Digitalisierung im Recruiting: Wie sich Recruiting durch künstliche Intelligenz, Algorithmen und Bots verändert [1. Aufl. 2020] 978-3-658-25884-9, 978-3-658-25885-6

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über die relevanten Trendthemen des Digital Recruiting. Es beleuchtet in

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German Pages XIII, 257 [259] Year 2020

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Digitalisierung im Recruiting: Wie sich Recruiting durch künstliche Intelligenz, Algorithmen und Bots verändert [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-25884-9, 978-3-658-25885-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einleitung (Tim Verhoeven)....Pages 1-5
Digitalisierung im Recruiting: der Status quo (Tim Verhoeven, Paul Goldmann)....Pages 7-24
Big Data im Recruiting (Maximilian Tallgauer, Marion Festing, Florian Fleischmann)....Pages 25-39
Recruiting Analytics (Christian Schrader)....Pages 41-50
Digitale Candidate Experience (Tim Verhoeven)....Pages 51-66
Candidate Centricity (Michaela Scherhag)....Pages 67-77
Online-Assessment (Joachim Diercks)....Pages 79-99
Wenn Bots übernehmen – Chatbots im Recruiting (Luc Dudler)....Pages 101-111
Künstliche Intelligenz im Recruiting (Tim Verhoeven)....Pages 113-128
Blick über den Tellerrand (Tim Verhoeven)....Pages 129-134
Wie die Jobsuche zur Traumjobsuche wird – und wie HR Tech dabei hilft (Rudi Bauer)....Pages 135-148
Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen (Oliver Neumann)....Pages 149-160
Nur etwas für Konzerne oder klappt Recruiting Analytics auch im Mittelstand? (Marcel Rütten)....Pages 161-182
Handlungsbedarf: Wie sich das Recruiting an die Zukunft anpassen muss (Stefan Scheller)....Pages 183-191
Die HR TEC Nights – digitale Bildung im Snackformat (Michael Witt, Robindro Ullah)....Pages 193-202
Die Lagerfeuerparabel (Florian Schrodt)....Pages 203-213
Der Mensch im digitalisierten Recruiting (Henrik Zaborowski)....Pages 215-223
Die Risiken der Digitalisierung (Tim Verhoeven)....Pages 225-244
Lessons Learned – zwölf Tipps für mehr Digitalisierung und Innovation im Recruiting (Tim Verhoeven)....Pages 245-252
Interessante weiterführende Quellen zum Thema Digitalisierung (Tim Verhoeven)....Pages 253-257

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Tim Verhoeven Hrsg.

Digitalisierung im Recruiting Wie sich Recruiting durch künstliche Intelligenz, Algorithmen und Bots verändert

Digitalisierung im Recruiting

Tim Verhoeven (Hrsg.)

Digitalisierung im Recruiting Wie sich Recruiting durch künstliche ­Intelligenz, Algorithmen und Bots ­verändert

Hrsg. Tim Verhoeven Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-658-25884-9 ISBN 978-3-658-25885-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Tim Verhoeven 2

Digitalisierung im Recruiting: der Status quo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Tim Verhoeven und Paul Goldmann

3

Big Data im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Maximilian Tallgauer, Marion Festing und Florian Fleischmann

4

Recruiting Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Christian Schrader

5

Digitale Candidate Experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Tim Verhoeven

6

Candidate Centricity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Michaela Scherhag

7 Online-Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Joachim Diercks 8

Wenn Bots übernehmen – Chatbots im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Luc Dudler

9

Künstliche Intelligenz im Recruiting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Tim Verhoeven

10 Blick über den Tellerrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tim Verhoeven 11 Wie die Jobsuche zur Traumjobsuche wird – und wie HR Tech dabei hilft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Rudi Bauer

V

VI

Inhaltsverzeichnis

12 Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen. . . . . . . . . . . . . 149 Oliver Neumann 13 Nur etwas für Konzerne oder klappt Recruiting Analytics auch im Mittelstand?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marcel Rütten 14 Handlungsbedarf: Wie sich das Recruiting an die Zukunft anpassen muss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Stefan Scheller 15 Die HR TEC Nights – digitale Bildung im Snackformat. . . . . . . . . . . . . . . . 193 Michael Witt und Robindro Ullah 16 Die Lagerfeuerparabel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Florian Schrodt 17 Der Mensch im digitalisierten Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Henrik Zaborowski 18 Die Risiken der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Tim Verhoeven 19 Lessons Learned – zwölf Tipps für mehr Digitalisierung und Innovation im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Tim Verhoeven 20 Interessante weiterführende Quellen zum Thema Digitalisierung. . . . . . . . 253 Tim Verhoeven

Mitarbeiterverzeichnis

Rudi Bauer  Stepstone, Wien, Österreich Joachim Diercks  Cyquest GmbH, Hamburg, Deutschland Luc Dudler  Jobpal Ltd., Berlin, Deutschland Marion Festing  ESCP Europe, Berlin, Deutschland Florian Fleischmann  ESCP Europe, Berlin, Deutschland Paul Goldmann  Ingolstadt, Deutschland Oliver Neumann DEININGER Unternehmensberatung GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland Marcel Rütten  Duisburg, Deutschland Stefan Scheller  Nürnberg, Deutschland Michaela Scherhag  Frankfurt am Main, Deutschland Christian Schrader  HRM Datasolutions GmbH, Hamburg, Deutschland Florian Schrodt  Verkehrsbetriebe Zürich, Zürich, Schweiz Maximilian Tallgauer  ESCP Europe, Berlin, Deutschland Robindro Ullah  Berlin, Deutschland Tim Verhoeven  Indeed, Düsseldorf, Deutschland Michael Witt  Stuttgart, Deutschland Henrik Zaborowski  Bergisch Gladbach, Deutschland

VII

Über den Herausgeber

Tim Verhoeven arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

IX

Abbildungsverzeichnis

Abb. 2.1 Motivationspsychologie nach Rheinberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Abb. 3.1 Einfluss von Künstliche-Intelligenz(KI)-Technologien. . . . . . . . . . . . . 37 Abb. 4.1 AIDA-Modell nach Elmo Lewis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Abb. 4.2 Aggregation aller Datenquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Abb. 4.3 Bedarfsgerechter Budgeteinsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abb. 5.1 Candidate Experience Wheel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Abb. 5.2 Direkte Kontaktpunktmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Abb. 5.3 Indirekte Kontaktpunktmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abb. 6.1 So funktioniert Retargeting im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Abb. 7.1 Kulturmatcher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abb. 7.2 Ausbildungsmatcher der Berliner Verkehrsbetriebe. . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 7.3 Allianz Online Campus – Testitem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Abb. 7.4 Collage aus verschiedenen Online-Assessments. . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Abb. 8.1 Chatbot Karriereseite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abb. 8.2 Candidate Experience durch Chatbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Abb. 8.3 Implementierung eines Chatbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Abb. 11.1 Ideen und Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abb. 11.2 Erfolgserlebnisse und Zusammenarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abb. 11.3 Unternehmenskultur in Stellenanzeigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abb. 11.4 Zusammenhang Identifizierung mit Unternehmenskultur (UK) und Jobzufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Abb. 12.1 Umsatz der Personalberaterbranche in Deutschland von 2000 bis 2017 (in Anlehnung an Statista). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Abb. 18.1 Google-Trends-Abfrage „Kununu“ in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . 228 Abb. 18.2 Google-Trends-Abfrage „Follower kaufen“ in Deutschland. . . . . . . . . 230 Abb. 18.3 Analyse meiner Follower via twitteraudit.com . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Abb. 18.4 Analyse der Follower von @AfD via twitteraudit.com. . . . . . . . . . . . . 231 Abb. 18.5 Forschungsprojekt Face2Face Deepfake . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Abb. 18.6 Deepfake John Oliver Jimmy Fallon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Abb. 18.7 Beispiel Adversarial Learning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 XI

Tabellenverzeichnis

Tab. 5.1 Drei Grundlagen von Candidate Experience. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Tab. 5.2 Charakteristika einer modernen Candidate Journey. . . . . . . . . . . . . . . . 56 Tab. 5.3 Digitale Umfragemöglichkeiten für eine Candidate-Experience-Messung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Tab.  5.4 Candidate-Net-Promoter-Score(CNPS)-Klassifizierung (angelehnt an Verhoeven 2016, S. 40). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Tab. 5.5 Berechnung des Candidate Net Promoter Scores. . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Tab. 5.6 Interpretationsrahmen für den Net Promoter Score . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Tab. 5.7 Interpretationsrahmen für den Candidate Net Promoter Score. . . . . . . . 63 Tab. 9.1 Eigenschaften künstlicher Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tab. 9.2 Anwendungsmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz. . . . . . . . . . . . . 120 Tab. 12.1 Größenklassifizierung von Personalberatern in Deutschland. . . . . . . . . 151 Tab. 12.2 Klientenunternehmen werden Mandate zunehmend über Online-(Vermittlungs-)Plattformen ausschreiben und vergeben. . . . . . . 152 Tab. 12.3 Das Jobprofil des Researchers wird sich maßgeblich verändern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Tab. 12.4 Personalberater werden zukünftig deutlich breiter  aufgestellt sein müssen, um ihre Kunden ganzheitlich, z. B. auch in Fragen des Employer Branding zu unterstützen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Tab. 12.5 Personalberater werden für den Kunden ein wichtiger Ansprechpartner für digitale Recruiting-Lösungen und die Integration in deren Prozessabläufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Tab. 12.6 Die Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle von Personalberatern. Sie ersetzt nicht die Beratungstätigkeit, sondern macht sie effizienter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Tab. 12.7 Algorithmen werden die heutigen Research-Dienstleistungen z. T. ersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Tab. 18.1 Risiken innerhalb des Recruiting-Prozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Tab. 18.2 Businessnetzwerke und andere soziale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 XIII

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Einleitung Wie es zu diesem Buch kam und was Sie hier erwarten wird Tim Verhoeven

Inhaltsverzeichnis 1.1 Wie es zu diesem Buch kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Worum es in diesem Buch geht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.3 Wem ich dieses Buch empfehle und wem nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Zusammenfassung

Dieses Kapitel bildet eine kurze Zusammenfassung über die Entstehungsgeschichte dieses Buchs, eine Zusammenfassung der wesentlichen Themen, mit denen sich das Buch und jedes seiner Kapitel beschäftigt und meine persönliche Empfehlung, wem dieses Buch einen Mehrwert liefert und wem ich eher davon abraten würde, dieses Buch zu lesen.

1.1 Wie es zu diesem Buch kam Ich bin ein Kind der Digitalisierung der ersten Generation. Ich habe mich als kleines Kind voller Begeisterung mit dem neuen Commodore C64 beschäftigt, den meine Eltern sich gegönnt hatten, habe schon während meiner Schulzeit meine erste Webseite mit HTML und JavaScript programmiert – ja man könnte sagen, ich war und bin immer

T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_1

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T. Verhoeven

ein kleiner „Nerd“ in meinem Herzen. Umso erstaunter war ich, als ich erstmalig in die wenig digitalaffine Welt namens Human Resources abbog. Nun hatte ich Glück, dass mein erster Arbeitgeber nach dem Studium sehr fortschrittlich war und vor zehn Jahren viele Dinge besser machte, als viele Unternehmen selbst heutzutage. Seitdem war auch mein Interesse an digitalen Lösungen im Recruiting geboren, da ich sah, wie viel Mehrwert man sowohl Bewerbern als auch Recruitern selbst schon durch einfache technische Lösungen bieten konnte. Nachdem ich im Herbst 2015 mein erstes Buch zum Thema Candidate Experience fertig geschrieben hatte, war ich relativ sicher, nie wieder ein weiteres Fachbuch zu schreiben. Seit Dezember 2015 arbeite ich nun bei der internationalen Managementund Technologieberatung BearingPoint als Recruiting-Leiter und habe seitdem das Vergnügen, in einem Umfeld zu arbeiten, das sehr offen für die Themen ist, die mich motiviert haben, dieses Buch zu schreiben: Veränderung, Technikaffinität und ein hohes Maß an Wirkungsorientierung. Im Rahmen dieser Tätigkeit habe ich auch für eines meiner Projekte im Bereich Recruiting Analytics den HR-Excellence-Award verliehen bekommen (vgl. Human Resources Manager 2018). Digitalisierung ist allgemein ein Trendthema – auch im Recruiting. Jedoch liegt bei vielen Themen sehr viel Halbwissen vor, insbesondere je zahlenintensiver oder je technischer ein Thema wird. Deswegen war es mein Ziel, die Komplexität dieses Themas mit all seinen Facetten so aufzubrechen, dass man auch ohne Mathematik- oder Informatikstudium in der Lage ist, die Themen grundsätzlich zu verstehen. Ich wollte gleichzeitig auch einen möglichst holistischen Überblick über viele Facetten des Themas geben, weswegen ich mich sowohl dazu entschieden habe externe Experten in dieses Projekt einzubinden, die in ihrem jeweiligen Gebiet Koryphäen sind, als auch andere Marktteilnehmer zu betrachten, wie beispielsweise Personalberater oder Jobbörsen. Zu guter Letzt war es auch mein Ziel, nicht nur ein theoretisches Grundlagenwissen zu erstellen, sondern so viel Praxis einzubauen, wie es eben möglich ist.

1.2 Worum es in diesem Buch geht Ich beginne erst einmal mit einer grundsätzlichen Einordnung in das Thema Digitalisierung im Recruiting (Kap. 2), bei dem ich noch einmal zeige, welche Entwicklung das Thema schon durchlaufen hat und welche Effekte und Technologien heute schon zum absoluten Standard gehören. Es werden auch ein paar Themen angeschnitten, die zwar interessant sind, aber denen aus verschiedenen Gründen kein komplettes Kapitel gewidmet wurde. Darauf folgt ein Beitrag über das Thema Big Data im Recruiting (Kap. 3). Im darauffolgenden Kapitel wird sich dem überaus wichtigen Thema Analytics gewidmet und zwar explizit den Recruiting Analytics (Kap.4) mit starkem Bezug auf Performance Analytics aus dem Online Marketing.

1 Einleitung

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Von da aus geht der Fokus auf die Bewerber. Als erstes widme ich mich dem Thema Candidate Experience im Fokus der digitalen Veränderung (Kap. 5), um auf diesen Grundlagen aufbauend das Thema Candidate Centricity näher zu beleuchten (Kap. 6). Ein Thema, das für die Ausrichtung zeitgemäßer Kampagnen und Recruiting-Methoden immens wichtig ist und nicht übersehen werden darf. Daraufhin widmen wir uns verschiedenen Technologien bzw. Lösungen, die einen starken Einfluss auf das Thema Recruiting haben und zukünftig noch mehr haben werden. Als erstes geht es dabei um den Themenbereich Matching und Online-Assessments und welche Auswirkungen dies auf die (Selbst-)Selektion hat (Kap. 7). Während insbesondere das Thema Online-Assessments schon gut auf dem Markt angekommen ist, ist das Thema Chatbots (Kap. 8) noch deutlich neuer auf dem Markt, aber hat enormes Potenzial, wie aufgezeigt wird. Noch mehr Potenzial hat dann das Thema der künstlichen Intelligenz (Kap. 9), zu dem ein kompletter Überblick erfolgt, sowohl mit einer Einordnung verschiedener Anwendungsfelder als auch mit einer Übersicht an internationalen interessanten Anbietern. Um zu erkennen, welche zukünftigen Potenziale im Thema der Digitalisierung für das Recruiting-Geschäft stecken, widmen wir uns dem Blickwinkel anderer Marktteilnehmer (Kap. 10). Dazu machen wir erst einmal einen Schulterblick bei einem der größten Player im Bereich der Jobbörsen und bekommen die Sichtweise von Stepstone nähergebracht (Kap. 11). Umsatzmäßig auf Augenhöhe mit dem Marktsegment der Jobbörsen liegt die Personalberaterbranche, der wir uns auch in einem eigenen Kapitel (Kap. 12) widmen. Man könnte meinen, dass alle Themen, die hier vorgestellt werden, nur etwas für große Konzerne mit riesigen Budgets sind. Dass es auch anders geht, erfahren wir in einem eigenen Kapitel mit dem Fokus Mittelstand (Kap. 13). Damit wir als Recruiter bei all diesen neuen Technologien und Möglichkeiten den Durchblick behalten und unsere Recruiting-Abteilungen dazu befähigt werden, nicht nur trotz, sondern durch die Digitalisierung an Stellenwert zu gewinnen, bedarf es Aufklärungsarbeit. In den folgenden Kapiteln versuchen wir etwas Orientierung zu geben, wo wir überhaupt das richtige Wissen finden und wie wir gute von schlechter Qualität bei Wissensanbietern unterscheiden können (Kap. 14). Anhand des Beispiels der HR-TEC-Night (Kap. 15) zeigen wir exemplarisch, wie sich ein Lernformat gegründet hat, das genau auf die Besonderheiten der Digitalisierung eingeht, indem es agil und schnell genug ist. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unsere Arbeitsweise und Organisation und v. a. auf die über Jahrzehnte gewachsene Kultur? Oder anders gefragt: Passen Agilität, Geschwindigkeit und Digitalisierung überhaupt zu uns als Personaler? Auch dieser Frage widmen wir ein eigenes Kapitel (Kap. 16). Während die bisherigen Kapitel sich primär den Vorteilen und Chancen der Digitalisierung gewidmet haben, gibt es aber auch Risiken, denen wir uns als Recruiter bewusst werden und auf die wir vorbereitet sein müssen. Wir dürfen durch all die neuen technologischen Möglichkeiten nicht vergessen, dass der Mensch – also in unserem Fall der

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T. Verhoeven

Bewerber – der Fokus unseres Handelns sein sollte (Kap. 17). Daneben gibt es aber auch einige Risiken, die durch Manipulationen und Missbrauch der Technologien an sich entstehen, die wir auch zumindest grundsätzlich verstehen sollten (Kap. 18). Zu guter Letzt ergänze ich noch einige praktische Tipps, die ich aus den mehr als zehn Jahren Erfahrung mitgenommen habe und die mir während der verschiedenen Projekte, die sich mit verschiedenen Facetten der Digitalisierung beschäftigt haben, weitergeholfen haben und die sicherlich auch einen Mehrwert aus Praxissicht bringen (Kap. 19). Für alle, die dann noch nicht genug haben und sich noch intensiver mit dem Thema der Digitalisierung beschäftigen wollen, habe ich noch einige interessante Studien, Beiträge und sonstige Quellen aufgeführt, die helfen, auf dem aktuellen Stand zu bleiben und manche Facetten zu vertiefen (Kap. 20).

1.3 Wem ich dieses Buch empfehle und wem nicht Dieses Buch richtet sich an alle, zumindest technikaffinen Personaler, die sich bereit machen wollen für die Entwicklungen, die in den kommenden Jahren auf uns warten. Dabei ist es egal, ob der Fokus im Recruiting, Personalmarketing oder Hochschulmarketing liegt. Es ist egal, ob Recruiting nur ein Teilgebiet Ihrer Aufgabe ist oder Sie sogar in Führungsverantwortung sind. Auch als Berufseinsteiger oder Student bietet dieses Buch einen sehr guten holistischen Überblick über die Möglichkeiten der Digitalisierung im Recruiting. Jeder, der sich mit dem Thema der Digitalisierung im Recruiting beschäftigen möchte – oder einen Blick in die zukünftigen Möglichkeiten des Recruitings werfen möchte, der wird mit diesem Buch nicht danebenliegen. Das Buch ist durch die verschiedenen/unterschiedlichen Themen der verschiedenen Autoren eine gesunde Mischung aus theoretischen Grundlagen und aus echtem Praxiswissen und sollte somit sowohl den Theoretiker als auch den Praktiker ansprechen. Wer weder ein wenig technische Affinität mitbringt, noch das Interesse hat, sich etwas tiefer mit dieser Materie zu beschäftigen, dem rate ich eher von dem Buch ab.

Literatur Human Resources Manager. (2018). Gewinnerliste 2018 HR Excellence Awards 2018. https:// www.hr-excellence-awards.de/best-of-2018/. Zugegriffen: 16. Dez. 2018.

1 Einleitung

5 Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

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Digitalisierung im Recruiting: der Status quo Ein Überblick über Technologien, Lösungen und Systeme im Kontext der Digitalisierung des Recruitings Tim Verhoeven und Paul Goldmann

Inhaltsverzeichnis 2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.2 Wo digitale Prozesse und Lösungen schon Standard sind im Recruiting . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2.1 Bewerbermanagementsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.2.2 Mobile Recruiting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.3 Die Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3.1 Digitale Mitarbeiterempfehlungsprogramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.3.2 CV-Parsing und One-Click-Bewerbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.3.3 Suchmaschinenmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.3.4 Videointerviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.4 Der Ausblick auf das, was kommen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.4.1 Voice-Commerce. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.4.2 Robotic Process Automation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4.3 Augmented Reality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.5 Exkurs: Wie analoge Formate durch digitale Elemente wiederbelebt werden – Beispiel Karrieremessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.5.1 Der natürliche Lebensraum der jungen Talente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.5.2 Recruiting-Events befinden sich außerhalb dieses Lebensraums . . . . . . . . . . . . . . 20 2.5.3 Implikationen, um junge Talente zur Teilnahme an Events zu motivieren . . . . . . . 22 2.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Goldmann  Ingolstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_2

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T. Verhoeven und P. Goldmann Zusammenfassung

In diesem Buch geht es um das spannende und zugleich allgegenwärtige Thema der Digitalisierung – mit dem Fokus Recruiting. Um hier einen Einstieg zu finden, bedarf es erst einmal eines ganzheitlichen Überblicks. Welche Technologien und Lösungen gibt es überhaupt und welche sind schon längst Standard bei den meisten Unternehmen, welche sind gerade im Kommen und welche sind noch Zukunftsmusik? Angefangen mit der digitalen Bewerbung über CV-Parsing und die One-Click-Bewerbung bis hin zu noch nicht weit verbreiteten Themen wie Voice Commerce, Augmented Reality oder Robotic Process Automation, ist hier ein breiter Überblick über die spannendsten Themen zusammengefasst.

2.1 Einleitung Wenn wir heute über das Thema der Digitalisierung im Recruiting und über den Einfluss darauf sprechen, dann denkt man immer daran, dass das Thema komplett neu ist und sich alles wahnsinnig schnell verändert hat. Dabei handelt es sich hierbei um einen permanenten und kontinuierlichen Prozess der Veränderung. Schon vor vielen Jahren wurden die Grundsteine dafür gelegt, was heute an modernen Technologien genutzt wird. Im Folgenden werden wir einen Überblick über Entwicklungen und die Anfänge der digitalen Einflüsse auf das Recruiting geben. Dabei wird der Fokus auf den Themen und Technologien liegen, die nicht so viel Relevanz oder Aktualität besitzen, dass sie ein eigenes Kapitel bekommen haben. Im Folgenden werden wir uns den digitalen Veränderungen widmen, die im Recruiting stattgefunden haben, gerade stattfinden und noch weiter stattfinden werden. Segmentiert haben wir die Veränderungen in drei Bereiche: • Wo digitale Prozesse und Lösungen schon Standard sind im Recruiting: Die Themen, die hier behandelt werden, sind i. d. R. schon lange auf dem Markt und werden von der Mehrheit der Unternehmen als auch der Bewerber akzeptiert und genutzt. • Die Gegenwart: Bei den Themen die hier behandelt werden, sieht es schon etwas anders aus. Man kennt sie und es gibt auch schon einige Jahre Erfahrung im Umgang mit den Vor- und Nachteilen, die diese Lösungen mit sich bringen. Diese Lösungen sind zwar noch nicht flächendeckend verbreitet, aber die kritische Masse ist so groß, dass es zum Standard von Unternehmen gehören sollte, die modern und innovativ im Recruiting aufgestellt sind. • Der Ausblick auf das, was kommen wird: Die Themen, die hier zu sehen sind, sind zwar nicht komplett unbekannt, aber sie sind sehr neu und/oder sehr selten mit konkreten Use Cases zu finden. Insbesondere Themen, die auf sehr neuen Technologien basieren, sind hier zu finden.

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Diese Aufteilung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern spiegelt vielmehr wider, was aktuell auf Fachveranstaltungen, im Rahmen von Webinaren oder in Blogbeiträgen diskutiert und als relevant angesehen wird.

2.2 Wo digitale Prozesse und Lösungen schon Standard sind im Recruiting 2.2.1 Bewerbermanagementsysteme Bewerbermanagementsysteme – kurz BMS oder vom englischen Application Tracking System abgeleitet ATS – sind schon seit Jahrzehnten im Einsatz und ermöglichen auf der einen Seite die elektronische Bewerbung durch eine digitale Benutzeroberfläche für Bewerber als auch die Organisation und Verarbeitung der Bewerbungen durch Recruiter. Im Vergleich zur Administration von Papierbewerbungen erhöht sich sowohl die Datenqualität als auch die Durchlaufzeiten als auch die Kosten pro Bewerbung zu verbessern (von Stetten et al. 2011). Während früher Papierbewerbungen in Form einer klassischen Bewerbungsmappe Standard waren, so überwiegt heute deutlich die digitale Form – da sie für beide Seiten deutlich mehr Vorteile mit sich bringt. Bewerber sparen Zeit dadurch, dass die Bewerbung umgehend beim Unternehmen ankommt und nicht postalisch mehrere Tage unterwegs ist. Sie sparen aber auch Geld für teure Mappen, ausgedruckte Fotos und Frankierung. Ähnliche Vorteile ergeben sich für Unternehmen – sowohl aus zeitlicher Sicht als auch aus Kostensicht spart man i. d. R. deutlich durch die digitale Bewerbung. Der Trend geht hier eindeutig in Richtung der digitalen Bewerbung. Dies erkennt man auch an den Zahlen: Von 2010 bis voraussichtlich 2021 werden sich die Anteile an Papierbewerbungen von 26,8 % auf 6,8 % reduzieren, was auch daran liegt, dass immer mehr Unternehmen keine Papierbewerbung mehr wollen oder teilweise auch nicht mehr akzeptieren, (Weitzel et al. 2017a, S. 5 ff.). Nun gibt es zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Die Bewerbung via E-Mail oder die Bewerbung über irgendeine Form von Formular, mit oder ohne Registrierung. Während die Bewerbung per E-Mail aus nachvollziehbaren Gründen bei Bewerbern am beliebtesten ist, da hier der geringste Aufwand einhergeht, bevorzugen Unternehmen eher Bewerbungen über Formulare, die i. d. R. in ein Bewerbermanagementsystem führen. Die Bewerberakzeptanz von Formularbewerbungen hängt sehr stark von der Komplexität und dem damit verbunden zeitlichen Aufwand zusammen. Trotzdem ist die Akzeptanz in Summe noch relativ hoch: 87,3 % aller Bewerber, die sich über ein Bewerbermanagementsystem bewerben sollen, halten sich daran. Die restlichen Bewerber teilen sich auf in 6,3 %, die sich über andere Wege bewerben und 6,4 %, die ihre Bewerbung dann abbrechen (Weitzel et al. 2017a, S. 7). Ein weiterer Vorteil, der sich für beide Seiten zeigt, ist die Nutzung von Automatismen und anderen Standards, die man im Bewerbermanagementsystem integrieren kann.

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Die bekannteste automatische Lösung ist wohl die automatische Eingangsbestätigung, auf die auch mehr als 90 % aller Bewerber viel Wert legen (Weitzel et al. 2017a, S. 8). Neun von zehn Unternehmen nutzen ein Bewerbermanagementsystem (Weitzel et al. 2017a, S. 23), jedoch sind meiner Erfahrung nach viele Unternehmen nicht übermäßig zufrieden mit ihren Lösungen. Nur ein geringer Teil aller Unternehmen (15,7 %) haben eine selbstentwickelte Lösung. Der Rest nutzt entweder große Lösungen, wie SAP SuccessFactors oder kleinere agile Lösungen. Da das Bewerbermanagementsystem der Dreh- und Angelpunkt für die meisten anderen Softwarelösungen im Recruiting ist1, ist die Auswahl des richtigen Systems ein entscheidender Faktor für die Effizienz und den Erfolg der eigenen Recruiting-Maßnahmen. Übersicht

Achten Sie bei der Wahl eines guten Bewerbermanagementsystems auf fünf wichtige Punkte. Ein gutes Bewerbermanagementsystem muss: … zu Ihrem Prozess passen. … ein einfach zu bedienendes Bewerber-Interface benötigen. … gute Schnittstellen haben. … flexibel anzupassen sein. … mit dem aktuellen Datenschutz konform sein (angelehnt an Bahr und Verhoeven 2018).

2.2.2 Mobile Recruiting Das Nutzerverhalten im Bereich der Internetnutzung hat sich in den letzten Jahren sehr stark gewandelt. Smartphones mit Internetzugang sind heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Da ist es natürlich naheliegend, dass Bewerber ihre Smartphones nutzen, um sich über Arbeitgeber oder Jobs zu informieren. Gleichwohl ist es auch so, dass Arbeitgeber sich auf diesen Wandel einstellen und ihre Inhalte möglichst optimal mobil zugänglich machen. Von den Unternehmen gehen 69,4 % davon aus, dass die zunehmende Nutzung von mobilen Endgeräten einen großen Einfluss auf das Recruiting haben wird, obwohl die Mehrheit noch nicht davon ausgeht, dass man ohne mobile Bewerbungsmöglichkeiten langfristig Schwierigkeiten haben wird, die richtigen Talente zu finden (Meinestadt.de 2017, S. 3). Die meisten Unternehmen sind auch sehr aufgeschlossen gegenüber dem Thema Mobile Recruiting – nur der Mittelstand hängt da noch ein wenig hinterher. Nur 44,3 % aller mittelständischen Unternehmen sind demgegenüber aufgeschlossen (Weitzel et al. 2017b, S. 4).

1Beispielsweise

Recruiting-Analytics-Lösungen, CV-Parser, Online-Assessments oder Matching-Lösungen benötigen zur vollen Entfaltung des Potenzials einen Anschluss an das Bewerbermanagementsystem.

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Dies führt auch dazu, dass noch nicht alle Karriereseiten, geschweige denn alle Bewerbungsformulare mobil optimiert sind und hier noch Optimierungspotenzial besteht. Fast die Hälfte aller Bewerber (46,6 %) haben mobile Bewerbungen schon einmal abgebrochen. Die häufigsten Gründe hierzu lagen in fehlenden Informationen auf dem Smartphone, mangelnder Mobiloptimierung für Bewerbungsformulare und mangelnder Mobiloptimierung der Stellenanzeigen (Meinestadt.de 2017, S. 11). Neben der mobilen Optimierung wird häufiger noch über zwei weitere Möglichkeiten diskutiert, um mobile Endgeräte zu nutzen. Zum einen haben wir hier die Nutzung von existierenden Apps, die speziell auf die Bedürfnisse des Arbeitgeber-Bewerber-Verhältnisses angepasst werden. Hier sind Messenger-Dienste, wie Whatsapp im Vordergrund. Mit mehr als 1,3 Mrd. aktiven Nutzern pro Monat ist hier auf jeden Fall eine große Zielgruppe zu finden. Den großen Durchbruch hat WhatsApp aber, zumindest in Deutschland, noch nicht im Bereich Recruiting verzeichnen können, weder bei Bewerbern2 noch bei Unternehmen3, trotz einiger interessanter Beispiele. Das Daimler-Recruiting-Team setzte 2015 WhatsApp erstmalig öffentlichkeitswirksam im Recruiting ein: 100 Interessenten konnten in einer Gruppe einer Person folgen, die einen Tag lang per WhatsApp ihren beruflichen Alltag vorstellte und Fragen beantwortete – also quasi ein Tag der offenen Tür per WhatsApp, der danach auch von einigen anderen Firmen in ähnlicher Art umgesetzt wurde.

Neben der Benutzung von bestehenden Apps gibt es natürlich auch noch die Möglichkeit zur Erstellung von eigenen expliziten Recruiting-Apps für Unternehmen. Es gab viele Versuche, hier die perfekte Lösung zu erstellen, aber ich kenne kein einziges Beispiel, was mich komplett überzeugt hat und ansatzweise massentauglich wäre. Die meisten Ideen scheitern an folgenden Punkten: • Kosten-Nutzen-Relation für die Erstellung: Der Aufwand ist für eine solche Maßnahme relativ hoch, wenn sie für alle Betriebssysteme angeboten werden soll und da auch ein guter Initialinhalt dargestellt werden soll. • Aufwand für die Pflege: Aktuelle Inhalte, häufige Änderungen der jeweiligen Endgeräte sowie Betriebssysteme • Eintrittsbarriere: Bewerber müssen diese App erst einmal freiwillig runterladen. • Mangelnder Mehrwert: Im Vergleich zu mobil optimierten Webseiten ist häufig die Frage, welchen großen Mehrwert eine solche App im Vergleich dazu hat. Wenn man diese vier Punkte überwinden kann, dann kann man möglicherweise auch eine Recruiting-App erstellen lassen, die Mehrwert bringt.

2Bei

der Frage, ob Bewerber WhatsApp nutzen für Stellensuche, beantworteten nur 4,1 % der Befragten diese Frage mit Ja. 3Bei der Frage, ob Unternehmen WhatsApp in der Rekrutierung nutzen, beantworteten 1,3 % diese Frage mit Ja und 3,8 % mit: Nein, ist aber geplant.

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2.3 Die Gegenwart 2.3.1 Digitale Mitarbeiterempfehlungsprogramme Mitarbeiterempfehlungsprogramme gehören zu den nachhaltig besten Recruiting-Kanälen und Unternehmen investieren immer mehr in diese Programme. So gaben 78 % der Unternehmen an, dass sie Mitarbeiterempfehlungen als wertvollsten Kanal einstuften (Entelo 2018).  Mitarbeiterempfehlungsprogramme nennt man jede Form von Programm, das die Empfehlungen von potenziellen neuen Mitarbeitern durch bestehende Mitarbeiter motivieren soll. In der Regel werden hierzu Anreize gesetzt durch Prämien oder Gamification-Elemente. Da ist es naheliegend, dass Unternehmen überlegen, wie sie ihre Mitarbeiterempfehlungsprogramme am besten optimieren können. Schließlich gibt es viele nachgewiesene Vorteile, die durch Mitarbeiterempfehlungen entstehen: • Empfohlene Mitarbeiter integrieren sich schneller und besser im neuen Unternehmen. • Empfohlene Mitarbeiter kündigen seltener in den ersten Jahren. • Empfohlene Bewerber werden häufiger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. • Durchschnittlich benötigt man weniger empfohlene Bewerber, um eine Stelle zu besetzen. • Empfehlende Mitarbeiter fühlen sich wertgeschätzt, wenn ihre Empfehlungen honoriert werden. • Sowohl die Time-to-Hire als auch die Cost-per-Hire sind bei Besetzungen mit empfohlenen Bewerbern besser. Erfolgreiche Mitarbeiterempfehlungsprogramme hängen jedoch von einigen Faktoren ab: • Mitarbeiterzufriedenheit, • die richtigen Anreize • vertrauensvoller Umgang mit den Empfehlungen, • einfache Prozesse des Empfehlens, • einfache Prozesse für den Empfohlenen, • Transparenz. Genau da greifen die meisten digitalen Unterstützungen an. Es gibt mehrere Anbieter, die versuchen den Prozess der Empfehlung digital zu optimieren, beispielsweise die Firmen Firstbird und Talentry. Beide verfolgen den sehr sinnvollen Ansatz, dass sie durch eine Plattform die Prozesse für Empfehlenden und Empfohlene vereinfachen möchten, das

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Anreizsystem um weitere Varianten erweitern und v. a. die Transparenz erhöhen. Dadurch, dass eine solche Plattform der Dreh- und Angelpunkt der Mitarbeiterempfehlungen ist, kann man dadurch zentral auch deutlich mehr messen und jeder Empfehlende kann sehen, wie viele Bewerber er empfohlen hat und – sofern die Plattform auch an das Bewerbermanagementsystem angeschlossen ist – auch, wie der Status der Empfohlenen ist.

2.3.2 CV-Parsing und One-Click-Bewerbung In der Regel aufbauend auf ein Bewerbermanagementsystem ist das Thema One-Click-Bewerbung, häufig basierend auf Parsing-Technologie, der Versuch der Quadratur des Kreises.  „Definition der One-Klick-Bewerbung: Die Bewerbung kann mit dem eigenen Lebenslauf oder Profil auf sozialen Netzwerken in bis zu drei Schritten (auch von unterwegs) abgeschlossen werden.“ (Petschar und Zavrel 2016, S. 96)  Definition von CV-Parsing „Im Grunde ist dies die Fähigkeit, verschiedenen Formaten unstrukturierter Dokumente einen Sinn zu verleihen. Fortschrittliche statistische und regelbasierte natürliche Sprachverarbeitungstechniken müssen kombiniert werden, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Dies erlaubt es dem Computer, Muster zu erkennen und Konzepte in Beziehungen zu bringen, um Felder in einer strukturierten Präsentation darzustellen.“ (Petschar und Zavrel 2016, S. 100) Eine One-Click-Bewerbung, die auf einem CV-Parsing-System basiert, ermöglicht es also dem Kandidaten, sich schnell und komfortabel in bis zu drei Schritten zu bewerben; auf der anderen Seite ermöglicht es dem Unternehmen, trotzdem ein maximal mögliches Maß an Daten ins Bewerbermanagementsystem eingespeist zu bekommen. Wichtig ist es dabei zu verstehen, dass nicht alle One-Click-Bewerbungen auf CV-Parsing basieren und nicht alle CV-Parsing-Technologien gleich sind. Die Vorteile des Bewerbermanagementsystems möchten Unternehmen beibehalten, aber Bewerbern ein möglichst hohes Maß an Komfort bieten. Solche Lösungen nutzen 9,5 % aller Unternehmen und weitere 17,9 % planen die Einführung einer solchen Lösung (Weitzel et al. 2017a, S. 13). Einer der Gründe, warum bisher noch nicht allzu viele Unternehmen diese – aus meiner Sicht – sehr sinnvolle Technologie nutzen, liegt mutmaßlich daran, dass Unternehmen Sorge dabei haben, dass damit auch Einschränkungen bei der Kandidatenselektion einhergehen (Weitzel et al. 2017a, S. 14). Durchschnittlich benötigt ein Bewerber 55 min zum Erstellen einer Bewerbung – 58,1 % aller Teilnehmer der Studie Recruiting Trends 2017 gaben an, dass sie für das Anschreiben sehr lange oder lange benötigen, danach folgt der eigentliche Lebenslauf (Weitzel et al. 2017a, S. 7). Durch eine One-Click-Bewerbung kann zumindest die Zeit für die Durchführung der eigentlichen Bewerbung deutlich gesenkt werden, da das langwierige Ausfüllen von Formularen größtenteils wegfällt.

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Das CV-Parsing hat auch noch den Vorteil, dass es für einige weitere Technologien die Datengrundlage durch das strukturierte Auslesen und semantische Interpretieren der Daten aus dem Lebenslauf bereitstellt. Sowohl Matching-Lösungen (vgl. Kap. 7) als auch komplette Datawarehouse gestützte Recruiting-Analytics-Systeme (vgl. Kap. 4) profitieren von hochqualitativen Parsing-Systemen. Zu guter Letzt sind dies natürlich auch gute Datengrundlagen für Recruiting-Lösungen die auf künstlicher Intelligenz basieren (vgl. Kap. 9).

2.3.3 Suchmaschinenmarketing Suchmaschinenmarketing (SEM) wird häufig als Überbegriff genutzt für die beiden Teilbereiche Suchmaschinenwerbung (SEA) und Suchmaschinenoptimierung (SEO)4. Wo besteht nun der Unterschied zwischen Suchmaschinenwerbung und Suchmaschinenoptimierung? Suchmaschinenmarketing hat das Ziel, qualifizierte Besucher durch eine Suchmaschine auf gewünschte Zielseiten zu führen (BVDW o. D.). Suchmaschinenoptimierung umfasst alle Maßnahmen, die das Ziel haben, die natürlich, organische Auffindbarkeit von Webseiten zu verbessern. Suchmaschinenwerbung kümmert sich um das Einblenden von Werbung im Kontext von Suchmaschinen, das auf die Nutzer abgestimmt wird. Suchmaschinen sind heutzutage ein wichtiger Faktor bei der Suche von Informationen im Internet. Mit weitem Abstand ist Google sowohl in Deutschland als auch weltweit die Nummer eins der Suchmaschinen5 (Statista 2019). Dieser Trend zeigt sich auch in den mehr als 15 Jahren permanent stark steigender Werbeumsätze, die Google generiert – 2017 mehr als 90 Mrd. US$ (Statista 2018). Da Google momentan der aktuell mit deutlichem Abstand relevanteste Marktteilnehmer ist, werden sich die folgenden Aussagen primär auf Google beziehen und damit eine relativ hohe Allgemeingültigkeit haben. Da heute schon mehr als die Hälfte aller Bewerber Google nutzt, wenn nach neuen Stellenangeboten gesucht wird, ist es naheliegend, dass Arbeitgeber sich mit dieser Thematik beschäftigen (Meinestadt.de 2017, S. 8). Hinzu kommt, dass Bewerber sich heutzutage nicht nur mit der Recherche nach Stellenangeboten begnügen, sondern auch potenzielle Arbeitgeber und vor Vorstellungsgesprächen die Gesprächsteilnehmer recherchieren. Arbeitgeber sind sich dessen bewusst. Bei der Frage „Wie häufig denken Sie, nutzen Kandidaten Google um nach Ihrem Unternehmen zu suchen?“ gaben 83,7 % an, dass sie glauben, dass Kandidaten Google häufig dazu nutzen. Bei der gleichen Frage nach der Nutzung von Google zur Suche nach offenen Stellen gaben 75,6 % der Unternehmen dies an (Weitzel et al. 2016, S. 20). 4Gleichzeitig

gibt es auch (meist ältere) Definitionen, die Suchmaschinenmarketing mit Suchmaschinenwerbung gleichsetzen, dem gegenüber sich die Suchmaschinenoptimierung befindet. 5Im Dezember 2018 kamen laut Statista-Daten Google auf 89,63 % Marktanteil, gefolgt von Bing mit 3,98 % und Yahoo mit 2,83 % der Seitenbesuche von Desktopnutzern.

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So sehr sich Arbeitgeber dessen bewusst sind, so wenig aktiv nutzen sie dieses Wissen, um Bewerber zielgerichtet auf ihr Unternehmen und ihre offenen Jobs aufmerksam zu machen. Beim Thema Suchmaschinenoptimierung ist noch viel Luft nach oben. Nur 58,3 % der Unternehmen gaben an, dass die Google-Suche nach dem Unternehmensnamen zur eigenen Karriereseite führt und nur 53,6 % gaben an, dass die Suche nach Unternehmensnamen und offenen Stellen zu Stellenanzeigen führt (Weitzel et al. 2016, S. 21). Beim Thema Suchmaschinenwerbung sieht es jedoch noch ernüchternder aus. Google AdWords6 ist das Werbesystem zum Schalten von Werbeanzeigen bei Google. Es gab tatsächlich mehr Unternehmen, die nicht einmal Google AdWords kannten (26,2 %), als Unternehmen, die Google AdWords aktiv nutzen (22,6 %; Weitzel et al. 2016, S. 22). 

Nutzen Sie das Expertenwissen aus Ihrer Marketing-Abteilung und lassen Sie sich erklären, wie Sie ihre Stellenanzeigen und Webseite optimieren können. Häufig benötigt es dazu nur wenige Handgriffe, im Gegensatz zu meist überteuerten Angeboten von Agenturen. Versuchen Sie sich mal mit Google Adwords. Momentan kann man dort durch eine zielgruppenspezifische Ausspielung von Werbemaßnahmen noch eine sehr gute Cost-per-Candidate sowie Cost-per-Hire erzielen im Vergleich zu vielen konventionellen Maßnahmen (vgl. Kap. 6).

2.3.4 Videointerviews Videointerviews sind innerhalb des Selektionsprozesses eine Alternative zum Telefoninterview geworden. Im ersten Schritt befassen wir uns hier mit synchronen Videointerviews; im Verlauf werden wir auch die Möglichkeit von asynchronen, sog. zeitversetzten Videointerviews vertiefen. Die klassischen persönlichen Vor-Ort-Interviews haben sie noch nicht verdrängt und die meisten Experten sind sich auch darin einig, dass reine Videointerviews dazu auch nicht in der Lage sein werden. Videointerviews haben einige Vorteile gegenüber Präsenzinterviews als auch gegenüber Telefoninterviews. Vorteile gegenüber Präsenzinterviews Videointerviews können unabhängig davon gemacht werden, wo eine Person sich gerade befindet, vorausgesetzt, dass eine stabile Internetverbindung existiert. Dadurch sind sowohl Bewerber als auch Recruiter flexibler in der Wahl ihres Orts. Da man keinen Interviewraum benötigt und der Bewerber keine Reisekosten verursacht, ist hierdurch auch ein relativ großes finanzielles Sparpotenzial zu erkennen.

6Mittlerweile

umbenannt in GoogleAds.

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Vorteile gegenüber Telefoninterviews Im Gegensatz zu reinen Telefoninterviews bieten Videointerviews v. a. einen eignungsdiagnostischen Mehrwert. Man sieht sein Gegenüber und kann nicht nur die Stimme bewerten, sondern daneben auch Mimik, Gestik, Blickkontakt und das Zusammenspiel dieser einzelnen Elemente. Besonderheit der zeitversetzten Videointerviews Zeitversetzte Videointerviews laufen grundsätzlich immer ähnlich ab. Der Bewerber geht auf eine Plattform, wo er online Fragen beantworten muss und sich dabei filmen muss. Die Aufnahmen werden dann an das Unternehmen verschickt, wo man dann in Ruhe mit mehreren Beobachtern on-demand die Aufnahmen anschauen kann. Sowohl der Bewerber als auch die Beobachter agieren zeitlich unabhängig und flexibel. Hier werden die Vorteile sowohl gegenüber Telefoninterviews als auch gegenüber Präsenzinterviews beide noch intensiviert. Dadurch, dass bei einem zeitversetzten Videointerview auch eine enorme zeitliche Flexibilität für beide Seiten besteht, lässt sich das zeitversetzte Videointerview theoretisch sehr gut einplanen. Daneben gibt es hier das Potenzial für Standardisierung und Objektivierung der Personalauswahl. Man kann ohne negative Auswirkungen auf die Candidate Experience die Anzahl der Beobachter für eine höhere Objektivität beliebig erhöhen.

2.4 Der Ausblick auf das, was kommen wird Alles wird momentan überschattet vom Buzzword der künstlichen Intelligenz, der auch in diesem Buch ein komplettes Kapitel gewidmet wird (Kap. 9). Daneben sicherlich auch, das langsam immer relevanter werdende Thema, Recruiting Analytics, das zwar schon ein paar wenige Unternehmen nutzen (Human Resources Manager 2018), wobei jedoch die komplette Entwicklung erst am Anfang steckt Kap. 4. Nicht weniger interessant wird alles rund um das Thema Chat-Bots sein, wo ich auch noch sehr viel Potenzial sehe, was auch in einem extra Kapitel beleuchtet wird Kap. 8. Gesondert wird sich noch einmal im Rahmen eines Exkurses dem Thema gewidmet, wie sich analoge Prozesse bzw. Touchpoints verändern müssen, wenn sie nicht von der Digitalisierung abgehängt werden wollen – hier anhand des Beispiels Karrieremessen Abschn. 2.5.

2.4.1 Voice-Commerce Die digitalen Sprachassistenten Siri, Alexa und Cortana kennt mittlerweile fast jeder in Deutschland7. Komplettiert mit dem Google Assistant (früher Google Now) ist ein Wettkampf zwischen den großen IT-Konzernen, Apple, Amazon, Microsoft und Google 7Laut

einer Statista-Befragung aus dem Jahr 2017 kennen 84,4 % der Befragten Siri, 70,4 % Alexa und 63,6 % Cortana.

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entstanden. Das Ziel: die Marktführerschaft im relativ neuen Geschäftsfeld Voice Commerce.  Unter Voice Commerce versteht man die Sammlung verschiedener Technologien und Ansätze der Informationstechnologie, die indirekt oder direkt mit der Sprachverarbeitung zu tun haben. Darunter beispielsweise die Voice-Search-Technologie, die es dem Nutzer ermöglicht, das Internet mithilfe seiner Stimme zu durchsuchen (Isheim 2018). Die führenden Sprachassistenten sind allesamt selbstlernende Systeme, die sowohl ihre Datenbasis als auch ihre Kommunikationsfähigkeiten permanent verbessern. In der Regel kann man sie mit anderer vernetzter Hardware verbinden, sofern diese kompatibel ist. Je nach System sind die Möglichkeiten unterschiedlich, wie und was man in ein solches System integrieren kann und auch, wie man dem System neue Befehle beibringen kann. Die Möglichkeiten im Recruiting sind meiner Meinung nach enorm – auch wenn es noch nicht viele Beispiele gibt. Der globale Versicherungskonzern Allianz hat im Jahr 2018 als eines der ersten Unternehmen den Google Sprachassistenten genutzt für sein Recruiting. Mit den Worten „I want to talk to Allianz Careers“ aktivierte man die ‚Action‘, die mit Bewerbern dann eine Konversation zum Thema Karriere führte und für viele Fragen die passenden Antworten wusste. Die drei zu dem Zeitpunkt inhaltlichen Kategorien, die dort abgedeckt wurden, waren Interviewvorbereitung, eine Interviewsimulation und Informationen über den Recruiting-Prozess. Die Zufriedenheit mit dem Sprachassistenten war exzellent, mit einem Net Promoter Score in Höhe von 67 (Queb 2018).

Man kann zwar einen Sprachassistenten noch von einem Menschen unterscheiden, aber die Sprachqualität wird immer besser und menschlicher. Je besser hier die Sprachqualität wird, desto mehr werden diese Sprachassistenten auch in sensibleren Kommunikationsszenarien, wie Bewerberkommunikation oder auch Vorstellungsgesprächen.

2.4.2 Robotic Process Automation Immer mehr Unternehmen lassen einfache und standardisierte Aufgaben durch Softwareroboter (kurz „bots“) automatisiert erledigen. Dieser Prozess wird in Fachkreisen Robotic Process Automation (kurz RPA) genannt. Drei Viertel der Unternehmen nutzen allgemein schon RPA und 90 % der Befragten äußerten sich sehr zufrieden mit den Ergebnissen (Zierhofer 2018). Nun gibt es natürlich auch im Recruiting schon gewisse automatisierte Routinen, die über bestehende Software abgedeckt werden. Das bekannteste Beispiel ist natürlich die automatisierte Eingangsbestätigung nach der Bewerbung. Es gibt jedoch nur wenige mir bekannte Fälle, wo explizit an Prozessautomatisierung gearbeitet wurde und es nicht nur das Beiwerk von anderen Lösungen ist.

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Im Recruiting gibt es noch eine Vielzahl von administrativen Aufgaben, die nach mehr oder weniger einfachen Mustern ablaufen, aber viel Zeit rauben. Wie viel Zeit investieren wir in Vollständigkeitsprüfung, Reminder verschicken, interne Formulare versenden, Genehmigungsprozesse starten oder einpflegen von Bewerberunterlagen? Viele Aufgaben die, wenn überhaupt, dann gern in Shared Service Center ausgegliedert werden. Für diese einfachen Aufgaben benötigt man keine künstliche Intelligenz, sondern hier ist RPA völlig ausreichend. Eine sehr einfache und kostenlose Möglichkeit, wie man sich selbst Wenn-Dann-Bots bauen kann, ist das Tool IFTTT (If This Then That), mit dem man verschiedene Drittanbieter miteinander verknüpfen kann, wie beispielsweise Google-Produkte, LinkedIn, Twitter etc. Das Vorgehen ist dabei immer gleich: Am Anfang steht ein Trigger, als ein gewisser Auslöser, der stattfinden muss, auf den dann eine Aktion folgt. Dadurch, dass es immer mehr Dienste gibt, die bei IFTTT angeschlossen sind, gibt es auch immer mehr Möglichkeiten, was man alles machen kann. Insbesondere die Anbindung von LinkedIn ermöglicht viele interessante Ideen, die man im Recruiting nutzen kann. Beispiel

Sie pflegen ein großes Netzwerk bei LinkedIn mit vielen Tausend Kontakten, aber wollen nicht verpassen, wenn jemand den Job wechselt, sein Profil updatet oder etwas anderes ändert? Mit IFTTT können Sie alles in eine Tabelle permanent einpflegen lassen, damit Sie regelmäßig alles nachschauen können und nichts verpassen. Dadurch ergibt sich immer mal wieder ein guter Moment, interessante Kandidaten anzusprechen. Ein weiteres Beispiel kann hilfreich sein, wenn Sie die Konkurrenz beobachten wollen. Beispiel

Sie wollen immer auf dem aktuellen Stand bleiben, was ein Konkurrent macht? Dann integrieren Sie ein spezielles Hashtag oder einen User auf Twitter und lassen sich via IFTTT entweder per E-Mail informieren oder alle Aktualisierungen direkt in einer Tabelle einpflegen. Das gleiche können Sie natürlich auch bei Stellenausschreibungen eines Mitbewerbers machen, sofern diese über einen RSS-Feed zu finden sind. Neben solchen kostenlosen Tools gibt es natürlich auch eine Menge kostenpflichtige Lösungen, die eher mit Business-Anwendungen harmonisiert werden können. Daneben gibt es auch die Möglichkeit, sich solche RPA-Lösungen selbst programmieren zu lassen. Der Aufwand dafür ist i. d. R. deutlich geringer als man denken mag.

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2.4.3 Augmented Reality Augmented Reality (AR) oder auch erweiterte Realität genannt bezeichnet die computergestützte erweiterte Realitätswahrnehmung, beispielsweise durch AR-Brillen, Smartphones oder andere technische Geräte. Das bietet den Vorteil, dass wir die Realität wahrnehmen und diese um zusätzliche Informationen bereichern. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig und es gibt sehr viele spannende Use Cases außerhalb des Recruitings. Im privaten Umfeld bekam das Thema Augmented Reality im Sommer 2016 eine sehr hohe Aufmerksamkeit durch das für Smartphones, Handhelds und Tablets veröffentlichte Spiel Pokémon Go. Ein Spiel, das eine Symbiose zwischen digitalen Inhalten und Realität und damit den ersten kommerziellen Durchbruch eines AR-Spiels schaffte. Der Hype um Pokémon Go war so groß, dass es zwischenzeitig das meistgespielte Spiel in den USA war und der Aktienkurs des Herstellers dieses Spiels, Nintendo, sich daraufhin verdoppelte (Zeit 2016). Viele Millionen Nutzer spielten das Spiel und bewegten sich durch die Landschaften, um Pokémons8 zu fangen, die durch die Kamera mit der Realität verschmolzen und auf den Touchscreens zu sehen waren. Was bei Spielen funktioniert und Millionen Menschen begeistert, sollte doch auch im Recruiting einen Mehrwert bringen können. Schließlich sind vergleichbare Technologien, wie Virtual Reality9 (VR) auch schon mit dem einen oder anderen schönen Use-Case im Recruiting aufgefallen, häufig in Form von virtuellen Rundgängen durch Arbeitsplätze. AR kann jedoch mehr. Sie kann auf die reale Umgebung reagieren und diese in die Konzepte einfließen lassen. Da der Perzipient i. d. R. auch immer die Umgebung erkennt, ist man auch weniger anfällig für Unfälle. Beispiel

Firma A ist ein Automobilhersteller und will seinen Bewerbern einen spannenden AR Use Case zeigen, der das Produkt (Auto) mit den Arbeitsprozessen verbindet. Folgendes Szenario: Bewerber bekommen bei Events AR-Brillen und dürfen sich dann frisch produzierten Autos nähern. Je nachdem wohin er Bewerber schaut, kann er durch Gestensteuerung einen digitalen Assistenten einblenden – eine Person – die im Bild steht oder sitzt und dem Bewerber erklärt, wie dieses Teil hergestellt wird. Der Bewerber kann sich auch ins Auto setzen und wird auch dort auf Wunsch vom digitalen Assistenten

8Der

Begriff Pokémon bedeutet so viel wie Taschenmonster. Pokémon sind Fantasiewesen aus einer bekannten Videospielserie, die 1996 ihren Ursprung hatte und auf Anime-Serien, -Filmen und sehr viel Merchandising basiert. 9Virtual Reality erschafft im Gegensatz zur Augmented Reality eine komplette eigene (virtuelle) Realität.

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beraten. Der digitale Assistent ändert auch immer sein Äußeres in Form eines echten Mitarbeiters, der für die Herstellung genau dieses Teils verantwortlich ist, welches der Bewerber sich gerade anschaut. Anschaulicher kann man es kaum noch machen – der Bewerber hat so zu jeder Zeit spannende zusätzliche Informationen über das Produkt und die Tätigkeiten bei Arbeitgeber A. Das ist nur eines von sehr vielen Beispielen, die man sich denken kann, wo AR sinnvoll einen Mehrwert bringen könnte. Man denke nur mal an den Auswahlprozess, bei dem man beispielsweise Interviews mit AR bereichern könnte.

