economic and political health of each other member.“ Jetzt sprach Truman von einer Weltgesellschaft; die Vereinten Nationen müssten zu deren Repräsentationsorgan ausgebaut werden, […] that we begin now to develop the United Nations Organization as the representative of the world as one society. The United Nations Organization […] will provide a great voice to speak constantly and responsibly in terms of world collaboration and well-being.

Daraus hat er für die USA sogleich eine Führungsrolle abgeleitet: „Our Nation has always been a land of great opportunities for those people of the world who sought to become part of us. Now we have become a land of great responsibilities to all the people of all the World.“29 Im Juli 1949 stellte Truman die Militärhilfe für die Verbündeten in diesen Kontext. Sie liege nicht nur im sicherheitspolitischen Interesse der USA, sondern diene auch dem Ziel, eine sichere und prosperierende Weltgesellschaft aufzubauen. The preparation of the military means for keeping the peace is necessary not only to the security of the United States but also to building a safe and prosperous world society. Helping free nations to acquire the means of defending themselves is an obligation of the leadership we have assumed in world affairs. Within the practical limits of our resources, we must strive to act with foresight and precision, so that our strength and the collective strength of the free peoples associated with us will be most effective.30

Im Mai 1951 bezeichnete Truman militärische Aufrüstung und internationale militärische Zusammenarbeit als Voraussetzung zum Aufbau einer gerechten und prosperierenden Weltgesellschaft. I recommend this Mutual Security Program to the Congress as another vital step along the road to real security and lasting peace. […] We cannot win peace through appeasement. We cannot gain security in isolation. We will not surrender. Let it never be forgotten, however, that we are ready, as we always have been, to follow the road of peaceful settlement of disputes, of control 29 Harry S. Truman, Message to the Congress on the State of the Union and the Budget for 1947, 21. 1. 1946, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=12467 (abgerufen 20. 9. 2016). 30 Harry S. Truman: Special Message to Congress on the Need for a Military Aid Program, 25. 7. 1949, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=13253 (abgerufen 20. 9. 2016).

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and reduction of armaments, of cooperation in applying man’s talents to the building a just and prosperous world society.31

Die Vision einer gerechten und prosperierenden Weltgesellschaft unter amerikanischer Führung blieb allerdings Illusion. Die Etablierung einer globalen Pax Americana scheiterte am Aufstieg der Sowjetunion. Seit 1946/47 intensivierte sich der politische, ideologische und machtpolitische Gegensatz zwischen Moskau und Washington. Zu Beginn der 1950er Jahre war „Die Teilung der Welt“ Realität.32

V. Die Amerikanisierung der westlichen Welt Der sich intensivierende amerikanisch-sowjetische Gegensatz führte 1946 in Washington zu der Erkenntnis, dass die angestrebte globale Pax Americana zunächst nicht zu realisieren war. Durch eine Reihe sicherheitspolitischer und ökonomischer Maßnahmen sollten die amerikanischen Ordnungsprinzipien dann wenigstens in einem möglichst großen Teil der Welt durchgesetzt werden. Das galt auch für die ehemaligen Kriegsgegner, die in die westliche Welt integriert werden sollten. Die amerikanische Europapolitik zielte darauf ab, die westeuropäischen Staaten zu stabilisieren und in ein liberal-kapitalistisches Weltwirtschaftssystem zu integrieren. Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Westeuropa stützte sich zunächst auf wirtschaftliche und finanzielle Mittel. Nachdem sich bilaterale Finanzhilfen in den Jahren 1945/46 als wenig wirksam erwiesen hatten, kündigte der amerikanische Außenminister George C. Marshall im Juni 1947 für Europa ein umfassendes Wiederaufbauprogramm an. Das als Marshallplan bekannt gewordene European Recovery Program (ERP) mit einem Finanzvolumen von knapp 14 Milliarden $ erwies sich als erfolgreiche Initialzündung zur wirtschaftlichen Rekonstruktion. In der praktischen Durchführung des Marshallplans verfügte die amerikanische Diplomatie über zahlreiche Möglichkeiten zur direkten und indirekten Einflussnahme. Für die Verwendung der Mittel hatte sich Washington ein Vetorecht vorbehalten und damit die Möglichkeit, auf die Investitionsentscheidungen der Empfängerländer Einfluss zu nehmen, um die amerikanischen wirtschafts- und ordnungspolitischen Prinzipien durchzusetzen. Als Geldgeber verfügte Washington auch über Möglichkeiten zur Steuerung der innereuropäischen Beziehungen. So hatte die amerikanische Regierung die Vergabe von Dollarhilfen von einem Mindestmaß an innereuropäischer Zusammenarbeit abhängig gemacht. In der amerikanischen Rekonstruktionspolitik in Europa spielte Westdeutschland eine Schlüsselrolle. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland Kernstück der 31 Harry S. Truman: Special Message to the Congress on the Mutual Security Program, 24. 5. 1951, http://www. presidency.ucsb.edu/ws/?pid=13793 (abgerufen 20. 9. 2016). 32 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, 10. Auflage, München 2002.

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amerikanischen Europapolitik, aus mehreren Gründen. Nach dem militärischen Sieg über Deutschland gelangten die außenpolitischen Entscheidungsträger schnell zu der Überzeugung, dass angesichts des westdeutschen ökonomischen Potenzials ein wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas ohne Westdeutschland nicht möglich war. Der Stellenwert Westdeutschlands ergab sich auch aus der Tatsache, dass die USA als Besatzungsmacht Möglichkeiten der direkten Einflussnahme auf wirtschaftliche und politische Grundsatzentscheidungen hatten. Die Steuerungsmöglichkeiten wurden zudem durch die Haltung der Westdeutschen begünstigt, die in einer engen Kooperation mit den Amerikanern die Chance zu einem Wiederaufstieg erblickten.33 Der von den USA initiierte Wiederaufbau Westeuropas war von umfangreichen Propagandaoffensiven begleitet. Im Kern ging es darum, die westeuropäischen Demokratien an amerikanischen Ordnungsvorstellungen auszurichten, Westeuropa langfristig an die USA zu binden, sowie die Etablierung Europas als einer eigenständigen Größe zwischen den beiden Blöcken zu verhindern und die nicht-kommunistische Linke zu marginalisieren. Die Propaganda richtete sich zunächst an die Bevölkerung Westeuropas. Um sie von der Alternativlosigkeit amerikanischer Ordnungsprinzipien zu überzeugen, wurde ihnen das breite Spektrum des „American Way of Life“ präsentiert. Staatliche Propaganda wurde durch privatwirtschaftliche Initiativen und Filme aus der Traumfabrik Hollywood ergänzt. Amerikanische Produktions- und Vermarktungsmethoden, Massenkonsum sowie die vielfältige Präsenz amerikanischer Kultur wurden derart dominant, dass man von einer Amerikanisierung Westeuropas sprechen kann. Diese Amerikanisierung Westeuropas wurde von der großen Mehrheit der Bevölkerung wegen der Attraktivität des „American Way of Life“ nicht als Fremdbestimmung empfunden. Begriffe der historischen Forschung unterstreichen das. So spricht der norwegische Historiker Geir Lundestad von einem „Empire by Invitation“.34 Die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia geht noch weiter, wenn sie das Modell Amerika als „unwiderstehlich“ charakterisiert.35 Die Westeuropapolitik der USA nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Ökonomische Rekonstruktion, Demokratisierung Westdeutschlands und Impulse für die europäische Integration unter Einbeziehung Deutschlands haben den westeuropäischen Demokratien politische Stabilität verliehen, weil diese ökonomisch untermauert war. Den Europäern wurde in Aussicht gestellt, dass sich auch für

33 Vgl. hierzu die Aufsatzsammlung Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen – Kontroversen, Stuttgart 1990. 34 Geir Lundestad, Empire by Invitation? The United States and Western Europe, 1945–1952, in: Journal of Peace Research 23 (1986), Heft 3, 263–277; Ders., The United States and Europe since 1945. From ‘Empire’ by Invitation to Transatlantic Drift, London 2005. 35 Victoria de Grazia, Das unwiderstehliche Imperium. Amerikas Siegeszug im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2010, Übersetzung von Irresistable Empire. America’s Advance through Twentieth Century Europe, Cambridge/MA 2006.

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sie eine Art „American Dream“ verwirklichen könne. „Wohlstand für alle“ lautete die in Westdeutschland geprägte Formel.36 Im Hinblick auf die Entwicklung zu einer friedlichen Weltgesellschaft hatte die Amerikanisierung Westeuropas unterschiedliche Auswirkungen. So manifestiert sich hier erstens die erfolgreiche Stabilisierung demokratischer Staaten als wesentlicher Teil der Weltgesellschaft. Zweitens hatte die erfolgreiche Kombination von Demokratie und Wohlstand Ausstrahlungen in diejenigen Segmente der Weltgesellschaft, denen demokratische Grundrechte von totalitären Regimen verwehrt wurden. Allerdings gilt es drittens zu bedenken, dass die in Westeuropa (und auch Japan) erfolgreiche Washingtoner Politik die Teilung der Welt vertieft und den Wettkampf der Systeme intensiviert hat.

VI. Der „American Way of Life“ in Moskau Im Wettkampf der Systeme nahm die Propaganda einen zentralen Stellenwert ein. In diesem „Kampf um die Weltmeinung“37 hat Washington kontinuierlich für die liberale Demokratie geworben und den Modellcharakter des „American Way of Life“ herausgestellt. Allerdings hatten die USA nur selten die Gelegenheit, das Modell Amerika den Bürgern der Sowjetunion unmittelbar vor Ort zu präsentieren. Daher kommt zwei in der Sowjetunion in den Jahren 1959 und 1976 gezeigten amerikanischen Ausstellungen eine besondere Bedeutung zu. Die erste Ausstellung, die „American National Exhibition“38 wurde im Juli 1959 im Rahmen des im Jahr zuvor abgeschlossenen amerikanisch-sowjetischen Kulturabkommens in Moskau eröffnet. Es unterstreicht den großen Stellenwert dieser Ausstellung, dass Vizepräsident Richard Nixon zur Eröffnung in die Sowjetunion reiste. Zahlreiche Ausstellungsstücke aus dem amerikanischen Alltagsleben und multimediale Präsentationen sollten ein positives Bild über Land und Leute in Amerika vermitteln. Besondere Bedeutung hatte eine amerikanische Musterküche, deren modernste Haushaltsgeräte die vielfältigen Arbeitshilfen der amerikanischen Hausfrau demonstrierten. Hier kam es zu der berühmten Kitchen Debate,

36 Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957 (seither zahlreiche Neudrucke), http://www.ludwigerhard.de/wp-content/uploads/wohlstand_fuer_alle1.pdf (abgerufen 30. 1. 2017). 37 Vgl. Frank Schumacher, Kalter Krieg und Propaganda. Die USA, der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1955, Trier 2000. 38 Vgl. Matt Novak, The All-American Expo that Invaded Cold War Russia, Internetpräsentation vom 24. 7. 2014, http://paleofuture.gizmodo.com/the-all-american-expo-that-invaded-cold-war-russia-550628823 (abgerufen 30. 1. 2017); Gretchen Simms, The 1959 American National Exhibition in Moscow and the Soviet Reaction to the Abstract Art, phil. Diss. Wien 2007. https://monoskop.org/images/3/3f/Simms_Gretchen_The_1959_ American_National_Exhibition_in_Moscow_and_the_Soviet_Artistic_Reaction_to_the_Abstract_Art.pdf (abgerufen 20. 1. 2017).

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in der sich Parteichef Chruschtschow und Nixon einen verbalen Schlagabtausch über die vermeintliche Überlegenheit der jeweiligen politischen Systeme lieferten.39 Dieser Wettkampf der Systeme spiegelte sich auch in der in die Nationalausstellung integrierten Präsentation amerikanischer moderner Kunst. Abstrakte Malerei und abstrakte bildende Kunst wurden als Ausdruck amerikanischer Liberalität und Pluralität dem sozialistischen Realismus als ideologische Antithese gegenübergestellt.40 „The United States wanted to make a clear statement to the Soviet Public: America stood for democracy and tolerance, for diversity and advancement, for freedom and the right to create.“41 In der Kombination von Konsumshow und moderner Kunst sei es zum ersten Mal gelungen, den Bürgern der Sowjetunion ein Bild des American Dream zu vermitteln und ihre Einstellung zu den amerikanischen Werten positiv zu beeinflussen. Rückblickend hat die Kulturwissenschaftlerin Svetlana Boym konstatiert: „The exhibition ‚America‘ turned out to be a Trojan horse given by the Americans to the Soviets.“42 Aus Anlass des Bicentennials der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eröffnete die amerikanischen Regierung im November 1976 im Moskauer Sokolniki-Park eine ebenfalls viel beachtete Ausstellung zur 200jährigen Geschichte der USA: „America: The Land, the People, the Idea“.43 Multimedia-Präsentationen, darunter die Walt-Disney-Produktion „America the Beautiful“, informierten über Land und Leute der USA. Kernstück der Ausstellung bildeten übergroße Reproduktionen der wichtigsten Verfassungsdokumente der Republik: Declaration of Independence, Constitution, Bill of Rights. Den Besuchern, die diese Charters of Freedom in russischer Übersetzung erhielten, sollte vermittelt werden, wie tief das gegenwärtige Amerika in seinen demokratischen Traditionen verwurzelt sei. In der Begleitbroschüre zur Ausstellung wurde der Gedanke der Volkssouveränität pointiert zusammengefasst: The idea that political power stems from the people and that government’s function is to protect the rights of those people was a revolutionary concept in 1776; it remains of the greatest importance to Americans to this day.44

39 Vgl. The Kitchen Debate. Vice President Richard Nixon and Soviet Premier Nikita Khrushchev 1959, http:// teachingamericanhistory.org/library/document/the-kitchen-debate (abgerufen 20. 1. 2017); Moments in U. S. Diplomatic History. Nixon vs. Khrushchev – The 1959 Kitchen Debate http://adst.org/2015/07/nixon-vskhrushchev-the-1959-kitchen-debate (abgerufen 20. 1. 2017). 40 Vgl. Francis S. Saunders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War, London 1999, 254. 41 Simms, The 1959 American National Exhibition in Moscow and the Soviet Reaction to the Abstract Art, 3. 42 Zitiert ebd., 39. 43 Vgl. David K. Shiplernov, U. S. Bicentennial Exhibition is opened in Moscow, in: New York Times, 12. 11. 1976, 3; M. Todd Bennett, The Spirits of ’76. Diplomacy Commemorating the U. S. Bicentennial in 1976, in: Diplomatic History 40 (2016), Heft 4, 705. 44 Zitiert ebd., 705.

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Auch diese Ausstellung war ein voller Erfolg. Zum Teil mussten die Besucher wegen des großen Andrangs mehrere Stunden in der Warteschlange ausharren. Weder die Polizeipräsenz noch zwei von der sowjetischen Regierung inszenierte Bombendrohungen konnten den Besucherstrom bremsen. Die New York Times, die in mehreren Beiträgen über die Ausstellung berichtete, hatte anlässlich der Ausstellungseröffnung bemängelt, dass soziale Probleme der amerikanischen Gesellschaft nicht thematisiert wurden: „Quaint Vermont towns are pictured, impoverished Harlem is not.“45 Selbstkritik gehörte allerdings nicht zum Ausstellungskonzept der U. S. Information Agency. Vielmehr war es erklärtes Ziel, die Überlegenheit des American System zu suggerieren und die Bedeutung elementarer Menschenrechte zu betonen. Überdies fügte sich die Moskauer Ausstellung in das Bemühen der Washingtoner Außenpolitik ein, das mit dem Vietnamkrieg beschädigte internationale Ansehen der USA durch die Thematisierung von „200 Jahre Amerikanische Revolution“ wieder aufzubessern. Die genannten Ausstellungen gaben Washington die Gelegenheit, der Bevölkerung im sowjetischen Machtbereich vor Ort die demokratischen Grundprinzipien des amerikanischen Verfassungssystems zu erläutern und den „American Way of Life“ in allen Facetten zu demonstrieren. Das provozierte naturgemäß einen Systemvergleich. Die Kitchen Debate unterstreicht dies. Die Wirkungsmacht des American System manifestiert sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass sich die sowjetische Führung in ihren wirtschaftspolitischen Zielen an den Vorgaben der kapitalistischen Konsumgesellschaft orientierte. Der auf dem 21. Parteitag der KPdSU von Chruschtschow Anfang 1959 verkündete Siebenjahresplan hatte das erklärte Ziel, spätestens im Jahre 1970 die USA in der Pro-Kopf-Produktion zu übertreffen.46 In der Kitchen Debate bekräftigte Chruschtschow gegenüber Nixon dieses ehrgeizige Ziel. Nach 1970 würde die Sowjetunion die USA sogar überholen, der Kommunismus werde den Kapitalismus hinter sich lassen. Offenbar war die Ausstrahlungskraft des American System in den sowjetischen Machtbereich so nachhaltig, dass Moskau darauf reagieren musste. Diese Wirkungsmacht des Modells Amerika spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Terminologie. Wie die meisten totalitären Staaten ist auch die sowjetische Führung bemüht, sich durch vermeintlich demokratische Wahlen eine pseudodemokratische Legitimierung zu verschaffen. Dieses Bemühen spiegelt sich bereits in Begriffen wie Volksdemokratie.

VII. USA: Die einzige Supermacht? Angesichts der machtpolitischen, wirtschaftlichen und ideologischen Konfrontation im Kalten Krieg überrascht es nicht, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion in den westlichen 45 Shiplernov, U. S. Bicentennial Exhibition, 3. 46 Wolfgang Leonhard, Der Parteitag Chruschtschows, in: Die Zeit, Ausgabe 05/1959, http://www.zeit. de/1959/05/der-parteitag-chruschtschows (abgerufen 30. 3. 2017).

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Staaten überwiegend als Sieg der amerikanischen Demokratie und des kapitalistischen Systems über den Kommunismus interpretiert wurde. Das gilt besonders für die Vereinigten Staaten. Kommentare und politisches Handeln der Führungsschichten von Wirtschaft und Politik unterstreichen dies. Francis Fukuyama rief das „Ende der Geschichte“ aus, allerdings nicht im Sinne des Endes der Ereignisgeschichte. Vielmehr argumentierte Fukuyama, dass der historische Prozess der Suche nach dem idealen politisch-ökonomischen System für die Weltgesellschaft sein endgültiges Ziel erreicht hätte: liberale Demokratie, Marktwirtschaft, Privatkapitalismus.47 In den 1990er Jahren handelten die politischen Akteure der USA in dem Bewusstsein, dass sich die amerikanischen Ordnungsvorstellungen jetzt global durchsetzen würden. Das zeigte sich zunächst in der Proklamierung einer neuen Weltordnung durch die Regierung George H. W. Bush. In Reaktion auf die Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen im August 1990 hatte Bush eine internationale Koalition zur Befreiung Kuwaits angeführt. Den Beginn der militärischen Intervention bezeichnete Bush in einer Rede an das amerikanische Volk als historischen Moment. Er biete die Chance, für künftige Generationen eine neue Weltordnung zu etablieren, in der Herrschaft des Rechts und nicht das Recht des Dschungel gelte. Hier könnten schließlich die Vereinten Nationen ihre friedensstiftende Rolle und damit die Vision ihrer Gründer verwirklichen.48 Ähnlich äußerte sich der Präsident nach Beendigung der Kampfhandlungen in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses.49 Im April 1991 hat Bush dann seine Vorstellungen der neuen Weltordnung präzisiert und hier den Vorbildcharakter der amerikanischen Ordnungsprinzipien herausgestrichen: The new world order really is a tool for addressing a new world of possibilities. […] Never before has the world looked more to the American example. Never before have so many millions drawn hope from the American idea. And the reason is simple: Unlike any other nation in the world, as Americans we enjoy profound and mysterious bonds of affection and idealism.50

In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen definierte Bush im September 1991 die Rolle der USA in der neuen Weltordnung. Aus taktischen Gründen versuchte er den amerikanischen Führungsanspruch herunterzuspielen, um der Staatenwelt die Furcht vor einer amerikanischen Hegemonie zu nehmen. Kein Staat müsse um seine Sou47 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992; vgl. Jack F. Matlock, Jr., Superpower Illusions. How Myths and False Ideologies Led America Astray – and How to Return to Reality, New Haven/CT – London 2010, 115. 48 George Bush, Address to the Nation Announcing Allied Military Action in the Persian Gulf, 16. 1. 1991, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=19222 (abgerufen 20. 9. 2016). 49 George Bush, Address Before a Joint Session of the Congress on the Cessation of the Persian Gulf Conflict, 6. 3. 1991, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=19364 (abgerufen 20. 9. 2016). 50 George Bush, Remarks at Maxwell Air Force Base War College in Montgomery, Alabama, 13. 4. 1991, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=19466 (abgerufen 20. 9. 2016).

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veränität fürchten. Die neue Weltordnung sei dem Völkerrecht, der friedlichen Lösung von Konflikten sowie dem uneingeschränkten Glauben an die Menschenrechte verpflichtet. Zur Durchsetzung dieser Prinzipien bot Bush eine Führungsrolle an. Allerdings wolle Washington keine Pax Americana, sondern eine Pax Universalis: […] the United States has no intention of striving for a Pax Americana. However, we will remain engaged. We will not retreat and pull back into isolationism. We will offer friendship and leadership. And in short, we seek a Pax Universalis built upon shared responsibilities and aspirations.51

Die Weltgesellschaft als Friedengesellschaft war das proklamierte Ziel. Im Wahlkampf des Jahres 1992 hat Bush die Führungsrolle der USA besonders nachdrücklich thematisiert „We won the Cold War“, lautete die wiederholt vorgetragene Formel.52 Das sei ein Sieg der Demokratie. Aus diesem Sieg seien die USA als unumstrittene Weltmacht hervorgegangen. „[…] the United States is the undisputed leader of the entire world“.53 „Democracy is on the march.“54 „[…] in a world where we are the only remaining superpower, it is the role of the United States to marshal its moral and material resources to promote a democratic peace. It is our responsibility, it is our opportunity to lead. There is no one else.“55 Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung habe universale Gültigkeit, so Bush bereits kurz nach der Befreiung Kuwaits.56 Die neue Weltmachtposition und die Universalität amerikanischer Ordnungsvorstellungen stehen auch im Zentrum der Außenpolitik der Clinton-Administration. Wiederholt hat Clinton wie sein Amtsvorgänger die Führungsrolle der einzigen „superpower“ USA definiert.57 Seit Mitte der 1990er Jahre hat er dann die USA als „indispensable nation“ charakte-

51 George Bush, Address to the 46th Session of the United Nations General Assembly in New York City, 23. 9. 1991, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=20012 (abgerufen 30. 1. 2017). 52 Vgl. z. B. George Bush, Remarks Announcing the Bush-Quayle Candidacies for Reelection, 12. 2. 1992, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=20593 (abgerufen 20. 9. 2016); George Bush, Remarks at Pennsylvania State University in State College, 23. 9. 1992, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=21493 (abgerufen 20. 9. 2016). 53 George Bush, Remarks at a Bush-Quayle Fundraising Dinner in Charlotte, North Carolina, 27. April 1992, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=20882 (abgerufen 20. 9. 2016). 54 George Bush, Remarks at the Richard Nixon Library Dinner, 11. 3. 1992, http://www.presidency.ucsb.edu/ ws/?pid=20709 (abgerufen 20. 9. 2016). 55 George Bush, Remarks at the United States Military Academy in West Point, New York, 5. 1. 1993, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=20414 (abgerufen 20. 9. 2016). 56 Vgl. George Bush, Remarks at Maxwell Air Force Base War College in Montgomery, Alabama, 13. 4. 1991, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=19466 (abgerufen 20. 9. 2016). 57 William  J. Clinton, Remarks at a Democratic National Committee Dinner, 21.10.1993, http://www.presi dency.ucsb.edu/ws/?pid=47241 (abgerufen 30. 1. 2017).

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risiert. So etwa in seiner zweiten Inaugural Address im Januar 1997.58 In einem historischen Rückblick bezeichnete er die Entwicklung der USA seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als eine großartige Erfolgsgeschichte. Mit dem Eintritt der USA in die Weltpolitik sei das 20. Jahrhundert zum American Century geworden. And what a century it has been. America became the world’s mightiest industrial power, saved the world from tyranny in two World Wars and a long cold war, in time and again reached out across the globe to millions who, like us, longed for the blessings of liberty.59

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert sei zu hoffen, dass sich das amerikanische Licht der Freiheit in der ganzen Welt ausbreite. Angesichts der Position der USA als alleinige Supermacht hatte sich in den USA Optimismus verbreitet. Die USA hätten die seltene Gelegenheit und die Verpflichtung, die Führung zu übernehmen und eine neue Ära des Friedens und der Kooperation in der Welt einzuleiten.60 In diesem Kontext ist es kein Zufall, dass Roland Emmerichs Hollywood-Produktion „Independence Day“ Mitte der 1990er Jahre in die Kinos kam: Aliens bedrohen die Existenz der gesamten Menschheit. Wer, wenn nicht Amerika, kann jetzt die Führung zur Rettung der Welt übernehmen. Der Präsident, ehemaliger Kampfpilot, will am amerikanischen Unabhängigkeitstag persönlich einen Sieg gegen die Außerirdischen erzwingen. Bevor er den Kampfjet besteigt, fordert er die Völker der Welt auf, angesichts der tödlichen Bedrohung ihre Differenzen hinter sich zu lassen und sich der gemeinsamen Interessen zu erinnern: Perhaps it’s fate that today, July the Fourth, we will once again fight for our freedom. Not from tyranny, persecution or oppression but from annihilation. We are fighting for our right to live, to exist. From this day on the fourth day of July will no longer be remembered as an American Holiday, but as a day that all of mankind declared we will not go quietly into the night.61

Die auch filmische Proklamierung der USA als einziger Führungsmacht in einer neuen Weltordnung war im Bewusstsein der meisten Amerikaner als quasi selbstverständlich verankert. Das sollte sich allerdings zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Illusion erweisen. Die terroristischen Angriffe auf New York und Washington vom 11. September 2001 markieren für die Vereinigten Staaten innen- wie außenpolitisch einen tiefen Einschnitt. Die wiederholten Vergleiche mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor verdeutlichen 58 William J. Clinton, Inaugural Address, 20. 1. 1997, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=54183 (abgerufen 30. 1. 2017). 59 William J. Clinton, Inaugural Address, 20. 1. 1997, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=54183 (abgerufen 30. 1. 2017). 60 William J. Clinton, Remarks at the National Defense University, 29. 1. 1998, http://www.presidency.ucsb.edu/ ws/?pid=54760 (abgerufen 30. 1. 2017). 61 Skript Independence Day, 1996, http://www.dailyscript.com/scripts/id4.html (abgerufen 20. 1. 2017).

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dies. Die Folgen von 9/11 prägen die amerikanische Politik bis in die Gegenwart. Präsident George W. Bush verkündete den Krieg gegen den Terror und forderte nach dem Motto, ‚Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‘, die Unterstützung durch die zivilisierte Welt. „Every nation, every region, now has a decision to make: Either you are with us, or you are with the terrorists.“62 Aus der Opferrolle hat Bush für die USA einen globalen Führungsanspruch abgeleitet.63 „This is not […] just America’s fight, and what is at stake is not just America’s freedom. This is the world’s fight. This is civilization’s fight. This is the fight of all who believe in progress and pluralism, tolerance and freedom.“64 In der Intervention in Afghanistan als erste militärische Reaktion auf 9/11 konnte Bush eine breite internationale Unterstützung erlangen. Die anfangs bekundete internationale Solidarität mit Amerika bröckelte allerdings ab, als Bush im März 2003 einen völkerrechtswidrigen Präventivkrieg65 gegen den Irak eröffnete. Der schnelle militärische Sieg hat die Bush- Administration in seiner Annahme bestärkt, Amerika könne im Irak und anderen Regionen die Demokratie mit Waffengewalt erzwingen. Ein neues Regime im Irak, so Bush, werde als dramatisches und inspirierendes Beispiel für die anderen Nationen in der Region wirken.66 Der Begriff „Nation Building“ machte die Runde. Amerika habe die Mission, eine friedliche Welt zu gestalten. America is a nation with a mission, and that mission comes from our most basic beliefs. We have no desire to dominate, no ambitions of empire. Our aim is a democratic peace, a peace founded upon the dignity of rights of every man and woman. America acts in this cause with friends and allies at our side, yet we understand our special calling. This great Republic will lead the cause of freedom.67

Die Erwartungen des Präsidenten und seiner neo-konservativen Vordenker haben sich nicht erfüllt. Der Nahe Osten ist von politischer und wirtschaftlicher Stabilität weiter entfernt als 62 George W. Bush, Address Before a Joint Session of the Congress on the United States Response to the Terrorist Attacks of September 11, 20. 9. 2001, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=64731 (abgerufen 31. 1. 2017). 63 Zur Bush-Doktrin im historischen Kontext vgl. Walter LaFeber, The Bush Doctrine, in: Diplomatic History 26 (2002), Heft 4, 544–558. 64 Ebd. 65 Zu den Begriffen „preventive“ und „preemptive“ im Kontext des Irak-Kriegs vgl. Joe Barnes/Richard J. Stoll, Preemptive and Preventive War: A Preliminary Taxonomy, Houston/TX 2007, https://www.bakerinstitute.org/ media/files/Research/50987fa2/Preemptive_and_Preventive_War-1.pdf (abgerufen 16. 1. 2018). 66 George W. Bush, Remarks at the American Enterprise Institute Dinner, 26. 2. 2003, http://www.presidency. ucsb.edu/ws/?pid=62953 (abgerufen 20. 1. 2016). 67 George W. Bush, Address Before a Joint Session of the Congress on the State of the Union, 20. 1. 2004, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=29646 (abgerufen 20. 1. 2016); vgl. Thomas Carothers, U. S. Democracy Promotion During and After Bush, Washington/DC 2007, http://carnegieendowment.org/files/democracy_ promotion_after_bush_final.pdf (abgerufen 20. 1. 2016).

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je zuvor. Terror und Gewalt bestimmen den Alltag der Menschen. Antiamerikanische Tendenzen wurden verstärkt. Die katastrophalen Folgen des amerikanischen Irakkrieges sind die sichtbaren Belege dafür, dass eine Verordnung von Demokratie mit Waffengewalt eine unrealistische außenpolitische Strategie ist.

VIII. Modell Amerika in der Krise Hinzu kommt, dass das amerikanische demokratische System von zahlreichen inneramerikanischen Problemen belastet wird, die in ihrer Summe die Attraktivität des Modells Amerika relativieren. Das beginnt mit der geringen Reputation des amerikanischen Regierungssystems in der amerikanischen Bevölkerung. So pendelten die Zustimmungsraten für die Arbeit des Kongress in den letzten zehn Jahren um lediglich 20 %.68 Das ist ein historischer Tiefstand. Der dürfte v. a. mit der Blockadestrategie der Republikaner und den daraus wiederholt resultierenden Pattsituationen zwischen Legislative und Exekutive zu erklären sein. In der Bevölkerung entstand der Eindruck, die Lösung von Sachproblemen komme nicht voran, weil die Politiker, Republikaner wie Demokraten, in erster Linie an ihrem Machterhalt interessiert seien. In diesem Kontext ist das sogenannte ‚redistricting‘ zu nennen.69 Wahlbezirke für die Wahlen zum Repräsentantenhaus werden nach Bedarf jeweils derart neu zugeschnitten, damit der Amtsinhaber bzw. seine Partei sich das Mandat auch für die folgende Legislaturperiode höchstwahrscheinlich sichern. In der Praxis führt dies dazu, dass die Wähler das Ergebnis nur noch in wenigen Wahlbezirken durch ihre Stimmabgabe wirklich beeinflussen können. Das ‚redistricting‘ hat überdies eine rassistische Komponente. Wenn Afro-Amerikaner in zwei benachbarten Wahlbezirken eine knappe Mehrheit haben, dann kann durch neue Zuschnitte der beiden Wahlbezirke, das sogenannte ‚packing‘, dafür gesorgt werden, dass die meisten Afro-Amerikaner in einem der beiden Wahlbezirke wählen, dort eine große Mehrheit der Stimmen erhalten, die Mehrheit in dem anderen Bezirk aber verlieren. Hinzu kommen verschiedene bürokratische Hürden, die das Wahlrecht von Minderheiten oder verarmten Bürgern faktisch behindern. Ein Beispiel ist die früher nicht übliche, aber zunehmende Praxis, zur Wahl ein Lichtbilddokument zu verlangen. Die damit verbundenen Kosten können die ärmeren Bevölkerungsteile häufig nicht aufbringen, oder sie scheuen den bürokratischen Aufwand. Hinzu kommt die alltägliche Diskriminierung der sozial Schwachen und namentlich der Afro68 Gallup, Congress and the Public, http://www.gallup.com/poll/1600/congress-public.aspx (abgerufen 8. 3.  2017). 69 Vgl. Mark  E. Rush (Hrsg.) Voting Rights and Redistricting in the United States, Westport/CN 1998; David Daley, Ratf**ked America. The True Story Behind the Secret Plan to Steal America’s Democracy, New York 2016; Center for American Progress, Redistricting and Representation, 5.12.2016, https://www.americanprogress.org/issues/democracy/reports/2016/12/05/294272/redistricting-and-representation (abgerufen 20. 1. 2016).

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Amerikaner. Die gesetzlich verfügte „formale Gleichstellung von Weißen und Schwarzen“ habe die Realitäten „nicht nachhaltig verändert“, so der amerikanische Sozialwissenschaftler Didier Fassin. Er verweist auf die immer wieder aufflammenden Protestwellen gegen rassistisch motivierte Gewalt. „Die Polizei zeigt ihre Verachtung für das Leben von Afro-Amerikanern nicht nur durch dessen physische Zerstörung. Sie tut es auch, indem sie die afro-amerikanische Bevölkerung sozial erniedrigt.“ Dies sei eine „Zerstörung der Gleichheit“.70 Demokratiedefizite manifestieren sich auch in dem wachsenden Einfluss des militärischindustriellen Komplexes. Vor den möglichen desaströsen Folgen hatte bereits Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsbotschaft gewarnt: In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist.71

In diesen Kontext gehört auch der wachsende Machtzuwachs der Geheimdienste seit Beginn des 21. Jahrhunderts. In Reaktion auf die terroristischen Angriffe vom 11. September 2001 waren Regierung und Öffentlichkeit bereit, den Geheimdiensten umfassende Vollmachten zu übertragen. Der bereits wenige Wochen nach 9/11 verabschiedeten „Patriot Act“ führte zu erheblichen Einschränkungen demokratischer Freiheiten.72 Besonders nachhaltig ist das Modell Amerika in vielen Teilen der Welt durch wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen diskreditiert. Hervorzuheben ist die von den USA ausgehende Finanzkrise, die durch den am 15. September 2008 bekannt gewordenen Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers ausgelöst wurde. Die globalen wirtschaftlichen Folgen haben die kritischen Stimmen am privatkapitalistischen System lauter werden lassen. Das gilt auch für die mangelhafte Krisenbekämpfung. Hier wurde versäumt, offenkundige wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen wenigstens abzumildern. Die ökonomische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft hat sich sogar noch vertieft. Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Die Einkommensschere hat sich seit den 1980er Jahren immer weiter geöffnet. Während die oberen 1 % im Jahre 2014 über 20 % des Nationaleinkommens verfügten (eine Verdoppelung seit 1980), schrumpfte der Anteil der unteren 50 % von 20 % auf 12,5 %.73 Noch wesentlich stärker ist die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung. Die 70 Didier Fassin, Die Zerstörung der Gleichheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 8. 2016, 9. 71 Dwight D. Eisenhower, Farewell Radio and Television Address to the American People, 17. 1. 1961, http:// www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=12086 (abgerufen 20. 9. 2016). 72 Vgl. die Zusammenfassung des Department of Justice: The USA PATRIOT Act: Preserving Life and Liberty (Uniting and Strenghthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism), https://www.justice.gov/archive/ll/highlights.htm (abgerufen 31. 3. 2017); vollständiger Text in: Electronic Privacy Center, USA Patriot Act (H.R. 3162), 24. 10. 2001, https://epic.org/privacy/terrorism/hr3162. html (abgerufen 31. 3. 2017). 73 Patricia Cohen, A Bigger Economc Pie, but a Smaller Slyce for Half of the U.S., in: New York Times Online,

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oberen 10 % besitzen 76 % des Familienvermögens, während die unteren 50 % lediglich über 1 % des gesamten Familienvermögens verfügen.74 Andere Zahlenvergleiche bringen die Vermögenskonzentration noch deutlicher zum Ausdruck. 0,1 % der amerikanischen Bevölkerung besitzen genau so viel wie die unteren 90 %.75 Besserung ist nicht in Sicht. Das ist ein krasses Politikversagen der Washingtoner Führungseliten. Immerhin hat Präsident Obama dieses Problem der Ungleichheit wenigstens thematisiert, so in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2016.