2.5 Exkurs: Wie analoge Formate durch digitale Elemente wiederbelebt werden – Beispiel Karrieremessen 2.5.1 Der natürliche Lebensraum der jungen Talente Um eine Nachricht wie z. B. über freie Stellen, Traineeprogramme oder Events an junge Talente zu übermitteln, reicht es für den Sender nicht nur aus, den Empfänger zu kennen. In den geläufigen Kommunikationsmodellen kommt ebenso dem gewählten Medium bzw. Kommunikationskanal eine wesentliche Bedeutung zu (z. B. Nerdinger 2012). Nutzt man das falsche Medium, so erreicht die Nachricht nicht den Empfänger oder wird von diesem falsch verstanden. In anderen Worten: Versucht ein Unternehmen über die falschen Kanäle mit potenziellen Arbeitnehmern zu kommunizieren, so werden die gesendeten Nachrichten ins Leere laufen und der darin investierte Aufwand verpufft. Das Unternehmen kann somit die jungen Talente nicht zur Bewerbung motivieren. Soweit nichts Neues. Die jungen Talente stehen derzeit vor dem Berufseinstieg (Schule, Ausbildung, Studium etc.). Als Recruiter muss man daher in den „natürlichen Lebensraum“ der Zielgruppe eintreten, um erfolgreich Nachrichten zu senden. Dieser Lebensraum ist die online-Welt. Sie besteht aus sozialen Netzwerken (z. B. Facebook, LinkedIn, Xing) sowie Jobportalen (z. B. Stepstone, Monster), Nachrichtendiensten (z. B. Twitter, Instagram) und verschiedenen Apps (z. B. truffls, jobufo).

2.5.2 Recruiting-Events befinden sich außerhalb dieses Lebensraums Unternehmen nutzen diese Kanäle bereits und haben dort den Eintritt in die digitale Lebenswelt der Zielgruppe vollführt. So nutzten im Jahr 2018 weltweit 94 % der Unternehmen Facebook, 66 % Instagram, 62 % Twitter und 56 % LinkedIn (Social Media Examiner, o. D.). In Deutschland immerhin 41 % in sozialen Netzwerken und 14 % in Multimedia-Portalen wie Youtube (Statistisches Bundesamt o. D.). Ein von jedem

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vierten deutschen Unternehmen genutzter (index Internet und Mediaforschung o. D.) und gleichzeitig kostentreibender Recruiting-Kanal wird bei der Digitalisierung jedoch häufig vernachlässigt und bestenfalls digital beworben: Recruiting-Events, allen voran Karrieremessen. Recruiting-Events umfassen neben Karrieremessen auch Workshops, Business-Dinner, Werks-/Officebesichtigungen und Aktivitäten an Universitäten, Hochschulen, IHKs etc. Die Veranstalter bzw. Unternehmen bewerben diese zwar online (z. B. über Facebook, Instagram), die Events sind in ihrem Wesen jedoch offline stattfindende Veranstaltungen mit analogen Formaten. Daher entziehen sie sich dem Lebensraum der Zielgruppe. Nun könnte man annehmen, dass dies nicht weiter problematisch ist, da die Nachricht über die Existenz der Events ja dennoch kommuniziert werden kann. Schließlich kann man die oben aufgeführten Medien nutzen. Dies ist zwar richtig, jedoch ergibt sich aus motivationstheoretischer Sicht ein Problem. Die Zielgruppe ist schwieriger zur Teilnahme an den Events zu bewegen, da die Situation keinen passenden Anreiz darstellt. Die Abb. 2.1 zeigt das Grundmodell der Motivationspsychologie nach Rheinberg (2006, S. 70). Die Zielgruppe versteht sich in dem Modell (Abb. 2.1) als Person und weist gewisse Eigenheiten auf (z. B. Motive, Einstellungen, Vorlieben). Junge Talente sind im digitalen Zeitalter aufgewachsen, nutzen die damit entstandenen Neuerungen intensiv und sind es gewohnt, mit wenig Aufwand (wenigen Klicks) erste Ergebnisse zu erzielen. In Bewerbungsfragen suchen sie nach Möglichkeiten, um auf eine effiziente Weise mit Arbeitgebern in Kontakt zu treten, sich zu bewerben. Dies zeigt sich z. B. in Applikationen wie truffls, die eine One-Click-Bewerbung erlauben oder am sich andeutenden Trend, Anschreiben bei Bewerbungen wegzulassen. So können angehende Azubis bei der Deutschen Bahn z. B. ihre Bewerbung ohne Motivationsschreiben abschicken und erhalten im nächsten Schritt bestenfalls eine Einladung zu einem Online-Test. Diese Vereinfachungen des Bewerbungsprozesses motivieren junge Talente deshalb zur Bewerbung, da die neu gestaltete Situation zu ihrer Person passt. Hier stimmt die Situation mit den Einstellungen, Motiven und Vorlieben überein. Die so erreichte Motivation führt letztlich eher zu dem Verhalten, eine Bewerbung abzuschicken. Person (Motive)

Motivation

Situation (Anreize)

Abb. 2.1   Motivationspsychologie nach Rheinberg

Verhalten

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2.5.3 Implikationen, um junge Talente zur Teilnahme an Events zu motivieren Veranstalter von Recruiting-Events müssen es sich also nicht nur zur Aufgabe machen, ihre Events online zu bewerben, sondern auch deren Formate zu digitalisieren. Dies geschieht entweder vollständig (z. B. virtuelle Karrieremessen) oder partiell (z. B. talentefinder). Zwar minimiert eine vollständige Digitalisierung den notwendigen Aufwand für potenzielle Bewerber, da z. B. keine geografische Bewegung notwendig ist. Ein gravierender Nachteil ist jedoch, dass keine persönliche Interaktion möglich ist und die Veranstaltung daher recht anonym abläuft. Den jungen Generationen Y und Z sind Individualität jedoch sehr wichtig, weshalb eine Ergänzung der analogen Formate durch digitale Tools, die eine erste Kontaktaufnahme ermöglichen, als geeignete Alternative erscheint. So fällt zwar der Aufwand, zu einem Event zu fahren, nicht weg, jedoch bewerten die Teilnehmer den Nutzen des Events höher. Schließlich erhalten die Besucher des Events durch die digitale Interaktion z. B. mit talentefinder, vorab ein positives Feedback durch die Unternehmen. Dadurch haben sie einen größeren Anreiz, zum Event zu fahren und sind daher stärker motiviert, tatsächlich am Event teilzunehmen. Unternehmen und Recruiter, die ebenfalls an einer stärkeren Digitalisierung von Karrieremessen, auf denen sie engagiert sind, interessiert sind, können die Veranstalter aktiv darauf ansprechen. Durch stärkere Nachfrage nach digitalen Lösungen werden diese ebenfalls motiviert, ihren Kundenwünschen nachzukommen.

2.6 Fazit Die wichtigste Grundlage der Digitalisierung ist schon seit vielen Jahren bei den meisten Unternehmen im Recruiting umgesetzt: Das Bewerbermanagementsystem. Darauf aufbauend gibt es einige weitere Lösungen, die auch schon häufiger in Recruiting-Abteilungen zu finden sind, wie die Einführung von mobiloptimierten Karriereseiten. Es gibt jedoch noch sehr viele weitere digitale Lösungen, die bereits existieren, aber immer noch nicht von der Mehrheit der Arbeitgeber genutzt werden. Die Effizienz, Transparenz und Qualität der eigenen Arbeit im Recruiting kann noch dramatisch erhöht werden, wenn man nach und nach auf die Möglichkeiten der Digitalisierung zurückgreift. Mit Augenmaß, denn auch hier warten Risiken (Kap. 18) und auch hier darf nicht der Mensch aus dem Fokus verloren werden (Kap. 17). Dann können v. a. auch Bewerber von den neuen Möglichkeiten profitieren, denn viele digitale Tools haben das Potenzial, die Candidate Experience (Kap. 5) zu verbessern.

2  Digitalisierung im Recruiting: der Status Quo

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der Bewerbungspraxis 2016, Research Report, Otto-Friedrich-Universität Bamberg. https:// media.newjobs.com/dege/Studien/2016/Monster_Themenspecial_Techniksprung%20in%20 der%20Rekrutierung_2016.PDF. Zugegriffen: 10. Jan. 2019. Weitzel, T. et al. (2017a). Recruiting Trends: Bewerbung der Zukunft Centre of Human Resources Information Systems. https://securemedia.newjobs.com/dege/Studien/2017/Recruiting_Trends_2017_ Special_Bewerbung_der_Zukunft.pdf. Weitzel, T. et al. (2017b). Mobile recruiting. Centre of Human Resources Information Systems. https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/wiai_lehrstuehle/isdl/1_Mobile_­ Recruiting_20170210_WEB.pdf. Zugegriffen: 1. Jan. 2019. Zeit. (2016). Pokémon Go verdoppelt Marktwert von Nintendo, Zeit-Online. https://www.zeit.de/ wirtschaft/2016-07/nintendo-aktie-pokemon-go-anstieg-14-prozent-marktwert. Zugegriffen: 19. Jan. 2019. Zierhofer, R. (2018). Robotics: RPA ist erst der Anfang, Computerwoche Online. https://www. computerwoche.de/a/robotics-rpa-ist-erst-der-anfang,3546290. Zugegriffen: 20. Jan. 2019.

Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

Paul Goldmann  promoviert an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt am Lehrstuhl für ABWL, Organisation und Personal und ist Teil des Gründerteams, das die App Talentefinder veröffentlicht hat

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Big Data im Recruiting Maximilian Tallgauer, Marion Festing und Florian Fleischmann

Inhaltsverzeichnis 3.1 Identifizierung von Talentmärkten und Stärkung der Employer Brand. . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2 Active Sourcing zur Gewinnung von Kandidaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.3 Bewerberauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.4 Prozessoptimierung durch Big Data . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.5 Grenzen und Risiken von Big Data. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.6 Entwicklungstendenzen und unternehmerische Implikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.7 Big-Data-basiertes Recruiting – ein Praxisbeispiel von HRForecast16. . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Zusammenfassung

Big Data, als Antriebskraft der fortschreitenden Digitalisierung, nimmt unmittelbaren Einfluss auf die Art und Weise des Recruitings. Mithilfe vorhandener Datensätze sowie der Nutzung von prädiktiver Analytik zur Datenverarbeitung und Entscheidungsunterstützung entstehen neue Möglichkeiten, spezielle Talentmärkte und Trends schnellstmöglich zu identifizieren, potenzielle Kandidaten proaktiv anzuwerben und die Bewerberauswahl

M. Tallgauer (*) · M. Festing · F. Fleischmann  ESCP Europe, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Festing E-Mail: [email protected] F. Fleischmann E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_3

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evidenzbasierter und zielsicherer zu gestalten. Bei effektiver Implementierung einer digitalen Rekrutierungsstrategie kann ein Synergieeffekt zwischen Big Data, Künstliche-Intelligenz-Technologien und menschlichen Entscheidungsträgern zu enormen Produktivitätssteigerungen führen. Jedoch gehen mit den neuen technologischen Möglichkeiten auch Risiken einher, da die Kriterien zur Bewertung von Kandidaten bei Machine-Learning-Systemen oftmals undurchsichtig erscheinen und inkorporierte Verzerrungen zur systematischen Benachteiligung bestimmter Personengruppen führen können. Jedoch verändern sich bereits jetzt Rollen, Anforderungen und Zuständigkeiten und so erscheint aus unternehmerischer Sicht unabdingbar, sich dem digitalen Transformationsprozess zu stellen und das Recruiting schnellstmöglich auf den Wandel einzustellen. Das Recruiting nimmt innerhalb des Human Resource Management eine bedeutende Stellung ein. Es umfasst unternehmerische Aktivitäten und Praktiken, deren primäre Zielsetzung die Identifizierung, Anwerbung und Gewinnung von potenziellen Mitarbeitern bildet (Tyagi 2012). Hierzu zählt sowohl die unmittelbare Personalauswahl zur Besetzung vakanter Stellen als auch die mittelbare Anwerbung von Human Ressourcen durch Öffentlichkeitsarbeit im Sinn von Employer Branding. Die Signifikanz des Recruitings zeigt sich u. a. darin, dass überdurchschnittliche Fähigkeiten und Qualifikationen der Mitarbeiter positiv mit der Performance des Unternehmens korrelieren (Breaugh und Starke 2000). Jedoch verändern sich Organisationsstrukturen und Arbeitsabläufe infolge fortschreitender Internationalisierung, demografischer Verschiebungen, verkürzten Unternehmenszugehörigkeitsdauern und zunehmenden Spezialisierungen im Informationszeitalter. Auch das Recruiting ist hiervon betroffen und entwickelt sich zu einer komplexen unternehmerischen Herausforderung, die sich dem War for Talent und einem rapiden technologischen Wandel stellen muss (Michaels et al. 2001). Dieser Wandel manifestiert sich in dem steigenden Einsatz digitaler, auf künstlicher Intelligenz (KI) basierender Technologien wie Machine Learning1 (O’Neil 2016), Robotik2, Natural Language Processing3 (NLP; Marr 2016) und prädiktiver Analytik4. Grundlage für die Implementierung dieser Systeme bildet die zielgerichtete Auswertung und Nutzung von unternehmensinternen wie -externen Daten, also die Anwendung von Big Data. So werden vorhandene Datensätze und -strukturen in Informationen und diese wiederum in Wissen umgeformt. Big Data ist mittlerweile ein wesentlicher Einflussfaktor

1Teilgebiet

der künstlichen Intelligenz das auf selbstständiger Datenverarbeitung basiert und dabei Muster erkennt und spezifischen Ergebnissen zuordnet. 2Beschäftigt sich mit dem Entwurf, der Gestaltung, der Steuerung, der Produktion und dem Betrieb von Robotern. 3Anwendungsbereich des Machine Learnings zur Erkennung von menschlichen Sprachmustern. 4Nutzung historischer Daten zur Vorhersage zukünftiger Ereignisse und Trends.

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für beschleunigte und effektivere Entscheidungsfindung. So stellten McAfee und Brynjolfsson (2012) in ihrer breit angelegten Studie einen direkten Zusammenhang zwischen datengesteuerten Prozessen und unternehmerischem Erfolg fest. Im Folgenden wird Big Data als großes Volumen an komplexen, variablen Daten mit hoher Geschwindigkeit verstanden, für dessen Erfassung, Speicherung, Verteilung, Verwaltung und Analyse fortschrittlichste Techniken sowie Technologien erforderlich sind (TechAmerica Foundation’s Federal Big Data Commission 2012). Die Zusammensetzung des Datenpools speist sich dabei aus strukturierten sowie unstrukturierten5 Daten (Russom 2011). So kann Big Data als ein holistischer Ansatz zur Datensteuerung, -verarbeitung und -analyse verstanden werden, dessen Erkenntnisse in konkrete Handlungsempfehlungen und Maßnahmen übersetzt werden (Wamba et al. 2015). Die vielfältigen technologischen Möglichkeiten bilden die Grundlage für ein strategisch ausgerichtetes Recruiting und werfen zugleich organisatorische Fragestellungen bezüglich der effektiven Implementierung auf. Im Rahmen dieses Kapitels werden die einzelnen Prozessschritte des Recruitings dargestellt und die jeweiligen durch Big Data induzierten Veränderungsprozesse hervorgehoben in den Abschnitten: 1. Identifizierungen von Talentmärkten und Stärkung der Employer Brand 2. Active Sourcing zur Gewinnung von Kandidaten 3. Bewerberauswahl Die hier gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für die darauffolgende Diskussion über Potenziale von Big Data zur Qualitäts- und Prozessoptimierung im Recruiting. Anschließend werden in diesem Kontext Risiken und Limitationen von Big Data aufgezeigt. Aus der Diskussion und den beobachtbaren Trends werden Entwicklungstendenzen und unternehmerische Implikationen abgeleitet. Schließlich umreißt ein Praxisbeispiel die Potenziale eines Big Data basierten Recruitings.

3.1 Identifizierung von Talentmärkten und Stärkung der Employer Brand Die Identifikation von Talentmärkten bildet die erste Phase des Rekrutierungsprozesses. Hierbei werden zwei Herausforderungen sichtbar: Aufgrund der fortschreitenden Globalisierung weitet sich einerseits der potenzielle Suchradius aus und andererseits erschwert der teilweise aus demografischen Verschiebungen resultierende War for Talent die Identifizierung von passenden Talenten. Somit sind die Positionierung als attraktiver Arbeitgeber sowie die schnelle Reaktion auf Trends und Veränderungen im Arbeitsmarkt von hoher Bedeutung. Neue und aufstrebende Talentmärkte müssen frühzeitig erkannt

5Beinhalten

Texte, menschliche Sprache sowie XML und RSS-Feeds.

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sowie geeignete Kandidaten6 auf die Unternehmung aufmerksam gemacht werden. Insbesondere bei Letzterem gewinnt die Employer Brand zur Stärkung der positiven Außenwirkung an Relevanz. Employer Branding, als Teilgebiet der Rekrutierung, beschreibt Aktivitäten und Maßnahmen zur Entwicklung und Positionierung eines Unternehmens als attraktiven Arbeitgeber, was mit Glaubwürdigkeit, einer sozialen Orientierung und konsistenten Botschaften an potenzielle Arbeitnehmer einhergeht (Queb 2018). Die Employer Brand dient potenziellen Bewerbern als Orientierungspunkt für einen Abgleich der eigenen Vorstellungen und Überzeugungen mit denen des Unternehmens, was die Wahrscheinlichkeit für einen Cultural Fit7 (Oberstebrink 2017) erhöht. Bei Aktivitäten zur Stärkung der Employer Brand zeigt sich die enge Verknüpfung und Komplementarität zwischen Big Data und Analytics: Klicks, Likes, Kommentare und Feedback zu Beiträgen und Posts zur Erhöhung der Arbeitgeberattraktivität generieren umfassende Datensätze, die mithilfe von Analysetools wie Text Analytics8 (Pat Research 2018) und Clusteranalysen9 (Wirtschaftslexikon24 2018) gesammelt, ausgewertet und interpretiert werden können. Dies ermöglicht Einsichten in Trends, geografische Muster sowie Vorstellungen der jeweiligen Zielgruppen. Aus den gewonnenen Informationen lassen sich erforderliche Maßnahmen ableiten, die beispielsweise darauf zielen, die Kommunikation auf den erfolgversprechendsten Recruiting-Kanälen auszubauen oder die Kommunikationsmittel (z. B. Video Content, Mobile Marketing und Social Media) zu diversifizieren. Folglich trägt das datenbasierte Employer Branding zum zielgerichteten Recruiting bei und kann durch die Auswertung von Big Data auf die effektivsten Recruiting-Kanäle und vielversprechendsten Zielgruppen ausgerichtet werden. Neben der Anziehung potenzieller Kandidaten durch Steuerung der eigenen Außenwahrnehmung spielt auch die Identifizierung von Talentpools zur proaktiven Anwerbung von Talenten eine Rolle. Zuerst müssen jedoch der Bedarf quantifiziert sowie die erforderlichen Fähigkeiten und Qualifikationen für die jeweilige Stelle definiert werden. Bei beiden Schritten kann Talent Mapping10 (Jayaram 2016) dabei helfen, den Suchprozess auf die jeweiligen Bedürfnisse und Anforderungen anzupassen. In diesem Fall schafft die Nutzung von Big Data eine Verbindung zwischen Rekrutierung und Talent Management: Einerseits werden individuelle Profile hinsichtlich der Fähigkeiten und Potenziale aktueller Mitarbeiter erstellt, die für Personalentwicklungs- und Weiterbil-

6Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts. 7Beschreibt die kulturelle Passung von Bewerber und Unternehmen. 8Beschreibt den Prozess zur Umwandlung unstrukturierter Daten in aussagekräftige Daten zur Analyse und Unterstützung faktenbasierter Entscheidungsfindung. 9Verfahren, mit dem eine umfangreiche Menge von Elementen durch Bildung homogener Klassen, Gruppen oder Cluster möglichst optimal strukturiert werden. 10Die Nutzung von Daten zur Suchoptimierung – also der Abbildung, Bewertung und Visualisierung des Talentpools für eine bestimmte Stelle.

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dungsmaßnahmen genutzt werden können. Andererseits können Jobprofile der Zukunft ausgearbeitet werden, die eine entsprechende Identifizierung von unternehmensinternen Skill-Lücken ermöglichen. Auf Grundlage dieser Informationen lassen sich ganz gezielt Talentmärkte ausfindig machen, die über ein hohes Angebot an potenziellen Kandidaten mit zukunftsrelevanten Kompetenzen verfügen. So bietet das auf Talentakquise spezialisierte Unternehmen TalentDash seinen Kunden eine auf individuellen Suchparametern basierte Übersicht der verfügbaren Talente an (Jayaram 2016). Diese gliedert sich in drei Schlüsselmerkmale: die Company Map zeigt, in welchen Unternehmen die idealen Mitarbeiter zurzeit arbeiten; die Location Map bietet einen Blick auf die weltweite Verteilung von bestimmten Talenten und die JobTitle Heatmap beinhaltet eine Liste von Stellenbezeichnungen, die in verschiedenen Unternehmen derselben Rolle zugeordnet werden. Jedoch können diese Kompetenzen mithilfe prädiktiver Analytik11 (Finlay 2014) wie Data Mining12 (Duden 2018) auch unternehmensintern aufgebaut werden. Das Softwareunternehmen Atlassian nutzt beispielsweise interne Mitarbeiterdaten zur Untersuchung von Retention, Fähigkeiten oder Grad an Diversität sowie externe Daten zur Analyse europäischer Talentpools und identifiziert so mögliche Schlüsselmärkte, in denen das Angebot an gesuchten Fachkräften größer ist als die entsprechende Nachfrage (LinkedIn 2018).

3.2 Active Sourcing zur Gewinnung von Kandidaten Kenntnisse über vorhandene Talentmärkte, unternehmensinterne Fähigkeitslücken sowie Vorstellungen verschiedener Zielgruppen bilden die Grundlage für den nächsten Rekrutierungsschritt: die aktive Gewinnung von Kandidaten. Active Sourcing beschreibt dabei die Suche nach qualifizierten Talenten und deren konkrete Anwerbung (Furth 2013). Bedingt durch den digitalen und technologischen Fortschritt vollzieht sich eine Öffnung des Talentmarkts – Kandidaten bewegen sich frei von Rolle zu Rolle innerhalb und außerhalb des Unternehmens sowie über organisatorische und geografische Grenzen hinweg (Deloitte 2017). Dies erfordert ein proaktives Recruiting, das potenzielle Kandidaten frühzeitig erkennt, den Kontakt forciert und versucht, diese frühzeitig an das Unternehmen zu binden. Hierbei wird die steigende Signifikanz sozialer Netzwerke wie LinkedIn, Xing, Facebook, Twitter, Glassdoor, Pinterest, Instagram und kununu zur Gewinnung von Kandidaten deutlich. So kann Profil Mining – das präzise Rastern sozialer Medien zur Anwerbung von Talenten – zum Aufbau eines Netzwerks beitragen. Dementsprechend finden in dem Prozess des Sourcings hauptsächlich externe Daten

11Anwendungsbereich der Statistik zur Extraktion von Informationen aus Daten zur Vorhersage von Trends und Verhaltensmustern. 12Automatische Auswertung großer Datenmengen zur Bestimmung bestimmter Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten und verborgener Zusammenhänge.

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Anwendung, deren zielgerichtete Gewinnung und Analyse aufgrund der hohen Anzahl an sozialen Netzwerken und großen Dichte an Daten eine unternehmerische Herausforderung darstellt. Der Abgleich des digitalen Profils potenzieller Kandidaten mit der jeweiligen Stellenausschreibung erfordert deshalb viel Zeit und Feingefühl. Bei richtiger Nutzung und Anwendung neuerer HR-Technologien kann der damit einhergehende Aufwand jedoch deutlich verringert werden. So bieten verschiedene Systeme die Möglichkeit, Teile des Suchprozesses zu automatisieren und so das Potenzial von Big Data voll auszuschöpfen. Beispielsweise ermöglicht das Softwaretool eRecruiter Features Match und Active Sourcing ein zielgerichtetes Sourcing mithilfe semantischer Suchabfrage, die sich interaktiv an die jeweilige Filterung anpasst. Die mithilfe von algorithmischen Verfahren aus sozialen Netzwerken identifizierten und vorgeschlagenen Kandidaten lassen sich dabei per Mausklick in eine Zielliste und dadurch mit der Stellenausschreibung verbinden (eRecruiter 2016). Auch das HR-Tech-Start-up Talentwunder bietet seinen Kunden Zugang zu einem enormen Talentpool und verwendet hierfür eine Software, die 1,7 Mrd. Profile aus verschiedenen Netzwerken durchsucht. Die Big-Data-Job-Plattform Jobfeed ist ein weiteres Hilfsmittel im Bereich Sourcing und aggregiert, strukturiert und klassifiziert Stellenangebote. Diese Informationen werden durch Arbeitsmarktanalysen sowie Unternehmensdaten komplettiert und unterstützen das Recruiting bei der Identifizierung von Markttrends, Jobprofilen und potenziellen Kandidaten (eRecruiter 2015). Dementsprechend sind digitale Recruiting-Systeme hilfreiche Instrumente bei der Erkennung und Filterung geeigneter Kandidaten. Das Potenzial zeigt sich am Beispiel von Intuit. Der Softwarehersteller nutzt die auf künstlicher Intelligenz basierte Recruiting-Plattform von LinkedIn zur Eingrenzung des Talentpools auf die je nach Suchkriterien geeignetsten Kandidaten. Daneben verwendet das Unternehmen eine eigens entwickelte algorithmengestützte digitale Plattform, die Kandidaten auf Grundlage ihrer Online-Profile bewertet und priorisiert. Sobald nun eine Stelle vakant wird, ordnet die Software der Stellenbeschreibung die passendsten Profile zu (LinkedIn 2018).

3.3 Bewerberauswahl Wie die vorgelagerten Prozesse ist auch die eigentliche Bewerberauswahl von den digitalen und technologischen Transformationsprozessen betroffen. So entwickeln sich neue Anwendungsfelder und Hilfsmittel, um den großen Datenfluss zu kontrollieren und die Auswahl zu unterstützen. Demnach entstehen vielfältige technologische Möglichkeiten zur Auswertung von Daten und anschließender Umwandlung in Informationen und Erkenntnisse. Das Selektionsverfahren muss sich dabei der Geschwindigkeit des sozialen und technologischen Wandels anpassen und den Präferenzen der Millenials als wichtiger Zielgruppe entsprechen. Eine Studie der ManpowerGroup (2016) zeigt, dass sich 40 % der Befragten häufiger bewerben würden, wenn das Bewerbungsverfahren einfacher gestaltet und weniger zeitintensiv wäre. Genau das ist durch die effektive Nutzung von Daten mithilfe verschiedener Technologien und Ansätze durchaus realisierbar.

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Die Möglichkeiten sind hierbei vielfältig und reichen von Gamification als Teil des Persönlichkeits- und Eignungstests, über NLP und Robotik zur Auswertung von Interviews bis hin zu Chatbots zur fortdauernden Kommunikation mit Bewerbern während des Bewerbungsverfahrens. Chatbots finden beispielsweise bei der Deutschen Telekom Anwendung und filtern, neben dem Beantworten von Fragen, auf Grundlage vordefinierter Kriterien weniger relevante Bewerber heraus und informieren diese über ihre geringen Chancen (LinkedIn 2018). Ein Vorreiter in der Nutzung verschiedener komplementärer Technologien zur effektiven Verarbeitung der Datenströme ist Unilever. Das Unternehmen hat hierfür einen vierstufigen digitalen und aufeinander abgestimmten Recruiting-Prozess implementiert. Dabei füllen die Bewerber zuerst ein kurzes Online-Formular aus und verknüpfen dieses mit ihrem LinkedIn-Profil. Im nächsten Schritt findet eine Serie von verschiedenen Online-Spielen Anwendung, die diverse Persönlichkeits- sowie Kompetenztests beinhalten. Nach einem ausführlichen und personalisierten Feedback absolvieren diejenigen Kandidaten, die es in die engere Auswahl geschafft haben, ein automatisiertes Videointerview, das anschließend von einer Software autonom analysiert und ausgewertet wird. Die erfolgreichsten Bewerber werden im letzten Schritt zu einer Simulation in das firmeneigene Discovery Centre eingeladen. Dort werden Aufgaben, Rollen und Prozesse genauer vorgestellt und praktisch durchgespielt. Dieses konsistente Verfahren hat zu einer enormen Verkürzung des Bewerbungsprozesses geführt, den Zeitaufwand für Kandidaten wie auch Unternehmen deutlich verringert und die Diversität der Bewerber wesentlich erhöht (Deloitte 2017). Somit kann die zielgerichtete Verarbeitung und Nutzung von Big Data bei der Bewerberauswahl den administrativen Arbeitsaufwand durch Automatisierung bestimmter Verfahrensschritte spürbar reduzieren und gleichzeitig die Entscheidungsfindung evidenzbasierter gestalten. Hierbei sind insbesondere sog. E-Recruiting-Systeme eine Unterstützung, die in der Lage sind, mehrere Prozessschritte simultan auszuführen. Bereits im Jahr 2012 haben beispielsweise Faliagka et al. (2012) ein ebensolches System entwickelt. Die Software ist fähig, Bewerber auf sozialen Netzwerken zu identifizieren, diese nach quantifizierbaren Kriterien zu bewerten und Persönlichkeitseigenschaften aus Blog Posts mithilfe linguistischer Analysetechniken zu extrahieren. Die Klassifizierung basiert dabei auf festen Selektionskriterien, deren relative Gewichtung vom Recruiter gesteuert wird. Auf diese Weise kann die eigentliche Auswahl auf die jeweiligen Topkandidaten beschränkt werden.

3.4 Prozessoptimierung durch Big Data Hinsichtlich der Optimierung des Rekrutierungsverfahrens bedarf es, neben der Auswahl effektiver Tools zur Auswertung der Daten, qualifizierter Fachkräfte zur zielführenden Interpretation der Erkenntnisse und Herleitung entsprechender Maßnahmen. Hierfür spielt das Empowerment der Mitarbeiter zur eigenverantwortlichen Übernahme strategischer

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und kreativer Aufgaben eine wichtige Rolle (Hecklau et al. 2016). Infolgedessen kann Big Data zur Optimierung von Prozessen und zu fundierteren Entscheidungen beitragen. Das Potenzial besteht darin, Muster, Trends und Ausreißer zu identifizieren, Prognosen zu erstellen, Erfolgsaussichten und Kosten zu quantifizieren, Rekrutierungsmaßnahmen zu evaluieren sowie kausale Zusammenhänge zwischen Einflussgrößen und Auswirkungen zu erkennen (Münster 2015). Dementsprechend kann in der praktischen Umsetzung ein Synergieeffekt zwischen angereicherten Daten und prädiktiver Analytik erzeugt werden, der eine Entscheidungsfindung basierend auf Fakten anstelle von Gefühlen ermöglicht. Auf diese Weise hat das Informations- und Medienunternehmen Nielsen Einflussfaktoren für Fluktuation, Zufriedenheit und Lernfortschritte finden können. Als Konsequenz hoher Kündigungsraten setzte Nielsen auf interne Mitarbeiterdaten und identifizierte mithilfe prädiktiver Analytik die Beweggründe. Daraus gewonnene Erkenntnisse ermöglichten eine genauere Prognose der Unternehmenszugehörigkeitsdauer. Hierbei stellte sich heraus, dass Mitarbeiter, die in den zurückliegenden zwei Jahren intern den Job wechselten, befördert wurden oder einen veränderten Aufgabenbereich zugeordnet bekamen, das Unternehmen mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit verließen. Dies veranlasste Nielsen dazu, die interne Mobilität und Transparenz bezüglich möglicher Aufstiegschancen und Veränderungspotenziale innerhalb der Unternehmung zu erhöhen. Infolgedessen konnte die Mitarbeiterbindung gestärkt werden und ein größeres Repertoire an Karrieremodellen angeboten werden (LinkedIn 2018). Darüber hinaus induziert die Automatisierung bestimmter Verfahrensschritte eine strategischere Ausrichtung der Recruiter hin zu proaktiven und vorausschauenden Partnern. Infolge datenbasierter und evidenzgesteuerter Entscheidungsfindung entwickelt sich die Personalbeschaffung so von einer vormals operativ-administrativen Ebene zu einer strategischen Beratungsfunktion (vgl. Deloitte 2017). Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass insbesondere Routinetätigkeiten eines klar definierten Prozessablaufs keine menschlichen Fähigkeiten mehr erfordern, was Freiraum für strategische Fragestellungen schafft. Innerhalb des Recruitings trifft dies besonders auf das Scannen, Sortieren, Rangieren und Analysieren von Bewerbungsunterlagen zu (vgl. LinkedIn 2018). Darüber hinaus sind verschiedene Recruiting Apps in der Lage, Einladungen zu verschicken, Termine zu vereinbaren und so den Bewerbungsprozess zu managen. Hierdurch können die einzelnen Prozessschritte leichter aufeinander abgestimmt, das Bewerbungsverfahren beschleunigt, Trends und effektive Kanäle identifiziert und somit die Reichweite des Recruitings erhöht werden.

3.5 Grenzen und Risiken von Big Data Bei den vielfältigen Möglichkeiten, die sich durch die Nutzung von Big Data für das Recruiting ergeben, dürfen die Limitationen und Risiken bei der Implementierung technologischer Hilfsmittel nicht vernachlässigt werden. So benötigen Technologien wie

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das Machine Learning nur rudimentäre Grundanleitungen und lernen selbstständig auf Basis schon vorhandener und historischer Entscheidungsmuster und Praktiken. Diese basieren jedoch auf subjektiven menschlichen Einschätzungen, die Unzulänglichkeiten wie Vorurteilen oder Verzerrungen ausgesetzt sein können. Wurden in der Vergangenheit also bestimmte Menschengruppen, Hintergründe oder Persönlichkeitseigenschaften vernachlässigt, führt Machine Learning diesen Trend fort (vgl. O’Neil 2016). Unabhängig von diesen menschlich inkorporierten Fehlbarkeiten sollten digitalen Recruiting-Programmen keine automatische Objektivität und unmittelbare Evidenz zugeschrieben werden. Da die Eignung eines potenziellen Kandidaten nicht exakt vorhergesagt werden kann, beruhen Big-Data-Systeme auf Proxies, also Näherungsvariablen13 zur Prädiktion bestimmter Outcomes. Ferner benötigen Machine-Learning-Systeme hunderte von Millionen Datenpunkte, um überhaupt zuverlässige Aussagen liefern zu können (O’Neil 2016). Insgesamt ist die Aussagekraft also eingeschränkt. Das amerikanische Start-up Gild, das Profile von passenden Kandidaten für ihre Kunden aus der High-Tech-Industrie erstellt, versucht dieser limitierten Aussagekraft entgegenzuwirken. Dafür durchforstet das Unternehmen zahlreiche Karriereplattformen und Netzwerke, um das Sozialkapital eines jeden Kandidaten zu quantifizieren und beurteilen (ebd. 2016). Die Bewertung beinhaltet Aussagen über die Eingebundenheit der Kandidaten in die fachspezifischen Communities sowie deren Bereitschaft zur Kollaboration mit anderen Mitgliedern. Diese durchaus vielversprechende Methodik wirft jedoch wiederum Fragen auf, die die Grundproblematik von Big Data aufdecken. Beispielsweise könnte hinterfragt werden, welche Personengruppen Zugang zu den oftmals sehr elitären fachspezifischen Communities haben und dementsprechend über wertvolle Kontakte verfügen. Diese Informationsasymmetrien erhöhen das Risiko adverser Selektion14 (Richter und Furubotn 2010), da leicht abschöpfbaren Angaben wie aussagekräftigen Referenzen und sozialen Verbindungen ein überproportionaler Rahmen verliehen wird. Genauso unklar sind die Auswirkungen der Sozialrankings für solche Kandidaten, die nicht täglich auf digitalen Plattformen Präsenz zeigen, sondern stark familiär eingebunden sind oder an fachlichen Diskussionsrunden in der physischen Welt teilnehmen (vgl. O’Neil 2016). Dementsprechend scheint selbst bei so fortschrittlichen Datenverarbeitungssystemen unklar, auf welcher nachvollziehbaren Grundlage Kandidaten aussortiert werden. Dies soll nicht die Wertigkeit von Big Data in Zweifel stellen, sondern den Blick für die richtige Einordnung der generierten Ergebnisse schärfen. So bedarf es der menschlichen Interpretation und kritischen Betrachtung, um die prädiktiven Systeme zu kontrollieren, zu steuern und letztendlich in ihrer Reichweite einzugrenzen. Dies ist nicht nur aus moralischen und ethischen Erwägungen wichtig, sondern auch aus datenschutzrechtlichen Gründen elementar. In

13Beispielsweise Abschluss,

Fähigkeiten, Auszeichnungen, soziales Engagement etc. die aufgrund von Informationsasymmetrien zwischen den Entscheidungssubjekten vor Vertragsabschluss auftreten und zu Marktversagen führen. 14Vertragsprobleme,

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diesem Zusammenhang müssen die Grenzen der Datenerhebung und -verarbeitung definiert, transparent kommuniziert und überwacht werden, um möglichem Fehlverhalten insbesondere im Bereich Analytics vorzubeugen.

3.6 Entwicklungstendenzen und unternehmerische Implikationen Wie dargestellt, nimmt Big Data wachsenden Einfluss auf die einzelnen Prozessschritte und verändert die Art und Weise des Recruitings. Dieser durch neuartige Technologien wie künstlicher Intelligenz induzierte Transformationsprozess vollzieht sich ländersowie branchenübergreifend und beeinflusst maßgeblich die Profession des Recruiters. Dieser Wandel ist bereits erkennbar und so werden verstärkt Recruiting-Spezialisten anstelle von HR-Generalisten gesucht, die technisch anspruchsvolle und IT-basierte Systeme nutzen, steuern und entwickeln können (Eckhardt et al. 2011, 2014). Wichtig ist, im Unternehmen ein tief greifendes Verständnis für technologische Entwicklungen sowie Potenziale und Risiken der genutzten Big-Data-Systeme aufzubauen. Nur so lassen sich negative Auswirkungen, wie Fehler in den zugrunde liegenden Algorithmen und Chancenungleichheit, umgehen und ein Mehrwert für alle Beteiligten – Recruiter, Bewerber und das Unternehmen – realisieren. So gilt es, alle Funktionsbereiche des Recruitings schnellstmöglich auf den Wandel einzustellen, Mitarbeiter zeitnah und fortwährend um- und weiterzubilden und die verschiedenen Technologien in Einklang mit den Unternehmenszielen zu implementieren. Inwieweit und inwiefern der technologische Fortschritt in den nächsten Jahren fortschreiten wird, ist schwer vorherzusagen. Jedoch scheint klar, dass wir nicht am Ende der Entwicklung stehen und sich viele Felder gerade erst erschließen. Dazu gehören u. a. NLP, Gesichtserkennung, biometrische Sensorik und Futurecasting15 (Sayah 2015). Das Potenzial dieser Technologien ist scheinbar grenzenlos und so erscheint es zukünftig möglich, Emotionen, Gefühle und Persönlichkeitseigenschaften zu erfassen und dadurch umfassende psychologische Profile zu erstellen (vgl. Rogers 2018; Harari 2016). Jedoch bedarf es auch hier einer vorgelagerten gesellschaftlichen und unternehmerischen Debatte über Nutzen, Risiken und datenschutzrechtliche Grenzen. Fest steht, dass diese Technologien tief greifende soziale, organisatorische und sozioökonomische Implikationen induzieren und nur jene Unternehmen aktiv an deren effektiven und v. a. ethischen Ausgestaltung mitwirken können, die den Wandel frühzeitig erkennen und antizipativ steuern. Dafür bedarf es der Implementierung einer über Abteilungen hinausgehenden, einheitlichen und unternehmensweiten Datenarchitektur und der Formulierung von konkreten Zielsetzungen, an denen sich die Datennutzung ausrichtet.

15Die Fähigkeit, große Datenmengen, die durch die zunehmend digitale soziale Welt generiert werden, abzufragen und Rückschlüsse auf zukünftige Entwicklungen und Trends zu ziehen.

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3.7 Big-Data-basiertes Recruiting – ein Praxisbeispiel von HRForecast16 Dieses Beispiel beschreibt, wie HRForecast ein führendes Technologieunternehmen bei der Implementierung eines datenbasierten Recruitings unterstützt hat. Hierfür wird zuerst die Ausgangssituation geschildert, hierauf folgend werden die von HRForecast vorgenommenen Verfahrensschritte im Einzelnen erläutert und zuletzt wird deren Effektivität bewertet. 1. Ausgangssituation Trotz Ausschreibungen von Vakanzen gingen in dem betrachteten Unternehmen lediglich vereinzelte Bewerbungen für hochspezialisierte Jobs ein. Darüber hinaus betrug die Dauer des Verfahrens vom Eingang der Bewerbung bis zur Einstellung häufig mehr als 90 Tage, was angesichts dynamischer und schnelllebiger Geschäftsprozesse nicht tragbar erschien. In der Folge wurde hinterfragt, ob das Unternehmen die richtigen Talentmärkte adressierte. 2. Identifizierung von Talentmärkten Der erste Schritt war gekennzeichnet von einer algorithmengestützten Analyse weltweiter Stellenausschreibungen. Dies setzte die Quantifizierung und Qualifizierung des Bedarfs voraus, d. h. HRForecast definierte zunächst zukünftig relevante Jobprofile, die aus Marktentwicklungen und Trends abgeleitet wurden. Zudem wurde die Analyse um komparative Arbeitsmarkt- und Konjunkturdaten17 erweitert. Folglich identifizierte HRForecast Wettbewerber derselben Branche sowie geografische Muster bezüglich der Verfügbarkeit bzw. Knappheit potenzieller Kandidaten in verschiedenen Ländern und Regionen. Informationen über die Talentmärkte bildeten die Grundlage für die Formulierung der Rekrutierungsstrategie, der Entwicklung von Maßnahmen sowie der Ermittlung effektiver Rekrutierungskanäle. 3. Sourcing zur Gewinnung von Kandidaten Als Folge der vorangegangenen geografischen Musterkennung von Talenten wurde der Suchradius eingegrenzt und so die gezielte Anwerbung von Kandidaten auf verschiedenen sozialen Netzwerken realisiert. Zudem wurde eine auf künstlicher Intelligenz basierte Matching-Plattform eingerichtet, auf der Bewerber ihren Lebenslauf hochladen können und anhand von Fähigkeiten und Qualifikationen fortwährend passende Stellenangebote offeriert bekommen.

16HRForecast ist ein HR-Beratungsunternehmen, das seinen Kunden Lösungen, Modelle und Konzepte für das gesamte Spektrum strategischer Personal- und Unternehmensplanung anbietet. 17Hier wurden insbesondere Wettbewerbsbedingungen, Geschäftsklima- und Korruptionsindizes sowie Anzahl an Absolventen bestimmter Berufe inkorporiert.

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4. Bewerberauswahl Das finale Auswahlverfahren wurde im Zug der Zusammenarbeit methodisch erweitert und zugleich zeitlich verkürzt. So inkorporierte HRForecast Simulationsspiele sowie Diagnosetests, die mithilfe von NLP ausgewertet werden und Aufschluss über Persönlichkeitseigenschaften sowie Fähigkeiten geben. Auf Grundlage der im ersten Verfahrensschritt definierten zukunftsrelevanten Jobprofile, bewertet ein von HRForecast entwickelter Algorithmus die Tauglichkeit der Kandidaten. Das heißt, dass die zuvor identifizierten Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Zukunftsrelevanz untersucht werden und so Aussagen über Potenziale und Fähigkeitslücken der Kandidaten getroffen werden können. Infolgedessen generiert der Algorithmus eine automatische Auswahlliste der Bewerber, die den Recruiter bei der Entscheidungsfindung unterstützt. Dieses Vorgehen hat dazu geführt, dass der Kandidat innerhalb von 24 h eine erste Rückmeldung erhält. Im letzten Schritt werden die erfolgreichen Kandidaten zu einem Videointerview eingeladen, das von einem Assessment-Spezialisten ausgewertet wird. Dieses konsistente Auswahlverfahren hat die Entscheidungsfindung von Einreichung der Bewerbung bis zum Stellenangebot bzw. Ablehnungsbescheid auf vier Tage verkürzt. 5. Ergebnis Durch den Einsatz von Big-Data-basierten Technologien konnte die Vorlaufzeit für die Besetzung vakanter Stellen deutlich reduziert werden. Daneben entschied sich das Unternehmen zur Eröffnung von zwei neuen Standorten, bei denen die Arbeitsmarktsituation sich als vorteilhaft für die Schließung der identifizierten Skill-Lücken erwiesen hat.

3.8 Fazit Die Komplementarität zwischen Big Data und künstlicher Intelligenz zur zielgerichteten Verarbeitung und Auswertung von riesigen Datensätzen induziert einen Wandel des Human Resource Management sowie der Arbeitswelt insgesamt und verändert die Grundprinzipien, nach denen Unternehmen geleitet werden. Manche Technologien sind bereits heute in der Lage, Routinetätigkeiten komplett autonom oder mit lediglich rudimentärer menschlicher Anleitung zu übernehmen. Dies ermöglicht neue Produktivitätspotenziale für Unternehmen und vielfältige Karrierechancen für gut ausgebildete Beschäftigte. Die mit der Digitalisierung einhergehende Polarisierung des Arbeitsmarkts führt jedoch auch zu einer Marginalisierung gering und durchschnittlich qualifizierter Berufsgruppen. Um das Potenzial von Big Data vollständig ausschöpfen zu können, ist es wichtig, sich der vielfältigen technischen Möglichkeiten bewusst zu werden und deren Einfluss auf die verschiedenen Funktionsbereiche zu ermitteln. Wie in Abb. 3.1 ersichtlich, wirken Machine Learning und Data Analytics bereits stark auf die verschiedenen Bereiche des Recruitings ein und verändern die Art und Weise der Personalbeschaffung. Während Gamification wohl auch zukünftig primär in der Bewerberauswahl zur Anwendung kommt, befinden sich Chatbots, NLP und biometrische Sensorik noch in

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Abb. 3.1   Einfluss von Künstliche-Intelligenz(KI)-Technologien

einer frühen Entwicklungsstufe und beginnen gerade erst, ihr hohes Potenzial im Recruiting zu entfalten. Abschließend sollte nicht der Frage nachgegangen werden, ob diese Technologien in die Unternehmensprozesse implementiert werden sollten, sondern wie ein sozial verträgliches Arbeitsumfeld realisiert werden kann, in dem Maschinen wie Menschen ihre einzigartigen Fähigkeiten komplementär zueinander einsetzen und so gemeinsam und kooperativ zum Unternehmenserfolg beitragen.

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Maximilian Tallgauer  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Personalmanagement und Interkulturelle Führung an der ESCP Europe Berlin Business School. Sein Studium der internationalen Ökonomie absolvierte er an der Universität Paderborn, der Tohoku Univeristät in Sendai (Japan) und der ISG Business School in Paris. Im Rahmen seiner Promotion beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt.

Prof. Dr. Marion Festing ist Inhaberin des Lehrstuhls für Personalmanagement und Interkulturelle Führung an der ESCP Europe Berlin Business School und Gründerin des ESCP Europe Talent Management Institutes. Sie forscht und lehrt zu Themen des Personalmanagements, der Führung und des Interkulturellen Managements in Masterprogrammen sowie in der Executive Education und ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen sowie des international führenden Lehrbuchs zu International Human Resource Management. In diversen Funktionen (u. a. als Rektorin des Berliner Campus 2012–2017) hat sie die Entwicklung der ESCP Europe maßgeblich mitgeprägt.

Florian Fleischmann ist Managing Director bei HRForecast und leitet die Entwicklung sowie Projekte im nationalen und internationalen Umfeld. Zusammen mit deutschen Universitäten sowie DAX30 Unternehmen entwickelte er einen auf Big Data basierten Personalmanagementansatz. Er ist Experte für People Analytics und hat sich auf strategische Personalplanung und makroökonomische Simulationen spezialisiert.

Recruiting Analytics Wie Unternehmen durch eine stärkere Datenorientierung ihr Recruiting nachhaltig optimieren können Christian Schrader

Inhaltsverzeichnis 4.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.2 Aufbau des Tracking-Systems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.3 Erkenntnisse erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.4 Recruiting Automation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Zusammenfassung

Immer mehr Unternehmen investieren im digitalen Zeitalter einen Großteil ihres Recruiting-Budgets in digitale Recruiting-Kanäle, wie Jobbörsen, Social Media oder beispielsweise Online-Ads. Insbesondere diese Kanäle eigenen sich relativ gut, um darauf aufbauend eine Recruiting-Analytics-Lösung aufzusetzen und die Effizienz der eigenen Maßnahmen stärker quantifizieren zu können. Jedoch ist die Anzahl der Unternehmen, die bisher in Recruiting-Analytics-Lösungen investiert, sehr überschaubar; noch – denn erste Pioniere, die BearingPoint oder die Deutsche Bahn haben durch ihre prämierten Lösungen einen großen Effizienzvorteil gegenüber der Konkurrenz.

C. Schrader (*)  HRM Datasolutions GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_4

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4.1 Einführung Stellen Sie sich vor, sie könnten zu jeder Zeit, Auskunft darüber geben, was die Besetzung einer offenen Stelle kostet, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt und welche Recruiting-Maßnahmen für welche Abteilung die richtigen sind. Was wäre das für eine Aufwertung der Personalabteilung in ihrem Unternehmen. Mit diesen Fähigkeiten erreicht die Personalbeschaffung endlich den Stellenwert im Unternehmen, den sie verdient: essenzieller strategischer Faktor für den Erfolg eines Unternehmens zu sein (Verhoeven 2017). Diese Aussagekraft bei der Personalbeschaffung ist keine Utopie mehr, sondern sie ist heutzutage in unmittelbarer Reichweite für jedes Unternehmen. Das Werkzeug dafür lautet: Recruiting Analytics. Was versteht man eigentlich genau unter Recruiting Analytics? Wie in vielen Fällen gibt es unterschiedliche Interpretationen. Wir, als HRI Solutions, verstehen unter Recruiting Analytics den Aufbau eines automatisierten Kennzahlensystems, dass unsere Kunden in die Lage versetzt, a) rückblickend beurteilen zu können, wie erfolgreich Recruiting-Aktivitäten waren und b) zukünftige Recruiting-Aktivitäten datenbasiert planen zu können. Diese Kombination ermöglicht einen kontinuierlichen Lern- und Verbesserungsprozess und kann grundsätzlich auf alle Arten von Recruiting-Aktivitäten angewandt werden. Wenn man sich die Zahlen von durchgeführten Recruiting-Aktivitäten ansehen kann, wird man in die Lage versetzt, Prognosen für zukünftige Aktivitäten aufzustellen. Ein Kennzahlensystem befähigt dann, diese Prognosen zu überprüfen, daraus zu lernen und kontinuierlich besser zu werden. Mit diesem Wissen können neue Aktivitäten geplant und fundierte Entscheidungen getroffen werden, ob ein Teil des Recruiting-Mixes angepasst werden soll. Als HRI Solutions legen wir den Fokus auf digitale Recruiting-Aktivitäten. Dazu gehören • das Schalten von Stellenanzeigen auf bekannten Portalen, wie Stepstone, Absolventa, Indeed, etc.; • die Durchführung von Performance-Kampagnen; • auf Facebook, LinkedIn, Xing, etc. zur Ansprache passiver Kandidaten; • auf Google und Bing (SEA); • die Suchmaschinen-Optimierung (SEO); • Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Lösungen. Es sollte aber immer das Ziel sein, alle, auch nicht digitale Recruiting-Aktivitäten, wie Karrieremessen, Radio oder Plakatwerbung und weitere Aktivitäten beurteilen zu können.

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Der typische Weg eines Kandidaten von der ersten Aufmerksamkeit für ein Unternehmen bis zur Einstellung ist sehr komplex.  Die Candidate Journey ist die Bezeichnung für die Summe an direkten und indirekten Touchpoints, über die ein Bewerber während des kompletten Prozesses mit einem Unternehmen in Berührung kommt. Sie leitet sich von der Customer Journey ab, die im ­Customer Experience Management genutzt wird (Kap. 5). Praktisch keine dieser Candidate Journeys nutzt nur einen Touchpoint (Stellenportal, Karriereseite, Mitarbeiter etc.). Ganz im Gegenteil spielen im Optimalfall verschiedene Recruiting-Aktivitäten perfekt zusammen, um den Wunschkandidaten zu einer Bewerbung zu überzeugen. Auf dieses Thema im Hinblick auf Recruiting Analytics gehen wir etwas später im Detail ein. Unser Antrieb ist es, für unsere Kunden individuell zu verstehen, wie das komplexe Zusammenspiel aussehen muss, um einen hohen Anteil an Wunschkandidaten im gegebenen Budgetrahmen zu generieren.

4.2 Aufbau des Tracking-Systems Die Basis unseres Tracking-Systems besteht aus zwei Komponenten, Google Analytics und dem Bewerbermanagementsystem. Google Analytics ist auf der Karriereseite integriert und misst sowohl die Herkunft der Besucher als auch deren Bewegung auf der Seite. Somit ist es mit Google Analytics möglich, die Reise eines Kandidaten vom ersten Kontakt bis zum Abschicken der Bewerbung zu messen. Alles was danach passiert – der Weg von der Bewerbung bis schließlich zur Einstellung – liegt in der zweiten Komponente unseres Tracking-Systems: dem Bewerbermanagementsystem des Kunden. Diese zwei Komponenten liefern folgende Informationen: Informationen aus Google Analytics • Anzahl Personen auf der Karriereseite • Anzahl Personen auf den Stellenanzeigen der eigenen Karriereseite • Anzahl Personen, die eine Bewerbung initiieren • Anzahl Personen, die Bewerbung abgeschickt haben Informationen aus dem Bewerbermanagementsystem • Anzahl Bewerbungen • Anzahl qualifizierter Bewerbungen • Anzahl Interviews • Anzahl Angebote • Anzahl Einstellungen • Anzahl Absagen (unterschieden nach Recruiter und Kandidaten)

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Wir verknüpfen diese beiden Informationen, sodass beispielsweise folgende Informationen herausgefunden werden können: Pro Recruiting-Kanal und Stelle • Anzahl Bewerber • Anzahl Interviews • Anzahl Einstellungen • Etc. Kosten pro Kanal und Stelle • Bewerbung („cost per application“/CPA) • Qualifizierte Bewerbung („cost per qualified application“/CPQ) • Interview („cost per interview“/CPI) • Einstellung („cost per hire“/CPH)

4.3 Erkenntnisse erlangen Nach dem Aufbau eines Kennzahlensystems für das eigene Unternehmen fängt die eigentliche Arbeit erst an. Denn wenn man jetzt einmal Zahlen hat, geht es daran, diese zu interpretieren und Prognosen bzw. Empfehlungen zu erarbeiten, um die zukünftigen Recruiting-Ergebnisse zu verbessern. Und dann zu überprüfen, ob die erhofften Ergebnisse tatsächlich auch eingetroffen sind. Bei der Interpretation der Zahlen wird man auf interessante Ergebnisse stoßen. Ein wichtiger Teil der Arbeit mit diesen Zahlen ist es, zu verstehen, wie diese guten oder auch schlechten Ergebnisse zustande gekommen sind. Es gibt Fälle aus denen man relativ eindeutige Rückschlüsse ziehen kann, z. B. wenn ein Kanal keine Personen auf die Webseite weiterleitet und damit offensichtlich keine Bewerber entstehen können. Hier ist aber Vorsicht geboten, voreilige Schlüsse zu ziehen. Denn häufig wird in dieser Beurteilung vergessen, dass ein Kanal indirekt sehr wohl für einige Bewerber verantwortlich sein kann. Ein Kanal kann für die Weckung der Aufmerksamkeit von Kandidaten eine signifikante Rolle spielen. Diese Kandidaten bewerben sich aber nicht direkt, sondern kommen über Umwege und mit erheblichem zeitlichem Verzug erst wieder auf die Karriereseite, um sich zu bewerben. Wird nun dieser Kanal geschlossen, wird auch automatisch die Bewerberanzahl sinken. Grundsätzlich spielt die Überprüfung der Validität der Zahlen eine wichtige Rolle. Man wird auf den ersten Blick erkennen, dass es Kanäle gibt, die geringe Zahlen aufweisen oder sogar nicht messbar sind. Für uns ist es an dieser Stelle wichtig, sowohl sicherzustellen, dass das Tracking-Set-up korrekt funktioniert, als auch einen Abgleich der eigenen Zahlen mit den Auswertungen des Kanals herzustellen. Unsere Lösung ermöglicht einen automatischen Abgleich zwischen den Zahlen, die wir messen und den

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Auswertungen der Recruiting-Partner. Man erkennt so direkt Diskrepanzen und kann diese lösen. Auch im Recruiting gilt das Attention-Interest-Desire-Action(AIDA)-Prinzip (Abb. 4.1). Dieses Prinzip kommt aus dem Marketing und ist über 40 Jahre lang empirisch belegt worden (Lewis 1903). Es lässt sich so gut auf das Recruiting anwenden, weil eine Stellenanzeige auch eine Art von Werbung für ein Produkt ist und der Entscheidungsprozess eines Kandidaten genauso abläuft, wie einen Interessent in einen Kunden zu wandeln. Auf dem Weg zum Wunschkandidaten gehört es zwangsläufig dazu, den Kandidaten auf sich aufmerksam zu machen („attract“). Wenn dies gelungen ist, gilt es den Kandidaten dafür zu interessieren, sich mit dem eigenen Unternehmen auseinanderzusetzen. Eine gut gemachte Karriereseite unterstützt an dieser Stelle („interest“). Häufig vergeht in diesem Prozess einige Zeit und der Kandidat nimmt weitere Touchpoints war, z. B. die Facebook-Seite, das Kununu-Profil oder auch direkte Gespräche mit Mitarbeitern. Daraus entsteht dann das Bedürfnis („desire“), sich auf die Stelle bewerben zu wollen. Nun möchte sich der Kandidat genauer über den Bewerbungsprozess informieren. In diesem Status sind ihm der Name des Unternehmens und die Stellenbezeichnung bekannt. Sehr häufig sucht der Kandidat die Karriereseite direkt über Google auf und sucht von da aus dann die Stelle seines Interesses. Zu guter Letzt wird der Kandidat jetzt alle Bewerbungsunterlagen zusammensuchen, bevor die Aktion der Bewerbung stattfindet. Auch hier vergeht Zeit und mit etwas Glück hat der Kandidat sich inzwischen die URL ihrer Karriereseite gemerkt und geht direkt zur Bewerbung. Nach Analyse der Bewerbung wird der Kandidat eingeladen und am Ende auch eingestellt.

Abb. 4.1   AIDA-Modell nach Elmo Lewis. (smartmarketingbreaks.eu)

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Diese beispielhafte erfolgreiche Candidate Journey eines aktiv suchenden Kandidaten könnte also folgende Schritte beinhalten: 1. Stellenanzeige bei Stellenportal aufrufen („attract“) 2. Klick auf Link zur Stellenanzeige bei ihrem Unternehmen („interest“) 3. Facebook/Kununu/LinkedIn („interest“) 4. Suche bei Google nach dem Unternehmen („desire“) 5. Direkter Aufruf der Karriereseite und Bewerbung („action“) Wenn wir uns bei unserem Beispiel ansehen, wie Tracking-Systeme diese Candidate Journey auswerten würden, dann sehen wir in Schritt 2, dass ein Besucher von dem Stellenportal gekommen ist. Ein Punkt für das Stellenportal. In Schritt 4 wird diese Information um den Besuch von Google erweitert, bevor im letzten Schritt vor der Bewerbung in Schritt 5 der Kanal direkt bei Google Analytics angezeigt wird. Stand aus Tracking Sicht: stellenportal.de → facebook.com → google → direkt Anhand von Google Analytics sieht man, dass es eine Bewerbung gegeben hat. Als Quelle für die Bewerbung wird die organische Suche von Google aufgezeigt. Die anderen zwei Touchpoint werden bei einer oberflächlichen Betrachtung nicht mehr berücksichtigt. Bei dieser Interpretation des Ergebnisses passieren jetzt die größten Fehleinschätzungen. Denn nun wird nur Google als einzige Quelle angesehen und das Stellenportal als ineffizient beurteilt. Es wird bei der nächsten Recruiting-Kampagne nicht mehr eingesetzt und abgeschaltet. Dass die Quelle Google aber nur funktioniert hat, weil der Kandidat die Stelle vorher im Recruiting-Kanal gesehen hat, wird nicht bemerkt. Die logische Folge ist nun bei Abschaltung des Stellenportals, dass die Bewerbungen über Google ebenfalls zurückgehen werden. Die Information, welche Kanäle an einer Bewerbung beteiligt sind, wird Attribution- oder Kanalzuordnung bezeichnet und kann ausgewertet werden. Tracking-Systeme wie Google Analytics speichern diese Daten und es liegt an uns, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir verwenden möglichst einfache Visualisierungen, um diesen komplexen Sachverhalt möglichst einfach greifbar zu machen. Sprechen sie uns gern an. Die Vorteile von Recruiting Analytics sind nicht von der Hand zu weisen. Durch das Messen jeder Candidate Journey herrscht absolute Transparenz über Performance und Kosten jeder einzelnen Recruiting-Maßnahme. Mit dem Prinzip „nur was messbar ist, kann auch gemanagt werden“ können die Recruiting-Kosten durch diese Transparenz signifikant reduziert werden. Aber nicht nur das. Auch die Zeitersparnis ist erheblich. Denn wenn nur noch wirklich relevante Bewerber für die zeitintensiven Vorstellungsgesprächen generiert werden, reduziert sich die Anzahl an Bewerbergesprächen erheblich. Die Zeitersparnis dadurch ist enorm.

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Aber auch in Richtung der Geschäftsführung ist man als Verantwortlicher für das Recruiting nun viel aussagekräftiger. Mit Recruiting Analytics kann nun genau vorhergesagt werden, wie hoch das Personalbudget im nächsten Geschäftsjahr sein muss, um alle offenen Stellen zu besetzen. Jede Diskussion über die Höhe des Recruiting-Budgets mit der Geschäftsleitung kann mit einer soliden Zahlenbasis aus dem Recruiting-Analytics-System gewonnen werden. Auch die bekannten alljährlichen Kürzungsrunden können nun gekonnt abgewehrt werden, da die Prognose der Opportunitätskosten von nicht besetzten Stellen das Recruiting-Budget immer bei Weitem übertreffen. Beispiel

Unternehmen A hat ein Recruiting-Budget für Stellenbörsen in Höhe von 300.000 €, das es auf die Kanäle Stepstone, Absolventa, Monster, efinancialcareers und Jobware je zu gleichen Teilen verteilt. Ohne ein Recruiting-Analytics-System weiß A nicht, welche Jobbörse zu welchen Erfolgen führt. A handelt nur nach Bauchgefühl und verlässt sich auf die Infos der Jobbörsen. Dann kauft A sich ein Recruiting-Analytics-System und sieht genau, welche Bewerbungen in welcher Qualität über welchen Kanal kommen. A sieht, dass pro Kanal durchschnittlich 15 % aller Stellen gar keine Bewerber gebracht haben. A kann also entweder diese Stellen optimieren, um dann entsprechend mehr Bewerber für das gleiche Geld zu bekommen, oder diese Stellen kündigen und 15 % des Recruiting-Budgets sparen ohne irgendeinen negativen Effekt. Und das sind bei Unternehmen A immerhin 45.000 €. Damit hat sich das Recruiting-Analytics-System schon mit der ersten Analyse komplett amortisiert. Die Vorteile sind auch in der Praxis erprobt – erste Unternehmen nutzen Recruiting Analytics und manche davon wurden mit unserer Hilfe für ihre Projekte auch schon mit dem HR Excellence Award in der Kategorie Tech & Data ausgezeichnet (Human Resources Manager 2018). Mit diesen ganzen Vorteilen führt kein Weg mehr an Recruiting Analytics vorbei. Es stellt sich nun die Frage, wie das Dilemma des höheren personellen Aufwands durch Recruiting Analytics für die Analyse und deren Optimierungen gelöst werden kann. Zum Glück leben wir in einer Zeit der Digitalisierung und der Automation durch Algorithmen. Daher ist die Lösung mit den heutigen Mitteln recht einfach. Denn wenn der höhere Aufwand durch Recruiting Analytics mithilfe der Digitalisierung erledigt wird, dann kommt man in den Genuss der ganzen Vorteile von Recruiting Analytics, ohne einen hohen personellen und finanziellen Aufwand zu haben. Die Lösung lautet Recruiting Automation.

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4.4 Recruiting Automation Ein effizientes Recruiting-Analytics-System basiert darauf, die relevanten Informationen über Schnittstellen automatisiert zu integrieren, um manuellen Aufwand und auch manuelle Fehler zu vermeiden. Aber nicht nur der Input in das System sollte über Schnittstellen erfolgen. Auch der Output der gewonnenen Daten und Informationen kann und sollte, neben Reports, auch in weitere Systeme/Prozesse automatisiert integriert werden, wie in Abb. 4.2 anhand unseres Vorgehens genauer dargestellt wird. Ein gutes Beispiel für Automatisierung auf der Basis der vorhandenen Informationen betrifft die Schaltung von Stellenanzeigen. Typischerweise schreiben Unternehmen neue Stellenanzeigen erst einmal intern aus. Und wenn es nach zwei Wochen keine passenden Bewerber gab, wird die Stelle extern ausgeschrieben. Bei der externen Schaltung versucht man zuerst, über die eigene Webseite und kostenlose Kanäle qualifizierte Kandidaten zu erreichen. Wenn die Stelle doch etwas schwieriger zu besetzen ist, greift man üblicherweise auf ein Portfolio an Recruiting-Kanälen zurück, mit denen man bereits Geschäftsbeziehungen hat. Je nach Zielgruppe wird der entsprechende Recruiting-Kanal gebeten, die Stelle zu schalten. Dies erfolgt meist über einen definierten Zeitraum, z. B. 30 Tage. Wenn nach 30 Tagen die Bewerber-Pipeline noch nicht zufriedenstellend gefüllt ist, sollte die Stelle entweder verlängert werden, wenn bereits gute Kandidaten über die Schaltung gekommen sind, oder ein weiterer Kanal hinzugezogen werden. In dieser Situation kann es sich auch anbieten, eine Recruiting-Kampagne zu starten, die v. a. passive Kandidaten anspricht.

Abb. 4.2   Aggregation aller Datenquellen

4  Recruiting Analytics

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Abb. 4.3   Bedarfsgerechter Budgeteinsatz

Dieser Prozess einer Stellenschaltung kann mithilfe von Recruiting Automation komplett ohne manuellen Aufwand erfolgen, wie in Abb. 4.3 genauer erläutert. Er wird digitalisiert. Anhand der Informationen aus dem Recruiting-Analytics-System, auf Basis der Pipeline-Füllung und definierter Regeln1 wird automatisch entschieden, was passieren soll. Der Recruiter und weitere interessierte Personen werden vom System nur noch informiert, was passiert, z. B. welche Stelle aufgrund von geringem Bewerbereingang bei Stepstone geschaltet wird. Erfahrungsgemäß bietet es sich an, Vertrauen in Automatisierung zu bekommen, indem man zuerst Regeln erstellt, denen man aus eigener Erfahrung vertraut und sich informieren lässt, wenn eine Regel zum Einsatz gekommen ist. Nach relativ kurzer Zeit stellt man aber fest, dass es völlig ausreicht, wenn man nur noch dann informiert wird, wenn etwas Unerwartetes passiert, das die Aufmerksamkeit des Recruiters benötigt. Selbstverständlich ermöglicht einem das Recruiting-Analytics-System jederzeit den aktuellen Status einer Stellenanzeige herauszufinden, um auskunftsfähig zu sein. Der über die Zeit geschulte Blick auf die eigenen Kennzahlen ermöglicht einem dann jederzeit zu wissen, wo man steht, und sich darauf zu konzentrieren, dort zu agieren, wo Handlungsbedarf ist, während manuelle Prozesse Schritt für Schritt weiter automatisiert/ digitalisiert werden.

4.5 Fazit Angetrieben durch die immer mehr und mehr vorherrschenden digitalen Recruiting-Kanäle haben sich die Möglichkeiten für einfache Analytics-Lösungen im Recruiting deutlich verbessert. Der Weg über solche Lösungen führt zu mehr Transparenz, einer höheren

1Beispielsweise:

Stepstone.

keine qualifizierten Bewerbungen in den letzten 14 Tagen, dann Schaltung bei

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Wirkungsorientierung und zu guter Letzt zu einem weiteren Schritt zur Professionalisierung des Recruitings. Dabei ist Recruiting Analytics selbst nur der erste Schritt, also die Grundlage für viele weitere interessante Maßnahmen und Lösungen, wie Automatisierung oder Anwendungen im Bereich künstliche Intelligenz. Der Effizienzgewinn ist momentan noch enorm, da es noch nicht viele Mitbewerber gibt, die sich auf ein datengestütztes Recruiting einlassen und entsprechende Lösungen nutzen. Deswegen ist es noch die ideale Zeit, um möglichst viel Nutzen und Vorsprung dadurch zu generieren. In fünf Jahren wird es möglicherweise schon genau anders herum sein und man gerät in Zugzwang, wenn man hier technisch hinterher hängt. Hand aufs Herz: Wollen Sie in diese Situation kommen?

Literatur Human Resources Manager. (2018). Gewinnerliste 2018 HR Excellence Awards 2018. https:// www.hr-excellence-awards.de/best-of-2018/. Zugegriffen: 16. Dez. 2018. Lewis, E. (1903). Catch-line and argument. Book-Keeper, 15, 124. Verhoeven, T. (2017). Das Recruiting messbar machen. Personalmagazin, 2017(10), 56–57, Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg.

Christian Schrader  blickt auf einen enormen Erfahrungsschatz im Bereich eCommerce zurück und ist erfolgreicher Gründer mehrerer Start-ups im Recruiting-Umfeld und Geschäftsführer der HRI Solutions GmbH, die im gemeinsamen Projekt mit der BearingPoint GmbH 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data gewonnen hat.

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Digitale Candidate Experience Wie sich das Modell der Candidate Experience in den letzten Jahren durch die Auswirkungen der Digitalisierung gewandelt hat Tim Verhoeven

Inhaltsverzeichnis 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5.2 Definition und Herleitung des Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5.3 Die Candidate Journey. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5.4 Messung der Candidate Experience. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5.5 Candidate Net Promoter Score als Messinstrument für die Candidate Journey . . . . . . . . . 60 5.6 Was Bewerber wollen in der digitalen Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Zusammenfassung

Nachdem das Thema Candidate Experience in den letzten Jahren immer mehr Fahrt aufgenommen hat, wird es Zeit, dieses Thema im Kontext der Digitalisierung zu betrachten und die Einflüsse der Digitalisierung einfließen zu lassen. Dazu wird neben einer Herleitung und Einordnung dieses Themas v. a. der Fokus daraufgelegt, wie sich dieses Thema durch die immer größer werdenden digitalen Einflüsse auf die Kandidaten-Arbeitgeber-Beziehung auswirkt.

T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_5

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5.1 Einleitung Seit einigen Jahren ist das Thema Candidate Experience ein integraler Bestandteil des Recruiting geworden. Man weiß mittlerweile, dass Bewerber nicht mehr unmündige Bittsteller sind, sondern mit so viel Selbstbewusstsein in den Arbeitsmarkt strömen, wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Dies führt auch dazu, dass so langsam immer mehr das Bewusstsein bei Arbeitgebern entsteht, dass man sich viel stärker auf die Bedürfnisse von Bewerbern einstellen muss. Ja, man muss um Bewerber werben, um nicht in einen großen Nachteil beim Kampf um die besten Talente zu geraten (Wald und Athanas 2014). Jedoch ist das Thema der Candidate Experience von einem hohen Maß an individueller Wahrnehmung und individueller Interpretation von Kontaktpunkten durch Bewerber geprägt, die den Weg geebnet haben für Themen wie Candidate Centricity (vgl. Kap. 6). Dies rückt auch sehr stark in den Vordergrund, da sich durch die Digitalisierung viele Prozesse und Methoden in der Personalauswahl verändert haben und unterschiedliche Bewerber diese Veränderungen diametral bewerten. Um so wichtiger ist es, dass durch die vermehrt digitalen Kontaktpunkte das Thema der Messbarkeit und die entsprechenden Methoden dazu in den Vordergrund rücken (Human Resources Manager 2018).

5.2 Definition und Herleitung des Begriffs Da sich das Thema und die hier präferierte Definition von Candidate Experience Management aus dem Customer Experience Management ableiten lassen, vertiefen wir an dieser Stelle den Blick auf dieses Thema (Kootz 2014, S. 65). „Vereinfacht ausgedrückt wird beim Thema Candidate Experience Management der Fokus auf das Kundenbedürfnis durch den Fokus auf das Kandidatenbedürfnis ersetzt.“ (­Verhoeven 2016, S. 8)

Um also die Grundlagen des Themas Candidate Experience herzuleiten, muss man rudimentäre Definitionen vom Thema Customer Experience verstehen. Einige der gängigsten Definitionen folgen hier:  Customer Experience (Definition nach Meyer/Schwager)  „Customer Experience is the internal and subjective response customer have to any direct or indirect contact with a company. Direct contact generally occurs in the course of purchase, use, and service and is usually initiated by the customer. Indirect contact most often involves unplanned encounters with representations of a company’s products, service, or brands and takes the form of word-of-mouth recommendations or criticisms, advertising, news reports, reviews, and so forth“ (Meyer und Schwager 2007, S. 2).

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 Customer Experience (Definition nach Stindl)  „Customer Experience ist die Summe der Kundenerlebnisse, wobei Erlebnisse auf der subjektiven Wahrnehmung des Kunden beruhen und durch direkte oder indirekte Kontakte mit einer Unternehmung hervorgerufen werden“ (Stindl 2010, S. 4).  Customer Experience (Definition nach Kacker)  „Customer experience is the sum of all experiences a customer has with supplier of goods or services, over the duration of their relationship with that supplier. From awareness, discovery, attraction, interaction, purchase, use, cultivation and advocacy. It can also be used to mean an individual experience over one transaction; the distinction is usually clear in context“ (Kacker 2011, S. 41). Eine Gemeinsamkeit aller drei Definitionen ist die Inklusion von direkten und indirekten Kontaktpunkten – den sog. Touchpoints. Als gängige Definition verwenden wir hier meine Definition, die auf den Grundlagen der Definition von Dr. Jochen Kootz aufbaut (vgl. Kootz 2014, S. 65).  Candidate Experience (Definition nach Verhoeven)  „Candidate Experience bezeichnet den Gesamteindruck, den ein potenzieller Bewerber im Rahmen der Prozesse des Personalmarketings, des Recruitings und darüber hinaus vom potenziellen Arbeitgeber erhält. Es geht dabei um das individuelle Erleben in einem Bewerbungs- und Auswahlprozess an allen direkten und indirekten Kontaktpunkten mit dem Unternehmen“ (­Verhoeven 2016, S. 11).  Candidate Experience Management (Definition nach Verhoeven)  „Candidate Experience Management bezeichnet die aktive Gestaltung aller Kontaktpunkte des Bewerbers mit dem Unternehmen, mit dem Ziel, einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen. Aus Sicht des Bewerbers als Kunde eines Unternehmens, werden am Vorbild des Customer Experience Managements System, Menschen und Prozesse schrittweise analysiert und interpretiert. Im Mittelpunkt steht das Erleben des Bewerbers. Weiterhin wird es mit der Sicht von außen möglich, zu verstehen, welche tatsächlichen Erwartungen an Prozesse des Personalmarketings, des Recruitings und darüber hinaus bestehen und wie diese am besten erfüllt werden können“ (Verhoeven 2016, S. 11 f.). Diese Definition beinhaltet die drei wesentlichsten Aussagen, die zugleich die Merkmale eines guten Candidate-Experience-Verständnisses bzw. einer umfänglichen Candidate-­ Experience-Definition sind (Tab. 5.1). Diese drei Grundlagen sind die Voraussetzung dafür, wie wir Candidate Experience messen und idealerweise auch positiv beeinflussen können. Die Summe der Kontaktpunkte, die ein Bewerber im Rahmen seines Prozesses durchläuft, nennt sich Candidate Journey (s. Abschn. 5.3).

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Tab. 5.1  Drei Grundlagen von Candidate Experience Candidate Experience geht über Recruiting hinaus

Candidate Experience beginnt schon vor der eigentlichen Bewerbung in dem Moment, wo ein potenzieller Bewerber auf das Unternehmen aufmerksam wird, und endet auch nicht direkt mit dem Ende des Recruiting-Prozesses

Candidate Experience entsteht durch Die Candidate Experience eines Bewerbers wird geprägt Kontaktpunkte durch die Summe an Wahrnehmungen und deren Interpretationen an verschiedenen Kontaktpunkten Candidate Experience ist individuell Jeder Kontakt kann individuell unterschiedlich bewertet werden, da Bewerber unterschiedliche Voraussetzungen haben. Daher ist jede Candidate Experience individuell

5.3 Die Candidate Journey Die Candidate Journey ist die Bezeichnung für die Summe an direkten und indirekten Touchpoints, über die ein Bewerber während des kompletten Prozesses mit einem Unternehmen in Berührung kommt. Sie leitet sich von der Customer Journey ab, die im Customer Experience Management genutzt wird. Candidate Journey – früher und heute Die Herausforderung ist, dass sich jede Candidate Journey von einer anderen unterscheidet, da der Weg einer Candidate Journey nicht mehr linear ist, wie es früher noch war. Früher  Die Candidate Journey bestand früher aus einer deutlich überschaubareren Anzahl an Kontaktpunkten, über die ein potenzieller Bewerber in Kontakt mit einem Arbeitgeber treten konnte. Die Reihenfolge war i. d. R. auch sehr linear festgelegt. Stellenanzeigen wurden klassisch in den regionalen und, je nach Position, auch in den überregionalen Zeitungen ausgeschrieben und ansonsten noch an schwarzen Brettern ausgehängt. Deutlich mehr alternative Kanäle gab es früher nicht – vielleicht noch die Empfehlung eines Mitarbeiters. Hinzu kam die altbekannte Form der Initiativbewerbung. Beispiel

Michael Mustermann möchte sich bei der Deutschland GmbH bewerben. Er hat am Wochenende eine (tolle) interessante Stellenanzeige als Vorarbeiter der Fertigung in seiner Heimatstadt in der lokalen Zeitung gesehen. Er ruft dort freundlich an und fragt, ob die Stelle denn noch zu besetzen sei. Er hat Glück – die Stelle ist noch frei. Also setzt er sich umgehend an seine Schreibmaschine und schreibt ordentlich sein Anschreiben und weitere Bewerbungsunterlagen. Ihm ist in der Tat ein wenig unwohl, weil er noch nicht einmal zehn Jahre bei seinem bisherigen Arbeitgeber ist. Aber er

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hat es sich in den Kopf gesetzt. Er hat noch ein passables Foto von sich, das er auf sein Anschreiben klebt und geht noch schnell eine Mappe kaufen. Michael schickt nun seine Bewerbungsmappe per Post ab. Drei Wochen später bekommt er – ebenfalls per Post, eine Einladung zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch. Um sich für dieses Vorstellungsgespräch vorzubereiten, überlegt Michael, ob er jemanden kennt, der auch dort arbeitet. Leider fällt ihm niemand ein. Heute  Heute sieht die Situation komplett unterschiedlich aus. Aus dem Bewerber ist der Umworbene geworden. Auf ihn abgestimmt sind Botschaften über Werbenetzwerke nahezu auf allen Webseiten gestreut, die ihn dazu bringen sollen, sich näher mit dem potenziellen Arbeitgeber zu beschäftigen. Dazu eine stetig wachsende Anzahl an Jobbörsen – nicht nur da, wo man es erwartet, sondern überall im Web. Im Vergleich zu früher sind die meisten Kontaktpunkte nicht nur digital erreichbar durch das Internet, sondern auch mobil optimiert, sodass sie überall und zu jeder Zeit abgerufen werden können. Längst begnügen sich moderne Arbeitgeber nicht mehr mit bloßen Anzeigen – „content is king“: Videos, Social-Media-Auftritte und komplette Online-Kampagnen gehören längst zum Standardrepertoire von Arbeitgebern. Daneben sind digitale Auswahlprozesse, insbesondere Online-Assessments, deutlich häufiger zu finden, als vor wenigen Jahren (vgl. Abschn. 7.1) Beispiel

Michaela Musterfrau möchte sich bei der International AG bewerben. Sie hat in der Bahn eine Anzeige auf Instagram gesehen, die genau auf Ihr Profil passt. Die Webseite dahinter war mit sehr vielen Informationen ausgestattet – alle Unklarheiten waren beseitigt. Alle? Nein. So passend es auch war, Michaela war skeptisch. Auf solchen Karriereseiten erscheint immer alles rosig, aber die Realität sieht anders aus. Also lieber mal ein Quercheck bei Kununu und Glassdoor. Sieht gar nicht so schlecht aus. Ihre Bewerbungsunterlagen hat Michaela in der Cloud abgespeichert und kann von überall darauf zugreifen. Zum Glück will die International AG kein Anschreiben haben – wer will das heutzutage überhaupt noch? Sie bewirbt sich mit wenigen Klicks über die One-Klick-Apply-Funktion im Bewerbermanagementsystem und bekommt sofort eine Eingangsbestätigung und kurz danach die Einladung zu einem Online-Assessment. Die zeitgemäße Candidate Journey ist heute durch mehrere Charakteristika geprägt, durch die sie sich von der früheren Candidate Journey unterscheidet (Tab. 5.2). Für die strukturierte Betrachtung der einzelnen Kontaktpunkte sowie für die komplette Candidate Journey betrachtet man die komplette Prozesskette in Form von einzelnen, ineinander übergehenden Phasen. Die grundlegende Betrachtungsweise geht von drei Phasen aus: vor dem Bewerbungsprozess, während des Bewerbungsprozesses und

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Tab. 5.2  Charakteristika einer modernen Candidate Journey Digitaler

Die Mehrheit der Kontaktpunkte sind heutzutage digital abgebildet – von Stellenanzeigen, über die Bewerbungsplattform bis zu digitalen Auswahlmethoden

Asynchroner

Durch die neuen digitalen Möglichkeiten gibt es mehr technische Optionen, Teile der Bewerberkommunikation und -auswahl zeitversetzt durchzuführen

Weniger linear

Die lineare Abfolge von 1. bis 6. kommt seltener vor. Durch Self-Assessments beispielsweise findet erst die 4. Phase statt und dann eventuell die 3. Phase

Weniger aufwendig

Aus Bewerbersicht war eine Bewerbung noch nie mit so wenig Aufwand verbunden. Alles wird i. d. R. digital abgebildet und geht damit quasi auf Knopfdruck

Diffuser

Insbesondere in den ersten Phasen gibt es immer mehr Überlappungen und keine so starke Trennschärfe mehr wie früher. Recrutainment-Methoden, Matching-Tools oder Self-Assessments sind hierfür Beispiele

Schneller

Insbesondere durch die Digitalisierung sind Bewerbungsprozesse schneller geworden. Unternehmen versuchen auch immer mehr auf Geschwindigkeit als Wettbewerbsvorteil im Recruiting zu setzen

Individueller

Sowohl Arbeitgeber unterscheiden sich immer stärker voneinander in der Ausgestaltung und Nutzung von Kontaktpunkten. Sowohl die Kandidatenansprache als auch die Candidate Experience wird immer individueller

nach dem Bewerbungsprozess. Etwas detaillierter wiederum ist das Sechs-Phasen-­ Modell, das jede der drei oben genannten Phasen noch einmal in zwei weitere Phasen aufteilt (vgl. Verhoeven 2012, 2016) und sich inhaltlich dem AIDA-Modell annähert (vgl. Lewis, E. 1903). Beispielhaft werde ich am Sechs-Phasen-Modell die verschiedenen Phasen erklären und zuordnen, welche Kontaktpunkte dorthin eingeordnet werden können. Zur Erkennung sind um die sechs Phasen noch die drei grundlegenden Phasen angeordnet. Das Sechs-Phasen-Modell (Abb. 5.1) verdeutlicht den theoretischen Idealprozess, den ein (potenzieller) Bewerber durchlaufen kann. Er wird auf das Unternehmen aufmerksam, beispielsweise durch eine Imageanzeige (Anziehung), informiert sich dann über verschiedene Kanäle, wie etwa die Karrierewebseite oder Kununu über das Unternehmen und dessen Jobangebote (Information), bewirbt sich bei dem Unternehmen (Bewerbung), nimmt am Auswahlprozess durch Bewerbungsgespräche, Assessment-Center oder ­ähnliches teil (Auswahl), bekommt eine Zusage und fängt bei dem Unternehmen an (Onboarding) und erlebt den Arbeitsalltag des Unternehmens (Bindung; vgl. Verhoeven 2016, S. 36).

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Abb. 5.1   Candidate Experience Wheel

5.4 Messung der Candidate Experience Wie bereits in der Einleitung beschrieben, rückt das Thema der Messbarkeit mehr und mehr in den Fokus eines zeitgemäßen Candidate Experience Management. Da i. d. R. ein Großteil der Kontaktpunkte und Kommunikation zwischen Bewerber und Unternehmen mittlerweile digital abläuft, kann man problemlos eine digitale Candidate-Experience-­ Messung in die Prozesse integrieren, ohne dass sie grundsätzlich problematisch wäre. Wo und wann wird gemessen Durch die Vorherrschaft des Online-Bewerberverhaltens hat man nahezu keine Einschränkungen mehr, wo und wie man die Candidate Experience messen möchte. Es gibt dabei zwei unterschiedliche Vorgehensweisen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen. Entweder messe ich jeden Kontaktpunkt direkt, während der Kandidat an diesem Kontaktpunkt ist (Abb. 5.2). Technisch kann dies aus einer Mischung aus Pop-up-Befragungen bevor der Kandidat die Bewerbung abgeschlossen hat, E-Mail-Befragungen nach einzelnen Triggern oder Live-Befragungen (beispielsweise an Tablets) kombiniert werden (Tab. 5.3).

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Abb. 5.2   Direkte Kontaktpunktmessung

Tab. 5.3  Digitale Umfragemöglichkeiten für eine Candidate-Experience-Messung Art der Abfrage

Kurze Beschreibung

Geeignet für

Gesonderte Online-Umfrage

Separate Online-Umfrage i. d. R. per E-Mail

Alle Kanäle, sobald eine E-Mail-Adresse des potenziellen Bewerbers vorhanden ist

Integrierte Online-Umfrage

Effizienter ist es, wenn man Online-­ Umfragen in bestehende Kommunikation einfügt

Alle Kanäle, sobald eine E-Mail-Adresse des potenziellen Bewerbers vorhanden ist

Vor-Ort-Befragung

Live, aber trotzdem anonym, können potenzielle Bewerber beispielsweise an einem Tablet angeben, wie zufrieden sie sind

Messen; Assessment-Center; Recruiting-Events

Pop-ups

Auf relevanten Online-Kanälen Pop-ups Alle Online-Kanäle: Website, aufkommen lassen, bei denen man die Stellenanzeige, BewerberZufriedenheit mit dem Kontaktpunkt misst managementsystem

Mobile Befragung

Neben einer klassischen Befragung per E-Mail kann man auch seine mobil optimierte Befragung über mobile Kommunikationsmedien verschicken

Alle Kanäle, sobald die mobilen Kontaktdaten des potenziellen Bewerbers vorhanden sind

Vorteile dieser Messform  Je näher die Messung zeitlich am tatsächlichen Kontakt liegt, desto besser sind die Erinnerungen daran. Die Erinnerung an das Erlebte ist präsenter und gegenwärtiger und kann dadurch unmittelbar in die Befragung einfließen. Dies ist ein wichtiger Faktor bei Befragungen und hier der wichtigste Vorteil.

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Nachteile dieser Messform Sofern Bewerber noch im Bewerbungsprozess sind, wird man es nicht verhindern können, dass sie bewusst oder unbewusst davon ausgehen, dass das Antwortverhalten dieser Befragung irgendeine Auswirkung auf den Erfolg des Bewerbungsprozesses haben kann. Dies führt dazu, dass direkte Kontaktpunktmessungen meiner Erfahrung nach immer positivere Ergebnisse erzeugen als indirekte Kontaktpunktmessungen. Ein weiterer Nachteil liegt darin, dass die Häufigkeit an Befragungen, die man benötigen würde, um ein konsistentes Bild über alle Kontaktpunkte zu bekommen, dazu führen kann, dass dies selbst die Candidate Experience negativ beeinflusst. Als Alternative dazu kann man auch im Nachhinein, nachdem alle Prozesse abgeschlossen sind, noch einmal per E-Mail oder anderem Medium die Candidate Experience an allen Kontaktpunkten abfragen (Abb. 5.3). Vorteile dieser Messform Ein Vorteil ist, dass ein Bewerber nur ein einziges Mal befragt wird und dies i. d. R. nicht als allzu störend empfunden wird. Ein weiterer Vorteil ist, dass Bewerber neutral und idealerweise mit ein bis zwei Tagen Abstand über den Bewerbungsprozess berichten. In ähnlicher Form, wie sie es möglicherweise auch später mit Freunden und Verwandten besprechen würden. Nachteile dieser Messform  Das Ergebnis des Bewerbungsprozesses hat einen sehr starken Einfluss darauf, wie positiv oder negativ der Bewerbungsprozess wahrgenommen wird (vgl. Abschn. 5.5). Viele Absagen können also dazu führen, dass einzelne Kontaktpunkte schlechter wahrgenommen werden, als sie in einer direkten Kontaktpunktmessung bewertet worden wären. Daneben werden Ereignisse in der Retrospektive anders wahrgenommen, wenn eine längere Zeit zwischen Ereignis und Messung liegt.

Abb. 5.3   Indirekte Kontaktpunktmessung

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Wie wird gemessen Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man heutzutage die Zufriedenheit messen kann. Die gängigste Methode ist der Versand eine Online-Umfrage per E-Mail. Es gibt jedoch noch mehr Möglichkeiten, bei denen ich die gängigsten Ansätze in Tab. 5.3 skizzieren werden.

5.5 Candidate Net Promoter Score als Messinstrument für die Candidate Journey Die Digitalisierung und insbesondere die Vormacht von digitalen Bewerbungen und dadurch resultierend der digitalen Bewerberkommunikation haben dazu geführt, dass man heutzutage deutlich minutiöser messen kann, wie zufrieden Bewerber mit ihrem Bewerbungsprozess sind. Das am weitest verbreitete Kennzahlensystem ist der Candidate Net Promoter Score (CNPS). Hierbei handelt es sich um eine Abwandlung des im Vertrieb häufig genutzten Net Promoter Scores (NPS). Der NPS ist eine Kennzahl, die erstmalig von Frederick Reicheld vorgestellt wurde (vgl. Reicheld, Frederick 2003). Der NPS ist seit einigen Jahren sehr populär, was sich darin zeigt, dass sich mittlerweile viele Unternehmen (u. a. Vodafone, Apple, Ebay, Facebook, Google) mit dem NPS messen und so auch vergleichen lassen (vgl. Verhoeven 2016, S. 39). Insbesondere die Einfachheit ist ein sehr überzeugendes Argument. Die Adaption der Idee des NPS auf die Candidate Experience ist nahe liegend, da es prozessual sehr viele Überschneidungen zwischen Recruiting und Sales gibt und in beiden Disziplinen die Zufriedenheit des Kunden bzw. Bewerbers wettbewerbsentscheidend ist (vgl. Verhoeven 2016, S. 39). Abgeleitet vom normalen NPS misst der CNPS streng genommen die Bereitschaft zur Weiterempfehlung von Arbeitgebern aufgrund der Erfahrungen im Bewerbungsprozess. „Würden Sie [einen Arbeitgeber] einem guten Freund oder Verwandten weiterempfehlen?“ 0 (sehr unwahrscheinlich) – 10 (sehr wahrscheinlich)

Diese Frage ist das Kernelement des sog. CNPS. Ergänzend dazu ist noch die Frage nach einer Begründung, warum man sich so entschieden hat. Insbesondere diese Begründung gibt häufig sehr viele interessante Einblicke. Je nach Antwort werden die Ergebnisse der ersten Frage in drei Gruppen eingeteilt. Dies ist in Tab. 5.4 dargestellt. Der CNPS berechnet sich wie folgt:

CNPS = % Promotoren − % Detraktoren Dadurch kann das Ergebnis zwischen −100 und +100 liegen (VISUALISIERUNG). Um die konkrete Berechnung anhand von Beispielen zu verdeutlichen, zeige ich hier in Tab. 6.3 eine Musterberechnung.

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Tab. 5.4  Candidate-Net-Promoter-Score(CNPS)-Klassifizierung (angelehnt an Verhoeven 2016, S. 40) CNPS-Klassifizierung

Bedeutung

Promotoren (9–10)

Sie sind die wahren Fans des Arbeitgebers. Bei ihnen geht man davon aus, dass sie auch anderen Menschen von ihren positiven Erfahrungen erzählen. Sie werden Sie als Arbeitgeber sehr wahrscheinlich weiterempfehlen. Möglichst viele Promotoren zu kreieren, ist das oberste Ziel des Candidate-Net-Promoter-Systems

Neutrale (7–8)

Sie sind genau in der Mitte – sie schaden Ihnen nicht, werden Sie aber auch nicht unbedingt als Arbeitgeber weiterempfehlen. Hier ist viel Potenzial, weitere Promotoren zu erzeugen

Detraktoren (0–6)

Sie sind nicht wirklich begeistert von der bisherigen Erfahrung im Bewerbungsprozess. Sie werden Sie als Arbeitgeber nur äußerst unwahrscheinlich weiterempfehlen. Im schlimmsten Fall werden sie sogar Negatives über Sie berichten

Beispiel

In einem Unternehmen, das den CNPS nutzt, wurden 1000 Bewerber nach deren Bewerbung befragt. Es ergibt sich dabei folgende Häufigkeitsverteilung auf die Antworten, die in nachfolgender Tabelle dargestellt ist (Tab. 5.5). Daraus ergeben sich Verteilungen in die Gruppen: 321 Detraktoren (Werte 0–6), 229 Neutrale (Wert 7–8) 450 Promotoren (Werte 9–10) Der NPS ist also: % Promotoren – % Detraktoren = NPS     321 450 ∗ 100 − ∗ 100 = 12, 9 1000 1000 Unser beispielhaftes Ergebnis wäre also mit einem Wert von 12,9 ein gutes Ergebnis, wenngleich auch noch mit Luft nach oben. Tab. 5.5  Berechnung des Candidate Net Promoter Scores Wert

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Die Besonderheiten des Candidate Net Promoter Scores Wichtig beim CNPS ist, dass wir hier mindestens zwischen Bewerbergruppen differenzieren, die eine Absage bekommen haben, und Bewerbern, die (noch) keine Absage bekommen haben. Hier manifestiert sich einer der größten Unterschiede zwischen Recruiting und Sales. Im Recruiting können nicht alle Bewerber den Job bekommen, sondern i. d. R. nur ein Bewerber. Jeder Bewerber, der den Job haben möchte, aber nicht bekommen kann, ist tendenziell eher unzufrieden mit dem Ergebnis. Im besten Fall schafft es das Unternehmen, die Wogen etwas zu glätten. Bei meinem aktuellen Arbeitgeber haben wir den CNPC für vier Cluster berechnet: • Einstellung • Absage • Selbstabsage vor Abschluss des Bewerbungsprozesses • Selbstabsage nach Abschluss des Bewerbungsprozesses Ähnlich wie bei vorherigen Arbeitgebern zeigt sich folgendes Bild: Der CNPS von Bewerbern, die wir eingestellt haben, war deutlich über dem durchschnittlichen CNPS (> +20). Der CNPS von Bewerbern, die wir abgelehnt haben, war deutlich unter dem durchschnittlichen CNPS (> −25). Bei Bewerbern, die selbst abgesagt haben, gab es ein differenzierteres Bild: Haben die Bewerber vor einem weiteren Prozessschritt abgesagt, lag der Wert leicht (rund −15) unter dem durchschnittlichen CNPS. Hatten sie den Bewerbungsprozess bereits hinter sich, und haben dann ein konkretes Vertragsangebot abgelehnt, ergab sich ein leicht positiverer Wert (rund +10) als der durchschnittliche CNPS. Erfahrungsgemäß fallen die Abweichungen in positive oder negative Richtung umso größer aus, je weiter der durchschnittliche CNPS entfernt von 0 ist. Wenn man dieses Wissen nicht berücksichtigt, dann kann sich der CNPS von einem Monat zum nächsten allein deswegen verbessern, weil sich die Anzahl von Einstellungen oder Absagen verändert. Es gibt mehrere Vorgehensweisen, wie man diesen Verzerrungseffekt umgehen kann. Am einfachsten nimmt man jeden Wert einzeln und vergleicht ihn mit dem Wert des Folgemonats. Das hat den Vorteil, dass man über einzelne Gruppen (beispielsweise alle Eingestellten) Aussagen treffen kann. Der Nachteil ist, dass eventuell die Anzahl der Teilnehmer pro Monat nicht mehr groß genug ist und eine einzige e­ xtreme Bewertung einen sehr großen Ausschlag geben kann. Die andere Möglichkeit ist es, einen normierten Wert einzufügen, in dem man vorher ein definiertes Verhältnis f­estlegt; ­Beispiel: 20 % Selbstabsagen; 20 % Einstellungen; 60 % Absagen. Interpretation des Werts Es gibt bisher wenige Studien, die den CNPS-Wert offenlegen. Eine der wenigen Studien ist aus dem Jahr 2013. Die dort veröffentlichten CNPS-Werte von knapp 1000

5  Digitale Candidate Experience Tab. 5.6  Interpretationsrahmen für den Net Promoter Score

Tab. 5.7  Interpretationsrahmen für den Candidate Net Promoter Score

63

NPS-Wert

Interpretation

50

Positiv

CNPS-Wert

Interpretation

−50 bis −100

Sehr negativ

−10 bis > −25

Leicht negativ

−25 bis > −50

Negativ

> −10 bis < 10

Neutral

10 bis < 25

Leicht positiv

25 bis < 50

Positiv

50 bis 100

Sehr positiv

Teilnehmern über deren Candidate Experience ergaben einen CNPS von −461 (vgl. blackbridge et al. 2013, S. 120). Dass dieser Wert auf einer Skala von −100 bis +100 nicht übermäßig gut sein kann, leuchtet ein. Aber wie kann man die Werte konkret interpretieren? Ab wann ist ein Wert gut und ab wann schlecht? Beim NPS gibt es drei grobe Einteilungen (Tab. 5.6). Diese Aufteilung bezieht jedoch noch keinerlei Erfahrungswerte für den Personalbereich mit ein, weswegen ich im weiteren Verlauf eine detailliertere Interpretationshilfe gebe (vgl. Verhoeven 2016, S. 40). Es geht insbesondere nicht nur darum, eine spezielle Zielzahl zu erreichen, sondern den CNPS permanent zu verbessern. Nach mehreren Jahren Messung, Vergleich und Analyse diverser CNPS komme ich mittlerweile jedoch zu einer etwas differenzierteren Aufteilung, an der man sich orientieren kann (Tab. 5.7). Kritische Betrachtung des Candidate Net Promoter Scores Die kritische Auseinandersetzung findet fast ausschließlich im Kontext des normalen NPS statt und nicht im speziellen Kontext des CNPS. Die Befürworter des NPS halten zugute, dass es eine starke Korrelation zwischen dem NPS und dem Unternehmenserfolg gibt und dass der NPS durch seine Einfachheit punktet (vgl. Paulus o. J.). Gegner des NPS sehen genau da seine Schwachstelle – er sei zu simpel, um dem Vergleich mit komplexeren Fragemethoden standzuhalten (vgl. Ruf, S. 2007). Seine Einfachheit und leichte Verständlichkeit hat wiederum dazu geführt, dass der NPS mittlerweile ein h­äufiger

1Es

wurde dabei nach der Gesamtbewertung des Recruiting-Prozesses gefragt: 12 % waren Promotoren, 30 % Neutrale und 58 % Detraktoren.

64

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genutztes Tool ist, um die Candidate Experience zu messen; insbesondere seit 2014 in den USA. Selbst der US-amerikanische Experte zum Thema Candidate Experience Gerry Crispin hat 2014 seine eigene Interpretation des NPS im Kontext von Candidate Experience vorgestellt – den Net Candidate Experience Score (vgl. Crispin, G. 2014). Mittlerweile gängiger ist der hier genutzte Begriff des CNPS. Sowohl bei meinem aktuellen Arbeitgeber als auch bei meinen vorherigen Arbeitgebern habe ich sehr gute Erfahrungen mit der Nutzung des CNPS im Rahmen des Candidate Experience Management gesammelt. Durch eine permanente Messung hat man die beste Grundlage dafür, um seine Kontaktpunkte zu optimieren und seine eigenen Schwachstellen zu entdecken und diese auszuschalten (vgl. Verhoeven 2016, S. 59–69).

5.6 Was Bewerber wollen in der digitalen Welt Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die uns gezeigt haben, was Bewerber bevorzugen und wie Bewerber Kontaktpunkte wahrnehmen und bewerten (vgl. Verhoeven 2016, S. 17–32). Bei den bevorzugten Kanälen, über die Kandidaten nach Jobs und/oder Arbeitgebern suchen, hat sich in den letzten Jahren von 2014 bis 2017 einiges getan. Während die klassische Karriereseite an Stellenwert verliert (von 70 % auf 61 %), gewinnen andere Kanäle deutlich hinzu, wie Mitarbeiterempfehlungen von 10 % auf 28 %, LinkedIn Karriereseiten von 26 % auf 50 % und mobile Karriereseiten/Apps von 7 % auf 13 %, wohingegen reine Offline-Kanäle tendenziell eher sinken (Grossmann 2017, S. 28). Jedoch sind Bewerber nicht nur begeistert von neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Insbesondere künstlicher Intelligenz steht fast die Hälfte der Bewerber skeptisch gegenüber, wie die aktuelle Viasto-Studie zeigt (vgl. Viasto 2018). Sie wollen den Mehrwert solcher Anwendungen erklärt bekommen und nicht, dass der Bewerbungsprozess ausschließlich ohne menschliche Recruiter auskommen (vgl. Viasto 2018). Bewerber möchten ein konsistentes Markenerlebnis, denn sie nehmen Unternehmen ganzheitlich wahr und differenzieren nicht zwingend zwischen Produkt- und Arbeitgebermarke. Dies verdeutlicht sich auch darin, dass es eine nachgewiesene Interdependenz zwischen Produkt- und Arbeitgebermarke gibt. Eine positive Candidate Experience wirkt sich positiv auf die Kaufabsicht von Produkten des Arbeitgebers aus und eine negative Candidate Experience wirkt sich entsprechend negativ aus (vgl. Grossmann 2017, S. 20). Geschwindigkeit und Einfachheit sind auch weiterhin zentrale Bedürfnisse, die ein Bewerber im Rahmen des Bewerbungs- und Auswahlprozesses hat. Jeder dritte Bewerber ist davon genervt, wie viel Zeit er in seine Bewerbung stecken möchte (­Jobware 2017). Insbesondere der jeweils anzupassende Teil, das Anschreiben, fällt da ins Gewicht, weswegen auch immer mehr Unternehmen auf Anschreiben generell oder bei manchen Zielgruppen verzichten (vgl. Czycholl 2018).

5  Digitale Candidate Experience

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Bewerber teilen ihre positive oder negative Candidate Experience mit höherer Wahrscheinlichkeit online, als vor ein paar Jahren zuvor und dafür etwas seltener im persönlichen Bekanntenkreis2 (Grossmann 2017, S. 18).

5.7 Fazit Der Wettbewerb hat sich zugunsten von Bewerbern verändert. Als Spiegelbild einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hat auch hier die Digitalisierung einen immer größer werdenden Stellenwert. Bewerbungsprozess sowie Auswahlmethoden sind vermehrt digital abgebildet. Dies führt auf der einen Seite dazu, dass Unternehmen durch die neuen technologischen Möglichkeiten viele Kontaktpunkte verbessern können. Grundlage dazu bildet ein systematisches und möglichst automatisiertes Candidate Experience Tracking über eine permanente Befragung, durch die man die Candidate Experience der eigenen Bewerber messen möchte. Hier sind in den letzten Jahren viele Möglichkeiten hinzugekommen, die auch bei Bewerbern immer mehr akzeptiert werden. Wenn Unternehmen die Chancen der Digitalisierung konsequent weiter nutzen, so sind sie in der Lage, Bewerbern an vielen Kontaktpunkten eine exzellente Candidate Experience zu bieten und sich so im Wettbewerb um die besten Talente einen großen Vorteil zu sichern. Ein Verständnis der Candidate Journey und der Candidate Experience ist die Grundlage dafür, einzelnen Bewerbergruppen individuelle, auf sie ausgerichtete, Erlebnisse zu ermöglichen; im Sinn einer echten Candidate Centricity.

Literatur blackbridge, better blaced, Personnel Today. (Hrsg.). (2013). www.personneltoday.com https:// s3-eu-west-1.amazonaws.com/rbi-communities/wp-content/uploads/sites/8/2013/12/The_Candidate_Experience_2013.pdf. Zugegriffen: 28. Dez. 2018. Crispin, G. (2014). NET candidate experience score part I: Measuring employer brand from candidates’ perspective, CareerXroads Blog. http://blog.careerxroads.com/2014/04/net-candidate-experience-score-part-i.html. Zugegriffen: 30. Dez. 2018. Czycholl, H. (2018). Verzicht auf Bewerbungsschreiben liegt im Trend, Deutsche Handwerks Zeitung. https://www.deutsche-handwerks-zeitung.de/verzicht-auf-bewerbungsschreiben-liegt-imtrend/150/3099/374417. Zugegriffen: 11. Jan. 2019. Grossman, K. et al. (2017). 2016-17 Talent board EMEA candidate experience research report. https://www.thetalentboard.org/wp-content/uploads/2018/03/2017_Talent_Board_EMEA_ FINAL_Rev1.pdf. Zugegriffen: 11. Jan. 2019.

2Im

Jahr 2014 teilten 92 % aller Teilnehmer ihre positive Candidate Experience im Bekanntenkreis; 2017 waren dies nur noch 78 %. Bei der negativen Candidate Experience verringerte sich der Wert in den drei Jahren von 75 % auf 59 %.

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Human Resources Manager. (2018). Gewinnerliste 2018 HR excellence awards 2018. https://www. hr-excellence-awards.de/best-of-2018/. Zugegriffen: 16. Dez. 2018. Jobware. (2017). „Was stört Bewerber am meisten im Bewerbungsprozess?“ https://www.jobware. de/Ueber-Jobware/Presse/2017/Keine-oder-spaete-Antwort-auf-Bewerbungseingaenge.html. Zugegriffen: 10. Jan. 2019. Kacker, M. (2011). Customer management post recession: An analysis of indian hospitality sector. In A. Dubey (Hrsg.), Customer Experience Management (CEM) preparing for the future. Delhi: Wisdom Publications. Kootz, J. (2014). Kundenorientiertes Personalrecruiting – Eine empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Customer Experience Management. Lewis, E. (1903). Catch-Line and Argument. Book-Keeper, 15, 124. Meyer, C., & Schwager, A. (2007). Understanding customer experience. http://hbr.org/2007/02/ understanding-customer-experience/ar/1. Zugegriffen: 6. Jan. 2018. Paulus, M. (o. J.). Wie funktioniert der Net Promoter Score (NPS)? auf www.net-promoter.de http://www.net-promoter.de/methode-des-nps.html. Zugegriffen: 2. Mai 2018. Reicheld, F. (2003). The number one you need to grow. Harvard Business Review, 12(2003), 47–54. Ruf, S. (2007). Würden Sie diese Methode einem Freund empfehlen? In Verband Schweizer Markt- und Sozialforscher (Hrsg.), Jahrbuch, (38–40). Stindl, B. (2010). Leitfaden CEM. http://www.ec4u.de/wp-content/uploads/2012/01/Leitfaden-CEM.pdf. Zugegriffen: 6. Jan. 2018. Verhoeven, T. (2012). Candidate experience: #1 Die Theorie, Noch ein Personalmarketing Blog. http://nocheinpersonalmarketingblog.blogspot.de/2012/09/candidate-experience-1-die-theorie. html. Zugegriffen: 1. Jan. 2019. Verhoeven, T. (Hrsg.). (2016). Candidate experience – Ansätze für eine positiv erlebte Arbeitgebermarke im Bewerbungsprozess und darüber hinaus. Wiesbaden: Springer Gabler. Viasto GmbH. (2018). Bewerberstudie zu künstlicher Intelligenz in HR: zwischen Unbehagen und Gefallen. https://www.viasto.com/blog/bewerber-studie-zu-kuenstlicher-intelligenz-in-der-personalauswahl/. Zugegriffen: 30. Dez. 2018. Wald, P., & Athanas, C. (2014). Candidate Experience Studie 2014, in Kooperation mit Stellenanzeigen.de.

Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

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Candidate Centricity Der Kandidat im Mittelpunkt des Recruiting-Prozesses Michaela Scherhag

Inhaltsverzeichnis 6.1 Einleitung und Ausgangssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6.2 Candidate Centricity – Definition und Herleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6.3 „Listen to the candidate“ – Was will der Bewerber?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 6.4 Targeting – Spezifische Zielgruppenansprache als Erfolgsfaktor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 6.5 Candidate Centricity als Bestandteil des Recruiting-Prozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6.6 Learnings und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Zusammenfassung

Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie geänderte Bedürfnisse und Anforderungen der Zielgruppen sind Faktoren, die ein Umdenken im Recruiting unumgänglich machen. Wir betrachten im Folgenden, wie durch Etablierung des Candidate-Centricity-Ansatzes der Bewerber konsequent ins Zentrum der Recruiting-Aktivitäten gerückt werden kann. Welche Schritte sind zu durchlaufen und welche Voraussetzungen sind im Unternehmen zu erfüllen? Neben der theoretischen Herleitung beschreiben wir anhand eines konkreten Beispielfalls, wie eine mögliche Umsetzung im Unternehmen aussehen kann.

M. Scherhag (*)  Frankfurt am Main, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_6

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6.1 Einleitung und Ausgangssituation Der Wandel hin zum Bewerbermarkt sowie eine deutliche Verschiebung von Bedürfnissen und Erwartungen potenzieller Kandidaten lassen nur einen Rückschluss zu: Stellenanzeigen auf diversen Jobportalen schalten und hoffen, dass sich genügend Top-Kandidaten bewerben, ist längst nicht mehr ausreichend. Um den Bedarf in einstellungsintensiven Phasen und Branchen zu decken, muss ein Arbeitgeber sich mit innovativeren Lösungen auseinandersetzen und neue Wege gehen. Ein unumstößlicher Aspekt ist dabei, den Bewerber selbst in den Fokus der Recruiting-Bemühungen zu rücken. Im konkreten Fall standen wir im Jahr 2017 einem sprunghaften Anstieg des Einstellungsbedarfs für Young Professionals mit bankspezifischem Hintergrund im Beratungsumfeld gegenüber. Neben der sehr guten Auftrags- und Geschäftslage wurden im Rahmen einer umfassenden Situationsanalyse folgende Hauptursachen ermittelt: • In hohem Maß kompetitiver Bewerbermarkt im Banking-Umfeld • Lange Durchlaufzeiten im Bewerbungsprozess • Hohe Absage- und Abbruchquote innerhalb des Prozesses Diesen Herausforderungen sollte mit einem Ansatz entgegengewirkt werden, der den Bewerber ins Zentrum der Recruiting-Bemühungen stellt.

6.2 Candidate Centricity – Definition und Herleitung Der Begriff Candidate Centricity findet seinen Ursprung in dem bereits seit mehr als 50 Jahren etablierten Konzept der Kundenorientierung (Customer Centricity), das deshalb in Folge näher betrachtet wird. Besondere Popularität erlangt das Konstrukt Anfang der 1980er-Jahre, als Peters und Waterman in dem Buch In Search of Excellence Kundennähe als eine von acht relevanten Faktoren, für den Unternehmenserfolg nennen. In den vergangenen Jahren hat das Thema zunehmend an Bedeutung gewonnen. Grund dafür sind zum einen Veränderungen in den Märkten, zum anderen aber ebenso Modifikationen im Verhalten und der Einstellung der Kunden selbst. Der Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt, gestiegener Konkurrenzdruck, Globalisierungstendenzen und immer kürzer werdende Produktlebenszyklen zählen ebenso wie die zunehmende Homogenisierung der angebotenen Produkte zu den Herausforderungen, denen sich die Unternehmen stellen müssen. Im Selbstbewusstsein gestärkt durch diese marktbezogenen Veränderungen wollen die Kunden nicht mehr als Bittsteller wahrgenommen werden. Die große Auswahl an Anbietern und Produkten stellt es ihnen frei, bei Unzufriedenheit ohne großen Aufwand zu wechseln. Erleichtert wird diese Verhaltenstendenz durch eine erhöhte Markttransparenz in

6  Candidate Centricity

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Folge des technischen Fortschritts, was dazu führt, dass der Kunde von heute bestens informiert ist. Im Hinblick auf den Unternehmenserfolg ist es also wichtiger denn je, den Kunden als zentrales Element wahrzunehmen und für eine Kundenorientierung im Unternehmen zu sorgen. In der geläufigen Literatur findet man unterschiedliche Definitionen des Begriffs Kundenorientierung. So bedeutet Kundenorientierung für Nerdinger „[…] die Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden zu erkennen und sich zu bemühen, diese zu erfüllen“ (Nerdinger, Friedmann W., Kundenorientierung, Göttingen (Hogrefe) 2003, S. 1). Laut Bruhn bedeutet Kundenorientierung „[…] die umfassende und kontinuierliche Ermittlung und Analyse der individuellen Kundenerwartungen sowie deren interne und externe Umsetzung in unternehmerische Leistungen sowie Interaktionen mit dem Ziel, langfristig stabile und ökonomisch vorteilhafte Kundenbeziehungen zu initiieren und zu etablieren“ (nach Bruhn, Manfred (2003) in: Gregori, Christoph, Instrumente einer erfolgreichen Kundenorientierung 2006, S. 11).  Customer-Centricity-Definition „Unter Customer Centricity (CC, deutsch: Kundenorientierung) verstehen wir die konsequente Ausrichtung von Unternehmen an die Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche der unterschiedlichen Kunden und Stakeholder. Um dies zu erreichen, müssen Unternehmen das Verhalten und die Bedürfnisse des digitalen Nutzers verstehen und berücksichtigen (User Centricity)“ (S. 9 https://www.united-internet-media.de/uploads/tx_iviteaser/Digital_Dialog_ Insights_2017.pdf).  Candidate-Centricity-Definition  „Candidate Centricity ist eine durchgängige und integrative Unternehmensstrategie, die auf den Bewerber und seine individuellen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Candidate Centricity ist sowohl ein unternehmerischer, organisatorischer, strategischer und operativer Grundstein eines an den Wandel angepassten Geschäftsmodells, als auch ein grundlegend neuer Management- und Führungs- sowie Strategie- und Umsetzungsansatz“ (https://personalmarketing2null.de/2018/07/candidate-centricity-recruiting/). Welche Schritte zur Umsetzung der Candidate Centricity im Recruiting notwendig sind, beleuchten wir in den folgenden Abschnitten genauer.