IX. Obamas Plädoyer für eine offene Weltgesellschaft Eine seiner letzten großen Reden als Präsident hat Obama im September 2016 vor den Vereinten Nationen einer Analyse der Weltgesellschaft gewidmet und Überlegungen zu deren Fortentwicklung angestellt.76 Die Weltgesellschaft müsse sich entscheiden zwischen einem Rückfall in den Nationalismus mit den Gefahren zwischenstaatlicher Konflikte oder einer besseren politischen Zusammenarbeit mit wirtschaftlicher Kooperation. Obama plädierte für den Blick nach vorn und die Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit. Er skizzierte eine Weltgesellschaft, die sich an amerikanischen Ordnungsvorstellungen orientieren solle. Diese seien nach wie vor die beste Grundlage für den Fortschritt der Menschheit: Verbreitung von Demokratie und offene Weltmärkte. I believe that as imperfect as they are, the principles of open markets and accountable governance, of democracy and human rights and international law that we have forged remain the firmest foundation for human progress in this century. […] the integration of our global economy has made life better for billions of men, women and children.

Er fügte Beispiele aus den vergangenen 25 Jahren an. So sei der in extremer Armut lebende Teil der Weltbevölkerung von 40 % auf unter 10 % reduziert worden. Außerdem habe der Zusammenbruch von Kolonialismus und Kommunismus mehr Menschen denn je die Frei6. 12. 2016, https://www.nytimes.com/2016/12/06/business/economy/a-bigger-economic-pie-but-a-smallerslice-for-half-of-the-us.html (abgerufen 30. 3. 2017). 74 Vgl. Congressional Budget Office, Trends in Family Wealth, 1989 to 2013, 18. 8. 2016, https://www.cbo.gov/ publication/51846 (abgerufen 30. 3. 2017). 75 Vgl. US wealth inequality – top 0,1 % worth as much as the bottom 90 %, in: theguardian online, 13. 11. 2014, https://www.theguardian.com/business/2014/nov/13/us-wealth-inequality-top-01-worth-as-much-as-the-bottom-90 (abgerufen 30. 3. 2017). 76 Barack Obama, Remarks to the United Nations Assembly in New York City, 20. 9. 2016, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=119022 (abgerufen 30. 1. 2017); vgl. in diesem Kontext auch Barack Obama, The Way ahead, in: The Economist, 8. 10. 2016, http://www.economist.com/news/briefing/21708216-americaspresident-writes-us-about-four-crucial-areas-unfinished-business-economic (abgerufen 30. 3. 2017).

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heit gebracht, ihre politische Führung selber zu wählen. Wenngleich diese Freiheit in manchen Regionen der Welt auf dem Rückzug zu sein scheine, ändere dies nichts an der Tatsache, dass sich die Zahl der demokratisch organisierten Staaten in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt habe. Obama zeigte sich besorgt über den zunehmenden globalen Wettkampf zwischen Autoritarismus und Liberalismus. Hier wolle er klar Position beziehen. Wenngleich Amerika sein politisches System niemandem aufzwingen könne und auch nicht sollte, plädiere er für eine liberale Weltordnung, „[…] an order built not just through elections and representative government, but also through respect for human rights and civil society, and independent judiciaries and the rule of law.“ Bedauerlicherweise würde die Zahl derjenigen Staaten zunehmen, die sich zwar zum Prinzip freier Märkte bekennen, das Modell freier Gesellschaften jedoch ablehnen. Die Hoffnung, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die globale Verbreitung der Demokratie ein Selbstläufer sei, habe sich leider nicht erfüllt. Auf Dauer könne jedoch eine Kombination von autoritärer Führung und liberalisierter Wirtschaft nicht erfolgreich sein. Das Streben nach echter Demokratie sei der bessere Weg, weil autoritäre Regime die Erwartungen der Bevölkerung auf Dauer nicht befriedigen könnten. Was den Zustand der Weltgesellschaft anbelange, räumte Obama zahlreiche Fehlentwicklungen ein. Das gelte besonders für die globale Vermögensverteilung. Es sei nicht hinzunehmen, dass 1 % der Weltbevölkerung über so viel Vermögen verfügten wie die übrigen 99 %. Diese Diskrepanz müsse im Interesse der politischen Stabilität in den einzelnen Staaten und damit auch weltweit reduziert werden. Nur diejenigen Volkswirtschaften, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich überbrückt werde, könnten erfolgreich wachsen. Das heiße nicht, dass man einem seelenlosen Kapitalismus huldigen sollte. Kapitalistische Exzesse müssten verhindert werden. Daher seien unter Führung der USA in Reaktion auf die Finanzkrise internationale Vereinbarungen zur Regulierung der Banken getroffen worden. Die Weltgesellschaft müsse auf Fehlentwicklungen im Globalisierungsprozess reagieren und dafür sorgen, dass wirtschaftliche Integration und Wirtschaftswachstum nicht nur wenigen, sondern auch der arbeitenden Weltbevölkerung zugute komme. Hier habe Amerika als positive Kraft einen zentralen Stellenwert. Die USA seien insofern eine außergewöhnliche Supermacht, weil sie sich nicht nur an den eigenen Interessen orientiere. I believe America has been a rare superpower in human history insofar as it has been willing to think beyond narrow self-interest, that while we’ve made our share of mistakes over the last 25 years […] we have strived, sometime at great sacrifice, to align better our actions with our ideals. And as a consequence, I believe we have been a force for good.

Obamas Plädoyer für offene Weltmärkte steht im Kontext seiner globalen Außenwirtschaftspolitik. Diese soll der amerikanischen Wirtschaft weitgehend unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten sichern. Zwei von Obama vorangetriebene großräumige Freihandelsprojekte machen dies deutlich: die Trans-Pacific Partnership (TPP) und die Transatlantic Trade and

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Investment Partnership (TTIP). Anlässlich der Unterzeichnung der Trans-Pacific Partnership am 3. Februar 2016 betonte Obama die Vorteile für die amerikanische Wirtschaft und die amerikanische Arbeiterschaft sowie die politischen Implikationen. Es handele sich um einen neuen Typ von Handelsabkommen „that puts American workers first“, so Obama, der auch aus gesamtpolitischen Gründen auf eine baldige Ratifizierung drängte. „[…] we should get TPP done this year and give more American workers the shot of success they deserve and help more American business compete and win around the world.“ Er stellte das Vertragswerk auch in den Kontext der Rivalität der USA mit China. TPP sichere den USA insofern eine Vorrangstellung, als es Washington ermögliche, die Rahmenbedingen der Weltwirtschaft nach amerikanischen Vorstellungen zu prägen. TPP allows America – and not countries like China – to write the rules of the road in the 21st century, which is especially important in a region as dynamic as the Asia-Pacific. Put simply, TPP will bolster our leadership abroad and support good jobs here at home.77

Diese Gestaltungsmöglichkeiten will sich Washington auch in den gegenwärtig allerdings stockenden Verhandlungen über die geplante Transatlantic Trade and Investment Partnership sichern. Widerstand in Europa resultiert nicht zuletzt aus der Furcht vor einer wachsenden Dominanz der amerikanischen Wirtschaft. Die weltweiten Aktivitäten amerikanischer Großkonzerne wie Apple oder Google bieten das entsprechende Anschauungsmaterial. Wie robust Washington auch mit befreundeten Staaten zu verhandeln pflegt, zeigt ein Blick in die Geschichte der amerikanischen Handelsvertragspolitik der 1930er Jahre. Weil Großbritannien auf einen Handelsvertrag mit den USA aus politischen Gründen angewiesen war, vermochte Washington ein Maximum an wirtschaftlichen Vorteilen zu erzielen. Die Außenwirtschaftspolitik der Obama-Administration steht in der Tradition der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von den USA praktizierten Open Door Policy. Auch Obama sieht in der Ausweitung des freien Welthandels die Möglichkeit, dass Amerika unter diesen Rahmenbedingungen seine wirtschaftliche Stärke ausspielen kann und sich damit eine dominierende Rolle in der Welt sichert. Das Plädoyer für eine wirtschaftlich akzentuierte liberale Weltordnung steht im Kontext der Politik Obamas, die sich von der Militarisierung der Außenpolitik seines Vorgängers abgrenzt und stärker auf Diplomatie sowie internationale Zusammenarbeit setzt.78 Der Welt teilte er mit, dass Washington nicht mehr von einer unipolaren Weltordnung ausgehe. Als Präsident der USA wisse er, dass in der Menschheitsgeschichte Macht zumeist nicht unipolar gewesen sei. Am Ende des Kalten Krieges sei dieser Tatbestand zu häufig übersehen worden. 77 Barack Obama, Statement on the Signing of the Trans-Pacific Partnership, 3. 2. 2016, http://www.presidency. ucsb.edu/ws/?pid=111524 (abgerufen 20. 1. 2017). 78 Vgl. Michelle Bentley/Jack Holland (Hrsg.), The Obama Doctrine. A Legacy and Continuity in US Foreign Policy?, London 2017.

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X. Donald Trump, „America First“ und der Rest der Welt Während der internationalen Tagung in Hildesheim im Oktober 2016, deren Ergebnisse in diesem Band versammelt sind, ist kein Teilnehmer davon ausgegangen, dass Donald Trump im Januar 2017 als Präsident ins Weiße Haus einziehen würde. Das mag daran gelegen haben, dass die Diskussion stark auf die Parallelität von fortschreitender Globalisierung und zunehmender Verdichtung der Weltgesellschaft konzentriert war. Dies verstellte offenbar den Blick auf Tendenzen zur Entglobalisierung79 und deren Auswirkungen auf die Weltgesellschaft, die den Wahlsieg Trumps entscheidend begünstigt haben. Mit „America First“ und „Great Again“ hat Trump isolationistische Grundströmungen in der amerikanischen Gesellschaft aufgegriffen und sich zum Fürsprecher jener Bevölkerungsgruppen gemacht, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Aus europäischer Perspektive war es kaum vorstellbar, dass die Mehrheit der Amerikaner derart radikalen Zielen in der Wirtschafts- und Außenpolitik folgen würde, zumal die Programmatik von einem Präsidentschaftskandidaten vorgetragen wurde, der durch vulgäre Äußerungen, offenkundige Lügen, Ausgrenzung von Minderheiten und mangelnde politische Sachkenntnis eher abstoßend wirkt. Nach dem Wahlsieg Trumps stellt sich die Frage, welche Ankündigungen aus dem Wahlkampf der neue Präsident realisieren will und kann und wie seine Innen- und Außenpolitik die Weltgesellschaft beeinflussen wird. Im Wahlkampf hatte die Auseinandersetzung Trumps mit der bisherigen Außenwirtschaftspolitik eine zentrale Rolle gespielt. Im Zentrum der Kritik standen die von den USA ausgehandelten multilateralen Freihandelsabkommen. Trump sah die Interessen Amerikas und namentlich der amerikanischen Arbeiterschaft nicht hinreichend berücksichtigt. Das 1994 in Kraft getretene North American Free Trade Agreement (NAFTA) sollte neu verhandelt werden. Aus der bereits unterzeichneten Trans-Pacific Partnership müssten sich die USA zurückziehen, Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen sollten gestoppt werden. Wenige Tage nach seiner Amtseinführung am 20. Januar 2017 hat Trump mit der Umsetzung seines protektionistischen Programms begonnen. Bereits am 23. Januar verfügte er den Rückzug der USA aus der Trans-Pacific Partnership. Handel mit anderen Staaten habe für seine Administration zwar oberste Priorität. Im Interesse der amerikanischen Arbeiterschaft müssten die Methoden der Handelspolitik jedoch radikal verändert werden. Um die amerikanische Binnenwirtschaft zu stärken, werde Washington mit seinen Handelspartnern jeweils bilaterale Abkommen aushandeln. „[…] it is the intention of my Administration to deal directly with the individual countries on a one-on-one (or bilateral) basis in negotiating

79 Vgl. Ruchir Shama, Globalisation as we Know it, is over – and Brexit is the Biggest Sign yet, in: theguardian online, 28. 7. 2016, https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/jul/28/era-globalisation-brexit-eu-britain-economic-frustration (abgerufen 29. 7. 2016).

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future trade deals.“80 Überdies sei es erforderlich, vermeintlich unfaire Handelspraktiken zu untersuchen und zu unterbinden.81 Höhere Einfuhrzölle und Steuererleichterungen für amerikanische Unternehmen sind angekündigt. Im Rest der Welt macht sich die Furcht vor einem Handelskrieg breit.82 Die von kraftvoller Rhetorik des Präsidenten begleitete Ankündigung von Protektionismus und Bilateralismus signalisieren angeblich die Rückkehr zur Größe Amerikas. Die sich hier manifestierende Arroganz der Macht ist vor dem historischen Hintergrund allerdings als ein indirektes Eingeständnis der Schwachstellen in der amerikanischen Wirtschaft zu sehen. Die im 19. Jahrhundert konzipierte Open Door Policy basierte, wie bereits erwähnt, auf dem Credo, dass sich die amerikanische Wirtschaft bei formaler Gleichstellung im internationalen Wettbewerb als überlegen erweisen werde. Was die erwarteten Wohlfahrtseffekte der protektionistischen Außenwirtschaftspolitik des neuen Präsidenten betrifft, dürfte es sich überwiegend um Wunschdenken handeln. Die negativen Auswirkungen von Protektionismus und Bilateralismus sind in der Geschichte der 1930er Jahre zu studieren. Für die amerikanische Außenpolitik insgesamt implizierte „America First“ in der Wahlkampfrhetorik angeblich Verzicht auf militärische Interventionen in Übersee. In der Regierungspraxis ist bereits wenige Wochen nach dem Amtsantritt davon nichts übrig geblieben. Ausbau des militärischen Potenzials und Demonstration der Macht sind die Leitlinien der Trump-Administration.83 Frieden durch Stärke lautet die vom Weißen Haus verkündete Formel: Dieses Prinzip werde eine friedlichere Welt schaffen. „The world will be more peaceful and more prosperous with a stronger and more respected America.“ Entgegen früherer Bekundungen ist Trump bereit, Militärschläge auch aus humanitären Gründen auszuführen. Der Angriff auf einen syrischen Flughafen am 6. April 2017 war mehr als eine Demonstration militärischer Macht.84 Trump nutzte die Gelegenheit, seinen globalen Führungsanspruch anzumelden. Die zivilisierten Nationen seien eingeladen, sich um die USA zu scharen, um 80 Dals J. Trump, Memorandum on Withdrawal of the United States from the Trans-Pacific Partnership Negotiations and Agreement, 23. 1. 2017, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=122516 (abgerufen 31. 3. 2017); vgl. auch die undatierte Grundsatzerklärung Trade Deals that Work for All Americans, https://www.white house.gov/trade-deals-working-all-americans (abgerufen 29. 4. 2017). 81 Presidential Executive Order on Establishing Enhanced Collection and Enforcement of Antidumping and Countervailing duties and Violations of Trade and Custom Laws, 31. 3. 2017, https://www.whitehouse.gov/ the-press-office/2017/03/31/presidential-executive-order-establishing-enhanced-collection-and (abgerufen 7. 4. 2017). 82 Trump riskiert den Handelskrieg, in: Handelsblatt, 31. 3. 2017, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neue-dekrete-unterzeichnet-trump-riskiert-den-handelskrieg/19600908.html (abgerufen 8. 4. 2017). 83 America First Foreign Policy, undatiert, https://www.whitehouse.gov/america-first-foreign-policy (abgerufen 8. 4. 2017); vgl. auch Making Our Military Strong Again, undatiert, https://www.whitehouse.gov/making-ourmilitary-strong-again (abgerufen 8. 4. 2017). 84 Vgl. zum Kontext der America First-Programmatik Anne McElvoy, Washington is confused by Trump’s act. What became of America First?, in: theguardian online, 9. 4. 2017, https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/apr/08/washington-confused-by-trump-act-what-became-of-america-first?CMP=Share_AndroidApp_Gmail (abgerufen 9. 4. 2017).

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dem Blutvergießen in Syrien und dem internationalen Terrorismus ein Ende zu bereiten. Amerika wird als Garantiemacht für Frieden und Harmonie in der Welt empfohlen. Wie seine Vorgänger im Weißen Haus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beansprucht auch Trump für die USA die Rolle des Hüters der zivilisierten Welt. „And we hope that as long as America stands for justice, then peace and harmony will, in the end, prevail.“85 Auch die Trump-Administration will erreichen, dass sich die Weltgemeinschaft an amerikanischen Ordnungsvorstellungen orientiert. Den „American Way of Life“ wollten die USA niemandem aufzwingen, seinen Modellcharakter jedoch deutlich machen, so Trump in seiner Inaugural Address vom 20. Januar 2017. „We do not seek to impose our way of life on anyone, but rather to let it shine as an example for everyone to follow.“86 In seinem globalen Führungsanspruch steht Trump in der Kontinuität der amerikanischen Außenpolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. „America First“ war eine griffige und offenbar wirksame Wahlkampfformel, die namentlich der Arbeiterschaft materielle Besserung versprach. Im Übrigen ist „America First“ die Leitlinie aller bisherigen amerikanischen Regierungen gewesen, nicht als unilaterale Handlungsmaxime, aber im Sinne der Priorität amerikanischer Interessen. Wenn daran erinnert werden muss, dann liegt das sicher auch daran, dass amerikanische Regierungen ihr globales Engagement immer wieder als altruistisch und primär auf das Wohl der Menschheit gerichtet beschrieben haben. Eine idealisierende Geschichtsschreibung hat diesen Eindruck häufig verstärkt. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Außenpolitik resultieren aus den unterschiedlichen außenpolitischen Methoden. Alle amerikanischen Regierungen haben sich als Ultima Ratio immer die bewaffnete Intervention vorbehalten. In dieser Kontinuität steht die Trump-Administration, bei der allerdings erratisches unilaterales Handeln dominiert. „Wie eine Furie zieht er durch die internationale Politik und auch durch die Gemeinschaft des Westens“, so Klaus-Dieter Frankenberger.87 Hier, in dem Verzicht Trumps auf ein kohärentes außenpolitisches Konzept, und seinem unberechenbaren Führungsstil sind Elemente der Diskontinuität zu sehen. Noch markantere Diskontinuitäten manifestieren sich in der protektionistischen Außenwirtschaftspolitik. Der sich abzeichnende Bilateralismus in der Handelspolitik und wiederholte Drohgebärden gegenüber Handelspartnern sind als Versuch zu sehen, durch unilaterales Handeln die amerikanische Handelsbilanz auszugleichen. Es ist fraglich, ob die angestrebten ökonomischen Ziele, namentlich die proklamierte Verbesserung der Lage der amerikanischen Arbeiterschaft, mit den angekündigten und zum Teil bereits verwirklichten Maßnahmen erreicht werden. In Bezug auf die Weltgesellschaft ist die

85 Donald J. Trump, Remarks on United States Military Operations in Syria from Palm Beach, Florida, 6. 4. 2017, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index.php?pid=123706&st=&st1= (abgerufen 16. 1. 2018). 86 The Inaugural Address, 20. 1. 2017, https://www.whitehouse.gov/inaugural-address (abgerufen 20. 2. 2017). 87 Klaus-Dieter Frankenberger, Donald Trump zur Nato. Der Schuldeneintreiber, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 3. 2017, http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/america-first-ist-fuer-trumpkeine-floskel-14931370.html (abgerufen 30. 3. 2017).

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„America First“-Politik fraglos in mehrfacher Weise disruptiv. Bestehende Handelsvereinbarungen und Handelsströme werden gestört oder zerstört, die Nachhaltigkeit zwischenstaatlicher Vereinbarungen in Frage gestellt. Das unilaterale Agieren der Trump-Administration nicht nur in der Handels- und Wirtschaftspolitik, sondern auch in der Außenpolitik generell vertieft Divergenzen innerhalb der Weltgesellschaft, die eher auf einen Abbau dieser Differenzen angewiesen ist. Schließlich verliert das „Modell Amerika“ an Attraktivität; dem Anspruch auf Globalisierung amerikanischer Ordnungsvorstellungen geht damit die Glaubwürdigkeit verloren.

XI. Bilanz: Perspektiven für eine demokratische Weltgesellschaft Kein anderer Staat der Neuzeit hat die Weltgesellschaft über einen Zeitraum von über 100 Jahren so kontinuierlich beeinflusst wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Bereits während der Revolution haben die Amerikaner die universale Gültigkeit der in der Unabhängigkeitserklärung proklamierten Werte beansprucht. Im Glauben an die Exzeptionalität der USA war und ist es für Amerikaner eine Selbstverständlichkeit, dass sich der Rest der Welt und damit die gesamte Weltgesellschaft an den amerikanischen Werten orientiert. „The world must be made safe for democracy“ ist Leitmotiv aller amerikanischen Präsidenten von Wilson bis Obama. Zur Verteidigung der Demokratie haben die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Weltkriege geführt. Die bislang eindrucksvollsten Erfolge der Demokratisierungspolitik erzielten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und in Japan, weil der demokratische Wiederaufbau sozioökonomisch untermauert war und die ehemaligen Kriegsgegner in den von Washington geführten Westen integriert werden konnten. Im Kalten Krieg haben die USA sowjetische Angriffe auf die Demokratie abgewehrt und die sowjetische Expansion eingedämmt in der Hoffnung, dass sich das American System langfristig als überlegen erweisen werde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA die einzige Supermacht. Die Hoffnung der amerikanischen Führungseliten, dies sei der Auftakt zu einer neuen unipolaren Weltordnung, zur globalen Durchsetzung amerikanischer Ordnungsvorstellungen, erwies sich allerdings als Fehleinschätzung. Bereits in den 1990er Jahren kündigte sich der islamistische Terrorismus als neue Herausforderung an. Der 11. September 2001 markiert dann in dem Verhältnis der USA zur Weltgesellschaft eine tiefe Zäsur. Unilateralismus und Präventivkrieg werden zentrale Elemente im Kampf gegen den Terrorismus. Der in diesem Kontext stehende Angriffskrieg gegen den Irak mit seinen destabilisierenden Wirkungen im gesamten Nahen Osten brachte die Erkenntnis, dass eine Demokratisierung nicht mit militärischen Mitteln erzwungen werden kann. Die Attraktivität das American System müsse durch den Vorbildcharakter einer gelebten Demokratie in Amerika erreicht werden. Das Modell Amerika zeigt gegenwärtig allerdings Krisensymptome. Diese hemmen die Ausstrahlungskraft in die bisher nicht demokratisch organisierten Segmente der Weltgesell-

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schaft. Besonders gravierend ist die fortschreitende wirtschaftlich-soziale Ungleichheit in den USA und in der Welt. Hier muss dringend gegengesteuert werden. Wenn sich ein wachsender Teil der Weltgesellschaft als Verlierer der liberalen Weltwirtschaftsordnung sieht, dann wird auch die Demokratisierungspolitik scheitern. Trotz verbaler Bekundungen über Exzesse des Privatkapitalismus fehlt es bisher jedoch an ernsthaften Initiativen zur Zähmung des Turbokapitalismus. Eine neue Belastung für den Vorbildcharakter der USA ist die Politik des neuen Präsidenten. Autokratischer Führungsstil, erratisches Handeln, Reduzierung komplexer Zusammenhänge auf 140 Zeichen in einer Art „Twittokratie“ und der Kampf gegen die sogenannte vierte Gewalt. Wer den Medien den Krieg erklärt, wird kaum für die Pressefreiheit in anderen Staaten werben können. Trotz der disruptiven Politik Trumps ist zu hoffen, dass es gelingt, den moralischen Führungsanspruch der USA wieder zu beleben und die Demokratisierung der Welt voranzutreiben. In der Vergangenheit hat das amerikanische politische System im Umgang mit einer Imperial Presidency jedenfalls die Kraft zur Regeneration aufgebracht. Ungeachtet der genannten Defizite bleibt festzuhalten, dass sich das Modell Amerika für die Weltgesellschaft als das bisher erfolgreichste Ordnungsprinzip erwiesen hat. Andere Ordnungs- und Herrschaftskonzepte wie Faschismus, Kommunismus, Sozialismus oder Autokratie waren bisher nicht in der Lage, das internationale System nachhaltig zu prägen. Es belegt die Ausstrahlungskraft der liberalen Demokratie, wenn selbst Diktatoren sich genötigt sehen, zur Legitimierung ihrer Herrschaft vermeintlich demokratische Fassaden zu errichten. Die USA haben ihr Konzept einer liberalen Weltordnung mit demokratisch konstituierten Staaten bisher nur in einem Teil der Weltgesellschaft durchsetzen können. Dem anderen Teil der Weltgesellschaft haben sie immerhin ordnungspolitische Fixpunkte markiert. Diese eröffnen allen Menschen zumindest eine Zukunftsperspektive zu einem Leben in Freiheit in einer liberalen Weltgesellschaft. Ihre Entschlossenheit, die liberalen Ordnungsprinzipien als Ultima Ratio auch militärisch zu verteidigen, haben die USA in zwei Weltkriegen und im anhaltenden Kampf gegen den islamistischen Terror immer wieder unter Beweis gestellt und damit in einem großen Teil der Weltgesellschaft die Demokratie gesichert. Diese Entschlossenheit zu einer globalen Verteidigung demokratischer Werte dürfte auch damit zu erklären sein, dass es hier um ureigenste amerikanische Interessen geht. Eine auf demokratischen Prinzipien basierende liberale Weltgesellschaft ist am besten geeignet, spezifisch amerikanische Interessen durchzusetzen und eine indirekt-informelle Führungsrolle zu realisieren. In subtiler Weise werden demokratische und materielle Werte miteinander verknüpft. Für die amerikanische Außenpolitik seit Woodrow Wilson gilt, zugespitzt formuliert: Hegemonie durch Demokratie. Eine über das bisher Erreichte hinausgehende Demokratisierung der gesamten Weltgesellschaft stößt allerdings auf in jüngster Zeit zunehmende Probleme, die hier nur stichwortartig genannt werden: Deglobalisierungstendenzen, Renaissance des extremen Nationalismus, Globalisierung des Autoritarismus, zunehmende machtpolitische Rivalität der Großmächte, Beanspruchung von Interessensphären durch Russland und China, regionale

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Kriege, religiöser Fanatismus, Protektionismus sowie wirtschaftliche und soziale Deklassierung großer Teile der Weltgesellschaft. Bereits diese Auflistung lässt erkennen, dass die bisherigen Mechanismen zur Lösung zwischenstaatlicher und innergesellschaftlicher Konflikte die Erwartungen nicht erfüllt haben. Das gilt ganz besonders für die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation bedarf dringend einer strukturellen Anpassung an die weltpolitischen Veränderungen in den mehr als sechs Jahrzehnten seit ihrer Gründung. Die gegenwärtigen Machtansprüche der fünf Vetomächte lassen dies allerdings als wenig wahrscheinlich erscheinen. Eine Demokratisierung der gesamten Weltgesellschaft kann folglich nur durch eine evolutionäre demokratische Entwicklung der einzelnen Staaten erreicht werden. Es ist Aufgabe der westlichen Demokratien unter Führung der USA, einen solchen evolutionären Prozess nicht nur politisch-moralisch, sondern v. a. wirtschaftlich zu unterstützen und damit an die erfolgreiche Rekonstruktionspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg anzuknüpfen.

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Weltmacht des 21. Jahrhunderts? China und seine Perspektiven für eine Weltgesellschaft I. Vorbemerkung Vor dem Hintergrund der Machtergreifung des Populisten Donald Trump in den Vereinigten Staaten und der Etablierung der populistischen Parteien in den europäischen Parlamenten scheint es ein großes Wagnis zu sein, von einer realen oder möglichen Weltgesellschaft zu sprechen. Eine Weltgesellschaft einzurichten, die auf liberalen Werten und Institutionen auf globaler Ebene beruhen soll, steht im fundamentalen Gegensatz zu dem, was sich die populistischen Kräfte für die Welt vorstellen: Renationalisierung und Abschottung. Auch ein anderer Trend dürfte uns entmutigen, an eine liberale Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert zu glauben: Die Wiederbelebung des Autoritarismus in Russland und China.

II. Die Logik der chinesischen Politik Allein die Tatsache, dass China – trotz der für sein Regime erheblichen destabilisierenden Wirkungen des Waffenembargos des Westens seit 1989, des Untergangs der Sowjetunion 1991, der Asienkrise 1997 und 1998, der Finanzkrise 2008, der Eurokrise seit 2010 und der Ansteckungsgefahr der arabischen Revolutionen seit 2011 – nicht zusammengebrochen ist, widerspricht allen gängigen sozialwissenschaftlichen Theorien. Karl Marx und Friedrich Engels hätten sich wohl kaum vorstellen können, dass das größte kommunistisch regierte Land eines Tages der größte Gläubiger des größten kapitalistischen Landes der Welt werden würde. Anhänger der Modernisierungstheorien, nach denen eine wirtschaftliche Liberalisierung automatisch eine politische Liberalisierung herbeiführt, bleiben mit Blick auf China bis heute ratlos. Ein militärischer Konflikt zwischen China und den USA, der gemäß den realistischen Theorien schon längst ausgebrochen sein müsste, bleibt aus. China erscheint einzigartig, stabil und von Dauer, ein Land, das doch so viele Male schon totgesagt wurde. Wie lässt sich die Stabilität eines Landes erklären, dessen autoritäre Herrschaft per definitionem der liberalistischen Theorien instabil sein sollte? Diesen grundlegenden Widerspruch zwischen der chinesischen Realität und den Theorien des Westens zu verstehen, könnte helfen, die Logik der Stabilität des gegenwärtigen politischen Systems der Volksrepublik China zu begreifen. Wie jedes politische System ist das der Volksrepublik China durch verschiedene Pro­ bleme „gestresst“. Im Augenblick hat es v. a. mit den Nebenprodukten des atemberaubenden

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Wirtschaftswachstums der letzten 30 Jahre zu kämpfen: Endemische Korruption, markante Einkommensunterschiede, marode Sozialversicherungssysteme, Millionen Wanderarbeiter und die sinkende Qualität von Wasser und Luft belasten die kommunistische Herrschaft im Fernen Osten in einem nie dagewesenen Ausmaß. Dennoch bleibt das politische System im Reich der Mitte stabil. Die Parteienherrschaft, die liberal-demokratische Institutione als Mechanismen zum Abbau gesellschaftlicher Frustrationen und politischer Verdrossenheit nicht kennt, hat sich bislang im Hinblick auf die Erhaltung der Stabilität als funktionsfähig erwiesen. In der Tat gibt es kaum zwingende Anzeichen dafür, dass das System bei der Ausübung dieser Aufgabe massiv versagen könnte. Ein Zusammenbruch wie jener der Sowjetunion – eine im Westen viel zitierte Prognose1 – ist zumindest in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Eigenlogik der chinesischen Politik wird vermutlich weiterhin dafür sorgen, dass dem Powerhaus der Weltwirtschaft doch noch einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, der Stabilität vergönnt sind. Die Logik der chinesischen Politik begründet sich v. a. in der Natur des chinesischen Regierungssystems, das ohne Weiteres als autoritäres System eingestuft werden kann. Jedoch ist Chinas autoritäres System nicht irgendein autokratisches Regime. Im Geist des Primats der Gemeinschaft beruht es auf einem stillschweigenden Gesellschaftsvertrag zwischen den kommunistischen Eliten und den regierten Massen. Der Ursprung des gegenwärtigen chinesischen Systems geht auf den Quasi-Naturzustand des Landes nach dem Tod von Mao Zedong im Jahre 1976 zurück. Mao hat 1949 die Volksrepublik gegründet und bis zum letzten Tag seines Lebens regiert. Er hinterließ ein Land, das von außenpolitischer Spannung, innenpolitischer Unordnung und wirtschaftlicher Rezession regelrecht geplagt wurde. Vor diesem Hintergrund ergriff Deng Xiaoping, der zweimal von Mao entmachtet wurde, erneut die Macht. Er versprach der chinesischen Bevölkerung eine neue Perspektive. Sein Angebot lautete: Ordnung, Wohlstand, Modernisierung und Wiederherstellung der Würde der Nation. Völlig zermürbt durch Maos „Klassenkampf“ akzeptierte die chinesische Bevölkerung Dengs Angebot. In der Tat wurde seine Rückkehr in die Politik von den Menschen als Glück für das Land empfunden. Landesweit wurde die Übernahme der Regierungsmacht durch pragmatische Eliten um Deng spontan und begeistert gefeiert. Die Bevölkerung jubelte ihm zu und erkannte seine Führung an. Deutliches Zeichen dieses erklärten Willens zur Unterwerfung waren die emotionalen Hochrufe der Menschenmenge, „Xiaoping, Nin Hao! (Hallo Xiaoping!)“, als der neue Souverän Anfang der 1980er Jahre auf dem Platz Tiananmen in Beijing eine Massenparade abnahm. Der stillschweigende Gesellschaftsvertrag verpflichtete Deng Xiaoping und seine politischen Anhänger, zu denen auch der jetzige Partei- und Staatschef Xi Jinping gehört, für Wohlstand und Ordnung zu sorgen. Als Gegenleistung hierfür wurde ihnen die letzte 1 Zu dieser pessimistischen Schule vgl. stellvertretend: Gordon Chang, The Coming Collapse of China, New York 2001.

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Entscheidungsgewalt und Ordnungsmacht zuerkannt, die nicht wiederholt zur Diskussion gestellt werden sollten. Diese gesellschaftstheoretische Deutung des chinesischen Regierungssystems mag altmodisch klingen, entspricht jedoch den gegenseitigen Erwartungen der Regierten und der Regierenden im heutigen China. Die innere Logik der chinesischen Politik ist eindeutig: Solange die Vertragsparteien nicht einseitig oder gegenseitig enttäuscht sind, bleibt dieser „Unterwerfungsvertrag“ intakt und ist eine politische Unordnung in China nicht vorstellbar. Im Augenblick macht die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung vor dem Hintergrund des steigenden Wohlstandes einen zufriedenen Eindruck, auch wenn es immer wieder zu lokalen Unruhen und Protesten kommt. Eine amerikanische Studie bestätigte die im internationalen Vergleich relativ hohe Bereitschaft der chinesischen Bevölkerung, die Legitimität ihrer Regierung weiterhin anzuerkennen.2 Nach dieser Studie rangierte die chinesische Regierung von 1998 bis 2002 auf der Legitimitätsliste von 72 untersuchten Staaten auf Platz 13 sogar vor Australien und Großbritannien. Vermutlich hat diese relativ positive Einstellung der Chinesen zu ihrer autoritären Regierung mit ihrem permanent steigenden Wohlstand zu tun. Laut einer Gallup-Umfrage von 2011 sinkt der Wohlstand der Amerikaner dramatisch, während der der Chinesen erheblich steigt. 19 % der Amerikaner haben kein Geld für ausreichend Nahrung, unter den Chinesen beklagen nur sechs Prozent eine derartige Lage. „Auch andere Armutsindikatoren zeigen“, so das Fazit der Studie: „Den US-Bürgern geht es immer schlechter, den Chinesen immer besser.“3 Die chinesische Führung scheint begriffen zu haben, dass Stabilität in einem politischen System ohne offene Konkurrenz um Regierungsmacht nicht auf Dauer mit Hilfe von Verfolgung und Unterdrückung erreicht werden kann. Die Notwendigkeit zur Absicherung der Gefolgschaft breiter Schichten der Bevölkerung durch eine flexible Ausübung der Ordnungsmacht wird unter den Regierungseliten zunehmend erkannt. In der Tat fühlt sich die politische Führung vor dem Hintergrund der verbreiteten Politikapathie der Menschen nicht genötigt, auf flächendeckende Repressionen zurückzugreifen. Relativ selten wird gegen politisch Andersdenkende nackte Gewalt angewendet, auch wenn gegenüber denjenigen, die den Gesellschaftsvertrag nicht mehr akzeptieren und aus der Reihe der braven Bürger tanzen wollen, wiederholt punktuelle Eingriffe vorgenommen werden. Allerdings garantiert der Gesellschaftsvertrag den kommunistischen Eliten nicht nur ihre Regierungsmacht, sondern erinnert sie auch ständig an ihre Leistungsverpflichtungen. Dazu gehören die Entwicklung einer modernen Volkswirtschaft und einer weitgehend autonomen Gesellschaft. Aus genau diesem Grund besteht die chinesische Regierung darauf, politische Prioritäten stets auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu setzen. Auch ihr Desin2 Bruce Gilley, If People Lead, Elites Will Follow, in: Foreign Policy (May/June 2006), http://foreignpolicy. com/2009/10/19/if-people-lead-elites-will-follow/ (abgerufen 12. 2. 2018). 3 Frank Patalong, Umfrage zum Wohlstand: Armes Amerika, reiches China, Spiegel-Online, 15. Oktober 2011, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/umfrage-zum-wohlstand-armes-amerika-reiches-china-a-791996. html (abgerufen 15. 6. 2017).