6.3 „Listen to the candidate“ – Was will der Bewerber? Den Kandidaten erfolgreich in den Fokus der Aktivitäten zu rücken, macht im ersten Schritt eine genaue Abgrenzung der zu rekrutierenden Personen notwendig. Ein möglicher Ansatz zur spezifischen Definition der Zielgruppe ist der Einsatz sog. Candidate Perso-

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nas. Diese Methode vereinfacht es, durch Reduktion von Komplexität und Inhomogenität, Mensch und Bedürfnisse in Gruppen einzuordnen (https://www.content-garden.com/personas-zielgruppendefinition-durch-user-personas/). Man erhält als Ergebnis virtuelle Personen, die ein Clustern der zu rekrutierenden Zielgruppe ermöglichen: • Kandidaten mit welchem Skillset und Background suchen wir, um die freien Stellen optimal zu besetzen? • Wie grenzen sie sich voneinander ab? • Welche weiteren Faktoren und Eigenschaften spielen bei der Auswahl eine Rolle?

 Candidate Persona Definition  „Ein Candidate Persona ist die fiktive Darstellung eines potenziellen Wunschkandidatens. Von der Funktion her steht das Candidate Persona mit dem klassischen Anforderungsprofil im Verhältnis. Das Persona enthält darüber hinaus weitere Informationen, mit denen sich der Bewerber ein genaues Bild der beschriebenen Person machen kann. Der Kandidat kann sich mit dem Persona vergleichen und so seine Eignung für das Stellenangebot feststellen. Eine anonyme Zielgruppenmenge wird mit einer menschlichen Gestalt ersetzt“ (http://blog.searchtalent.de/ candidate-personas-definition-vorteile). Das Führen von Interviews mit Mitarbeitern in den zu besetzenden Bereichen kann hierbei eine gute Datenbasis liefern. Über welchen Weg haben sie sich seinerzeit selbst beworben? Welche Faktoren der Unternehmenskultur schätzen sie besonders? Warum gefällt ihnen ihre Arbeit? Und welche Skills erwarten sie von einem neuen Kollegen? Ergänzend kann auch eine direkte Befragung von Bewerbern, beispielsweise durch Einbindung von Feedbackbögen an verschiedenen Stellen im Bewerbermanagementsystem, vorgenommen werden, sowie ein Datenabgleich der gesammelten Informationen von bereits vorgenommenen Einstellungen. Als externe Informationsquelle sollte zudem eine Online-Recherche einbezogen werden, bei der berufliche soziale Netzwerke sowie Expertenforen untersucht werden. Informationsquellen zur Erstellung von Candidate Personas Interviews mit Mitarbeitern und Führungskräften Kandidatenfeedbackbögen im Bewerbungsprozess Abgleich mit Einstellungsdaten von bereits besetzten Positionen Online-Recherche (berufliche Netzwerke, Expertenforen, Blogs, aktuelle Studien)

Als Ergebnis entsteht eine eigene Kurzbiografie für jede definierte Gruppe und damit eine Datenbasis für die gezielte Ansprache geeigneter Kandidaten (Softgarden 2018). Zur Differenzierung einer Candidate Persona können u. a. folgende Punkte berücksichtigt werden:

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• Hintergrundinformationen: Alter, Familienstand, Interessen, Beruf, Wohnort • Persönlichkeitsmerkmale: Charakter der Persona (schüchtern oder extrovertiert und kreativ, aktiv oder passiv) • Bevorzugte Kanäle: Informationskanäle bezüglich künftigem Arbeitgeber • Needs: Wünsche und Ziele der Persona • Gains: Ziele, Träume, was schätzt die Persona an Bewerbungen bei Unternehmen • Panik: Wo sieht die Persona Verbesserungsbedarf; was hindert an einer Bewerbung? • Kernbedürfnis bzw. ideale Lösung: Kernbedürfnis der Persona, ideale Arbeitsbedingungen In unserem Beispielfall, bei dem wir einem sprunghaften Anstieg des Einstellungsbedarfs für Young Professionals mit bankspezifischem Hintergrund im Beratungsumfeld gegenüberstanden, wurden folgende Schritte zum Clustern der Zielgruppe angewandt: • Bildung eines interdisziplinären Projektteams bestehend aus Recruitern und Fachkräften unterschiedlicher Karrierelevel aus dem betreffenden Bereich • Durchführung von Workshops zwischen Projektteam und Führungskräften • Strukturierte Befragungen von Mitarbeitern verschiedener Karrierestufen innerhalb des Banking-Sektors • Literatur und Online-Recherche Im Ergebnis wurde deutlich sichtbar, dass sich die gewünschten Kandidaten stark durch ihren Background (Ausbildung, Berufserfahrung, Karriere) definieren und sich darüber identifizieren. Eine Verdichtung der Daten lieferte uns drei Kandidaten-Typen mit entsprechenden Haupt-Differenzierungsmerkmalen: • Person A: Kandidat mit Bankausbildung und angeschlossenem betriebswirtschaftlichem Studium • Person B: Kandidat mit betriebswirtschaftlichem Studium und ersten praktischen Erfahrungen (Praktika, Werkstudentenstelle, Festanstellung) im Banking-Umfeld • Person C: Kandidat, der einen dualen Studiengang gewählt hat und die Praxisphasen im Bankingumfeld absolviert hat Darüber hinaus wurde definiert, durch welche weiteren Eigenschaften und Merkmale sich die Zielpersonen auszeichnen sollten und wie diese im späteren Auswahlprozess mit einbezogen werden können.

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6.4 Targeting – Spezifische Zielgruppenansprache als Erfolgsfaktor Ein für den Recruiting-Ansatz der Candidate Centricity entscheidender Faktor ist die Untersuchung und Identifizierung der bevorzugten Kommunikationskanäle der Zielgruppen. Welche sozialen Netzwerke und Plattformen eignen sich, um auf das Unternehmen als potenziellen Arbeitgeber aufmerksam zu machen? Dabei ist auch das Bestreben, Kandidaten aus der Zielgruppe, die derzeit gar nicht aktiv auf Jobsuche sind, auf Karriereoptionen im Unternehmen aufmerksam zu machen und sie im Bestfall zur Bewerbung zu bewegen. Die klassische Stellenanzeige wird hier also ein Stück weit abgelöst und durch das sog. Targeting, die fokussierte Ansprache der Zielgruppe, ersetzt. Seinen Ursprung findet der Targeting-Ansatz im Marketing, das Modell wird in modifizierter Form immer häufiger in den Recruiting-Kontext übertragen.  Targeting Definition „Targeting (engl. target = Ziel) bezeichnet die genaue Zielgruppenansprache im Onlinemarketing. Wichtigste Voraussetzung dafür ist die Zielgruppenbestimmung im Vorfeld einer jeden Werbekampagne. Über moderne Technologien ist es im Internet möglich, eine Onlinekampagne zielgruppengenau zu steuern. Hierfür stehen dem Werbetreibenden zahlreiche Techniken der Zielgruppeneingrenzung zur Verfügung.“ (Quelle: https://www.onlinemarketing-praxis.de/glossar/targeting) Neben der Wahl des Kommunikationsmediums sollte auch eine Neugestaltung der Stellenanzeige in Erwägung gezogen werden. Wie kann ich meine Texte genau auf die Zielgruppe zuschneiden? Welche Buzzwords ziehen die Aufmerksamkeit der Talente auf sich? Wie vermittle ich dem Leser das Gefühl, dass wir genau Personen mit seinem Background eine interessante Karriereoption bieten können? Auch die visuelle Darstellung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Welche Grafiken und Bilder sprechen den Kandidaten an, ziehen die Aufmerksamkeit auf die Anzeige und animieren ihn letztendlich dazu, sich genauer über die zu besetzende Position informieren zu wollen? Auch wenn durch Platzierung und passender Botschaft die Aufmerksamkeit der Zielperson erregt wurde, bedeutet es nicht, dass direkt im Anschluss eine Bewerbung erfolgt. Vielleicht muss sie sich erst mit dem Gedanken, sich beruflich umzuorientieren, auseinandersetzen oder der Zeitpunkt ist gerade unpassend. Das sog. Retargeting, das erneute Platzieren und Einspielen der Anzeige im Web, ruft die Vakanz immer wiederholt ins Gedächtnis der Zielperson und macht im Bestfall aus einem Interessenten einen Bewerber.  Retargeting-Definition  Als Retargeting (auch Re-Targeting geschrieben oder auch Remarketing genannt) bezeichnet man die einfachste der personalisierten Targetingstrategien (vgl. Targeting), häufig im Bereich des E-Commerce. Hierbei werden Nutzer beim

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Besuch bestimmter Webseiten (meist) durch Cookies markiert. Ein Pixel, eine unscheinbare Codezeile im Quellcode der besuchten Seite, setzt in diesem Fall beim Laden der Seite den Cookie und dieser gibt dann Daten an einen Adserver weiter. Andere Webseiten wie Facebook markieren Nutzer auch ohne Cookies. Ein entscheidender Vorteil des Targetings im Vergleich zur Ausschreibung einer Stelle auf landläufig bekannten Jobportalen ist, dass die Streuverluste und damit auch das aufzuwendende Budget deutlich reduziert werden können, wie in Abb. 6.1 verdeutlicht wird. Es wird zwar nur eine kleinere Personenanzahl erreicht, dafür aber mit genauerer Passung (Personalwissen.de 2018; https://www.personalwissen.de/targeting-personalmarketing-recruiting/). Nun, da der Kandidat durch einen zielgruppenspezifischen Teaser angezogen wurde, ist es wichtig, auch in den Folgeschritten, einem tieferen Informationsprozess und eventuell sogar dem Bewerbungsprozess, eine persönliche und individuelle Ansprache beizubehalten. Auch in unserem erwähnten Fall wurden nach der Definition der Hauptzielgruppen individuelle Werbebotschaften erarbeitet. Ziel war es, Teaser zu entwickeln, die sowohl den Background als auch die spannende Karriereoption in kurzen Statements widerspiegeln. Zur Visualisierung wurde auf Stockmaterial verzichtet, stattdessen kamen Bilder zum Einsatz, die echte Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz zeigten. Der Bewerber erhielt so direkt ein authentisches Bild und einen ersten Eindruck der potenziellen neuen Kollegen und des künftigen Arbeitsumfelds. Eingespielt wurden die Inhalte über gängige soziale Netzwerke, in der die Zielgruppe aktiv vertreten ist.

Abb. 6.1   So funktioniert Retargeting im Recruiting

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6.5 Candidate Centricity als Bestandteil des RecruitingProzesses Nachdem der Kandidat durch die (wiederholte) zielgruppenspezifische Ansprache auf das Unternehmen und die zu besetzende Position aufmerksam gemacht wurde, sollte man eine geeignete Plattform zur Verfügung stellen, die tiefergehende Informationen zu Unternehmen, Vakanz und Bewerbungsprozess enthält. Auch hier sind die Interessen und Bedürfnisse der definierten Zielgruppe bei Inhalt und Darstellungsform in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn sich die Zielperson dann zur Bewerbung entschließt, so ist es elementar, an dieser Stelle nicht in alte Muster zurückzufallen, sondern weiterhin den Kandidaten mit seinen Bedürfnissen und Vorlieben im Fokus zu belassen. Ein vereinfachtes, intuitives Verfahren, beispielsweise die One-Click Bewerbung, kann dabei die herkömmliche Online- oder E-Mail-Bewerbung ersetzen. Vorteile der One-Click-Bewerbung (vgl. https://bewerbung.com/one-click-bewerbung/): • Flexibilität: Bewerbung von jedem Ort und zeitunabhängig auf die ausgeschriebene Stelle • Einfache Vorgehensweise: Daten müssen nicht manuell in eine Bewerbermaske eingegeben werden, sondern können automatisiert an den Arbeitgeber übermittelt werden. • Mobiles Versenden: Computer oder Laptop, werden nicht benötigt, um die Bewerbung abzuschicken, ein Smartphone reicht aus. Auch der zeitliche Faktor spielt eine entscheidende Rolle. So ist eine Überprüfung des Auswahlprozesses für die angesprochene Zielgruppe ratsam. An welcher Stelle können wir den Prozess verschlanken und einen zeitlichen Vorteil erlangen? Auch sollten die identifizierten, von den Personae als relevant erachteten Faktoren („needs“, „gains“, Kernbedürfnisse) im Prozess aufgegriffen werden. Beispielsweise können den Kandidaten aktiv Informationen zu Arbeitszeiten, Arbeitsort, Möglichkeiten zu Auslandseinsätzen, flexiblen Arbeitszeit, Unternehmenskultur, Weiterbildungsmöglichkeiten etc. zur Verfügung gestellt werden. Die am Auswahlprozess beteiligten Personen (Recruiter, Führungskräfte) sollten den Kandidaten nach Möglichkeit über den gesamten Auswahlprozess begleiten, ihm das Gefühl persönlicher Betreuung und Ansprechbarkeit vermitteln. Dies kann schon mit der Nennung der Ansprechperson in der Stellenanzeige und der Angabe einer Telefonnummer für Rückfragen beginnen. Auch das zeitnahe und regelmäßige Update über den Status der Bewerbung, die persönliche Anrede im E-Mail-Kontakt und eine gute Vorbereitung auf das Interview sorgen dafür, dass sich der Bewerber gut betreut und wertgeschätzt fühlt. Für das Interview mit dem Kandidaten sollte sich der Gesprächspartner über den bisherigen Prozess (z. B.: Hat bereits ein persönliches Gespräch oder Telefonat stattgefunden, was wurde darin besprochen?) und das weitere Vorgehen (z. B.: Folgt

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nach dem Gespräch ein Assessment-Center oder kann im Bestfall direkt ein Vertragsangebot unterbreitet werden?) informieren sowie den Lebenslauf des Kandidaten sorgfältig lesen, um auf spezifische Punkte eingehen zu können. Letztendlich sollte auch eine persönliche Absprache der Vertragskonditionen mit Raum für Rückfragen erfolgen und nach Unterschrift ausreichend Informationen zu den ersten Tagen, inklusive künftiger Ansprechpartner, im neuen Unternehmen bereitgestellt werden. Eine zielgruppengerechte Informationsquelle, ein einfaches Bewerbungsverfahren sowie ein schnellerer Auswahlprozess bildeten in unserem Beispielfall ebenfalls die Grundlagen der Recruiting-Strategie. So wurde eine eigene Microsite entwickelt, deren Inhalte sich an den identifizierten Merkmalen und Wünschen der Persona orientierte. Um einen authentischen Einblick in das Unternehmen zu gewähren, wurden Kollegen aus dem Banking-Team zu ihrem eigenen Einstieg ins Unternehmen und ihrem Werdegang befragt und die Ergebnisse in Form von Videos und Interviews auf der Seite platziert. Ein Karriere-Blog sorgte zudem dafür, dass Kandidaten Informationen zum Thema Unternehmenskultur, Karriereoptionen und Arbeitsalltag auffinden konnten. Alle Beiträge wurden von Mitarbeitern verfasst, die bereits ähnliche Positionen wie die zu besetzenden innehatten und so Einblicke aus erster Hand liefern konnten. Für die zu besetzende Position wurde ein eigenes, verkürztes Auswahltagkonzept in Form einer Roadshow entwickelt, das es den Kandidaten ermöglichte, sich über ein verkürztes, schlankes Bewerbungsformular auf der Microsite direkt für einen Auswahltag am Wunschstandort zu bewerben. Der Auswahlprozess selbst wurde von den Schritten Telefoninterview, Assessment-Center, persönliches Interview zu diesem Zwecke neu konzipiert und ausschließlich auf die Roadshow beschränkt. Dieses Verfahren, das u. a. fachliche Interviews und Case Studies enthielt, ermöglichte es, den Kandidaten im Erfolgsfall noch am selben Tag ein Vertragsangebot auszusprechen. Ebenfalls wurde angestrebt, durch hohe Präsenz von Vertretern des Fachbereichs und entsprechend eingebaute Get-Together und Fragerunden einen umfassenden Einblick in das künftige Tätigkeitsfeld zu bieten. Der speziell identifizierten Zielgruppe wurde somit eine vereinfachte Bewerbung und ein vereinfachter Auswahlprozess ermöglicht.

6.6 Learnings und Fazit Insgesamt lässt sich sagen, dass Candidate Centricity ein entscheidender Faktor für eine positive Candidate Experience darstellt. Die Bedürfnisse des Bewerbers in den Fokus zu rücken, auf seine Vorlieben und eventuelle Unsicherheiten einzugehen, die Konsistenz im Bewerbungsprozess und die persönliche Ansprache sorgen dafür, dass der Bewerbungsprozess ein rundes Gesamtbild erzeugt und sich positiv auf die Employer Brand auswirkt. Selbst wenn der Prozess also am Ende nicht zu einer Besetzung geführt hat, weil sich entweder Kandidat oder Unternehmen anderweitig entschieden haben

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(Gründe dafür seien an dieser Stelle ausgeklammert), ist es dennoch sehr wahrscheinlich, dass der Bewerber das Unternehmen in seinem Umfeld empfiehlt, sich positiv auf Bewertungsplattformen äußert und sich im besten Fall mit etwas zeitlichem Abstand erneut zu einer Bewerbung entschließt. Die Faktoren zur erfolgreichen Umsetzung der der Candidate Centricity im Bewerbungsprozess im Überblick: • • • • • •

Definition und Abgrenzung der Zielgruppe (Bildung von Personae) Zielgruppenspezifische Ansprache (Medium und Art der Kommunikation) Vereinfachtes Bewerbungsformular/-verfahren Bereitstellung entscheidungsrelevanter Informationen für die jeweilige Persona Schnelle, transparente Abwicklung des Einstellungsprozesses Professionelle Durchführung und Nahbarkeit der Gesprächsteilnehmer bei Interviews und Assessmentverfahren • Persönliche Ansprechpartner über den gesamten Bewerbungsprozess Das Konzept der Candidate Centricity erfolgreich im Unternehmen umzusetzen, bedarf der Zusammenarbeit und Abstimmung vieler interner Interessengruppen. Die Recruiting-Abteilung selbst steht selbstverständlich im Zentrum der Aktivitäten und sollte für eine Initiierung und erfolgreiche Umsetzung des Ansatzes sorgen. Nicht weniger wichtig ist aber das Commitment von Geschäftsführung und Führungskräften, damit Interviews zeitnah und professionell durchgeführt sowie Genehmigungsprozesse schnell und unkompliziert abgewickelt werden können. Auch Marketingmaßnahmen sind durch die Wahl neuer Kommunikationskanäle und -formen anzupassen, was u. U. interne Absprachen mit entsprechenden Entscheidern notwendig macht. Letztendlich müssen auch die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit den Kandidaten eine einfache, fehlerfreie und mobile Bewerbung ermöglicht werden kann. In unserem genannten Fall konnten wir durch den Candidate Centricity Ansatz, der konsequent von allen Beteiligten mitgetragen wurde, die Einstellungsziele zeitnah und erfolgreich erfüllen. Durch den schnellen Prozess und den sehr frühen persönlichen Kontakt mit Mitarbeitern und Führungskräften entstand eine Verbindlichkeit, die sich äußerst positiv auf die Bewertung des Gesamtprozesses und insbesondere auch auf die Annahmequote der Vertragsangebote auswirkte. Der benötigte Vorlauf und der anfängliche finanzielle Aufwand zur Erstellung der Microsite und der dazugehörigen Marketingkampagne, amortisierten sich so sehr schnell.

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Literatur Personalwissen.de. (2018). Targeting im Personalmarketing und Recruiting: Wissenswertes für Personaler. https://www.personalwissen.de/targeting-personalmarketing-recruiting/. Zugegriffen: 21. Jan. 2019. Softgarden. (2018). Bewerber im Fokus – Wie erstelle ich Candidate Personas? https://www.softgarden.de/blog/wie-erstelle-ich-candidate-personas/. Zugegriffen: 21. Jan. 2019.

Michaela Scherhag ist Managerin bei der Unternehmensberatung BearingPoint. Nach dem betriebswirtschaftlichen Studium mit Schwerpunkt Organisation und Personalmanagement, bei dem sie sich auf den Themenbereich Organisationskultur fokussierte, durchlief sie verschiedene Stationen in den Bereichen Personalentwicklung, Recruiting und Personalmarketing. Seit mehreren Jahren ist sie bei BearingPoint als Recruiterin für das Themengebiet Digital & Strategy sowie als Social-Media-Expertin tätig.

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Online-Assessment Von Orientierung und Matching über datengetriebene Personalauswahl bis hin zu People Analytics Joachim Diercks

Inhaltsverzeichnis 7.1 Deutlich gestiegene Bedeutung des Themas Online-Assessment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 7.1.1 Gründe für den aktuellen Boom beim Online-Assessment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7.2 Der wichtige Zusammenhang von Selbst- und Fremdselektion – und was das mit Online-Assessment zu tun hat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 7.3 Self-Assessment: Online-Assessment zur Verbesserung der Selbstauswahl in Form von Selbsttests und Matching-Tools. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.3.1 (Unternehmens-)Kulturelle Passung oder auch „Cultural Fit“ . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.3.2 Berufliche Orientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7.3.3 Berufsorientierungsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 7.4 Online-Assessment: Webbasierte Auswahltests als Instrument der Bewerbervorauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 7.4.1 Was wird im Rahmen von Online-Tests gemessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 7.4.2 Nutzen von Online-Assessments – auf Unternehmens- und auf Kandidatenseite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 7.4.2.1 Verbesserung der Auswahlqualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 7.4.2.2 Kosteneinsparungen und kürzere Dauer der Bewerbungsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 7.4.2.3 Komfort für Bewerber und Akzeptanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 7.4.3 Online-Assessment im Recrutainment-Format. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 7.4.3.1 Online-Assessments sind Tests, keine Spiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 7.4.3.2 Für welche Zielgruppen werden Online-Assessments eingesetzt? Und ist das nur etwas für große Unternehmen?. . . . . . . . . . . 95 7.5 Von Online-Assessment zu Recruiting Analytics, Data Driven Recruiting und People Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 J. Diercks (*)  Cyquest GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_7

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J. Diercks Zusammenfassung

Online-Assessments haben sich fest in der Personalgewinnung etabliert. Zunehmend werden diese mittlerweile nicht mehr nur von großen Konzernen, sondern auch von mittleren und kleinen Unternehmen eingesetzt. Online-Assessment hat zwei Seiten: Auf der einen Seite umfasst dieser ­Oberbegriff eignungsdiagnostische Testverfahren, die Unternehmen als Element ihrer ­Auswahlprozesse einsetzen (Fremdselektion). Überprüft werden dabei u. a. kognitive Leistungsfähigkeit, Wissen, Persönlichkeit, Interessen oder kulturelle Passung. Auf der anderen Seite fallen darunter aber auch Instrumente, die der Verbesserung der Selbstselektion dienen. Während Auswahltests v. a. die Unternehmensziele Qualität der Personalauswahl, Verkürzung der Time-to-Hire und Einsparung von Recruiting-Kosten verfolgen, geht es bei Self-Assessments darum, Interessenten bei der Beantwortung der Frage zu ­helfen, ob und wenn ja worauf sie sich bewerben sollten. Hier kommen Selbsttests, Matching-Tools oder Berufsorientierungsspiele zum Einsatz. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Einführung künstlicher Intelligenz und automatisierter Bewerbungs- und Auswahlprozesse kommt dem Online-Assessment eine besondere Bedeutung zu, stellen doch die hierdurch erlangten Erkenntnisse und generierten Daten eine hervorragende Grundlage für die datengetriebene Personalgewinnung dar.

7.1 Deutlich gestiegene Bedeutung des Themas Online-Assessment Online-Assessment hat sich über die letzten knapp 20 Jahre zu einem etablierten Bestandteil der Personalarbeit entwickelt, v. a. im Bereich der Personalgewinnung (Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting), aber auch in der Organisationsund Personalentwicklung. Erstmals um die Jahrtausendwende, zu Zeiten der sog. New Economy, wurde der Versuch unternommen, Eignungsdiagnostik ins Web zu verlagern. Anwendungen wie Das Erfolg-Reich-Spiel (später: Karrierejagd durchs Netz; vgl. Diercks et al. 2007) oder Challenge Unlimited kombinierten dabei spielerische Elemente mit verschiedenen Testverfahren und wurden unter dem Schlagwort Recrutainment nicht nur in der Presse intensiv diskutiert, sondern erreichten auch durchaus substanzielle Teilnehmerzahlen. So nahmen etwa an mehreren Runden der Karrierejagd insgesamt weit über 100.000 Nutzer teil. Gleichwohl hatten diese frühen Formen des Online-Assessments noch etwas sehr Exotisches und es wurden zahlreiche Bedenken vorgetragen, insbesondere im Hinblick auf den spielerischen Kontext dieser Anwendungen und in Bezug auf die vermeintliche Manipulierbarkeit der Testergebnisse durch die unkontrollierte Durchführung der Tests über das Internet (Remote Assessment). Große Leuchtturmprojekte wie etwa das Online-Assessment unique.st, mit dessen Hilfe Unilever im

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Jahr 2003 begann, Führungsnachwuchskräfte und Trainees zu rekrutieren (vgl. Kupka et al. 2004), oder auch der webbasierte Auswahltest für das Projekt 5000 × 5000, bei dem der VW-Konzern im Jahr 2003 5000 v. a. Langzeitarbeitslose einstellte, verhalfen dem Thema Online-Assessment dann zum Durchbruch. Heute setzen zahlreiche Unternehmen Online-Assessments wie selbstverständlich ein. Dabei handelt es sich auch nicht mehr nur um Großkonzerne, sondern in zunehmendem Maß auch um mittlere Unternehmen und – sehr einfachen und standardisierten Lösungen sei Dank – auch kleine Unternehmen, die teilweise nur einige wenige Bewerbungen bekommen. Und wie eingangs bereits angedeutet: Online-Assessments werden nicht nur im Recruiting eingesetzt, vielmehr findet sich inzwischen eine breite Variation an Einsatzformen auch in der Berufsorientierung, im Arbeitgebermarketing und Employer Branding sowie in der Unternehmens- und Personalentwicklung. Es überrascht daher wenig, dass das von der Firma cut-e herausgegebene Deutsche Assessment Barometer 2016 mit 36 % einen im Vergleich zu 2010 doppelt so hohen Verbreitungsgrad sog. Online-Assessments dokumentierte. Neben Kosteneinsparungen und Geschwindigkeitsgewinnen versprechen sich Unternehmen hiervon v. a. höhere Zuverlässigkeit, reduziertes Risiko und bessere Begründbarkeit ihrer Personalentscheidungen (cut-e 2016). Das Diskussionspapier „Wie Future Skills die Personalarbeit verändern“, das der Stifterverband gemeinsam mit McKinsey Ende 2018 herausgegeben hat, geht von einem Anstieg des Einsatzes von digitalen Auswahltests und Spielen bis 2023 von 82 % aus (­Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2018). Diese Entwicklung lässt sich auf verschiedene aktuelle Entwicklungen zurückführen.

7.1.1 Gründe für den aktuellen Boom beim Online-Assessment Die Gründe für den speziell in den letzten Jahren deutlichen Bedeutungszuwachs von Online-Assessments sind vielschichtig. Im Wesentlichen lassen sich hier vier Ursachen ausmachen: • Deutlich gestiegenes Wissen um wirtschaftspsychologische Zusammenhänge im Human Resources Management allgemein. Es ist deutlich zu bemerken, dass in den letzten Jahren erheblich mehr Personen im Personalwesen tätig sind, die eine wirtschaftspsychologische Vorbildung mitbringen. Während früher der typische Personaler in aller Regel von Hause aus Wirtschaftswissenschaftler war (z. B. BWLer mit Schwerpunkt Personal) trifft man heute erheblich häufiger Absolventen und Absolventinnen wirtschaftspsychologischer Studiengänge an. Das ist auch wenig verwunderlich, bieten doch seit einigen Jahren auch und v. a. Fachhochschulen sowie private Hochschulen entsprechende Studiengänge an und sorgen so für erheblich größere entsprechende Absolventenzahlen. Ein insgesamt größeres Wissen etwa um Hintergründe der Testkonstruktion, wichtige Anforderungen wie Gütekriterien oder Zusammenhänge der Selektionsdiagnostik

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auf HR-Seite sorgt wiederum dafür, dass entsprechende Lösungen auch verstärkt nachgefragt werden. • Sinkende Bedeutung vergangenheitsorientierter Bewerbermerkmale. Da in vielen Berufsbildern heute nicht mehr verlässlich prognostiziert werden kann, welche Tätigkeiten diese morgen umfassen werden und infolgedessen, welche erlernten Fähigkeiten Mitarbeiter dafür mitbringen müssen, sinkt auch die Bedeutung der vergangenheitsorientierten Bewerbermerkmale, also fachlicher Skills und biografischer Entwicklungsschritte. • Gleichzeitig (deutlich) gestiegene und weiter steigende Bedeutung zukunftsgerichteter Bewerbermerkmale. Hier stechen zwei Dinge besonders hervor: Einerseits das Bewerberpotenzial, also die Fähigkeit, Dinge können zu können bzw. die Fähigkeit eines Mitarbeiters, zukünftige Probleme lösen zu können, die heute noch nicht bekannt sind. Andererseits die Passung des Mitarbeiters zum Unternehmen, womit v. a. eine gewisse Übereinstimmung in weichen Werten wie Persönlichkeit und unternehmenskulturellen Vorstellungen zwischen Unternehmen und Unternehmensanforderungen und Mitarbeiter gemeint ist. Speziell zur Ausleuchtung von Potenzial-, Persönlichkeits- und Kulturmerkmalen kann die Eignungsdiagnostik viele hilfreiche Antworten liefern. • Digitalisierung. Zahlreiche Unternehmen betreiben gegenwärtig einen enormen Aufwand, ihre Prozesse und Abläufe zu digitalisieren. Diesem allgemeinen Trend können sich natürlich auch das Personalwesen im Allgemeinen und die Personalgewinnung im Speziellen nicht entziehen. Konkret auf Prozesse der Personalgewinnung bezogen bedeutet dies oft, dass Unternehmen versuchen, Schritt für Schritt durchgehend digitale Prozesse zu etablieren – von der Schaltung von Stellenanzeigen, der Bereitstellung digitaler Orientierungsinstrumente, der Online-Bewerbung und der Durchführung von Online-Tests bis hin zu webbasierten Videointerviews und digitaler Terminvereinbarung für abschließende Mensch-Mensch-Auswahlschritte wie Assessment-Center und Face-to-Face-Interviews. Es ist unschwer erkennbar, dass speziell Online-Assessments eine wichtige Grundlage für datengetriebenes Recruiting darstellen können, weil sie strukturierte Daten zur Unterscheidung guter (oder passender) und nicht guter (bzw. nicht passender) Bewerber liefern. Online-Assessments können daher auch einen ­ ­maßgeblichen Schritt in Richtung Robo-Recruiting, also der algorithmischen bzw. perspektivisch KI-unterstützten Personalauswahl darstellen. Digitalisierung ist aber kein rein unternehmensspezifisches Thema. S ­ elbstverständlich wollen und werden auch Jobinteressierte und Bewerber in zunehmendem Maß technische Hilfsmittel einsetzen, um den passenden Beruf, die passende Stelle und/ oder den passenden Arbeitgeber zu finden. Ähnlich wie man sich bei der Suche nach der passenden Reise, dem passenden Auto, der besten Reiseroute oder sogar der Arztwahl von digitalen Hilfsmitteln unterstützen oder sogar gänzlich leiten lässt, gilt auch für die Berufs- und Arbeitgeberwahl immer häufiger: Gibt es da nicht eine App

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für? Online-Assessments, speziell im Sinn von Self-Assessments und Matching-Tools, können solche Apps sein. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Wunsch, zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Tätigkeit zusammenzukommen, für beide Seiten – ­Arbeitgeber und Bewerber – gilt.

7.2 Der wichtige Zusammenhang von Selbst- und Fremdselektion – und was das mit Online-Assessment zu tun hat Personalauswahl hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Früher waren, ein wenig überzeichnet gesagt, Unternehmen in der Position, sich aus einer hinreichend großen Bewerberzahl diejenigen aussuchen zu können, die am besten zu der ausgeschriebenen Stelle passten. Sie haben ihren Personalbedarf angezeigt (etwa mithilfe einer Stellenanzeige), Kandidaten haben sich daraufhin beim Unternehmen beworben und die Unternehmen haben unter den Kandidaten eine Auswahl getroffen. Sowohl Quantität als auch Qualität der eingehenden Bewerbungen reichten aus, um aus Unternehmenssicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Diese Auswahlstrategie wird heute etwas salopp mit „post and pray“ (Stelle ausschreiben und beten, dass sich schon die Richtigen bewerben werden) bezeichnet. Diese reaktive Haltung reicht in den heutigen Arbeitsmärkten meist nicht mehr aus, weil sich oft in den eingehenden Bewerbungen nicht mehr genügend passende Kandidaten finden. Auswahl fängt früher an als mit dem Eingang der Bewerbung. Sie ist ein wechselseitiger Prozess, bei dem als erstes der potenzielle Kandidat eine Auswahlentscheidung trifft, nämlich ob er sich bewerben möchte und bei welchem Unternehmen. Erst nachgelagert kann die Auswahlentscheidung des Unternehmens folgen. Selektion ist somit deutlich mehr als die Auswahlinstrumente der Unternehmen (also etwa Auswahltests, Interviews oder Assessment-Center). Denn Kandidaten, die sich schon vor der Bewerbung gegen ein Unternehmen entscheiden, können naturgemäß gar nicht mehr von diesem ausgewählt werden. Ein gutes und v. a. langfristiges Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber kann nur zustande kommen, wenn auf beiden Seiten die richtige Auswahl getroffen wird, d. h., wenn die Selbstauswahl (die Auswahl des potenziellen Arbeitnehmers) und die Fremdauswahl (die Auswahl des potenziellen Arbeitgebers) gut gelingen. Die Qualität der getroffenen Auswahlentscheidung hängt insgesamt davon ab, dass sich die ­„richtigen“ Kandidaten in möglichst hoher Anzahl beim Unternehmen bewerben und dass das Unternehmen gute Auswahlinstrumente einsetzt, um diese dann auch treffsicher zu identifizieren. Die Tragweite der Selbstauswahl verdeutlicht folgendes Gedankenspiel: Wenn ein Unternehmen es schafft, dass sich nur passende Kandidaten bewerben, braucht dieses Unternehmen im eigentlichen Sinn keinen Auswahlprozess mehr, da sogar bei einer Zufallsauswahl immer ein passender Kandidat ausgewählt wird. Leider gilt dies auch im

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umgekehrten Fall: Wenn keiner der Kandidaten zu dem Unternehmen passt, kann auch kein noch so valides und reliables Recruiting-Instrument einen passenden Kandidaten auswählen. Dies bedeutet, dass das Recruiting leichter gelingt, wenn das Employer Branding und das Personalmarketing ihre Aufgaben gut erledigen – Selbst- und Fremdauswahl sind eng miteinander verknüpft. Dieser selektionsdiagnostische Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdauswahl ist wissenschaftlich dokumentiert und statistisch darstellbar (Taylor und Russell 1939). Ein anschauliches Zahlenbeispiel für die Wirkung der verschiedenen Hebel auf die Auswahlqualität findet sich bei Diercks und Kupka (2013). Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass Online-Assessments inzwischen sowohl im Bereich der Selbstselektion (durch Selbsttests und Matching-Tools) als auch bei der Fremdselektion (in Form von Online-Auswahltests bzw. Online-Assessments im engeren Sinn) eine wichtige Rolle spielen. Ott et al. (2017) schlagen daher auch durchaus berechtigt vor, den Begriff Online-Assessment als Oberbegriff zu nutzen, und definieren Self-Assessments als Unterkategorie dieses Oberbegriffs.

7.3 Self-Assessment: Online-Assessment zur Verbesserung der Selbstauswahl in Form von Selbsttests und MatchingTools Wir wenden uns daher zunächst einmal der Bewerberseite zu und schauen, welche Formen von Online-Assessment eingesetzt werden, um die Selbstselektion zu verbessern. Hier begegnen einem v. a. Selbsttests und Matching-Tools. Dieser Art Self-Assessments ist gemeinsam, dass sie im Prinzip wie Tests funktionieren nur mit dem besonderen Merkmal, dass das Testergebnis nur der Nutzer sieht, nicht das Unternehmen. Dann wiederum kommt es auch darauf an, was der Selbsttest bzw. das Matching-Tool inhaltlich abbilden und welche Zielgruppe damit adressiert werden soll. Hier gibt es verschiedene Richtungen, die sich ganz grob wie folgt clustern lassen:

7.3.1 (Unternehmens-)Kulturelle Passung oder auch „Cultural Fit“ „Passe ich zum Unternehmen, zu den Werten, der Unternehmenskultur (oder den -kulturen)?“ Diese Frage lässt sich beispielsweise durch Messverfahren wie den von CYQUEST entwickelten Kulturmatcher oder das von metaHR vertriebene Instrumente CF Evalueator beantworten. Der Kulturmatcher beispielsweise ist ein wissenschaftlich entwickeltes und validiertes Messverfahren, mit dessen Hilfe ein Nutzer (z. B. ein Besucher der Karrierewebseite eines Unternehmens) erstens seine persönliche Wunschkultur quantifizieren und zweitens diese dann mit der oder den im Unternehmen vorhandenen Unternehmenskultur(en) abgleichen kann. Die Feststellung der im Unternehmen vorhandenen Kultur oder Kulturen kann wiederum ebenfalls mithilfe

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des Kulturmatchers – in diesem Fall im Unternehmen durch Mitarbeiter der Firma – gemessen werden (Abb. 7.1). Der Kulturmatcher beschreibt Unternehmenskultur hierbei anhand individueller Ausprägungen auf insgesamt neun bipolaren Kulturdimensionen (etwa Autonomie vs. Hierarchie, Ich-Orientierung vs. Wir-Orientierung oder professionelle Distanz vs. familiäres Arbeitsumfeld). Unternehmen wie z. B. die Schweizerische Bundesbahnen SBB oder die zu innogy gehörenden Lechwerke bieten die Ermittlung des Cultural Fit über den Kulturmatcher als Bestandteil ihrer jeweiligen Karriere-Websites Interessenten als Orientierungshilfe an. Man kann sich der Frage nach der kulturellen Passung aber auch durch unternehmensindividuelle Cultural-Fit-Tools nähern, also nicht über ein Standardmessverfahren wie den Kulturmatcher. Beispiele hierfür wären etwa der Selbsttest der Allianz oder der METRO Principles Matcher, bei dem man über Situationsbeurteilungen herausfinden kann, ob und wie stark man die Guiding Principles des Unternehmens teilt.

7.3.2 Berufliche Orientierung Speziell bei Schülern, zuweilen aber auch bei senioreren Zielgruppen wie Studierenden, Absolventen und Young Professionals geht es oft um die Frage der beruflichen ­Orientierung: Studieren oder doch eine Ausbildung? Welcher Ausbildungsberuf passt zu mir? Passt das Traineeprogramm zu mir? Sollte ich ein Traineeprogramm absolvieren oder direkt einsteigen? Fragen wie diese stellen sich an verschiedenen Stellen der beruflichen Entwicklung. Auch hier werden häufig Selbsttests und Matching-Tools ­ ­eingesetzt.

Abb. 7.1   Kulturmatcher

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Ein paar Beispiele Einstieg, der Veranstalter von Messen, die sich an Schüler richten und dort über Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten informieren, bietet auf seiner Webseite einen auf dem sog. Holland-Modell beruhenden Berufs- bzw. Studieninteressentest an, mit dessen Hilfe Nutzer herausfinden können, welche (beruflichen) Interessen bei ihnen wie stark ausgeprägt sind und welche Ausbildungsberufe bzw. Studiengänge diese Interessen auch bedienen. Zudem kann man dann mit diesem Ergebnis überprüfen, welche Aussteller auf der Einstieg-Messe diese Berufe ausbilden bzw. diese Studiengänge anbieten. Man kann somit sehr zielgerichtet passende Aussteller auf der Messe ansteuern. Die speziell an Studierende und Hochschulabsolventen gerichtete Seite ZEIT Campus bietet im Rahmen des Angebots Berufsorientierung für Absolventen (BOA) einen berufsbezogenen Persönlichkeitstest, der zum einen Nutzern ein individuelles Persönlichkeitsprofil rückmeldet, zweitens jedoch zudem dazu dient, diesen Nutzern gezielt Stellen anzuzeigen, zu denen die individuelle Persönlichkeit gut passt. In diesen beiden Fällen werden wirkliche Tests im eignungsdiagnostischen Sinn eingesetzt, d. h. es liegen entsprechende Gütekriterien, Kennwerte und Normen vor. Demgegenüber hängen bei Matching-Tools die methodischen Anforderungen in aller Regel nicht so hoch. Hier geht es zumeist weniger um wirklich exakte Messungen, sondern darum, eine heuristische Entscheidungshilfe zu liefern. Damit das Ergebnis eines Matching-Tools allerdings hilfreich ist und den Nutzer nicht schlimmstenfalls sogar in eine falsche Richtung schickt, ist auch hier eine sorgfältige, v. a. dicht an den jeweiligen Anforderungen ausgerichtete Konstruktion wichtig. Es gibt inzwischen etliche Beispiele für solche Matching-Applikationen: So können beispielsweise bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) Schüler über den Ausbildungsmatcher herausfinden, wie gut sie zu den insgesamt elf angebotenen Ausbildungsberufen passen, die das Unternehmen anbietet (Abb. 7.2). Insgesamt muss man hierfür nur 25 sehr kurze Items bewerten (Daumen rauf oder runter). Diese Einschätzungen werden durch einen Algorithmus ausgewertet und zu einem Passungsscore zu den Ausbildungsberufen verdichtet. Das dauert insgesamt nur wenige Minuten, mutet sehr spielerisch an und ist auf allen Endgerätetypen (v. a. dem Smartphone) nutzbar. Das Matching-Tool wird auf Karrieremessen, Inhouse-Veranstaltungen, der Karrierewebseite sowie über verschiedene Social Media Kanäle eingesetzt und erreicht pro Monat rund 300 Ausbildungsinteressierte. Bei rund 150 jährlich zu besetzenden Stellen liegt die Vermutung nahe, dass ein Großteil derjenigen, die sich später bei der BVG bewerben, vorher vom Ausbildungsmatcher Gebrauch gemacht haben. Ähnliche Applikationen, die sich ebenfalls an Schüler richten, bieten z. B. auch der Bundesarbeitgeberverband der Chemischen Industrie, die Allianz oder die Postbank an. Bei Bertelsmann, PwC oder EDEKA findet man methodisch vergleichbare Matching-Tools, die sich an Studierende, Absolventen und Young Professionals richten und Orientierung über Direkteinstiegsmöglichkeiten und Traineeprogramme bieten.

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Abb. 7.2   Ausbildungsmatcher der Berliner Verkehrsbetriebe

7.3.3 Berufsorientierungsspiele Eine weitere, im doppelten Wortsinn, Spielart von Self-Assessments sind sog. Berufsorientierungsspiele (Recruiting Games). Hierbei handelt es sich nicht um Spiele, bei denen vermeintlich aus im Spiel gezeigtem Verhalten auf Eigenschaften oder Merkmale des Nutzers geschlossen wird, sondern es geht vielmehr darum, berufs- und unternehmenstypische Inhalte in einer Art Kurzpraktikum ausprobieren zu können. Es sollen Einblicke gegeben werden im Sinn eines „realistic job preview“, um so Fragen zu beantworten wie: „Ist das was für mich? Kann ich das? Will ich dahin? Sehe ich mich in der Rolle? usw. Wer dabei feststellt, dass die so erlebten Inhalte nichts für ihn sind, der wird sich nicht bewerben. Wer jedoch merkt, dass die gezeigten und ausprobierten Tätigkeiten interessant sind und man diese auch vermutlich ganz gut kann, der wird sich mit höherer Wahrscheinlichkeit bewerben. Beides wirkt sich positiv auf den Anteil letztlich passender Bewerber aus (sog. Grundquote) und verbessert die Qualität des Recruitings. Während Selbsttests und Matching-Tools im Prinzip schon ein Ergebnis liefern, geht es bei Recruiting Games v. a. um die Vermittlung eines Erlebnisses und die Anregung der Selbstreflexion. Auch für solche Recruiting Games finden sich zahlreiche Beispiele: Bei der DAK Gesundheit etwa kann man spielerisch die Berufsbilder Sozialversicherungsfachangestellte und Kaufleute im Gesundheitswesen ausprobieren, bei Lidl oder Peek & Cloppenburg den Kaufmann/die Kauffrau im Einzelhandel, bei Deloitte Steuerfachangestellte und ­Wirtschaftsprüfer oder bei RWE zahlreiche gewerblich-technische Berufe wie Anlagen-, Industrie-, Konstruktions- oder Zerspanungsmechaniker (vgl. Diercks und Onnebrink 2015).

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7.4 Online-Assessment: Webbasierte Auswahltests als Instrument der Bewerbervorauswahl Nachdem wir nun zunächst die Bewerberseite und den Einsatz von Online-Assessments zur Verbesserung der Selbstselektion beleuchtet haben, wenden wir uns nun der Unternehmensseite zu. Häufig ist es auch diese Einsatzform, an die zunächst gedacht wird, wenn von Online-Assessment die Rede ist: Auswahltests, die über das Internet durchgeführt werden und als Teil des Auswahlprozesses der Unternehmen der Bewerberselektion dienen. Man könnte also von Online-Assessments im engeren Sinn sprechen. Konradt und Sarges (2003) definieren Online-Assessments als internetgestützte Instrumente zur Beurteilung und Vorhersage beruflich relevanter Variablen zur Abschätzung der Eignung. Im Unterschied zu Self-Assessments sind solche Online-Tests in aller Regel nicht frei zugänglich, sondern Bewerber werden hierzu vom Unternehmen, bei dem sie sich beworben haben, eingeladen. Außerdem erhalten die Testteilnehmer hier zumeist im Gegensatz zu Self-Assessments und Matching-Tools keine oder nur sehr eingeschränkte Rückmeldung über das Testergebnis. Das Testergebnis dient in erster Linie dem Unternehmen zur Begründung oder zumindest Untermauerung seiner Auswahlentscheidung. Es handelt sich also um Instrumente der Fremdselektion. Online-Assessments im Sinn von Online-Auswahltests sind in aller Regel Zusammenstellungen verschiedener Testmodule. Diese Zusammenstellung leitet sich dabei aus einer Anforderungsanalyse ab, bei der genau geprüft wird, welche Bewerberzielgruppen mithilfe des Instruments beurteilt werden sollen und welche Bewerbermerkmale und Merkmalsausprägungen bei diesen wichtig sind. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die jeweilige Testzusammenstellung sich von Bewerberzielgruppe zu Bewerberzielgruppe unterscheidet. Genauso kann es vorkommen, dass zwar möglicherweise mehrere Bewerberzielgruppen gleiche Testinhalte bearbeiten müssen, dabei aber jeweils andere Bewertungsmaßstäbe und Vergleichsnormen gelten. Typische Online-Assessments sind zwischen 45 und 75 min lang und können über das Internet von jedem beliebigen Ort innerhalb eines vom Unternehmen festgelegten Zeitfensters (meist zwischen einer und vier Wochen) bearbeitet werden. Da es sich mittlerweile im Allgemeinen um Applikationen handelt, die in HTML5 realisiert sind, können diese im Prinzip von jedem internetfähigen Endgerät mit Browser bearbeitet werden. Aus eignungsdiagnostischen Gründen wird dabei aber i. d. R. von einer Bearbeitung am Smartphone abgeraten. Zum einen eignet sich die Testsituation nicht für einen mobilen Nutzungskontext (externe Störeinflüsse, gegebenenfalls instabile Internetverbindung), zum anderen hat die kleinere Darstellgröße von Smartphonedisplays einen moderierenden Effekt, d. h. die Bearbeitung ist allein hierdurch für die meisten Nutzer schwieriger, als wenn ein inhaltlich an sich gleicher Test an einem Desktop- oder Laptop-Rechner oder an einem Tablet bearbeitet wird. Innerhalb des vorgesehenen Zeitfensters kann der Kandidat das Online-Assessment zu jedem beliebigen Zeitpunkt absolvieren. Dabei

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ist es möglich, dass Online-Assessment zwischendurch zu unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen oder zu vollenden. Gerade diese Selbstbestimmtheit in Bezug auf Zeit, Ort und Umfeld sorgt für ein hohes Maß an Akzeptanz von Online-Assessments auf Kandidatenseite.

7.4.1 Was wird im Rahmen von Online-Tests gemessen? Zunächst einmal ist wichtig festzuhalten, dass Online-Assessments im Sinn von Auswahltests Instrumente der sog. Negativselektion sind, d. h. die primäre Zielsetzung ist hierbei nicht die Identifikation derjenigen Kandidaten, die eingestellt werden, sondern es geht zunächst darum, diejenigen Kandidaten zu identifizieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im weiteren Auswahlprozess keine Chance haben. Die Positivselektion erfolgt weiterhin in den nachgelagerten, in aller Regel durch Menschen durchgeführten Auswahlstufen. Auch wenn im Rahmen von Online-Assessments automatisierte Auswertungen durch Algorithmen vorgenommen werden, ist es normalerweise nicht so, dass das Online-Assessment selbst eine Auswahlentscheidung trifft. Ein solches Vorgehen wäre nicht nur aus Datenschutzgründen problematisch (automatisierte Einzelfallentscheidung), sondern auch aus diagnostischen und ethischen Gründen nicht ratsam. Vielmehr nutzen die meisten Unternehmen die Ergebnisse des Online-Tests als zusätzliche Beurteilungsperspektive. Eine Entscheidung, ob ein Kandidat im Auswahlprozess verbleibt, wird dann ganzheitlich auf Basis aller bis dahin über ihn vorliegenden Informationen – inklusive der ­Testergebnisse – getroffen. Der Schwerpunkt der im Rahmen von Online-Tests überprüften Merkmale liegt vornehmlich auf der sog. (berufsbezogenen) kognitiven Leistungsfähigkeit. Diese wiederum lässt sich unterteilen in zahlengebundene, sprachgebundene, figural-bildhafte (und räumliche) Inhaltsfacetten und kapazitäre Dimensionen wie Konzentrationsfähigkeit oder Bearbeitungsgeschwindigkeit (Abb. 7.3). Dass der Fokus oft auf der Messung dieser umgangssprachlich als Intelligenz bezeichneten Merkmale liegt, ist sinnvoll, da diese – wie man aus zahlreichen Metaanalysen weiß (z. B. Schmidt und Hunter 1998 oder Schmidt et al. 2016) – den für sich genommen größten Vorhersagebeitrag für Berufserfolg liefern. Neben kognitiver Leistungsfähigkeit werden im Rahmen von Online-Assessments häufig auch ausgewählte Wissensaspekte überprüft – Mathematikkenntnisse, (mechanisch-)technisches Verständnis, Rechtschreibung und Grammatik, Englischkenntnisse oder fachspezifisches Wissen etwa aus den Bereichen Biologie, Physik oder Chemie. Hierbei wird allerdings darauf geachtet, dass es sich nicht um simple Wissensabfragen handelt, die mithilfe des Internets einfach zu beantworten wären. Die Teilnehmer sitzen ja beim Online-Assessment per Definition vor dem Internet und da tatsäch­ lich ­vorhandenes Wissen überprüft werden soll und nicht die Fähigkeit zu googeln, sind diese Wissenstests so konstruiert, dass man die Frage nicht einfach mithilfe einer ­Suchmaschine beantworten kann.

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Abb. 7.3   Allianz Online Campus – Testitem

Sowohl bei Wissenstests als auch bei kognitiven Messverfahren handelt es sich um Leistungstests. Hierbei spielt die Bearbeitungszeit eine wichtige Rolle, d. h. diese Tests haben ein definiertes Zeitlimit und diese Tests haben auch einen Besser-schlechter-Charakter, d. h. man kann darin unterschiedlich gut abschneiden. Demgegenüber stehen Tests zur Messung anderer Bewerbermerkmale, bei denen es diesen Besser-schlechter-Charakter per se nicht gibt. Hierzu zählen etwa berufsbezogene Persönlichkeitstests, Tests zur Messung von beruflichen Interessen oder Messverfahren zur Überprüfung unternehmenskultureller Passung (Cultural Fit). Bei diesen Konstrukten kann man nicht besser oder schlechter abschneiden, sondern allenfalls bei dem jeweiligen Unternehmen besser oder schlechter passen.

7.4.2 Nutzen von Online-Assessments – auf Unternehmens- und auf Kandidatenseite 7.4.2.1 Verbesserung der Auswahlqualität Das Hauptargument für den Einsatz von Online-Assessments ist die Verbesserung der ­Auswahlqualität. Unternehmen können im Rahmen der Personalauswahl im Prinzip zwei

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Arten von Fehlern begehen: Ungeeignete oder unpassende Kandidaten einstellen („false positives“) und geeignete bzw. passende Bewerber nicht einstellen („false negatives“). Durch den Einsatz von Online-Tests zu einem in aller Regel sehr frühen Zeitpunkt im Auswahlverfahren erlangt das Unternehmen von einem großen Teil der Bewerber eine zusätzliche Beurteilungsperspektive, die deutlich über die anderen im Rahmen einer Bewerbung übermittelten Informationen (Lebenslauf, Anschreiben, Zeugnisse) hinausgeht. Zudem sind die Befunde aus der Online-Testung über die Bewerber hinweg vergleichbar, weil im ­Prinzip alle mit dem gleichen Instrument gemessen wurden. Die Schwierigkeit der Vergleichbarkeit etwa von Schulnoten kennen Online-Assessments nicht. Diese beabsichtigte Verbesserung der Auswahlqualität ist inzwischen empirisch sehr umfangreich belegt. Kupka et al. (2010) berichten etwa von einer Evaluationsstudie in einem multinationalen Handelskonzern. Hier wurde vor der Einführung eines Online-Assessments zur Bestimmung der kognitiven Leistungsfähigkeit überprüft, inwieweit dieses gegebenenfalls geeignete Berufseinstiegskandidaten eines bestehenden, erfolgreichen Auswahlprozesses fälschlicherweise ablehnen würde. Das Online-Assessment durchliefen insgesamt 220 Personen unter realen Auswahlbedingungen. Für diese Personen wurde gemäß des Anforderungsprofils eine Einstufung gespeichert, ob sie das Online-Assessment bestanden hatten oder nicht. Diese Einschätzung wurde weder den Personalverantwortlichen noch den Kandidaten mitgeteilt und nicht im weiteren Auswahlprozess berücksichtigt. Von den 220 Teilnehmern durchliefen acht Personen den gesamten Auswahlprozess (biografisches Screening, Interview und Assessment Center) erfolgreich und erhielten am Ende Arbeitsverträge. Das Ergebnis war, dass alle acht erfolgreichen Kandidaten auch im Online-Test erfolgreich waren. Es zeigten sich somit keine fälschlicherweise abgelehnten Kandidaten. In einer weiteren Studie in der Bankenbranche (1. Halbjahr 2007) wurde überprüft, inwieweit sich durch die zusätzliche Einführung eines Online-Assessments die Quote der Azubi-Bewerber, denen nach dem abschließenden Auswahltag ein Arbeitsvertrag vorgelegt wurde, verändert hatte. Von den 700 Teilnehmern des Online-Tests wurde etwa ein Viertel zum Auswahltag eingeladen. Dabei zeigte sich, dass durch Einführung des Auswahltests die Quote von ursprünglich etwa zwei angebotenen Ausbildungsverträgen (bei durchschnittlich zehn teilnehmenden Kandidaten) auf etwa vier pro ­Auswahltag anstieg. Dies stellt einen erheblichen Anstieg der Erfolgsquote aufgrund der Einführung zusätzlicher (Online-)Tests dar. Laumer et al. (2009) kamen bei der ­Analyse eines Online-Assessments für Berufseinsteiger (Hochschulabsolventen) bei einem ­Medienkonzern zu einem ähnlichen Fazit: „The case study […] shows that companies can ­generate more qualified applications and concurrently save time and money“.

7.4.2.2 Kosteneinsparungen und kürzere Dauer der Bewerbungsprozesse Speziell letztgenanntes Zitat deutet auf zwei weitere wesentliche Nutzen von Online-Assessments aus Unternehmenssicht hin: Kosten- und Zeiteinsparungen im Recruiting-Prozess.

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Bei der Analyse des Online-Assessments zur Vorauswahl von Auszubildenden, Dualstudierenden und Trainees in einem großen Einzelhandelskonzern wurde nachgewiesen, dass die Einführung dieses Instruments bereits im ersten Jahr des Betriebs zu Kosteneinsparungen im Recruiting von 38 % geführt hat (vgl. Adler 2015). Ab Jahr zwei lagen die jährlichen Kosten um erstaunliche 62 % unter dem Wert vor Einführung des Tests. Die wesentlichen Treiber dieser Ersparnis waren der deutlich niedrigere erforderliche Umfang an zu führenden (Telefon-)Interviews sowie eine drastische Reduktion an ­Reisekosten – zum einen, weil keine Tests mehr vor Ort durchgeführt wurden und zum anderen, weil durch die bessere Vorauswahl erheblich weniger Kandidaten zu den finalen Auswahlrunden eingeladen werden mussten. In einer Untersuchung des Online-Tests zur Azubi-Vorauswahl bei einem großen Filialisten aus dem Bereich Augenoptik zeigte sich, dass sich die Gesamtdauer des Recruiting-Prozesses vom Eingang einer Bewerbung bis zum unterschriebenen Ausbildungsvertrag durch das Online-Assessment von knapp 90 auf rund 68 Tage, und damit um etwa 24 %, verkürzen ließ.

7.4.2.3 Komfort für Bewerber und Akzeptanz Doch Online-Assessments führen nicht nur zu betriebswirtschaftlich relevanten Vorteilen auf Unternehmensseite. Auch Bewerber honorieren einerseits die Komfortmerkmale von Online-Tests (Durchführung von einem beliebigen Ort zu einem selbst gewählten Zeitpunkt, kein Reiseaufwand, keine Terminkoordination etc.) und andererseits die explizite Fairness des Auswahlinstruments. Kandidaten beispielsweise, die früher etwa oft aufgrund von schlechten Schulnoten sofort aussortiert worden wären, erhalten durch das Online-Assessment nun eine Chance, sich im Auswahlprozess zu zeigen und zu bewähren. Wenn also z. B. die Fünf in Mathematik im Einzelfall andere Gründe hatte als tatsächlich schwache zahlengebundene Denkfähigkeit (z. B. familiäre Probleme, schlechte Chemie mit dem Mathe-Lehrer oder ähnliches), dann startet ein solcher Bewerber im Online-Assessment mit den gleichen Chancen in den Test wie ein Kandidat mit einer Zwei in Mathematik. Dass Online-Assessments aus Sicht der Bewerber eine erheblich niedrigere Barriere darstellen als Tests vor Ort, zeigte sich in einer Analyse bei dem bereits oben angeführten Augenoptikfilialisten: Während die No-Show-Rate beim früher vor Ort durchgeführten Pen-and-Paper-Test bei über 50 % lag, betrug sie beim Online-Test gute 30 Prozentpunkte weniger – ein deutliches Indiz für eine hohe Bewerberakzeptanz (vgl. Kupka 2014). Aus Unternehmenssicht bedeutet dies nicht nur positive Abstrahlungseffekte auf die Arbeitgebermarke, sondern auch sehr handfest, dass erheblich mehr Kandidaten an dieser Stelle im Prozess verbleiben, aus denen das Unternehmen ­ ­überhaupt auswählen kann.

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7.4.3 Online-Assessment im Recrutainment-Format Immer häufiger begegnen einem Online-Assessments, die nicht als trockene Aneinanderreihung von Testmodulen daherkommen, sondern im Gegenteil sehr unternehmensindividuell gestaltet sind und neben den eigentlichen Testinhalten auch umfangreiche Personalmarketingbotschaften über das Unternehmen umfassen. Das Online-Assessment wird dabei, wenn man so will, zu einem gegenseitigen Kennenlerntermin. Das Unternehmen lernt den Kandidaten besser kennen, indem dieser verschiedene Testverfahren durchläuft und der Kandidat lernt dabei en passant auch das Unternehmen als Arbeitgeber kennen. Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die diesen Recrutainment-Gedanken in ihren Online-Assessments z. T. sehr weit getrieben haben (vgl. Diercks und Kupka 2014). So sind die Testmodule etwa bei der TARGOBANK Tour, mit der das Unternehmen Auszubildende und Dualstudierende auswählt, in eine Rahmenhandlung eingebunden, in deren Verlauf die Teilnehmer verschiedene Standorte, Tätigkeiten und Mitarbeiter kennenlernen. Ähnlich geht die Allianz mit dem Online Allianz Campus vor. Hier umfasst das Online-Assessment zudem auch noch verschiedene kleine Infogames, mit denen sich der Nutzer Informationen über das Unternehmen erspielen kann (Abb. 7.4).

Abb. 7.4   Collage aus verschiedenen Online-Assessments

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Wieder andere Unternehmen binden im Online-Assessment Arbeitgebervideos ein und nutzen so die Gelegenheit, den Testkandidaten während des Online-Assessments einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren. Natürlich muss man dieses Recrutainment nicht so weit treiben wie in den genannten Fällen. Oft handelt es sich bei den enthaltenen Personalmarketingbotschaften um Inhalte, die sich aus bestehenden und bereits vorliegenden Inhalten speisen, also etwa von der Karrierewebseite oder aus vorhandenen Broschüren, und damit ohne großen Extraaufwand verfügbar sind. Aber der grundsätzliche Gedanke, dass auch das Online-Assessment ein wichtiger Berührungspunkt mit den Bewerbern ist und diese Gelegenheit genutzt werden sollte, sich auch als Unternehmen vorzustellen, wird darüber genauso transportiert. Etliche Beispiele größerer aber auch und v. a. mittelständischer Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen belegen diesen Trend (z. B. Airbus, Bearing Point, Brillux, Covestro, Douglas, Harting, Hensoldt, LBS, Tennet usw.). Wichtig ist jedoch, diese Form des Recrutainments nicht fehlzuinterpretieren. Dass hierbei informative, simulative und z. T. unterhaltsame und spielerische Elemente in das Online-Assessment integriert werden, bedeutet nicht, dass es sich dabei um ein Spiel handelt. Die enthaltenen eignungsdiagnostischen Messverfahren sind und bleiben Tests, für die die hohen, in der DIN 33430 formulierten Anforderungen gelten: Neben nachweisbarer Testgüte (in Bezug auf die Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität), theoretischer Fundierung sowie hinterlegten zielgruppenspezifischen und aktuellen Normen sind dies auch Verfahrensakzeptanz (Angemessenheit) und vorhandener Anforderungsbezug. Dass diese eignungsdiagnostischen Verfahren dabei in eine unternehmensindividuelle äußere Erscheinung gebracht werden und von unternehmensspezifischen Informationen umrahmt werden, ändert nichts an der Tatsache, dass die Tests an sich keine Spiele sind.

7.4.3.1 Online-Assessments sind Tests, keine Spiele Es gibt mittlerweile verschiedene Anbieter auf dem Markt, die eine Form von Assessment propagieren, bei denen allerdings sehr wohl Spiele an sich die Tests sein sollen bzw. bei denen aus dem in diesen Spielen gezeigten Verhalten auf Bewerbermerkmale geschlossen wird. Beispielsweise bietet die US-amerikanische Firma Pymetrics Inc. Testverfahren im Format eines Spiels an. Beispielsweise sollen hierbei virtuelle Ballons aufgepumpt werden, für die je nach Größe des Ballons ein Geldbetrag eingesammelt werden kann, den es zu maximieren gilt. Doch werden die Ballons zu sehr aufgepumpt, können sie platzen. Damit soll dann Risikoneigung gemessen werden. Für den Auswahlprozess durchlaufen Kandidaten mehrere solcher verhaltensbasierten Spiele, die deren kognitiven und persönlichkeitsbezogenen Merkmale messen. Auch die Knack.it Corporation bietet Spiele an, die für verschiedene Zwecke, wie beispielsweise Personalauswahl, Recruiting oder Teambuilding eingesetzt werden können. Diese können über eine App kostenlos heruntergeladen und gespielt werden. Werden die Spiele als Test im Rahmen von Personalauswahlverfahren von Bewerbern verwendet, kann über einen Code das Spielergebnis den Recruitern als Information veröffentlicht werden. Über die Spiele sollen Eigenschaften wie Beharrlichkeit, Problemlösefähigkeit oder soziale Intelligenz

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gemessen werden. Die Spiele beinhalten das Bekämpfen von Feuermonstern mit Wasserbomben oder das Servieren passender Gerichte je nach emotionaler Stimmung der Gäste in einem virtuellen Restaurant. Zu den erforderlichen Hauptgütekriterien finden sich bei diesen Anbietern vergleichsweise wenig Informationen, aber es ist zu hoffen, dass es hierzu Informationen gibt und dabei zumindest nicht ausgeschlossen wird, dass diese Verfahren auch zu akzeptablen Reliabilitäten und Validitäten kommen. Fragwürdig ist allerdings, ob ein Spiel überhaupt in der Lage sein kann, im Arbeitskontext relevantes Verhalten zu erfassen. Das Verhalten einer Person in einem spielerischen Kontext kann sehr inkonsistent sein, gerade aufgrund seiner Beschaffenheit als Spiel im Gegensatz zum Beruf, und von diesem beruflichen Verhalten abweichen, da sich hier ganz andere Anforderungen stellen. Hier ist ein eindeutiger Anforderungsbezug als Kriterium ausschlaggebend, der von Ott et al. (2017, S. 235) ebenso gefordert wird wie hohe Objektivität, Reliabilität und Validität. Da im beruflichen Kontext das Spielen als Teil der Stellenbeschreibung in nur sehr wenigen speziellen Branchen auffindbar ist, bleibt dieses Kriterium unerfüllt. Auch wenn dahinter postulierte Konstrukte, wie die Risikoneigung beim Aufpumpen von Luftballons, für bestimmte Berufe relevant sind, ist die Übertragung der erfassten Eigenschaften auf das berufliche Verhalten kritisch zu hinterfragen. Schließlich geht das Platzen lassen von Ballons in einem Spiel mit keinerlei Konsequenzen für den User einher. Auch die Akzeptanz von Testspielen seitens der User ist insofern fragwürdig, weil sich die Frage stellt, ob Kandidaten im Hinblick auf eine Auswahlentscheidung des Unternehmens tatsächlich ein Spiel zur Beurteilung ihrer Eignung vorziehen und sich fair behandelt und ernst genommen fühlen. Bei Spielen dürfte stark zweifelhaft sein, dass die Testkandidaten verstehen, was denn die zu bearbeitenden Aufgaben mit dem Beruf zu tun haben, für den sie sich bewerben und für den die Tests als Auswahlinstrument dienen. Diese Sicht wird durch verschiedene Untersuchungen unterstützt, sowohl was die Unternehmens- als auch die Bewerberseite betrifft. So ergab eine Online-Umfrage des Testanbieters SHL unter mehr als 3000 HR-Experten im November 2017, dass eine große Mehrheit von 70 % Computerspiele nicht als Assessment-Technik einsetzt oder dies beabsichtigt (vgl. SHL 2017). Die Studie Azubi-Recruiting Trends 2018 der Firma u-Form Testsysteme zeigte basierend auf der Befragung von mehr als 4000 Auszubildenden und Ausbildungsplatzbewerbern auf, dass sich nur 7,64 % Assessments als Videospiel wünschen. Demgegenüber ist es mit 50,33 % mehr als der Hälfte dieser Zielgruppe wichtig, dass Auswahltests zusätzlich zu ihrer Testfunktion Wissen über den Ausbildungsbetrieb vermitteln – ein Beleg für die hohe Akzeptanz des oben beschriebenen Recrutainment-Ansatzes bei Online-Assessments (vgl. u-Form 2018).

7.4.3.2 Für welche Zielgruppen werden Online-Assessments eingesetzt? Und ist das nur etwas für große Unternehmen? Die gegenwärtig größte Marktrelevanz haben Online-Tests als Bestandteil der Auswahlprozesse für Ausbildungsplatzbewerber, Bewerber für duale Studiengänge, ­Praktikanten- und Traineeprogramme und Direkteinstiege für Hochschulabsolventen und

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Young Professionals. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass in diesen Zielgruppen zumeist größere Bewerbungsvolumen zu bewegen sind und Online-Assessments daher sehr schnell ihre ökonomischen Vorteile entfalten können. Zudem sind diese Bewerberzielgruppen in sich oft noch vergleichsweise homogen, d. h. es konnten sich noch keine distinkten Erwerbsbiografien bilden, anhand derer passende und unpassende Kandidaten trennscharf unterschieden werden könnten. Die diagnostischen Messungen liefern also einen vergleichsweise hohen Aufklärungsbeitrag in Bezug auf die Bewerber. Drittens stoßen eignungsdiagnostische Testverfahren in senioreren Zielgruppen immer noch auf größere Akzeptanzvorbehalte als in jüngeren, speziell im deutschsprachigen Raum. Gleichwohl mehren sich die Anzeichen, dass Online-Messverfahren auch sukzessive bei älteren Zielgruppen und höheren Hierarchieleveln Einzug halten. Während der Einsatz von Online-Tests über die letzten Jahre v. a. großen bis sehr großen Unternehmen vorbehalten war, steigt momentan die Nachfrage speziell bei kleinen und mittleren Unternehmen stark an. Infolgedessen gibt es inzwischen verschiedene marktgängige Online-Assessments, die sich speziell für kleine Unternehmen bzw. für Auswahlprozesse mit kleinen Bewerberfallzahlen eignen. Diese weisen zwar nicht den gleichen Grad an individueller Gestaltung und Testzusammenstellung auf wie die weiter oben beschriebenen Applikationen, sind dafür aber sehr schnell einsatzbereit und mit sehr wenig Set-up-Aufwand und -Kosten verbunden. Ein Beispiel etwa wäre das von CYQUEST entwickelte Out-of-the-Box-Online-Assessment QualiMatcher.

7.5 Von Online-Assessment zu Recruiting Analytics, Data Driven Recruiting und People Analytics In zunehmender Intensität wird in der Personalgewinnung über den Einsatz von Algorithmen und künstlicher Intelligenz diskutiert. Man ringt mit der Frage, ob Maschinen möglicherweise irgendwann in der Lage sein werden, die Identifikation und das Recruiting geeigneter Kandidaten vorzunehmen. Der Boulevard spricht daher auch von Robo-Recruiting (vgl. Diercks 2018a). Nun, diese Frage hier umfangreicher zu behandeln würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, aber es dürfte eines sehr klar sein: Jede Form der algorithmischen Unterstützung des Recruitings setzt zwingend voraus, dass eine fundierte Kenntnis darüber vorliegt, worin sich geeignete und passende Bewerber bzw. Mitarbeiter eigentlich von nicht geeigneten oder unpassenden unterscheiden. Jeder Algorithmus, jedes maschinell lernende System, jede künstliche Intelligenz braucht Daten, auf denen es aufbauen bzw. aus denen es lernen kann. Die Vorstellung, dass diese Systeme quasi aus dem Nichts heraus in der Lage wären, Zusammenhänge zu erkennen, zu bewerten und anzuwenden, ist nicht nur technisch falsch und inhaltlich naiv, sie kann auch gefährlich werden und zu gänzlich unerwünschten Resultaten führen. Und damit sind nicht nur falsche Auswahlentscheidungen der Unternehmen oder etwaige schwierige ethische Fragen gemeint. Der Einsatz methodisch unsauberer und nicht nachweisbar erforderlicher (im Sinn des § 26

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BDSG-neu) Auswahlinstrumente kann auch zu großen juristischen Problemen und hohen Bußgeldern unter der EU-DSGVO führen (vgl. Nina Diercks 2018b). Vor dem Einsatz automatisierter Formen des Recruitings muss also immer erst einmal die Gewinnung und das Verständnis von Daten, deren Aussagegehalt und deren korrelativen, v. a. aber kausalen Zusammenhänge stehen. Neben den oben genannten Vorteilen besteht ein ganz gewichtiges Argument für Online-Assessments daher darin, dass diese sehr interessante Einblicke und Daten liefern, die weit über herkömmliche Zielgruppenbeschreibungen hinausgehen. Ein paar Beispiele Im Rahmen eines Online-Assessments für eine große Parfümeriekette wurde beispielsweise durch das Online-Assessment belegt, dass erfolgreiche Parfümeriefachverkäufer und -verkäuferinnen über ein erheblich höheres Maß an Einfühlungsvermögen und Kontaktfähigkeit verfügen als nicht erfolgreiche. Das ist zwar auch ein vermuteter Zusammenhang, aber es hat eine ganz andere Qualität, wenn dieser auch empirisch bewiesen ist. Diese Erkenntnis kann dann etwa in die gezielte Suche nach eben solchen Kandidaten mit hohem Einfühlungsvermögen und in die Gestaltung und Aussteuerung der entsprechenden Personalmarketingaktivitäten einfließen. Bei der Analyse von mehr als einer halben Million Nutzer eines Studieninteressentests wurde etwa aufgezeigt, dass das technische Interesse von Studieninteressierten in Deutschland im Zeitraum von 2014 bis 2017 angestiegen ist. Gleichwohl ist es im Vergleich etwa zu künstlerisch-kreativen, sozialen oder wirtschaftlichen Interessen immer noch das am niedrigsten ausgeprägte Interesse. Die empirisch belegte Kenntnis der beruflichen oder Studieninteressen eines Bewerbers kann von erheblichem Nutzen in der Personalgewinnung sein, etwa um letztlich wirklich passende Mitarbeiter einzustellen. In einem anderen Fall wurde festgestellt, dass Bewerberinnen für einen Ausbildungs- bzw. dualen Studienplatz in dem eingesetzten Online-Test im Schnitt signifikant schwächer abschnitten als Bewerber. Dies lag jedoch nicht daran, dass Frauen in den eingesetzten Testmodulen allgemein schwächer abschneiden als Männer, denn dieser Geschlechterunterschied trat nur bei diesem Unternehmen auf. Vielmehr deuteten die Daten daraufhin, dass die Bewerberansprache und das Employer Branding des Unternehmens sich insgesamt stärker an Männer richtete. Unbewusst und unbeabsichtigt führte dies dazu, dass sich von den Leistungsstarken v. a. die Männer zu diesem Unternehmen hingezogen fühlten, während die leistungsstarken Frauen zu anderen Unternehmen strebten. Dieser – datengestützte – Befund führte im Nachgang dazu, dass die Arbeitgeberpositionierung überarbeitet wurde, um diesen ungewollten Genderbias in der Personalgewinnung zu beseitigen. Ob dies gelingt, wird man dann auch wiederum an den Daten ablesen können. Wie man erkennt, steckt in den Daten, die mithilfe von Online-Assessments im Auswahlprozess generiert werden, unheimlich viel wertvolle Information. Insofern kann die Eignungsdiagnostik, können Online-Assessments ein wertvoller Schritt in Richtung datengetriebenen Recruitings und nachgelagert sinnvoller People Analytics sein.

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I­nsbesondere dort, wo lernende Algorithmen um bewiesene Zusammenhänge herum aufgebaut werden (wie etwas das Beispiel Parfümeriefachverkäufer oben zeigt), können Algorithmen zu einer neuen Qualität in Personalmarketing, Sourcing, Recruiting und Personalentwicklung führen. Versucht man hingegen das Pferd vom falschen Ende ­aufzuzäumen und lässt die Maschinen erstmal machen – in der naiven Hoffnung, dass sie sinnvolle Zusammenhänge finden (und anwenden), wo es Menschen vorher nicht möglich war – läuft die Personalgewinnung Gefahr, sich Algorithmen auszuliefern, die mindestens genauso anfällig für „unconsciuos bias“ sind wie menschliche Recruiter. Mit dem Unterschied, dass die Aufdeckung dieser Fehler ungleich schwerer fällt, weil diese sich sehr gut in komplexer Mathematik verstecken können. Dass ein so datengetriebenes Unternehmen wie Amazon den Einsatz eines Recruiting-Algorithmus beenden musste (O’Neil 2018), weil man es diesem partout nicht ausgetrieben bekam, Bewerberinnen systematisch zu benachteiligen, sollte uns allen eine deutliche Warnung sein.

Literatur Adler, L. (2015). Online-Assessment – „Mal Butter bei die Fische!“ Was bringt das an Einsparungen? https://blog.recrutainment.de/2015/08/13/online-assessment-mal-butter-bei-die-fische-was-bringt-das-an-einsparungen/. Zugegriffen: 30. Okt. 2018. Cut-e. (2016). Online Assessment Barometer. Hamburg: Cut-e Group. Diercks, J., Jägeler, T., & Kupka, K. (2007). Das internetbasierte Self-Assessment-Verfahren „Die Karrierejagd durchs Netz“. In von J. Erpenbeck & L. Rosenstiel (Hrsg.), Handbuch ­Kompetenzmessung (S. 685–706). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Diercks, J. (2018a). Recruiting 2030: Über Bots und Algorithmen zu einer „neuen Menschlichkeit“? In H. Fortmann & B. Kolocek (Hrsg.), Arbeitswelt der Zukunft – Trends, Arbeitsraum, Menschen, Kompetenzen. Wiesbaden: Springer Gabler. Diercks, N. (2018b). Unter Beachtung von DSGVO und BDSG – Recruiting und Personalauswahl. Arbeit und Arbeitsrecht 12/2018. Berlin: Huss. Diercks, J., & Kupka, K. (2013). Webbasierte Assessmentverfahren zur Verbesserung von Selbstund Fremdauswahl. In C. Athanas & N. Graf (Hrsg.), Innovative Talentstrategien. München: Haufe Lexware. Diercks, J., & Kupka, K. (2014). Recrutainment – Bedeutung, Einflussfaktoren und Begriffsbestimmung. In J. Diercks & K. Kupka (Hrsg.), Recrutainment. Spielerische Ansätze in Personalmarketing und –auswahl. Wiesbaden: Springer Gabler. Diercks, J., & Onnebrink, A. (2015). Der RWE-Ausbildungsnavigator – eine innovative Karrierewebsite für Schüler. In T. Brüggemann & E. Deuer (Hrsg.), Berufsorientierung aus Unternehmenssicht. Fachkräfterekrutierung am Übergang Schule – Beruf (S. 265–270). Bielefeld: wbv. Konradt, U., & Sarges, W. (2003). E-Recruitment und E-Assessment. Göttingen: Hogrefe. Kupka, K., Diercks, J., & Kopping, N. (2004). Webbasierte Personalauswahl durch E-Assessment bei Unilever Deutschland. Wirtschaftspsychologie aktuell, 2004(Q3). Kupka, K., Müller, V., & Diercks, J. (2010). Kombination von E-Assessment mit Web 2.0 Personalmarketing bei Media-Saturn. zeitschrift für e-learning, 2010(1). Kupka, K. (2014). Online-Assessments im Recrutainment-Format. Wie gefällt das eigentlich den Bewerbern in der echten Auswahlsituation? In J. Diercks & K. Kupka (Hrsg.), Recrutainment. Spielerische Ansätze in Personalmarketing und –auswahl. Wiesbaden: Springer Gabler.

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Joachim Diercks  ist Geschäftsführer der CYQUEST GmbH mit Sitz in Hamburg. Dem Studium der Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Marketing, Internationales Management, Personal und Wirtschaftsenglisch an den Universitäten Hamburg und Berkeley folgte 1998 der Berufseinstieg als Marketing Analyst für Bertelsmann in London. Anfang 2000 gründete er CYQUEST. CYQUEST ist unter dem Oberbegriff Recrutainment spezialisiert auf die unternehmensund hochschulspezifische Erstellung von Lösungen aus den Bereichen Eignungsdiagnostik (Online-Assessment) sowie Berufsund Studienorientierung. Diercks ist Gastdozent an verschiedenen Hochschulen (u. a. HS Fresenius, SRH, Quadriga), Herausgeber des Buchs Recrutainment (2014), Autor einer Reihe von Fachbeiträgen zu verschiedenen eRecruiting- und Employer-Branding-Themen sowie regelmäßiger Referent bei HR-Fachkongressen. Mit dem Recrutainment Blog zeichnet er für einen der meistgelesenen deutschsprachigen HR-Blogs verantwortlich.

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Wenn Bots übernehmen – Chatbots im Recruiting Luc Dudler

Inhaltsverzeichnis 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 8.2 Wo leben Recruiting-Chatbots und wie arbeiten sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 8.3 Die größten Vorteile von Chatbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 8.3.1 Verbesserte Candidate Experience. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 8.3.2 Vorurteile im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 8.3.3 Vorteile für Employer Branding und das gesamte Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . 108 8.4 Ein Ausblick in die Zukunft von Chatbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 8.4.1 Voice. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 8.4.2 Künstliche Intelligenz im Screening. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 8.4.3 Chat Interfaces für Recruiter und Hiring Manager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 8.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Zusammenfassung

Durch die Nutzung von Chatbots können Arbeitgeber bei der Suche nach den richtigen Kandidaten nur profitieren. Im Folgenden wird erläutert, wie sowohl die Candidate Experience, das Recruiting als auch die Employer Brand von einem sinnvollen Einsatz von Chatbots profitieren können. Daneben wird ein Blick in die Zukunft geworfen und geschaut, welche Entwicklungen den Chatbot-Markt in den kommenden Jahren weiter verändern werden.

L. Dudler (*)  Jobpal Ltd., Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_8

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8.1 Einleitung Im Jahr 2006 setzt die U.S. Army einen Sprachroboter namens Sergeant Star ein, der automatisch Fragen von Bewerbern beantwortet. Dieser hat mittlerweile Millionen von Konversationen geführt und interagiert täglich mit etwa 1500 Kandidaten. Sergeant Star ist somit die erste Variante eines Recruiting-Chatbots, in diesem Fall maßgeschneidert für die Army. Die Idee, Prozessschritte in der Rekrutierung und Personalgewinnung zu automatisieren, ist also nicht neu. Seit 2006 hat sich diese unmittelbare Kommunikationsform via Chatbots getrieben durch technische Innovationen im Markt durchgesetzt und hat sich sogar zu einem eigenen Geschäftsmodell entwickelt. Diese Entwicklung wurde v. a. durch die steigende Rechenleistung von Computern, die kontinuierliche Verbesserung der Sprachintelligenz und die Entstehung von Messaging-Plattformen wie WhatsApp, Facebook Messenger, WeChat oder Line in Asien, mit denen man Milliarden von Menschen direkt auf ihren Smartphones erreicht, genährt (Statista 2018). Technologisch ist es nun möglich, Prozesse im Rahmen der Personalgewinnung über dialogorientierte Schnittstellen – die intuitivsten und gefragtesten Interfaces unserer Zeit – zu automatisieren.

8.2 Wo leben Recruiting-Chatbots und wie arbeiten sie? Chatbots leben dort, wo auch wir einen Großteil unserer Zeit verbringen – in Messenger-Diensten. Mehr als 80 % der 18- bis 64-Jährigen verwenden täglich Messenger-Apps (Facebook Newsroom 2017). Die Mehrheit zieht das Schreiben von Kurznachrichten sogar einem Telefongespräch vor, insbesondere im Konsumentenbereich. Die Vorteile liegen auf der Hand: Erhält man eine Textnachricht, ist man nicht gezwungen, sofort zu reagieren. Man kann bestimmen, wann und wie lange eine Konversation geführt wird. In kniffligen Situationen kann man seine Antwort vorbereiten. Sollte sich ein Konflikt entwickeln, fällt es deutlich leichter, einem Gegenüber, dessen Gesicht und non-verbale Kommunikation verborgen bleibt, seine Meinung zu sagen. Geschriebene Nachrichten können nachgelesen werden. Informationen drohen nicht, verloren zu gehen. Letztlich und vermutlich das wichtigste Argument: Die Kommunikation kann nebenbei und diskret geführt werden. Was bei einem Telefonat völlig ausgeschlossen ist. Und so texten wir mit Freunden, der Familie, Kollegen, Dienstleistern und mittlerweile auch mit unserem Arbeitgeber oder eben einem Chatbot. Die Bewerbung per Chat ist, gerade im Gegensatz zur herkömmlichen Bewerbungsseite und den veralteten Prozessen, direkter, komfortabler und ansprechender – und die Technologie, die die Sprachintelligenz für Chatbots beinhaltet, kann in jede Chat-Anwendung implementiert werden. Ob es sich um den Facebook Messenger, WhatsApp, WeChat, Telegram oder eine Karriereseite handelt, spielt dabei keine Rolle. Die Funktionsweise sei hier am Beispiel einer Karriereseite dargestellt: Der Besucher gelangt auf die entsprechende Webseite. Dort erscheint der Chatbot, stellt sich vor und erklärt,

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dass er für Fragen zur Verfügung steht. Ist der User interessiert und auf der Suche nach einem neuen Job, hilft der Chatbot dabei, die relevanten Stellen für den Bewerber nach dezidierten Kriterien (Ort, Arbeitsbereich, Erfahrung etc.) herauszufiltern. Im Ergebnis erhält er Links zu passenden Stellenanzeigen des Unternehmens. Fragen, die sich dem Nutzer rund um die Bewerbung, eine bestimmte Vakanz oder das Unternehmen stellen, kann er sich sofort vom Chatbot beantworten lassen. Und natürlich kann er sich auch direkt über den Chatbot bewerben. Und sollte dieses Mal nichts dabei sein, kann sich der Kandidat im Optimalfall direkt in den Talentpool aufnehmen lassen. Das alles 24 h am Tag, 7 Tage die Woche. Die ständige Verfügbarkeit ist ein riesiger Mehrwert, denn Jobinteressierte bewerben sich erfahrungsgemäß außerhalb der Geschäftszeiten (Braehmer 2014). Idealerweise ist der Chatbot mit dem Bewerbermanagementsystem des Arbeitgebers verbunden, sodass die Bewerbungen direkt im System erscheinen. Die Karriereseite ist jedoch nur einer von vielen Wegen, einen Chatbot in den Rekrutierungsprozess zu integrieren. Theoretisch kann man ihn dem Bewerber überall anbieten. Einer der Wege führt über das sog. Print oder Out of Home Media: Stellenanzeigen sind oft lokal und offline. Mithilfe eines QR-Codes oder einem Code von Facebook Messenger oder WhatsApp kann sich der Interessent auch dort denkbar einfach mit dem Chatbot in Verbindung setzen.

8.3 Die größten Vorteile von Chatbots 8.3.1 Verbesserte Candidate Experience Die interessantesten Kandidaten sind auch gleichzeitig am kürzesten verfügbar und warten keine Wochen oder auch nur Tage auf eine Rückmeldung. Mehr als die Hälfte aller Bewerberfragen erreichen Recruiter außerhalb der üblichen Geschäftszeiten.1 Ein Chatbot, der häufig gestellte Fragen automatisiert beantworten kann, kennt keinen Feierabend und ist somit immer verfügbar. Sofortige Antworten tragen zu einem drastisch verbesserten Nutzererlebnis bei und können ausschlaggebend dabei sein, ein Talent zu einem tatsächlichen Bewerber zu machen. Zusätzlich beantwortet der Chatbot nicht nur Fragen, sondern kann unmittelbar relevanten Inhalt und Jobs vorschlagen und so die Conversion Rate, also die Quote an Besuchern, die schließlich eine Bewerbung abschicken, deutlich verbessern. Nutzerverhalten auf Karriereseiten status quo: Die Karriereseite stellt eine „barrier to entry“ dar und außer der Bewerbung ist meist nichts möglich (Abb. 8.1).  Candidate Experience (Definition nach Verhoeven)  „Candidate Experience bezeichnet den Gesamteindruck, den ein potenzieller Bewerber im Rahmen der Prozesse

1Daten

basieren auf eigenen Kundendaten (u. a. Airbus, WBS, KellyOCG).

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Abb. 8.1   Chatbot Karriereseite

des Personalmarketings, des Recruitings und darüber hinaus vom potenziellen Arbeitgeber erhält. Es geht dabei um das individuelle Erleben in einem Bewerbungs- und Auswahlprozess an allen direkten und indirekten Kontaktpunkten mit dem Unternehmen“ (Verhoeven 2016, S. 11). Candidate Experience mit einem Chatbot: Jobinteressierte lernen die Arbeitgebermarke mit dem Chatbot zusammen kennen. Eventuell besteht sofort Interesse und es kommt zur Bewerbung oder es braucht ein wenig Zeit, aber da der Chatbot mit Content, Jobangeboten und Antworten zur Stelle ist, kommt es zur Bewerbung (Abb. 8.2). Der Fokus liegt darauf, dem Bewerber den gesamten Prozess so angenehm wie möglich zu gestalten und somit eine hervorragende sog. Candidate Experience zu kreieren, vergleichbar mit also dem Kauferlebnis (Customer Experience) und der User Experience (dem Empfinden bei der Benutzung eines Produkts, einer Webseite oder App). So sehr dieses subjektive Erleben des Rekrutierungsprozesses durch den Jobkandidaten lange unberücksichtigt blieb, gewinnt es momentan immer mehr an Bedeutung – und das zu recht. In vielen Branchen hat sich das Blatt gewendet. Es sind nicht mehr die Firmen, die aus einem Pool an Bewerbern auswählen, sondern die Talente, die sich heute den idealen Arbeitgeber und Job aussuchen.

8  Wenn Bots übernehmen – Chatbots im Recruiting

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Abb. 8.2   Candidate Experience durch Chatbots

Eine gute Candidate Experience anzubieten, bedeutet also, sich von konkurrierenden Arbeitgebern abzugrenzen und die Wahrscheinlichkeit einer Bewerbung und letztendlich Anstellung deutlich zu erhöhen. Selten beschränken sich Bewerber bei der Jobsuche auf ein Unternehmen. Laut einer aktuellen Studie würden 83 % eher keine Bewerbung mehr an eine Firma richten, die eine schlechte Candidate Experience geboten hat. Mehr als 60 % dieser Kandidaten würden ein Jobangebot dieser Firma sogar eher ablehnen. Und 59 % würde anderen davon abraten, sich bei dieser Firma zu bewerben (Westfall o. D.). Eine gute Candidate Experience ist heute ein Muss. Mehr und mehr Unternehmen verstehen das. Sie hat direkten Einfluss auf Leistungsindikatoren wie Einstellungen, Kosten pro Einstellung, Akzeptanzraten unterbreiteter Angebote und sogar den Umsatz (Careerarc 2016). Nicht zuletzt ist der Bewerbungsprozess der erste Schritt auf dem gemeinsamen Weg eines neuen Mitarbeiters und dem dazugehörigen Unternehmen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist der Qualitätsgarant für eine loyale, engagierte und langfristige Verbindung. Der Aufbau dieses Vertrauens fängt mit dem Bewerbungsprozess an.

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Durch die Verfügbarkeit eines Chatbots auf den beliebtesten Messaging-Plattformen (wie z. B. Facebook Messenger, WhatsApp und WeChat) ist sichergestellt, dass die Erfahrung für Kandidaten so angenehm wie möglich gestaltet wird. Das Umfeld ist v­ertraut und direkt. Es erfordert keine zusätzliche Anmeldung über ein Karriereportal. Der Chatbot sammelt alle relevanten Informationen und kann an alle gängigen Bewerbermanagementsysteme angebunden werden.

8.3.2 Vorurteile im Recruiting Auch wenn es niemand gern zugeben möchte, im Bewerbungsprozess spielen Vorurteile immer noch eine Rolle. Recruiter bilden sich ungewollt und unbewusst eine persönliche Meinung über Kandidaten. Man nennt das heute „unconscious bias“ (Beattie und Johnson 2011). Diese eventuellen Plus- oder Minuspunkte können am Ende über die Einstellung entscheiden. Einen Chatbot beeinflusst die z. B. aufgrund des Namens vermutete Herkunft oder das Geschlecht des Bewerbers nicht. Durch die Automatisierung werden Vorurteile von Beginn des Prozesses an aus der Gleichung herausgenommen. Alle ­Kandidaten haben die gleichen Startbedingungen. Automatisierung und Kostenersparnis Darüber hinaus übernimmt der Chatbot wiederkehrende, eintönige und teilweise umständliche Aufgaben wie das Beantworten von sich wiederholenden Fragen, aber auch das Vereinbaren von und Erinnern an Interviewtermine und Pre-Screenings. So wird dem Recruiter mehr Raum für spannendere und wertschöpfendere Tätigkeiten gegeben – z. B. das aufmerksame Gespräch und den intensiven Austausch mit den Kandidaten. Das mit Abstand interessanteste Merkmal der Automatisierung ist jedoch die Beschleunigung des Prozesses. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 lag die durchschnittliche Dauer eines Bewerbungsprozesses bis zu Einstellung bei 28,8 Tagen. Mit Chatbots kann dieser verkürzt werden. Wenn man bedenkt, dass qualifizierte ­Jobsuchende heute mehr als ein Angebot auf dem Tisch haben, liegt es auf Hand, wie wichtig es ist, schnell oder sogar der Erste zu sein. Nicht von der Hand zu weisen sind auch die Kostenersparnisse, die durch einen Chatbot erzielt werden können. Diese können in direkte (quantitative) und indirekte (­qualitative) unterschieden werden. Konkrete Anwendungsmöglichkeiten im Recruiting Chatbots treten mit Kandidaten in Kontakt, beantworten Fragen zur Firma oder Jobs, helfen bei der Bewerbung, screenen Kandidaten und Unternehmen auf Gemeinsamkeiten im Suchprofil, sind verbunden mit allen gängigen Bewerbermanagement- und sog. Human-Capital-Management-Systemen und können sogar beim On-Boarding unterstützen.

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Abb. 8.3   Implementierung eines Chatbots

Mit der Implementierung eines Chatbots haben die Kandidaten die Möglichkeit, ihren Lebenslauf oder ähnliche Bewerbungsunterlagen in der jeweiligen Messaging App hochzuladen – ein weiterer Schritt, der so vereinfacht wird (Abb. 8.3). Auch Screening-Fragen sind per Chat intuitiv möglich: Der Chatbot fragt in der Konversation die jeweiligen Fragen ganz einfach und zwanglos ab – ohne Antwort geht es nicht weiter. Die Fragen können aufeinander aufbauen und vordefinierte Antworten auslösen. Das Screening ist ein wichtiger Teil im Prozess, denn darüber kann ein signifikanter Teil der Bewerber bereits vorsortiert werden. Da die Anforderungen von Unternehmen zu Unternehmen variieren, sind auch in Recruiting-Chatbots die verschiedensten Fragen zu finden: Gefragt wird beispielsweise nach bestimmten Fähigkeiten, der Erfahrung oder nach der bevorzugten Schicht – je nach Bedarf. Alles weitere liegt beim Personaler. Entscheidet er sich für den Kandidaten, dann kommt dieser in die nächste Stufe – üblicherweise ein Interview. Auch hier unterstützt der Chatbot: Er schlägt mehrere passende Termine vor, lässt Kandidat und Personaler wählen, trägt den Termin in den Kalender des Recruiters ein und versorgt den Kandidaten per Chat mit Informationen zum Standort, Dresscode und allem Weiterem. Passt der festgelegte Termin nicht mehr, schreibt der Kandidat dem Chatbot, der dann alles Weitere in die Wege leitet. War der Kandidat erfolgreich, kann ihm ein guter erster Arbeitstag ermöglicht werden, indem er bereits kurz vorher einen netten Text, On-boarding-Dokumente, Accounts oder Tipps per Chat erhält. Der Punkt wird immer klarer: Automatisierung und Beschleunigung von Prozessen sind enorme Mehrwerte, die ein Chatbot denkbar einfach in Personalabteilungen einbringen kann. So gut wie alle Anbieter von Recruiting-Chatbots verfolgen die zwei großen Ziele, Personalern über Automatisierung und Beschleunigung mehr Zeit zu geben, die sie persönlich mit relevanten Kandidaten verbringen können, und die Candidate Experience deutlich zu verändern und zu verbessern.

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8.3.3 Vorteile für Employer Branding und das gesamte Unternehmen Chatbots machen die Kontaktaufnahme zwischen potenziellen Kandidaten und Unternehmen so einfach wie möglich. Firmen wenden viel Zeit und Geld auf, um Mitarbeiter auf sich aufmerksam zu machen beispielsweise durch Stellenanzeigen, Internet, Personal- und Hausmessen. Der Kandidat wird lediglich vor die Entscheidung gestellt, sich zu bewerben oder es nicht zu tun. Langsam aber sicher verstehen die Unternehmen, welche Vorteile es ihnen bringt, die potenziellen Kandidaten wie Kunden zu verstehen, um die sie werben müssen. Dazu gehört in vielen Fällen ein moderner, technisch fortschrittlicher Auftritt. In dieses innovative Bild fügt sich ein Chatbot perfekt ein. Es transportiert außerdem eine Wachheit, ein Interesse und Offenheit gegenüber Veränderungen. Airbus hat vor Kurzem einen Recruiting-Chatbot implementiert. Von Besuchern der Karriereseite wurde der Chatbot sehr gut angenommen. Zu Stoßzeiten wird eine Nachricht pro Sekunde an den Chatbot abgesendet. Das hohe Volumen an Nachrichten half dabei, bereits nach nur einem Monat im Einsatz einen Wert von 65 % an automatisch beantworteten Fragen zu erzielen. Das Ziel, die Support-Tickets zu reduzieren und damit ihre Recruiter zu entlasten, hat Airbus damit bereits nach nur einem Monat erreicht. STRV ist ein im Verhältnis kleineres Unternehmen. Die global agierende Design- und Developmentagentur legt großen Wert auf Candidate Experience und setzt im Rekrutierung seit einigen Monaten auf Chatbots. Dabei geht sie verstärkt auf das Employer Branding ein, also all die Maßnahmen, die einem Unternehmen helfen, als attraktiver Arbeitgeber empfunden zu werden. In einem persönlichen Gespräch mit einem Recruiter antwortete ein Kandidat auf die Frage, ob es denn von seiner Seite aus noch Unklarheiten gäbe: „Ich habe keine Fragen – ich habe schon den Chatbot gefragt!“. Für STRV war das ein großer Erfolg, denn damit war der Wunsch nach einem zeitgemäßen Bewerbungsprozess und erfolgreicher automatisierter Unterstützung erfüllt. innogy Consulting, eine Tochtergesellschaft des deutschen Energieversorgers RWE/ innogy setzt seit letztem Jahr im Recruiting auf Chatbots, um ein größeres Volumen an Bewerbern stemmen zu können bei gleichzeitiger Entlastung der Personalabteilung. So wurden 2018 70 % der von Kandidaten gestellten Fragen automatisiert beantwortet. Mithilfe des Chatbots names iConny erreicht innogy Consulting derzeit eine herausragende Conversion Rate von Benutzer zu Bewerber: Mindestens jeder dritte Interessent, der den Chatbot verwendet, bewirbt sich auch.

8.4 Ein Ausblick in die Zukunft von Chatbots 8.4.1 Voice Der Mensch will optimieren, das liegt in seiner Natur. Zeit wiederum ist unser höchstes Gut. Produkte, die uns erlauben, unsere Zeitnutzung zu optimieren, sind oftmals die erfolgreichsten. Das gilt auch für dialogorientierte Schnittstellen. Der durchschnittlich geübte

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Nutzer schafft es, in etwa 50 Wörter pro Minute zu tippen. Beim Sprechen erreichen wir 90–120 Wörter pro Minute. Wir Menschen sprechen also doppelt so schnell wie wir schreiben. Bequemlichkeit und die Verbesserung der Technologie bewegen uns mehr und mehr dazu, das Smartphone weniger in die Hand zu nehmen und unsere Informationen stattdessen von Alexa, Google Home, Siri, Bixby oder anderen Sprachassistenten verarbeiten zu lassen. Da wird dann schon einmal vor dem Verlassen der Wohnung gefragt: „Alexa, wie warm ist es heute?“, statt auf Smartwatch oder Handy zu schauen oder einfach das Fenster zu öffnen. Abends auf dem Weg aus dem Büro hört man: „Hey Google, wann fährt die nächste Bahn nach Hause?“, statt umständlich das Handy in die Hand zu nehmen, zu entsperren, die App der örtlichen Verkehrsbetriebe aufzurufen und die gewünschte Strecke ­einzutippen. Und so geht auch Jobsuche teilweise schon heute: „Okay Google, ich suche einen Controlling Job bei Bayer in Berlin“. Sprache macht vieles einfacher, auch weil es unsere natürlichste Kommunikationsform ist. Voice-Interfaces sind der nächste logische Schritt nach der geschriebenen Konversation.

8.4.2 Künstliche Intelligenz im Screening Auch im Screening wird künstliche Intelligenz (KI), also die Automatisierung intelligenten Verhaltens und maschinellen Lernens künftig die Landschaft erheblich verändern. Erste Ansätze gibt es bereits, Recruiter beim Lesen und Erfassen von Lebensläufen zu unterstützen. Schlüsseldaten werden automatisiert erfasst, um Bewerber zu bewerten und nur für die Stelle relevante Lebensläufe in die nächste Runde zu schicken. In diesem Bereich wird immer wieder Kritik laut, denn sollten Kandidaten wirklich von einem Computer klassifiziert werden? Geht da nicht die menschliche Komponente verloren? Diese Bedenken sind berechtigt und durchaus nachvollziehbar, jedoch ist die Technologie heute noch nicht so weit, dass Algorithmen allein über die Einstellung neuer Mitarbeiter entscheiden. Sie filtern lediglich die irrelevanten Bewerber heraus und verringern somit den Arbeitsaufwand für Recruiter und Hiring Manager. Diese treffen letztlich die Entscheidungen natürlich nicht ohne persönliche Interviews geführt zu haben. Solche Algorithmen werden zukünftig auch in Chatbots integriert werden, in Form von z. B. individuellen Screening-Fragen oder CV-Filtering. Wenn sich beispielsweise ein Kandidat aus New York auf eine Stelle in Berlin bewirbt, wird automatisch gefragt, ob er dazu bereit sei, umzuziehen. Beantwortet er diese Screening-Frage mit Nein, kann er von vornherein für diese und andere Stellen in Berlin ausgeschlossen werden. In ­diesem Fall kann außerdem geprüft werden, ob der Kandidat für eine andere Stelle infrage kommt. Ein Chatbot kann diese Übereinstimmung erkennen und dann den passenden Job vorschlagen. Dieses Verfahren wird Job-Matching genannt. Es garantiert den Unternehmen eine effektivere Nutzung des Volumens an Jobinteressenten.

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8.4.3 Chat Interfaces für Recruiter und Hiring Manager Nicht nur Kandidaten und Bewerber profitieren von der Methode Chat. Genauso können damit Workflows und Erfahrungen aufseiten der Recruiter und Hiring Manager verändert und verbessert werden. Die Möglichkeiten hier sind weitreichend: Ein Recruiter könnte per Chatbot über neue Bewerber informiert werden oder den Chatbot sogar darum bitten, eine Aufgabe auszuführen. „Hi Anna, Max hat sich gerade auf deinen Job ‚Werkstudent Marketing‘ bei Company XYZ beworben. Hier sind sein Profil und die Telefonnummer:“ „Aktualisiere bitte die Stellenbeschreibung für ‚Senior Software Developer‘ bei ABC Enterprises. Hier ist der neue Text:“ „Neue Stellenausschreibung: ‚Design Intern‘ in Hannover. Hier sind Bild und Beschreibung:“

8.5 Fazit Hatte der Kandidat vielleicht eine Frage, die manchen Recruitern bescheuert vorkommt, spricht die Person nur gebrochen Deutsch oder Englisch, war sie nicht auf der Uni, die man selbst ganz toll findet? All das interessiert Chatbots überhaupt nicht! Chatbots nehmen dem Recruiter nicht die Arbeit weg, sie wirken unterstützend und entlastend. Beispielsweise können binnen der ersten drei Wochen im Einsatz bereits bis zu 75 % aller häufig gestellten Fragen automatisiert beantwortet werden. Dabei steigt die Zufriedenheitsrate aufseiten der Kandidaten. Diese Zahlen belegen, wie Chatbots die Personalgewinnung verbessern können. Oft wird es so gesehen, dass Chatbots synonym mit Automatisierung und KI verstanden werden. Das ist falsch. Chatbots laufen nicht auf Kosten von persönlicher Kommunikation. Sie ergänzen und erweitern lediglich die Serviceleistungen.

Literatur Beattie, G., & Johnson, P. (2011). Possible unconscious bias in recruitment and promotion and the need to promote equality. Perspective (S. 7–13). Abingdon: Taylor & Francis. Braehmer, B. (2014). Was ist die beste Zeit für Jobpostings in Social Media [Infographic]? Intercessio Blog. https://intercessio.de/beste-zeit-fuer-jobpostings/. Zugegriffen: 11. Jan. 2019. Careerarc. (2016). 23 surprising stats on candidate experience – Infographic. https://www.careerarc.com/blog/2016/06/candidate-experience-study-infographic/. Zugegriffen: 17. Jan. 2019. Facebook Newsroom. (2017). Messages matter: Exploring the evolution of conversation. https:// newsroom.fb.com/news/2017/11/messages-matter-exploring-the-evolution-of-conversation/. Zugegriffen: 17. Jan. 2019. Statista. (2018). Monatliche aktive Nutzer von Messenger Diensten. https://de.statista.com/infografik/10309/monatlich-aktive-nutzer-von-messenger-diensten. Zugegriffen: 18. Jan. 2019.

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Verhoeven, T. (Hrsg.). (2016). Candidate Experience – Ansätze für eine positiv erlebte Arbeitgebermarke im Bewerbungsprozess und darüber hinaus.Wiesbaden: Springer Gabler. Westfall. (o. D.). 8 tips for improving the online candidate experience, auf softwareadvice.com. https://www.softwareadvice.com/resources/8-tips-improve-candidate-experience/. Zugegriffen: 12. Jan. 2019.

Luc Dudler  ist Gründer von jobpal – einem Berliner Tech-Unternehmen, das sich auf die Entwicklung von Chatbots für die Personalgewinnung spezialisiert hat. Zuvor arbeitete er in Unternehmen in New York und Berlin.

Künstliche Intelligenz im Recruiting Die möglicherweise größte Veränderung des Recruitings steht erst noch bevor und wartet darauf, gestaltet zu werden Tim Verhoeven

Inhaltsverzeichnis 9.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 9.2 Künstliche Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 9.2.1 Historische Einordnung und Entwicklung des Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 9.2.2 Mensch spielerisch gegen Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 9.2.3 Open-Source-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 9.2.4 Kann künstliche Intelligenz kreativ sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9.2.5 Politische Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 9.3 Künstliche Intelligenz im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 9.3.1 Anwendungsmöglichkeiten innerhalb der Wertschöpfungskette des Recruitings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 9.3.2 Anwendungsmöglichkeiten aus Arbeitgeber- und Bewerbersicht. . . . . . . . . . . . . . 120 9.4 Recruiting-Lösungen mit künstlicher Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 9.4.1 IBM-Watson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 9.4.2 HireVue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 9.4.3 Pocket Recruiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 9.4.4 LogOn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 9.4.5 Precire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 9.4.6 100 Worte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 9.4.7 Robot Vera. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 9.4.8 Hijob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 9.5 Hat künstliche Intelligenz ein Akzeptanzproblem?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 9.6 Ausblick und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

T. Verhoeven (*)  Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_9

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Zusammenfassung

Künstliche Intelligenz (KI) im Recruiting verbindet beide Extreme miteinander: Angst und Hoffnung. Angst davor, dass Algorithmen zukünftig noch mehr Entscheidungen in unserem Alltag treffen werden und dann selbst unsere Karrierechancen vom Wohlwollen einer Maschine abhängt. Hoffnung darauf, dass durch bessere und intelligentere Software nicht nur mehr Fairness und Objektivität ins Recruiting Einzug erhält, sondern, dass sich dadurch auch das Berufsbild des Recruiters deutlich verbessern wird. In diesem Szenario wird die KI der Assistent sein, der den Recruiter unterstützt und dazu befähigt, seinen Job mit noch besserer Qualität zu machen. Schauen wir uns auf den folgenden Seiten genauer an, was KI ist, was sie kann und wie sie uns im Recruiting tatsächlich helfen kann.

9.1 Einleitung Kaum ein Thema ist auf der einen Seite so weit verbreitet und auf der anderen Seite von so viel, im besten Fall, Halbwissen begleitet, wie das Thema künstliche Intelligenz (KI). Seit Jahrzehnten wird an diesem Themengebiet geforscht und es wurden schon zahlreiche theoretische Konstrukte dazu erarbeitet. Trotz alledem hat das Thema insbesondere in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen. Die Anzahl der Google-Suchanfragen zu den Begriffen künstliche Intelligenz und dem englischen Äquivalent „artificial intelligence“ (AI) hat in den letzten fünf Jahren kontinuierlich stark zugenommen. Insbesondere werden immer mehr Anwendungsbeispiele von KI populärer, die Auswirkungen auf unseren Alltag haben. Ob Alexa, Siri oder diverse Bilderkennungssoftware, KI scheint allgegenwärtig in unserem Alltag – da war es nur eine Frage der Zeit, bis das Thema auch seine Auswirkungen auf das Recruiting-Geschäft hat. Recruiting eignet sich sehr gut als potenzielles Einsatzfeld für KI, da es auf der einen Seite durch den hohen Erkenntnisstand im Bereich der Eignungsdiagnostik, über viele bewährte und belegte Theorien und Methoden verfügt, auf denen selbstlernende Algorithmen aufsetzen könnten. Auf der anderen Seite sind die meisten Prozesse im Recruiting mittlerweile digital abgebildet oder abbildbar, wodurch sich viele direkte Anbindungsmöglichkeiten für KI ergeben.

9.2 Künstliche Intelligenz 9.2.1 Historische Einordnung und Entwicklung des Begriffs Bereits bevor der Begriff der KI explizit genutzt wurde, gab es jedoch schon einige, auf einer abstrakten Ebene inhaltlich passende Vorläufer dieses Begriffs. Im Jahr 1950 schrieb der britischer Mathematiker A.M. Turing den für die Geschichte der KI entscheidenden Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“, bei dem er sich u. a. detailliert der Frage widmete, ob Maschinen in der Lage sind, zu denken (vgl. Turing 1950).

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Seit 1956 ist das Thema KI im akademischen Kontext aktiv. Auf einer Konferenz in Hanover in New Hampshire trafen sich eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern am Dartmouth College, um gemeinsam zu erforschen, wie denkende Systeme entstehen könnten, die ihre Umwelt begreifen und flexibel auf sie reagieren. Dort wurde diese Disziplin als „artificial intelligence“ definiert, als KI (vgl. Lewis 2014). Heutzutage kann KI als Oberbegriff für Softwarelösungen stehen, die darauf ausgerichtet sind, Probleme zu lösen und somit mit dem Menschen vergleichbare Intelligenz zeigen (vgl. Petry und Jäger 2018, S. 46). KI kann vier verschiedene Eigenschaften haben: Verstehen, Schlussfolgern, Lernen und Interagieren (Tab. 9.1). Vor allem die Kombination dieser vier Eigenschaften beschreibt die Besonderheit KI (vgl. Semet und Hilberer 2018, S. 183).

9.2.2 Mensch spielerisch gegen Maschine „Zum einen arbeitet das Gehirn viel effizienter in der Auslastung seiner begrenzten Hardware als der beste Supercomputer und verbraucht viel weniger Energie. Auch die Simulation von Alltagsintelligenz, dem Common Sense des Menschen in unerwarteten Situationen, ist noch eine riesige Baustelle in der KI-Forschung.“ Wolfgang Wahlster (Lemm 2016)

Das Thema der KI faszinierte die Mehrheit der Menschen stets – egal ob Skeptiker oder Befürworter. So war es naheliegend, dass die Hersteller von großen KI-Systemen meistens auch den Menschen als Maßstab für die Leistungsfähigkeit ihrer KI aushoben. So gab es über die Jahrzehnte immer wieder den Versuch etwas, worin der Mensch sich mit besonderer Intelligenz hervortun konnte, besser zu machen als der Mensch. Eine Disziplin, die sich als Standard hervortat, war der Wettkampf in bekannten Spielen, die nicht auf Glück basierten, sondern möglichst ausschließlich auf Intelligenz. Schach bot sich da naheliegend an – und war auch komplex genug mit mehr als 10120 möglichen unterschiedlichen Zügen. Im Jahr 1977 kam der erste kommerzielle Schachcomputer auf den Markt, gefolgt von Schachsoftware in den 1980er-Jahren für Heimcomputer.

Tab. 9.1  Eigenschaften künstlicher Intelligenz Verstehen

Schlussfolgern

Lernen

Interagieren

Kognitive Systeme verstehen Bilder, Sprache und andere unstrukturierte Daten ähnlich wie wir ­Menschen

Sie schlussfolgern, erfassen zugrunde liegende Konzepte, formulieren Hypothesen und können Ideen ableiten und extrahieren

Mit jedem Datenpunkt, jeder Interaktion und ihrem Ergebnis entwickeln und schärfen sie ihre Expertise weiter, sodass sie niemals aufhören zu lernen

Mit den Fähigkeiten zu sehen, zu sprechen und zu hören, interagieren kognitive Systeme in natürlicher Weise mit Menschen

Nachgebaut nach Semet und Hilberer (2018, S. 183)

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Im Jahr 1997 gewann die KI von IBM – Deep Blue – erstmalig gegen den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparov ein komplettes Turnier, während Deep Blue im Vorjahr bereits ein erstes Spiel gegen Kasparov gewonnen hatte. Auch wenn Deep Blue hier nicht allein agiert hat, sondern mithilfe der Adjustierung der Taktik durch IBM-Mitarbeiter zwischen den Spielen, so war dies der erste große Sieg einer Maschine gegen einen Menschen und damit auch das Ende der Ära des Aufeinandertreffens im Rahmen von Schachpartien (vgl. Mauruschat 2016). Es mussten also neue Bewährungsproben gefunden werden. Im Jahr 2011 gewann IBM-Watson erstmalig in der US-amerikanischen Quizshow Jeopardy gegen die beiden zu der Zeit amtierenden Gewinner. Die Besonderheit dabei war, dass IBM-Watson nicht nur die Fragen – die hochkomplex und nuanciert sind – verstehen musste, sondern auch ein sehr breites Wissen abrufen musste (vgl. Best 2014). Der bisherige Höhepunkt im spielerischen Aufeinandertreffen zwischen Mensch und KI wurde zwischen 2015 und 2017 erreicht. Als Grundlage galt diesmal das Spiel Go – ein Spiel, das aufgrund der deutlich höheren Anzahl an möglichen Zügen deutlich komplexer war, als beispielsweise Schach. Go weist mehr als 2 × 10170 mögliche Züge auf (vgl. Tromp 2016) und galt bis zu diesem Zeitpunkt als zu komplex. Beste Programme konnten zwar mit Handicap auch Erfolge gegen Profilspieler erzielen, jedoch noch nicht in einem Ausmaß, wie es danach passierte. AlphaGo – eine KI, die von Google DeepMind programmiert wurde und ausschließlich Go lernte, gewann im Oktober 2015 in einem offiziellen Match gegen den amtierenden Europameister Fan Hui. Im März 2016 besiegte AlphaGo dann einen der weltbesten Go-Spieler, um dann im Mai 2017 den Weltranglistenersten zu besiegen. AlphaGo Zero war die Weiterentwicklung, die im Vergleich zu seinem Vorgänger nicht durch viele Spiele gegen andere Menschen lernte, sondern ausschließlich durch Partien gegen sich selbst. Nach drei Tagen Lernen war AlphaGo Zero schon so stark, dass es auf dem Niveau war, dass es gegen die Version aus März 2016 100:0 gewann. Diese Ergebnisse wurden im Oktober 2017 vorgestellt. Alpha Zero war dann die Abstraktion der Lernergebnisse, die DeepMind mit AlphaGo Zero gemacht hat. Alpha Zero war nicht mehr auf Go fokussiert, sondern eine allgemeine selbstlernende KI, die innerhalb weniger Tage sowohl Go lernte, als auch Schach, sowie Shogi, ein Spiel japanischen Ursprungs, das mit Schach von der Komplexität vergleichbar ist.