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teresse an einer demokratischen Reform zum Ausbau der Möglichkeiten der politischen Partizipation stellt eine logische Konsequenz des stillschweigenden Gesellschaftsvertrages dar. Wohlwissend, dass der versprochene Wohlstand für 1,34 Milliarden Menschen nur durch intensive Entwicklungsprojekte erreicht werden kann, machen die Machthaber auf allen Regierungsebenen das Wirtschaftswachstum zur Chefsache. Denn nicht nur das Schicksal der gesamten Regierungsklasse hängt von ihren Wirtschaftsleistungen ab, sondern auch die persönliche Karriere der einzelnen Politiker beziehungsweise Parteifunktionäre. Der Gesellschaftsvertrag hat in diesem Sinne das Verhältnis zwischen den Regierten und den Regierenden völlig ökonomisiert und transparent gemacht. Das Wirtschaftswachstum wurde nicht nur zum einzigen Maßstab für den Erfolg der Politik, sondern auch zur Quelle der Legitimation politischer Macht. Diese Ökonomisierung der Politik führte zu einer flexiblen Ausübung der Ordnungsmacht, die sich stets auf das Primat des Kollektivs berufen und auf seine stabilisierenden Wirkungen verlassen kann. Während seitens der Regierung das Recht der Bürger, ihr Privatleben gesellschaftlich wie wirtschaftlich frei zu gestalten, weitgehend respektiert wird, versuchen auf der anderen Seite nur wenige politisch emanzipierte Aktivisten, die Autorität der Parteienherrschaft in Frage zu stellen. Beide Seiten scheinen eine „Rote Linie“ gezogen zu haben und bereit zu sein, diese als Grenze ihrer jeweiligen Spielräume anzuerkennen. Die Beobachtung zeigt, dass die Regierung bei der Ausübung ihrer Ordnungsmacht lediglich die Einhaltung dieser „Roten Grenze“ beachtet, um die Stabilität zu erhalten. Solange sie die Grundordnung im Sinne des Gesellschaftsvertrages nicht gefährdet sieht, unterstützt oder toleriert sie alles, was eine moderne, freie und emanzipierte Gesellschaft ausmacht: von Rolling Stones bis zu Hip-Hop, vom Internet bis zum Mobiltelefon, von Punkkultur bis zur Swingparty und von NGOs bis zum Austausch mit dem Ausland. Ein klassisches Beispiel für diese flexible und adaptive Regierungsweise stellt die Förderung oder Tolerierung des Internets dar. Trotz der Kontrolle der die „Rote Linie“ ignorierenden Cyber-Dissidenten werden die Nutzung und Verbreitung des Internets durch die Regierung massiv unterstützt. China hat heute (Frühling 2017) schätzungsweise 700 Millionen Internetnutzer. Davon sind etwa 100 Millionen aktive Blogger unter 35 Jahren. Im internationalen Vergleich verbringen junge und gut ausgebildete chinesische Internetnutzer viel mehr Zeit online als vergleichbare Gruppen in anderen Industriestaaten. Wie Wolfgang Hirn vom „Manager-Magazin“ beobachtet: Kein Volk ist so mobil und Internet-affin wie die Chinesen. Höchstens die benachbarten (Süd-) Koreaner können da noch mithalten. 564 Millionen Chinesen hatten Ende 2012 Zugang zum Internet. Bereits knapp 200 Millionen Chinesen erledigen ihre Bankgeschäfte online. Der ECommerce boomt wie in keinem anderen Land der Welt. Waren im Wert von 210 Milliarden Dollar wurden im Jahr 2012 von Chinesen im Internet bestellt.4 4 Wolfgang Hirn, Ein Volk macht mobil, Manager-Magazin online, 27 .08. 2013, http://www.manager-magazin.

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Die intensive Nutzung des Internets machte China zu einer regelrechten „blog nation“. Sie ermöglichte die Entstehung von Internetportalen als neue Hauptplattform für den inländischen Informationsaustausch. Im Vergleich zu traditionellen Printmedien und TV-Übertragungsmitteln sind die Vorzüge der Internetportale für Menschen in einem autoritär regierten System unverkennbar: Sie sind schnell, virtuell, anonym und sicher. Leidenschaftlich kommunizieren Millionen Blogger über das Internet, nicht nur um Lebenserfahrungen miteinander auszutauschen, sondern auch um soziale Missstände aufzuzeigen und Unmut über Korruption und Willkür lokaler Beamter zum Ausdruck zu bringen. Entgegen der Vermutungen vieler Demokratietheoretiker hat sich die Verbreitung des Internets in China bislang positiv auf die Stabilität des Systems ausgewirkt. Wie der deutsche Politologe und Chinaexperte Thomas Heberer festgestellt hat, „stellen Internetdiskussionen an sich noch keine Herausforderung des Systems dar. Sie können sogar dazu beitragen, die Legitimität des politischen Systems zu stärken.“5 In der Tat hat die chinesische Regierung mit der Förderung des Internets offenbar bereits zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die Sicherung des chinesischen Anschlusses an die modernste Kommunikationstechnologie der Welt und die Stärkung der politischen Stabilität. Mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Adam Przeworski kann man die Stabilität des politischen Systems der Volksrepublik China noch systematischer erklären: Ihm zufolge kann ein politisches System nur dann ins Schwanken geraten, wenn eine populäre Alternative zum existierenden Regime aufkommt. Populär ist diese, wenn sie von den Bürgern bevorzugt und als realisierbar betrachtet wird. Es ist kein Geheimnis, dass die westliche Staatsform des liberalen Verfassungsstaates stets als potentielle Alternative zur Parteienherrschaft in China gehandelt wurde und wird. Allerdings hat sie nach wie vor große Schwierigkeiten, sich als populäre Alternative zum existierenden autoritären Regime zu präsentieren, geschweige denn sich durchzusetzen. Die Gründe dafür sind vielseitig: Sie liegen in der Demokratiefeindlichkeit der Konservativen, in der Demokratiefremdheit der Masse, in der Demokratiescheu der Intellektuellen und in der Demokratiegleichgültigkeit des Mittelstandes. Aber auch die schlechte Performance und gegenseitige Beschimpfung der Kandidaten in der Präsidentenwahl der USA 2016 haben viele Chinesen schockiert. Der Eindruck, dass der Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump der Reputation und Attraktion der liberalen Demokratie für viele Chinesen eher geschadet als genutzt hat, bleibt hartnäckig. Vor allem bleibt der neue Mittelstand der Parteiherrschaft nach wie vor treu. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Demokratiegleichgültigkeit in China ausgerechnet bei denjenigen besonders zu spüren ist, die gut ausgebildet sind und über ein hohes Einde/unternehmen/artikel/alibaba-renren-und-baidu-verdraengen-google-fb-und-ebay-in-china-a-918668.html (abgerufen 15. 6. 2017). 5 Thomas Heberer, China – Entwicklung zur Zivilgesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (2006), 20–26, hier 21.

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kommen verfügen, obwohl doch die westliche Demokratietheorie gerade im Mittelstand den eigentlichen Antrieb der Demokratisierung verortet. Im Reich der Mitte hat sich bereits eine große Gruppe wohlhabender Menschen formiert, die man durchaus als die neue chinesische Mittelklasse bezeichnen kann. Heute verfügen schätzungsweise 300 Millionen Chinesen über ein Jahreseinkommen zwischen 30.000 bis 40.000 €. Hinzu kommen rund 30 Millionen Menschen, die im Jahr über mehr als 50.000 € einnehmen. Was dieses Kollektiv politisch charakterisiert, ist ihre weitgehende Identifikation mit den systemischen Werten der Parteienherrschaft: Die wirtschaftliche Entwicklung ist also relevanter als die politische Reform; die Gesellschaft hat Vorrang vor dem Individuum; und hart arbeiten ist wichtiger als persönliche Freiheit. Zahlreiche Umfragen und Untersuchungen von in- und ausländischen Wissenschaftlern bestätigen, dass wir in China einen politisch konservativen, änderungsscheuen und stabilitätsfreundlichen Mittelstand haben. Er zeigt sich nicht besonders begeistert von der Idee, politische Freiheit und persönliche individuelle Rechte flächendeckend einzuführen. Die Angst vor einer Gefährdung der vorhandenen Grundordnung veranlasst ihn zu weitgehend systemkonformem Verhalten. Was die neue Mittelklasse am meisten interessiert, ist mehr persönliche Freizeit. Die überwiegende Mehrheit will einfach mehr Freizeit für ihre Familien und Freunde. Kaum einer von ihnen wünscht sich mehr Freizeit für gesellschaftliche Aktivitäten oder gemeinnützige Programme. Ein Phänomen, das die sozialwissenschaftliche Modernisierungstheorie wiederum erheblich in Frage stellt. Denn hohes Einkommen und wohlhabendes Leben sollen den Menschen viel Freizeit geben, und diese soll ihnen wiederum ermöglichen, sich gesellschaftlich zu organisieren und demokratisch zu engagieren. Den neuen chinesischen Mittelstand, von dem die Rolle des Vorkämpfers für die Demokratie erwartet wird, gibt es nicht – noch nicht. Dieser Zustand erschwert den Aufstieg der Demokratie als politische Alternative und leistet somit einen organischen Beitrag zur Stabilisierung des kommunistischen Regimes. Begründet wird dieses antitheoretische Phänomen in China dadurch, dass die geschäftsführenden Manager als Kern der neuen Mittelklasse klare Nutznießer des vorhandenen politischen Systems sind. Sie sind tatsächlich fest in das politische System integriert: Schätzungsweise 81 % der CEOs von Staatsunternehmen haben ihren Job der Partei zu verdanken; 56 % aller leitenden Manager werden von der Partei berufen.6 Von ihnen zu erwarten, sich von der Parteiherrschaft zu distanzieren und für eine Alternative einzusetzen, würde der Logik der Sache widersprechen. Es versteht sich von selbst, dass in einem politischen System, dem ein Unterwerfungsvertrag wie der chinesische zugrunde liegt, Herrschaft begrenzende Mechanismen wie eine unabhängige Justiz und freie Presse keinen Platz haben. Sie gehören zu den systemfeindlichen Institutionen, die per definitionem nicht erfolgreich eingeführt werden können, ohne die Grundlage des politischen Systems, den Gesellschaftsvertrag, aufzukündigen. 6 Vgl. hierzu Minxin Pei, The Dark Side of China’s Rise, in: Foreign Policy (März/April 2006), 1–10.

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Gegenwärtig lässt sich deshalb weder bei den chinesischen politischen Eliten noch bei den Regierten eine annähernde Bereitschaft zu einer solchen Systemänderung erkennen. Für Erstere steht das Machtmonopol und für Letztere der Wohlstand auf dem Spiel. Sie scheinen nicht daran zu glauben, dass die von ihnen jeweils favorisierten Vorteile in einem anders konstituierten System als dem vorhandenen zu erhalten oder zu vergrößern wären. Die gemeinsame Angst vor dem ungewissen Ergebnis eines Systemwechsels und das gemeinsame Interesse an einer Weiterführung des Gesellschaftsvertrages fördern ihre gegenseitige Vertragstreue und damit auch die Stabilität des Systems. Aber eine allseitige Vertragstreue begünstigt die Stabilität des politischen Systems eben nur. Sie stellt noch keine Garantie für das Überleben des Systems dar, wenn es zu stark durch Systemstörungen beeinträchtigt wird. Von der Systemtheorie der Kybernetik wissen wir, dass ein System nur überleben kann, wenn es über genügend Kapazitäten zur Bewältigung seiner Belastungen verfügt. Hat das politische System Chinas, das Massenpartizipation als Mechanismus zum Abbau politischer Frustration und Unzufriedenheit nicht kennt, die notwendige Kraft, die immer stärker zum Vorschein kommenden Systemstörungen zu überwinden? Die entscheidende Schwäche des chinesischen Systems liegt darin, dass es nicht auf politischen Werten, sondern auf wirtschaftlichen Leistungen beruht. Da wirtschaftliche Leistungen stets konjunkturbedingt sind, ist die systemische Stabilität vielen außersystemischen Faktoren wie der Rezession der Weltwirtschaft oder der Abkühlung der Konjunktur in den Haupthandelspartnerländern ausgesetzt. Diese systemische Außenabhängigkeit zu beseitigen, scheint die dringende Aufgabe der Volkrepublik zu sein. Allem Anschein nach hat die neue chinesische Führung unter Präsident Xi Jinping diese Aufgabe erkannt. Ihr neues Konzept, gegen die Instabilitätsgefahr zu steuern und damit die Überlebensfähigkeit des Systems zu steigern, heißt „Verwirklichung des Chinesischen Traums“. Es bekräftigt das Primat des Kollektivs und wirkt sich auf die Massen erneut ansprechend aus. Es wurden groß angelegte Adjustierungsmaßnahmen gestartet, die das Wirtschaftswachstum mehr in Richtung soziale Erträglichkeit und ökologische Freundlichkeit lenken sollten. So soll das Konfliktpotenzial innerhalb der Gesellschaft abgebaut und die Systemloyalität erhöht werden. Ob es der chinesischen Führung nochmals gelingen wird, durch politische Anpassungen und institutionelle Erneuerungen die Selbsterneuerungsfähigkeit des Systems zu stärken, bleibt noch abzuwarten. Jedoch lassen der anpackende Regierungsstil und die rationale Vorgehensweise der technokratischen Herrschaftsklasse unter der Führung von Staatspräsident Xi und Ministerpräsident Li zumindest eine positive Hoffnung auf Erfolg zu. Die Anzeichen mehren sich, dass die „Neupolitik von Xi/Li“ in der Bevölkerung schon auf breite Unterstützung gestoßen ist und sich gegen Widerstände auf lokalen Ebenen durchsetzen können wird. Die ganze Welt ist gespannt, ob der Reformplan, den die Parteizentrale im November 2013 nach großen Konsensanstrengungen vorgelegt hat, sein Ziel für 2020 erreichen wird: Mehr Marktwirtschaft, eine größere Unabhängigkeit der Justiz und mehr gesellschaftliche Freiheiten, aber stets im Rahmen der Parteienherrschaft.

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III. Chinas herrschaftspolitische Ambition und die Herausforderung für den Westen Der Westen wird sich dem Schicksal einer permanenten Enttäuschung nicht entziehen können, wenn er stets politisch nur „modernisierungstheoretisch“ denkt, indem er nämlich stets davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Liberalisierung in China zwangsläufig zur politischen Liberalisierung führen wird. Dass diese bislang ausblieb, ist kein Zufall, sondern eine von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten beabsichtigte Entwicklung. China im Rahmen der Umarmung der wirtschaftlichen Globalisierung zu einem politischen System nach westlichem Vorbild zu entwickeln, war nie Bestandteil der chinesischen Reformpolitik. Im Gegenteil: Es war immer ihr Ziel, die Möglichkeit einer permanenten Prosperität ohne Öffnung der politischen Entscheidungsprozesse zu testen. Zwanzig Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion, dem symbolischen Triumph der liberalen Verfassungsstaaten über die unfreien kommunistischen Staaten zeigen sich die westlichen Demokratien im Hinblick auf ihre eigene Zukunft erstaunlich unsicher. Diese Unsicherheit drückt sich ungewöhnlich massiv in der China-Angst aus, die sich angesichts des chinesischen Aufstiegs ständig intensiviert. Die Euphorie über das „Ende der Geschichte“ wurde durch die Sorge um eine „Rückkehr der autoritären Regime“ ersetzt. Das Gefühl, dass die Welt nicht wie erwartet in Richtung universal-liberaler Demokratie marschiere, verbreitet sich unter den Intellektuellen und Meinungsführern. Es wird befürchtet, dass die Staatenwelt sich doch in unterschiedliche herrschaftspolitische Lager polarisieren und eine neue Ära der Rivalität zwischen westlichen liberalen Demokratien und nicht-westlichen, aber gefährlichen autokratischen Regimes entstehen könnte. John Ikenberry, einer der führenden liberalen Denker der Vereinigten Staaten der Gegenwart, sprach sogar von deutlichen Anzeichen für die Entstehung einer „autocrats international“, angeführt von Russland und China. Man zeigt sich zwar zuversichtlich, dass die westlichen Demokratien den wahrgenommenen „Modellwettbewerb“ am Ende gewinnen könnten, macht sich jedoch Sorgen um die Dauerhaftigkeit des Weltfriedens im 21. Jahrhundert. Eine Welt, die durch eine demokratischautoritäre Divergenz gestaltet sei und durch herrschaftspolitischen Wettbewerb angetrieben werde, verspreche, so die liberale Befürchtung, mehr Konflikt- und Kriegsgefahren.7 Ob eine demokratisch-autoritäre Divergenz wirklich zu einem neuen Weltkrieg führen würde, wie die Anhänger der Theorien des „Demokratischen Friedens“ unter Berufung auf Immanuel Kant postulieren,8 sei dahingestellt. Für den Westen noch gravierender erscheint die von Chinas Entwicklungsmodell provozierte herrschaftspolitische Herausforderung: Die Wiederbelebung autoritärer Regime. 7 John G. Ikenberry, The Rise of China and the Future of the West, in: Foreign Affairs 87 (2008), 1, 23–37. 8 Zum Theorem über die Korrelation zwischen Demokratie und internationalem Frieden vgl. Michael W. Doyle, Liberalism and World Politics, in: American Political Science Review 80 (1986), 4, 1151–1169; Christopher Layne, Kant or Cant: The Myth of the Democratic Peace, in: International Security 19 (1994), 2, 5–49.

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Insgesamt betrachtet dürfte die Zukunft des westlichen Demokratiemodells entscheidend von seiner Fähigkeit abhängen, sich weltweit zu verbreiten, also die noch nicht-demokratischen Länder zur politischen Liberalisierung zu bewegen und deren Regierungssysteme zu demokratisieren. Gerade unter diesem Aspekt stellt China eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Loretta Napoleoni weist darauf hin, dass das westliche Modernisierungsmodell im Zuge des chinesischen Dauerwachstums und der westlichen Serienkrisen zunehmend an Anziehungskraft verloren habe. Insbesondere für die Entwicklungsländer werde das Reich der Mitte mit seinem „besseren Kapitalismus“ im Sinne eines politischen Autoritarismus in Verbindung mit wirtschaftlicher Freiheit immer attraktiver. „Wenn ich heute Ägypter wäre“, so fragte die französische Kommentatorin für Le Monde, welches Wirtschaftsmodell würde ich übernehmen wollen, das westliche oder das asiatische? Würde ich den westlichen Politikern und Unternehmen vertrauen, die jahrzehntelang mit jenen oligarchischen Eliten Geschäfte gemacht haben, die mich unterdrückt und ausgeplündert haben, – oder würde ich eher Politikern und Firmen aus den Schwellenländern vertrauen, Menschen, die noch vor wenigen Jahrzehnten ebenso arm und machtlos waren wie ich heute?9

Die Zukunft des westlichen Demokratiemodells hängt daher entscheidend davon ab, ob dessen Verfechter es schaffen können, die autoritären Zentren wie Russland und China zu politischer Liberalisierung beziehungsweise Demokratisierung zu bewegen. Das Verhalten des Westens gegenüber Russland nun im Umgang mit China zu wiederholen, wäre für die Zukunft des westlichen Demokratiemodells fatal. Russlands Rückkehr zum Autoritarismus, die nach Präsident Jelzins anfänglichen Demokratisierungsansätzen unter der Herrschaft des „lupenreinen Demokraten“ Putin deutlich beschleunigt wurde, spiegelt sicher auch die Enttäuschung der Moskauer Regierungsklasse vom westlichen Verhalten gegenüber den russischen Großmachtinteressen wider. Es erklärt aber auch das Versagen der westlichen Demokratisierungspolitik gegenüber autoritären Zentren. Hierfür waren die überhebliche Euphorie über das „Ende der Geschichte“ und die damit verbundene Leichtsinnigkeit und Naivität bei der Umgestaltung der russischen Herrschaftsstrukturen, die in ihrer Geschichte niemals ein liberales Element aufwies, mitverantwortlich. Was die Möglichkeit betrifft, China zu einer Demokratie nach liberalem westlichen Vorbild zu bekehren, dürfte das Unterfangen noch größer und die Perspektive noch düsterer sein. Es liegt eine große und v. a. unüberwindbare staatsphilosophische Verwerfungslinie zwischen ihnen. Das unterschiedliche chinesische und westliche Denken über den Staat, über seine Funktion und über sein Verhältnis zur Staatsbevölkerung wird dafür sorgen, dass keine der beiden Seiten die Herrschaftsform der Gegenseite freiwillig annehmen wird. Wenn 9 Loretta Napoleoni, China: Der bessere Kapitalismus. Was der Westen vom Reich der Mitte lernen kann, Zürich 2012, 9.

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es eine grundsätzliche Denkweise gibt, die über Tausende von Jahren die politischen Dynastien Chinas überdauert hat und sich kategorisch vom Denkmuster des Westens unterscheidet, dann handelt es sich, wie bereits ausführlich diskutiert, um das Primat des Kollektivs. Im Gegensatz zum Primat des Individuums, das das philosophische, herrschaftspolitische und gesellschaftliche Denken und Verhaltensmuster des Westens charakterisiert, stellt das Primat des Kollektivs den zumindest theoretischen Bezugspunkt aller politischen und gesellschaftlichen Bestrebungen in China dar, die die politischen Entwicklungen des Landes seit der Begegnung mit dem Westen maßgebend beeinflusst haben. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob das chinesische Primat des Kollektivs und das westliche Primat des Individuums von ihrem inneren Zusammenhang her miteinander harmonisierbar beziehungsweise gegeneinander auszubalancieren sind. Immerhin handelt es sich bei diesen beiden Postulaten um die zwei Schlüsselbegriffe, auf denen das unterschiedliche Verhältnis zwischen Individuum und Staat in China und im Westen beruht. Allerdings würde Leibniz, wäre er noch am Leben, diese Aufgabe wohl nicht als unmöglich betrachten, nicht zuletzt, weil Konfuzianismus und Christentum für ihn nie einen Gegensatz dargestellt haben. Und vor dem Hintergrund seiner Idee einer „Europa-Mission der Chinesen in natürlicher Theologie als Pendant zur christlichen China-Mission in Offenbarungstheologie“, müsste es dem Westen und China heute, in Zeiten der Digitalisierung mit ihren unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten, weitaus leichter fallen, zwischen dem konservativ-kollektiven Denken Chinas und der liberal-individualistischen Besinnung einen Bogen zu schlagen. Leibniz war im 17. Jahrhundert in der Tat überzeugter von der Überbrückbarkeit der Unterschiede zwischen den chinesischen und abendländischen Grundwerten als die Chinesen und Westler des 21. Jahrhunderts. Ihnen fehlt offensichtlich die Vision, die Leibniz zu seinem Optimismus ermutigt hat: Die „geistigen Schätze“ der beiden Weltteile, die auf unterschiedliche Weise hervorragend seien, sollten durch intensive Austausche zu gegenseitiger Befruchtung führen. Es hat den Anschein, dass weder der Westen noch China gegenwärtig in der Lage sind, aus eigener Kraft ihre Zivilisation zu erneuern. Beide Seiten sind jeweils in ihrer eigenen Art „fundamentalistisch“ geworden. Während ein zu hoch angesetztes „Primat des Kollektivs“ bei den Chinesen häufig die Befriedigung individueller Ansprüche blockiert, stört ein übertriebener Individualismus oft das kollektive Interesse und die öffentliche Ordnung in den westlichen Staaten. John F. Kennedys vielzitierte Auffassung, man solle nicht fragen „was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst“, stammt zwar nicht aus dem Konfuzianismus, lässt sich aber auch konfuzianisch lesen. Wenn der Westen und China aufeinander zugehen und versuchen, jeweils ein Stück aus der zentralen Denkkategorie der Gegenseite zu übernehmen und es in das eigene Wertesystem zu integrieren, könnten sie vermutlich enorme Kräfte entfalten zur Erneuerung ihres jeweiligen Systems. Das westliche Demokratiemodell hat nur eine Chance, sich im 21. Jahrhundert global durchzusetzen, wenn die repräsentativen Demokratien in ihren Heimatregionen – Westeu-

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ropa und Nordamerika – selbst stabil bleiben. Sie bedürfen offensichtlich einer qualitativen wie institutionellen Selbsterneuerung, um ihre zunehmende Anfälligkeit gegen demagogische und populistische Verheißungen abzubauen, die durch die Computer-Revolution beschleunigt wurden. Die Souveränität der politischen Führung durch vernünftige und verantwortliche Staatsmänner und Staatsfrauen sollte gegenüber den Möglichkeiten einer demagogischen und populistischen Verführung der Massenwählerschaft gestärkt werden. Das Schicksal der „neuen Demokratien“ in den Transformationsländern wird die globalen Zukunftsperspektiven des westlichen Demokratiemodells maßgebend beeinflussen, weil seine globale Übertragbarkeit im 21. Jahrhundert auf dem Spiel steht. Strategisch dienen die im Zuge der dritten Demokratisierungswelle errichteten Systeme in Ostasien, Osteuropa und Lateinamerika als herrschaftspolitische Pufferzonen oder Peripherien zu autoritären Zentren wie China und Russland. Gelingt es den westlichen liberalen Demokratien, den neuen Demokratien zu Konsolidierung und Prosperität zu verhelfen, verstärken sie zugleich ihre Position im Systemwettbewerb mit den autoritären Zentren wie Russland und China. Vor dem Hintergrund, dass die Idee einer autoritären Staatsordnung für viele Peripheriestaaten angesichts wachsender Entwicklungsaufgaben und Modernisierungsherausforderungen an Attraktivität gewinnt, wird die Dominanz der Staatenwelt durch liberale Demokratien wahrscheinlich nachlassen. Vor allem Chinas Modell des erfolgreichen „autoritären Kapitalismus“ wirkt zunehmend attraktiv auf afrikanische und lateinamerikanische Staaten, ein Umstand, der das Reich der Mitte in der Suche nach einem eigenen Weg der politischen wie der wirtschaftlichen Modernisierung noch bestärkt. Das autoritäre China und die westlichen liberalen Demokratien können wohl tatsächlich nur durch gegenseitiges Lernen zu einer Annäherung kommen. In der Tat zwingt die Globalisierung beide Seiten nicht nur dazu, voneinander zu lernen, sondern zeigt ihnen auch die Lernrichtung. Denn die politische Zähmung der Globalisierung über nationale Grenzen hinweg kann nicht anders erreicht werden als durch einen globalen Ausgleich von Interessen und Wertvorstellungen. Dieser Ausgleich, die „Goldene Mitte“, kann nur durch einen Prozess des Lernens voneinander entstehen, als gemeinsames Produkt der Lernenden, aber dennoch immer im Blick auf die jeweiligen eigenen Bedürfnisse. Jeder Versuch, eigene Wertvorstellungen als absolut richtig zu betrachten und gegen die andere Seite durchzusetzen, hätte lediglich eine realpolitische Lösung zur Folge. In diesem Sinne hat Huntington zu Recht die „Kämpfe der Kulturen“ als die „größte Gefahr für den Weltfrieden“ identifiziert und in Anlehnung an Lester Pearson erkannt, dass „unterschiedliche Zivilisationen lernen müssen, nebeneinander in friedlichem Austausch zu leben, voneinander zu lernen, die Geschichte, die Ideale, die Kunst und Kultur des anderen zu studieren, einander gegenseitig das Leben zu bereichern“.10

10 Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996, 530–531.

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Russland, das postimperiale Trauma und die Folgen für die Weltgesellschaft I. Ewiges Russland trotz Sozialismus? Russland1 war am Beginn des 20. Jahrhunderts ein halbperipheres Imperium.2 Es war eines der Mächte des europäischen Konzerts und „Mitglied der Familie“3 der europäischen Staaten. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik war, insbesondere nach der Niederlage im Krimkrieg, durch das Bemühen gekennzeichnet, zu den westlichen Industrienationen aufzuschließen – der Staat förderte die Industrialisierung und an erster Stelle die Montanindustrie. Nach dem ersten, aus der Zeit Peters I. stammenden Hüttenkomplex im mittleren Ural wurde ein zweites Zentrum im „Donbass“ geschaffen, wo belgische, französische und englische Firmen Kohlezechen und Stahlwerke bauten. Einer der Unternehmer gründete eine Stadt seines Namens – Hughes Stadt, russisch Jusovka, später umbenannt in Stalino und noch später in Donezk.4 Nach dem Zusammenbruch Russlands 1917 setzten sich im Westen Nationalbewegungen durch, welche die drei baltischen Staaten gründeten, Polen wieder herstellten und für Rumänien Bessarabien eroberten. Östlich davon übernahm die Kommunistische Partei (KP) mit der Oktoberrevolution und der Ausschaltung der Konstituierenden Versammlung gewaltsam5 die Macht. Die Mehrheit in der Konstituante war sozialistisch, die KP vertrat jedoch nur eine Minderheit.6 Die KP fasste die Nationalbewegungen auf diesem Gebiet in einer 1 Quellen für den deutschen Leser: Hans-Heinrich Nolte/Bernhard Schalhorn/Bernd Bonwetsch (Hrsg.), Quellen zur russischen Geschichte, Stuttgart 2015 [folgend zitiert als Quellenbuch]; Einführend Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands, ³Stuttgart 2012 [folgend zitiert als Nolte Geschichte Russlands]; Forschungsstände: Manfred Hellmann/Gottfried Schramm/Klaus Zernack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1–5, Stuttgart 1981–2000; Lexika: Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Lexikon der Geschichte Russlands, München 1985; Ders. (Hrsg.), Historisches Lexikon der Sowjetunion, München 1993. 2 Hans-Heinrich Nolte, Das Russländische Imperium, in: Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte, 2 Bde., Bd. 1, Wiesbaden 2014, 1083–1100 [folgend Gehler/Rollinger]; Hans-Heinrich Nolte, Das Russländische Reich, in Ders., Kurze Geschichte der Imperien, Wien – Köln – Weimar 2017. Grundlegend zu dieser Periode: B. N. Mironov, Social’naja Istorija Rossii perioda Imperii (XVIII – nachalo XX. vv.), Bde 1–2, St. Peterburg 1999. 3 Susan McCaffray/Michael Melanccon (Hrsg.), Russia in the European Context 1789–1914, New York 2005. 4 Vgl. Martin Aust (Hrsg.), Globalisierung imperial und sozialistisch, Frankfurt/Main 2013 und zur Montanindustrie, ebd., 274–300: Hans-Heinrich Nolte, Eisen und Stahl in der Sowjetunion in globaler Perspektive. 5 Vgl. die Texte in Bernd Bonwetsch, Sowjetmacht und Gewalt, in: Quellenbuch, 285–326. 6 Zum Verhältnis von Rätesystem und Parlamentarismus Nolte, Geschichte Russlands, 170–184.

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Union zusammen, die in der Verfassung jeder Mitgliedsrepublik das Austrittsrecht zubil­ ligte.7 Die UdSSR wurde oft in die imperiale Tradition des vorrevolutionären Russland ge­stellt;8 Lenin wurde als der „Rote Zar“ bezeichnet oder sogar eine Traditionslinie von mongolischer Herrschaft zu Stalin gezogen. Was entsprach alten Traditionslinien, was war neu? War Russland – wie manche russische Romantiker ja hofften – ewig? Die kommunistische Herrschaft war jedenfalls zumindest in der Gedankenwelt durch etwas Neues bestimmt: den Versuch, ein westeuropäisches kritisches Denkmodell – den Marxismus – in der russischen Realität zu verwirklichen. Die Partei hoffte, mit Hilfe dieses Modells den kapitalistischen Westen „einzuholen und zu überholen“, sowie auf dieser Grundlage dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Die Partei urbanisierte das Land und schuf neue Städte, z. B. Magnitogorsk. Sie setzte staatlichen Terror und Zwangsarbeit ein,9 sowohl um ihre Herrschaft zu sichern als auch, um die Industrialisierung durchzusetzen, und schuf eine dritte Montanindustriebasis im Südural – „Kuzbass“. Die KP war insofern erfolgreich, als die UdSSR auf der neuen industriellen Grundlage und im Bündnis mit Großbritannien und den USA in der Lage war, gegen Deutschland einen industriellen Abnützungskrieg zu führen und zu gewinnen (nachdem sie die Schlacht bei Moskau 1941 gewonnen hatte und mindestens damit der deutsche Versuch eines „Blitzkrieges“ gescheitert war).10 Die Teilhabe am Sieg11 über die Mächte des Anti-Komintern-Paktes, der faschistischen oder autoritär-diktatorischen Allianz von Deutschland, Japan und Italien, wurde in der sowjetischen Führung als Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus verstanden, also als Bestätigung des Weges, den die UdSSR eingeschlagen hatte. Dies war ein Missverständnis, da bei aller Bedeutung der sowjetischen Westfront für den Sieg der drei „großen“ Alliierten im Abnützungskrieg dieser überwiegend ein Sieg der beiden angelsächsischen Mächte und v. a. der USA war.12 Es war ein verständliches Missverständnis, da in ganz Europa, also auch im Westen, eine linke Welle die Öffentlichkeit bestimmte und in mehreren Ländern Sozialisten an die Macht kamen. Das Missverständnis speiste sich außerdem aus der Hoffnung, dass die sowjetischen Verluste nicht umsonst gewesen sein mögen.13 Nicht zuletzt bildete das   7 Hierzu das Kapitel UdSSR in Nolte, Imperien.   8 Wolfgang Mueller, Die Sowjetunion als Imperium, in: Gehler/Rollinger, Imperien, 1255–1208.   9 Einführung Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Frankfurt/Main 2008. 10 Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, München 2010; Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht, Frankfurt/Main 2011; Hans-Heinrich Nolte, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, Hannover 1991. 11 Zum Zweiten Weltkrieg zusammenfassend Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen, Darmstadt 1995. 12 Vgl. etwa die Berechnung, die Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers, New York 1989, 355 zitiert. Danach hatte die Rüstungsproduktion der USA 1943 einen Wert von 37,5, die von Großbritannien einen von 11,1 und die der UdSSR einen von 13,9, die Deutschlands einen von 13,8 und die Japans einen von 4,5 Mrd. $. (1944-Preise). Vgl. ebd., 354: Die USA produzierten im selben Jahr 85.898, die UdSSR 34.900, Großbritannien + Commonwealth 30.963 Flugzeuge, Deutschland 24.807, Japan 16.693 und Italien1600. Vgl. auch Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wien – Köln – Weimar 2009, 102. 13 Zu den historischen Traumata der russischen Eliten gehört das Gefühl, für die anderen Mächte mit großen

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Missverständnis die Voraussetzung für die Entscheidung der sowjetischen Führung, in den gegen die Deutschen eroberten Ländern Osteuropas die sowjetische Form des Sozialismus zu fördern, statt den USA entgegenzukommen. Der Kalte Krieg begann. Die UdSSR beanspruchte die Rolle als Führungsmacht des sozialistischen Lagers und polarisierte für einige Zeit das internationale System. Die sowjetische Regierung entschied sich für diese herausfordernde Politik, obgleich sie bestenfalls über ein Drittel des BSP der USA verfügte und außerdem im Zweiten Weltkrieg allein an Personenverlusten hundertmal so viele erlitten hatte als diese (27 Millionen auf der einen, 220.000 auf der anderen Seite).14 Obgleich der Wiederaufbau nach den Kriegsverlusten gelang und auch eine Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards erreicht wurde (die z. B. in der Massenmotorisierung Ausdruck fand) blieb das Bruttosozialprodukt je Kopf deutlich hinter den USA zurück. Die grundlegende Schwäche der sozialistischen Wirtschaftsverfassung lag darin, dass sie entgegen dem eigenen Anspruch den Wert der produzierten Waren nicht wissenschaftlich berechnen konnte und der staatliche Plan deshalb zu großen Teilen auf gesetzten Daten beruhte.15 Um dem Anspruch auf Dualismus Gewicht zu geben, strebte die UdSSR militärische Parität mit den USA an und erreichte sie auch auf einigen Gebieten. Logischerweise musste sie für dieses Ziel einen viel größeren Anteil am BSP für Rüstung ausgeben als die USA – Schätzungen gehen von 15 bis 20 % aus, während die USA meist um 5 oder 6 % ausgab und die Bundesrepublik um 3 %. Der Sozialismus erwies sich aber keineswegs als ökonomisch überlegene Wirtschaftsform, so dass die hohe Rüstungsrate nur auf Kosten einer im Vergleich mit dem Kapitalismus zu niedrigen Investitionsrate zu erreichen war. Die Tschechoslowakei, in welcher die kommunistische oder doch linke Bewegung einen großen Teil der Bevölkerung ausmachte, versuchte 1968 eine von der Prager Akademie der Wissenschaften vorbereitete Reform, die aber durch Intervention der UdSSR (u. a.) mit militärischer Gewalt beendet wurde. Damit war zugleich deutlich, dass die sowjetische Führung sich gegen das emanzipatorische Potenzial des „Prager Frühlings“ wandte, womit sie letzte Sympathien unter den Linken in Westeuropa verspielte. Wichtiger war noch, dass die wirtschaftlichen Eliten sich ohne sichere Selbstbestimmung den Plananordnungen nicht widersetzen konnten. Die UdSSR verpasste durch die fehlerhafte Allokation ihrer Mittel und die Wendung gegen Emanzipation im eigenen Lager sowohl von der politischen als auch der wirtschaft-

Kosten „die Kastanien aus dem Feuer holen“ zu müssen, etwa im Nordischen Krieg für Hannover und Brandenburg oder gegen Napoleon mit Austerlitz und Borodino. 14 Nolte, Geschichte Russlands, 264–272. 15 Das wurde dadurch international bekannt, dass der RGW in seiner Preisbildung die des Westens übernahm, allerdings mit Zeitverzögerung, so dass bei steigenden Brennstoffpreisen nach dem Weltmarkt berechnet Russland und Aserbaidschan als Brennstoff produzierende Länder die anderen Länder des RGW und innersowjetisch Republiken wie Estland, Tadschikistan und die Ukraine subventionierten: Robert C. Stuart/Paul A. Gregory, The Russian Economy, New York 1995, 102.