9.2.3 Open-Source-Bewegung In der Gegenwart gibt es verschiedene Bewegungen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind, denen allen gemein ist, dass sie zeigen, welchen enormen Stellenwert KI in der heutigen Gesellschaft besitzt. Während sich auf der einen Seite immer mehr Firmen privatwirtschaftlich mit dem kommerziellen Einsatz von KI auseinandersetzen, gibt es auf der anderen Seite auch Bewegungen, die sich dafür einsetzen, dass

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KI etwas ist, an dem möglichst viele profitieren können. OpenAI ist beispielsweise eine ­gemeinnützige Organisation, mit dem Ziel der Förderung der Erforschung von KI, um diese dann auf Open-Source-Basis zu veröffentlichen. Dieses Projekt wurde mit über einer Milliarde US-Dollar aus Spenden finanziert – einer der Hauptinitiatoren ist der Unternehmer Elon Musk. Ähnlich ausgeprägt ist die Deep-Learning Foundation, die von der Linux Foundation gegründet wurde für Open Source Innovation. Neben Linux sind auch globale Konzerne, wie AT&T, Baidu, Huawei oder Nokia Gründungsmitglieder dieser gemeinnützigen Stiftung.

9.2.4 Kann künstliche Intelligenz kreativ sein? Gern wird darüber diskutiert, was KI alles kann oder nicht kann. In der Regel werden zwei Faktoren aufgeführt, die durch eine KI nicht abgedeckt werden: Kreativität und Emotionen. Insbesondere im Bereich der Kreativität hat sich in den letzten Jahren jedoch sehr viel getan und viele kreative Leistungen von Menschen können mittlerweile auch von einer KI, zumindest ansatzweise, erbracht werden. Im Folgenden zeige ich anhand von drei Themen, die klassischerweise mit Kreativität assoziiert werden, wie KI hier bereits Fuß gefasst hat. Film Es gibt zwar noch keine mir bekannte KI-Lösung, die selbstständig alle Tätigkeiten eines Filmdrehs übernimmt, aber immerhin gibt es ein Beispiel dafür, dass KI-Systeme dafür eingesetzt werden können, um aus einem bestehenden Film einen beeindruckenden Film-Trailer zu schneiden. Die bekannte Firma 20th Century Fox bat IBM, ob deren KI IBM-Watson ihren neuen Film „Morgan“ automatisch analysieren und selbstständig daraus einen Film-Trailer zusammenschneiden könne (IBM Research on Youtube „Morgan IBM Creates First Movie Trailer by AI [HD] 20th Century Fox“ https://www.youtube. com/watch?v=gJEzuYynaiw). Watson analysierte dafür 100 Trailer aus ähnlichen Filmen nach den drei Dimensionen „visual“, „audio“ und „scene’s composition“ und dann wurde der komplette Film eingelesen (Smith 2016). Musik Kaum eine künstlerische und kreative Darstellungsform kann so massentauglich und emotional sein wie Musik. Seit vielen Jahren werden aktuelle musikalische Highlights schon digital nachbereitet und erst durch Software zu dem Ohrgenuss, den wir kennen. Aber kann eine Software mithilfe KI auch eigene Musik komponieren? Ja, sie kann, und meinen persönlichen Geschmack trifft sie extrem gut. Ich höre gerade Musik von AIVA – Artificial Intelligence Virtual Artist – einer KI, die ihr Wissen u. a. aus mehr als 30.000 Partituren einiger der größten Komponisten bezogen hat (Zakharayan o. D.). Im Mai 2016 wurden die Werke von AIVA auch urheberrechtlich geschützt – erstmalig in dieser Konstellation.

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Im Juni 2017 schrieb AIVA das Stück zur Eröffnung des Nationalfeiertags Luxemburgs. Danach folgten Soundtracks und u. a. eine gemeinsame Single mit Taryn Southern (vgl. Zakharyan 2018). Malerei und Zeichnung Dass man mithilfe KI Bilder verändern und verfremden kann, ist nicht mehr neu. Webseiten wie instapainting.com oder deepart.io bieten schon seit Längerem an, dass man Bilder mit einem neuen Stil verzerren kann – in ähnlicher Form, wie Filter in Bildbearbeitungsprogrammen, nur komplexer. Aber kann eine KI tatsächlich selbst ein Bild erstellen? Und würden diese Bilder anderen Menschen gefallen? Ein klares Ja. Ende 2018 wurde im Auktionshaus Christie’s in New York erstmalig ein durch KI entstandenes Kunstwerk verkauft. Dieses Bild ist eines von elf Bildern, das das französische Künstlerkollektiv Obvious durch eine KI erschaffen ließ, indem es mehr als 15.000 klassische Portraits analysieren ließ. Das Bild wurde für den stolzen Preis von 432.500 US-Dollar verkauft und trägt den Namen „Edmond de Belamy“ (Zeit.de 2018).

9.2.5 Politische Einordnung Die Diskussion um den Nutzen und die Anwendungsfelder für KI hat auch vor Politik und anderen gesellschaftlich relevanten Foren keinen Halt gemacht. Auf der einen Seite steht die Frage danach, wie man von KI profitieren und dementsprechend Mittel bereitstellen kann, um diesen Fortschritt zu beschleunigen. So wurde am 4. Dezember 2018 auf dem Digital-Gipfel in Deutschland beschlossen, jährlich 500 Mio. € in KI zu investieren, damit Deutschland Spitzenreiter werde – obwohl diese Summen nur ein Bruchteil dessen sind, was die USA und China vergleichsweise investieren (vgl. Jäger 2018). Eine weitere Frage behandelt den verantwortungsvollen Einsatz von KI und inwieweit uns deren Einsatz irgendwann vielleicht schaden könnte. Viele der größten Experten sind sich einig darüber, dass der Einsatz von KI ein Risikopotenzial birgt. Sowohl der weltberühmte Vordenker Stephen Hawking sah diese Risiken: „I fear that AI (Artificial Intelligence) may replace humans altogether. If people design computer viruses, someone will design AI that replicates itself.“ Stephen Hawking (Medeiros 2017)

Als auch der bekannte Gründer von PayPal, SpaceX und Tesla, Elon Musk, der ebenfalls zur Vorsicht im Umgang mit KI mahnte: „Künstliche Intelligenz stellt ein grundlegendes Risiko für die Existenz der menschlichen Zivilisation dar, auf eine Weise wie es Autounfälle, Flugzeugabstürze, schadhafte Drogen oder schlechtes Essen nie waren.“ Elon Musk (o. N. 2017)

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Neben mahnenden Worten entstand so langsam das Bewusstsein dafür, dass es wichtig ist, ethisch korrekte Rahmenbedingungen und Standards festzulegen für den Einsatz und die Arbeit mit KI. Die Bertelsmann Stiftung gründete das Projekt Ethik der Algorithmen, das sich den Leitspruch setzte: „Nicht das technisch Mögliche, sondern das gesellschaftlich Sinnvolle muss Leitbild sein.“ (Bertelsmann Stiftung o. D.) Am 18. Dezember 2018, und relativ unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, wurde das erste „Draft Ethics Guidelines for trusworthy AI“ der Expertengruppe AI HLEG1 der europäischen Kommission veröffentlicht. Die finale Version wird für März 2019 erwartet (European Commission 2018). Auch innerhalb des Recruiting-Kosmos tat sich so langsam etwas. Am 10. Januar 2019 veröffentlichte Dr. Elke Esser in ihrer Funktion als Präsidentin des Bundesverbands der Personalmanager, dass gemeinsam mit der Unternehmensberatung HKP ein Ethikbeirat HR Tech gegründet wurde, der sich u. a. und insbesondere mit der Fragestellung beschäftigt, wie sich Digitalisierung und KI auf die Arbeit im HR-Bereich auswirken und welche ethischen Fragen dabei zu berücksichtigen sind (Nopper 2019).

9.3 Künstliche Intelligenz im Recruiting 9.3.1 Anwendungsmöglichkeiten innerhalb der Wertschöpfungskette des Recruitings Wenn man sich die Wertschöpfungskette des Recruitings anschaut, dann ergeben sich auf den ersten Blick sehr viele Möglichkeiten, wo man mit KI-basierten Lösungen einen Mehrwert für Recruiter und Bewerber bekommen könnte. Wenn man das Sechs-Phasen-Modell (vgl. Kap. 5) zugrunde legt, lassen sich für jede Phase sinnvolle und mehrwertstiftende Anwendungsmöglichkeiten finden und/oder vorstellen. Der Fokus hier liegt jedoch auf den ersten vier Phasen: Anziehung, Information, Bewerbung und Auswahl (Tab. 9.2). Innerhalb der Wertschöpfungskette kann dann noch zwischen Lösungen unterschieden werden, die Teilbereiche komplett übernehmen oder die im Sinn eines Assistenzsystems unterstützen. Schauen wir uns zur Verdeutlichung ein Beispiel an, wo ein kompletter Prozess durch KI übernommen wird: Beispiel

Ein System, das auf KI basiert, analysiert die Unterlagen von Bewerbern inklusive möglicher Daten aus Social-Media-Profilen und sonstigen öffentlich zugänglichen Daten und sagt unpassenden Bewerbern direkt ab.

1Steht

für High-Level Expert Group on Artificial Intelligence

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Tab. 9.2  Anwendungsmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz Phase innerhalb der Candidate Journey

Anwendungsmöglichkeit von künstlicher Intelligenz

1. Anziehung

Die durch künstliche Intelligenz unterstützte Auswahl und Steuerung von Online-Kanälen kann hier einen enormen Mehrwert bringen. Das Gleiche gilt für intelligente Direct-Sourcing-Lösungen

2. Information

Ein recht weit verbreitetes Mittel sind selbstlernende Chatbots, die Fragen von Bewerbern beantworten und somit Zeit sparen

3. Bewerbung

Sowohl Matching-Lösungen als auch Bewerbungsassistenten können Bewerbern sowie Unternehmen einen Mehrwert liefern

4. Auswahl

Hier gibt es ein breites Spektrum an Lösungen. Auf der einen Seite haben wir alle Lösungen, die den CV oder andere Bestandteile der Bewerbung analysieren und Kandidaten dann bewerten. Auf der anderen Seite gibt es Tests und Assessments, die auf künstlicher Intelligenz basieren

Im Vergleich dazu ist momentan die Tendenz sehr stark, dass KI-Lösungen im Recruiting eher die Form eines Assistenzsystems übernehmen, das einem Recruiter helfen soll. Beispiel

Ein System, das auf KI basiert, analysiert die Unterlagen von Bewerbern inklusive möglicher Daten aus Social-Media-Profilen und sonstigen öffentlich zugänglichen Daten und gibt jedem Bewerber einen Matching Score. Der Recruiter entscheidet, wem abgesagt wird und wem nicht. Beim zweiten Beispiel wird deutlich, wer die Verantwortung weiterhin behält.

9.3.2 Anwendungsmöglichkeiten aus Arbeitgeber- und Bewerbersicht Es gibt eine Vielzahl von verschiedenen Anwendungsfeldern, die man sich im Recruiting vorstellen kann. Neben großen etablierte Unternehmen, die dort mittlerweile Lösungen anbieten, tummelt sich auch ein sehr breites Feld an RecTech-Start-ups auf dem Markt mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Lösungen. Auch wenn sich wahrscheinlich nicht alle Lösungen auf dem Markt etablieren werden, so gibt es doch einen weiterhin wachsenden Markt von KI-basierten Lösungen im Recruiting-Umfeld. Innerhalb des Recruitings lassen sich die Einsatzfelder in vier Dimensionen einteilen.

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Von Arbeitgeber zu Bewerber Hierunter fallen alle Maßnahmen, bei denen bzw. im Rahmen dessen der Arbeitgeber versucht, Bewerber zu adressieren. Sämtliche Lösungen der Optimierung oder optimierten Streuung von Stellenanzeigen oder sonstigen Werbemaßnahmen fallen ebenso darunter wie KI-basierte Lösungen im Bereich Direct Sourcing. Externe Prozesse des Bewerbers Hierdurch abgedeckt sind alle Maßnahmen und Lösungen, die sich primär auf den Bewerber mit Blick auf sich selbst beziehen. Hierunter fallen beispielsweise Lösungen, mit denen der Kandidat seinen CV optimieren kann. Interne Prozesse des Arbeitgebers Darunter sind sämtliche Lösungen zusammengefasst, die primär die internen Prozesse von Arbeitgebern im Kontext des Recruitings optimieren. Automatisierte Matchingsysteme oder Rating-Lösungen sind die bekanntesten Vertreter. Von Bewerber zu Arbeitgeber Hierunter kann man alle Maßnahmen zusammenfassen, die das Ziel haben, die Prozesse von Bewerbern in Richtung potenzieller Arbeitgeber zu optimieren: Chatbots, Matching auf Arbeitgeberseiten.

9.4 Recruiting-Lösungen mit künstlicher Intelligenz Es gibt eine Vielzahl an Lösungen, die weltweit im Recruiting-Markt Fuß gefasst haben. Ein paar davon habe ich selbst getestet (beispielsweise IBM-Watson), andere sind mittlerweile bekannte Use Cases (RobotVera) und andere wurden mir aus meinem internationalen Netzwerk empfohlen. Darunter sind nicht nur Lösungen, die ich sofort empfehlen würde, sondern auch ein paar Anbieter, deren Methoden durchaus in Zweifel gestellt werden dürfen. Auch das gehört dazu – sich selbst einen Eindruck über die Qualität und Güte von solchen Anbietern zu machen. Einen Überblick über einige spannende Lösungen bzw. deren Anbieter folgen hier.

9.4.1 IBM-Watson Benannt nach Thomas J. Watson, einem der prägendsten Mitarbeiter von IBM, ist Watson ein auf KI basierendes Programm. Es gibt sehr viele Applikationen, die auf der KI von Watson basieren. Lösungen in nahezu allen vorstellbaren Branchen oder bis hin zu Lösungen rund um HR. IBM bietet mit Watson eine Recruiting-Lösung, die zum einen Kandidaten helfen kann, den richtigen Job zu finden – also eine Self-Matching-Lösung.

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Daneben bietet IBM auch Lösungen zur automatisierten Bewertung von Bewerbern. Auf IBM-Watson basieren aber auch Sprachanalyse-Tools und weitere Tools, die für Recruiting genutzt werden können. IBM-Watson ist sicherlich der große, etablierte Platzhirsch, weil IBM schon seit vielen Jahren zu den größten Playern im Bereich der KI gehört und gleichzeitig in den meisten Ländern der Welt vor Ort ist und dementsprechend auch Erfahrung in vielen verschiedenen Märkten und Sprachen besitzt. Das macht IBM-Watson in Summe zur Nummer eins. Jedoch gibt es auch einige sehr spannende kleinere und vielleicht agilere Unternehmen mit ihren Lösungen, die man sich auch anschauen sollte.

9.4.2 HireVue Die Firma HireVue ist für dieses Umfeld ein etabliertes altes Unternehmen, da es schon seit 2004 auf dem Markt ist. Das Kernprodukt liegt in der Auswertung von Videos. Bewerber gehen auf das Portal von HireVue und bekommen dort Fragen gestellt, die sie via Video beantworten – diese Videos werden dann genau analysiert. Gestik, Mimik, Veränderungen in der Stimme, Blickwechsel – dem HireVue-Algorithmus bleibt nichts verborgen. Insbesondere in den USA hat die Firma schon viele sehr namenhafte Kunden und gehört dadurch mittlerweile auch zu den größten Marktteilnehmern im Bereich der KI im Recruiting.

9.4.3 Pocket Recruiter Basierend auf neuronalen Netzen ist Pocket Recruiter in erster Linie eine Matching-Lösung, die zur Kandidatensuche, -bewertung und -selektion genutzt wird. Die Pocket-Recruiter-Lösung sucht vollautomatisiert nach passenden Kandidaten in internen Datenbanken und auch über Social-Media-Kanäle, wie beispielsweise LinkedIn. Man muss im Prinzip nur die passende Stellenausschreibung einlesen lassen und/oder Keywords hinzufügen und sofort startet der Algorithmus mit der Suche. Wie einige Recruiting-Tech-Firmen ist auch Pocket Recruiter bisher primär im englischsprachigen Umfeld unterwegs und damit zumindest in der Analyse und Interpretation von deutschsprachigen Lebensläufen, Stellenbeschreibungen und Key Words noch nicht auf dem Stand der englischsprachigen Versionen. Obwohl Pocket Recruiter in Deutschland noch nicht so bekannt ist, hat es innerhalb der Recruiting-Tech-Szene schon einen guten Ruf.

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9.4.4 LogOn LogOn verspricht autonomes Profiling und Matching für besseres Recruiting. Es gibt drei Use Cases zur Auswahl: • Smarte Jobsuche: Hier wird durch CV- und Social-Media-Profil-Analyse ein Kandidatenprofil erstellt und anschließend werden aufgrund dieses Profils Jobvorschläge gemacht. • Smarte Kandidaten: Hier wird das gleiche Prinzip angewandt, nur genau anders herum. Eine Stelle wird analysiert und dann werden entsprechende Kandidaten gesucht. • Autonome Vorauswahl: Diese ermöglicht ein automatisiertes Prescreening und gibt dann aufgrund der vorher getätigten Analysen für die weitere Vorauswahl Interviewleitfäden aus. Das Campus Magazin von ARD-alpha hat den Test gemacht: Mensch gegen Maschine – oder hier – Recruiting-Experte Michael Witt gegen den Algorithmus von LogOn2. Das Ergebnis dieses nicht repräsentativen Tests: Das Tool ist schneller und vorurteilsfreier – der Mensch hat den besseren Blick für Kontext und Detail. Innerhalb der Expertenszene gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen über die Qualität von LogOn – es bleibt jedoch festzuhalten, dass es eine der wenigen KI-basierten Recruiting-Lösungen aus Deutschland ist, die auch mit der Interpretation der deutschen Sprache Erfahrung hat.

9.4.5 Precire Bei der Lösung Precire handelt es sich um eine Sprachanalysesoftware, die auch, aber nicht nur, im Recruiting eingesetzt werden kann. Die Precire-Technologie kann sowohl für eine Analyse des gesprochenen Worts als auch von schriftlichen Texten genutzt werden. Ergebnisse sind psychologische Profile des Kandidaten, der den Text gesprochen oder geschrieben hat. Ist die Person eher visionär, weniger intellektuell, mehr optimistisch oder pessimistisch? Precire gibt die Einblicke und gehört auch zu den Lösungen, die eine gute Grundlage der deutschen Sprache beherrschen. Inwieweit die Lösung von Precire tatsächlich wissenschaftlichen Standards entspricht – darüber gibt es sehr kontroverse Diskussionen, insbesondere bei der Audiosprachanalyse. Professor Dr. Jarek Krajewski, Experte im Bereich akustische Stimmanalyse und Sprachemotionserkennung, hält die Lösung von Precire für unseriös (vgl. Schwertfeger 2015). Zu ähnlichem Ergebnis kommt auch Prof Dr. Uwe Kanning – einer der größten Experten im Bereich Eignungsdiagnostik in Deutschland, den weder die Methodik noch die Qualität des Verfahrens überzeugt (vgl. Kanning 2018).

2Die

komplette Folge ist in der Mediathek von ARD-alpha zu finden unter: https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/roboter-stellen-menschen-ein-bewerbung-robot-recruiting-100. html.

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9.4.6 100 Worte Einen ähnlichen Ansatz wie Precire fährt auch die Firma 100 Worte Sprachanalyse GmbH; zumindest was die Analyse von Texten angeht. Unter dem Motto „Maschinen sollen Menschen dabei helfen, Menschen zu verstehen“ ist das Kernprodukt von 100 Worte ein Analysetool, das aus mindestens 100 geschriebenen Worten einer Person ein Persönlichkeitsprofil erstellt. Dabei ist eine höhere Anzahl von Worten besser für die Aussagefähigkeit der Ergebnisse. Das Unternehmen ist noch relativ klein und neu auf dem Markt, aber grundsätzliche Kritik an Sprachanalyse und der davon abhängigen Ableitung von Persönlichkeitsmerkmalen gilt auch hier, wie schon bei Precire.

9.4.7 Robot Vera Eine relativ ganzheitlich konzipierte Lösung hat das in Russland gegründete Unternehmen RobotVera. RobotVera basiert auf drei verschiedenen Bestandteilen, die fließend ineinander übergehen. Als erstes identifiziert RobotVera die passenden Kandidaten. Entweder über soziale Netzwerke oder auch über die eigenen Talentpools. Im zweiten Schritt ruft RobotVera die entsprechenden Kandidaten an und führt ein erstes Informationsgespräch, in dem der Job vorgestellt wird und Fragen über den Prozess und das Unternehmen beantwortet werden. Zu guter Letzt führt RobotVera mit den besten Kandidaten auch noch Videointerviews mit einem Avatar, der nun auch noch einmal optisch überarbeitet wurde. Bisher ist diese einzigartige Lösung nur auf Russisch und Englisch verfügbar; aber es gibt bisher einige sehr große Vorzeigekunden, die mit RobotVera sehr zufrieden sind, wie Ikea oder McDonalds.

9.4.8 Hijob Hijob ist ein weiteres der wenigen Unternehmen in diesem Segment, das hier in Deutschland gegründet wurde. Hier ist es die Kombination aus Matching-Lösung und Jobbörse. Als Bewerber kann man dort seinen CV hochladen oder sich mit seinem Xing-/LinkedIn-Profil verbinden, um die notwendigen Daten zu erhalten. Dann werden die entsprechenden Jobs über den auf KI basierenden Matching-Algorithmus ausgewählt und angezeigt. Das Auslesen sowohl aus dem Lebenslauf als auch aus den OnlineProfilen klappt sehr gut und ohne Fehler und auch die Jobangebote sind grundsätzlich sehr gut passend, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass Hijob schon einige Jahre Erfahrung in der Auslesung der deutschen Sprache hat.

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9.5 Hat künstliche Intelligenz ein Akzeptanzproblem? Bei aller Begeisterung für neue Themen, insbesondere im Kontext neuer Technologien, darf man das Thema der Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Die Akzeptanz von Bewerbern und Recruitern von Lösungen von KI wird ein Indikator dafür sein, wie erfolgreich solche Recruiting-Lösungen am Markt sein werden. Es gibt ein paar Studien im deutschsprachigen Bereich, die sich bereits mit diesem Thema etwas intensiver beschäftigt haben. Etwas genauer beleuchten werde ich hier die Ergebnisse der aktuellen Studie von Dahm und Dregger (2018), die Social-MediaPersonalmarketing-Studie von Petry (2018) sowie die Digital-Talent-Studie (2018) von Viasto. Allgemeine Einstellung Richtung künstlicher Intelligenz im Recruiting Bei der Studie von Dahm/Dregger wurden verschiedene Szenarien betrachtet und es zeigte sich, dass die Akzeptanz stark vom Prozessschritt abhing. Übergeordnet kam der Punkt der Wertschätzung stark in den Vordergrund, der gemeinsam mit dem Wunsch, mit einem Menschen zu kommunizieren, einher ging. Je nach Situation präferierten mehr als drei Viertel der Bewerber eindeutig einen Menschen – und mehr als die Hälfte der Teilnehmer würden sich durch den Einsatz einer KI in der gleichen Situation weniger wertgeschätzt fühlen. Laut Viasto-Studie erwarten sowohl Bewerber (76,4 %) als auch Recruiter (79,5 %), dass KI zukünftig das Recruiting prägen wird. Interessanterweise fühlen sich mehr Bewerber (6,6 %) als Recruiter (4,8 %) sehr gut darauf vorbereitet; 47,3 % der Teilnehmer sehen diese Entwicklung jedoch skeptisch. Welche Szenarien sind eher denkbar bzw. nicht denkbar Die Teilnehmer der Studie von Dahm und Dregger wurden mit drei Szenarien konfrontiert und diese sollten sie aus Bewerbersicht in eine präferierte Reihenfolge geben. Szenario 1, der Chatbot in einer Stellenanzeige, wurde von der Mehrheit der Teilnehmer als am besten eingestuft. Szenario 2, eine KI, die eine Vorauswahl aufgrund der Bewerbungsunterlagen durchführt, wurde mehrheitlich als Platz 2 gewählt, aber auch noch mit einem relativ hohen Anteil auf Platz 1. Das dritte Szenario, Erstellung eines Persönlichkeitsprofils durch ein Telefoninterview mit einer KI, wurde mit weitem Abstand am schlechtesten bewertet. Bei der Studie von Petry gab es eine Mehrheit von 56 % der Teilnehmer, die der Nutzung von KI für Matching-Lösungen positiv entgegensteht, sofern man dadurch alternative Jobangebote bekäme, die noch besser passen würden. Sowohl bei Persönlichkeitsanalyen aufgrund von Sprachanalyse (2 %), als auch Telefoninterviews über KI (5 %) sieht man nahezu keine Zustimmung.

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Ähnlich wie bei der Studie von Petry, zeigte auch die Viasto-Studie, dass Bewerber gut mit Matching-Lösungen leben können – dies gaben 66,7 % der Teilnehmer an. Daneben können sich die Teilnehmer sehr gut vorstellen, dass KI dabei unterstützt, dass Recruiter fairere sowie objektivere Entscheidungen treffen. Nur ein sehr geringer Anteil der Teilnehmer ist hier skeptisch – bei der objektiveren und diskriminierungsfreieren Analyse der Bewerbungsunterlagen sind nur 15,5 % der Teilnehmer skeptisch und als Hilfe für objektivere Interviewfragen stehen nur 13,2 % der Teilnehmer dem Einsatz von KI skeptisch gegenüber. Wann KI im Recruiting Sinn macht Bei der Frage, welche Maßnahmen zu einer Akzeptanz von KI im Recruiting beitragen würden, war die Antwort bei mehr als 70 % der Teilnehmer der Studie von Dahm und Dregger, dass man erklärt haben möchte, warum KI in diesem Prozessschritt eingesetzt wird und idealerweise zusätzlich einen menschlichen Ansprechpartner hat. Der Mensch als wichtiger Ansprechpartner ist auch ein wichtiger Faktor bei Petry: 52 % seiner Studienteilnehmer fanden es akzeptabel, wenn KI Teile übernehmen würde, sofern in den wichtigen Punkten die Interaktion mit dem Menschen stattfindet. Bei der Viasto-Studie gingen die Ergebnisse stark in Richtung einer Mehrwerterklärung, die häufig nicht stattfindet und damit für Bewerber das Gefühl einer Blackbox hat. Die Teilnehmer befürworteten die Nutzung von KI, wenn dadurch beispielsweise andere Personen mit einer besseren persönlichen Passung (62,4 %), fachlichen Passung (64,1 %) oder Führungsfähigkeit (60,3 %) gefunden werden können. Kritische Betrachtung der Ergebnisse Man sollte bei der Betrachtung der Studienergebnisse jedoch nicht außer Acht lassen, dass sie sicherlich einen guten Indikator geben, aber in der ersten Linie bei einem solch weit fassenden Thema wie KI bewusst emotional aufgeladen wurde. Bei derart komplexen Themen wie KI mit so großen Einsatzfeldern sind allgemeine Umfragen nur ein Aspekt, der berücksichtigt werden sollte. Ich gehe so weit, dass die meisten Ängste und Abneigungen, die man gegenüber KI hat, nichts mit den Wesensmerkmalen der KI zu tun haben, sondern mit Wesensmerkmalen konkreter Anwendungen (Beispiel: Beide negativ bewerteten Techniken würden auch ohne selbstlernende Systeme funktionieren, wären dadurch aber nicht weniger negativ assoziiert). Insofern haben es jedoch alle drei Studien sehr gut gemacht, dass sie nicht nur auf einer abstrakten Ebene geblieben sind, sondern die Situationen immer genauer beschrieben haben, sodass sie greifbarer wurden. Der nächste sinnvolle Schritt wäre eine Simulation, bei der Bewerber solche Lösungen tatsächlich nutzen. Ich bezweifle nämlich, dass die meisten Teilnehmer überhaupt mit einigen der abgefragten Szenarien in der Praxis Kontakt hatten.

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9.6 Ausblick und Fazit In den kommenden Jahren werden sehr viele Anbieter auf den Markt kommen und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sich der Markt konsolidieren wird. Dazu muss aber auf Unternehmensseite noch mehr Kompetenz wachsen, um gute und seriöse Anbieter von weniger seriösen Anbietern auseinanderhalten zu können. Video- und Sprachanalysen sind zwar noch umstritten, aber es wird auch nur noch eine Frage der Zeit sein, bis man in diesen Bereichen so weit sein wird, dass hier komplett unumstrittene Ergebnisse erzielt werden können, die dann auch einen Mehrwert im Recruiting bringen können. Am Ende des Tages gehen wir Menschen genau so vor. Wir analysieren visuelle und auditive Eindrücke und bringen sie mit unserem Erfahrungsschatz und unserem Wissen in Einklang, um sie dann entsprechend zu bewerten. Dazu kommen dann noch unbewusste Faktoren, die sich häufig im Bauchgefühl widerspiegeln. Gleichzeitig werden durch den Einsatz von KI Bewerbungsverfahren anders ablaufen als in der Vergangenheit. Ich prognostiziere, dass die Akzeptanz bei Bewerbern von KI-basiertem Recruiting zunehmen wird, sobald die Gesellschaft sich stärker an die Interaktion mit Maschinen gewöhnt hat. Die Entwicklung der verschiedenen Dienstleister zeigt sehr deutlich, was auch die meisten Experten schlussfolgern: KI wird auf absehbare Zeit keine Bedrohung für den Beruf des Recruiters sein, sondern dafür sorgen, dass sich das Arbeitsfeld des Recrutiers ändern wird. KI wird die Aufgabe der Assistenz übernehmen, die wichtige Vorarbeit leistet, um die Entscheidungsfindung des Recruiters zu unterstützen.

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Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

Blick über den Tellerrand Wie andere Marktteilnehmer im Recruiting-Geschäft auf die Digitalisierung reagieren und was sich dort verändern wird

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Inhaltsverzeichnis 10.1 Die Digitalisierung macht keinen Halt bei Recruiting-Abteilungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 130 10.2 Wo ist der Bedarf besonders groß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 10.3 Wie wird die Digitalisierung zukünftig unsere Produkt- und Dienstleisterauswahl beeinflussen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 10.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Zusammenfassung

Die folgenden Seiten sind der Auftakt für einen Blick über den Tellerrand der Recruiting-Abteilungen hinaus, hin zu anderen Markteilnehmern, die mit Recruiting zu tun haben. Welche Arten von Dienstleistern und Kooperationspartnern haben sich bisher wie auf die Digitalisierung eingestellt und welche Auswirkungen hat dies auf uns? Diesen Fragen und der Frage, wie sich zukünftig unsere Auswahl von Dienstleistern durch die Digitalisierung verändern wird, wird sich auf den kommenden Seiten gewidmet. Die beiden nachfolgenden Kapitel vertiefen die Veränderungen durch ­Digitalisierung aus der Innensicht einer Jobbörse und eines Personalberaters.

T. Verhoeven (*)  Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_10

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10.1 Die Digitalisierung macht keinen Halt bei RecruitingAbteilungen Nachdem wir bereits sehr detailliert die neuen Möglichkeiten und Chancen der Digitalisierung betrachtet haben und erkennen konnten, wie sich Recruiting-Abteilungen in den kommenden Jahren möglicherweise verändern werden, bleibt die Frage offen, auf wen diese Veränderungen Auswirkungen haben bzw. noch haben werden. Der Erfolg einer Recruiting-Abteilung hängt i. d. R. auch davon ab, wie gut und performant die Dienstleister und Kooperationspartner sind, mit denen man zusammenarbeitet. In den folgenden beiden Kapiteln werden wir auf zwei der größten Bereiche noch einmal gesondert eingehen. Zum einen bekommen wir einen Einblick davon, wie Jobbörsen sich mit den Möglichkeiten und Veränderungen der Digitalisierung auseinandersetzen (Kap. 11). Daneben widmen wir uns einer Branche, die im Gegensatz zu Jobbörsen strukturell deutlich weiter vom Thema Digitalisierung entfernt ist und trotzdem momentan von Jahr zu Jahr neue Umsatzrekorde in Milliardenhöhe generiert: Personalberater (Kap. 12). Es bleibt jedoch nicht nur die Frage offen, wie sich Dienstleister und Kooperationspartner verändern werden, sondern mindestens genau so interessant wird es sein, genau zu betrachten, wie sich die explizite Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Recruiting-Abteilungen durch die neuen digitalen Technologien ändern wird. Werden wir die Auswahl komplett anders machen? Wird es neue Standards und Zertifizierungen geben? Werden sich möglicherweise die Kompensationsmodelle auch komplett ändern? Dies sind alles Fragen, die man genauer beleuchten sollte. Unternehmen, die grundsätzlich eine hohe Innovationsfähigkeit haben, wie viele Recruiting-Start-ups, werden hier nicht gesondert betrachtet, weil zum einen diese Gruppe sehr heterogen ist und zum anderen das Augenmerkt bewusst auf die Marktteilnehmer gerichtet sein soll, die schon länger auf dem Markt sind und die sich der Digitalisierung anpassen mussten. Grundsätzlich werde ich keine Negativbeispiele einzelner konkreter Firmen hervorheben, sondern höchstens positive Ausnahmen vorstellen und mich ansonsten auf die Betrachtung einer kompletten Branche als Ganzes fokussieren. Folgende Branchen werden genauer betrachtet: • Jobbörsen1 • Personalberater • Anbieter von Bewerbermanagementsystemen • Anbieter von Weiterbildungen im Recruiting • Media-Agenturen2

1Hierunter

fallen alle klassischen Jobbörsen sowie Metasuchmaschinen, wie beispielsweise Indeed oder kimeta. 2Hierunter fallen alle Dienstleister, die für Medien- und Stellenanzeigenschaltung verantwortlich zeichnen, also klassische Agenturen, wie die Königsteiner Agentur, Territory Embrace oder Raven51, sowie data-driven Spezialisten, wie Vonq oder Wollmilchsau.

10  Blick über den Tellerrand

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10.2 Wo ist der Bedarf besonders groß Wenn wir uns die verschiedenen Möglichkeiten, Technologien und Innovationen der Digitalisierung anschauen, dann kann man mehrere Dimensionen betrachten, anhand derer man ablesen kann, wie intensiv die Digitalisierung fortgeschritten ist. Die digitale Basis Die Basis ist zunächst, dass grundlegende Strukturen des Geschäftsmodells digital umgesetzt oder übersetzt wurden. Hier kann man erst einmal grundlegend den meisten Dienstleistern attestieren, dass die Basis mehr oder weniger solide ist. Jede Branche hat in Summe die Basis erstellt und nutzt grundlegende digitale Tools und Prozesse. Veränderung des Geschäftsmodells durch die Digitalisierung Hierunter summieren wir alle Veränderungen, die Dienstleister oder Kooperationspartner durchgeführt haben, wodurch sich das eigene Geschäftsmodell oder Teile davon positiv durch die Möglichkeiten neuer Technologien verändert haben. Insbesondere Jobbörsen haben ihre Geschäftsmodelle komplett auf die Digitalisierung ausgelegt. Jedoch hat sich beispielsweise an der Art der Monetarisierung bisher bei den meisten Jobbörsen kaum etwas verändert. Man zahlt als Arbeitgeber pro Zeitintervall pro Anzeige. In seltenen Fällen gibt es Flatrate-Modelle. Hier arbeitet man jedoch noch mit einem Modell, das selbst vor zehn Jahren noch nicht modern war. Durch moderne Tracking- und Analytics-Systeme ist der Weg zu einem Pay-for-PerformanceModell längst überfällig. Nur wenige Anbieter, wie beispielsweise Indeed, gehen mit einem Cost-per-Click-Modell einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Jedoch ist hier noch Luft nach oben. Wenig Veränderung gibt es hingegen im Bereich der Personalberater. Bis auf die basalen Veränderungen durch digitale Datenbanken statt analoge Datenbanken und das Nutzen von sozialen Netzwerken zur Kandidatensuche und -ansprache hat sich relativ wenig verändert. Sowohl das Geschäftsmodell als auch die Monetarisierung sind noch wie in analogen Zeiten. Anbieter von Weiterbildungen im Recruiting, wie beispielsweise die Quadriga Hochschule, haben schon seit vielen Jahren einen Teil ihrer Angebote digitalisiert. Einige Kurse werden nicht nur live per Webinar mit interaktiver Benutzeroberfläche durchgeführt, in denen Teilnehmer auch mit dem Dozenten interagieren können; diese Kurse können auch zeitversetzt im Nachhinein konsumiert werden, wenn man am Live-Termin nicht teilnehmen kann oder die Inhalte noch einmal vertiefen möchte. Einbindung einfacherer digitaler Technologien Hierunter fallen Technologien, die heute schon ohne größeren Aufwand umsetzbar wären, wie eine gute Recruiting-Analytics-Lösung (Kap. 4), Matching oder Self-Assessments (Kap. 7).

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Die meisten Media-Agenturen sind aktuell in einem Umbruch – meiner Meinung nach, weil viele ein knappes Jahrzehnt in einem Dornröschenschlaf lagen und wenig Technologieaffinität bewiesen haben. Hätte ich vor zwei Jahren noch über die mangelnden Fähigkeiten der Branche geschrieben, bis auf wenige Ausnahmen, so muss ich das mittlerweile revidieren. Immer mehr Media-Agenturen sind sich dessen bewusst, dass sie nachlegen müssen, oder haben schon seit ein paar Jahren nachgelegt. Sicherlich auch, aber nicht nur, wurden diese Firmen getrieben von sehr digitalaffinen Firmen, wie ­Wollmilchsau und Vonq, die in den letzten Jahren durch data-driven Recruiting oder Mehr-Daten-weniger-Bauchgefühl einige Marktanteile gewinnen können. Einbindung komplexerer digitaler Technologien Hierunter summieren wir alle Technologien, die komplexer sind und deren Integration einen höheren Aufwand darstellt, wie beispielsweise künstliche Intelligenz (Kap. 9), Augmented Reality (Abschn. 2.4.3) oder Voice Commerce (Abschn. 2.4.1). Auch wenn man es als Bewerber i. d. R. noch nicht merkt, so sind die großen und marktführenden Jobbörsen technologisch schon sehr weit aufgestellt. Sowohl Indeed als auch Stepstone als auch in Einzelfällen kleinere Jobbörsen, wie Hijob, arbeiten schon sehr gut daran, sich in den kommenden Jahren gut aufzustellen. Ich gehe davon aus, dass die nächsten zwei bis drei Jahre hier noch viele Veränderungen mit sich bringen werden, die in die Breite kommuniziert werden. Von meinen Insider-Informationen abgesehen, wirkt es aber so, als würden die Jobbörsen ihre Ideen und Lösungen noch verstecken, wenn man bedenkt, dass kaum eine Jobbörse ein für die Preise adäquates Reporting liefert. Eigentlich wäre das personalintensive Geschäftsmodell der Personalberater prädestiniert für die Nutzung komplexerer digitaler Lösungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, oder auch komplexere Automatisierungslösungen. Jedoch tut sich hier in der Masse bisher nicht sehr viel. Die Methoden der meisten Personalberater gleichen sich aus technologischer Sicht wie ein Ei dem anderen. Möglicherweise gibt es auch noch kein Grund etwas zu ändern, da in dieser Branche bisher jedes Jahr großes Wachstum stattfand und das seit vielen Jahren (Murmann 2014, S. 8). Ich gehe jedoch davon aus, dass die ersten Personalberater, die sich hier mit neuen oder innovativen Ansätzen hervorheben, einen mittelfristigen Wettbewerbsvorteil.

10.3 Wie wird die Digitalisierung zukünftig unsere Produktund Dienstleisterauswahl beeinflussen Keine Frage, bisher läuft die Auswahl von Dienstleistern und Produkten im Recruiting alles andere als digital ab. Grundsätzlich sehe ich hier ein enormes Defizit an Transparenz und Vergleichbarkeit. Es fehlen Gütekriterien und Qualitätsstandards, wie sie in anderen Branchen üblich sind. Durch die Digitalisierungen sind anonymisierte und standardisierte Zufriedenheitsbefragungen bei Auftraggebern als auch bei Bewerbern eigentlich ein Must-have, um Dienstleister auszuwählen.

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Schauen Sie sich die Gesellschaft für Recruitingqualität an. Diese ist genau ­darauf spezialisiert, diesen Zustand zu verändern und in einzelnen S­ egmenten durch Qualitätsstandards mehr Transparenz und Vergleichbarkeit zu erzeugen. (Ullah 2018)

Daneben fehlt in unserer Branche eine Plattform, bei der man prüfen kann, wie zufrieden andere Kunden mit der Dienstleistung waren. Wenn ich einen Urlaub buche, schaue ich immer erst bei Tripadvisor, so wie fast 500 Mio. weitere Nutzer pro Monat (Statista 2018). Möchte ich einen Überblick über aktuelle Stromtarife haben, schaue ich mir Portale wie Check24 oder Verivox an. Wenn ich etwas Elektronisches kaufen möchte, wie einen neuen Fernseher oder einen neuen Backofen, dann vergleiche ich immer die Rezensionen auf Amazon, bevor ich etwas kaufe. Ja selbst bei der Wahl eines Arbeitgebers werde ich mehr oder weniger stark davon beeinflusst, was auf Portalen wie Kununu oder Glassdoor steht. Aber möchte ich eine Recruiting-Dienstleistung oder ein Recruiting-Produkt kaufen, dann stehe ich allein da und muss mich durch die Marketingversprechen der Dienstleister kämpfen. Ich bin mir absolut sicher, dass hier eine Marktlücke ist, die uns allen die Suche nach der Nadel im Heuhaufen erleichtern wird. Momentan läuft dies noch einzig und allein über Mund-zu-Mund-Propaganda in kleineren informellen Netzwerken, wo man sich gegenseitig hilft – von Experten für Experten. Wenn man keiner dieser Experten ist, hat man Pech gehabt und tappt im Dunkeln. Hier ist Potenzial für intelligente Lösungen, die uns allen helfen, die richtigen Dienstleister oder Produkte innerhalb kurzer Zeit zu finden.

10.4 Fazit Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels. Nicht nur wir als Recruiting-Verantwortliche stehen vor unaufhaltsamen Veränderungen, sondern auch unsere Dienstleister, Kooperationspartner und sonstige Anbieter. Wir stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen, denn auf der einen Seite sind viele von uns noch nicht so weit, wie sie gern im Bereich der digitalen Innovation wären, und auf der anderen Seite ist uns allen absolut bewusst, dass diejenigen, die hier die Vorreiterrolle einnehmen werden, einen Wettbewerbsvorteil haben werden. Zugleich werden diejenigen, die das Schlusslicht sein werden, einige Nachteile zu spüren bekommen. Vielleicht wird es auch hilfreich und notwendig sein, wenn wir einen Teil dieses Wegs der Veränderung gemeinsam gehen, denn wir benötigen genauso gute Dienstleister, wie die Dienstleister gute Kunden benötigen.

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Literatur Murmann. (2014). Personalberatung in Deutschland. 2014/2015 BDU e. V. (Hrsg). Bonn. Statista. (2018). Durchschnittliche Anzahl der monatlichen Unique Visitors von TripAdvisor vom 1. Quartal 2014 bis zum 3. Quartal 2018 (in Millionen). https://de.statista.com/statistik/daten/ studie/545059/umfrage/anzahl-der-monatlichen-besucher-von-tripadvisor/. Zugegriffen: 19. Jan. 2019. Ullah, R. (2018). Zertifizierung – Ihr Weg zu nachhaltiger Recruitingqualität, GfR Gesellschaft für Recruitingqualität. http://www.gesellschaftfuerrecruitingqualitaet.de/produkte/. Zugegriffen: 8. Jan. 2019.

Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

Wie die Jobsuche zur Traumjobsuche wird – und wie HR Tech dabei hilft

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Inhaltsverzeichnis 11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 11.2 Die Entscheidung für den richtigen Job ist eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 11.3 Warum der Cultural Fit so wichtig für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist . . . . . . . . . 139 11.4 Die Hälfte aller Entscheidungen für einen Job wird falsch getroffen. . . . . . . . . . . . . . . . 143 11.5 Bewerber erwarten unkomplizierte Prozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 11.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Zusammenfassung

Die Entscheidung für einen Job ist neben der Entscheidung für einen Partner und einen Wohnort die wichtigste Entscheidung im Leben eines Menschen. Sie bestimmt seine Lebensumstände und ist ein wichtiger Treiber der Zufriedenheit im Leben. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen die Entscheidung für einen Job auf einer möglichst breiten Informationsbasis treffen. Das können sie aber meist nicht: Viele Menschen wissen heute selbst bei Vertragsunterschrift nicht, wie ihr zukünftiger Arbeitsplatz aussieht, mit wem sie zusammenarbeiten werden oder ob sie ins Team passen. Das Ziel von StepStone ist es, das zu ändern. Wir wollen Menschen in die Lage versetzen, die richtige Entscheidung zu treffen. Durch den Einsatz innovativster Technologien helfen wir bei der Suche nach dem Traumjob und beschleunigen den Weg zum

R. Bauer (*)  Stepstone, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_11

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„­ perfect match“ zwischen Talenten und Unternehmen. Wir sind aber auch überzeugt: Am Ende bleibt die Entscheidung für den richtigen Job und den richtigen Kandidaten immer subjektiv.

11.1 Einleitung Die Fachkräftenachfrage in Deutschland ist in den letzten fünf Jahren um 30 % gestiegen – beinahe monatlich erreicht die Anzahl der Stellenausschreibungen für Spezialisten neue Rekordwerte (StepStone Fachkräfteatlas). Es besteht wenig Zweifel daran, dass der demografische Wandel diese Entwicklung weiter verstärken wird. In den meisten Unternehmen gibt es heute schon erfolgskritische Positionen, die nur mit Mühe besetzt werden können. Umsatzpotenziale können nicht gehoben werden, weil die dafür benötigten Mitarbeiter fehlen. Immer wieder ist die Rede von einem Arbeitnehmermarkt oder dem War for Talents. Eine nahezu paradiesische Ausgangslage für Fachkräfte auf der Suche nach dem Traumjob, sollte man meinen. Gleichzeitig zeigen aktuelle Studien regelmäßig, dass viele Mitarbeiter bereits innerlich gekündigt haben. Die Hälfte der Entscheidungen für einen Job wird falsch getroffen (Jobsuche im Fokus). Diese Aussage lässt sich auch umkehren: Die Hälfte der Entscheidungen für neue Mitarbeiter wird von Unternehmen falsch getroffen. Jede dritte Fachkraft in Deutschland hat eine neue Stelle schon einmal innerhalb von einem Jahr direkt wieder gekündigt (Jobsuche im Fokus). Viele von denen, die unzufrieden sind, aber im Unternehmen bleiben, leisten keinen wertvollen Beitrag oder schöpfen das Potenzial nicht aus, das ihre Position für den Erfolg der Organisation bietet (Recruiting mit Persönlichkeit). Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage: Wie passt das zusammen? Warum gibt es Hunderttausende offene Stellen und die Menschen haben trotzdem das Gefühl, nicht den richtigen Job zu finden? Wie kann es sein, dass Bewerber im digitalen Zeitalter wochenlang auf ein Feedback warten? Warum fühlt sich der erste Arbeitstag für viele an wie ein Blind Date? Oder andersherum gefragt: Wie kommt es, dass Unternehmen Mitarbeiter einstellen, die letztlich doch nicht passen? Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, warum es Menschen auch im Jahr 2018 immer noch schwerfällt, den Traumjob zu finden. Wir als Online-Jobplattform haben uns das anspruchsvolle Ziel gesetzt, Menschen mit dem richtigen Job und Unternehmen zu verbinden. Warum das eine hochkomplexe Aufgabe ist und wie wir diese angehen, wird nachfolgend erläutert. Zudem soll es darum gehen, welche Rolle die Digitalisierung im Allgemeinen und HR-Technologien im Speziellen beim „perfect match“ spielen können – und welche nicht.

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11.2 Die Entscheidung für den richtigen Job ist eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben Wenn wir uns mit der Suche nach dem richtigen Job bzw. Mitarbeiter befassen, sollten wir uns klarmachen, welchen Stellenwert die Arbeit im Leben eines Menschen heute hat. Laut aktueller Statistiken investieren Fachkräfte im Schnitt ein Drittel des Tages in die Arbeit (StepStone Arbeitsreport). Hinzu kommt eine durchschnittliche Fahrtzeit von einer Stunde für den Hin- und Rückweg: 46 km werden für den Job pro Tag zurückgelegt, fast ein Monat im Jahr auf dienstlichen Reisen verbracht (StepStone Mobilitätsreport). Die meisten Menschen verbringen mehr Zeit mit den Kollegen als mit Freunden und Familie. Auch nach einem langen Arbeitstag ist der Job ein wichtiges Thema. So spricht die Mehrheit der Fachkräfte regelmäßig mit Freunden und Familie über den Job. Acht von zehn Fachkräften sind der Meinung, dass ihr Beruf ihr Privatleben beeinflusst – für 56 % auf negative Weise (Recruiting mit Persönlichkeit; StepStone Arbeitsreport). Eine AOK-Studie hat 2016 ergeben, dass Mitarbeiter, die sich am Arbeitsplatz unwohl fühlen, häufiger unter körperlichen und psychischen Belastungen leiden (Badura et al. 2016). Die Arbeit bestimmt außerdem unser Selbstbild und die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Die meisten möchten sich bei der Arbeit selbst verwirklichen: So haben 65 % der Fachkräfte ihren Beruf rein nach ihren persönlichen Interessen gewählt. Nur für sechs Prozent standen hohe Verdienstmöglichkeiten bei der Berufswahl im Mittelpunkt (StepStone Arbeitsreport). Kurz: Unser Job bestimmt maßgeblich, wie wir unseren Tag gestalten und wie wir uns fühlen. Die Entscheidung für den richtigen Job ist deshalb – neben der Wahl des Partners und des Wohnorts – eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben. Was Fachkräfte über Job und Arbeitgeber wissen müssen Angesichts der großen Bedeutung, die der Job im Leben hat, ist es nur logisch, dass Jobsuchende sich möglichst umfassend informieren wollen, bevor sie sich für einen Job entscheiden. Fachkräfte möchten wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie den Job wechseln – gerade, weil sie heute oftmals die Wahl haben und sich nicht aus der Arbeitslosigkeit heraus bewerben. Welche Faktoren Fachkräfte bei der Beurteilung eines Jobangebots helfen, zeigen aktuelle Marktforschungsergebnisse. Demnach ist Fachkräften besonders die Arbeitsweise sehr wichtig. Sie wollen wissen, inwieweit der Job es ihnen ermöglicht, der Arbeit einen persönlichen Stempel aufzudrücken: 92 % der Befragten wollen selbstständig Entscheidungen im Job treffen. Ebenfalls neun von zehn wollen Aufgaben auf ihre persönliche Art und Weise erledigen und 86 % der Befragten wünschen sich die Freiheit, neue Ideen auszuprobieren (StepStone Arbeitsreport; Abb. 11.1).

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Abb. 11.1   Ideen und Freiheit

Für die Mehrheit der befragten Fachkräfte ist die Arbeit viel mehr als ein Broterwerb: 62 % finden es wichtig, eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben. Das heißt nicht per se, dass sie mit ihrer Tätigkeit die Welt verbessern wollen – aber die Mehrheit möchte mit ihrer Arbeit einen positiven Effekt für den Unternehmenserfolg erzielen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sie Ziele und Strategie des Unternehmens kennen und nachvollziehen können: 71 % legen Wert darauf, dass sie wichtige Projekte übertragen bekommen (StepStone Arbeitsreport). Ein weiterer bedeutsamer Faktor für die Jobzufriedenheit ist das soziale Miteinander: Neun von zehn Befragten legen großen Wert darauf, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sie mögen; 77 % ist es wichtig, bei der Arbeit auf Unterstützung von ihren Kollegen zählen zu können (Abb. 11.2). Und Fachkräfte wollen sich bei der Arbeit nicht verstellen müssen: 93 % wollen im Job sie selbst sein können (StepStone Arbeitsreport). Ein erster Blick auf die entscheidungsrelevanten Aspekte verdeutlicht: Um herauszufinden, ob es sich bei einem Job um den richtigen handelt, brauchen Fachkräfte viel mehr als eine Tätigkeitsbeschreibung, wie sie bisher in Stellenanzeigen zu finden ist. Eine Jobentscheidung ist hochkomplex – und benötigt auch Informationen, die Rückschlüsse auf die Unternehmenskultur zulassen.

11  Wie die Jobsuche zur Traumjobsuche wird …

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Abb. 11.2   Erfolgserlebnisse und Zusammenarbeit

11.3 Warum der Cultural Fit so wichtig für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist Personalverantwortliche sollten sich klar machen, dass die Unternehmenskultur längst kein weicher Faktor mehr für die Mitarbeitergewinnung und -bindung ist. In der heutigen Wissensgesellschaft, in der sich Markt- und Wettbewerbsumfelder immer schneller verändern, ist das richtige Personal auf dem richtigen Posten entscheidender denn je. Denn das Rollenverständnis von Fachkräften hat sich grundlegend verändert. Ihr Anspruch ist, möglichst selbstbestimmt zu arbeiten. Mitarbeiter, die in der Lage und gewillt sind, eigenverantwortlich zu arbeiten, sind in Zeiten schneller Prozesse auch für Unternehmen unverzichtbar. Jede einzelne Mitarbeiterpersönlichkeit entscheidet heute über den Erfolg oder Misserfolg einer Organisation. Wenn der einzelne Mitarbeiter eigenverantwortlicher arbeitet denn je, steigt automatisch die Bedeutung erfolgreicher Rekrutierung. Doch wie sieht der perfekte Bewerber eigentlich aus? Natürlich sollte er die fachlich notwendigen Qualifikationen, eine einschlägige Berufserfahrung und die relevanten Soft Skills mitbringen. Doch macht die Summe der passenden Eigenschaften einen Kandidaten wirklich zur bestmöglichen Besetzung, dem angestrebten „perfect match“? Wahrscheinlich nicht. Denn dass Mitarbeiter trotz all ihrer Qualifikationen nicht motiviert bei der Sache sind, sich nicht

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ins Team einfügen können und unterm Strich keinen wertvollen Beitrag leisten, kommt in der Realität häufiger vor, als es Personalverantwortlichen lieb ist. Die Folge solcher Fehlbesetzungen: enorme Kosten für das Unternehmen, hoher zeitlicher Aufwand und Unruhe bei den Mitarbeitern. Und über allem schwebt die Frage nach dem Grund für den Mismatch. Eine häufige Antwort: Es fehlt der Cultural Fit. Unter Cultural Fit versteht man den Grad der Übereinstimmung zwischen einem Bewerber und einem Unternehmen in Bezug auf Normen, Werte und Verhaltensweisen. Kann der Bewerber sich mit der im Unternehmen gelebten Kultur identifizieren? Entsprechen der Umgang unter Kollegen, der Führungs- und Kommunikationsstil sowie die Vision des Unternehmens seinen Vorstellungen? Um schon zu Beginn des Recruiting-Prozesses nur die wirklich passenden Bewerber anzusprechen, sollten Arbeitgeber sich ihrer Unternehmenskultur bewusst sein und diese schon in den Stellenanzeigen offensiv kommunizieren. Viele Unternehmen schrecken aber immer noch davor zurück, klare Kante zu zeigen und präzise zu kommunizieren, welche Persönlichkeiten und Arbeitsweisen zu ihnen passen und welche nicht. Doch mit oberflächlichen Beschreibungen ist nichts gewonnen, denn Arbeitgeber haben letztlich nichts davon, einen Stapel Bewerbungen von unpassenden Kandidaten zu erhalten, oder, noch schlimmer, Bewerber einzustellen, die das Unternehmen dann enttäuscht in der Probezeit verlassen. Unternehmen müssen den Blick hinter die Kulissen gewähren Voraussetzung für eine präzise Kommunikation der Unternehmenskultur im Bewerbungsprozess ist es, die eigene Unternehmenskultur zu kennen. Doch nur knapp sechs von zehn Unternehmen haben eine definierte Unternehmenskultur (Recruiting mit Persönlichkeit). Nur vier von zehn Recruitern sind der Meinung, dass die Kultur ihrer Unternehmen offensiv genug nach außen kommuniziert wird (Recruiting mit Persönlichkeit). In Zeiten, in denen Unternehmen im Wettbewerb um die besten Talente stehen, sind diese Ergebnisse doch sehr verwunderlich. Um die – natürlich immer etwas schiefe – Parallele zur Produktkommunikation zu ziehen, dem Product Branding: Würde ein Unternehmen sich mit seinem Produkt auf den Markt trauen, ohne die Alleinstellungsmerkmale analysiert und definiert zu haben und ohne diese den anspruchsvollen Verbrauchern gegenüber offensiv zu bewerben? Nein. Wenn doch, würde das Produkt ein Ladenhüter. Die Mehrheit der Arbeitgeber verhält sich aber immer noch so, als wäre ihr Produkt – die von ihnen angebotene Stelle, sie selbst als Arbeitgeber – ein Selbstläufer. Die meisten Arbeitgeber geben den Bewerbern vor dem Vorstellungsgespräch keine Chance, sich über die Unternehmenskultur zu informieren. Nur vier von zehn Arbeitgebern liefern Informationen auf der Karrierewebseite oder in Stellenanzeigen, die Rückschlüsse auf die Kultur zulassen (Abb. 11.3). Eine umfassende Stellenanzeigenanalyse zeigt, dass die meisten Unternehmen darin rein gar nichts über Unternehmenskultur, das Miteinander von Kollegen oder das Arbeitsklima verraten (Recruiting mit Persönlichkeit). Dabei suchen Kandidaten aktiv nach solchen Informationen. Sie wollen wissen, welche Kultur bei einem potenziellen Arbeitgeber gelebt wird. Sechs von zehn ­Kandidaten

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Abb. 11.3   Unternehmenskultur in Stellenanzeigen

achten bei der Jobsuche gezielt auf den Cultural Fit. Für die Hälfte ist die Kultur eines Unternehmens der wesentliche Faktor bei der Entscheidung für oder gegen eine Bewerbung: 56 % der Befragten haben schon einmal den Job wegen einer unpassenden Unternehmenskultur gewechselt. Nur 14 % würden jede Unternehmenskultur akzeptieren, solange die Bezahlung stimmt (Recruiting mit Persönlichkeit). Die StepStone-Studie zeigt zudem einen klaren Zusammenhang zwischen Cultural Fit und Mitarbeiterzufriedenheit: Unter den Mitarbeitern, die mit ihrem Job zufrieden sind, können sich 59 % mit ihrem Unternehmen identifizieren (Abb. 11.4). Bei denen, die unzufrieden mit ihrer Stelle sind, können das nur neun Prozent (Recruiting mit Persönlichkeit). Welcher Führungsstil wird gepflegt? Wie werden Entscheidungen im Unternehmen getroffen – sind die Hierarchien flach oder eher nicht? Duzen sich die Kollegen untereinander? Ist Homeoffice akzeptiert? Wie ist es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bestellt? Sitzen die Mitarbeiter im Großraumbüro oder in Einzelbüros? Das sind keine Kleinigkeiten, sondern entscheidungsrelevante Faktoren bei der Wahl des richtigen Arbeitgebers. Weitere Aspekte, zu denen die befragten Fachkräfte laut StepStone-Studie schon im Bewerbungsprozess informiert werden wollen, sind Angaben zu Motivationsmaßnahmen wie Firmenevents und Sachprämien sowie die Wachstumsstrategie des Unternehmens.

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Abb. 11.4   Zusammenhang Identifizierung mit Unternehmenskultur (UK) und Jobzufriedenheit

Oberstes Gebot für Unternehmen bei der Kommunikation ihrer Kultur ist Authentizität. Denn finden Bewerber später heraus, dass sich die tatsächliche Unternehmenskultur von der nach außen getragenen unterscheidet, ist die Enttäuschung groß und der Mismatch vorprogrammiert. Mehr als sechs von zehn befragten Kandidaten sind schon einmal über die Kultur eines Unternehmens im Bewerbungsprozess getäuscht worden (Jobsuche im Fokus; Recruiting mit Persönlichkeit). Jobsuchende bekommen nicht die richtigen Informationen Halten wir also fest: Kandidaten wünschen sich umfangreiche und authentische Informationen – auch zu Arbeitsweisen und Unternehmenskultur. Diesen Anforderungen werden Stellenanzeigen oftmals nicht gerecht. Drei von vier Jobsuchenden in Deutschland sind der Meinung, dass die Informationen in Stellenanzeigen nicht oder nur teilweise ausreichen. Einblicke ins Büro? Konkrete Gehaltsinformationen? Auskunft zu Entwicklungsperspektiven? Zusatzleistungen und Mitarbeiterbenefits? Auch diese Informationen bekommt der Kandidat oft nicht, bevor er sich bewirbt. Und in den meisten Fällen hat er selbst bei Vertragsunterschrift keine Ahnung, mit wem er zusammenarbeiten wird und wie sein zukünftiger Arbeitsplatz aussieht. Ein Blick auf das Gros der Online-Stellenanzeigen zeigt außerdem: Die meisten Jobangebote unterscheiden sich optisch kaum von Printinseraten aus dem 20. Jahrhundert. Zwar hat sich die Mitarbeitersuche längst ins Netz verlagert, die digitalen Möglichkeiten wurden aber bislang nicht voll ausgeschöpft. Während die eine Anzeige tatsächlich

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Informationen über Mitarbeitervorteile beinhaltet, verrät die andere nicht einmal, wie viele Mitarbeiter der Arbeitgeber beschäftigt. Anders als bei Online-Plattformen in anderen Bereichen fehlt bei der Darstellung von Stellenangeboten ein Schema, das Jobsuchenden Orientierung bietet. Wer eine Immobilie auswählen will, kann sich i. d. R. an klar strukturierten Inhalten orientieren. Wer eine Waschmaschine kaufen will, weiß auf Anhieb, wo er Reviews und alle relevanten Produkt- und Anbieterinformationen findet. Vorgegebene Strukturen und Inhalte mit echtem Mehrwert ermöglichen einen schnellen Vergleich unterschiedlicher Angebote. Auf dieser Grundlage kann der Nutzer eine fundierte Entscheidung treffen. Menschen, die eine Stelle suchen, können das meist nicht bzw. nur mit großem Aufwand. Würden wir eine Beziehung mit jemandem eingehen, den wir kaum kennen? Gleich nach dem ersten Date zusammenziehen oder gar heiraten? Wohl eher nicht. Es mag Fälle geben, in denen das funktioniert, aber in den meisten sicher nicht. Nicht einmal ein Hotelzimmer würden wir heute buchen, ohne uns vorher über Lage und Service zu informieren, Fotos der Zimmer zu sichten und Bewertungen zu lesen. Und bei einem Hotelaufenthalt geht es um eine Nacht, vielleicht zwei Wochen – nicht um den Großteil der künftigen Lebenszeit. Ziehen wir ein Zwischenfazit: Die Entscheidung für den richtigen Job ist – neben der Wahl des Partners und des Wohnorts – eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben. Dennoch erfahren Kandidaten i. d. R. nur wenig über Job und Arbeitgeber, bevor sie sich entscheiden. Das führt dazu, dass viele eine falsche Entscheidung treffen.

11.4 Die Hälfte aller Entscheidungen für einen Job wird falsch getroffen Entscheiden sich Menschen für den falschen Job, hat das negative Folgen für jeden Einzelnen. Mitarbeiter, die unzufrieden sind, bremsen das Unternehmenswachstum. Die falsche Jobentscheidung eines Einzelnen wirkt sich auf den Erfolg von Organisationen aus und damit letztlich auf den Wohlstand der Gesellschaft insgesamt. Dass sich so viele Jobentscheidungen letzten Endes als falsch herausstellen, liegt aber nicht nur daran, dass Kandidaten zu wenig über Job und Unternehmen erfahren. Die Suche nach dem Traumjob fällt auch deshalb so schwer, weil viele gar nicht wissen, was sie können und welche Möglichkeiten sie eigentlich auf dem Arbeitsmarkt haben. Nicht wenige Menschen suchen erst einmal gar keinen Job, sondern benötigen Orientierung bei der Jobsuche. Unser Ziel ist es, bereits hier Lösungen anzubieten. Durch die Digitalisierung sind neue, oft stark spezialisierte Jobprofile entstanden, bekannte Jobprofile verändern sich oder verschmelzen mit anderen. Fähigkeiten und Kenntnisse werden wichtiger als formelle Abschlüsse. Hinzu kommt: Die wenigsten Studiengänge sehen die berufliche Laufbahn klar vor, Branchenwechsel und Quereinstiege werden geläufiger und akzeptierter. Das alles führt dazu, dass vielen Jobsuchenden mit einer starren Was- und Wo-Suchmaske wenig geholfen ist – denn sie wissen gar nicht, was sie dort eingeben sollen.

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Intelligente Technologien beschleunigen die Jobsuche Hier hilft u. a. unsere intelligente Suchtechnologie StepMatch, die von Suchmaschinenspezialisten beim Münchener Centrum für Informations- und Sprachverarbeitung (CIS) entwickelt wurde und in deren technologische Weiterentwicklung StepStone bereits seit 2011 investiert. StepMatch zieht Rückschlüsse aus Millionen von Suchaufträgen und überträgt diese auf neue Jobsuchen. Durch die Implementierung eines umfangreichen Begriffekatalogs und der Nutzung spezieller Sprachalgorithmen wird die individuelle Jobsuche bereits während der Eingabe verfeinert. Hunderte Entwickler, Linguisten und Datenspezialisten beschäftigen sich bei StepStone mit dem Suchverhalten von Kandidaten und Predictive Analytics, um vorherzusagen, welcher Job wirklich passt. Sie analysieren auch, warum Kandidaten eigentlich auf welche Art und Weise suchen und wie man ihnen dabei helfen kann, das zu finden, was sie wirklich suchen. Manchmal wissen wir, was Kandidaten suchen, bevor sie es selbst wissen. Funktionen wie z. B. die Skill-Suche ermöglicht es Jobsuchenden, Angebote nicht nach Titel, sondern auch nach Fähigkeiten und Kenntnissen zu filtern. Wir beobachten, dass die Anzahl der Skill-Suchen bei StepStone kontinuierlich steigert. Eine weitere neue Technologie hilft Fachkräften neuerdings bei der Orientierung – sie funktioniert ähnlich wie die Musikstreaming-Plattform Spotify. Mithilfe von Big Data und intelligenter Algorithmen wird aus dem Nutzungsverhalten abgeleitet, welche Jobs besonders relevant sind. Dadurch ist es möglich, die individuellen Skills und Interessen von Jobsuchenden in Echtzeit mit dem gesamten aktuellen Jobangebot abzugleichen und automatisch passende Jobvorschläge zu machen. Das Besondere: Anders als bei der Stellensuche über die Suchfelder „Was“ und „Wo“ können Kandidaten mit der neuen StepStone-Technologie auch solche Stellenangebote entdecken, die sie sonst möglicherweise verpasst hätten oder auf die sie selbst gar nicht gekommen wären. Auf der Grundlage ihres Lebenslaufs, ihrer Fähigkeiten, aber auch anhand ihres Suchverhaltens und persönlicher Interessen und Wünsche schlägt StepStone Jobsuchenden alle Karrierechancen vor, die für sie infrage kommen könnten. Menschen suchen ihren Traumjob, nicht irgendeinen Job Wir glauben, dass die wenigsten Menschen in Wirklichkeit nach „IT“ in „München“ oder „Marketing“ in „Hamburg“ suchen – sie suchen vielmehr nach einer Arbeitsumgebung, in der sie sich wohlfühlen, nach einem Job, den sie mit dem Fahrrad erreichen können oder nach einem Arbeitgeber mit aus ihrer Sicht sinnstiftenden Unternehmenszielen. Oder aber sie suchen erst einmal Orientierung bei der Frage, in welche Richtung ihre Jobsuche gehen könnte. Noch einmal: Fachkräfte suchen nicht irgendeinen Job, sondern ihren Traumjob. Arbeitgebern sollte das keinen Angstschweiß auf die Stirn treiben, denn es sind gute Nachrichten. Auch Recruiter wollen schließlich den „perfect match“: Passende, zufriedene Kandidaten, die sich mit dem Arbeitgeber identifizieren, ihre Fähigkeiten optimal

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und motiviert einbringen und das Unternehmen nebenbei noch weiterempfehlen und so neue Bewerber bringen. Wie bereits ausgeführt, funktioniert diese Traumjobsuche nur, wenn sich Jobs nach mehr als nur Jobtiteln und Anforderungen filtern lassen. Verfügbare Stellen müssen sich nach individuellen Präferenzen durchsuchen lassen und das durchaus auch sehr kleinteilig. Das wiederum geht nur, wenn Unternehmen umfassende Informationen zur Verfügung stellen – welche Informationen damit z. B. gemeint sind, wurde bereits ausgeführt. Mit der Umstellung sämtlicher Stellenanzeigen auf eine neue Anzeigenstruktur sind wir 2018 einen konsequenten Schritt in Richtung Traumjobsuche gegangen. Jobsuchende finden bei StepStone jetzt alle entscheidungsrelevanten Informationen über Job und Arbeitgeber gebündelt auf einer URL. Jedes bei StepStone veröffentlichte Stellenangebot bietet Jobsuchenden tiefe Einblicke ins Unternehmen, beispielsweise in Form von virtuellen Office-Führungen, Arbeitgeberbewertungen oder Informationen zur Unternehmenskultur. Die Liquid-Design-Anzeigenstruktur stillt also das Informationsbedürfnis von Menschen auf Jobsuche – und es schafft die Voraussetzung für eine dynamische, individualisierte Darstellung der Anzeigen. Der nächste Schritt wäre eine Ergebnisliste, die den persönlichen Bedürfnissen der Jobsuchenden entspricht und genau die Informationen hervorhebt, die für ihn von Interesse sind. Umgekehrt können Unternehmen für Jobsuchende genau jene Daten ausspielen, die ihnen wichtig sind – und erreichen Talente mit einer maßgeschneiderten Jobanzeige so punktgenau. Diese Art der Individualisierung sind Menschen von anderen Lebensbereichen übrigens längst gewohnt.

11.5 Bewerber erwarten unkomplizierte Prozesse Hat der Kandidat nun im Netz einen Job gefunden, der das Potenzial zum Traumjob hat, will er sein Interesse bekunden. Er will Kontakt zum Unternehmen aufnehmen. Dass diese Kontaktaufnahme immer noch Sich-bewerben heißt, geht auf Zeiten zurück, in denen die Verhältnisse noch umgekehrt waren: Unternehmen hatten kaum Stellen zu besetzen, ihnen standen aber ohne großen Aufwand viele mögliche Kandidaten zur Verfügung, Bewerber eben. Obwohl die Situation heute eine andere ist, machen viele Jobsuchende im Bewerbungsprozess immer noch eher leidvolle Erfahrungen. Einstellungsprozesse sind meist immer noch langwierig – trotz aller technischen Möglichkeiten, die Abläufe zu beschleunigen. Um ein paar Beispiele zu nennen: 75 % der Fachkräfte in Deutschland erwartet nach spätestens 14 Tagen eine verbindliche Rückmeldung zu ihrer Bewerbung – über eine Eingangsbestätigung hinaus. Der gesamte Bewerbungsprozess – von der Jobsuche bis zur Vertragsunterschrift – sollte für drei von vier Bewerbern (76 %) nach zwei Monaten abgeschlossen sein. Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden sich allerdings deutlich: Tatsächlich dauert die Jobsuche in Deutschland von der ersten Recherche bis zur Vertragsunterschrift im Schnitt sechs Monate (Kandidaten im Fokus).

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R. Bauer

Immerhin jeder vierte potenzielle Bewerber ist abgeschreckt, wenn der Arbeitgeber von ihm verlangt, das unternehmenseigene Online-Formular für die Bewerbung zu nutzen (Kandidaten im Fokus). In den meisten Fällen vermutlich, weil die Formulare zu lang und umständlich auszufüllen sind. Qualifizierte Talente haben heute die Auswahl und gehen im Zweifel den einfacheren Weg. Zudem wollen sie ihr digitales Lebensgefühl auch bei der Jobsuche behalten. Wer heute online einkauft, kann sich vor der Kaufentscheidung mit wenigen Klicks umfassend über ein Produkt informieren. Genau das erwarten Talente auch bei der Jobsuche. Und genau wie die Online-Bestellung am Folgetag geliefert wird, soll auch ein Bewerbungsverfahren schnelle Ergebnisse vorweisen. Neben komplizierten Prozessen bereitet auch das Anschreiben vielen Bewerbern Kopfzerbrechen. Die Formulierung eines individuellen Schreibens ist für fast jeden zweiten Jobsuchenden eine große Hürde im Bewerbungsprozess. Digitalen Bewerbungsoptionen wie einer One-Click-Bewerbung oder einer direkten Kommunikation mit dem Arbeitgeber per Kurznachricht hingegen steht die große Mehrheit der befragten Fachkräfte aufgeschlossen gegenüber. Die meisten Unternehmen verlangen aber immer noch dieselben Unterlagen wie im analogen Zeitalter: Für 67 % ist eine ausführliche und vollständige Bewerbung inklusive Anschreiben ein Muss. Immerhin: Ein Drittel der befragten Personaler würde auf eine individuelle Bewerbung mit Anschreiben verzichten, wenn sie dafür mehr Bewerbungen erhalten würden (Kandidaten im Fokus). Bewerber wünschen sich schnelles Feedback Wer Interesse signalisiert, braucht schnell Rückmeldung. Unternehmen sollten das Tempo ihrer Bewerbungsprozesse auf den Prüfstand stellen, denn begehrte Kandidaten sind nur wenige Tage am Markt verfügbar. Brauchen Unternehmen sechs Wochen, um zu reagieren, haben sie ihre Chance verwirkt. Tools wie die One-Click-Bewerbung von StepStone können dabei helfen, Prozesse zu vereinfachen. Das kurze Formular ist – anders als immer noch viele Applicant-Tracking-Systeme (ATS) bzw. Bewerbermanagementsysteme – mobil-optimiert und auf die wichtigsten Informationen beschränkt. Gerade bei schwer zu besetzenden Positionen macht es für Unternehmen Sinn, ein solches Tool einzubinden, gibt es intern keine entsprechende Lösung. Chatbots können helfen, Standardrückfragen zur Position zu beantworten. Sie ersetzen aber nicht den persönlichen Kontakt. Wichtig ist auch eine transparente Kommunikation im Bewerbungsprozess mit regelmäßigen Informationen für den Kandidaten. Welche Schritte sind überhaupt vorgesehen? Worauf kann er sich einstellen? Wie wird er im nächsten Schritt benachrichtigt? Wie ist der Status seiner Bewerbung? Selbst, wenn der Bewerber lange auf eine Rückmeldung warten muss, können Unternehmen ihn mit strukturierten und klaren Rückmeldungen an Bord halten. Die technischen Möglichkeiten sind längst gegeben, allerdings fehlt oft noch die Akzeptanz seitens der Unternehmen. Sie müssen sich von alten Gewohnheiten lösen,

11  Wie die Jobsuche zur Traumjobsuche wird …

147

wenn sie künftig im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter bestehen wollen. Klar ist: Wer den Bewerberwunsch nach Transparenz und einfachen Prozessen nicht erfüllt, wird langfristig das Nachsehen haben.

11.6 Fazit Die Ausgangslage für Jobsuche und Rekrutierung hat sich in vergangenen Jahren stark verändert: Menschen suchen nicht mehr irgendeinen Job, sondern den Traumjob. Rekrutierung ist für Unternehmen kein Selbstläufer mehr, sondern kostet viel Zeit und Geld. Schnell die passenden Mitarbeiter zu finden, ist derzeit die wohl größte Herausforderung für Unternehmen. Wir als Jobplattform bringen Talente und Unternehmen zusammen. Wir helfen Menschen, den Traumjob zu finden. Wir ermöglichen es Kandidaten, sich ein Bild von Job und Arbeitgeber zu verschaffen. Wir setzen innovativste Technologien ein, um Talente und Unternehmen miteinander zu verbinden. Am Ende finden wir den „perfect match“ aber nie allein: Wir sind darauf angewiesen, dass die Unternehmen etwas von sich preisgeben und umfassende Informationen über Job und Arbeitgeber bereitstellen. Nur so kann der Kandidat die richtige Entscheidung treffen, denn die Entscheidung für einen Job bleibt immer eine zutiefst menschliche Entscheidung. Denn wir glauben, die „human intelligence“ – also unser Bauchgefühl – trifft bessere Vorhersagen darüber, ob Menschen zusammenpassen.

Literatur Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Hrsg.). (2016). Fehlzeiten-Report 2016. Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen. Berlin: Springer. Jobsuche im Fokus. Eine Studie von Dr. Anastasia Hermann und Patricia Pela, herausgegeben im September 2018 von der StepStone GmbH. Online-Befragung unter insgesamt rund 30.000 Fach- und Führungskräften in Deutschland im 2. Quartal 2018. Kandidaten im Fokus. Eine Studie von Dr. Anastasia Hermann, herausgegeben im August 2017 von der StepStone GmbH. Online-Befragung unter insgesamt rund 20.000 Fach- und Führungskräften in Deutschland im 2. Quartal 2017. Recruiting mit Persönlichkeit. Eine Studie von Dr. Anastasia Hermann, herausgegeben im September 2017 von der StepStone GmbH. Online-Befragung unter insgesamt rund 25.000 Fach- und Führungskräften in Deutschland im Juli 2017. StepStone Arbeitsreport. Eine Studie von Dr. Anastasia Hermann und Patricia Pela, herausgegeben im September 2018 von der StepStone GmbH. Online-Befragung unter insgesamt rund 17.000 Fach- und Führungskräften in Deutschland im 2. Quartal 2018. StepStone Fachkräfteatlas. Monatliche Analyse der Entwicklung der Fachkräftenachfrage in Deutschland, bundesweit, regional und nach Berufsgruppen. Basis der Auswertung ist die Anzahl der Stellenausschreibungen auf allen relevanten Online- und Print-Plattformen in Deutschland seit 2012 (Quelle: Anzeigendaten.de). Mehr Informationen: http://www.fachkraefteatlas.de/.

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R. Bauer

StepStone Mobilitätsreport. Eine Studie von Dr. Anastasia Hermann und Patricia Pela, herausgegeben im März 2018 von der StepStone GmbH. Online-Befragung unter insgesamt rund 24.000 Fach- und Führungskräften in Deutschland im 1. Quartal 2018.

Rudi Bauer ist Chief Evangelist bei StepStone. Seit 2014 ist er außerdem Geschäftsführer von StepStone Österreich. Er verfügt über 25 Jahre Management- und Führungserfahrung in der Telekom-, IT- und Werbebranche. Er ist Mitbegründer der Wiener Agentur active concepts mit den Schwerpunkten Unternehmenskultur, Coaching, Strategieberatung und Teamentwicklung.

Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

12

Wie es Personalberater schaffen können, von der Digitalisierung zu profitieren und sich dadurch am Markt differenzieren können Oliver Neumann

Inhaltsverzeichnis 12.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 12.2 Personalberater in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 12.3 Digitalisierung und digitale Trends in der Personalberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 12.4 Ausblick in die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 12.5 Wie können sich Personalberatungen auf diesen Wandel einstellen?. . . . . . . . . . . . . . . . 157 12.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Zusammenfassung

Auch, wenn die Personalberaterbranche in Deutschland stetig wächst, so ist trotzdem gut erkennbar, dass dieser Markt vor einer Veränderung steht. Die Möglichkeiten einhergehend mit der Digitalisierung werden die Arbeitsweise, das Personal und die Transparenzanforderungen an Personalberatungen in Deutschland stark beeinflussen. Die Möglichkeiten, wie sich Personalberater darauf vorbereiten können, und welche Maßnahmen sinnvoll sind, um das richtige Know-how dafür aufzubauen, werden im Folgenden intensiv behandelt und teilweise mit Beispielen der Personalberatung ­Deininger Consultants erläutert.

O. Neumann (*)  DEININGER Unternehmensberatung GmbH, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_12

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150

O. Neumann

12.1 Einleitung Die Branche der Personalberater wächst ungehalten weiter in Deutschland, in einem ähnlichen Maß wie auch das Recruiting-Business allgemein. Während es jedoch in vielen anderen Teilbereichen des Recruiting-Markts von neuen Marktteilnehmern nur so wimmelt und neue Technologien und Geschäftsmodelle den Wettbewerb bestimmen, scheint die Personalberaterbranche noch in einem Dornröschenmarkt zu liegen und von der Digitalisierung kaum tangiert werden. Ist dies wirklich so oder schlummert mehr unter der Oberfläche, was man nur auf den ersten Blick nicht gleich erkennen kann? Ein tieferer Blick in die historische Entwicklung sowie den aktuellen Stand dieser Branche im Kontext der Digitalisierung zeigt im Folgenden sehr deutlich, dass und inwiefern sich dieser Markt in einer Transformationsphase bewegt und welche Entwicklungen unvermeidlich sein werden. Gleichzeitig wird sich auch der Frage gewidmet, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf Personalberatungen, Kandidaten und nicht zuletzt auch Kunden haben kann. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie man sich als Personalberatung das nötige Know-how hinzuziehen oder aneignen kann, um sich so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seiner Konkurrenz auf dem Markt zu verschaffen.

12.2 Personalberater in Deutschland Mit einem Marktwachstum von 10,3 % auf 2,19 Mrd. € ist das Geschäft der Personalberater auf einem Allzeithoch (Abb. 12.1). Gleichzeitig wird der Markt der Personalberater in Deutschland immer differenzierter und immer mehr Marktteilnehmer kommen in diesen hart umkämpften, aber trotzdem sehr lukrativen Markt. Laut BDO-Aussagen wurden im vergangenen Jahr mehr als 68.000 offene Positionen über Personalberater in Deutschland besetzt (vgl. Neuscheler 2018). Seit knapp 15 Jahren gibt es bis auf wenige Ausnahmen jedes Jahr zweistelliges prozentuales Umsatzwachstum (vgl. Murmann 2014, S. 8). Ohne größeres Wachstum hingegen ist die pure Anzahl an Personalberatungen in Deutschland laut Studien des Bundesverbands Deutscher Unternehmensberater e. V. (BDU; Murmann 2016). Dahingegen wachsen die Personalberatungen an sich kontinuierlich und werden immer größer. Stattdessen versuchen auch immer mehr ausländische Wettbewerber in den deutschen lukrativen Markt zu kommen, was die Konkurrenz erhöht. Dies sieht auch die Mehrheit der deutschen Personalberatungen so (vgl. Murmann 2016, S. 22) – in Summe stimmen 58 % aller Personalberater dieser Aussage zu. Die Unterteilung nach Größe der Personalberater in Deutschland wird in Tab. 12.1 dargestellt.

12  Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

151

Abb. 12.1   Umsatz der Personalberaterbranche in Deutschland von 2000 bis 2017 (in Anlehnung an Statista)

Tab. 12.1  Größenklassifizierung von Personalberatern in Deutschland Größenklassifizierung

Umsatzgrenzen pro Jahr

Große Personalberatungen

Mehr als 3 Mio € Jahresumsatz

Mittelgroße Personalberatungen

Zwischen 500.000 € und 3 Mio. € Jahresumsatz

Kleinere Personalberatungen

Weniger als 500.000 € Jahresumsatz

Die meisten erfolgreicheren Personalberatungen sind schon seit mehr als 30 Jahren im deutschen Markt unterwegs und haben auch einiges an Wandel mitgemacht – von Industrieauf- und abschwüngen bis hin zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich des digitalen Wandels. Eine ähnliche Situation findet sich auch in der Personalberatung Deininger Consulting, dessen Geschäftsführer ich bin. Wir haben uns 1981 gegründet und sind seitdem partnergeführt: Wir zählen seit mehr als 30 Jahren zu den Top Ten der in Deutschland ansässigen Personalberatungen, mit Hauptsitz in Frankfurt am Main sowie Niederlassungen in Beijing, Berlin, Delhi, Düsseldorf, London, Los Angeles, München, Mumbai, Pune, Rostock, Singapur, Shanghai und Warschau beschäftigen wir gegenwärtig 135 Mitarbeiter.

152

O. Neumann

Tab. 12.2  Klientenunternehmen werden Mandate zunehmend über Online-(Vermittlungs-)Plattformen ausschreiben und vergeben. (Murmann 2016, S. 22) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

40

Mittelgroße Personalberatungen

57

Kleinere Personalberatungen

65

Summe

52

Es gibt aktuell einige Themen, die schon jetzt unsere Branche stark verändern. Das Thema Datenschutz wird beispielsweise immer relevanter: 74 % aller Personalberatungen sehen dies auf Kundenseite, 73 % auch auf Bewerberseite als immer relevanter werdend an. In Summe stimmen vier Fünftel aller Personalberater der Aussage zu, dass das Thema Datenschutz immer relevanter wird (vgl. Murman 2016, S. 19 f.). Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass immer mehr Vermittlungsverträge von Personalberatern über Plattformen abgedeckt werden (Tab. 12.2).

12.3 Digitalisierung und digitale Trends in der Personalberatung Der Recruiting-Markt hat sich schon sehr stark verändert in den letzten 20 Jahren. Lebensläufe wurden postalisch verschickt und der beste Recruiting-Kanal war die Annonce im Stellenmarkt der Zeitung des Vertrauens. Heute sind Printstellenanzeigen nur noch auf dem vierten Platz der Präferenz von Bewerbern (Careerbuilder 2017, S. 7). Und bei den präferierten Bewerbungswegen dominieren fast ausschließlich digitale Möglichkeiten wie E-Mail-Bewerbung, Bewerbung per App oder ähnliche ­Lösungen. Nichts hat die Arbeitsweise von Personalberatungen jedoch so stark und nachhaltig verändert wie die Einführung von sozialen Netzwerken mit Fokus der geschäftlichen Kontaktpflege. Somit hat die Gründung von openBC 20031 eine Veränderung im deutschsprachigen Bereich in Gang gebracht, die noch bis heute Auswirkungen hat. Musste man vorher noch mühsam seine potenziellen Kandidaten über Strukturdaten von Bonnier oder Hoppenstedt händisch recherchieren und eigene analoge oder digitale Datenbanken pflegen, ergaben sich durch Netzwerke wie openBC, später XING oder LinkedIn ganz neue Möglichkeiten. Der Beruf des Researchers hat sich in dieser Zeit sehr stark geändert. So muss er sich heute mit komplexeren Datenbankabfragen und Booleschen Suchstrings auskennen, um

1Seit

2006 umfirmiert unter dem heute noch gültigen Namen XING.

12  Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

153

aus der Fülle der Kandidaten die Nadel im Heuhaufen zu finden, die inhaltlich passt und auch Interesse an einem Wechsel hat. Doch auch hier stehen die Zeichen eindeutig auf Veränderung. Rund drei Viertel aller Personalberatungen gaben an, dass sich das Jobprofil des Researchers auch in der Zukunft maßgeblich verändern wird (Tab. 12.3). Tendenziell sehen dies größere Personalberatungen eher als kleinere Personalberatungen. Personalberater sind sich auch bewusst, dass sich ihr eigenes Profil in den nächsten Jahren sehr stark ändern muss und wird. Über alle Größen hinweg sind sich Personalberater einig darüber, dass Personalberatung ganzheitlicher werden muss (Tab. 12.4). Auch dies wird zur Folge haben, dass sich Personalberatungen neue Kompetenzen aneignen müssen oder anders qualifiziertes Personal benötigen werden. Weiterhin schätzen Personalberater, dass sie zukünftig auch mehr digitaler Sparringspartner werden im Bereich Recruiting. Interessanterweise sind hier große Personalberatungen zurückhaltender als kleinere und insbesondere mittelgroße Personalberatungen (Tab. 12.5). Tab. 12.3  Das Jobprofil des Researchers wird sich maßgeblich verändern. (Murmann 2016, S. 20) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

74

Mittelgroße Personalberatungen

75

Kleinere Personalberatungen

66

Summe

72

Tab. 12.4  Personalberater werden zukünftig deutlich breiter aufgestellt sein müssen, um ihre Kunden ganzheitlich, z. B. auch in Fragen des Employer Branding zu unterstützen. (Murmann 2016, S. 21) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

64

Mittelgroße Personalberatungen

65

Kleinere Personalberatungen

64

Summe

64

Tab. 12.5  Personalberater werden für den Kunden ein wichtiger Ansprechpartner für digitale Recruiting-Lösungen und die Integration in deren Prozessabläufe. (Murmann 2016, S. 20) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

60

Mittelgroße Personalberatungen

79

Kleinere Personalberatungen

67

Summe

67

154

O. Neumann

Man darf zu Recht hinterfragen, ob es daran liegt, dass Personalberater sich selbst eine so enorm große Digitalkompetenz zuschreiben oder ob sie den Recruitern auf der anderen Seite eher eine sehr geringe Digitalkompetenz attestieren.

12.4 Ausblick in die Zukunft Die Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, haben das Potenzial, den Markt der Personalberater zu verändern. Dieses Thema birgt neben Risiken v. a. auch sehr viele Chancen, insbesondere für diejenigen Firmen, die sich rechtzeitig mit den möglichen Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigen. Einigkeit besteht bei der Ansicht, dass die Digitalisierung nachhaltig unser Geschäftsmodell verändern wird – und unsere Effizienz verbessern kann (Tab. 12.6). Dies gilt für alle Größenordnungen von Personalberatungen in Deutschland. Unterschiedlicher sieht es schon aus, wenn man die Details der Veränderung betrachtet. Bei der Frage, ob Algorithmen z. T. heutige Dienstleistungen im Bereich Research ersetzen können, stimmt nur rund die Hälfte der Personaldienstleister zu. Tendenziell gilt hier weiterhin: je kleiner die Personalberatung, desto geringer die Zustimmungsquote (Tab. 12.7). Wenn man bedenkt, dass es heute schon technisch möglich ist, durch z. T. selbstlernende Algorithmen, Teile des Research zu ersetzen, so ist es recht nahe liegend, wie viel Potenzial dort brach liegt. Das Thema Research ist eines von drei Themen, bei dem wir das höchste Potenzial für Veränderung sehen. Tab. 12.6  Die Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle von Personalberatern. Sie ersetzt nicht die Beratungstätigkeit, sondern macht sie effizienter. (Murmann 2016, S. 18) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

90

Mittelgroße Personalberatungen

92

Kleinere Personalberatungen

97

Summe

92

Tab. 12.7  Algorithmen werden die heutigen Research-Dienstleistungen z. T. ersetzen. (Murmann 2016, S. 22) Größenklassifizierung

Anteil Zustimmung (%)

Große Personalberatungen

56

Mittelgroße Personalberatungen

42

Kleinere Personalberatungen

39

Summe

47

12  Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

155

Wir haben ein sehr breites Netzwerk – sowohl Recruiting-Experten, als auch Experten, die beim Thema Digitalisierung und deren Teilbereichen (Robotics) Vorreiter sind. Wir sehen drei besonders relevante Themen, die in den kommenden Jahren unserer Meinung nach eine besonders große Veränderung mit sich bringen und unser Geschäftsmodell nachhaltig beeinflussen werden. Research Ein Großteil des Research findet heute schon in einem digitalen Umfeld statt. Nahezu jeder Kandidat hat eine Menge Daten im Netz hinterlegt. Da ist es nahe liegend, dass man diese Daten aggregiert und versucht, Muster zu erkennen. Durch Daten aus beispielsweise sozialen Netzwerken wird man zukünftig noch genauer die Wechselbereitschaft von Kandidaten ablesen können. Wenn man diese genau kennt, kann man sich auf weniger Kandidaten fokussieren und sich um diese intensiver bemühen. Schon heute bieten Firmen wie Talentwunder solche Services für externe Kandidaten an – oder auch IBM für die eigenen Mitarbeiter (vgl. Janzen und Semet 2017, S. 69). Auch durch weitere Formen der Automatisierung von einzelnen Arbeitsschritten sind hier enorme Effizienzgewinne, ohne dabei Qualitätsrisiken einzugehen, absehbar (Lechtleitner 2017, S. 46). Matching Ein möglichst hoher Fit zwischen Unternehmen und Kandidaten zu erzeugen, ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Personalberatung. Dabei gilt es neben klassischen, harten Fakten auch den Cultural Fit zu prüfen. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von erprobten Tools, die dieses Matching digital unterstützen können. Bei harten Fakten gibt es Tools wie IBM-Watson, die Lebensläufe auslesen und mit Anforderungsprofilen automatisiert abgleichen und die Ergebnisse in einem Scoring-Modell darstellen (vgl. Janzen und Semet 2017, S. 69). Für die Messung des Cultural Fit gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl an Lösungen. Hervorheben möchte ich hier den Kulturmatcher der Firma Cyquest, der auf dem Ebenenmodell von Edgar H. Schein (1984) basiert und 2017 für die Auszeichnung HR Excellence Award 2017 in der Kategorie Innovation des Jahres nominiert wurde. Daneben ist auch die Lösung cultural fit evaluator zu erwähnen, als gemeinsames Projekt der meta HR Unternehmensberatung GmbH, Ingentis Softwareentwicklung GmbH und DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie GmbH. Gemeinsam haben alle Lösungen, dass sie das Potenzial haben, die Effizienz der Zusammenarbeit zwischen Personalberatung, Kandidaten und Kunden deutlich zu optimieren – wie auch andere Formen von digitalisierten Assessments zeigen (Thomalla, Groschupf, Kühl 2017, S. 110). Candidate Relationship Management Der Erfolg einer seriösen Personalberatung hängt sehr stark davon ab, wie vertrauensvoll ihre Zusammenarbeit mit Kandidaten aussieht. Dies ist eine der natürlichen Stärken einer Personalberatung im Vergleich zu anderen Recruiting-Kanälen (Verhoeven 2016, S. 127).

156

O. Neumann

Diese Beziehung endet nicht nur bei der Besetzung eines Mandats, sondern sollte idealerweise über viele Jahre andauern. Nun ist der persönliche Kontakt zwischen Personalberater und Kandidaten sicherlich einer der wichtigsten Bestandteile diese Beziehung und dieser kann und soll auch nicht durch digitale Möglichkeiten ersetzt werden. Jedoch kann Software hier enorm hilfreich als Unterstützung sein. Was Firmen wie insbesondere Salesforce im Bereich Customer Relationship Management ermöglichen, kann auch genauso gut im Personalberater-Kandidaten-Verhältnis angewandt werden. Die Einstein-Lösung ermöglicht beispielsweise Themen wie Kundensegmentierungen, Aktivitätensteuerung, Kontakt-Frequenz-Optimierung basierend auf künstlicher Intelligenz zu verbessern (vgl. Saleforce Website o. D.). Diese Themen bieten sehr viele Möglichkeiten, um beide Seiten – sowohl Personalberater als auch Kandidaten – zufriedener zu machen und im besten Fall wird der Kandidat nicht einmal merken, dass dies aufgrund von digitalen Lösungen funktioniert. Unabhängig von den genannten Themen bleibt die Frage, ob die Digitalisierung auch vor weiteren Bereichen keinen Halt machen wird. Werden Geschäftsmodelle infrage gestellt? Werden komplette Wertschöpfungsketten neu gedacht? Wird es disruptive Veränderungen geben, die den Markt komplett neu ordnen werden? Solche Themen sind tatsächlich schwer prognostizierbar, aber man kann sich der möglichen Wahrheit Stück für Stück annähern. Solange sich nicht auch in den Recruiting-Abteilungen der Kunden etwas disruptiv ändert, wird es wohl eher eine kontinuierlich schneller werdende Evolution statt eine abrupte Revolution. Was sich für Personalberater ändern wird Personalberatungen, die auch noch mittel- und langfristig erfolgreich sein wollen, müssen spätestens jetzt anfangen, in die richtigen Personen und Systeme zu investieren, um nicht von der digitaleren Konkurrenz überholt zu werden. In der Wachstumsphase fällt das noch nicht so stark auf, aber der Zeitpunkt wird kommen. So langsam aber sicher gibt es mehr Kunden, die auch einen Anspruch von IT- und Digitalkompetenz an ihre Dienstleister haben, denn auch Kunden werden immer digitaler. Ob nun eine Allianz mit ihrem Google-Voice-Projekt, die Deutsche Bahn mit ihrer Sourcing-Automation oder BearingPoint mit ihrem 360-Grad-Recruiting-Analytics: Alle drei Projekte wurden in diesem Jahr mit den HR Excellence Award ausgezeichnet für digitale Lösungen im Recruiting (Human Resources Manager 2018). Was sich für Kandidaten ändern wird Für Kandidaten werden sich durch die aufgezeigten Veränderungen v. a. die Qualität und damit indirekt auch die Quantität der Ansprachen verändern. Wenn mehr und mehr intelligente Lösungen und Unterstützungen für Research und Matching existieren, wird dadurch zwangsläufig nicht zielgerichtete Ansprache immer seltener werden. Wenn sich Personalberatungen dann auch noch transparent ihre Qualität zertifizieren lassen, dann kann dies Kandidaten auch zusätzlich noch Orientierung geben und Vertrauen erzeugen. Bei

12  Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

157

­ eininger sind wir uns bewusst, dass es viel gibt, was wir an Innovationskraft von StartD ups lernen können. Deswegen pflegen wir gute Kontakte in die Recruiting-Start-up-Szene. Was sich für Kunden ändern wird In dem Moment, wo der Erfolg eines Dienstleisters immer mehr von dessen digitalen Lösungen und der Fähigkeit, diese sinnvoll zu nutzen, abhängt, da wird die richtige Auswahl der Dienstleister anhand von transparenten Kriterien noch wichtiger. Nur so kann man verschiedene Personalberater mit verschiedenen Ansätzen und Lösungen miteinander vergleichen. Eine der wenigen Möglichkeiten, wie man sich hier einen objektiven Vergleich verschaffen kann, ist die Zertifizierung der Gesellschaft für Recruitingqualität (Ullah 2018). Dort werden Personalberatungen transparent und objektiv in verschiedenen Kriterien anhand von acht Dimensionen geprüft – auch mit großem Anteil an Innovation, Digitalisierung und dem sinnvollen Einsatz von IT.

12.5 Wie können sich Personalberatungen auf diesen Wandel einstellen? Wenn Personalberatungen diesen Weg nicht beschreiten, wird es für sie deutlich schwerer werden, sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Wenn sie jedoch bereit sind, sich dem Wandel zu stellen, dann bedeutet dies v. a. eines: Man muss sich auf die Veränderung einlassen. Dazu bedarf es in erster Linie einer schonungslosen Ist-Analyse. Schonungslos deswegen, weil man in unserer Branche in den letzten Jahren bei den Wachstumsraten nur über die Höhe des Erfolgs diskutiert hat und selten darüber, ob man erfolgreich sein wird. Man ist möglicherweise nicht mehr so daran gewöhnt, den Finger in der Wunde zu fühlen. Deswegen sind grundlegende Veränderungen häufig aus der Not heraus geboren und nur in seltenen Fällen in Phasen, in denen es bergauf geht. Am besten klappt dies, wenn man sich einen externen Partner ins Boot holt, der unvoreingenommen die Prozesse, Methoden und das Personal untersucht. Daneben gibt es aus meiner eigenen Erfahrung drei essenzielle Dinge, die beherzigt werden sollten, wenn man sich als Personalberatung in diesen Themen verbessern möchte. Experten als Sparringspartner Ob als Beirat, externer Berater oder in welcher Form auch immer: Nehmen Sie sich echte Experten als Sparringspartner ins Boot. Nutzen Sie das Know-how und die Netzwerke von solchen Personen als Quelle der Inspiration und als denjenigen, der unangenehme Fragen stellt und die Finger in die Wunde legt. Nehmen Sie niemanden, der nur in seinem Elfenbeinturm lebt und von Recruiting nur aus der Theorie Ahnung hat, sondern jemanden, der nachgewiesen hat, dass er sich mit Digitalisierung und Innovation im Recruiting auskennt. Suchen Sie sich lieber einen innovativen Recruiting-­Leiter unter 40 als einen Personalvorstand jenseits der 60. Bei Deininger pflegen wir einen

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engen ­Kontakt zu einzelnen Vorreitern im Bereich des digitalen Recruitings, die selbst als Autoren, Blogger und/oder Dozenten aktiv sind und auf eine mindestens zehnjährige Erfahrung im Recruiting zurückblicken können. Vernetzung mit Start-ups Wenn man Innovation und Digitalisierung lernen möchte, dann ist es eine sehr gute Wahl, sich mit Unternehmen zusammenzusetzen, deren Hauptbestandteile genau diese Themen sind. Hier ist enorm viel Potenzial für eine Win-win-Situation, denn jungen Start-ups mangelt es häufig an der notwendigen Erfahrung, die die meisten Personalberatungen mitbringen. Vieljährige Erfahrung, Kundenbeziehungen und die Fähigkeit, ein Unternehmen über viele Jahre wachsen zu lassen, auf der einen Seite und Innovationsdrang, Technikaffinität und Verständnis von digitalen Wertschöpfungsketten auf der anderen Seite. Die richtigen Netzwerke Auch beim Thema Netzwerken – eigentlich eine Paradedisziplin von Personalberatern, ist noch Luft nach oben – zumindest in diesem Kontext. So sind insbesondere mittelgroße und große Personalberatungen zwar auf sehr vielen C-Level-Events zu finden, um ihre Kontakte zu Kunden und Kandidaten zu pflegen, auf echten Digital-Events im Recruiting sucht man sie i. d. R. jedoch vergebens. Gerade die mittelgroßen Nicht-08/15-Events, die momentan immer mehr auf den Markt drängen, eignen sich dazu, um Inspiration zu bekommen und echte Recruiting-Innovatoren kennenzulernen. Beispielsweise die HR-Tec-Night, diverse HR-Barcamps oder die HR-Failure-Night sind neue und frische Formate, die sich lohnen zu besuchen. Es stellt sich sicherlich die Frage, wie man all die Veränderungen und neuen Ideen umsetzen möchte, ohne das eigene Geschäft und den eigenen Markenkern zu ­schädigen. Wir hatten uns im Zuge dieser Frage dazu entschlossen, eine Tochterfirma genau mit diesen Themen in den Fokus zu rücken. Unsere 100 %ige Tochter Eurosearch hat sich explizit auf digitale Recruiting-Ansätze fokussiert und schafft es so, Themen und Transformationen anzugehen, die in einem größeren und gewachsenen Umfeld schwieriger wären. Am Ende des Tages muss es aber zur jeweiligen Struktur passen und allen Seiten einen Mehrwert bringen, ob nun als eigene, neue Business Unit oder als Teil des normalen Geschäfts.

12.6 Fazit Wir als Personalberater benötigen Mut, um uns dem Wandel der Digitalisierung vollends zu stellen. Diejenigen von uns, die hier als erstes intelligent am Markt agieren werden und bei sich selbst die häufig zitierte digitale Transformation sinnvoll umsetzen, werden

12  Auswirkungen der Digitalisierung auf Personalberatungen

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einen großen Vorsprung am Markt haben. Sie können sowohl bei Kunden als auch bei Kandidaten neue Maßstäbe in Richtung zeitgemäßer Professionalität und Effizienz an den Tag legen und damit auch die eigene Marke mit neuen Themen aufladen. Der Markt ist bereit dazu – einzelne Unternehmen sind schon weit und erwarten auch, dass sich Personalberater dahin entwickeln. Dadurch wird Veränderung zu einer Möglichkeit zur echten Differenzierung und diese ist in unserem Geschäft bisher nicht so einfach gewesen.

Literatur Careerbuilder. (2017). Die Candidate Journey. Careerbuilder, München. https://www.mynewsdesk. com/material/document/71882/download?resource_type = resource_document. Zugegriffen: 17. Dez. 2018. Human Resources Manager. (2018). Gewinnerliste 2018, HR excellence awards 2018, https:// www.hr-excellence-awards.de/best-of-2018/. Zugegriffen: 16. Dez. 2018. Janzen, D. H. & Semet (2017). Digitale Transformation – Human Resources im Wandel. In K. Schuchow & J. Gutmann (Hrsg.), HR-Trends 2018 – Strategie, Kultur, Innovation, Konzepte. Freiburg: Haufe-Lexware. Lechtleitner. (2017). Wenn Algorithmen entscheiden, in Human Resources Manager März/April 2017. Berlin: Quadriga Media. Murmann, J. (2014). Personalberatung in Deutschland 2014/2015. BDU e. V. (Hrsg), Bonn. Murmann, J. (2016). Personalberatung in Deutschland 2016/2017. BDU e. V. (Hrsg), Bonn. Neuscheler. (2018). Umsatzrekorde für die Headhunter. F.A.Z. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/umsatzrekord-fuer-die-headhunter-personalberater-profitieren-von-konjunktur-15639432. html. Zugegriffen:16. Dez. 2018. Schein. (1984). Coming to a new awareness of organizational culture, in sloan management review. Massachusetts: Massachusetts Institute of Technology. Salesforce Website. (o. D.). Lernen Sie Salesforce Einstein kennen – die KI für alle, salesforce. com, München. https://www.salesforce.com/de/products/einstein/overview/. Zugegriffen: 14. Dez. 2018. Thomalla, S., Groschupf, F., & Kühl, H. S. (2017). Personalauswahl trifft Data Analytics. In K. Schuchow & J. Gutmann (Hrsg.), HR-Trends 2018 – Strategie, Kultur, Innovation, Konzepte. Freiburg: Haufe-Lexware. Ullah, R. (2018). Zertifizierung – Ihr Weg zu nachhaltiger Recruitingqualität. GfR Gesellschaft für Recruitingqualität. http://www.gesellschaftfuerrecruitingqualitaet.de/produkte/. Zugegriffen: 16. Dez. 2018. Verhoeven. (2016). Der Einfluss von Personalberatern auf die Candidate Experience. In Verhoeven (Hrsg.), Candidate Experience – Ansätze für eine positiv erlebte Arbeitgebermarke im Bewerbungsprozess und darüber hinaus. Wiesbaden: Springer-Gabler.

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O. Neumann Oliver Neumann ist einer der geschäftsführenden Gesellschafter der Deininger Unternehmensberatung. Herr Neumann war zunächst mehrere Jahre für zwei internationale Banken tätig. Anschließend leitete er drei Jahre die Practice Group einer amerikanischen Personalberatung. Der Schwerpunkt seiner heutigen Tätigkeit liegt in der Suche und Auswahl von Managern der ersten und zweiten Führungsebene sowie in der Beratung zur strategischen Besetzung von Beiräten, Vorständen und Aufsichtsgremien.

Nur etwas für Konzerne oder klappt Recruiting Analytics auch im Mittelstand?

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Marcel Rütten

Inhaltsverzeichnis 13.1 Wie steht es um die Candidate Experience meines Unternehmens?. . . . . . . . . . . . . . . . . 162 13.2 Welche Arten von Analysen gibt es?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 13.3 Gründe für den Einsatz von Recruiting Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 13.4 Recruiting Analytics in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 13.4.1 Touchpoints während der Candidate Journey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 13.4.2 Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 13.4.2.1 Karriereseite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 13.4.2.1.1 Web Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 13.4.2.1.2 Heatmaps. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 13.4.2.2 Bewerbermanagementsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 13.4.2.3 Stellenbörsenstatistiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 13.4.2.4 Social Media. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 13.4.2.5 Arbeitgeberbewertungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 13.4.2.6 Befragungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 13.4.3 Die wichtigsten Recruiting Key Performance Indicators . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 13.4.3.1 Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 13.4.3.2 Kostenanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 13.4.3.3 Qualität bzw. Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 13.4.4 Aufbau eines Recruiting Analytics Dashboards – Business Intelligence im Recruiting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 13.5 Die Rolle des Recruiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

M. Rütten (*)  Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_13

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Zusammenfassung

Fehlentscheidungen im Recruiting können kostspielig werden. Daher gilt es sie vermeiden. Um Ursachen für Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und proaktiv Veränderungen zu bewirken, kann Recruiting Analytics die Lösung sein. Doch gerade mittelständische Unternehmen tun sich noch schwer bei der Implementierung. Doch wer die relevanten Berührungspunkte zu Kandidaten identifizieren kann, vorhandene Datenquellen für sich nutzt und die richtigen Key Performance Indicators festlegt, kann schnell erkennen, wie effektiv einzelne Maßnahmen wirken, Transparenz über den gesamten Recruiting-Prozess erreicht wird und das eingesetzte Budget deutlich effizienter genutzt werden kann.

13.1 Wie steht es um die Candidate Experience meines Unternehmens? Denken wir an folgende Situation: Gemeinsam mit dem Partner oder der Partnerin schlendern wir von Gang zu Gang durch das Möbelhaus auf der Suche nach der neuen Einrichtung. Nachdem wir in aller Ruhe jede Abteilung durchstöbert haben, erwartet uns der Horror: die Warteschlange an der Kasse! Schlagartig verlässt uns die Geduld, die Stimmung kippt und das komplette Einkaufserlebnis ist dahin. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es warten zu viele Personen an der Kasse, das Tempo der Kassierer wirkt auf uns nicht schnell genug oder die Kunden, die vor uns an der Reihe sind, stellen einfach zu viele Fragen während des Kassiervorgangs. Unsere Zufriedenheit als Kunde kann also mit einem einzigen Berührungspunkt stehen und fallen – selbst, wenn der Rest der Customer Journey sehr erfreulich und ohne jegliche Beanstandung abgelaufen ist. Schlecht durchdachte oder nur unzureichend umgesetzte Prozesse wirken sich also unmittelbar auf die Kundenzufriedenheit aus. Übertragen wir dieses Szenario auf die Online-Welt, sind die Auswirkungen sogar noch drastischer. Gehen wir davon aus, dass ein ­potenzieller Kunde aufgrund gut durchdachter Maßnahmen im Online-Marketing den Weg in Ihren Online-Shop gefunden hat. Bei der Masse an Wettbewerbern ist das allein schon kein einfaches Unterfangen. Er findet das Produkt seiner Wahl zu einem Preis, der seinen Erwartungen entspricht. Der Besucher der Webseite entscheidet sich schließlich zum Kauf. Er beginnt den Bestellvorgang und möchte den Kauf mit seiner ­bevorzugten Zahlungsmethode abschließen. Doch diese wird nicht angeboten. Der potenzielle Kunde bricht den Bestellvorgang abrupt ab und setzt seinen Einkauf unmittelbar bei Ihrem Wettbewerber fort. Ein absolutes Desaster und v. a. schädlich für das eigene ­Unternehmen. Dasselbe gilt gleichermaßen für den Bewerbungsprozess. Arbeitgeber investieren heute sehr viel Zeit und Geld, um ihre Arbeitgebermarke im Wettbewerb zu positionieren und die besten Talente für sich zu gewinnen. Das gilt für Arbeitgeber aller Größenordnungen – also sowohl für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) als auch für

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große Konzerne (Wald et al. 2018). Aber was bedeuten die genannten Beispiele für Ihr Unternehmen? Die Antwort liegt auf der Hand: Obwohl sich Kandidaten aufgrund einer überzeugenden Positionierung im Employer Branding oder erstklassiger Maßnahmen im Personalmarketing für einen Arbeitgeber und/oder eine Stelle begeistern, kann die Candidate Experience zur Farce werden, wenn der End-to-End-Prozess nicht ausreichend betrachtet wurde und einzelne Prozessschritte zu entscheidenden Abbrüchen führen. Solche Szenarien können durch den Einsatz von modernen Analysemethoden verhindert oder zumindest verringert werden, indem Schwachstellen sichtbar gemacht werden. Aber welche Schritte des Bewerbungsprozesses zahlen auf die Candidate Experience ein und können mithilfe von Recruiting Analytics untersucht und angepasst werden? Welche Kennzahlen sind im digitalen Zeitalter aussagekräftig, um Ihr Recruiting exzellent aufzustellen? Welche Tools und Methoden sind notwendig, um eine für Ihre Organisation geeignete Analyse zu gewährleisten? Und überhaupt: Lohnt sich das für mittelständische Unternehmen und können Sie sich das leisten? Oder ist das Thema nur großen Konzernen vorbehalten? Dieser Beitrag soll diese und weitere Fragen beantworten und einen Überblick über aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich geben.

13.2 Welche Arten von Analysen gibt es? Human Resources (HR) zählt hierzulande (noch) nicht unbedingt zu den datengetriebenen Disziplinen. Vermutlich wird HR das auch niemals sein, weil andere Faktoren ebenfalls immer eine wichtige Rolle spielen werden. Doch die alte Controlling-Weisheit „You can’t manage, what you can’t measure“ gilt natürlich auch für das Recruiting. Man kann es sogar noch zugespitzter formulieren: Alles, was sich nicht messen lässt, findet nicht statt. Viele Unternehmen befinden sich heute im Recruiting nach wie vor im Blindflug und agieren, ohne sich ein Bild über die eigene Situation in Form von Daten und Zahlen gemacht zu haben. Zu oft werden unbedacht Stellenausschreibungen geschaltet oder Agenturen und Personalberater beauftragt, um die missliche Situation der Personalgewinnung zu lösen. Wenn beides nicht hilft, wird pauschal der Fachkräftemangel ausgerufen, der die fehlenden Erfolge bei der Personalbeschaffung erklären soll. Doch eine erste Analyse des Status quo zeigt sehr schnell, woran es bisweilen in der jeweiligen Organisation hapert. In den meisten Fällen liegt der wahre Grund für den Fachkräftemangel nämlich eher in der fehlenden Kompetenz im Recruiting, Personalmarketing oder Employer Branding. Das Recruiting eines Unternehmens sollte sich also weg von Bauchentscheidungen und hin zu zahlen- und evidenzbasiertem Management bewegen. Und genau an diesem Punkt setzt Recruiting Analytics an. Bei Recruiting Analytics geht es darum, Korrelationen, Kausalitäten, Einflussfaktoren und Wirkungen zwischen verschiedenen Bereichen zu identifizieren. Dies ermöglicht eine optimale Ausrichtung aller mit dem Recruiting zusammenhängenden Prozesse. Der Fokus von Recruiting Analytics liegt daher weniger auf einem vergangenheitsbezogenen Berichtswesen. Aber welche Analysearten gibt es eigentlich?