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lichen Verfassung her die ausreichende Einführung von EDV in die Produktion, also die „Vierte Industrielle Revolution“.16 Der Zusammenbruch begann mit einem Reformversuch des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, der in einem Umbau (Perestroika) das System durch eine gelenkte Demokratisierung erhalten und stärken wollte. Der Versuch war schlecht geplant und scheiterte. Die UdSSR hat jedoch die vorgeschobenen Positionen sowjetischer Macht in Mitteleuropa aufgegeben und damit nicht nur den Frieden in Europa gestärkt, sondern auch die Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Wiederherstellung der vollen Souveränität der RGW-Länder in Ostmitteleuropa ermöglicht. Die Revolutionen des Jahres 198917 führten in Ostmitteleuropa, wie nicht erst heute deutlich wird, zu einem Anstieg des Nationalismus und zu tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten.18 Durch die Osterweiterung wurden viele dieser Länder Mitglieder in der EU.19 Das ist hier nur insofern unser Thema, als die kulturelle und politische Grenze am westlichen Bug neue Bedeutung gewann und Russland im westeuropäischen Bezugssystem zurücktrat.

II. Aufbau eines kapitalistischen Nationalstaats Innenpolitisch führte die Perestroika zu schweren Störungen der Arbeitsteilung innerhalb der Union; die einzelnen Regionen begannen sich abzukapseln und innere Märkte aufzubauen, die auf „bartering“, also einer Art Naturalienhandel, beruhten. Bei einem Putsch konservativer Kommunisten gegen Gorbatschow ergriff der Präsident der Russischen Föderation Boris Jelzin die Initiative und erklärte die Souveränität Russlands, also den Austritt aus der Union. Ende 1991 wurde die Union aufgelöst; alle Republiken wurden souverän. Die drei baltischen Republiken wandten sich nach Westen, sie sind heute Mitglieder von NATO und EU. Das entsprach dem Faktum ihrer Souveränität, da sie den Beitritt wünschten, und widersprach dem Tenor der Verhandlungen zwischen Gorbatschow und den Westmächten um den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Ostmitteleuropa. Dieser Tenor hatte so geklungen, als werde die NATO nicht nach Osten ausgeweitet; zumindest nicht mit Bodentruppen. Jelzin reformierte Russland nach dem Modell des bürgerlichen Nationalstaats zusammen mit einer Gruppe junger Leute, welche in den USA studiert hatten. Die sowjetischen Staatsbetriebe Russlands wurden ausschließlich an Bürger Russlands verramscht, so dass 16 Nach der Zählung bei Klaus Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, war das die dritte. 17 Kevin McDermott/Mathew Stibbe (Hrsg.), The 1989 Revolutions, Manchester 2013. 18 Margareta Mommsen, Nationalisms in Osteuropa, München 1992; André Gerrits/Nanci Adler (Hrsg.), Vampres Unstaked. National Images, Stereotypes and Myths in East Central Europe, Amsterdam 1996; HansHeinrich Nolte (Hrsg.), Transformationen in Osteuropa und Zentralasien, Schwalbach 2007 [folgend Nolte Transformationen]; Martin Myant/Jan Drahokupil (Hrsg.), Transition Economies, Hoboken/NJ 2011. 19 Übersicht Matthias Chardon/Siegfried Frech/Martin Große Hüttmann (Hrsg.), EU-Osterweiterung.

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eine neue Besitzelite entstand, die aus Russen, Muslimen und russischen Juden besteht;20 sie ist also tatsächlich föderal und nicht ethnisch russisch-orthodox. Der amerikanische Publizist David Hoffman fand für diese Gruppe staatsnaher Großkapitalisten den Terminus „Oligarchen“.21 Diese brachten sofort einen beträchtlichen Teil ihres neuen Reichtums aus dem Land – zwischen 1991 und 1998 etwa 150 Mrd. $.22 Damit etablierten sich die Oligarchen im Westen als Kaufhauserwerber oder Fußballklubbesitzer. Zugleich stieg der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze zwischen 1991 und 1992 von 4 auf 33 %, also auf ein Drittel, und blieb bei etwa einem Viertel der Bevölkerung.23 Rentner, welche auf der Straße warteten, bis man eine Flasche leer getrunken hatte, um das Pfand abholen zu können, waren eine übliche Erscheinung in jenen Jahren und noch lange danach. Gegen das Versprechen von Straffreiheit für die Familie Jelzin erhielt Vladimir Putin die Unterstützung für die Wahl zum Präsidenten. Es gelang ihm, Russland zu stabilisieren – als einen autoritären Präsidialstaat, – der direkte Verkäufe russischer Rohstoffvorkommen an das Ausland verhinderte, – der, so lange die Erdölpreise hoch waren, eine hohe Zuwachsrate für die Wirtschaft durchsetzte, – den durchschnittlichen Lebensstandard erhöhte und – ein Fast-Einparteiensystem aufbaute, das andere Gruppen und Meinungen marginalisierte. So lange das nur gegen die Kommunisten ging, war es dem Westen recht; die Homogenisierung richtet sich jedoch auch gegen die (an sich wenigen) Liberalen, woran der Westen sich stößt. 2005 hatte Russland mit 9230 $ etwa ein Drittel des BIP je Kopf von Deutschland mit 27.700 $ und eine Arbeitslosenquote von 9 %. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 65 Jahre (Deutschland 79).24 Die politische Verfassung Russlands ist weithin aus den USA übernommen. Die Verfassung der USA stammt aus dem 18. Jahrhundert und regelte politische Partizipation in einem Kreis besitzender Männer, der ungefähr 11 % der Bevölkerung über 21 Jahre ausmachte.25 20 Quellenbuch 7.26, unter den zehn reichsten sind u. a. Aliser Usmanov, Sulejman Kerimov, Roman Abramovich, Michail Friedman. 21 David E. Hoffman, The Oligarchs, New York 2002. 22 Jürgen Osterkamp, Die wirtschaftliche Entwicklung in Russland seit 1991, in: Reinhard  C. Meier-Walser/ Bernd Rill (Hrsg.), Russland, München 2002, 215–230, Tabelle 225 „Kapitalflucht“. 23 Nolte, Geschichte, 437. 24 Nolte (Hrsg.), Transformationen, 132–133. Russische Daten bestätigen die Grundaussage: danach lag Russlands jährliches Pro-Kopf-Einkommen 2004 bei 38.709 $ jährlich, das deutsche bei 49.000 $ und das äthiopische bei 1968 $; Quellenbuch 7.28. 25 Mit den weiteren Nachweisen Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.), Geschichte der USA, Schwalbach 2006 mit Auswahlbibliographie und Teilübersetzung der Verfassung, 106–109.

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In z. T. blutigen Auseinandersetzungen wurden die Wahlrechte erweitert, bis diese 1920 den Frauen und 1924 „sogar“ den Indianern zugesprochen wurden.26 Um an Demokratie teilnehmen zu können, muss jemand „abkömmlich“ sein, er muss Zeit und Unabhängigkeit besitzen, oder von einer Partei bezahlt werden.27 In einer „armen“ Gesellschaft werden viele Lebenschancen in Klientelverbänden vergeben, die keine Unabhängigkeit zulassen. Die politische Verfassung der USA am Ende des 20. Jahrhunderts mit „full suffrage“ setzt verbreiteten Wohlstand voraus und passt für ein verhältnismäßig armes Land schlecht. Der Höhepunkt dieser imitatio Americae war die Übernahme des in den USA 1961 verabschiedeten 22. Amendments, das die Presidential Term auf höchstens zehn Jahre festlegt.28 Diese Regelung setzt eine breite Gruppe von Personen aus meist begüterten Familien voraus, welche das Amt „können“. Die Übernahme der Regelung in Russland, das siebzig Jahre Diktatur des Proletariats hinter sich hatte, konkretisiert den unhistorischen und unpolitischen, schematisch-intellektuellen Charakter der Demokratisierung 1991. In der Folge entwickelte Russland sich zu einem „Doppelstaat“,29 in dem neben der offiziellen Regierungsmacht inoffizielle Klientelverbände an der Durchführung der Politik beteiligt sind. Diese Klientelverbände sind mit Einkommensquellen verbunden. Auf der untersten Ebene wird einfach „Schutz“ verkauft, was wegen einer hohen Gewaltrate auch notwendig ist.30 Auf den oberen Ebenen sind Klientelverbände mit politischem Einfluss verbunden. Die einflussreichste große Klientelorganisation ist Gazprom,31 wobei wichtig ist, dass diese Firma auch den kleinen russischen oder tatarischen Bürger beteiligt, indem sie die Preise unter Weltmarktniveau hält. In Russland muss man während des größeren Teils des Jahres heizen, und man heizt mit Gas. Zusammengehalten wird das zwischen einer demokratischen Verfassung und der Realität von Klientelverbänden changierende Land durch den autoritären Regierungsstil Vladimir Putins.32 Zur innenpolitischen Abstützung dieses autoritären Kurses vertritt Russland eine nationalistische Außenpolitik, welche besonders die russischen Minderheiten jenseits der Grenzen benutzt, um Großmachtpositionen zu markieren. Belegt diese Politik, wie oft behauptet wird, ein imperiales Trauma? Gewiss verzichtet die Regierung Putin auf kein Argument, das ihr zur Verfügung steht. Aber die Unterstützung russischer Minderheiten jenseits der Grenzen hat bisher in der Geschichte Russlands keine große Rolle gespielt. Russische Minder26 Da diese lokal an der Ausübung des Wahlrechts oft gehindert wurden, wurde 1965 der Voting-Right-Act nachgeschoben. 27 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Vorwort Alexander Ulfig, Frankfurt/Main 2008, 1050 ff. 28 Nur eine Wiederwahl ist zulässig, kommt ein Vizepräsident ins Amt, ist eine Wiederwahl nur einmal zulässig, wenn er zwei Jahre Präsident war. 29 Richard Sakwa, The Crisis of Russian Democracy. The Dual State, Factionalism and the Medvedev Succession, Cambridge 2011; vgl. Nolte, Geschichte Russlands, 452–478. 30 Federico Varese, The Russian Mafia. Private Protection in a New Market Economy, Oxford 2001. 31 Waleri Panjuschkin/Michail Sugar, Gazprom, München 2008. 32 Vgl. Quellenbuch Nr. 7.20–7.39.

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heiten im Ausland waren oft Emigranten, die auf die Moskauer Politik schlecht zu sprechen waren. Das reichte von den alt-gläubigen Flüchtlingen in Polen, Lettland und dem Osmanischen Reich im 17. bis zu Alexander Herzen in London im 19. Jahrhundert oder der Berliner Emigration der 1920er Jahre. Russland reagiert mit seiner Sorge um nationale Minderheiten also viel mehr auf die Nationalisierung von Politik, die in der Folge des Zusammenbruchs des Sozialismus ganz Osteuropa prägt und in der deutschen Wiedervereinigung ihr wichtigstes Ergebnis hatte (sowie im letzten Jahrzehnt auch in Westeuropa angestiegen ist) als auf eine tradierte imperiale Vorstellung. Das heißt nicht, dass die Führung nicht auch auf das alte Imperium oder sogar die Kiewer Rus zurückgriff, um Expansionen zu legitimieren.33 Die Instrumentalisierung von Minderheiten entspricht dem Sprachnationalismus der deutschen Romantik und nicht dem Partizipationsnationalismus der europäischen Aufklärung. Es ist keine Frage, dass der Ausgangspunkt der Expansionspolitik Russlands eine neokapitalistische Elite ist, die das Land mit den Mitteln der westlichen Demokratie nicht regieren kann, aber ihren Reichtum mit dem Argument gemacht hat, dass der Übergang zum Kapitalismus der Bevölkerung dienen werde. Die russische Elite leidet also an einem doppelten Legitimationsdefizit. Es ist durchaus wichtig zu unterscheiden, ob die vorgetragenen Argumente mehr zur alten imperialen oder zu einer neuen nationalistischen Legitimationskette gehören, aber beides ist beunruhigend, jedenfalls für eine Macht wie Deutschland, die sich für saturiert erklärt hat und den Status quo verteidigen will. Aber auch Deutschland sendet ja missverständliche politische Signale aus, indem es die Beitritte osteuropäischer Länder zur EU gefördert hat und auch heute keine Grenze benennt, bis zu der die Union denn reichen könnte.34 Einige östlich der deutschen Grenzen vermuten hinter dieser Politik eine deutsche Expansion unter dem Deckmantel der EU.

III. Notizen zur gegenwärtigen Machtposition Russlands 1. Der Vergleich mit anderen Mächten Die Hegemonie der USA, die nach 1945 etabliert wurde, war nach der Verfassung der UN insofern beschränkt, als außer den USA vier weitere Staaten ein Vetorecht gegen Entscheidungen des Sicherheitsrats erhielten.35 Später wurden alle Vetomächte Atommächte. Für die internationale Rechtsordnung, die in einigen Bereichen eingerichtet wurde – v. a. für die

33 Vgl. die Reden des Präsidenten und des Patriarchen zur Annexion der Krim, Auszüge in Quellenbuch Nrn. 7.54 und 7.55. 34 Vgl. dagegen Hans-Heinrich Nolte: Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (22. 11. 1995), 3–11. 35 Zur Anfangsphase der UN jetzt Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton/NJ. 2013 (Princeton University Press).

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Erklärung von Krieg und Frieden –, gab es also dann keine Implementierung, wenn die fünf Atommächte oder ihre Klientel betroffen waren. Alle fünf Vetomächte setzen ihr Privileg, keine Strafe bei Verletzung der UN-Satzung fürchten zu müssen, bis heute ein, z. B. – – – –

die USA im 2. Irakkrieg, Russland mit der Besetzung der Krim, China durch den Bau von Stützpunkten vor der malaysischen Küste, Großbritannien im 2. Irakkrieg und im Bündnis mit Frankreich in Libyen.

Mit dem Ende der Union waren die Republiken souverän und damit sofort Mitglieder der UN, soweit sie das nicht schon vorher gewesen waren. In fast allen Republiken gab es große russischsprachige Minderheiten, z. T. in geschlossenen Siedlungsgebieten an den Grenzen. Im Völkerrecht gibt es ein Recht auf Autonomien von Minderheiten, aber kein Recht auf Sezession.36 Russland konnte also für russische Kultur und Sprache außerhalb seiner Grenzen eintreten, aber keinen „Anschluss“ fordern. Die NATO hat diese Rechtsnorm geschwächt, als viele Mitglieder 2008 die Souveränität des Kosovo ohne Zustimmung Serbiens anerkannten. Es liegt nahe, dass z. B. Spanien – das die Sezession Kataloniens und des Baskenlandes fürchtet – den Kosovo als eigenen Staat nicht anerkannt hat. Russland trug schon lange vor der Ukrainekrise zur Aufweichung der Rechtslage bei, indem es an drei Stellen sezessionistische Bewegungen unterstützte: – auf dem linken Ufer des Dnjestr eine russische Irredenta gegen die rumänisch (oder doch eine diesem nahe romanische Sprache) redende Republik Moldau; – am Schwarzen Meer durch die Unterstützung der muslimischen, eine kaukasische Sprache redenden Region Abchasien gegen das ebenfalls eine kaukasische Sprache benutzende, aber orthodoxe Georgien; – am Südabhang des Kaukasus durch die Unterstützung der orthodoxen, eine indogermanische Sprache redenden Süd-Osseten ebenfalls gegen Georgien. Damit zu der Ukraine. Während Russland als Föderation definiert ist, bezeichnet die Verfassung die Ukraine als nationalen Einheitsstaat, obgleich nach der Volkszählung von 1989 nur 64 % der Bevölkerung Ukrainisch als Muttersprache angaben; und sowohl im Süden, also um Odessa herum, auf der Krim und in der Ostukraine Russisch von der Mehrheit gespro36 Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage Tübingen 2008, 111–120, 118: „Das Völkerrecht ist vielmehr bestrebt, einen Ausgleich zwischen territorialer Integrität der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu suchen.“ Vgl. Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010.

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chen wird, wobei aber wieder viele zwar Russisch reden, aber sich doch selbst als Ukrainer bezeichnen. Die Ukraine ist das ärmste Land in Osteuropa, 2005 betrug sein BIP pro Kopf nur 5491 $ (Russland, s. o., hatte damals 9230 $). Das größte Wirtschaftsproblem der Ukraine ist, dass der „Donbass“ im Osten auf Kohletechnologie beruht, die heute unrentabel ist und auslaufen muss. Die Ukraine ist aber keineswegs so oligarchisch geprägt wie Russland – während die reichsten 10 % der Bevölkerung in Russland 23-mal mehr Pro-Kopf-Einkommen haben als die ärmsten, haben sie in der Ukraine nur 6,4-mal mehr – in Deutschland war es 2005 7,1-mal mehr.37 1994 hatte Russland die Grenzen der Ukraine im Budapester Memorandum explizit anerkannt, weil daran der Abzug der Atomwaffen aus der Ukraine geknüpft war. Russland wurde mit diesem Abzug endgültig die einzige Nachfolgerin der UdSSR als Atommacht, nachdem es ohne Pause die Rechte der Vetomacht der UdSSR wahrgenommen hatte. Zehn Jahre später, 2004, versuchte Russland zusammen mit Kasachstan und Weißrussland nach dem Vorbild der EU eine Wirtschaftsunion zu gründen, die „Eurasische Wirtschaftsunion“.38 Die Ukraine wäre für eine solche Union ein wichtiges Mitgliedsland gewesen, politisch, weil das offensichtliche Übergewicht Russlands unter den bisherigen Mitgliedern eingeschränkt worden wäre und wirtschaftlich, weil sie das mit Abstand landwirtschaftlich günstigste Land der Union gewesen wäre, also für seine Agrarprodukte einen sicheren Absatzmarkt gefunden hätte. Vor allem in der Westukraine, die bis zum Zweiten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn bzw. zu Polen gehört hat und in der viele der mit Rom unierten Kirche anhängen, gibt es aber eine breite Bewegung, welche die Ukraine als Mitglied der EU sehen will. Der Aufstand gegen den Präsidenten Viktor Janukowitsch 2014, der den Beitritt zur Eurasischen Union offen halten wollte, wurde zu einem Kampf gegen die Korruption seiner Regierung. Auch die ukrainischen Oligarchen stellten sich auf die Seite der Oppositionsbewegung, welche nach ihrem Versammlungsplatz in Kiew „Majdan“ genannt wird. Die Opposition wurde auch von den USA und der Adenauerstiftung unterstützt. Der Sieg des Majdan bedeutete eine schwere Niederlage für die russischen Oligarchen und besonders für Putin, der auf die Konsolidierung des „postsowjetischen Raumes“ im Rahmen der Eurasischen Union gesetzt hatte.39 Um die Niederlage zu kaschieren, annektierte Russland die Krim nach einem Referendum, das in Anwesenheit russischer Truppen abgehalten wurde. Da die Mehrheit der Bevölkerung der Krim Russisch spricht, entsprach das Referendum vermutlich der Mehrheitsmeinung auf der Halbinsel, aber dass russische Truppen einmarschiert waren, schwächt die Legitimation. Außerdem zeigt der Kreml mit den Methoden der klassischen Außenpolitik – positive Reaktion auf den Brexit, demonstrative Empfänge für Marine Le Pen und andere Gegner der EU –, dass auch Russland der EU schaden kann. 37 Nolte, Transformationen, 133. 38 Auszüge aus dem Vertrag Quellenbuch Nr. 7.50. 39 Vgl. die Auszüge Quellenbuch 7.49–7.60.

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Die autonome Republik der Krim war 1954 von dem Ukrainer Chruschtschow der Ukraine aus dem Bestand Russlands geschenkt worden. Dass der damalige Vorgang keinem Völkerrecht entsprach, braucht nicht ausgeführt zu werden. Im Moment der Souveränitätserklärung 1991 und bekräftigt durch das Budapester Memorandum 1994 war die Krim aber ganz fraglos im Jahr 2014 ein legitimer Teil der Ukraine. Russland besaß übrigens auch damals schon das Recht, einen Teil seiner Schwarzmeerflotte in Sewastopol zu stationieren. Außerdem unterstützt Russland die prorussische separatistische Bewegung in der Ostukraine.40 Russland unterhält heute also fünf befreundete oder annektierte Territorien im Süden, die 1991 nicht zur Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörten: – Transnistrien, – die Krim, – die Ostukraine, – Abchasien, – Süd-Ossetien. Russland kann das tun, weil es Atommacht ist und vom Sicherheitsrat keine Verurteilung als Aggressor zu gewärtigen hat, weil es ein Vetorecht besitzt. Russland handelt damit ähnlich wie die USA, welche - Guantanamo nicht zurückgeben, obgleich der Vertrag ausgelaufen ist, - die Tschagos-Inseln nicht an die vertriebene Bevölkerung zurückgeben, um ihre Militärbasis San Diego zu unterhalten, oder wie - Großbritannien, das Gibraltar und auch die Falklandinseln behält. Diese Vergleiche sollen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die russische UkrainePolitik ein Fehler ist. Russland gehört ökonomisch und medienmäßig zu den Mittelmächten und ist auf Kooperation mit anderen Mächten angewiesen. Mittlere Mächte sind mehr auf die Durchsetzung einer internationalen Rechtsordnung angewiesen als der Hegemon. In Russland wird zurzeit jedoch eine nüchterne Diskussion des Abenteuers Krim so weit irgend möglich verhindert, sowohl durch die offizielle Politik als auch durch akademische Machthaber auf der provinziellen Ebene.41

40 Teilübersetzung der Erklärung der Souveränität der „Volksrepublik Donezk“ Quellenbuch 5.57. 41 Mein schon ins Russische übersetzter Beitrag zur Gedenkschrift für den politischen Historiker Aleksandr Boroznjak wurde mit Hinweis auf meine Darstellung der Krimpolitik nachträglich abgelehnt. Zu Boroznjaks Position vgl. Ders., Erinnerungen für Morgen. Deutschlands Umgang mit der NS-Vergangenheit aus der Sicht eines russischen Historikers, Gleichen 2006. Mein schon ins Russische übersetzter Aufsatz „Eurasisches Europa“ aus Thomas Ertl/Andrea Komlosy/Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.), Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz?, Wien 2014, 127–151, der in Kemerowo/Sibirien erscheinen sollte, wurde im geplanten Jahrbuch nicht aufgenommen und sollte noch einmal einer Prüfung in Kemerowo unterzogen werden.

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Man kann begründet vermuten, dass Russland seine Mittel überdehnt, und nicht berücksichtigt, dass die angelsächsischen Mächte durchaus nachtragend agieren. Wenn in Demokratien bestimmte Bilder durchgesetzt wurden, sind diese nicht leicht zu ändern, und bestimmen sowohl das Wahlverhalten als auch die Entscheidungen der Eliten mit. Im konkreten Fall trägt zum gegenwärtig im Westen von Politik und Medien verbreiteten Russlandbild bei, dass es so leicht in die Tradition jener Russlandbilder angebunden werden kann, die in Westeuropa seit der Oktoberrevolution und in Deutschland seit dem Nationalsozialismus etabliert sind und im Kalten Krieg verbreitet wurden.42 3. Übersicht der russischen Machtmittel Gliedert man diese Analyse der russischen Lage nach „Sorten von Macht“43, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Politisch ist Russland eine Großmacht, welche das größte Territorium der Erde kontrolliert und als Atom- und Veto-Macht eine vorrangige Stelle in der zweiten Reihe der Mächte einnimmt – nach dem Hegemon USA. Ökonomisch ist Russland halbperipher und abhängig vom Preis der Rohstoffexporte. Während der Rohstoffkonjunktur und vor dem Zusammenbruch der Brennstoffpreise hatte Russland unter Putin Zuwachsraten von 6 oder 7 % – seit 2012 stagniert auch Russland. Kulturell spielt Russland wie Deutschland in der dritten Liga; wenn ich die englischsprachigen Länder als erste, die spanisch-, französisch- und chinesischsprachigen als zweite Liga bezeichnen darf. Die russischen Universitäten locken nicht die Intelligenz der Welt an wie Oxford und Harvard oder doch auch noch Paris und Shanghai. Vom Netzwerk her gesehen: Russland hat einige politische Freunde, aber v. a. aus anderen autoritären Republiken wie Syrien oder Aserbaidschan. Da die USA in den 1990er Jahren die Politik verfolgt haben, Länder unabhängig von ihrem Wohlstand zu einem schnellen Übergang zur Demokratie zu drängen, haben sie darin zögerliche Staaten Russland zugetrieben. Das Scheitern der neoliberalen Politik des „Washington Consensus“44 hat weltweit politische Systeme gefördert, die autoritär und nationalistisch agieren; ein sicheres Netzwerk bieten diese aber nicht. Auch die Verbindungen mit anderen mittleren Mächten in BRICS45 oder die Verabredungen mit China sind kaum als stabil anzusehen. Militärisch ist Russland eine Großmacht in deutlichem Abstand zu den USA. Nach den SIPRI-Daten gaben die USA 2005 546 Mrd. $ für Rüstung aus und Russland 40 Mrd., also 42 Aus der sehr umfangreichen Literatur über Bilder sei hier nur herausgehoben: Lew Kopelew (Hrsg.), Westöstliche Spiegelungen, 2 Reihen, München 1988 ff. 43 Herfried Münkler, Macht in der Mitte, Hamburg 2015. 44 Deutlich z. B. bei Amy Chua, World on Fire. How Exporting Free Market Democracy Breeds Ethnic Hatred and Global Instability, London 2003. 45 Zuletzt Arnold Heitzig, Die BRICS – Zukunfts- oder Auslaufmodell der Weltwirtschaft?, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 17 (2016), Heft 2, 163–188.

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weniger als ein Zehntel davon. 2015 gaben die USA 611 Mrd. $ für Rüstung aus und Russland fast 70 Mrd. $; der Anteil Russlands ist also gestiegen, aber eben nur auf ein gutes Zehntel des amerikanischen. Ostasiatische Länder – China, Japan, beide Koreas – gaben 2015 zusammen über 300 Mrd. $ für Rüstung aus, der stärkste Anstieg. Russland ist jedoch nach den USA der zweitwichtigste Exporteur von Waffen, verkauft also an Indien, arabische Scheichtümer und China. 4. Wie wird Russland mit den Instrumenten seiner Macht umgehen? Als das Ziel der Jelzin-Gruppe wurde oben beschrieben, Russland in einen kapitalistischen Nationalstaat zu verwandeln. Dem schon erwähnten David Hoffman, Korrespondent der Washington Post, ist aufgefallen, dass das Kapitalismusbild in Russland in den 1990er Jahren aus der kritischen Literatur der 1930er Jahre stammte, z. B. aus den Romanen Theodor Dreysers.46 Durchweg war „Manchester-Kapitalismus“ das Schlagwort auch in Russland selbst. Die 1930er Jahre waren international auch durch nationalistische Außenpolitik geprägt. Diese Ansätze schienen im Europa der 1990er Jahre sicher etwas „outdated“, aber wir übersehen in Deutschland leicht, welche Wirkung die deutsche Einigung auf die nationalistischen Bewegungen hatte. Jedenfalls wird man im Lichte der jüngeren Entwicklung Nationalismus nicht mehr so obenhin als „outdated“ bezeichnen können – die nationalistische Welle rollt im gesamten Westen, von Le Pens Frankreich bis zu dem Ungarn von Victor Orban, vom Brexit und der Präsidentschaft Trumps in den USA mit „America First“ noch gar nicht zu reden. Meine Vermutung geht dahin, dass der nationalistischen Bewegung dann Einhalt geboten und der Aufbau einer globalen Rechtsordnung gestärkt werden kann, wenn die USA vorausgehen. Z. B. müssten amerikanische Soldaten bei Völkerrechtsbrüchen wie Abu Ghraib internationalem Gericht unterstellt werden und selbstverständlich müssten ihre globalen Interventionen dem Votum des Sicherheitsrats unterworfen werden. Die USA sind der Hegemon; sie haben den größten einzelnen Einfluss darauf, in welche Richtung die Welt sich bewegt. Es gibt die begründete These, dass die USA sich auf ein „Imperium“ hin entwickeln.47 Mir scheint das nicht wahrscheinlich – nicht nur, weil das Selbstverständnis der USA als Nation stabil ist,48 sondern auch, weil „Imperium“ im 21. Jahrhundert eine politische Verfassung ist, welche der multipolaren Realität der Weltgesellschaft wenig entspricht. Denn Macht ist heute nicht nur zwischen mehreren Mächten aufgeteilt, von denen einige über be46 Quellenbuch Nr. 7.23. 47 Salvatore Babones, From World-Market to World-Empire. The Political Economy of the Third Millenium, in: Hans-Heinrich Nolte/Manuela Boatcă/Andrea Komlosy (Hrsg.), Worldregions, Migrations and Identities (Political Economy of the World System 2), Gleichen 2016, 145–157. 48 Hans-Heinrich Nolte: Die USA – Imperium oder globale Nation?, in: Ders. (Hrsg.), Imperien, eine vergleichende Studie, Schwalbach 2008, 97–196, vgl. Hans-Jürgen Schröder, Die USA: ein Imperium?, in: Gehler/ Rollinger, 1209–1250.

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trächtliche Mittel verfügen, sondern auch zwischen großen nichtstaatlichen Institutionen von global agierenden Kapitalgruppen wie Google bis zu weltweiten NGOs wie Greenpeace.49 Russland würde bei einer Stärkung transnationaler Institutionen vermutlich nicht vorangehen, aber folgen. Es würde vertreten, was es für seine Interessen hält, und dazu in Eurasien, so weit seine Aircover reicht, auch militärische Mittel einsetzen. Wenn die jetzige globale Nationalismuswelle weiterrollt oder sogar Fahrt aufnimmt, wird Russland sich im nationalistischen Auftreten kaum überbieten lassen. Allerdings ist in der russischen Geschichte die Tradition des Rückzugs gut etabliert; Russland würde nicht die Instrumente der Macht gefährden, wenn auch die Konkurrenten ihre Probleme und Niederlagen anerkennen. Mein politisches Votum für die Union, zu der ich gehöre (also die EU) ist nach wie vor, dass sie sich zu klaren Grenzen bekennen muss, die ihren Möglichkeiten entsprechen.50 Da es meines Erachtens im Interesse der EU liegt, dass zwischen ihr und China ein befriedeter Raum mit einer guten Wirtschaftsentwicklung liegt, sollte die EU die Entwicklung einer Eurasischen Wirtschaftsunion fördern. Konkret sollte die EU einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland anstreben, der auf Kompromissen beruht (wie alle mir bekannten Friedensschlüsse). Man könnte sich ein Kondominium auf der Krim, Autonomie für das Donezk-Gebiet und Anerkennung von Russisch als zweiter Staatssprache in der Ukraine denken. Auch bei den anderen vorgeschobenen Territorien würde auf Kompromisse zu dringen sein – von der Moldau bis Georgien. Für Europa wäre es beruhigend, wenn Russland wieder ein „Mitglied der Familie“ würde.

49 Vgl. demnächst Nolte, Kurze Geschichte. 50 So knapp mein Leserbrief, in: Das Parlament, 18. 4. 2017, 14.

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V. Fazit durch Kommentatoren

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Dimensionen und Perspektiven der Weltgesellschaft. Schlusskommentar I. Weltgesellschaft Die Weltgesellschaft, schreibt der Soziologe Ulrich Beck am Ende des 20. Jahrhunderts, zeige sich in den religiösen, kulturellen und politischen Unterschieden der Menschen. Entscheidend sei, dass sich diese Differenzen am selben Ort – innerhalb einer Stadt, einer Familie oder gar einer Biographie – bemerkbar machten. Der urbane Alltag wird in dieser Lesart mehr und mehr zum Fußabdruck globalgesellschaftlicher Wirklichkeit.1 Soziologische, philosophische und historische Analysen der Globalisierung sind seit den 1970er Jahren im Trend. Sie rücken insbesondere Ungleichheiten innerhalb der Weltgesellschaft in den Fokus und interpretieren diese primär vor dem Hintergrund politischer und ökonomischer Entwicklungen. „Das moderne, kapitalistische Weltsystem entstand demnach aus der wirtschaftlichen wie politischen Krise des europäischen Feudalismus im ‚langen‘ 16. Jahrhundert“,2 resümiert der Soziologe Stephan Lessenich die Debatte. Heute sind politische, ökonomische und gesellschaftliche Metamorphosen, Diversität und mediale Vernetzung die Charakteristika eines Weltsystems, das möglicherweise kein echtes Zentrum mehr besitzt, aber durch ein Einkommens- und Produktivitätsgefälle gekennzeichnet ist. Die Nationalstaaten haben ihre ökonomische Souveränität verloren. Der Versuch, diesen Verlust durch kulturelle Souveränität zu kompensieren ruft Populisten und Nationalisten auf den Plan, zumal die Wachstums- und Globalisierungsdividenden ungleich verteilt sind. Der privilegierte globale Norden mit einer enormen Konzentration an Vermögen beherrscht einen weltweit operierenden Markt. Negative Folgeerscheinungen der kapitalisierten Länder werden in die ärmeren Regionen externalisiert.3 Die Unproduktiven und NichtKonsumenten ringen derweil darum, nützlich zu bleiben und nicht in die spätkapitalistischen Deponien abzurutschen, aus denen es so gut wie keine Rettung mehr gibt.4 Die Nebenfolgen dieser Externalisierung kehren allerdings gegenwärtig wie ein Bumerang zurück. Insbesondere die Migrationsgeschichte nach 1945, v. a. aber die politisch kaum 1 Vgl. Ulrich Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main1998. Siehe hier insbesondere das Vorwort des Herausgebers. Vgl. zuletzt auch Jürgen Osterhammel, Die Flughöhe des Adlers. Historische Essays zur Gegenwart, München 2017. 2 Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016, 35– 36. 3 Ebd. 4 So das Fazit von Ilija Trojanow, Der überflüssige Mensch, Wien 2013.

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steuerbaren Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre, legen hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von der „Allgegenwart der Weltunterschiede und Weltprobleme“5, konstatiert jedoch zugleich, in der Weltgesellschaft können die verschiedenen Sitten und Kulturen nebeneinander durchlebt werden, Weltgesellschaft sei „Vielfalt ohne Einheit“.6 Mit Blick auf diese Vielfalt ohne Einheit hat bereits der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer in seinen differenztheoretischen Schriften des 19. Jahrhunderts aufgezeigt, dass eine Gesellschaft als sozialer Organismus durch Heterogenität stabiler wird, weil es zu einer verstärkten gegenseitigen Abhängigkeit der Mitglieder komme, die Arbeitsteilung voranschreite und eine Spezialisierung der Funktionen nach sich ziehe.7 Diese gegenseitige Abhängigkeit wiederum betrifft nicht nur den gewohnten Ort des Lebens: Globale Kommunikationsmedien und Transaktionen, globale Finanzmärkte, globale technische Entwicklungen und Investitionen, global agierende Arbeitgeber und Arbeitnehmer, globale Kulturproduktion und globalen Kulturkonsum, Tourismus und Rechtssysteme8, aber auch eine weiträumige Verflechtung sozialer Beziehungen, sowie nicht zuletzt all diesen Phänomenen inhärente globale Risiken zeigen, dass die Menschen im 21. Jahrhundert Strukturen einer Weltgesellschaft herausgebildet haben. Das globale Dorf (Marshall McLuhan) hat regionale und nationalstaatliche Grenzen längst hinter sich gelassen. Die damit grundsätzlich einhergehende kosmopolitische Verpflichtung von Politik und Gesellschaft kann jedoch auf Grund eines fehlenden kosmopolitischen Bewusstseins nicht eingelöst werden. Die Weltgesellschaft, so die daran anknüpfende programmatische These des in diesem Band dokumentierten Diskurses, ist zwar längst ein Faktum, allerdings lässt eine umfassende Theorie der Weltgesellschaft – trotz der einschlägigen soziologischen Diskursbeiträge von Ulrich Beck, Peter Heintz und Niklas Luhmann – noch auf sich warten.9 Der vorliegende Band erhebt jedoch den Anspruch, wichtige Perspektiven und Diskursbeiträge mit Blick auf eine solche Theorie anzubieten. Diesem Anspruch wird er durchaus gerecht, liest man die verschiedenen Zugriffe auf das Thema genau. Luhmann selbst war der Auffassung, das Problem der Weltgesellschaft lasse sich im Grunde „bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte zurückverfolgen“10 und insbeson  5 Beck 1998, 7. Vgl. hierzu auch, Arjun Appadurai, Demokratiemüdigkeit, in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Frankfurt/Main, 17–35.   6 Beck, a.a.O.   7 Vgl. Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie, 3 Bde., Stuttgart 1887/89.   8 Zur historischen Entwicklung siehe Hauke Brunkhorst, Rechtsrevolutionen. Der Anteil des Rechts an der Entstehung der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 2017.   9 Siehe Niklas Luhmann, Weltgesellschaft, in: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, 51–71; Peter Heintz, Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen 1982. 10 Luhmann 1975, 51.

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Dimensionen und Perspektiven der Weltgesellschaft. Schlusskommentar

dere am Begriff der koinonia, der Gemeinschaft und gemeinsamen Teilhabe, festmachen. (Gleichwohl dient ihm die antike Idee der Gemeinschaft viel mehr als Kontrastfolie der Systemtheorie und eines Gesellschaftsbegriffs, der sich von der koinonia mit aller Schärfe absetzt, seine Idee der Weltgesellschaft ist eine Art Prognose, wie Reinhard Mehring weiter oben andeutet.) Tatsächlich ist die Suche nach einer weltumspannenden Theorie so alt wie die Geschichte der abendländischen Rationalität, die Silvio Vietta hier als das zentrale Narrativ einer Weltgesellschaft eindrucksvoll diskutiert, diese als das vorläufige Ergebnis des Rationalisierungsprozesses selbst interpretiert und dabei auf die Idee des antiken cosmos aufmerksam macht, um den Rationalitätsprozess zu veranschaulichen. Vietta knüpft hierbei an die pythagoreische Kategorie der Berechenbarkeit an. Bereits die antiken Wissenschaftler begannen, die Umlaufbahnen der Planeten, die Abstände der Himmelskörper voneinander und auch die Erde selbst geographisch zu vermessen und zu berechnen. Ungenauigkeiten und mathematische und geometrische Einfachheit waren zwar nicht zu vermeiden, doch mit diesen Berechnungen beginnt eine Art von Kosmologie und Geographie, die die Natur selbst als in der „Sprache der Mathematik“ verfasst begriff, wie es Jahrtausende später Galilei ausdrückt.11 In diesem Zusammenhang lohnt meines Erachtens ein genauer Blick auf die geistige Grundlage der Rationalisierung. Bei den alten Griechen ist es das lex naturalis, das die Ionier in Milet und in den Hafenstädten am Westrand Kleinasiens entwickelt haben. Die Natur gilt ihnen als ursprüngliche, absolute und ewige, innere Gesetzmäßigkeit. Der Glaube an ein überpositives Recht, welches unabhängig von menschlicher Verfügungsgewalt gelten soll und als höherwertige Normordnung Maßstäbe für die Bewertung allen positiven Rechts definiert, ist bis weit in die Neuzeit, wenn nicht gar bis in unsere Gegenwart hinein virulent. Für dieses Rationalitätsverständnis bildet wiederum der von Silvio Vietta in den Diskurs eingebrachte Begriff des cosmos den Angelpunkt, denn dieser umfasst den gestirnten Himmel in seiner astronomischen Ordnung. Der cosmos galt als abgeschlossenes Strukturelement, jenseits dessen eine unbegrenzte Leere, das Chaos, herrschte. Von den Göttern verwaltet, wies er allem Leben einen eigens bestimmten Platz zu. Theorien über den Bauplan des Weltalls korrespondierten mit Geschichten über den Ursprung und die Schöpfung. Man glaubte damals, der Mensch partizipiere an dieser göttlichen Ordnung und sei aufgerufen, seinem natürlichen Platz innerhalb des cosmos gerecht zu werden, um die natürliche Ordnung – eine holistisch fehlgedeutete und in sich geschlossene Welt – zu erhalten. Es dauert seine Zeit, bis die Menschen sich von dieser Vorstellung befreien und sich der Glaube an eine stabile Ordnung der Welt ein für alle Mal auflöst. Tatsächlich exkulpieren sich erst die Menschen der Renaissance von dieser gottgewollten Ordnung der Antike und des Mittelalters. Sie begreifen sich trotz ihres weiterhin uneingeschränkt bestehenden religiösen Selbstverständnisses als Individuen und Mittelpunkt der Welt. Diese Entwicklung 11 Silvio Vietta, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012.

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maßgeblich mitgeprägt haben die Erweiterung des Weltbildes durch die Entdeckungsfahrten der Europäer sowie der soziale Umschichtungsprozess, der durch das Anwachsen der Städte und den Machtzuwachs des Bürgertums gekennzeichnet war.12 Die neuen astronomischen Erkenntnisse der Neuzeit erschüttern das alte, auf harmonischer Stabilität basierende und über Jahrhunderte vorherrschende Weltbild zusätzlich. In der Geistesgeschichte ist es René Descartes, dessen Denken auf das neue astronomische Weltbild reagiert. Seine skeptische Methode, die nichts für wahr hält, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann, forciert ein radikal individualistisches und auf das Subjekt fokussiertes Weltbild.13 Der archimedische Punkt seines Denkens, ein Selbst nur im Vollzug des Denkens zu sein, revolutioniert die abendländische Idee der Rationalität und macht das Individuum zum Maßstab der Dinge. Die ehemals göttliche Ordnung zerfällt nicht völlig, doch sie muss sich von nun an subjektivistischen Kriterien und individueller Beurteilung unterwerfen. Dieser Individualisierungsschub, der im 15. und 16. Jahrhundert einsetzt, schreitet im Lauf der folgenden Jahrhunderte weiter voran. Die Aufklärung, die Revolutionen, die Emanzipation sind Folgen der Subjektwerdung des Menschen und jener Pluralisierung der Perspektiven am Beginn der frühen Neuzeit. Mit dem Individualisierungsschub setzt ferner eine verstärkte Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein. Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen (Religionskriege, Kolonialkriege, Weltkriege) sind nicht zuletzt barbarische Nebenwirkungen dieser in allen Teilbereichen des menschlichen Lebens erfolgenden Ausdifferenzierung, in der die Standpunkte des je anderen permanent infrage gestellt, Grenzen hinterfragt, Wahrheiten ad absurdum geführt werden. Niklas Luhmann macht diesbezüglich den Unterschied zum antiken Rationalitätskonzept deutlich: Der gegenwärtige Zustand der Weltgesellschaft läßt sich […] nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines ontisch wesensmäßigen oder hierarchischen Primats eines besonderen Teilsystems begreifen, sondern nur noch aus den Funktionen, Erfordernissen und Konsequenzen funktionaler Differenzierung selbst.14

Ulrich Beck hat in einer posthum veröffentlichten Schrift angeregt, diese von Niklas Luhmann skizzierte Metamorphose der Welt mit der Frage nach der Wiederkehr der Gesellschaftsgeschichte zu verknüpfen und der Verwandlung der sozialen und politischen Ordnungen nachzuspüren. Hierzu schreibt er:

12 Vgl. Michael Gehler (Hrsg.), Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Hildesheim – Zürich – New York 2011. 13 Vgl. René Descartes, Discours de la méthode. Franz.-dt., übers. u. Hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1997. 14 Luhmann, 63–64.

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Die historisch beispiellose Metamorphose der Welt fußt auf zwei geschichtlichen Voraussetzungen, dem Niedergang des Imperialismus und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der das Ende der bipolaren Weltordnung markiert. Dass es dazu kam, ist nicht zuletzt eine Nebenfolge dessen, was wir gewöhnlich beiläufig ‚Globalisierung‘ nennen. Die kolonialen Transformationen nahmen zwar transkontinentale, aber nicht im strengen Sinne globale Ausmaße an. Und anders als die französische Revolution beschränkt sich die Metamorphose der Welt nicht auf das politische Machtzentrum; sie findet überall zugleich statt, vor Ort, in den Regionen, auf nationaler und globaler Ebene – wenn auch mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Anders als die Revolution erfasst sie auch den Begriff des Politischen und der Gesellschaft selbst. Sie ist kein zeitlich, räumlich und in seinen sozialen Auswirkungen begrenzter Ausnahmezustand (wie eine Revolution, ein Krieg), sondern schreitet nahezu unaufhaltsam voran und verschärft sich noch mit dem Aufstieg des Risikokapitalismus. Sie folgt keiner Absicht, keinem Programm, keiner Ideologie und wird durch politisches Nicht-Handeln nicht gebremst, sondern noch vorangetrieben. Sie entsteht nicht in den Zentren demokratisch legitimierter Politik, sondern entspringt – aus gesellschaftlicher wie auch rechtlicher Sicht als ‚Nebenfolge‘ deklariert – den Laboren von Wissenschaft und Technik und den Profitkalkulationen der Wirtschaft.15

II. Weltgeschichte Der von Ulrich Beck beschriebenen, historisch beispiellosen Verwandlung der Welt in den letzten Jahrzehnten, die den gegenwärtigen Zustand der Weltgesellschaft charakterisiert, geht eine lange, sich über Jahrhunderte erstreckende Metamorphose der alten Welt voraus, deren Ausgangspunkt um die erste Jahrtausendwende liegt. Ulrich Menzel hat mit Blick auf die historische Verwandlung der Welt zwischen dem ersten und zweiten Jahrtausend aufgezeigt, welche politisch-gesellschaftlichen Faktoren dabei eine Rolle gespielt haben. Hierzu rekonstruiert er die Hierarchie der Staatenwelt und die aufeinanderfolgenden großen Mächte imperialen oder hegemonialen Zuschnitts der vergangenen Jahrhunderte. Seine zentrale Frage lautet, welche Umstände dazu geführt haben, dass einzelne Staaten und Regionen zu großen Weltmächten aufstiegen und – so ein altes chinesisches Losungswort – ein „Mandat des Himmels“ erhielten.16 Interessant ist die Rekonstruktion von Aufstieg und Niedergang verschiedener Weltmächte, weil die von Beck und Luhmann skizzierte gegenwärtige Weltgesellschaft ohne die Frage nach historischer Herrschaft und ihren Folgen nicht ernsthaft diskutiert werden kann, weil unklar bliebe, unter welchen Voraussetzungen sich eine Weltgesellschaft überhaupt bil15 Ulrich Beck, Die Metamorphose der Welt, Frankfurt/Main 2017. Siehe auch, Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 16 Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt, Frankfurt/Main 2015.

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den konnte. Insofern stellen sich Fragen wie die, ob Staaten und regionale Herrschaftsgebiete auf imperiale oder hegemoniale Weise die Welt regiert und die jeweiligen Herrscher eher eine militärische oder doch mehr eine wirtschaftliche Macht verkörpert haben. Und schließlich, welchen Einfluss die jeweilige Herrschaftsform auf die Herausbildung der heutigen Weltgesellschaft gehabt hat. Das Imperium, verstanden als eine Form internationaler Herrschaft, in der eine klare Ordnung, eine klar definierte Mitgliedschaft und eindeutige Grenzen bestehen, steht hierbei ganz im Gegensatz zur Hegemonialmacht, die einen freien Strom von Waren, Finanzen, Menschen, Nachrichten und Ideen nicht nur kontrolliert, sondern diese Freiheit ganz bewusst auch allererst ermöglicht. Die Grenze zwischen beiden Herrschaftsformen ist gleichwohl fließend und nicht immer eindeutig zu bestimmen. So entwickelt sich die Geschichte des Globus nicht zuletzt zu einer Suche nach dem politischen Willen der verschiedenen Mächte. Bleiben wir noch kurz bei Ulrich Menzel. Sein Blick konzentriert sich auf die Transportund Kommunikationstechnologien, auf verschiedene Räume, in denen sich Macht entfaltet hat, und auf die politischen Umstände, die eine Machtausdehnung forciert haben. Welchen Zuschnitt hatte das Imperium, welchen der Hegemon? Handelte es sich um eine Landmacht, eine Seemacht, eine Luftmacht, oder – später – eher um eine Weltraum- oder Internetmacht? Teilt man Menzels These von der rund 1000-jährigen Globalisierungsgeschichte, dann bildet die vormongolische Zeit kurz vor der Jahrtausendwende den Ausgangspunkt, um 960 werden durch die Song-Dynastie in China als Zentrum die Weichen für eine globalisierte Welt jenseits göttlicher Ordnungsprinzipien gestellt. Es entsteht erstmals so etwas wie eine reale, in erster Linie am Handel ausgerichtete Weltgesellschaft samt internationaler Ordnung, wenngleich die lokalen Differenzen überschaubar sind. Die erste europäische Handelsgroßmacht im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit heißt Genua. Es ist Europas wirtschaftliche und gesellschaftliche Blütezeit, die neue Handelsrouten und Bündniskonstellationen, begünstigt durch die Kreuzzüge, nach sich zieht. Abgelöst wird die europäische Metropole durch die Ming-Dynastie, die eine Restauration des Tributsystems vorantreibt, eine Reform der Verwaltung durchführt und die Rüstungsindustrie (Werften) stärkt. Ihr Niedergang ist selbstverschuldet, da die Ming u. a. die Schiffsindustrie ohne Not abgewrackt haben.17 Fast parallel hierzu steigt in Europa Venedig empor, eine Seemacht mit imperialen Zügen. Der frühmoderne Staatskapitalismus, die oligarchische Herrschaftsform und die Emanzipation von Byzanz haben zum Aufstieg Venedigs beigetragen. Ein Problem war lange Zeit die Dauerrivalität zu Genua. Doch über eine territoriale Expansion sowie diplomatischen und militärischen Druck konnte sich Venedig bis etwa 1500 als europäische Weltmacht etablieren.

17 Ebd., 192–194.

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Dimensionen und Perspektiven der Weltgesellschaft. Schlusskommentar

Der Beginn der Neuzeit geht einher mit Portugals Schiffsbaukunst und Nautik, den Entdeckungsfahrten und der Etablierung des Seewegs nach Indien. Portugals Ende der Souveränität wird sodann durch die Personalunion mit Spanien 1580 eingeleitet. Die portugiesische Herrschaft wird lange Zeit flankiert vom osmanischen Reich, das als Land- und Seemacht einen Gegenpol zu Portugal und Spanien bildet. Das Mittelmeer wird damals zwangsläufig nicht nur zur Handels-, sondern gleichwohl zur Kriegszone. Spanien ist in dieser Zeit als Land-, See- und Militärmacht auf der ganzen Welt präsent, doch Spanien ist keine Handelsmacht, was langfristig zu einem Problem wird. Die Kostenexplosion im 17. Jahrhundert, aber auch die militärische Revolution durch Frankreich und die Niederlande, sowie die ineffiziente Verwaltung des spanischen Reiches tragen zum Niedergang der Weltmacht bei. So gehört das 17. Jahrhundert den Niederlanden, einer See-, Militär- und Handelsmacht. Die Niederlande profitieren nicht zuletzt von einer einzigartigen geographischen Gunstlage und von einem dichten Netz natürlicher Wasserstraßen. Parallel zum Aufstieg der Niederlande steigt die Nachfrage nach Globen exponentiell. Die Niederlande sind der paradoxe und welthistorisch einzigartige Fall, wie ein Land bereits eine Führungsrolle im internationalen System spielen konnte, obwohl es im völkerrechtlichen Sinne noch gar nicht souverän war. Die wirtschaftliche Blüte […] begann in den 1580er Jahren, die koloniale Expansion und der Aufstieg zur Welthandelsmacht etwa 20 Jahre später. De facto waren die Niederlande mit dem Waffenstillstand des Jahres 1609 souverän, de jure erst 1648.18

In Bezug auf die koloniale Expansion hat Thomas Spielbüchler in diesem Band dargelegt, dass sich der Kolonialismus als politische und ökonomische Form geographischer Expansion mit Blick auf die gesellschaftliche Globalisierung als ambivalent zeigt. Denn tatsächlich sei es zu einer Verknüpfung fast aller Gesellschaften miteinander gekommen. Doch hätten die handelnden (europäischen) Akteure den eingegliederten Verbänden keine gemeinsamen, gesellschaftsfördernden Merkmale zugestanden. Stattdessen wurden, so Spielbüchler, viele dieser neuen Teilmengen marginalisiert und unterdrückt. Das wird nicht zuletzt virulent, betrachtet man die französische Kolonialgeschichte, die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht und deren Folgen für die französische Gesellschaft bis heute spürbar sind. Die Franzosen folgen zunächst den Niederländern als eine Art zur Weltmacht aufgestiegener, wenn auch, wie Menzel schreibt „gezügelter Hegemon“.19 Frankreich scheitert als Weltmacht jedoch daran, dass es letztlich zu viele Widersacher an zu vielen Fronten besaß. Zudem hat Ludwig XIV. die diplomatischen Strategien seiner Vorgänger verspielt. Die Kriege und Bürgerkriege seiner Regierungszeit erledigen das Übrige. Deshalb erstrahlt im 18. und 19. Jahrhundert schließlich Englands bzw. Großbritanniens Stern.

18 Ebd., 527–528. 19 Ebd., 618–620.

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Der Aufstieg beginnt durch die „Glorious Revolution“ 1688/89. Im 18. Jahrhundert wird die Insel dann insbesondere durch die Schafhaltung zu einer wirtschaftlichen Größe. Die koloniale Expansion nach Nordamerika festigt Großbritanniens Stellung in der Welt. Doch ab 1781 ist zugleich der Niedergang des Ersten Empire spürbar. Es kommt in der Folge zum Aufbau des Zweiten Empire, das letztlich in den 1930er Jahren durch die Weltwirtschaftskrise ebenfalls zusammenbricht. Im geisteswissenschaftlichen europäischen Diskurs dieser Zeit sind es, so Ralf Elm, v. a. Max Weber und Martin Heidegger, die mit ihrer Rede von „okzidentaler Rationalität“ und der Idee der Technik als ein „Gestell“ auf den Siegeszug des technologischen Fortschritts reagieren, ehe Ernst Jünger in seiner Schrift „Der Weltstaat“ 1960 seine apokalyptische Weltanschauung, wie Mario Bosincu sie treffend charakterisiert, mit seiner anarchistischen Staatskritik verknüpft. Demzufolge tritt die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert in ein finales Stadium ein. Das Ergebnis sei ein die gesamte Welt umfassender Staat – eine Idee, die Jünger bereits in seiner Schrift „Der Arbeiter“ (1932) und der Friedensschrift (1944/45) angedacht und in nachfolgenden Büchern wie „Eumeswil“ (1977) und „Die Schere“ (1990) immer wieder bekräftigt hatte. Das „Mandat des Himmels“ ist zu dieser Zeit längst an die USA übergegangen. Die Montanindustrie, die Chemie und Elektrotechnik der Vereinigten Staaten, aber auch die Kriegserfolge im 20. Jahrhundert tragen zum Aufstieg der Vereinigten Staaten bei. Der Erfolg war jedoch schon im Zeitalter des Fordismus vorgezeichnet. Darüber hinaus haben sich der Ressourcenreichtum und die Größe des Landes am Ende des 19. Jahrhunderts positiv auf die Entwicklung dieser kleinen Welt in sich ausgewirkt. Die USA werden vom Nachzügler zum Vorreiter. Hans-Jürgen Schröder spricht in diesem Band von der „Verdichtung der Weltgesellschaft“ durch die amerikanische Ordnungspolitik und deren als alternativlos präsentiertes System, das die USA dem Rest der Welt aufgezwungen haben. Hans-Heinrich Nolte ist jedoch skeptisch, ob sich die USA im 21. Jahrhundert zu einem Imperium weiterentwickeln, da die multipolare Realität der Weltgesellschaft diesem machtpolitischen Zuschnitt entgegensteht. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren gewiss der erste Kandidat einer in diesem Sinne verstandenen Verdichtung der Weltgesellschaft. Doch die zur neuen Weltmacht aufgestiegenen USA erfahren v. a. durch die Aufhebung des Bretton-Wood-Systems in den frühen 1970er Jahren einen herben Rückschlag. Der 11. September und die Finanzkrise haben im 21. Jahrhundert der „größten Supermacht aller Zeiten“ weiteren Schaden zugefügt, so dass Hans-Jürgen Schröder kritisch fragt, ob das Modell Amerika in seiner gegenwärtigen Form eine nachhaltig konstruktive Entwicklung auf die Weltgesellschaft wird realisieren können. Der Skepsis in Bezug auf die Zukunft der Vereinigten Staaten muss insofern nicht einmal der Verweis auf das politische, ökonomische und gesellschaftlich bedenkliche Handeln der Trump-Regierung hinzugefügt werden.

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Über den weiteren Verlauf dieser Weltgeschichte, die Zukunft Amerikas, die Konkurrenten aus China – mit deren weltgesellschaftlicher Rolle sich Xuewu Gu hier sehr anschaulich auseinandersetzt – und Indien, kann letztlich aber nur spekuliert werden. Mit Blick auf China ist Gu zu Recht skeptisch, ob sich das bevölkerungsreichste Land der Erde aktiv für die Verwirklichung einer liberalen Weltgesellschaft einsetzen wird. Gleichwohl erneuert China das Primat des Kollektivs in Abgrenzung zum westlichen Primat der Individualisierung und richtet das ökonomische Wachstum an den Prinzipien der sozialen Erträglichkeit und der ökologischen Verträglichkeit aus. Nicht zuletzt, um das gewachsene Konfliktpotenzial innerhalb der chinesischen Gesellschaft abzubauen und so die Loyalität gegenüber der Regierung wieder zu stärken. Wie es letztlich mit der Türkei oder Russland weitergeht, bleibt abzuwarten. Mit HansHeinrich Nolte scheint zumindest gewiss, dass Russland mit seinem ausgeprägt autoritären Nationalismus neue Expansionsräume sucht und damit zur Verschärfung von Krisen der internationalen Beziehungen beiträgt. Dafür spricht, dass Russland politisch eine Großmacht mit Kontrolle über das größte Territorium der Erde ist. Hinzu kommt seine Bedeutung als Atom- und Vetomacht. Weit weniger spekulativ ist die Tatsache, dass im 21. Jahrhundert die Idee eines nationalstaatlichen Hegemon weitestgehend passé ist. Denn offensichtlich sehen sich die Nationalstaaten mehr denn je in die Vermittlerrolle zwischen globaler und regionaler Politik versetzt. Im Zuge dessen kommt es zu gegenseitiger Beobachtung und Imitation, mitunter zu politischen Kurskorrekturen. Ein Grund hierfür mögen Entwicklungen sein, die Michael Gehler wie folgt zusammenfasst: Ein wachsendes Aktionsnetzwerk, das politische Partizipation und politische Willensbildung einfordert, Modernisierungsschübe und fortschreitende Säkularisierung zumindest in Europa, sowie steigender Bildungs-, Informations- und Wissenserwerb.20 Darüber hinaus leisten die gesellschaftlichen Teilsysteme Medien, Geld, politische Macht und auch das Recht einer nie dagewesenen Integrationsdynamik mit ihrem Kernelement der Beschleunigung Vorschub. Harald Kleinschmidt hat diesbezüglich gezeigt, dass das globale Recht, das Völkerrecht, alles andere als geradlinig, sondern abhängig von den kultur- und epochenspezifischen Wahrnehmungen der Verfasstheit der Welt und der Modalitäten ihrer Unterteilung in staatlich regulierte Gesellschaften und andere Gesellungsformen sei. Und er plädiert dafür, Weltgesellschaft nicht als Weltstaat (Jünger), sondern als Weltzivilgesellschaft zu begreifen, die nicht immer erzwingbaren Rechtssätzen im Sinn der Naturrechtstheorien unterworfen sei. Diese Forderung trägt der Entwicklung Rechnung, dass die Sozialintegration der Entwicklung von Teilsystemen der Weltgesellschaft bis dato hinterherhinkt. Nach Martin Albrow kann sich das Soziale auch gar nicht als ein gemeinsamer Bereich geteilter Bedeutungen 20 Michael Gehler, Zäsuren der Weltgeschichte in demokratiepolitischer und weltgesellschaftlicher Perspektive. Versuch eines Schlusskommentars, in: Michael Corsten/Ders./Marianne Kneuer (Hrsg.), Welthistorische Zäsuren 1989 – 2001 – 2011, Hildesheim 2016, 231–252.

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herausbilden, „da ein Funktionsbereich, nämlich die Politik, die anderen dominiert“.21 Es ist wesentlich leichter, anderen seine Meinung aufzuzwängen, als sich um ein gegenseitiges Verstehen zu bemühen. Einen vielversprechenden Ansatzpunkt für diese Problemlage bietet die historische Migrationsforschung, die implizit ebenfalls die Idee einer Weltzivilgesellschaft aufgreift, indem sie, wie Sylvia Hahn zeigt, jenseits nationalstaatlicher Grenzen ansetzt und den Bogen von den regionalen zu globalen Migrationsbewegungen spannt, die neue Konfrontationen hervorrufen. Wir erleben dies derzeit in der Diskussion über den Islam, den Susanne Schröter im Kontext von Religiosität und Wettbewerb diskutiert und die unterschiedlichen Ausprägungen insbesondere in Südostasien nachzeichnet. Die gezielte, finanziell gut ausgestattete Propaganda islamistischer Zentren stellt eine neue Bedrohung der gesamten Welt dar. Die mit diesen Dynamiken einher gehenden, neuen Konflikte und Spannungen sollten insofern nicht unter der Rhetorik der Weltgesellschaft vergraben werden. Sylvia Hahn hat sich aus diesem Grunde der Verbindungen angenommen, die es zwischen dem Welthandel, den Weltmärkten, den Warenproduktionen und den Arbeitsmigrationen der Menschen gibt und betont, dass Migrationen nicht zuletzt der Kitt sind, der die Menschen zu einer Weltgesellschaft formt. Gleichwohl seien sie auf Grund ihrer Unberechenbarkeit immer wieder auch Anlass für soziale Friktionen. Dass Konflikte als solche jedoch keineswegs ein Phänomen der jüngsten Zeit sind, hebt gleichwohl Alexander Demandt in Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Untergangsszenario hervor. Spenglers Angst vor der farbigen Weltrevolution und dem Vormarsch aus der Dritten Welt, die in einen Kampf um den Planeten mündet, zeigt erstaunliche Parallelen zur gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte. Die daraus resultierenden Spannungen existieren aber auch, weil es auf internationaler Ebene eine vergleichsweise stabile Einheit wie den Nationalstaat nicht gibt. Auch das Modell der europäischen Integration nicht, wenngleich sich, wie Michael Gehler demonstriert, seit den 1970er Jahren eine Art „europäische Identität“ herausgebildet hat. Die Europäer wollten seinerzeit die nächsten Integrationsziele fixieren und praktische Fortschritte erzielen, nachdem die Gemeinschaft 1973 erstmals um drei neue Mitglieder erweitert wurde. Im Fokus standen die Wirtschafts- und Währungsunion, der soziale Fortschritt der Gemeinschaft, deren institutionelle Stärkung und die Außenbeziehungen. Darüber hinaus sollte das Ungleichgewicht der einzelnen Organe der Gemeinschaft korrigiert werden. Mit dem Unionsgedanken wurde die Idee des politischen und ökonomischen Zusammenhalts demonstriert. Mit einer Stimme sollte fortan gesprochen werden. Es galt, Europa im Sinne einer „Völkergemeinschaft“ zu gestalten.22

21 Martin Albrow, Auf dem Weg zu einer globalen Gesellschaft?, in: Beck, Perspektiven der Weltgesellschaft, 414. 22 Vgl. Jürgen Nielsen-Sikora, Europa der Bürger, Stuttgart 2011.

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Sie hat allerdings nicht verhindern können, dass wir heute eine wesentlich stärkere Durchmischung auch von Erster und Dritter Welt innerhalb der Nationalstaaten und der Europäischen Union vorfinden. Neben den Inseln des Wohlstands tauchen stets auch Zonen der Stagnation und des Rückschritts innerhalb nationalstaatlicher resp. europäischer Einheit auf. Diese neuartige Teilung der Gesellschaft durchbricht gleichermaßen die Hoffnung auf die – eine größere Homogenität unter den Völkern hervorrufende – Weltgesellschaft bereits in ihrer Basis und ruft neue Gegenbewegungen hervor, die steigende Kriminalitätsraten, Ghettoisierung, soziale Konflikte und noch ungeregelte moralische Probleme – denken wir nur an TTIP oder den Organhandel – anprangern und eine Art weltweit agierende Empörungsgesellschaft auf den Plan rufen, wie Marianne Kneuer sie skizziert und belegt, dass gleichwohl der nationale Bezugsrahmen in der Kommunikation weltweit agierender Empörungsbewegungen dominiert. Auch die Gefahr einer Renationalisierung der Wirtschaftspolitik wie aktuell nicht nur am Beispiel Großbritanniens abzulesen, scheint hier auf. Athanassios Pitsoulis spricht in diesem Kontext von einem in Teilen politisch hofierten „Globalisierungsfrust“, der nicht zuletzt in verschiedensten Graswurzelbewegungen seinen Niederschlag findet. Zweifellos stellt „der Übergang politischer Entscheidungen auf die Ebene supranationaler Einheiten und globaler Verhandlungen“ die Demokratie „vor völlig neue Herausforderungen“.23 Aus diesem Grund müssen globale Einheit und lokale Vielfalt in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden.24 Zu diesem ausgewogenen Verhältnis gehören nicht zuletzt neue Geschlechterkonzepte, die im Zuge postkolonialer Herausforderungen entstanden sind, wie Maria Mesner sie hier diskutiert. Aber auch bereits Theodor Adornos „ästhetische Exile“, die Reinhard Mehring in Kontrast zu Carl Schmitts politischem AntiUniversalismus setzt, sind sicherlich hier als Reaktion auf eine weltpolitische Schieflage einzuordnen.

III. Resümee Im voranschreitenden 21. Jahrhundert scheint eine gesellschaftspolitische Ausgewogenheit schwieriger denn je. So schreibt Rudolf Stichweh bereits im Jahr 2000: Die unzähligen Inhomogenitäten der Weltgesellschaft, die enormen Differenzen zwischen reichen und armen Ländern, die Unterschiede des Entwicklungsstandes oder des Modernisierungsgrades, die Unzulänglichkeit der technischen Voraussetzungen weltweiter Interaktion für die Mehrzahl der Menschen – all dies sind überzeugende Motive, das Postulat nur eines Gesellschaftssystems abweisen zu wollen. Andererseits fällt sofort auf, daß, wenn man mit der definitorischen Forderung einheitlicher Lebensbedingungen Ernst machen wollte, die Dekomposition 23 Richard Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Frankfurt/Main 1997, 424–425. 24 Ebd.

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der Weltgesellschaft in homogenere Gesellschaften nicht gerade auf der Ebene der Nationalgesellschaften ihren Endpunkt finden würde.25

Hier zeigt sich der doch sehr allgemein und komplexitätsoffene Begriff Weltgesellschaft, der Michael Corsten in diesem Band zu der Frage verleitet, ob denn der Begriff überhaupt ausreicht, um strukturelle Koppelungen von Funktionsprozessen im globalen Kontext angemessen zu erfassen. Dieses Bedenken spiegelt sich nicht zuletzt in der von Richard Senti vorgenommenen Gegenüberstellung der geltenden Welthandelsordnung und den regionalen Integrationsabkommen wider. Und ob sich in diesem Zusammenhang die Weltgesellschaft schließlich in eine urbanisierte und industrialisierte Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt, wie Franz Mathis dies in seinem Beitrag vermutet, bleibt ebenso abzuwarten wie Herbert Reginbogins These, dass eine neue politische Ökonomie entsteht, in der der Einzelne oder Kollektive zur maßgeblichen Bezugsgröße von Sicherheitsdiskursen – und so zum Bewahrer und Beschützer kultureller Identitäten und Umwelten werden. Mit dem Fokus auf die Etablierung und Bewahrung universeller Menschenrechte gehen mit diesem Kulturpluralismus neue politische Herausforderungen einher, denen sich das 21. Jahrhundert stellen muss. Der Westen und Russland, aber auch der Rest der Welt müssten, so Reginbogin, Wege finden, um die sich selbst auferlegten Identitätsrollen mit weitreichenden geopolitischen Implikationen dem Schutz traditioneller menschlicher Werte anzupassen. Durch Rekurs auf die universellen Menschenrechtsprinzipien sind individuelle Freiheit und Außenpolitik stets konfrontiert mit der Wirklichkeit anderer Kulturen. Divergierende Auffassungen über transnationale Sicherheit seien insofern durch geschickte Staatskunst und Konsensbildung so auszutarieren, dass die Menschenrechte als sine qua non für eine Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert nicht gefährdet werden. Blicken wir von dieser politischen Mammutaufgabe aus noch einmal auf die Ausgangsfragen des Hildesheimer Diskurses. Sie lauteten: 1. Aus welchen Voraussetzungen heraus entstand der Begriff Weltgesellschaft? 2. Lassen sich aus der Summe der verschiedenen Forschungserträge eine spezielle Methodik und eine spezifische Theorie für Weltgesellschaft entwickeln? 3. Welche Rollen spielen die Großmächte USA, China und Russland darin? 4. Welche Zukunftsperspektiven – positive wie negative – ergeben sich für eine Weltgesellschaft? 5. Gibt es schon Modelle einer politischen Steuerung und Lösung der Konflikte der Weltgesellschaft? Wie wären sie zu verstärken? Wer Zeuge des Hildesheimer Diskurses war, hat bemerkt, dass die Gespräche über diese Fragen nicht minder kontrovers waren wie die politischen, kulturellen und religiösen Unter25 Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main 2000, 12.

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schiede der Weltgesellschaft selbst. Insbesondere der freundschaftliche Disput (um nicht zu sagen, der Hildesheimer „Historikerstreit“) zwischen Hans-Heinrich Nolte und Alexander Demandt gleich zu Beginn hat der Tagung ihren Stempel aufgedrückt: Was war zuerst da, die Weltgeschichte oder die Weltgesellschaft? Wie immer man zu dieser akademischen Henne-Ei-Frage steht, ist ein Aspekt besonders deutlich geworden. Ohne eine diskursive, interdisziplinäre und auf Methodenpluralität basierende Analyse dessen, was unter dem Terminus der Weltgesellschaft firmiert, ohne empirische Befunde, ohne historische Recherche, ohne philosophische und soziologische Reflexionen, ohne wirtschaftswissenschaftliche Deutungen lässt sich dem Begriff nicht wirklich beikommen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen Grundlinien des Rechts einmal bemerkt, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst.26 Die von Michael Gehler und Silvio Vietta inaugurierte Tagung über die Perspektiven der Weltgesellschaft hat mit diesem Losspruch Ernst gemacht und die verschiedenen Facetten der Weltgesellschaft beleuchtet. Sie hat ihre Zeit (der globalisierten Welt) in Gedanken (Weltgesellschaft) gefasst. Resümierend lässt sich sagen: Die Weltgesellschaft bildet die Folie, vor der sich alle politischen Entscheidungen, ökonomischen Interessen, öffentlichen Rechtfertigungen, wissenschaftlichen Theorien zu verantworten haben.27 Der Ausgangsthese ließe sich insofern eine Gegenthese beiseite stellen: Es gibt durchaus umfassende theoretische Konzepte der Weltgesellschaft. Ob diese tatsächlich auch Realität ist (oder doch nur Chimäre, wie Michael Corsten dies in den Raum gestellt hat) – das scheint eine immer wieder aufs Neue gestellte, weitaus schwieriger zu beantwortende Frage zu sein. Literaturauswahl Albrow, Martin, Auf dem Weg zu einer globalen Gesellschaft?, in: Beck, Ulrich (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998, 411–434. Appadurai, Arjun, Demokratiemüdigkeit, in: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Frankfurt/Main 2017, 17–35. Beck, Ulrich (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998. Beck, Ulrich, Die Metamorphose der Welt, Frankfurt/Main 2017. Brunkhorst, Hauke, Rechtsrevolutionen. Der Anteil des Rechts an der Entstehung der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 2017. Descartes, René, Discours de la méthode. Franz.-dt., übers. u. hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1997. Gehler, Michael (Hrsg.), Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Hildesheim – Zürich – New York 2011. Gehler, Michael, Zäsuren der Weltgeschichte in demokratiepolitischer und weltgesellschaftlicher Per26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, HW 7. Frankfurt/Main 1970. 27 Dazu Jürgen Nielsen-Sikora, Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung (Biographie), Darmstadt 2017.

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spektive. Versuch eines Schlusskommentars, in: Corsten, Michael/Ders./Kneuer, Marianne (Hrsg.), Welthistorische Zäsuren 1989 – 2001 – 2011. Hildesheim 2016, 231–252. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, HW 7, Frankfurt/ Main 1970. Heintz, Peter, Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen, Diessenhofen 1982. Lessenich, Stephan, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016. Luhmann, Niklas, Weltgesellschaft, in: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975. Menzel, Ulrich, Die Ordnung der Welt, Frankfurt/Main 2015. Münch, Richard, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten, Frankfurt/Main 1997. Nielsen-Sikora, Jürgen, Europa der Bürger. Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung. Eine Spurensuche, Stuttgart 2011. Nielsen-Sikora, Jürgen, Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung (Biographie), Darmstadt 2017. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Osterhammel, Jürgen, Die Flughöhe des Adlers. Historische Essays, München 2017. Spencer, Herbert, Die Principien der Sociologie. 3 Bände, Stuttgart, 1887/89. Stichweh, Rudolf, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main 2000. Trojanow, Ilija, Der überflüssige Mensch, Wien 2013. Vietta, Silvio, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012.

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Schlussbetrachtungen I. Aus welchen unterschiedlichen Voraussetzungen heraus entstand der Begriff der Weltgesellschaft? Mit Hans-Heinrich Nolte („Debatten über Weltgesellschaft“) könnte man fragen: Was ist neu an der Weltgesellschaft? Welthandel und Weltreisen sind seit uralter Zeit belegbar. Weltreligionen und transnationale Imperien sind vor dreitausend Jahren erschienen. Semantiken globaler Sozialität sind seit mindestens tausend Jahren bekannt. Bereits die römische Antike spricht vom „Menschengeschlecht“ als von einem sozialen Wirkungszusammenhang. Das „Recht des Fremden“(ius gentium) gibt Regeln für den Umgang mit den Fremden, sieht also für fremde Populationen eine Form der Inklusion vor.1 In der Moderne führt die koloniale Expansion der europäischen Mächte ab dem 16. Jahrhundert dazu, ein Völkerrecht und eine globale gesellschaftliche Ordnung ins Auge zu fassen. Das Motiv des Weltbürgertums setzt sich durch und findet im kantischen Begriff der „Weltbürgerschaft“ ihren theoretischen Niederschlag. 1827 führt Goethe den Begriff Weltliteratur ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird immer häufiger von Welthandel, Weltverkehr und dann auch von Weltpolitik die Rede sein. Das 19. Jahrhundert war zwar das Zeitalter der Nationalitäten, aber auch die Zeit des Imperialismus, wo die „großen Mächte“ bewusst eine Politik mit globaler Tragweite zu betreiben anfingen. Nietzsche kündigte die Zeit der „großen Politik“ an, wo die Herrschaft über die ganze Erde auf dem Spiel stand (siehe den Beitrag von Mario Bosincu). Wie Tocqueville sah er, wie aufsteigende außereuropäische Weltmächte, die Vereinigten Staaten und Russland, bald den europäischen Staaten ihre Macht streitig machen würden. Der Begriff Weltgesellschaft wurde zum ersten Mal von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Linden A. Mander im Jahre 1941 als Titel eines Lehrbuchs verwendet. Er hat sich erst in der jüngsten Zeit soziologisch durchgesetzt, als die globale Perspektive einer vereinheitlichten Menschheit, die schon lange den Menschen vorschwebte, gleichsam von der Realität eingeholt wurde. Nicht zuletzt durch den Welthandel, die Weltpolitik, die Weltkriege, v. a. aber durch die Entwicklung moderner Kommunikationsmöglichkeiten, von den immer schnelleren „motorisierten“ Verkehrsmitteln (Dampfschiff, Zug, Flugzeug) bis zu den

1 Siehe Rudolf Stichweh, Das Konzept der Weltgesellschaft. Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems, Workingpaper des Soziologischen Seminars 01/09. Soziologisches Seminar der Universität Luzern, Januar 2009.

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elektronischen Kommunikationsmitteln (siehe den ersten Beitrag von Nolte)2. Die Weltgesellschaft hat ein reelles Gesicht bekommen. Produktion, Handel, Dienstleistungen haben sich internationalisiert. Mercedes ist kein ausschließlich deutsches Automobilunternehmen mehr, wie es es bis ungefähr zu den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts geblieben war. Man spricht von „globaler Integration der Märkte“. Multinationale Unternehmen, Nicht-Regierungsorganisationen und Weltorganisationen beeinflussen die Politik der Regierungen. Dank der Medientechnologie ist eine Weltöffentlichkeit entstanden (siehe die Beiträge von Marianne Kneuer und Maria Mesner). Mit der Geschwindigkeit des Lichtes werden Nachrichten über dieses oder jenes Ereignis (Katastrophen, Kriege, Staatsstreiche, Verbrechen gegen die Menschheit, Hungersnöte, aber auch Alltagspolitik, neue Medikamente usw. usf.) über Ozeane von einem Kontinent zum anderen übertragen. Angesichts globaler Probleme oder Herausforderungen können sich politische oder soziale Schutzorganisationen oder Protestbewegungen über die nationalen Grenzen hinaus entwickeln, so dass von einer transnationalen Zivilgesellschaft die Rede sein kann. Kurzum: Die Welt ist anscheinend zu einem global village (Marshall McLuhan) geworden! Die Frage ist, ob der innerhalb von nicht einmal zwei Jahrhunderten3 durch die unerhörte Beschleunigung der Kommunikations- und Verkehrsmittel erworbene quantitative Raum- und Zeitgewinn in eine qualitative Änderung umgeschlagen ist. Der Begriff Weltgesellschaft will letztere verzeichnen. Er ist normativ aufgeladen. Er beinhaltet einen Erwartungshorizont, der in der Definition von Luhmann als rein kognitiv vorgestellt wird,4 die Organisatoren der Tagung aber dazu geführt haben mag, implizit nach ihrem normativen Gehalt zu fragen. Die Weltgesellschaft lässt die Hoffnung auf eine vereinheitlichte Menschheit, auf eine allgemeine Völkerverständigung, wenn nicht sogar auf den ewigen Frieden aufkommen. Ist diese Aussicht eine Utopie, eine Chimäre, wie einige „realpolitische“ Denker wie Carl Schmitt glaubten, und wie das auch im Laufe der Tagung ein paarmal wiederholt worden ist?5 Von der Entstehung des Begriffs ist während der Tagung weniger die Rede gewesen, als von dem Globalisierungsprozess, von dessen Fortschritten, Verzögerungen und Rückschrit2 Bis zur Erfindung des elektrischen Telegraphen (1853) waren die Kommunikationsmittel von den Verkehrsmitteln (Postboten z. B.) abhängig. 3 Napoleon und seine Truppen gingen noch zu Fuß oder zu Pferd nach Rom, wie früher Cäsar nach Gallien gekommen war! 4 Siehe den Beitrag von Corsten, Weltgesellschaft – eine soziologische Theorie-Chimäre, in diesem Band: „Die Weltgesellschaft ist für ihn [Luhmann] 1971 keine politische rechtliche Realität, sondern eine perspektivistische Erwartung universeller Interdependenz.“ 5 Ebd. Corsten wirft Luhmanns Begriff v. a. vor, die Homogenität (Einheit) und den Alleingeltungsanspruch der Weltgesellschaft allzu sehr hervorzuheben, gestützt auf das einzige Kriterium der sich stets erweiternden Kommunikation, die die „Erwartbarkeit einer realen Einheit des Welthorizonts für alle entstehen lässt“. (Corsten). Corsten weiter: „Der paraethische Kern der systemtheoretischen Argumentation besteht darin, die Weltgesellschaft aufgrund der (potenziellen) Erreichbarkeit aller als Adressaten jedweder Kommunikation als stets zu beachtenden Welthorizont der Kommunikation einzuführen.“

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ten. Die Weltgesellschaft ist in der Tat das Kommunikations- und Interdependenzensystem, das sich aus der Geschichte der Globalisierung ergeben hat, und diese entspricht weitgehend einer „Westernisierung“ (Anselm Doering-Manteuffel) bzw. Verwestlichung bzw. Amerikanisierung der Welt. Sie vollendet den Triumphzug der „okzidentalen Rationalität“ (Silvio Vietta) durch die ganze Welt, welcher ganz besonders durch die Kolonisation gefördert wurde.6 Wie Lenin den Kommunismus durch die Formel „Sowjetmacht plus Elektrizität“ definierte, könnten wir die Globalisierung als die Weltausbreitung der okzidentalen Technowissenschaft und des okzidentalen Kapitalismus bezeichnen. Auch wenn sich die meisten Vorträge mit Weltproblemen befassten, blieben sie eurozentrisch orientiert, einige (siehe z. B. die Beiträge von Xuewu Gu über China und den von Susanne Schröter über den Islamismus) versuchten doch das Phänomen von außen her zu beleuchten. Interessant ist in der Tat die Frage, inwiefern Begriffe wie Globalisierung oder Weltgesellschaft in anderen Kulturkreisen als sinnvoll und nützlich betrachtet werden.7

II. Lässt sich aus der Summe der verschiedenen Forschungserträge eine spezielle Methodik und eine spezifische Theorie für die Weltgesellschaft entwickeln? Als kohärente Theorie besteht eigentlich nur die Systemtheorie Luhmannscher Herkunft (fortgeführt von Stichweh und anderen). Auf dieser Tagung ist jeder Referent im Rahmen seines Fachs geblieben und hat dessen Herangehensweise und Ergebnisse auf das Thema angewendet. Wir haben also historische, geschichtsphilosophische, kulturkritische und soziologische Beiträge in diesem Band vorliegen. Aber diese „perspektivische“ Methode, die den Gegenstand von vielen Seiten her beleuchtet, hat ihre Verdienste. Die Systemtheorien zeigen, wie sich die Weltgesellschaft allmählich aufgrund der Artikulation von konvergierenden oder divergierenden „Funktionskomplexen“ strukturiert. Sie sind soweit ein gutes analytisches Werkzeug. Aber wie der von Michael Corsten erwähnte Cornelius Torp würde ich ihnen einerseits den Mangel an historisch präzisen Aussagen vorwerfen. Andererseits eröffnen sie, wie Hans-Heinrich Nolte betont, „die Gefahr, dass der Handelnde in der Wahrnehmung des Soziologen hinter der Funktion verschwindet“. Sie sehen also allzu sehr von der „Lebenswelt“ der Menschen ab, die entweder als Gewinner oder als Verlierer der Globalisierung zu betrachten sind oder – noch gravierender – sich als solche betrachten. Wie eine eventuelle spezifische Methode auch aussehen mag, sie setzt meines Erachtens in ihrem Mittelpunkt eine Art Koordinatensystem mit zwei Achsen voraus, um welche das Problem der Weltgesellschaft kreist. Auf der horizontalen Achse wären die geschicht6 Siehe den Beitrag von Thomas Spielbüchler in diesem Band. 7 In seinem Buch: La mondialisation vue d’ailleurs. L’Inde désorientée, Paris 2009, zeigt Jackie Assayag, wie das Phänomen in Indien ganz anders wahrgenommen wird als im Abendland.

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lichen Fortschritte der Globalisierung in den verschiedenen Kulturkreisen bzw. Nationen komparativ zu studieren, um ihre Homogenisierungs- und Heterogenisierungseffekte herauszustellen. Untersuchungen über das Verhältnis zwischen reicher gewordenen Gewinnern und ärmer gewordenen Verlierern der Globalisierung gehören hierher (siehe die Beiträge von Franz Mathis und Thomas Spielbüchler). Auf der vertikalen Achse hingegen müsste die Frage gestellt werden, wie tief der Globalisierungsprozess in die traditionellen Gesellschaften greift, d. h., inwiefern die „Werte“ und Lebensformen der okzidental geprägten Weltgesellschaft von dieser oder jener lokalen Gesellschaft (oder von dieser oder jener Schicht innerhalb dieser Gesellschaften) internalisiert worden sind. So könnte man z. B. Ungleichzeitigkeiten im Sinne Ernst Blochs (Erbschaft dieser Zeit) herausstellen, d. h. die mehr oder weniger harmonische oder disharmonische Koexistenz innerhalb derselben Gesellschaft von weltgesellschaftlich-modernen und traditionell-identitären Elementen. Hier könnten vielleicht alte Antithesen wie die von Ferdinand Tönnies getroffene zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft oder die von Kultur und Zivilisation von Nutzen sein. Diese Kategorien sind heute wegen ihrer vergangenen politischen Belastung aus der Mode. Sie können aber einen heuristischen Wert haben. Gemeinschaft (Kultur) setzt ein intimes Zugehörigkeitsgefühl voraus, das Gefühl der Teilhabe an einem gemeinsamen Schatz an tiefen religiösen, ästhetischen, affektiven und sittlichen Kulturwerten. Gesellschaft (Zivilisation) entspricht einem vertragsmäßigen Engagement, und bezeichnet den Gebrauch und Austausch von leicht übertragbaren instrumentalen Gegenständen, Techniken und Organisationsformen. Bleibt die heute real existierende Weltgesellschaft rein äußerlich, oberflächlich, peripher, d. h., beruht sie bloß auf dem Austausch materieller Werte und (Konsum-) Produkte, ohne dass die lokalen Gesellschaften im Kern ihrer Sitten oder kulturellen Eigentümlichkeiten davon berührt wären? Kann die Weltgesellschaft bloß als ein allumfassendes, übergreifendes System der Kommunikation (im weitesten Sinne des Wortes einschließlich des Handels) aufgefasst werden, wie es Niklas Luhmann tut? Bedeutet Weltöffentlichkeit oder Weltzivilgesellschaft noch keine Weltgesellschaft (vgl. den Beitrag von Marianne Kneuer)?8 Haben wir es zu tun mit einer Weltgesellschaft oder mit einem Netzwerk von Teilweltgesellschaften, deren ungleichförmige (ungleichzeitige) Formen einander überlagern oder sich ineinanderfügen (ähnlich russischen Puppen), ohne einander wirklich zu durchdringen? Darf man im Hinblick auf die auf zahlreichen Interaktionen beruhenden Weltgesellschaft schon von Wertintegration oder nur von Systemintegration sprechen? Es gibt Zeichen, die zur Annahme einer relativ tiefen Durchdringung veranlassen. Der Begriff Weltkultur (der in einigen Zusammensetzungen wie Weltkulturerbe, Weltkulturfo8 Siehe den Beitrag von Marianne Kneuer, die festhält: „Ganz offensichtlich ist das rein technische Potenzial von globaler Vernetzung und Konnektivität nicht äquivalent mit der Herausbildung eines Raumes transnationaler Kommunikation mit inhaltlicher Wertigkeit.“ Das Problem der Übernahme der Werte, die auch im Begriff der okzidentalen Rationalität über ihren instrumentalen Charakter hinaus beinhaltet sind, ist selbstverständlich ausschlaggebend.

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Schlussbetrachtungen

rum, Weltkulturgipfel variiert wird) impliziert, dass das Bewusstsein in der einen Welt zu leben und an denselben Kulturgütern teilzuhaben, sich verallgemeinert hat. Überall in der Welt werden dieselben Filme gesehen, abendländische klassische Musik (oder Jazz amerikanischer Herkunft!) wird von Angehörigen aller Kulturkreise mit großem Einfühlungsvermögen angehört und gespielt. Zeitgenössische Komponisten versuchen Musiken aus aller Herren Länder zu kombinieren. Die von Goethe angekündigte Weltliteratur ist Wirklichkeit geworden. Die heutigen Kommunikationsmittel tragen wesentlich zu diesen Kulturtransfers bei. Dank der digitalen Industrie entsteht heute eine Weltbibliothek, die sämtliche Bücher überall in der Welt zugänglich macht. Ähnliche Phänomene sind in viel konkreteren Bereichen zu beobachten, in der Kochkunst, in der Mode, in der Kleidung (Jeans werden überall getragen!) etc. Der Fußball englischer Herkunft ist zum Weltsport geworden. Englisch ist die Weltsprache geworden. Die Liste dieser Angleichungsphänomene ließe sich beliebig verlängern, die unmöglich ohne Einfluss auf Lebens- und Verhaltensweise, d. h. auf die Identität der empfangenden Völker bleiben können. Am größten ist die Angleichung in den modernen großen Weltstädten, den eigentlichen Stätten der Modernisierung, in denen die gleiche Fortschrittsideologie (auch mit den daraus resultierenden Übeln wie Lärm- Wasser- und Luftverpestung) zum Ausdruck kommt. Viele Gesellschaften der Welt sind eben wegen der Globalisierung mehr oder weniger multikulturell (und multireligiös) geworden. Das gilt selbstverständlich zunächst für unsere westlichen Länder, die eine massive Einwanderung erfahren haben und immer noch das Ziel einer aus kriegerischen oder wirtschaftlich enterbten Gebieten herrührenden intensiven Migrationswelle sind. Aber völlig geschlossene und homogene Gesellschaften, die gänzlich von der Globalisierung verschont geblieben wären, gibt es kaum noch, so weit die Interdependenzen in den vielfältigsten Bereichen gewachsen sind. Hans-Heinrich Nolte lehrt uns, dass in einer Stadt wie Moskau zwei Millionen Muslime leben! Multikulturalismus scheint das zukünftige Los aller Gesellschaften der Welt zu sein. In seinem freilich vornehmlich an das westliche Publikum adressierten Buch Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (Frankfurt/Main 2009) schließt sich Charles Taylor diesem Fazit an und erklärt uns, wie gemäß dem wahren Geist der Demokratie diese multikulturellen Gesellschaften trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten funktionieren können: durch die Anerkennung der Differenzen und durch den gegenseitigen Respekt. Können diese Prinzipien auch als Grundlage einer wahren „Weltgesellschaft“ oder eines gelungenen Universalismus dienen? Am Ende seiner Schrift äußert Tönnies – der kein konservativer Nostalgiker, sondern Sozialdemokrat war – die Hoffnung, die moderne Organisation der (sozialistischen) Gesellschaft könnte zur „organisch“ empfundenen Gemeinschaft werden. Kann man sich angesichts der heute real existierenden Weltgesellschaft der gleichen Hoffnung hingeben?9

9 Spielbüchler zitiert einen Satz des Realpolitikers Henry Kissinger: „In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls in der Welt vorstellbar.“ Das erklärt sich

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Dagegen muss geltend gemacht werden: An jedem Ort, wo die Weltgesellschaft Fuß gefasst hat, färbt sie sich mit Lokalkolorit. In Tokio, Singapur, Dubai, Jerusalem, Lagos, Lima trägt sie jedes Mal ein anderes Gesicht. Die nivellierende Walze der Globalisierung erweckt Widerstände, Versuche, sich auf die lokalen identitätsstiftenden Kulturelemente zurückzubesinnen und sie zu reaktivieren, wenn nicht, sie wieder zu erfinden. Interessant ist in dieser Hinsicht die sogenannte „Glokalisierung“. Sie besteht darin, die Strukturen und Funktionsweisen der Globalisierung als besonders kongruent mit der eigenen Lebenswelt und der eigenen kulturellen Identität vorzustellen. Also eine Art und Weise, sich die Globalisierung anzueignen und sie zu „domestizieren“, indem man zeigt, wie lokale Werte, Bräuche, Methoden, Produkte, Künste, Moden sie schon vorwegnehmen, oder einfach in die Forderungen der Weltgesellschaft bzw. des Welthandels bestens hineinpassen.10 Die Peripherie versucht so zum Zentrum zu werden, zumindest zu einem der Zentren des Globalisierungsprozesses. Den Globalisierungsprozess begleiten so ständig Regionalisierungseffekte, die es erlauben, ihn gleichzeitig besser „einzuverleiben“ und besser auf Distanz zu halten. Das sollte uns dazu führen, die Weltgesellschaft nicht mehr als nur einförmige Gestaltung der Menschenwelt zu betrachten, sondern als eine Summe von vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen modernen Lebensformen und früheren in einheimischen Kulturen und Nationen verwurzelten Elementen. Infolgedessen dürfte man nicht mehr von einer Moderne reden, sondern von verschiedenen hybriden Abarten der Modernisierung sprechen.

III. Welche Rolle spielen die Großmächte USA, China und Russland darin? Francis Fukuyamas Vorhersagen haben sich nicht bestätigt. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat die liberale Pax Americana nicht lange durchgehalten. Die Welt ist multipolar geworden, d. h. hat sich in geopolitische Großräume geteilt, die unter der Leitung dominierender Mächte (USA, China, Russland, Brasilien) ihre wirtschaftliche und politische Autonomie zu behaupten versuchen. Daneben sind, wie schon erwähnt, große internationale Firmen zu Machtzentren gewachsen, die imstande sind, den Staaten ihren Willen aufzuzwingen. So sieht der neue Nomos der Erde aus. Nun scheint diese multipolare Welt mit immer größerem Widerwillen die Normen und Regeln des Westens zu akzeptieren. Der sogenannte Konsens von Washington bröckelt. Richard Senti zeigt, wie die immer häufigeren regionalen Integrationsabkommen die Welthandelsordnung der Nachkriegszeit unterhöhlen und schlägt wahrscheinlich als Reaktion auf den Schock des „Zivilisationsbruchs“, den der nationalsozialistische Genozid bedeutet hat. 10 Man denke z. B. an den Versuch, eine „Muslim-Mode“ einzuführen. Um den globalen Konsum zu fördern, wird auf lokale Attribute fetischistischer Art (wie z. B. traditionelle Kleidungen oder Schmucksorten wie tilaka in Indien) zurückgegriffen.

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Schlussbetrachtungen

am Ende seines Vortrags Reformen vor, um Welthandelsordnung und Regionalismus aufeinander abzustimmen. Die sogenannten BRICS-Staaten halten sich in der Tat nicht mehr an die Regeln des Neoliberalismus, sondern ergreifen immer mehr staatsgesteuerte protektionistische Maßregeln, um ihren wirtschaftlichen Wirkungsraum zu schützen. Und man sieht heute, dass Protektionismus sogar in der Heimat des Neoliberalismus (und auch in Europa) gewünscht wird! Wie der Beitrag von Harald Kleinschmidt zeigt, ist andererseits das heute geltende internationale Recht noch vom „Diskurs des Nordens“ geprägt. Das heißt, es ist mit den für seine Anwendung geschaffenen Institutionen in vieler Hinsicht noch ein Erbe der Kolonisation und kann deshalb das Ressentiment und den Widerstand der früher kolonisierten Länder erregen. Es stellt sich also die Frage nach einem „Recht der Weltgesellschaft“, das nicht mehr dem Verdacht ausgesetzt wäre, ein illegitimes Herrschaftsinstrument zu sein. Nach Kleinschmidt kann Weltgesellschaft nicht in allgemeinen, universalen Kategorien des positiven Rechts bestimmt und nur noch als „nicht-staatsbezogene“ „Gesellungsform“ gedacht werden, also als Weltzivilgesellschaft, die nur „ungesetzten und nicht immer erzwingbaren Rechtssätzen im Sinn der Naturrechtstheorien“ unterworfen wird und in Form von Nichtregierungsorganisationen die Verteidigung von elementaren Menschenrechten gewährleistet. Schon Kant misstraute in seinem Friedenstraktat einem Weltstaat, den er in eine nivellierende Diktatur ausarten sah und plädierte für einen Bund von Republiken. Wie der Beitrag von Hans-Jürgen Schröder zeigt, erfolgte die Expansion der USA und ihr Bemühen, im 20. Jahrhundert ihre Weltordnung zu etablieren, im selben Modus wie die frühere Kolonisation: In ihrem Verhalten mischten sich macht- und wirtschaftspolitische Interessen mit (oder versteckten sich hinter) dem Anspruch die ganze Welt zu zivilisieren und zu demokratisieren, als ob die westlich-amerikanischen Werte alternativlos gewesen wären. Die Akzeptanz der westlichen liberalen Werte (Trennung von Kirche und Staat, repräsentative Demokratie, freie Marktwirtschaft, Menschenrechte) wird aber um so problematischer, als sie und die Institutionen und Regeln, die für ihre Umsetzung sorgen sollen, von den westlichen Nationen selbst, allen voran den USA, nicht immer respektiert und deshalb bloß als Rechtsfertigungsideologie ihres Herrschaftswillens wahrgenommen werden. Wird sich die Weltgesellschaft in derselben Form weiterentwickeln, wenn die westliche Hegemonie bestritten oder gar von einer anderen Hegemonie abgelöst wird? Das alles wirft die Frage nach der Unumkehrbarkeit der Weltgesellschaft auf. Luhmann war davon überzeugt, dass „die Bezugnahme einer jeden sozialen Praxis auf den Horizont der Weltgesellschaft irreversibel konsolidiert ist“ (siehe den Beitrag von Corsten). Ist es aber wirklich so? Es hat sich in Wirklichkeit, wie öfters in der Geschichte, eine Art Dialektik in Gang gesetzt. Die Globalisierung, die eine auf der allgemeinen Kommunikation beruhende Weltgesellschaft erzeugt hat, hat den wirtschaftlichen und machtpolitischen Aufstieg der ehemaligen bevormundeten Länder gefördert, die nun in der Lage sind, die westliche Gestaltung der Weltgesellschaft in Frage zu stellen. Das tritt am Beispiel des radikalen Islams sehr klar hervor, aber trifft auch auf die anderen „Zivilisationsblöcke“ zu, welche für den

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Westen zu ebenso vielen Rivalen geworden sind. Die okzidentale Zweckrationalität kann zur Etablierung neuer, nicht okzidentaler Hegemonien dienen, welche sich dann zu anderen religiösen, moralischen und politischen Werten bekennen könnten. Man könnte noch eindringlicher fragen: Wäre der okzidentale Zweck- und Wertrationalismus nicht das Produkt eines Sonderwegs, der rückgängig gemacht werden kann? Oder noch pessimistischer: Sind wir nicht im Begriff, in eine postokzidentale Ära einzutreten? Wie der Beitrag von Alexander Demandt erhellt, sah Oswald Spengler in der heutigen Weltzivilisation das Produkt der besonderen Dynamik des „faustischen Menschen“. Spengler machte es sich schwer, wie andere zeitgenössische Denker, Alfred Weber, Karl Jaspers, Ernst Jünger oder etwas später Arnold Gehlen, das Aufkommen der technischen Weltzivilisation als eine historische Schwelle ähnlich der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), dem Übergang zum Neopaläolithikum (Gehlen) oder dem Herrschaftsantritt einer neuen historischen „Gestalt“ (verstanden als dominante Zivilisationsform), der des Arbeiters (Jünger), zu deuten. Er schwankte zwischen dieser Sicht und der Treue zu seiner diskontinuierlichen Geschichtsschau. Er, der einen besonderen Sinn für die Machtkämpfe zwischen Nationen und Imperien und für deren Entstehen und Vergehen hatte, meint in „Der Mensch und die Technik“, dass die moderne Technowissenschaft eben ein Erzeugnis des „faustischen Geistes“ sei und von anderen Zivilisationen auf Dauer nicht weiter entwickelt werden könne. Die „farbige Welt“ (dazu gehören auch die Russen!) würde sich zur Zeit der Technik nur dazu bedienen, um die westliche Vormachtstellung zugrunde zu richten. Spätere Generationen würden die Ruinen der mächtigen abendländischen Zivilisation besichtigen, wie wir es heute mit den Ruinen des Römischen Reichs tun. In dieser Perspektive wären die heutige Weltzivilisation und die heutige Weltgesellschaft Phänomene auf Zeit, auf die ein neues „Mittelalter“ folgen könnte. Klar ist, dass für Spengler jedwede Internationale nur das Produkt einer Hegemonie sein kann. Da das Abendland in seinen Augen im Untergang begriffen ist, müsste logischerweise die Weltgesellschaft in ihrer heutigen westlich geprägten Form (einschließlich der technischwissenschaftlichen Errungenschaften!) auch zum Untergang verurteilt sein. Da Spengler aber in der Technikschrift die im „Untergang des Abendlandes“ prophezeite neunte Hochkultur (die russische) nur noch als einen späten „matten Nachzügler“ vorstellt, zeichnet sich hier auch das Bild eines Posthistoire ab, das von nichts kulturell Signifikantem mehr, sondern nur noch von der Beschleunigung immer neuer „äußerer“ technisch-wissenschaftlicher Erfindungen markiert sein wird.

IV. Welche Zukunftsperspektiven – positive wie negative – ergeben sich für eine Weltgesellschaft? Die optimistische Zukunftsperspektive einer vornehmlich als Kommunikations- und Austauschgesellschaft konzipierten Weltgesellschaft wäre selbstverständlich die allgemeine gegenseitige Annäherung und Verständigung der Völker und Nationen der Welt. Das würde

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Schlussbetrachtungen

auch die Öffnung zum anderen und die Bereitschaft zum Kompromiss in jedem Bereich fördern, so dass nicht nur die unvermeidbaren Interessenkonflikte, sondern auch die kulturellen Differenzen leichter und auf friedlichem Weg oder durch gegenseitige Toleranz geschlichtet werden könnten. Die Weltgesellschaft wäre so das beste Hindernis gegen Kulturkriege und gewalttätige Auseinandersetzungen mit deren schrecklichen Konsequenzen für die betroffenen Völker. Und man kann in der Tat nicht leugnen, dass die Vernetzung der ganzen Welt den Kosmopolitismus stärkt und dass die internationalen Nichtregierungsorganisationen und die politischen und wirtschaftlichen Institutionen wie die UNO und ihre Satellitenorganisationen, die alle als Ausdruck der Weltgesellschaft und als Instrument einer Verrechtlichung der Welt in ihrer Gesamtheit zu betrachten sind, einige Erfolge zu verbuchen haben. Selbstverständlich verbirgt das Bekenntnis zum Rechtsstaat, zur liberalen Demokratie und zu den Menschenrechten, das von allen UNO-Staaten prinzipiell erfordert wird, in nicht wenigen Ländern viele Praktiken, die gegen diese Normen verstoßen. Trotz seiner Förmlichkeit bedeutet dieses Bekenntnis aber schon eine Ehre, die das Laster der Tugend erweist. Für Kant war die Begeisterung der Völker für die Französische Revolution ein gutes Zeichen, obwohl sie im Schrecken endete. In der Dialektik der Aufklärung denunzierten Adorno/Horkheimer die „totalitäre Ordnung“ einer rein instrumental verstandenen, „subjektiven“ Vernunft (d. h. der mit dem Moment der Herrschaft unlöslich verbundenen okzidentalen Zweckrationalität). Aber sie glaubten noch an die Möglichkeit, diese Dialektik der Aufklärung durch Besinnung auf die substantielle „objektive“ Vernunft zu überwinden oder auszugleichen (bevor Adorno eine rein ästhetische Erlösung vorschlug, vgl. den Beitrag von Mehring). Einige zeitgenössische Denker gehen weiter und erblicken in der globalen Durchsetzung der westlichen Normen, einschließlich der ethisch-politischen, eine neue Form von Totalitarismus. In Frankreich denunziert der Urbanist und Philosoph der „Dromologie“ (Geschwindigkeitswissenschaft) Paul Virilio unter dem Namen „Globaritarismus“ das totalitäre Potenzial einer Vernetzung der Welt, die die Manipulation der Geister ermöglicht.11 Der russische Essayist Aleksander Zinovew zeigt die Ambivalenz des „Ozidentismus“.12 Der von Susanne Schröter zitierte Raymond Scupin prägt im Hinblick auf die islamistische Wahrnehmung den Terminus „Westoxification“. In Frankreich wird manchmal ein Unterschied gemacht zwischen „mondialisation“, das meist gebrauchtes Wort bleibt, und „globalisation“. Der erste Begriff bezeichnet die objektive Verdichtung und Vereinheitlichung der Zeit und des Raums dank des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts und der immer schnelleren, effizienteren Beziehungen im Handels- und Kommunikationswesen. „Globalisation“ betont eher das Problematische an diesem Prozess, die Interdependenzen, die er schafft, aber auch die daraus resultierenden konfliktträchtigen Asymetrien und Abwehrreaktionen.

11 Paul Virilio, L’avènement du globaritarisme, in: Catholica (hiver 1999/2000), 66, 7. 12 Alexandre Zinoviev, L’Occidentisme. Essai sur le triomphe d’une idéologie, Paris 1996.

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Objektiv besteht die große Gefahr der naturgemäß vereinheitlichenden Weltgesellschaft in dem universellen „Nivellement“ (ein Wort, das Jünger in seinem Essay Der Weltstaat gebraucht, siehe den Beitrag Bosincu), d. h. in der Marginalisierung oder gar Ausrodung der vielfältigen lokalen Kulturen (Vortrag Spielbüchler), was einer Verarmung der menschlichen Kultur überhaupt entsprechen würde. Die Weltgesellschaft würde in diesem Fall, als eine Form des Neokolonialismus, die Angleichungsarbeit der Kolonisation zur Vollendung bringen. Es ist legitim, vor einer Amerikanisierung bzw. „Coca-Kolonisierung“ bzw. „McDonaldisierung“ der Welt zu warnen, d. h. vor ihrer Verwandlung in eine pure einförmige materialistische Produktions- und Konsumgesellschaft, deren „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer) mit ihrem inhärenten Sinnverlust keine Identitäts- und Stabilitätsfunktion mehr erfüllen könnte. Festzustellen ist, dass die Völker, nicht nur die Ex-Kolonisierten, sondern auch die westlichen Völker, von denen die Globalisierung ihren Ausgang genommen haben, deren Wohltaten immer weniger wahrnehmen als ihre Nachteile. Sie leben eigentlich in einer schizophrenen Situation. Auf die globale Konsumgesellschaft möchten sie keineswegs verzichten. Zugleich fällt ihnen die durch sie verursachte Entfremdung (d. h. der Verlust ihrer Autonomie) immer schwerer. Die Frage der Globalisierung hat in der Präsidentschaftswahlkampagne in Frankreich eine große Rolle gespielt. Der Gaullist Alain Juppé, der unter der Losung der „mondialisation heureuse“ ausgezogen war, wurde in den parteilichen Vorwahlen geschlagen. Vor den Anklagen von Marine Le Pen, er sei ein Befürworter einer verderblichen „mondialisation“ fühlte sich Emmanuel Macron in der Stichwahl dazu gezwungen, zu einem ähnlichen Schlagwort auf Distanz zu gehen. In den westlichen Ländern, auch in den wirtschaftlich blühenden wie Deutschland und den Niederlanden, greift der Populismus um sich. Sein tiefer Grund ist der Protest gegen eine Globalisierung, die die Völker als eine Bedrohung für ihren Wohlstand und für ihre Identität empfinden. Habermas greift zum Begriff „Wohlstandschauvinismus“, während der französische Politologe Dominique Reynié von „Patrimonialpopulismus“ redet.13 In den europäischen Völkern – und in Trumps Amerika – herrscht eine Art Wagenburgmentalität, die von Nationen, deren Hegemonialposition in der Welt von den anderen, zu Konkurrenten gewordenen oder werdenden Zivilisationsblöcken in Frage gestellt wird. Sie drückt sich politisch in der Form der „illiberalen Demokratie“ aus. Ihre Befürworter (Orban in Ungarn oder Kaczynski in Polen, aber eigentlich alle europäischen Populisten) berufen sich auf die Integrität des Volkes, die sowohl von der massiven Einwanderung als auch von einem „raffenden“ internationalen Finanzkapitalismus (ich gebrauche absichtlich diesen belasteten Wortschatz), mit dem ein korruptes „Establishment“ paktiert, bedroht wäre. Andererseits wird diese Überfremdung durch die Globalisierung in den ehemals dem Westen unterworfenen Ländern als der Einbruch einer fremden Zivilisation und fremder sozialer und religiöser Werte und Sitten in die einheimische Kultur, die es zu verteidigen gibt, auch mit den Waffen der „okzidentalen Rationalität“. Der autoritäre Kapitalismus Russlands oder Chinas gehört dazu. 13 Dominique Reynié, Les populismes. La pente fatale, Paris 2011.

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Schlussbetrachtungen

Die Weltgesellschaft ist im Wesentlichen ein globalisierter Markt geblieben. Auf keiner Seite ist es ihr gelungen, über ihren rein instrumentalen Charakter hinauszugehen und eine weltweite politische und wirtschaftliche Solidarität (weil die humanitäre Solodarität mindestens zum Teil existiert) zu schaffen.14 Das heutige Fazit ist, dass sie nicht nur nicht in der Lage ist, identitäre Abwehrreaktionen und Rückfälle in nationalistische oder religiöse Fundamentalismen zu verhindern, sondern diese vielmehr provoziert. Die von Max Weber diagnostizierte „Entzauberung der Welt“ hat die Entwicklung der zwei „Potenzen“ der Globalisierung, nämlich der Technowissenschaft und des Finanzkapitalismus, begleitet, wenn nicht gefördert. Die Globalisierung potenziert so die Entfremdung in einer Moderne, die die traditionellen Solidaritäten zerstört und durch den in ihr triumphierenden Individualismus und Materialismus den Menschen zur „Orientierungswaise“ (Hermann Lübbe) macht. Als Reaktion darauf erleben wir eine Zeit der Renationalisierung und der Rückkehr der Religionen, die die These von der im Zuge der Modernisierung unausbleiblichen Säkularisierung (oder Entzauberung) dementiert.15 Diese Rückkehr der Religion, der im islamischen Fundamentalismus, in dem er sich mit machtpolitischen Absichten mischt, am augenfälligsten ist, manifestiert sich auch in den alten, scheinbar aufgeklärten Nationen des Abendlandes, wie auch säkulare Denker wie Habermas in Deutschland und Régis Debray16 in Frankreich erkennen müssen. Und dies nicht nur als individuelle Suche nach Sinnstiftung, sondern als Merkmal nationaler oder kultureller Identität.

V. Gibt es schon Modelle einer politischen Steuerung und Lösung der Konflikte der Weltgesellschaft? Wenn ja, wie wären sie zu verstärken? Wenn die internationalen Institutionen, d. h. v. a. die UNO und ihre Satellitenorganisationen (IWF, IHO, UNESCO etc.) ihre Rolle in der Steuerung und Lösung der internationalen Konflikte weiter spielen wollen, müssen sie unbedingt reformiert werden. Es geht z. B. nicht an, dass der Sicherheitsrat noch in der Zusammensetzung von 1945 sitzt und entscheidet. Er repräsentiert so nicht mehr die reelle Machtverteilung in der Welt. Alle diese Organisationen erscheinen noch allzu oft als die Arme der westlichen Hegemonie.

14 Siehe den Beitrag von Nolte mit dem Satz: „Eine unsolidarische Globalisierung wird kaum durchsetzbar sein.“ 15 Siehe den Beitrag von Herbert Reginbogin, der den Titel von Gilles Kepel „La revanche de Dieu“ reflektiert. Diese Rückkehr der Religion würde die Grundlage für eine transnationale Identität und somit ein Band zwischen den Zivilisationen liefern. Gleichsam eine Alternative für die heutige „entzauberte“ Globalisierung. Man denkt hier an die verbindende Rolle der Weltreligionen und insbesondere des Christentums bei Arnold Toynbee. 16 Ich denke hier an die Denkschrift, die Régis Debray über den Unterricht der „religiösen Tatsache“ und seine Kompatibilität mit unserer Laizität 2002 für das französische Erziehungsministerium redigiert hat.

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Zu unterstützen sind hingegen alle Nichtregierungsorganisationen, die über die nationalen Grenzen hinweg globale Probleme angehen wie Umweltschutz, Frauenemanzipation, Verteidigung der Menschenrechte, Hungersnöte etc. Da sie alle Erdteile betreffen, sind diese Probleme am besten geeignet, ein globales Bewusstsein und eine globale „Ethik der Verantwortung“ zu entwickeln, die dann auch in neuen zwischenstaatlichen Verträgen oder Institutionen eine praktische Implementierung finden können (ich denke hier z. B. an die Konvention zum Klimawandel, kurz „Cop 21“). Aber auch hier besteht das Dilemma weiter. Wie können wir es fertigbringen, dass diese Organisationen oder Bewegungen nicht als westlich und somit als hegemonial empfunden und bezeichnet werden? Maria Mesner weist auf diese Schwierigkeit im Hinblick auf die feministische Emanzipationsbewegung hin.17 Marianne Kneuer zeigt ihrerseits, dass die Empörungsbewegungen von 2011 und 2012 trotz ihrer anscheinenden Transnationalität ihrem ursprünglichen nationalen Kontext verhaftet bleiben. Eine kosmopolitische Lösung à la Habermas, die auf einer gelungenen Verrechtlichung der ganzen Welt beruhen würde, d. h. auf der Entstehung eines Weltverfassungspatriotismus, der die universelle Anerkennung der Menschenrechte und der demokratischen Prinzipien mit der Respektierung der kulturellen Verschiedenheit innerhalb der Nationen und zwischen den Nationen verbindet, gehört heutzutage zu den verblassenden Hoffnungen. So denunziert z. B. der Politikwissenschaftler Carlo Masala in seinem letzten Buch „Weltunordnung“18 die Ideologie der Menschenrechte (auch wenn man sie zum Naturrecht „entpolitisiert“) als eine moralische Chimäre, deren Protagonisten nur die Unordnung in der Welt vermehrt hätten. Diese Ideologie (als eine von der Realität abgekoppelte Logik der Idee), die meint, nur das westliche Modell habe universale Gültigkeit, habe nämlich die westlichen Demokratien dazu geführt, überall in der Welt zu intervenieren, um ihre Werte und ihr Regime gleichsam durchzudrücken, was eben zu nicht enden wollenden Kriegen und menschlichen Katastrophen stark beigetragen und ihren eigenen Interessen und ihrer eigenen Sicherheit entgegengewirkt habe (Flüchtlingsströme, nationalistische Bewegungen etc.). Beispiele sind die Interventionen in Afghanistan, Libyen, im Irak, in Syrien. Masala, der sich selbst zur „neorealistischen Schule“ (Kenneth Waltz) der Politikwissenschaft rechnet, behauptet, die weltweite Demokratisierung sei eine Illusion und fordert nun die westlichen Staatsnationen dazu auf, sich auf ihre eigenen Interessen zurückzubesinnen und nunmehr sie allein zu vertreten. Masala spricht ein wenig wie damals Carl Schmitt oder Oswald Spengler. Er stellt fest, dass die internationalen Organisationen wie die UNO an Autorität verloren haben und auch von den Gründervätern wie den USA außer Acht gelassen werden, um internationale Ordnungspolitik im Alleingang zu betreiben.

17 Siehe den Beitrag von Maria Mesner mit dem Satz: „Aus dieser Perspektive wird die Fokussierung auf aus dem Westen stammende Konzepte von Geschlecht und Sexualität stark kritisiert, auch wenn die Welt nicht ohne die oft mit Gewaltprozessen einhergehende Globalisierung europäischen und nordamerikanischen Ursprungs gedacht werden könne.“ Die Miss-World-Wahl in Indien im Jahre 1996 löste heftige Protestaktionen, Demonstrationen, ja sogar Attentate aus! 18 Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, München 2016.

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Schlussbetrachtungen

Heutzutage melden sich überall die Realpolitiker zu Wort. In Frankreich folgt z. B. der Ex-Revolutionär und Jünger von Che Guevara, Regis Debray, Samuel Huntington und denunziert den „zeitgenössischen Mythos“ vom Dialog zwischen den Kulturen.19 In seinem Buch „Civilisation“ greift er auf die Antithese zwischen Kultur und Zivilisation zurück, und behauptet wie Spengler, dass die Identität jeder Kultur in einem irreduziblen Kern liegt, der jede tiefe Kommunikation mit den anderen Kulturen verhindert. Das traditionelle Gepräge der Kultur widerstehe der Prägung durch die Globalisierung.20 Nun kann man sich fragen, ob die „balance of power“, die Rückkehr zur alleinigen Verteidigung der nationalen oder imperialen Interessen, in Europa oder irgendwo in der Welt, besser dazu geeignet ist, auf lange Frist Ordnung in der Welt zu schaffen. Sagte doch François Mitterrand, der Nationalismus bedeute nichts als Krieg. Masalas (oder Spenglers, Schmitts oder Debrays) realistische Einschätzungen können uns von Illusionen befreien, und die westlichen Demokratien von einer unüberlegten Interventionspolitik ablenken, der übrigens nicht nur idealistische Motivationen zugrunde liegen. Aber können wir auf die Forderung nach mehr gegenseitigem Verständnis, mehr Toleranz, mehr Solidarität verzichten? Und sollten wir darauf verzichten, Wege zu finden, um den Konflikten durch globale juristische (d. h. durch Konsens vertraglich festgeschriebene) Dispositionen und Organisationen vorzubeugen oder sie auch auf demselben Weg zu beheben? Sollten wir auf unsere Werte und auf den Glauben auf deren Universalisierbarkeit nur deshalb verzichten, weil sie (manchmal von uns selbst) missbraucht worden sind oder von anderen nicht ohne weiteres akzeptiert werden?21 Freilich: Nicht Angleichung an ein einziges Maß, sondern Ausgleich tut not, Ausgleich im Sinne von Max Scheler,22 d. h. als Synthese bzw. Hybridisierung kultureller Elemente verschiedener Herkunft, die sich gegenseitig ausgleichen und befruchten. So verstanden könnte und sollte die bisher hauptsächlich instrumental gebliebene Weltgesellschaft zum Instrument einer Weltsolidarität werden. Der von Maria Mesner zitierte indisch-britische Soziologe Pankay Mishra ist heute nicht der einzige (und nicht der erste), der das Scheitern der Aufklärung feststellen zu können glaubt. Er plädiert für eine neue Aufklärung. Aber welche? Gescheitert sind vielleicht ein eindimensionaler Humanismus und ein dogmatischer Fortschrittsglaube, der meinte, durch das Wissen könne man alle Menschen zur Tugend und zum Glück führen, und die Tendenz hatte, diese Botschaft der ganzen Welt aufdrängen zu wollen. Aber Aufklärung heißt Kritik, d. h. auch und zunächst Selbstkritik, und die Aufklärung war auch die Zeit, die die Verschiedenheit der Kulturen und der Menschen entdeckte (Montesquieu: Wie kann man Perser sein?). Übrigens: Pankay Mishra (und

19 Régis Debray, Un mythe contemporain: le dialogue des civilisations, CNRS, 2007. 20 Régis Debray, Civilisation. Comment nous sommes devenus américains, Gallimard 2017. 21 Ein kanadischer Kollege indischer Herkunft sagte mir einmal: „Lasst uns mit Euren Menschenrechten in Ruhe. Unser Kastensystem ist ein wichtiger Stabilitätsfaktor unserer Gesellschaft.“ 22 Max Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Späte Schriften, Bonn 1995, 145–170.

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Debray, Spengler, Schmitt und viele andere sogenannte konservative Zivilisationskritiker) führen in einem gewissen Sinn mit ihrer Kritik das Werk der Aufklärung fort! Kants ewiger Friede wird selbstverständlich eine Utopie bleiben, aber der Weg zur Utopie, die schwierige Suche nach einem Universalismus, der die Verschiedenheit der kulturellen Identitäten innerhalb der Nationen und zwischen den Nationen respektiert, sind ehrenvoller als die Abkapselung in einer einseitigen unveränderlichen nationalen Identität, die nur zu Konflikten führen kann.23 Robert Legros unterscheidet in seinem Buch „L’idée d’humanité“ (Paris 1990) zwei Arten des Humanismus: einen, der den Menschen durch seine Herkunft, einen anderen, der ihn im Gegensatz dazu durch seine Bestimmung definiert. Für Habermas ist, wie übrigens schon für Friedrich Nietzsche, die Nation keine res nata sondern eine res facta. Das Volk ist für ihn keine vorpolitische Vorgabe und er distanziert sich scharf von der Schmittschen Konzeption der volksbildenden „Herkunftsmächte“. Er folgt hier dem Historiker Hagen Schulze, der von der Erfindung der Volksnation sprach. Nation wird also nicht durch eine gemeinsame Herkunft, sondern durch den gemeinsamen Willen konstituiert, eine Nation zu bilden (man könnte hier auch an Renans tägliches Plebiszit denken). Ein solches Konstrukt kann also nicht das alpha und omega sein und lässt die Hoffnung auf weitere, trans- und übernationale Konstruktionen zu, mit denen der Mensch sich identifizieren kann, wenngleich eine Weltgesellschaft die Merkmale der Nation (Legitimation durch gleiche Staatsbürger, Staatsgrenzen und kulturelle Entität mit gemeinsamer Vergangenheit) naturgemäß nicht bekleiden wird. Deshalb kann der gelungene Aufbau eines geeinigten Europa (siehe den Beitrag von Michael Gehler) auf dem vernünftigen und friedlichen Weg der Verträge und der gegenseitigen Kompromisse und Souveränitätsabtretungen eine Muster- und Vorreiterrolle spielen. Die Wahlen in den Niederlanden, Österreich und Frankreich im Jahre 2017 haben gezeigt, dass die Identifikation mit Europa doch nicht so tief gesunken ist. Diese Sicht setzt selbstverständlich voraus, dass eine vernünftige Politik betrieben wird, die Finanz und Technik kontrolliert, das bisher geheiligte Wachstum in Grenzen hält und den Eigennutz der Weltmächte eindämmt. Das ist wahrscheinlich nicht durch moralische Appelle und vielleicht auch nicht nur durch Institutionen und Verträge zu bewirken. Dem Menschen zur Vernunft zu verhelfen, kann vielleicht eher die Weltrisikogesellschaft, die Ulrich Beck beschrieben hat. Der allein auf den Nutzen orientierte Fortschritt hat Übel und Gefahren erzeugt, die die Menschheit als Ganzes betreffen und zum Bewusstsein gegenseitiger Zusammengehörigkeit beitragen. Die größten Gefahren kommen von der Entfesselung der zwei Potenzen (im Burckhardtschen Sinne des Wortes), auf denen die Weltgesellschaft beruht: dem internationalen Finanzkapitalismus und der Technik. Die okzidentale Rationalität ist bei einem Punkt angelangt, wo die Hauptfrage ihre Selbstbeherrschung ist. Die Weltgesellschaft ist, wenn man will, ihr eigener Feind geworden. In seinem Buch über die Weltri23 Man lese in dieser Hinsicht das kleine (freilich ein bisschen allzu idealistische) Buch von Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007.

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Schlussbetrachtungen

sikogesellschaft nennt Ulrich Beck drei Hauptrisiken: die Finanzkrisen, die die ganze Welt in Unordnung bringen und viel Elend und Schmerz bereiten können, die Umweltkatastrophe und den Terrorismus. Der Terrorismus ist auch mit der Weltgesellschaft in Zusammenhang zu bringen, denn nicht so sehr seine reellen Schäden als vielmehr die psychische Wirkung, die er durch die globale Mediatisierung seiner Attentate erreicht, macht seine Gefährlichkeit aus. Beck bleibt optimistisch. Er meint, das Bewusstsein des Risikos sei nicht die Katastrophe, sondern eben die Bedingung einer reflexiven Moderne, der (als Folge und Korrektur einer eindimensionalen Aufklärung) die Vorbeugung der Katastrophen gelingen könne. Auch Günther Anders meinte angesichts der atomaren Drohung, die Angst sei die beste Ratgeberin der Menschheit geworden. Denken wir an das große Wort von Hölderlin aus seiner Hymne „Patmos“: „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.“

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VI. Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Acampada AFTA Amnesty International Apple APTA ASEAN

Protestbewegung in Spanien 2011/12 ASEAN Free Trade Area/ASEAN-Freihandelszone internationale Menschenrechtsorganisation kalifornisches Technologieunternehmen Asia-Pacific Trade Agreement/Asien-Pazifik-Handelsabkommen Association of Southeast Asia Nations/Verband Südostasiatischer Nationen Attac globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation BBC British Broadcasting Corporation/Rundfunkanstalt in Großbritannien BNL-Staaten Benelux-Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg) BIP Bruttoinlandsprodukt Blogger Verfasser von Blog-Beiträgen im Internet (Tagebuch oder Journal) Brexit Austritt Großbritanniens aus der EU BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika BSP Bruttosozialprodukt Byelorussian SSR Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik CACM Central American Common Market/Gemeinsamer zentralamerikanischer Markt CDHRI Cairo Declaration on Human Rights in Islam/Kairoer Erklärung zu den Menschenrechten im Islam CEO Chief Executive Manager/Geschäftsführer eines Unternehmens COMECON Council of Mutual Economic Aid/Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe/RGW UN-Klimakonferenz Paris 2015, 21st Conference Cop 21’ CRTA Committee on Regional Trade Agreements/WTO-Ausschuss für regionale Handelsabkommen CTD Committee on Trade and Development/WTO-Ausschuss für Handel und Entwicklung DDR Deutsche Demokratische Republik DOHA-Runde DOHA-Development Agenda/DDA DOHA-Entwicklungsagenda der WTO 2001 Donbass Region in der Ost-Ukraine DRY Protestbewegung/Democracia Real Ya! (Facebook-Adresse)/ DRY@democracia real (Twitter) E-Commerce Internet- bzw. Online-Handel

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Abkürzungsverzeichnis

EBRD ECU EDV EFTA EG EGKS EIB EMRK ENP EPZ ERP ESM EU EuGH Euro Europol „EWF“ EWG EWS EZB Facebook FdG Frontex G7 G8 G20

GASP GATS

European Bank for Reconstruction and Development/Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung European Currency Unit/Europäische Währungseinheit Elektronische Datenverarbeitung European Free Trade Association/Europäische Freihandelsassoziation Europäische Gemeinschaft/en Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Investitionsbank/European Investment Bank Europäische Menschenrechtskonvention/Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms Europäische Nachbarschaftspolitik Europäische Politische Zusammenarbeit European Recovery Program/Marshallplan/Wiederaufbauprogramm für Europa Europäischer Stabilitätsmechanismus Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Union Europäische Zahlungseinheit Agentur der EU für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (noch) nicht existierender „Europäischer Währungsfonds“ Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Währungssystem/EMS/European Monetary System Europäische Zentralbank soziales Netzwerk Protestbewegung/Fórum das Gerações (Facebook-Adresse)/FdG@ movimento 12m (Twitter) Frontières Extérieures/Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Gruppe der sieben führenden Industrieländer: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA G7-Staaten unter Einschluss Russlands G8-Staaten sowie Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei sowie ein Vertreter der EU Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU General Agreement on Trade in Services/Abkommen über Handel mit Dienstleistungen

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Abkürzungsverzeichnis

GATT Gazprom GCC-Countries GDP GESVP Gini-Koeffizient GNP Google Greenpeace Grexit IAEO IBRD ICCPR ICESCR

IHO IMF INGO iPhone ITA ITO IWF Komintern KP Russland LGBT rights Montanunion NAFTA NATO

General Agreement on Tariffs and Trade/Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen/Vorgänger der WTO russisches Erdgasförderunternehmen Gulf-Cooperation Council States/Staaten im Golf-Kooperationsrat Gross Domestic Product/Bruttoinlandsprodukt/BIP Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik statistisches Maß für Ungleichverteilungen Gross National Product/Bruttosozialprodukt/BSP Internet-Suchmaschine Umweltschutzorganisation angenommener Austritt Griechenlands aus der EU Internationale Atomenergie-Organisation/International Atomic Energy Agency/IAEA International Bank for Reconstruction and Development/Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung International Convenant on Civil and Political Rights/Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte International Convenant on Economic, Social and Cultural Rights/ Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte International Health Organization/Internationale Gesundheitsorganisation International Monetary Fonds/IWF/Internationaler Währungsfonds International Nongovernment Organization/Internationale Nichtregierungsorgansation Smartphone-Modellreihe Information Technology Agreement/WTO Abkommen über Informationstechnologie International Trade Organization/Internationale Handelsorganisation Internationaler Währungsfonds/IMF Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Russlands laws affecting lesbian, gay, bisexual and transgender people/ Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern EGKS/Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl North American Free Trade Agreement/Nordamerikanische Freihandelszone North Atlantic Treaty Organization/Nordatlantikpakt

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Abkürzungsverzeichnis

NGO Occupy-Bewegung OECD OEEC OF OL OWS Oxfam PAS P.E.N. RGW RTA SALT SAR Schengen SIPRI SRM TISA TPP TRIPS TTIP Twitter UDHR UdSSR Ukrainian SSR

Non-Governmental Organization/Nichtregierungsorganisation Protestbewegung/OWS/Occupy Wall Sreet Organization for Economic Co-operation and Development/Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Organization for European Economic Co-operation/Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa OccupyFrankfurt (Facebook-Adresse)/OF@OccupyFrankfurt (Twitter) OccupyLondon (Facebook-Adresse)/OL@OccupyLondon (Twitter) Occupy Wall Street (Facebook-Adresse)/OWS@OccupyWallSt (Twitter) Internationaler Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen Parti Islam Se-Malaysia/islamische politische Partei in Malaysia Autorenverband: Poets, Essayists, Novelists Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe/COMECON Regional Trade Agreement/Regionales Handelsabkommen Strategic Arms Limitation Talks/Gespräche zur Begrenzung strategischer Rüstung Special Administrative Region/Sonderverwaltungszone (hier: impact WTO on Hongkong SAR) Abkommen zur Abschaffung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der EU Stockholm International Peace Research Institute/Stockholmer Internationales Friedensforschungsinstitut Single Resolution Mechanism/einheitlicher Bankenabwicklungsmechanismus Trade in Services Agreement/Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen Trans-Pacific Partnership/Transpazifische Partnerschaft Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights/WTO-Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums Transatlantic Trade and Investment Partnership EU-USA/Transatlantisches Freihandelsabkommen Mikroblogging-Dienst Universal Declaration of Human Rights/Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik

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Abkürzungsverzeichnis

UMNO UN UNCCA/UNFCCC UNCCC UNDP UNESCO UNO US WHA WHO World Vision WTO

United Malays National Organisation/national-konservative Partei in Malaysia United Nations/Vereinte Nationen United Nations Framework Convention on Climate Change/Klimarahmenkonvention der UN United Nations Climate Change Conference/COP 21/21ste UNWeltklimakonferenz United Nations Development Program/Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen United Nations Educational, Scientific, and Cultural Organization/ Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der UNO United Nations Organization/Vereinte Nationen United States/Vereinigte Staaten/USA World History AssociationAkadem.Organisation zur Förderung der Studien über Weltgeschichte World Health Organization/Weltgesundheitsorganisation Internationale Evangelikale Hilfsorganisation World Trade Organization/Welthandelsorganisation/Nachfolgerin des GATT

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Autorinnen und Autoren

Mario Bosincu, adjunct professor of German Literature, University of Sassari. 2004 Degree (MA level) in Foreign Languages and Literatures, obtained with full marks and highest honours at the University of Sassari. 2011 PhD in Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation, obtained from Hildesheim University, under joint supervision of thesis with Sassari University, summa cum laude. Scholarships obtained at the University of Sassari: (2006–2008) research theme: the literary representation of the discontent with technological civilization in the late 19th century and in the early 20th century; (2010–2012; 2014–2015) research themes: 1) Ernst Jünger’s cultural criticism of modernity; 2) anarchism as a secularized form of messianism. Selection of Publications: Autorschaft als Widerstand gegen die Moderne. Über die Wende Ernst Jüngers, Würzburg, 2013; Sulle posizioni perdute. Forme della soggettività moderna dall’anticapitalismo romantico a Ernst Jünger, Milano, 2014; “Morte dello spirito. Nascita e dissoluzione del soggetto e dell’eschaton rivoluzionari Herzen, Proudhon, Bakunin e Hakim Bey”, in: P. Fiorato/M. Bosincu (eds.), Il futuro in eredità. Riflessioni contemporanee su messianismo e secolarizzazione, Milano 2016. Michael Corsten, seit 2008 Professor für Soziologie an der Universität Hildesheim. Promotion 1991 an der Universität Marburg; 1997 Habilitation an der FU Berlin. Wichtige Stationen seines Werdegangs: Tätigkeit am MPI für Bildungsforschung (1991–2000) und Arbeit am Sonderforschungsbereich 580 an den Universitäten Jena und Halle (2001–2008). Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie (darin vor allem Wissenssoziologie und pragmatische Sozialtheorien), Lebenslauf- und Generationsforschung, Kommunikations- und Mediensoziologie. Veröffentlichungen (Auswahl): The Time of Generations, in: Time & Society 8 (2), 249– 272; Karl Mannheims Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 2010; Grundfragen der Soziologie, Konstanz 2011; zusammen mit Michael Beetz/Hartmut Rosa/Torsten Winkler, Was bewegt Deutschland?, Weinheim, 2014; zusammen mit Michael Gehler/Marianne Kneuer (Hrsg.), Welthistorische Zäsuren. 1989 – 2001 – 2011, Hildesheim 2016. Alexander Demandt, Professor em. für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin bis 2005. Studium der Geschichte und Lateinischen Philologie in Tübingen, München und Marburg. Akademische Lehrer: Joseph Vogt, Karl Friedrich Stroheker, Wolfgang Schadewaldt, Fritz Taeger, Karl Christ und Christian Habicht. Dissertation 1964 bei Habicht (Zeitkritik und Geschichtsbild bei Ammianus Marcellinus). Als Assistent an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main erhielt er 1964/65 das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts. 1966 wurde er Assistent an der

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Autorinnen und Autoren

Universität Konstanz, 1970 seine Habilitation zum Thema Magister militum. Demandt war von 1974 bis 2005 Professor für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag in den Bereichen der römischen Welt und in der Spätantike, außerdem beschäftigt er sich mit dem Phänomen des Niedergangs in der Geschichte, Kulturvandalismus, Geschichtstheorie, Geschichtsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte. Im Jahr 2003 wurde Demandt mit dem Ausonius-Preis ausgezeichnet, 2008 erhielt er den Kulturpreis des Wetteraukreises. Er ist seit 1990 Korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts sowie seit 2000 Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen (Auswahl): Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin 2007 (3., durchgesehene Auflage. ebenda 2009); Alexander der Große. Leben und Legende, München 2009; Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Berlin 2010; Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln 2011; Pontius Pilatus, München 2012; Zeitenwende. Aufsätze zur Spätantike, Berlin 2013; Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015. Ralf Elm, geboren 1958, außerplanmäßiger Professor im Fach Philosophie/Ethik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Akademischer Werdegang an den Universitäten Dortmund und Tübingen. Wissenschaftlicher Mitarbeiter 2000–2002 am Zentrum für Europäische Integrationsforschung in Bonn. Seit 2002 Pädagogische Hochschule Weingarten, seit 2008 Leitung und Organisation des dortigen Studium generale. Veröffentlichungen (Auswahl): Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn 1996; Ethik, Politik und Kulturen im Globalisierungsprozess, Bochum 2003; Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien, Sankt Augustin 2004; „Vernunft“ und „Freiheit“ in der Kultur Europas. Ursprünge, Wandel, Herausforderungen, Freiburg 2006; Grenzlinien. Interkulturalität und Globalisierung: Fragen an die Sozial- und Geisteswissenschaften, Schwalbach 2010. Michael Gehler, geboren 1962, seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim, 1999–2006 Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. 1992–1996 Research Fellow des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Wien. Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) in Bonn seit 2000. Inhaber eines Jean-Monnet ad personam Chair für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Integrationsgeschichte, verliehen von der EU-Kommission, von 2013–2017 Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Veröffentlichungen (Auswahl): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, gem. m. Robert Rollinger, 2 Teilbände, Wiesbaden 2014; The Revolutions of 1989. A Handbook (Österreichische Akademie der Wissenschaften/PhilosophischeHistorische Klasse/Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichts-

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Autorinnen und Autoren

forschung/Internationale Geschichte/International History 2), gem. m. Wolfgang Mueller/ ArnoldSuppan, Wien 2015; Banken, Finanzen und Wirtschaft im Kontext europäischer und globaler Krisen. Hildesheimer Europagespräche III (Historische Europa-Studien 11), gem. m. Marcus Gonschor/Hinnerk Meyer, Hildesheim – Zürich – New York 2015; Welthistorische Zäsuren. 1989 – 2001 – 2011 (Hildesheimer Universitätsschriften31), gem. m. Michael Corsten/Marianne Kneuer, Hildesheim – Zürich – New York 2016; Europa: Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt. 3., komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, Reinbek 2017. Xuewu Gu, geboren 1957 in China, seit Oktober 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Studium der Politikwissenschaften an den Universitäten Wuhan, Köln und Bonn; Promotion 1990 in Bonn, Habilitation 1997 in Freiburg. Von 1991 bis 2002 lehrte er Politikwissenschaft als Wissenschaftlicher Assistent, Privatdozent, Vertretungsprofessor und Senior Fellow an den Universitäten Freiburg, Trier und Bonn, von 2002 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Politik Ostasiens und Direktor der Sektion Politik Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum, Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): „Ausspielung der Barbaren“: China zwischen den Supermächten in der Zeit des Ost-West-Konfliktes, Baden-Baden 1998; mit Maximilian Mayer, Chinas Energiehunger: Mythos oder Realität?, München 2007; Konfuzius zur Einführung, 3. Auflage, Hamburg 2008; Theorien der internationalen Beziehungen, 2. völlig überarbeitete und erweiterte Aufl., München 2010; Die große Mauer in den Köpfen: China, der Westen und die Suche nach Verständigung, Hamburg 2014; mit Jürgen Küsters (Hrsg.) Was Deutschland und die Welt im Innersten zusammenhält. Politik und Intellektuelle in der deutschen Zeitgeschichte und die Rolle Deutschlands in einer globalisierten Welt, Sank Augustin 2015. Sylvia Hahn, ao. Univ.-Prof. am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg; von 2006 bis 2009 stellvertretende Dekanin und von 2009 bis 2011 Dekanin der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät; seit Oktober 2011 Vizerektorin für Internationale Beziehungen und Kommunikation. Forschungsaufenthalte am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen (19985/86) und an der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure (1993 und 1995); 1999 Visiting Professor am Humanities Research Centre der Oxford Brookes University; 2001 Forschungsstipendium des Swedish Council for Research in the Humanities and Socities als Visiting Professor der Universität Stockholm; 2001–2002 Scholar in Residence der Fulbright Commission, JCC, New York. Forschungsschwerpunkte: Migrations-, Stadt,- und Geschlechtergeschichte, Geschichte der Arbeit. Veröffentlichungen (Auswahl): Historische Migrationsforschung, Frankfurt am Main/ New York 2012; Migration-Arbeit-Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17.

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Autorinnen und Autoren

bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008; mit Stan Nadel (Hrsg.), Asian Migrants in Europe, Göttingen 2014; Armut in Europa 1500–2000, Innsbruck 2010, Studienverlag (Hrsg. mit Nadja Lobner und Clemens Sedmak); 2006 – (Hrsg. mit Andrea Komlosy und Ilse Reiter), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung. Europa 16.–20. Jahrhundert, Innsbruck 2006, Studienverlag; Walz – Migration – Besatzung (Hrsg. mit Ingrid Bauer und Josef Ehmer). Historische Szenarien des Eigenen und des Fremden, Klagenfurt 2002. Harald Kleinschmidt, geboren 1949; em. Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Tsukuba, 1989–2015; nebenamtlicher Professor an der Universität Tokyo, 1995–2010; Gastprofessor an der Universität Hildesheim, seit 2016; Senior Fellow am Alfried Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald, 2016–2017. Veröffentlichungen (Auswahl): Die Legitimationsfalle. Universal-, Expansions- und Völkerrechtshistoriografie wird kolonialistische Ideologie (Zur Kritik der Geschichtsschreibung, 14), Gleichen, 2015; Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Tübingen 2013; Diskriminierung durch Vertrag und Krieg. Zwischenstaatliche Verträge und der Begriff des Kolonialkriegs im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge 59), München 2013; Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven (Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 24), Münster 2011; Legitimität, Frieden, Völkerrecht. Eine Begriffs- und Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 157), Berlin 2010; The Nemesis of Power. A History of International Theories, London: Reaktion Books 2000. Geschichte der internationalen Beziehungen, Stuttgart 1998. Marianne Kneuer, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim. 1994 bis 1998 Planungsstab von Bundespräsident Herzog. 2011–2013: Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP); seit 2013 Mitglied des Executive Committe der International Political Science Association (IPSA), seit 2016 Stellvertretende Präsidentin; Chair des IPSA-Research Committees „Quality of Democracy“; Mitherausgeberin der „Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft“ (VS Verlag) und verschiedener Buchreihen u. a. „Demokratiestudien“ (Nomos-Verlag). Forschungsschwerpunkte: Demokratieforschung; internationale Dimension von Demokratisierung und Autokratien; Internet in Demokratien und Autokratien; Europäische Integration. Veröffentlichungen (Auswahl): mit Samuel Salzborn, Web 2.0 – Demokratie 3.0? Digitale Medien und ihre Wirkung auf demokratische Prozesse. Sonderheft der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Springer, Wiesbaden 2016; mit Brigitte Geißel/Hans-Joachim Lauth, Measuring the Quality of Democracy. Special Issue der International Political Science Review, Sage, Norfolk, 11/2016; mit Carlo Masala, Solidarität. Politikwissenschaftliche Zugänge zu einem vielschichtigen Begriff (Sonderheft der Zeitschrift für Politikwissenschaft), Baden-Baden 2015; Hans-Joachim Lauth/Gert Pickel Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft., VS Springer Verlag, Wiesbaden 2016; mit Saskia Richter, Soziale Me-

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Autorinnen und Autoren

dien in Protestbewegungen. Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Frankfurt/New York 2015. Franz Mathis, geboren 1946, war seit 1993 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck und ist seit 2010 im Ruhestand. Gastprofessuren in Salzburg, Brixen, Trient und New Orleans. Forschungsaufenthalte u. a. an der Business School in Harvard. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte, Unternehmensgeschichte, Bedingungen wirtschaftlicher Entwicklung im österreichischen, europäischen und außereuropäischen Rahmen. Veröffentlichungen (Auswahl): Mit der Großstadt aus der Armut. Industrialisierung im globalen Vergleich, Innsbruck 2015; Unter den Reichsten der Welt – Verdienst oder Zufall? Österreichs Wirtschaft vom Mittelalter bis heute, Innsbruck 2007; Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 11), München 1992; Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellungen, Wien 1987; Big Business in Österreich II. Wachstum und Eigentumsstruktur der österreichische Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert. Analyse und Interpretation, Wien 1990. Reinhard Mehring, geboren 1959, Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der PH-Heidelberg, Veröffentlichungen (Auswahl): Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 5. Aufl. 2017; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; Heideggers ‚große Politik‘. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016; Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk, Wirkung, Aktualität, Freiburg 2017; Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, Würzburg 2018. Gilbert Merlio, Emeritierter Professor der Germanistik (Ideengeschichte) an der Sorbonne. Studium der Germanistik in Lille, Paris, Saarbrücken. Agrégé de l’Université. Studienrat in Roubaix und Bordeaux (1957–1963); Dozent (Maître-assistant- und Professor der Germanistik an der Universität Bordeaux (1966–1993). Gastprofessor für Germanistik an der Universität Hamburg (1983). Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne 1993–2003. Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Dresden, (2000–2009), Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung Ettersberg Weimar, Gründungsmitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar (MSH Paris); Mitglied des „Labex“ IRICE (Identités, Relations Internationales et Civilisations de l‘Europe, Paris I, Paris IV). Veröffentlichungen (Auswahl): Oswald Spengler, témoin de son temps, Stuttgart 1982; Karl Jaspers, témoin de son temps (Hrsg.), Bordeaux 1987; Les résistances allemandes à Hitler, Paris 2003; mit Paolo D‘Iorio, Le rayonnement européen de Nietzsche, Paris 2004; Hrsg. mit Gérard Raulet, Linke und rechte Kulturkritik, Bern 2005; Hrsg. mit M. Gangl und M. Ophälders, Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, Bern 2009; Hrsg. mit N. Pelletier,

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Autorinnen und Autoren

Les Lumières. Héritage et mission, Bordeaux 2012; Hrsg. mit Daniel Meyer, Spengler ohne Ende. Ein Rezeptionsphänomen im internationalen Kontext Bern 2014, Hrsg. mit O. Agard, M. Gangl, F. Lartillot, Figuren der Kritik, Bern 2015. Maria Mesner, Univ.-Doz. Dr., Studium der Geschichte und Deutschen Philosophie an der Universität Wien. 1994 Promotion zur Dr. phil. („Frauensache? Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch in Österreich“), 2004 Habilitation („Geburten/Kontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert“, in überarbeiteter Fassung erschienen 2010), von 1986 bis 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Renner-Instituts Wien, seit 1996 Universitätslektorin an den Universitäten Wien, Salzburg, Linz und Prag, Forschungsaufenthalte an der New School for Social Research, New York City, (1999) sowie am Rockefeller Archives Center, Tarrytown, NY (2000), seit 2000 Leiterin des Kreisky-Archivs Wien, Visiting Professor am History Department der New York University, New York City, im Sommersemester 2007, seit 2012 Senior Lecturer am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, seit 2015 Leiterin des Referats Frauenforschung der Universität Wien, seit Oktober 2016 stv. Institutsvorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, Mitherausgeberin der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), Mitglied des Forschungsverbundes Gender & Agency an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse im Feld des Politischen, Entnazifizierung in Österreich, historische Komparatistik, Geschichte der Reproduktion. Veröffentlichungen (Auswahl): mit Johanna Gehmacher, Land der Söhne. Geschlechterverhältnisse in der Zweiten Republik, Innsbruck – Wien – München 2007; Zäsuren und Bögen, Grenzen und Brüche, Zeit- und Geschlechtergeschichte. Österreich in den 1970er Jahren, in Lucile Dreidemy u. a. (Hrsg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2015, Bd. 2, 1003–1012; „Mama’s got the pill.“ Geschlechterrollen und Fortpflanzungskontrolle in den USA der 1960er Jahre, in: Lutz Niethammer/Silke Satjukow (Hrsg.), „Wenn die Chemie stimmt …“. Geschlechter-beziehungen und Geburtenkontrolle im Zeitalter der „Pille“, Göttingen 2016, 119–135; Die Frau im Käfig. Zur Geschichte der österreichischen Frauenbewegungen in den 1970er Jahren, in: Schallaburg Kulturbetriebsges. m. b. H. (Hrsg.), Die 70er. Damals war Zukunft, Schallaburg 2016, 60–67. Hans-Heinrich Nolte, geboren 1938, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, Gastprofessuren an den Universitäten Lincoln/Nebraska, Woronesch und Wien; Lehraufträge an den Universitäten Bielefeld, Hildesheim, St. Petersburg; Research-Fellow am Nobel-Institut in Oslo. Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Weltgeschichte. Veröffentlichungen (Auswahl): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, Hannover 1991; Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme Wien 2005; Weltgeschichte

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Autorinnen und Autoren

des 20. Jahrhunderts, Wien 2009; Geschichte Russlands ³Stuttgart 2012 (= Reclam 18960); zusammen mit Bernd Bonwetsch/Bernhard Schalhorn: Quellen zur Geschichte Russlands, Stuttgart 2014 (= Reclam 19269); Hrsg. u. a.: Innere Peripherien, Bd. 1 Göttingen 1991/3Stuttgart 2001; Häftlinge aus der UdSSR in Bergen-Belsen, Frankfurt 2001; Ilja Al’tman: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945, übersetzt, Gleichen 2008. Jürgen Nielsen-Sikora, geboren 1973, Hans Jonas-Institut der Universität Siegen. Studium der Philosophie, Pädagogik, und Psychologie von 1995 bis 1999 mit Abschluss als DiplomPädagoge. Promotion im Jahr 2002 bei Holger Burckhart im Fach Philosophie. Stipendiat der Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen (2000–2002), Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Didaktik der Geschichte und Geschichte der Europäischen Integration, 2009 wurde er Akademischer Rat. Habilitation 2011 bei Michael Gehler und Tätigkeit als Privatdozent an der Universität Hildesheim. 2012 Wechsel zur KonradAdenauer-Stiftung in die Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für ChristlichDemokratische Politik und Leitung der dortigen Abteilung Zeitgeschichte. Dezember 2014 Wechsel an den Lehrstuhl für Bildungsphilosophie der Universität Siegen, wo er für das Hans Jonas-Institut verantwortlich zeichnet. Nielsen-Sikora wurde mehrfach von der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wie auch von den Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnet. Veröffentlichungen (Auswahl Monografien): Europa der Bürger, Stuttgart 2012. (Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 4); Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung, Darmstadt 2017. Athanassios Pitsoulis, geboren 1973 ist seit 2013 Professor für Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim. Pitsoulis erhielt eine Reihe von Preisen und Auszeichnungen, so 1997 den ersten Preis beim internationalen Essay-Wettbewerb der European Business School und der Ludwig Erhard Stiftung und engagiert sich u. a. als Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Ökonomische Bildung für die Förderung der ökonomischen Allgemeinbildung. Seine breit gefächerten Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Ökonomische Bildung der Public Choice & Political Economy, der Neuen Institutionenökonomik sowie der Wirtschaftsgeschichte. Veröffentlichungen (Auswahl): mit S.C. Schwuchow, Holding out for a better deal: Brinkmanship in the Greek bailout negotiations, in: European Journal of Political Economy, 48, 2017, 40–53; mit W. Berger, M. Pickhardt, A. Prinz, J. Sardá, The hard shadow of the Greek economy: New estimates of the size of the underground economy and its fiscal impact, in: Applied Economics, 46/18, 2014, 2190–2204; mit A. Lange, Sources of politicoeconomic attitudes: students’ introspections, in: Social Psychology of Education, 16/1, 2013, 45–87; mit J. Schnellenbach, On property rights and incentives in academic publishing, in: Research Policy, 41/8, 2012, 1440–1447.

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Autorinnen und Autoren

Herbert Reginbogin, born 1952, Visiting Professor of Applied Sciences at Kehl University, Germany (2016). Adjunct Professor of Law at Touro College Jacob D. Fuchsberg Law Center, New York (2005 –2016). 2011–2015 Professor of International Relations at Cag University, Turkey and 2006–2010 Professor of International Relations at European University of Lefke, Cyprus. Visiting Professor at the Institute of History of Potsdam University, Germany (2006) and Visiting Professor at Ataturk Institute of Bogazici University, Turkey (2005). Selection of publications: with Pascal Lottaz, Notions of Neutrality, Lanham, Maryland, (2018) forthcoming; with Sami Dogru, Rethinking East Mediterranean Security: Powers, Allies & International Law, in: Touro Law Review, New York, (2017); with Robert Vogler/ Jörg Baumberger/Jürg Spiller, Financial Markets of Neutral Countries during World War II together, Zurich 2012; The Faces of Neutrality: A Comparative Analysis of Neutral Countries during World War II, Berlin – London 2009; with Christoph Safferling, The Nuremberg Trials: International Criminal Law Since 1945, Munich 2006. Hans-Jürgen Schröder, geboren 1938, Professor für Zeitgeschichte mit Schwerpunkt anglo-amerikanische Geschichte an der Justus-Justus-Liebig-Universität Gießen, 1980–2003. 1970–1980 stellvertretender Direktor des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte in Mainz. 1990 – 2009 Lehrtätigkeiten an der Arizona State University in Tempe/Arizona, der Universitas Katolik Parahyangan in Bandung/Indonesien und der Westminster International University in Tashkent/Usbekistan. Forschungen zur US-amerikanischen und deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen (Auswahl): Deutschland und die Vereinigten Staaten 1933–1939. Wirtschaft und Politik in der Entwicklung des deutsch-amerikanischen Gegensatzes, Wiesbaden 1970; Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen – Kontroversen (Hrsg.), Stuttgart 1990; Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of World War I 1900–1924, (Hrsg.), Providence/Oxford 1993; mit Mathias Peter, Einführung in das Studium der Zweitgeschichte, Paderborn 1994; Die USA: Ein Empire?, in: Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.), Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, Teil 2, Wiesbaden 2014, 1209–1254. Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen im Exzellenzcluster „Herausbildung normativer Ordnungen“, Vorstandsmitglied des „Deutschen Orient-Instituts“, des „Hessischen Forums Religion und Gesellschaft“, Mitglied der „Hessischen Integrationskonferenz“ und des „Hessischen Präventionsnetzwerk gegen Salafismus“. Seit 2014 leitet sie das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Forschungsschwerpunkte: Islamischer Feminismus und Frauenbewegungen in der islamischen Welt; Konstruktionen von Gender und Sexualität; islamischer Extremismus und Terrorismus; progressiver Islam; Staat- und Nationenbildung; Säkularismus und Religion; Globalisierung.

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Autorinnen und Autoren

Forschungsregionen: Südostasien, Nordafrika, Türkei, Deutschland. Veröffentlichungen (Auswahl): Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften. Frankfurt 2017; Gott näher sein als seiner eigenen Halsschlagader. Fromme Muslime in Deutschland. Frankfurt 2016; Debating salafism, traditionalism and liberalism. Muslims and the state in Germany, in: Moha Ennaji (Hrsg.), New horizons of Muslim diaspora. Basingstoke, Hampshire 2016, 203–228; Die jungen Wilden der Ummah. Heroische Geschlechterkonstruktionen im Jihadismus, in: Friedensgutachten 2015, Berlin, 175–186; Progressive and conservative women’s movements in Indonesia, in: Claudia Derichs (Hrsg.), Women’s movements and counter movements. The quest for gender equality in Southeast Asia and the Middle East. Cambridge: Cambridge Scholars Publishers, 79–106; (Hrsg.), Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt. Bielefeld 2013; (Hrsg.): Gender and Islam in Southeast Asia. Women’s rights movements, religious resurgence and local traditions. Leiden 2013. Richard Senti, Professor em. für Volkswirtschaft an der ETH Zürich. 1955–1961 Studium der Volkswirschaft und Doktorat an der Universität St. Gallen. Nach Anstellungen in der Privatwirtschaft ab 1966 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsforschung der ETH Zürich, 1971–1973 Habilitation. 1973–1074 Forschungsjahr an der University of Wisconsin, USA, von 1977–1980 Visiting Professor an der University of California, Berkeley. Vorsteher des Instituts für Wirtschaftsforschung der ETH Zürich (1982–1994), seit 1988 Mitglied des GATT- bzw. WTO-Panels. Von 1982–2000 Professor an der ETH Zürich: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Außenwirtschaft, internationale Wirtschaftsorganisationen (WTO, EU, NAFTA). Ab 2001 Vorlesungen an der Universität Basel und der Universität Dresden. Schwerpunkte der Lehr- und Forschungstätigkeit sind Außenwirtschaft und internationale Wirtschaftsorganisationen. Veröffentlichungen (Auswahl): Das GATT als System der Welthandelsordnung, Zürich 1986; EG, EFTA, Binnenmarkt, Zürich 1992; NAFTA, Nordamerikanische Freihandelszone, Zürich 1996; WTO, System und Funktionsweise der Welthandelsordnung, Wien und Zürich 2000; Die WTO im Spannungsfeld zwischen Handel, Gesundheit, Arbeit und Umwelt, Baden-Baden 2006; Regionale Freihandelsabkommen, Zürich und Berlin 2013; WTO, Die heute geltende Welthandelsordnung, 8. A., Zürich 2014; TTIP, Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA, Zürich 2015; WTO, System und Funktionsweise der Welthandelsordnung, 2. A., Zürich, Berlin und Wien 2017. Thomas Spielbüchler, geboren 1970, Senior Scientist am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz, 2011 und 2015 Visiting Lektor an der Stellenbosch University, Südafrika, 2007–2011 Universitätsassistent an der Universität Innsbruck. Veröffentlichungen (Auswahl): Paul Kagame: Zwischen Erfolg und Scheitern, in: Political Science Applied 8 (2017), 10–14; Good Governance – A viable Solution?, in: Wolf-

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Autorinnen und Autoren

gang Benedek, e. a. (Hrsg.): An African Spring? Human Rights and Security in Times of Change (Series Human Security Perspectives, Volume 10, Number 1), Graz 2014, 219–231; 100 Tage. Der Völkermord in Ruanda vor den Augen der Welt, in: betrifft WIDERSTAND 109 (2013), 33–39; Afrikanische Integration, in: Andreas Eckert/Birgit Englert/Inge Grau (Hrsg.): Afrika im 20. Jahrhundert (Edition Weltregionen 21), Wien 2011, 75–101. Silvio Vietta, geb. 1941, Professor em. für Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim. Schwerpunkte der Forschung und Publikationen: Expressionismus-, Romantik-, Moderneforschung sowie Forschungen zur Europäischen Kulturgeschichte, zu Martin Heidegger und zur Globalisierung. Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt 2006/07. Veröffentlichungen (Auswahl): Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005, erweiterte Studienausgabe 2007; Der europäische Roman der Moderne, München 2007; Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Bd. I: Von der Romantik zur Renaissance. 2008 (Mhrsg.).Bd. II: Die klassische Moderne 2009 (Mhrsg.), Europa –Europäisierung – Europäistik. 2010 (Mhrsg.); Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung. München 2012 (Brasil. Übersetzung 2015); Literatur und Rationalität. Funktionen der Literatur in der europäischen Kulturgeschichte. München 2014; ‚Etwas rast um den Erdball‘. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik. München 2015; Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat. München 2016; Europas Werte. Geschichte – Konflikte – Chancen. Erscheint Herbst 2018. Sanne Ziethen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim. Studium der Kulturwissenschaften und Ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim, u. a. bei Prof. Dr. Silvio Vietta. 2000–2001 Auslandsstudium an der Università degli studi di Pavia. Diverse Praktika im In- und Ausland (Z. B. Villa Vigoni, Como). 2012 Abschluss der Promotion mit summa cum laude bei Prof. Dr. Silvio Vietta und Prof. Dr. Michael Gehler (beide Universität Hildesheim) sowie Prof. Dr. Renate Stauf (TU Braunschweig). Nach einigen Jahren in der Privatwirtschaft/Projektmanagement seit Wintersemester 2015 als Mitarbeiterin am Institut für Geschichte in Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Nationalismus- und Feindbildforschung, Deutsch-Französische Beziehungsgeschichte, Erinnerungskultur, Emotionsgeschichte, Wirtschafts- und Währungsgeschichte. Veröffentlichungen (Auswahl): „Barbares et Bandits“: der heilige Hass auf die äußeren und inneren Angreifer Frankreichs. Paul de Saint-Victor und die Instrumentalisierung des Religiösen im Prozess der französischen Nationalisierung um 1871, in: Silvio Vietta/ Stephan Porombka (Hrsg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Bd. II. Die klassische Moderne. München, 2009, 37–61; „… im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig“ Deutschfranzösische Feindbilder (1807–1930). Heidelberg, 2014 (Dissertation); Mitherausgeberin des vorliegenden Tagungsbandes.

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Personenverzeichnis Abd al-Aziz ibn Saud (erster König Saudi-Arabiens) 266 Abd al-Wahhab, Muhammad Ibn 265, 266 Abduh, Mohammed (auch: Muhammad Abduh) 266 Abdul Kahar Muzzakar 272 Abdul Karim Hassan, Ustaz Haji 276 Abdul Rahman, Kabir 276 Abdullah Jussuf Azzam (auch: Abdallah Yusuf Azzam) 267 Achebe, Chinua 235 Achilles, mythologisch, griech.Held (hier: Ferse) 61, 316 Adenauer, Konrad (hier: Adenauer-Stiftung, Adenauer-Zeit) 71, 461 Adorno, Theodor W. 5, 13, 14, 57–65, 69–77, 489, 490 Ahmad ibn Tamīyya, Taqï ad-Dïn 266, 268 al-Afghani, Jamal al-Dïn (auch: Dschamal ad-Dīn) 266 al-Banna, Hassan (auch: al-Bannā, Hasan) 266, 268 al-Waleed Bin Talal Alsaud (auch: al-Walid ibn Talal Al Saud) 333 Alberich (Opernfigur bei Richard Wagner) 63 Albrow, Martin 228, 475, 479 Alexander der Große 10, 170, 171 Alfaro, Ricardo 329 Anaximander 166 Anaximenes 166 Anders, Günther 495 Antäus (auch: Antaios, Riese in der griech. Mythologie) 90 Appadurai, Arjun 468, 479 Appleby, Scott 263 Arendt, Hannah 227 Aristoteles 58, 149, 150, 152, 153, 159, 165, 168, 169 Armstrong, Karen 262 Assisi, Franz von (hier: St Francis of) 331 Athenaios (griechischer Poikilograph) 98 Atkinson, Anthony Barnes 49 Atta Troll (Figur eines Bären in: „Atta Troll, ein Sommernachtstraum‘‘ von H. Heine) 63 Augustus, römischer Kaiser (Imperator Caesar Divi Filius Augustus) 100, 102, 172

Ayatollah Khomeini 263 Azurara, Gomes Eanes de 230 Azzam, Abdullah Jussuf (auch: Yusuf) 267 Balduin von Flandern 33 Bannon, Stephen 316 Barion, Hans 61 Barnett, Michael 319, 322, 323 Barroso, José Manuel 391, 399 Basuki, Tjahaja Purnama 275 Baudelaire, Charles 71 Beauvoir, Simone de 289, 290 Beck, Ulrich 107, 110, 124, 237–239, 354, 467, 468, 470, 471, 476, 479, 495 Benjamin, Walter 61, 62 Berg, Alban 72 Beureuh, Daud (auch: Daud Beureu‘eh) 272 Bhagwati, Jagdish 198, 199 Bismarck, Otto von 180, 200 Bitterli, Urs 232 Bloch, Ernst 59 Boatcă, Manuela 32, 49, 464 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 68, 350 Bosincu, Mario 5, 12, 13, 79ff., 474, 481, 490 Botero, Giovanni 212 Bourget, Paul Charles Joseph 80, 92 Boym, Svetlana 418 Brandt, Willy 41 Brecht, Birte 281 Briand, Aristide 183 Brown, Peter G. 335, 344 Bruck, Karl Ludwig von 181, 182 Brunkhorst, Hauke 351, 404, 468, 479 Buber, Martin 83 Bude, Heinz 18 Bücher, Karl 214, 222 Bull, Hedley 325, 366, 368 Burckhardt, Jakob 45, 494 Burgdörfer, Friedrich 215, 222 Burton, John W, 110 Bush, George H. W. 420, 421 Bush, George W., jun. 423 Butler, Judith 292, 293

514

Personenverzeichnis Buzan, Barry 313, 314, 326, 337, 349, 366, 368, 369 Caesar, Gaius Iulius 101, 103 Calvin, Johannes (hier: Calvinismus, Calvinisten) 135–140, 142, 144, 148, 152, 153 Carby, Hazel 293, 294 Carter, James Earl („Jimmy‘‘) 323 Casanova, José 261, 262, 284 Casin, René 329 Castells, Manuel 297, 298, 311 Cavanaugh, William 343, 344 Césaire, Aimé 237 Cestius (hier: Pyramide des Gaius Cestius Epulo) 98 Chakrabarty, Dipesh 48, 296 Chamberlain, Arthur Neville 318 Che Guevara (Ernesto Rafael Guevara de la Serna) 493 Chruschtschow, Nikita S.418, 419, 462 Chulalongkorn (Rama V., der Große), König von Siam 275 Churchill, Winston 412 Clinton, Hillary D. R. 439 Clinton, William Jefferson („Bill‘‘) 204, 421, 422 Cobden, Richard (hier: Cobden-Vertrag) 181 Comaroff, Jean 48 Comaroff, John 48 Conrad, Sebastian 39, 48, 235 Cook, James 218, 358 Coronil, Fernando 48 Correa, Raffael 314 Corsten, Michael 5, 14, 107ff., 126, 179, 475, 478– 480, 482, 485, 487 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus Graf von 16, 182, 183 Crenshaw, Kimberlé 294 Curtin, Philip 43 Däubler, Theodor 60, 74 Dam, Kenneth W. 194, 200 Davies, Norman 395 Debray, Régis 491, 493, 494 Decatur, Stephen 32 Demandt, Alexander 12, 88, 95ff., 476, 479, 488 Demokrit von Abdera 166 Deng Xiaoping 436 Descartes, René 11, 138, 152, 153, 172, 470, 479 Diamond, Larry 315

Dijck, José van 301 Dionysios I., Tyrann von Syrakus 101 Dionysus (griech. Dionysos), griech. Gott 80 Disney, Walt 418 Doering-Manteuffel, Anselm 28 DuBois, William E. B. 236, 237 Durkheim, Émile 318, 319, 349 Duterte, Rodrigo 239 Eder, Klaus 262 Ehrhardt, Anke 290 Eisenstadt, Shmuel N. 109 Eisler, Georg 59 Elm, Ralf 5, 11, 13, 129ff., 474 Emerson, Ralph Waldo 406 Emmerich, Roland 422 Empedokles 166 Engels, Friedrich 435 Erdoğan, Recep Tayyip 314 Eurysaces, Marcus Vergilius 98 Fanon, Frantz 237 Farage, Nigel 314, 315 Farasat, Shadan 198, 200 Fassin, Didier 425 Faucher, Léon 181 Faust 12, 41, 88, 99, 488 Fawkes, Guy 302 Fieldhouse, David 233 Fink, Gereon R. 107 Fiore, Joachim von 104 Firsching, Horst 120, 126 Forbes, Bertie Charles (Zeitungsgründer) 339 Ford, Gerald 406 Ford, Henry 45 Foucault, Michel 12, 81, 91 Frankenberger, Klaus-Dieter 431 Frankl, Viktor 87 Franzmann, Manuel 261 Frazer, James Georg 261 Freyer, Hans 61 Fukuyama, Francis 238, 420, 446, 486 Fullerton, John 338, 339 Gabaccia, Donna 219, 220, 222, 223 Gabriel, Karl 261 Gäa (griech. Gaia), Erdgottheit 91

515

Personenverzeichnis Galilei, Galileo 167 Gallup, George (hier: Meinungsforschungsinstitut) 424, 437 Garvey, Marcus 237 Gehlen, Arnold 488 Gehler, Michael 3, 5, 7, 9, 24, 25, 27, 28, 30, 31, 54, 126, 153, 171, 227, 318, 375ff., 382–384, 386, 387, 391–393, 395, 399, 402, 453, 454, 464, 470, 475, 476, 479, 494 George, Stefan 71, 74, Gerbet, Pierre 395 Gibbons, Anthony 44 Gini, Corrado (hier: Koeffizient) 49, 50 Giugni, Marco G. 302, 311 Goethe, Johann Wolfgang von 42, 76, 481, 485 Gorbatschow, Michail S. 456 Grazia, Victoria de 416 Greenfield, Liah 34, 53, 54 Greenspan, Alan 382 Grotius, Hugo 231, 313 Gu, Xuewu 435ff., 446, 447, 451

Heuss, Theodor 182, 183,200 Hilsdon, Anne-Marie 280, 281, Hiob 91 Hippodamus von Milet 169 Hirn, Wolfgang 438, 447 Hitler, Adolf 59, 101, 102, 104, 171, 318 Hobbes, Thomas 65, 172, 313, 316, 348 Hodgson, Marshall 43 Hölderlin, Friedrich 71, 495 Hoerder, Dirk 214, 216, 219, 220, 223 Hoffman, David 457, 473 Homer 61, 70 Horkheimer, Max 13, 70, 489, 490 Horstmann, Alexander 277 Hughes, John James 453 Hull, Cordell 187 Huntington, Samuel P. 109, 176, 238, 324, 331, 445, 447, 493 Hussein, Saddam 283, 385 Husserl, Edmund 65, 72, 114, 131

Haberler, Gottfried 183, 199, 200 Habermas, Jürgen 20, 60, 61, 63, 262, 490–492, 494 Hahn, Sylvia 6, 17, 18, 209ff., 213, 216, 220, 223, 476 Hassan al-Banna (auch: Hasan al-Bannā) 266, 268 Heberer, Thomas 439, 447 Heberle, Rudolf 214, 223 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 59–61, 64, 66, 70–74, 95, 145, 479, 480 Heidegger, Martin 5, 10–12, 57, 59, 60, 61, 64, 71, 74, 129–132, 148–165, 173, 474 Height, Frank A. 194 Heine, Heinrich 63 Heinrich der Löwe 33 Heinrich der Seefahrer 230 Heintz, Bettina 15, 113, 117, 350 Heintz, Peter 39, 110, 468, 480 Hellie, Richard 43 Herakles (Herkules, griech.Heros) 90, 171 Heraklit von Ephesos 166 Herder, Johann Gottfried 35 Herodot von Halikarnass 165, 166, 356 Herriot, Édouard 183 Herrmann, Johannes 284 Herzen, Alexander 459

Ibn Saud, Abd al-Aziz (erster König Saudi-Arabiens) 266 Ibn Saud, Muhammad 266 Ignatieff, Michael 321, 330 Ikenberry, John 442, 447 Ikramullah, Shaista Suhrawardy 320 Ipsen, Gunther 215 Irigaray, Luce 290, 291 Iwan IV., „der Schreckliche‘‘, Zar von Russland 52 Jahwe, Gott Israels 143 Jamal al-Dīn al-Afghani (auch: Dschamal ad-Dīn) 266 Jansen, Jan C. 227, 233 Janukowitsch, Viktor 461 Jaspers, Karl 31, 81, 130, 488 Jelzin, Boris (auch: Yeltsin, Boris) 443, 456, 457, 464 Jesus Christus 136 John, Elton 271 Jones, Adam 231 Jones, Eric 230 Jory, Patrick 277 Judt, Tony 395 Jünger, Ernst 5, 12, 13, 79, 85–93, 474, 475, 488, 490 Jung, Karl Gustav 86, 87 Juppé, Alain 490 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 100

516

Personenverzeichnis Kaczyński, Jarosław 490 Kaelble, Hartmut 300, 311, 395 Kahan, Arcadius 43 Kant, Immanuel 57, 59, 65, 70, 71, 75, 76, 129, 130, 142, 143, 145, 155, 313, 326, 342, 356, 442, 447, 481, 487, 489, 494 Kaplan, Morton 38 Kapur, Ratna 296 Karl V. 212, 354 Kartosuwirjo, Sekarmadji Maridjan 272 Kennedy, John F. 444 Kennedy, Paul 37, 240, 447 Kepel, Gilles 264, 268, 324, 491 Kessler, Suzanne 292 Kesting, Hanno 58, 66 Khan, Muhammad Zafrallah (auch: Zafrullah, Zafarullah) 330 Khomeini, Ayatollah 263 Kippenberg, Hans G. 263, 285 Kirt, Romain 394, 395 Kissinger, Henry 37, 240, 447 Kleinschmidt, Harald 6, 19, 23, 38, 347ff., 366, 475, 487 Kneuer, Marianne 6, 21, 22, 126, 297ff., 299, 304, 311, 475, 480, 482, 484, 492 Kolumbus, Christoph 218 Konfuzius 97, 352, 446, 447 Kopernikus, Nikolaus 167 Koselleck, Reinhart 66, 84, 348 Koser, Khalid 222, 223 Krause, Keith 313, 336 Kulischer, Alexander 214, 217, 223 Kulischer, Eugene M. 214, 217, 223 Kurzweil, Ray 314 Lamprecht, Karl 45 Lamy, Pascal 198 Landes, David S. 230 Lavigne, Avril 271 Le Corbusier (Jeanneret, Charles-Édouard) 169 Lee, Richard B. 231 Le Goff, Jacques 395 Legros, Robert 494 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48, 153, 155, 156, 167, 168, 172 Lekon, Christian 44 Lenin, Wladimir Iljitsch 227, 233, 454, 485

Leopold I., König von Belgien 318 Le Pen, Marine 461, 464, 490 Lessenich, Stephan 467, 480 Leusse, Paul de 181, 200 Leviathan (griech.-mythologisches Seeungeheuer) 70, 77, 269, 348, 451 Li Keqiang, Ministerpräsident Chinas 441 Linden, Marcel van der 219, 224 Livingstone, David 233 Locke, John 316, 317 Löwith, Karl 57, 80 Lorde, Audre 293 Loth, Wilfried 47, 48, 393, 415 Low, Linda 198, 200 Lucassen, Jan 219, 223 Lucassen, Leo 219, 223 Ludwig XIV., König von Frankreich 473 Luce, Henry 412 Lübbe, Hermann 491 Luhmann, Niklas 10, 14, 40, 58, 108–126, 168, 349– 351, 448, 468, 470, 471, 480, 482–484, 487 Lukács, Georg 13, 59, 60 Lundestad, Geir 416 Luther, Martin 136, 152 Macron, Emmanuel 490 Maduro, Nicolás 314 Magellan, Ferdinand 218 Mahathir bin Mohamad, Tun 270 Malthus, Thomas Robert 217 Mander, Linden A. 481 Mann, Thomas 70, 76 Manning, Patrick 219, 223 Mao Zedong (auch: Mao Tse-tung) 36, 436 Marc Aurel 102 Marcos, Ferdinand 279, 281, 323 Marddent, Amporn 277, 278 Marshall, George C. 415, 416 Marty, Martin E. 263, 448 Marx, Karl 38, 43, 44, 46, 49, 57, 59, 65, 67, 70–73, 99, 145, 174, 227, 264, 295, 435, 448, 454 Masala, Carlo 492, 493 Mathis, Franz 6, 19, 20, 23, 243ff., 250–254, 256, 257, 259, 478, 484 Matsushita, Mitsuo198, 200 Maus, Ingeborg 67 Mbembe, Achille 227, 232, 234

517

Personenverzeichnis McKenna, Wendy 292 McKeown, Adam 219, 223 McKinley, William 408 McLuhan, Marshall 173, 297, 310, 311, 468, 482 McNeill, William 31, 43, 45, 47 Meadows, Dennis 41 Meadows, Donella 41 Medvedev, Dmitry (Dmitri A. Medwedew) 327, 458 Mehring, Reinhard 5, 13, 14, 57ff., 477, 489 Mehta, Hansa 320 Meinecke, Friedrich 76 Meinl, Julius 233 Menzel, Ulrich 57, 230, 231, 240, 471–473, 480 Merlio, Gilbert 7, 9, 28, 481ff. Mesner, Maria 6, 21, 23, 287ff., 477, 482, 492, 493 Meyer, John W. 24, 39, 110, 116, 171, 349, 366, 367, 389–397 Middell, Matthias 45 Milanović, Branko 36, 37, 50 Miller, Joseph 232 Milling, Peter 41 Milošević, Slobodan 384 Milward, Alan S. 391 Mishra, Pankaj 296, 493 Mitterauer, Michael 32, 395 Mitterrand, François 493 Mörike, Eduard 74 Mohammed, Prophet 265, 270, 360 Mohammed Abduh (auch: Muhammad Abduh, Wikipedia) 266 Mohammed Ben Al-Hassan (Mohammed VI., König von Marokko) 331 Mohanty, Chandra Talpade 294 Mommsen, Theodor 101 Money, John 290 Monroe, James 406, 407, 410, 411 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 493 Morgan, J. P. 339 Morgenthau,Hans 39, 343 Müller, Dominik 271, 272, 477, 480 Münch, Richard 15, 113, 117 Münkler, Herfried 47, 463 Muhammad Ibn, Abd al-Wahhāb 265, 266 Muhammad Ibn Saud 266 Muhammad Rashīd Rīda 266 Muhammad Zafrallah Khan (auch: Zafrullah, Zafarullah) 330

Mussolini, Benito 101, 102 Muzzakar, Abdul Kahar 272 Myrdal, Gunnar 41 Napoleon Bonaparte, Kaiser Napoleon I. 104, 455, 482 Napoleoni, Loretta 443, 448 Nasser, Gamal Abdel 343 Naumann, Friedrich 16, 182, 200 Naumann, Katja 42 Nederveen Meerkerk, Elise van 219, 220, 223 Neunsinger, Silke 219, 220, 223 Nielsen-Sikora, Jürgen 7, 9, 28, 393, 467ff., 476, 479, 480 Nietzsche, Friedrich 5, 12, 13, 57, 71, 79–86, 89, 90–92, 129, 132, 143, 145, 153, 156, 481, 494 Nixon, Richard 417–419, 421 Nolte, Hans-Heinrich 5, 7, 9, 10, 12, 14, 26, 27, 31ff., 32, 34, 36, 39, 44, 46–48, 51, 52, 54, 219, 223, 399, 453ff., 461, 464, 465, 474, 475, 479, 485, 485, 491 Novikow, Jacques 105 Nye, Joseph S. 383, 447 Oakley, Ann 290 Obama, Barack 25, 222, 335, 337, 341, 426–428, 432 Oevermannn, Ulrich 261 Olney, Richard 407 Olson, Mancur 207 Orbán, Viktor 314, 464, 490 Orishas (Götter der Religion der Yoruba) 31 Orwell, George 14 Osterhammel, Jürgen 10, 34, 47, 48, 218, 219, 223, 227–230, 232, 233, 467, 471, 480, 486 Pahlavi, Reza (Schah) 263 Parmenides aus Elea 166 Parsons, Talcott 39, 117, 347 Pedersen, Susan 236 Pescennius Niger (römischer Gegenkaiser) 102 Peter I., der Große, Zar von Russland 52, 453 Petersson, Niels P. 228–230, 232 Philipp von Makedonien 172 Philipp II., König von Spanien 212 Philipp IV., König von Spanien 355 Philolaos 167 Piantri, Christian 334 Picker, Colin B. 196, 200

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Personenverzeichnis Pinochet, Augusto 323 Pitsoulis, Athanassios 6, 16–19, 203ff., 477 Platon 80, 97, 101, 132, 149, 151, 153, 156, 164 Plessner, Helmuth 104 Plinius der Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior) 97 Pöttering, Hans-Gert 396 Pongs, Armin 107 Popper, Karl 57 Preuß, Hugo 65 Proudhon, Pierre-Joseph 76, 80, 82 Przeworski, Adam 439 Putin, Wladimir W. P. (hier auch: Putin, Vladimir) 27– 52, 325, 327, 328, 342, 385, 443, 457, 458, 461, 463 Pythagoras von Samos 167 Qureshi, Tshtiag Fussain (auch: Qureshi, Ishtiaq Hussain) 43 Qutb, Sayyid 266–268, 272, 283, 285 Radkau, Joachim 50, 51 Rafaat, Wahid 330 Ramses II., der Große 97, 102 Randeria, Shalini 48 Ravenstein, Ernst Georg 214, 224 Rawls, John 137, 173, 174 Razak, Najib Tun 272 Reagan, Ronald 322 Reginbogin, Herbert 6, 22, 23, 313ff., 318, 478, 491 Reid, Anthony 285 Rein, Adolf 38 Reinhard, Wolfgang 218–220, 224 Renouvin, Pierre 395 Reus-Smit, Christian 326 Reynié, Dominique 490 Reza Pahlavi, Schah 263 Richter, Saskia 299, 304, 306, 307, 311 Rīda, Muhammad Rashīd (auch: Raschīd) 266 Riesebrodt, Martin 20, 262, 263 Rifkin, Jeremy 403 Robertson-von-Trotha, Caroline Y. 19 Rockefeller, John D. 43, 45 Röpke, Wilhelm 199, 200 Rolling Stones 438 Rompuy, Herman van 391 Romulo, Carlos 320 Roosevelt, Eleanor 321, 329 Roosevelt, Franklin D. 409, 411–413

Rosiny, Stephan 264 Rousseau, Jean-Jacques 69, 80 Sade, Donatien Alphonse François de 70 Saddam Hussein 283, 385 Saint-Simon, Henri de 66 Salewski, Michael 393, 395 Samuelson, Paul A. 204, 205 Sander, Hans-Dietrich 62 Satha-Anand, Chaiwat 277, 278 Sayyid Qutb 266–268, 272, 283, 285 Scheler, Max 493 Scheve, Kenneth 49 Schlehe, Judith 285 Schmale, Wolfgang 375, 395 Schmitt, Carl 13, 14, 57–74, 76, 77, 85, 86, 232, 233, 319 Schmoller, Gustav 214, 224 Scholl, Mehmet 107, 108 Schröder, Hans-Jürgen 7, 25, 27, 405ff., 416, 464, 474, 487 Schröter, Susanne 6, 20, 21, 23, 261ff., 277, 283, 285, 476, 485, 489 Schulz, Martin 391 Schulze, Hagen 494 Schwarzenberger, Georg 39 Scupin, Raymond 278, 279, 489 Seidensticker, Tilman 265, 266 Sekarmadji Maridjan Kartosuwirjo 272 Selim II., Sultan 52 Sen, Rahul 198, 200 Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 98 Senghor, Leopold Sedar 237 Senti, Richard 5, 15–18, 179ff., 183, 189, 191, 194, 195, 199, 201, 478, 486 Septimus Severus 102 Shaista Ikramullah 320 Siapno, Jacqueline 280 Sidorko, Clemens P. 285 Simmel, Georg 85, 214, 224 Sloterdijk, Peter 285, 404 Smith, Adam 174 Sokrates 166, 167 Solway, Jacqueline S. 231 Sombart, Nicolaus 66, 155 Spaemann, Robert 66 Spencer, Herbert 347, 468, 480

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Personenverzeichnis Spengler, Oswald 5, 12, 13, 87, 88, 91, 95–105, 451, 476, 488, 492–494 Spielbüchler, Thomas 6, 10, 14, 19, 227ff., 473, 485–485, 490 Spivak, Gayatri Chakravorty 295, 368 Stalin, Josef W. 318, 453, 454 Stasavage, David 49 Stead, William 409 Stichweh, Rudolf 14, 114–117, 123, 349, 356, 477, 478, 480, 481, 485 Stoller, Robert J. 290 Stolper, Wolfgang F. 204, 205 Suarez, Francisco 231, 348 Suharto, Haji Mohamed 273 Sukarno 272, 273, 284 Taubes, Jacob 57, 62, 83 Taylor, Charles 485 Tenbruck, Friedrich H. 62, 119, 126, 347 Tesla, Nikola (hier: Elektromobil) 340 Thales von Milet 166 Thatcher, Margaret 338 Thürmer-Rohr, Christina 291 Tibi, Bassam 264, 266, 284 Tito, Josip Broz 274 Tocqueville, Alexis de 481 Tönnies, Ferdinand 214, 224, 484, 485 Torp, Cornelius 126, 127, 485 Touraine, Alain 300, 311 Treitschke, Heinrich von 58, 347 Trojanow, Ilja 467, 480 Truman, Harry S. 188, 234, 235, 413–415 Trump, Donald 25, 192, 203, 208, 314–316, 337, 340, 341, 403, 429–433, 435, 439, 464, 474, 490 Tyrell, Hartmann 15, 113, 117, 119, 120, 123, 350 Ustaz Haji, Abdul Karim Hassan 276 Vespucci, Amerigo 218 Victoria, Francisco de 231 Vietta, Silvio 3, 5, 9–11, 14, 15, 28, 31, 32, 42, 57,

132, 153, 165ff., 169, 170, 227, 389, 394, 469, 479, 480, 485 Virilio, Paul 489 Vogtherr, Thomas 388 Wagner, Richard 60, 63, 80, 81 Wallerstein, Immanuel 19, 32, 44–46, 48, 110, 117, 227, 235, 368, 451 Waltz, Kenneth 492 Waltz, Susan 319, 320, 329, 330 Washington, George (hier: University) 43, 319 Weber, Alfred 488 Weber, Max 5, 10–13, 42, 49, 57, 60, 65, 67, 81, 91, 129–165, 171, 214, 215, 224, 261, 262, 285, 347, 354, 358, 474, 491 Weigel, George 324 Wellgune (auch: Wellgunde), eine der Rheintöchter in „Rheingold‘‘ 63 West, Candace 292 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 105 Williams, Michael 313, 336 Wilson, Woodrow 25, 236, 409–411, 413, 432, 433 Wittfogel, Karl August 43 Wittgenstein, Ludwig 59 Wittig, Monique 294 Wobbe, Theresa 39, 40, 42 Wolff, Christian 352–354, 356, 357, 362, 451 Xi Jinping, Generalsekretär der KPCh 328, 335, 441, 436 Yeltsin, Boris (auch: Jelzin, Boris) 327 Zahn, Erich 41 Zarathrustra (altiranischer Priester) 83–85 Zhukov, Evgenij 43, 46 Ziegler, Jean 19, 235, 240 Ziethen, Sanne 3, 5, 28, 396 Zimmerman, Don 292 Zinovew, Aleksander 489 Zurara, Gomes Eanes de 230

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