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Deskriptive Analysen – Was ist passiert? Deskriptive Analysen sind die häufigsten und einfachsten Analyseformen. Sie ermöglichen eine Messung von vergangenen oder aktuellen HR-Prozessleistungen, um künftige Ereignisse besser einschätzen und proaktiv beeinflussen zu können. Im Recruiting könnten dies beispielsweise Reportings über vergangene Stellenbesetzungen oder Auswahlverfahren sein, die für eine Interpretation aufbereitet werden. Demografische Informationen von Bewerbern würden beispielsweise als deskriptive Analyse eingestuft (z. B. 40 % der Bewerber kommen aus der Region des Unternehmens). Diagnostische Analysen – Warum passiert das? Diagnostische Analysen können Ursachen, Auswirkungen und Wechselwirkungen erklären und Treiber als Ansatzpunkte für ein strategisches Personalmanagement identifizieren. Bei dieser Form der Analyse werden, wie bei der vorherigen Analyseart, Vergangenheitsdaten analysiert, mit dem Ziel, Begründungen für Ereignisse und Entwicklungen zu finden, um die Ursachen von Problemen isolieren zu können. Beispielhaft ist hier die Analyse der Ursachen für eine gestiegene oder gesunkene Conversion von Besuchern der Karrierewebseite im letzten Monat. Außerdem kann mit dieser Analyseart untersucht werden, inwieweit Qualifikation, Vergütung oder Zufriedenheit Treiber einer Fluktuation im Unternehmen sind. Prädiktive Analyse – Was wird wahrscheinlich passieren?  Bei Predictive Analytics dreht sich alles um Prognosen und Vorhersagen und weniger um gegenwärtige Analysen. Prädiktive Analysen sagen Zustände oder Ereignisse auf Basis von Daten, Statistiken oder Erfahrungen voraus. So können Maßnahmen im Recruiting und Personalmarketing durch die vorhandenen Erkenntnisse dynamisch auf den Arbeitsmarkt und die Rahmenbedingungen des Unternehmens abgestimmt werden. Außerdem können Key-Performance-Indicator(KPI)-Entwicklungen prognostiziert, strategische Wirkung von zukünftigen Recruiting-Maßnahmen abgeschätzt und zukünftige Fluktuationswahrscheinlichkeiten berechnet werden. Konkret könnte bei Predictive Analytics untersucht werden, wie viele Bewerbungen beim Einsatz eines bestimmten Budgets für einen ausgewählten Kanal wahrscheinlich generiert werden. Die durchschnittliche Qualität von Bewerbungen bei speziellen Stellentiteln oder die Wahrscheinlichkeit von Kündigungen im ersten Jahr von Mitarbeitern mit bestimmtem Studienabschluss könnten ebenfalls Analysefelder sein. Doch erst, wenn ein Unternehmen deskriptive und diagnostische Analysen sicher durchführt, macht es Sinn, sich mit Predictive Analytics zu beschäftigen, um Vorhersagen über zukünftige Ereignisse zu machen. Die Datenmenge ist bisher allerdings weder bei KMU noch bei Großkonzernen ausreichend, um strukturierte Daten in Form von Big Data zu gewinnen. Selbst unter Hinzuziehung von Daten aller Stellenbörsen dürfte die Datenmenge aktuell nicht ausreichen, um verlässliche Vorhersagen zu treffen. Predictive Analytics bleibt daher noch viel zu häufig ein Thema für die Zukunft und entpuppt sich aktuell eher als Worthülse. Ein datengetriebenes Recruiting kann nur erfolgreich funktionieren, wenn eine qualitativ hochwertige und aussagekräftige Datenbasis im Unternehmen vorhanden ist.

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Vorsicht: Stolperfalle! Der Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation in der Analyse muss ausreichend berücksichtigt werden. Denn nicht alles, was miteinander korreliert, muss auch gleichzeitig einen kausalen Zusammenhang haben.

13.3 Gründe für den Einsatz von Recruiting Analytics Welche Fragen können konkret durch Recruiting Analytics beantwortet werden? Hierzu zählen v. a. Fragen zur Candidate Experience, zum Channel-Marketing, zur Mitarbeiterbindung oder aber zur Leistung von eingestellten Mitarbeitern, wie z. B.: • • • • • • • • •

Woher kommen die Bewerber? Welche Prozessschritte führen zu einer zufriedenstellenden Candidate Experience? Welche Kanäle führen zu einer bestimmten Anzahl von Bewerbern? Welche Jobfamilien oder Stellentitel funktionieren bei Ausschreibungen? Wie ist die Qualität der Bewerbungen? Welchen Einfluss haben Online-Assessments auf die Mitarbeiterbindung? Welche Rolle spielt ein gemessener Cultural Fit? Welche Universitäten oder Hochschulen sind für mein Unternehmen relevant? Welche Faktoren bei der Personalgewinnung versprechen die größtmögliche Performance?

Schaffen von Transparenz  Die im Recruiting zur Verfügung stehenden Daten machen Zusammenhänge sichtbar. Wer im Recruiting in der Lage ist, Schwachstellen und Abbruchpunkte der einzelnen Berührungspunkte zwischen Unternehmen und Kandidat zu erkennen, kann die eigenen Prozesse an den Bedürfnissen seiner Bewerber ausrichten und eine exzellente Candidate Experience herstellen. Bei Recruiting Analytics geht es also v. a. darum, Prozesse nutzerzentriert auszurichten und Transparenz herzustellen. Recruiter benötigen Transparenz darüber, woher Bewerber kommen und welche Erwartungen sie an den Bewerbungsprozess haben. Durch Recruiting Analytics erhalten Unternehmen zudem Transparenz darüber, wie der eigene Bewerbungsprozess von Kandidaten wahrgenommen wird, ob er technisch funktioniert, wie er gedacht war und ob er die gewünschte Zielgruppe überhaupt erreicht und anspricht. Auch Transparenz in der Zusammenarbeit mit Dienstleistern wie Jobbörsen, Agenturen, Personalberatern etc. zu schaffen, gehört zu den wesentlichen Gründen für den Einsatz von Recruiting Analytics. Denn nur zu häufig verlassen sich Verantwortliche im Personalmarketing und Recruiting auf ihre Dienstleister, weil es Arbeitgebern an der Datengrundlage oder Kapazitäten fehlt, um selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen. Budget effizient einsetzen  Unternehmen geben im Recruiting und Personalmarketing teilweise horrende Summen aus, um über Jobbörsen oder andere Online-Kanäle eine relevante Reichweite für ihre Stellenausschreibung zu produzieren. Dabei verfolgen sie

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nach wie vor ausschließlich den Ansatz des Post & Pray. Das bedeutet, sie veröffentlichen eine Stellenausschreibung und hoffen, dass durch das reine Veröffentlichen der Anzeige eine ausreichende Zahl von Bewerbern generiert wird, sodass die Stelle anschließend zeitnah besetzt werden kann. Bei diesem Ansatz werden vorhandene Budgets weder effektiv noch effizient eingesetzt, denn es fehlt jegliche Betrachtung der Performance dieser Ausschreibungen und somit auch die Steuerungsmöglichkeit des eigenen Prozesses. Die Performanceanalyse von Stellenausschreibungen führt Unternehmen dazu, das ihnen zur Verfügung gestellte Budget effizient einzusetzen und eine deutlich größere Wirkung der durchzuführenden Maßnahmen zu entfalten. Das verbessert außerdem die Ausgangslage gegenüber Führungskräften und dem Vorstand bei der Argumentation für höhere Budgets. Identifizieren von effizienten Kanälen  Recruiting Analytics ermöglicht außerdem, effiziente Kanäle zu identifizieren. Eine Grundlage für eine erfolgreiche Personalmarketingstrategie ist die Kenntnis darüber, welche Kanäle sich für die Besetzung welcher Stelle am ehesten eignen. Ausgewählte Kanäle, die eine hohe Zahl an Bewerbungen liefern, müssen nicht unbedingt die optimalsten Kanäle sein – erst recht nicht, wenn die Qualität der Kandidaten, die über diesen Kanal hereinkommen, nicht ausreicht. Synergien nutzen Die Anwendung und der Einsatz von Recruiting Analytics kann außerdem dazu führen, Synergieeffekte im Unternehmen zu heben. Denn die meisten Daten sind bereits im Unternehmen vorhanden. Sie werden von HR nur nicht abgerufen. So haben die allermeisten Unternehmen, die eine Webseite betreiben, auch einen Zugang zu Webanalyse-Tools wie Google Analytics oder Piwik. Doch Silodenken oder Machtspiele in Unternehmen verhindern die zwingend notwendige Kollaboration zwischen HR im Personalmarketing und den Verantwortlichen der eigenen Homepage in der Kommunikationsabteilung oder Webentwicklung. Vom E-Commerce lernen Vieles, was im Recruiting heute möglich ist, hat seinen Ursprung im E-Commerce oder kommt aus dem Online-Marketing. Ein Beispiel dafür ist die Zielgruppenansprache mithilfe von Targeting. Mit Targeting können (Arbeitgeber-) Werbekampagnen oder konkrete Stellenausschreibungen möglichst passenden Nutzern, die bestimmte Merkmale erfüllen, ausgespielt werden. So können Streuverluste vermieden oder zumindest verringert und Chance der Conversion erhöht werden. Ein weiteres Beispiel sind Personae, die durch quantitative und qualitative Daten gebildet werden, um potenzielle Zielgruppen erkennen und besser beschreiben zu können. Auf Basis der gebildeten Personae kann die Karrierewebseite für die tatsächlichen Besucher optimiert werden. Oder es wird eine Neu- oder Umgestaltung angestrebt, um andere Zielgruppen differenzierter anzusprechen.

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Recruiting messbar und Erfolge von Human Resources sichtbar  Wird das R ­ ecruiting zukünftig digital? Nein, das Recruiting ist digital, zumindest aus Sicht der Bewerber; und das bedeutet, dass auch die jeweiligen Prozesse, die das Recruiting unterstützen, allesamt digitalisiert werden (müssen). Aufbauend auf dieser Entwicklung der Digitalisierung wird das Recruiting messbar, weil nun eine Vielzahl von Daten zur Verfügung steht, die Performance-Messungen im Recruiting ermöglichen. Damit Personalverantwortliche ihre Recruiting-Erfolge sichtbar machen und aktiv verbessern können, müssen sie KPI kennen, erheben und auswerten. Es empfiehlt sich, ein Data Warehouse oder Recruiting Dashboard aufzubauen, um die wichtigsten Fragen rund um die Personalgewinnung beantworten zu können. Denn komplexe Lösungen in der Datenanalyse können zuverlässiger Erkenntnisse liefern als Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus getroffen werden. Recruiting Analytics führt in Summe dazu, kostspielige Fehlentscheidungen zu vermeiden.

13.4 Recruiting Analytics in der Praxis In diesem Kapitel geht es darum aufzuzeigen, welche Dinge notwendig sind, um Recruiting Analytics in mittelständischen Unternehmen einführen und umsetzen zu können. Das Ziel von Unternehmen muss es sein, die im Recruiting entstandenen Daten so sinnvoll zu nutzen, dass Effektivität und Effizienz perfekt ausgerichtet werden und die gewünschte Wirkung eintrifft: nämlich die Rekrutierung von qualifizierten Mitarbeitern mit der bestmöglichen Qualität zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Um ein datengetriebenes Recruiting in der Praxis aufzubauen, müssen daher zunächst folgende Fragen beantwortet werden: • • • •

Was soll gemessen werden? Wie sollen Kennzahlen gemessen werden? Wie können die Daten genutzt werden, um die besten Entscheidungen zu treffen? Wie können Recruiter gemessen werden?

Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden typische Berührungspunkte mit Kandidaten, geeignete Datenquellen für die Bewertung der Candidate Experience sowie relevante Kennzahlen zur Steuerung der eigenen Recruiting-Prozesse aufgezeigt.

13.4.1 Touchpoints während der Candidate Journey Um herauszufinden, welche Hebel das Recruiting mit dem Einsatz von Analytics in Bewegung setzen kann, ist es wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen, an welchen Stellen Berührungspunkte zwischen Arbeitgeber und Bewerber während der Candidate Journey entstehen. Die Frage nach den Touchpoints muss also geklärt sein, bevor festgelegt wird,

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welche Datenquellen und Kennzahlen zur Steuerung des Recruiting-Prozesses herangezogen werden. Grund dafür ist, dass alle Maßnahmen, die aus den Analysen heraus erarbeitet werden, an den Touchpoints ausgerichtet werden, damit Kandidaten die Candidate Journey reibungslos durchlaufen können. Die Candidate Journey wird üblicherweise in verschiedene Phasen unterteilt, die die jeweiligen Berührungspunkte zwischen Unternehmen mit Kandidaten abbilden. Touchpoints können sowohl online als auch offline entstehen. Kandidaten beginnen in der ersten Phase mit ihrer Suche nach Informationen und Jobs. Dies geschieht heute in erster Linie online über externe Seiten wie Suchmaschinen, Social Media, Jobbörsen, Jobsuchmaschinen und Arbeitgeberprofile oder direkt über die Karriereseite des Unternehmens. Um bei dem Überangebot an offenen Stellenausschreibungen und der Vielzahl von Arbeitgebern im Markt wahrgenommen zu werden, ist es daher umso wichtiger, dass sich das Recruiting der Methoden des Online-Marketings wie der Suchmaschinenoptimierung oder dem (Re-)Targeting bedient. Für Unternehmen geht es in diesem Moment also darum, Aufmerksamkeit für die Employer Brand oder die jeweilige Stellenanzeige zu schaffen, sodass Kandidaten registrieren, dass bei diesem Arbeitgeber Vakanzen existieren. Mitarbeiterempfehlungen zählen außerdem zu den wichtigsten Kanälen in dieser Phase. Immer relevanter werden außerdem Blogger und Influencer, die ihre Follower auf Arbeitgeber aufmerksam machen und Zielgruppen erreichen, die ein Arbeitgeber durch seine eigene Kommunikation oder Reichweite selbst vielleicht nie erreichen könnte. Doch auch persönliche Begegnungen bei Events, Karrieremessen oder die eigenen Verkaufsräume spielen hier eine wichtige Rolle. Arbeitgeber können in dieser Phase insbesondere dann punkten, wenn sie ein ausreichendes Maß an Informationen über die E ­ instiegsmöglichkeiten, die Aufgaben in der Stelle und die Organisationskultur mit Bewerbern teilen. Denn Bewerber benötigen ein klares Bild. Außerdem kann eine hohe Servicequalität im Recruiting den Unterschied ausmachen, sodass aus Interessierten überzeugte Kandidaten werden. Beispielhafte Erfolgsfaktoren sind Touchpoints, die genau diesen Servicegedanken unterstreichen: Erreichbarkeit am Telefon, wertschätzende E-Mail-Kommunikation, Self-Service-­Angebote für Bewerber wie Job-Abos oder Kontaktmöglichkeiten auf Karrieremessen sind nur einige von vielen Maßnahmen, die in diesem Moment zählen. Auch Online-Assessments können dazu beitragen, unentschlossene Kandidaten zu überzeugen. Damit können Bewerber beispielsweise vorab überprüfen, inwieweit ihr Profil zum Job passt oder ob sie und das Unternehmen kulturell zusammenpassen. Stellentitel spielen ebenfalls eine ­ wichtige Rolle. Sie sind das erste Selektionskriterium bei der Stellensuche. Unverständliche oder unpassende Stellenbezeichnungen können daher zum Dealbreaker einer Bewerbung werden. Eine authentische Darstellung des eigenen Unternehmens sowie der Employer Value Proposition sollte selbstverständlich sein, da falsch geweckte Erwartungen in einer späteren Phase zu Abbrüchen bei der Bewerbung bzw. zu Frühfluktuation führen können. Für die Phase, in der es um die Übermittlung der Bewerbung geht, ist ein reibungsloser Ablauf extrem wichtig. Nachdem Kandidaten davon überzeugt sind, sich zu bewerben, entsteht ein Berührungspunkt zum Bewerbermanagementsystem, über das Kandidaten ihre Bewerbung einsenden. Sollte das Unternehmen nicht über ein Bewerbermanagementsystem verfügen, sind E-Mail-Bewerbungen nach wie vor das gängige Format. Außerdem setzen immer mehr

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Unternehmen auf Mitarbeiterempfehlungsprogramme wie Firstbird oder Talentry. Diese funktionieren aus Bewerbersicht ähnlich wie Bewerbermanagementsysteme. Je nach Zielgruppe kann es in dieser Phase wichtig sein, das Senden der Bewerbung durch verschiedene Features wie eine XING- oder LinkedIn-Schnittstelle, mobile Bewerbungen, Videobewerbungen oder CV-Parsing zu ergänzen oder zu erleichtern. Interviews mit Bewerbern sind ebenfalls ein wichtiger Touchpoint, die im Rahmen von Analysen an den Bedürfnissen ausgerichtet werden können. Gerade bei Bewerbern, denen nach den Vorstellungsgesprächen abgesagt wurde, hat das Recruiting hier die Chance, dass sich Kandidaten erneut bei dem Unternehmen bewerben, wenn das Unternehmen trotz Absage einen sehr positiven Eindruck und wertschätzenden Umgang vermitteln kann. Je nach Definition der Candidate Journey kann es auch Phasen geben, die über die Gewinnungsphase hinausgehen und das Onboarding oder das erste Jahr der Employee Experience mit einschließen.

13.4.2 Datenquellen Die Quellen für Daten im Recruiting sind sehr vielfältig: Social Media, Jobbörsen, Bewerbermanagementsysteme, Online-Umfragen, Webanalysen, Arbeitgeberbewertungen oder Studienergebnisse sind nur einige Beispiele. Grundsätzlich können interne und externe Datenquellen unterschieden werden. Zu den internen Datenquellen zählen insbesondere jene, die bereits im Unternehmen vorhanden sind, sich aus internen Systemen generieren lassen oder die Meinung von internen Stakeholdern abbilden. Zu den externen zählen Datenquellen, die entweder frei verfügbar sind oder es sind Daten, die durch externe Partner aus der gemeinsamen Zusammenarbeit geliefert werden können. Die jeweiligen Datenquellen haben eine unterschiedliche Datentiefe und führen zu verschiedenen Betrachtungen und Analysen des Recruiting-Prozesses. Im Folgenden wird eine Auswahl von Datenquellen vorgestellt, die sich insbesondere für mittelständische Unternehmen eignet.

13.4.2.1 Karriereseite „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß.“ Dieses Zitat vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Siemens AG gilt im übertragenen Sinn auch für jede Recruiting-­Organisation. Denn die meisten Daten, die für das Aufsetzen eines exzellenten Recruiting-Prozesses notwendig sind, liegen Unternehmen bereits vor und werden nur zu selten abgerufen. Die eigene Karriereseite als Dreh- und Angelpunkt aller Recruiting-Bestrebungen dient hierbei als zentrale Datenquelle, da hier verschiedenste Elemente und das Userverhalten auf den Seiten analysiert werden können. Typische Elemente einer Karriereseite sind neben dem Stellenmarkt und den dazugehörigen Stellenanzeigen auch Bewerbungsformulare, Videos und Bilder, Informationen zu Einstiegsmöglichkeiten und Benefits, Frequently Asked Questions zum Bewerbungsprozess, Stimmen von Mitarbeitern oder auch Auszeichnungen als Arbeitgeber. Für die Analyse der Karriereseite existiert eine Vielzahl von Tools, die teilweise sehr unterschiedliche Herangehensweisen haben. Die meisten Erkenntnisse kann

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man dabei vermutlich mit Webanalyse-Tools wie Google Analytics oder Piwik gewinnen, die einen umfassenden Einblick in Statistiken der Karriereseiten geben. Aber auch spezialisierte Tools wie Heatmaps können spannende Insights hervorbringen (Rütten 2018). Welche Tools sich letztlich für mittelständische Unternehmen eignen, hängt davon ab, wie tief das Recruiting in die Daten eintauchen will. 13.4.2.1.1 Web Analytics Nahezu alle Bewegungen von Kandidaten auf der eigenen Homepage und insbesondere der Karriereseite lassen sich messen. Dabei kommen für gewöhnlich Webanalyse-Tools zum Einsatz, die das Besucherverhalten im Zeitablauf abbilden. Mit diesen Diensten kann v. a. die Frage nach der Herkunft der Bewerbung sehr schnell und einfach beantwortet werden. Recruiter können mit einem Zugang zu diesen Tools beispielsweise überprüfen, ob Besucher über klassische Suchmaschinen, Jobsuchmaschinen oder Jobbörsen auf die Karriereseite gelangen. Auch der Anteil der Besucher, die die Webadresse des Unternehmens direkt ansteuern oder auf bezahlte Werbeanzeigen geklickt haben, wird schnell ersichtlich. Außerdem lässt sich über die Analyse der Karriereseite relativ einfach feststellen, welcher Content von Besuchern der Karriereseite gelesen wird und wie Besucherströme verlaufen. So kann es sein, dass ich als Arbeitgeber vermeintlich wichtigen Content für Bewerber anbiete, dieser aber aufgrund einer schlechten Menüführung gar nicht wahrgenommen wird. Oftmals produzieren Arbeitgeber mit viel Aufwand Content, der in zahlreichen internen Diskussionen abgestimmt werden musste. Doch kann es sich herausstellen, dass dieser nicht interessant genug ist, weil ich erkenne, dass Besucher an bestimmten Stellen oder nach kurzer Zeit abspringen und die Karriereseite an einem bestimmten Punkt verlassen. Fehlt an dieser Stelle ein sinnvoller Callto-Action, bin ich als Verantwortlicher in der Lage, unmittelbar nachzusteuern und die Karriereseite anzupassen und zu optimieren. Außerdem können mithilfe der Zahlen aus dem Analytics-Tool interne Abstimmungsprozesse in die richtige Richtung gelenkt werden. Das Einrichten eines Personalmarketingtrichters führt außerdem dazu, dass alle Prozessschritte der Candidate Journey in Zahlen abgebildet werden können. Das bedeutet, dass der gesamte Weg, den Kandidaten im Rahmen ihrer Bewerbung durchlaufen, visualisiert wird. Als Ergebnis erhält der Analyst eine Conversion Rate die aussagt, wie viele Besucher der Karriereseite benötigt werden, um eine Bewerbung zu generieren. Diese Analysen sind möglich, weil beim Aufruf einer Internetseite eine kleine Datei – ein sog. Cookie – auf dem Computer gespeichert wird. Diese enthält eine eindeutige Identifikationsnummer. Beim erstmaligen Besuch einer Homepage stimmen Nutzer dieser Speicherung meistens zu. Sie können aber auch ihre Zustimmung verweigern. Im Fall einer Zustimmung kann der Anbieter der Internet- bzw. Karriereseite diese Nummer auslesen und der Nutzer entsprechenden Computer wiedererkennen. 

Datenschutz beachten! Mit Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehen auch wesentliche Änderungen für den Bereich Recruiting Analytics einher. Denken Sie also bereits von Beginn an daran, ihre Analysemethoden datenschutzkonform aufzustellen!

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Heutzutage ist die Anwendung von Tools dieser Art selbsterklärend und die Lösungen sind relativ einfach zu bedienen. Außerdem ist die Konzeption einer wirksamen und praktikablen Trackingsystematik, mit der jede Marketingmaßnahme  (wie z. B. Stellenanzeigen) überwacht werden kann, mit geringem Budget und wenigen Stunden Arbeit für jedes Unternehmen umsetzbar. Teilweise sind die Tools sogar kostenfrei. Meistens existieren bereits in Marketing- oder Kommunikationsabteilungen verschiedene Analytics-Systeme. Das bedeutet, dass HR-Abteilungen diese i. d. R. mitnutzen können, ohne dass zusätzliche Software angeschafft werden müsste. Spätestens an diesem Punkt empfiehlt sich der fachliche Austausch mit den Kollegen zu vergleichbaren Arbeitsweisen oder gar einer Hospitation. Die Vorteile von Web Analytics liegen insgesamt darin, dass Recruiter Transparenz über ihre Prozesse erhalten, Veränderungen im Zeitverlauf sehr gut abgebildet werden und eine hohe Vergleichbarkeit existiert. Wichtig ist allerdings, dass Anwender sich eine umfassende Expertise in der Analyse der entsprechenden Zahlen aneignen, um letztlich die richtigen Schlüsse zu ziehen. 13.4.2.1.2 Heatmaps Eine weitere Möglichkeit, das Userverhalten auf der Karriereseite zu analysieren, bilden Heatmaps. Heatmaps sind eine aggregierte Darstellung des betrachteten Inhalts auf Webseiten und zeigen Stärken und Schwächen der Usability auf. Um das Klick- und Browsing-Verhalten von Besuchern zu verfolgen, werden Heatmaps als Test- und TrackingTool im Online-Marketing eingesetzt. So können Reaktionen von Besuchern einer ­Website hinsichtlich des Designs und der Platzierung verschiedener Elemente auf der Webseite analysiert werden. Bei Heatmaps werden Daten in heiße und kalte Bereiche gegliedert und visualisiert – ähnlich wie bei einer Wetterkarte. Heiße Teile der Website sind Bereiche, die User sehr oft oder lange betrachten. Die kalten Teile der Website sollen Bereiche darstellen, denen Nutzer nicht viel Aufmerksamkeit schenken. Mithilfe dieser Daten können also alle überflüssigen Inhalte entfernt oder verändert werden, die Besucher entweder ablenken oder daran hindern, die Seite weiter zu erkunden. Dank der Visualisierung des Besucherverhaltens in Form von Klicks, Taps, Moves und Scrolls geben Heatmaps detailliert Auskunft darüber, wie die jeweiligen Seiten wahrgenommen und genutzt werden und was in Sachen Layout und Design gut funktioniert. Kombiniert mit den Erkenntnissen (Verweildauer, Abbrüchen etc.) aus Web-Analyse-Tools wie Google Analytics besteht die große Chance, die Conversion Rate zu erhöhen und mehr Bewerber für das eigene Unternehmen zu gewinnen. Die Analyse der Karrierewebseite ausschließlich auf der Grundlage von Heatmaps vorzunehmen, reicht in den meisten Fällen allerdings nicht aus, denn sie liefern keine Daten zu den Beweggründen des Nutzerverhaltens. Erschwerend kommt hinzu, dass Heatmap-Tools oftmals Schwierigkeiten mit dynamischen Inhalten, wie dem Stellenmarkt, haben. Außerdem ist es schwierig, die richtigen Schlüsse aus einzelnen Seiten zu ziehen, wenn diese nur über ein geringes Besucheraufkommen verfügen. Nichtsdestotrotz sind Heatmap-Tools heutzutage mit sehr wenig Aufwand eingerichtet und können auch mit geringen Vorkenntnissen von Unternehmen eingesetzt werden. Diese Tools sind also gerade für Mittelständler interessant, weil die Implementierung kein größeres Projekt mit entsprechenden Kompetenzträgern erfordert.

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13.4.2.2 Bewerbermanagementsysteme Bewerbermanagementsysteme sind ein wesentlicher Lieferant von Daten im Recruiting. Sie decken nahezu alle Prozessschritte von der Bewerbung bis hin zur Vertragsgestaltung ab. Teilweise erstrecken sie sich sogar über den vollständigen Lebenszyklus von Mitarbeitern. Eine umfassende Softwarelösung, die alle Prozesse im Recruiting oder gar der gesamten Employee Experience abdeckt, ist aber noch lange kein Garant für Erfolg. Gerade in diesem Punkt tun sich mittelständische Unternehmen i. d. R. etwas leichter, da sie flexibler Insellösungen für spezielle Probleme integrieren können. Bewerbermanagementsysteme liefern typischerweise Daten über Quantität und Qualität von Bewerbungen, Daten zur Bearbeitungs- und Besetzungsgeschwindigkeit, Klickzahlen von Stellenausschreibungen oder teilweise sogar Nutzerstatistiken aus der Webanalyse. Manche Systeme verfügen außerdem über eine integrierte Business-Intelligence-Lösung, womit Prozesskennzahlen und zentrale Auswertung zur Verfügung stehen. Bewerbermanagementsysteme haben oftmals aber das Problem, dass sie Bewerber von der Karriereseite wegführen und auf die externen Seiten der Softwareanbieter weiterleiten. Das kann an verschiedenen Punkten der Candidate Journey wie der Stellenbörse, der Stellenanzeige oder dem Bewerbungsformular passieren und führt zu einem Bruch bei der Analyse. Teilweise existieren sogar Varianten, bei denen die gesamte Karriereseite ausgelagert wird. Dieses Problem kann durch Cross Domain Tracking und einen entsprechenden Funnel aufgefangen werden. Das bedeutet, dass die Webadresse des Bewerbermanagementsystems im Analytics-Tool mit dem Mandanten der eigenen Homepage gekoppelt wird, um einen ganzheitlichen Personalmarketingtrichter einzurichten. Dies ist technisch zwar relativ einfach möglich, kann aber, je nach Aufbau des Trichters, zu Fehlern in der Analyse führen. 13.4.2.3 Stellenbörsenstatistiken Stellenbörsen sind ebenfalls eine sehr hilfreiche Datenquelle für das Recruiting. Die meisten gängigen Jobbörsen stellen ihren Kunden entweder auf Nachfrage oder teilweise sogar proaktiv eine statistische Übersicht zu den platzierten Stellenausschreibungen zur Verfügung. Damit kann die Performance der einzelnen Veröffentlichungen je Kanal bewertet werden. Zu den Daten, die Jobbörsen liefern, zählen typischerweise die Anzahl der Klicks auf einer Stellenanzeige in dem jeweiligen Portal oder die Anzahl bzw. Rate derjenigen Kandidaten, die durch einen Klick auf den Call-to-Action ihre Bewerbungsabsicht bekundet haben. Außerdem können Jobbörsen bei Bedarf Vergleichszahlen von ähnlichen Fällen liefern und verfügen über eine größere Datenbasis in Form von konsolidierten Daten. 13.4.2.4 Social Media Social-Media-Kanäle sind im Recruiting schon lange nicht mehr wegzudenken und eignen sich hervorragend als Datenquelle für weitere Analysen, die v. a. Rückschlüsse auf die Performance zulassen. Jeder gesponserte und nicht gesponserte Post oder Tweet, der veröffentlicht wurde, liefert eine Vielzahl von Informationen zu Followeranzahl, Profilbesuchen, Beitragsreichweite oder Interaktionen wie Klicks oder Kommentaren. Je nachdem wie groß die Marke des Unternehmens in den sozialen Medien strahlt, kann die Betreuung von

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Social-Media-Kanälen extrem zeitaufwendig sein. Um die Redaktion von Inhalten und das Community Management zu vereinfachen, setzen Kommunikationsabteilungen hierfür i. d. R. Monitoring- und Listening-Tools ein. Diese Tools erleichtern nicht nur das Reporting, sondern liefern auch eine Menge relevanter Daten, die wichtig für das Recruiting und Employer Branding sind. Beim Social Media Listening geht es darum, Diskussionen und Erwähnungen zu finden und zu tracken (Rütten 2017). So können Arbeitgeber auf einfache Art und Weise herausfinden, was potenzielle Kandidaten über die Arbeitgebermarke und den Bewerbungsprozess sagen. Praktisch kann man sich das so vorstellen: Über einen Suchbefehl sammelt und liefert ein Tool alle Erwähnungen und Online-Unterhaltungen in sozialen Netzwerken, Foren, Blogs, Bewertungsportalen etc. sowie Interaktionen wie Likes, Posts, (Re-)Tweets, Shares usw., die für die Arbeitgebermarke relevant sind. Die Resultate können dann genutzt werden, um die Sentiments zu analysieren. Das Sentiment bezieht sich auf positiv und negativ geäußerte Emotionen gegenüber einem Unternehmen oder einer Marke. Das kann z. B. durch Freude oder Dankbarkeit, aber auch durch Ärger und Enttäuschung ausgedrückt werden. Das bedeutet, dass Employer-Branding-­ Verantwortliche analysieren können, wie gut eine bestimmte Arbeitgeberkampagne bei der Zielgruppe ankommt oder welche Markenbotschafter für den Arbeitgeber besonders aktiv sind. Wenn es Beschwernisse zum Bewerbungsprozess gibt oder Erfahrungen aus den Vorstellungsgesprächen in Social Media geteilt werden, ist das ebenso relevant für die Optimierung der Candidate Experience. Die Sentiment-Analyse hilft Unternehmen also dabei, die gefundenen Resultate zu bewerten und die Reputation als Arbeitgeber zu illustrieren. Wer auf diese Weise schnell auf negative Reaktionen, Beschwerden und Fragen reagiert, kann aktiv die Reputation als Arbeitgeber managen.

13.4.2.5 Arbeitgeberbewertungen Arbeitgeberbewertungen gehören ebenfalls zu den wichtigsten Datenquellen, um das eigene Recruiting zu analysieren und zu verbessern. Natürlich liefern Arbeitgeberbewertungen keine riesigen Datensätze. Nichtsdestotrotz sollten alle abgegebenen Bewertungen ernst genommen und Verbesserung des Recruitings herangezogen werden. Kununu ist im deutschsprachigen Raum zweifelsohne das relevanteste Portal dieser Art. Kununu liefert als Datenquelle nicht nur Bewertungen von aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern, sondern auch noch von Bewerbern. Außerdem sind die monatlichen Besucherzahlen der jeweiligen Arbeitgeberprofile frei verfügbar. Dasselbe gilt für die Arbeitgeberbewertungen der eigenen Wettbewerber als Vergleichsgröße. Neben kununu liefern außerdem Glassdoor und Indeed Informationen zu Arbeitgeberbewertungen. Als Nischenportal für Praktikanten gehört meinpraktikum.de außerdem zu den relevanten Arbeitgeberbewertungsportalen. Teilweise ­enthalten moderne Bewerbermanagementsysteme ebenfalls ein Feature, mit dem Kandidaten eine Beurteilung zum Recruiting-Prozess abgeben. 

Neue Bewertungen generieren: Bitten Sie Bewerber nach Interviews oder ehemalige Mitarbeiter und Praktikanten kurz vor oder nach ihrem Ausscheiden um eine Arbeitgeberbewertung. So profitieren Bewerber von aktuellen Eindrücken des Arbeitgebers.

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13.4.2.6 Befragungen Befragungen sind eine weit verbreitete und effektive Art der Datenerhebung. Als Datenquelle lassen sie sich sowohl für interne als auch für externe Zielgruppen nutzen. Das bedeutet, dass sowohl Mitarbeiterbefragungen als auch Online-Umfragen bei Bewerbern relevante Daten für die Optimierung der Candidate Journey liefern können. Kurze und v. a. freiwillige Online-Befragungen, die sich an Bewerber richten, können mit wenig Aufwand eingerichtet werden und erfordern kein so umfangreiches Know-how wie Mitarbeiterbefragungen. Teilweise liefern sogar Bewerbermanagementsysteme die Möglichkeit, Feedbacks von Bewerbern automatisiert zu versenden. So lässt sich im Rahmen des Bewerbungsprozesses feststellen, wie zufrieden Bewerber mit den jeweiligen Prozessschritten gewesen sind. Bewerberfeedbacks können je nach Phase unterschiedlich ausfallen. Das hängt davon ab, welche Berührungspunkte sie bereits kennengelernt haben. Wichtig ist, darauf zu achten, dass Umfragen bei Bewerbern nur wenige Fragen beinhalten und die Beantwortung der Fragen nicht allzu lange dauert, damit die Rücklaufquoten höher ausfallen. Zu typischen Befragungsinhalten zählen hier insbesondere Fragen zur Zufriedenheit und Servicequalität, zu technischen Anforderungen bei der Übermittlung der Bewerbung oder zur Informationsdichte für die eigene Entscheidungsfindung. Außerdem können Bewerber danach befragt werden, wie sie ein mögliches Interview erlebt haben oder wie sie die Art und Weise der Kommunikation über die Entscheidung der (Nicht-)Einstellung wahrgenommen haben. Das Bewerberfeedback kann zudem Aufschluss darüber geben, ob Kandidaten den Prozess in einer für sie angemessenen Zeit erlebt haben oder ob der gesamte Prozess insgesamt zu lange dauert. Fragebögen mit geschlossenen Fragen lassen sich selbst in größerer Anzahl schnell auswerten. Fragebögen mit offenen Fragen liefern meistens zusätzlich nützliche Informationen. Die Vorteile von Befragungen liegen meist darin, dass viele Befragungen in kurzer Zeit möglich sind und eine große Zielgruppe angesprochen werden kann. Außerdem können die erhobenen Daten gut zusammengefasst und Anonymität kann gewährleistet werden. Nachteile bei der Analyse von Befragungen ergeben sich dann, wenn die Rücklaufquote sehr niedrig ist und Rückfragen zu offenen Fragen auftauchen.

13.4.3 Die wichtigsten Recruiting Key Performance Indicators Recruiting-Kennzahlen sind ein essenzieller Bestandteil jeder datengetriebenen RecruitingStrategie. Wichtige KPI haben eine hohe Aussagekraft. Trotzdem werden sie nach wie vor viel zu selten eingesetzt, um das Recruiting zu optimieren oder HR intern e­ rfolgreicher darzustellen. Wichtig ist, dass sich die KPI an der Strategie und den (Recruiting-)Zielen des Unternehmens orientieren. Es geht also nicht darum, so viele KPI wie möglich zu ermitteln, sondern die richtigen Steuerungsgrößen auszuwählen, die wesentlich für den Erfolg des Unternehmens sind. Die hier aufgeführten KPI stellen daher nur eine mögliche Auswahl dar und erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.

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13.4.3.1 Zeit Kennzahlen, die ihren Blick auf die Dauer von Bewerbungsprozessen richten, haben eine hohe Aussagekraft für die Optimierung der Candidate Experience. Denn aus Sicht der Kandidaten kann die Antwort des Recruiters nicht schnell genug kommen. Außerdem sind Kennzahlen mit zeitlichem Bezug ein guter Indikator, um die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit von Recruiting-Abteilungen zu bewerten. Die wohl am meisten verbreitete Kennzahl ist die Time-to-hire bzw. Time-to-fill. Sie ist für das Unternehmen bzw. die Fachabteilung eine wichtige Größe ist, um festzustellen, wie lange es dauert, eine Vakanz zu besetzen. Doch Vorsicht: KPI, die ausschließlich die zeitliche Perspektive betrachten, haben keine oder nur wenig Aussagekraft über die Qualität einer Stellenbesetzung. Time-to-fill  Diese Kennzahl beschreibt die Anzahl der Tage zwischen der Veröffentlichung einer Stellenausschreibung und der Einstellung eines Kandidaten. Alternativ zur Veröffentlichung der Stellenausschreibung kann auch die interne Personalbedarfsmeldung den Startpunkt darstellen. Die Zeit bis zur Besetzung einer Stelle wird natürlich von den Angebots- und Nachfragequoten für bestimmte Berufsgruppen beeinflusst. So dauern beispielsweise Stellenbesetzungen für Pflegefachkräfte oder IT-Fachkräfte im Durchschnitt wesentlich länger als viele andere Berufe ohne Engpass. Diese Messgröße ist weit verbreitet und eignet sich sowohl für HR als auch für die Linie hervorragend als Planungsgröße. Die Time-to-fill gibt eine realistische Einschätzung auf die Zeit, die benötigt wird, um Ersatz für ausgeschiedene Mitarbeiter zu beschaffen. Ist eine Organisation in der Lage, schneller offene Vakanzen zu besetzen, kann dies positive Auswirkungen auf den Rest des Teams haben, da in der Folge weniger Überstunden notwendig sind und die bevorstehende Arbeitsbelastung nicht durch ein temporär instabiles Team aufgefangen werden muss. Time-to-hire  Die Time-to-hire gibt die Anzahl der Tage zwischen dem Moment wieder, in dem die Stelle ausgeschrieben oder ein Kandidat angesprochen wird und dem Moment, in dem die Wahl auf den Kandidaten fällt, er das Angebot annimmt oder er den Vertrag unterzeichnet zurücksendet. Mit anderen Worten: Es wird die Zeit gemessen, die jemand benötigt, um den gesamten Bewerbungsprozess zu durchlaufen. Diese Kennzahl ist somit ein guter Anhaltspunkt dafür, wie das Recruiting-Team vorgeht. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Definition der Time-to-hire zeigt jedoch, dass diese je nach Unternehmen oder auch innerhalb von Unternehmen unterschiedlich interpretiert wird. Alternativ wird die Time-to-hire auch als Time-to-accept bezeichnet. Time-to-interview  Mit der Time-to-interview wird die durchschnittliche Dauer von Veröffentlichung der Stellenausschreibung bis zum Vorstellungsgespräch gemessen. Auch hier wird je nach Definition die Personalbedarfsmeldung als Startpunkt gewählt.

13.4.3.2 Kostenanalyse Kennzahlen, die sich auf die Kosten konzentrieren, geben Auskunft darüber, ob das Recruiting seine Kosten wert ist und ob das zur Verfügung stehende Budget ausreichend

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bzw. gerechtfertigt ist. Außerdem können sie Aufschluss darüber geben, welche Kosten für ein Unternehmen entstehen, falls Stellen unbesetzt bleiben und welche Kosten pro Bewerbung bei einzelnen Dienstleistern entstehen. Cost-per-hire  Wie hoch sind die Kosten pro Einstellung? Diese Cost-per-hire stellt die Kosten dar, die je Stellenbesetzung für das Unternehmen im Durchschnitt anfallen. Sie kann unterschiedlich definiert werden – je nachdem, welche internen und externen Kosten einbezogen werden (können). Zu den externen Kosten zählen u. a. Kosten für Personalwerbung oder Tools, Agenturgebühren, Spesen für Jobinterviews oder gar die Trainingskosten für Neueinstellungen. Interne Kosten können z. B. durch die aufgewendeten Stunden der Recruiter oder Hiring Manager oder aber durch die geringere Produktivität von neu eingestellten Mitarbeitern beziffert werden. Die Kosten je Besetzung können außerdem nach Jobfamilie oder Standort weiter differenziert werden. Cost-per-application  Die Cost-per-application beziffert die Kosten pro Bewerbung. Wenn man das pro Stelle, Kanal oder Jobfamilie eingesetzte Budget durch die Anzahl der eingegangenen Bewerbungen teilt, erhält man die Kosten pro Bewerbung. Diese Kennzahl zeigt also auf, wie hoch die Kosten sind, um eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen zu generieren. Sie kann natürlich je nach Kanal oder Jobfamilie höchst unterschiedlich ausfallen. Die Kennzahl Cost-per-application ist also eine der relevantesten Kennzahlen, wenn Personalmarketeer Stellenbörsen vergleichen und es in die nächste Verhandlungsrunde geht. Cost-of-vacancy  Die Cost-of-vacancy errechnet sich als Differenz aus entgangenem Umsatz pro Vakanz und dem Jahresgehalt einer Stelle. Sie stellt nichts weniger dar als den wirtschaftlichen Schaden, der durch unbesetzte Stellen entsteht. Gerade Mittelständler beklagen einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, daher hat diese KPI eine wichtige Bedeutung (Knabenreich 2017). Die Cost-of-vacancy kann außerdem sehr deutlich machen, welche Leistung das Recruiting zum Geschäftserfolg beitragen kann, da die Kosten je Vakanz häufig um ein Vielfaches höher sind als das Jahresgehalt einer Fachkraft. Daher sollte das Recruiting grundsätzlich die Maßgabe haben, dass es keine Vakanzen gibt und alle Stellen besetzt werden. Erst wenn diese Zielsetzung erreicht wird, entgehen dem Unternehmen keine Einnahmen. Den Erfolg des Recruitings nur an der Anzahl besetzter Stellen pro Jahr auszumachen, reicht daher nicht weit genug.

13.4.3.3 Qualität bzw. Effektivität Qualität im Recruiting kann beispielsweise dadurch ausgedrückt werden, dass die strategischen Ziele erreicht werden, die gewählten Maßnahmen den gewünschten Effekt erzeugen oder die Erwartungen der Zielgruppen erfüllt wurden. Anzahl Bewerbungen je Kanal  Das Nachverfolgen der Quellen, über die Bewerbungen generiert werden, ist eine der beliebtesten Rekrutierungskennzahlen. Diese Kennzahl hilft, die Effektivität der verschiedenen Rekrutierungskanäle zu verfolgen. Einige Beispiele sind

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Suchmaschinen, Jobbörsen, Social Media oder die Karriereseite des Unternehmens. Noch spannender ist aber die Frage, woher die besten Bewerber kommen. Hierfür helfen Analysen, bei denen die Quality-of-hire mit der Anzahl der Bewerbungen je Kanal verknüpft wird. Job Performance  Wie viele Aufrufe verzeichnet die Karriereseite monatlich? Welche Jobs erzeugen die meiste Aufmerksamkeit? Was sind Engpassberufe für das Unternehmen? Welche Abteilungen, Karrierestufen oder Zielgruppen funktionieren im Recruiting? Und welche nicht? Eine oft verwendete Kennzahl sind die Klicks auf die Stellenanzeige, um herauszufinden, wie viele Kandidaten sich für diese Stelle interessiert haben. Die Klicks auf den Call-to-Action „Jetzt bewerben“ können außerdem zeigen, wie viele Kandidaten von der Stellenanzeige so überzeugt waren, dass sie begonnen haben, sich zu bewerben. Abbruchraten bei Stellenanzeigen zeigen die Differenz von Besuchern der Anzeige zu Kandidaten mit Bewerbungsabsicht. Abbruchraten zum Bewerbungsprozess geben an, wie viele Kandidaten den Bewerbungsprozess begonnen haben, aber die Bewerbung nicht final absenden. Je höher diese Rate ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Bewerbungsformular nicht den Ansprüchen der Bewerber genügt und zwingend angepasst werden sollte. Die Anzahl der eingegangenen Bewerbungen ist ebenfalls eine häufig verwendete Kennzahl. Wie viele Klicks auf der Stellenanzeige sind aber notwendig, um eine Bewerbung zu generieren? Die Errechnung dieser Quote ist hilfreich, um herauszufinden, ob die aktuelle Reichweite ausreichend ist. Eine hohe Anzahl von Bewerbungen automatisch als Erfolg zu werten, kann sich aber als Trugschluss erweisen. Nicht selten kommt eine hohe Anzahl von Bewerbungen zustande, weil der gewählte Stellentitel sehr generisch gewählt wurde oder die Stelle über eine Jobbörse veröffentlicht wurde, die zwar massenhaft Bewerbungen generiert, aber die qualitativen Anforderungen an die Stelle offen bleiben. Die Anzahl von Bewerbungen in einer ausreichenden Qualität ist daher deutlich aussagekräftiger. Offer-Rate  Die Offer-Rate beschreibt, wie viele geeignete Kandidaten ein Vertragsangebot erhalten. Die Offer-Acceptance-Rate gibt das Verhältnis von ausgesprochenen und akzeptierten Angeboten an. Eine niedrige Akzeptanzrate kann ein Indikator dafür sein, dass Vergütung und die weiteren Benefits nicht den Erwartungen der Bewerber entsprechen. Sollte dies gehäuft auftreten, kann eine frühzeitige Diskussion darüber im Bewerbungsprozess ein Lösungsansatz sein. Retention Rate  Die Retention Rate errechnet sich als Prozentsatz der Neueinstellungen, die nach dem ersten Jahr oder der Probezeit noch im Unternehmen sind. Der Verbleib von Mitarbeitern nach dem ersten Jahr ist ein wichtiger Indikator und zeigt, ob eine Einstellung wirklich erfolgreich war. Mitarbeiter, die in ihrem ersten Arbeitsjahr bereits wieder ausscheiden, erreichen nicht das gewünschte Produktivitätslevel und kosten normalerweise viel Geld. Dabei muss man unterscheiden, ob die Kündigung vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer ausging. Ersteres ist oft ein Indikator für eine schlechte Leistung bzw. eine Leistung, die nicht den Erwartungen des Arbeitgebers entspricht oder

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aber eine schlechte kulturelle Passung mit dem Team oder der Organisation. Eine Kündigung aus dem Antrieb des Mitarbeiters heraus ist oft ein Indikator für unrealistische Erwartungen, die den Kandidaten dazu veranlassen, aufzuhören. Dies könnte an einem Missverhältnis zwischen der Stellenbeschreibung und dem tatsächlichen Job liegen, sodass aus dem nicht ausreichenden Gestaltungsspielraum Unzufriedenheit entsteht. Oft liegt der Grund auch beim Recruiting-Team, das eine falsche bzw. zu hohe Erwartungshaltung beim Kandidaten erzeugt hat. Quality-of-hire  Die Qualität der Einstellung wird oft anhand der Leistungsbeurteilung eines Mitarbeiters nach einem bestimmten Zeitraum gemessen. Typische Instrumente hierfür sind Probezeitendgespräche oder Jahresbeurteilungen. Kandidaten mit einer High-Performance-Bewertung deuten auf eine höhere Qualität der Einstellung hin, während das Gegenteil für Kandidaten mit geringer Performance gilt. Niedrige Leistungskennzahlen im ersten Jahr können ein Hinweis auf schlechte Stellenbesetzungen sein und sowohl direkte als auch indirekte Kosten zur Folge haben. In Kombination mit dem Kanal, über den der Kandidat eingestellt wurde, kann die Qualität des Sourcing-Channels messbar gemacht werden. Die Quality-of-hire ist außerdem der Input zur Messung der Erfolgsquote von Einstellungen. Die Erfolgsquote misst sich als Anzahl der Mitarbeiter, die eine mindestens gute Leistung erbringen, geteilt durch die Gesamtzahl der eingestellten Kandidaten. Eine hohe Erfolgsquote bedeutet, dass die meisten Kandidaten gut abschneiden. Eine niedrige Quote bedeutet jedoch, dass der Auswahlprozess noch nicht ausreichend ist, um die benötigte Qualität zu gewährleisten. Praktikantenquote  Der Anteil ehemaliger Praktikanten im Unternehmen gibt Aufschluss darüber, wie zufrieden diese mit ihrem Praktikum waren und aufgrund dessen nun dort beschäftigt sind. Die Quote ehemaliger Praktikanten in der Belegschaft zeigt außerdem, wie gut das Recruiting von Absolventen funktioniert, weil versucht wird, diese Zielgruppe so früh wie möglich für sich zu gewinnen. Logischerweise geht diese Personengruppe erst nach ihrem absolvierten Studium auf den Arbeitsmarkt, sodass Arbeitgeber, die auf der Suche nach Absolventen sind, hier bereits frühzeitig die Weichen für ihren Nachwuchs stellen können. Zufriedenheitsrate der Fachabteilungen Die Zufriedenheit der Fachabteilungen mit neuen Mitarbeitern misst sich entweder an deren Zielerreichung bzw. Performance oder deren kulturelle Passung ins Team. Typische Instrumente zur Beurteilung neuer Mitarbeiter sind standardisierte bzw. dokumentierte Feedbackgespräche, die entsprechend gemessen und ausgewertet werden können. Doch auch bilaterale Gespräche zwischen Führungskraft und neuem Mitarbeiter sind für die Führungskraft hilfreich, um die eigene Zufriedenheit mit der Stellenbesetzung zu beurteilen. Die Beurteilung durch die Führungskraft kann somit erst im Verlauf der Onboarding-Phase erfolgen und liegt im Zeitverlauf deutlich hinter der Einstellung. Performance der neuen Mitarbeiter und Zufriedenheit der Führungskräfte und Fachbereiche mit den neu eingestellten werden

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jedoch sehr selten systematisch gemessen. Darüber hinaus spielt die Zufriedenheit der Fachabteilung in der Zusammenarbeit mit HR während des Recruiting-Prozesses eine wichtige Rolle. Hier hat HR die Möglichkeit, die Zufriedenheit der Fachabteilung über verschiedene Methoden zu erheben und abzufragen. Faktoren, die dabei den Erfolg ausmachen sind z. B. Beratung, Erreichbarkeit, Servicequalität und Kommunikation ­während des Prozesses. Zufriedenheitsrate von Kandidaten  Zufriedenheitsraten von Bewerbern oder Wiederbewerbungsquoten geben Aufschluss über den Zustand der Candidate Experience. Das Recruiting kann als erfolgreich bewertet werden, wenn die Erwartungen der Bewerber erfüllt werden. Die Zufriedenheit von Bewerbern und neuen Mitarbeitern kann durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst werden. Mit dem Wissen um die Zufriedenheit von Kandidaten in Bezug auf die jeweiligen Touchpoints, existiert für HR eine optimale Basis, um die eigenen Prozesse bewerberzentriert auszurichten. Außerdem sollten der Bewerbungs- und der Onboarding-Prozess unabhängig voneinander betrachtet werden, weil die Beurteilung der jeweiligen Prozesse durch die neuen Mitarbeiter nicht zwingend gegenseitig korrelieren. Die Zufriedenheit des neuen Mitarbeiters mit seiner Führungskraft und seinem Team hat einen Einfluss auf den Erfolg des Recruitings. Des Weiteren sollten die Erwartungen des Bewerbers an seine neue Stelle und die tatsächliche Ausgestaltung deckungsgleich sein. Eine realistische Darstellung der Aufgaben ist daher unabdingbar und sollte zu den wesentlichen KPI bei der Bewertung des Recruiting-­ Erfolgs zählen. Bei allen Messungen der Zufriedenheitsrate von Kandidaten und neuen Mitarbeitern muss berücksichtigt werden, dass die Beurteilung mit fortschreitendem Verlauf des Bewerbungsprozesses oder der Zugehörigkeit zum Unternehmen unterschiedlich ausfallen kann.

13.4.4 Aufbau eines Recruiting Analytics Dashboards – Business Intelligence im Recruiting Viele mittelständische Unternehmen stehen vor der Frage, wie Recruiting Analytics konkret in der Praxis umgesetzt werden kann. Bordmittel wie Tabellenkalkulationen stoßen bei umfangreichen und komplexen Analysen schnell an ihre Grenzen. Eine Option wären integrierte Reportings und Business Intelligence Module im Bewerbermanagement. Handelsübliche Bewerbermanagementsysteme verfügen aber heute noch nicht über ein umfassendes Analytics-Tool, dass alle zuvor erwähnten Bereiche zufriedenstellend abdeckt. Ein weiteres Problem bei der Implementierung von Recruiting Analytics ist die Definition der richtigen KPI, weil sie nur das messen können, was die Definition hergibt. Außerdem gibt es in mittelständischen Unternehmen oft keine standardisierten Recruiting-Prozesse für diverse Jobfamilien. Das zu verarbeitende Datenvolumen kann außerdem zum Problem werden beim Aufsetzen von Recruiting Analytics, wenn der zur Verfügung stehende Datenbestand extrem hoch ist. Das Ziel mit Recruiting Analytics

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muss sein, eine transparente Übersicht darüber zu schaffen, welche Kanäle zu welchen Kosten zu wie vielen Bewerbungen und Einstellungen führen. Diese Übersicht sollte dazu führen, dass frühzeitig geeignete Maßnahmen ausgewählt werden können. Um diesen Ansatz zu verfolgen, empfiehlt es sich, sich zu Beginn mit dem Business zusammenzusetzen, um die Bedürfnisse und Sichtweisen besser zu verstehen und die Kollegen an der Entwicklung einer Lösung zu beteiligen. Weitere Schritte sind die unternehmensweite Standardisierung von Recruiting-Prozessen und die Definition von KPI. Hierfür können beispielsweise Hypothesen aufgestellt werden, die mithilfe der Daten verifiziert oder falsifiziert werden. Wichtig ist, dass die KPI im Kontext zur Unternehmensstrategie und der daraus abgeleiteten HR-Strategie stehen. Wenn klar ist, welche Daten zur Analyse herangezogen werden, bleibt die Frage, wie diese aufbereitet werden können. Denn im Ergebnis sollen nicht nur vergangenheitsbezogene Reportings entstehen, sondern die Basis dafür geschaffen werden, dass auch prädiktive Analysen möglich sind oder gar automatisierte Prozesse angestoßen werden können. Ein Data Warehouse kann hier die Lösung sein, um die einzelnen Daten sinnvoll zusammenzuführen, komplexe Wechselwirkungen aufzuzeigen und eine Rundumperspektive zu entwickeln. Recruiting Analytics bringt genau dann die spannendsten Erkenntnisse hervor, wenn einzelne Daten und Systeme sinnvoll miteinander verknüpft und in Echtzeit abrufbar werden. Im Idealfall haben dabei nicht nur Recruiter und Personalmarketeer Zugang, sondern auch Businesspartner und das Business selbst. Aber benötigen mittelständische Unternehmen eine IT-Infrastruktur, die aus vielen kleinen Insellösungen besteht, extremes Spezialwissen benötigt und eine große Menge an Administrationsaufwand bedeutet? Oder ist es besser, eine All-in-One-Lösung bei einem dieser großen unbeweglichen Software-Giganten einzukaufen, bei dem man sich als Mittelständler so gut aufgehoben fühlt, wie ein Fahrradfahrer im Autohaus? Die Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, da sie stark davon abhängt, wie die jeweilige Recruiting-Organisation aufgestellt ist und welche Kompetenzen im Team vorhanden sind. Jedoch eignen sich gerade für mittelständische Unternehmen kleine Anwendungsfälle, die sinnvoll in der Organisation ausgerollt ­werden. Denn die Analyse einzelner Touchpoints kann schnell spürbare Effekte und Verbesserungen bringen. Um Recruiting Analytics im Unternehmen einzuführen, müssen Sie daher nicht sofort das große Rad drehen, sondern können mit vielen kleinen Dingen starten und haben die Möglichkeit, einzelne Maßnahmen zu testen und auszuprobieren.

13.5 Die Rolle des Recruiters Das Berufsbild des Recruiters hat sich in den letzten Jahren sehr stark gewandelt. In der 2018 erstmals erschienen Studie „Recruiter Experience“ von metaHR und stellenanzeigen.de wird deutlich, dass sich das Anforderungsprofil für Recruiter in den kommenden Jahren rapide verändern wird. Außerdem wird das Thema Recruiting Analytics eine immer größere Relevanz innerhalb der Berufsgruppe HR haben.

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So geben 59 % aller Befragten an, dass Recruiter zukünftig unbedingt Fähigkeiten im Umgang mit Analytic Tools benötigen. Recruiter haben grundsätzlich viele Rollen: Sie sind Markenbotschafter, gut vernetzt und kommunizieren mit all ihren Zielgruppen. Gegenüber internen Stakeholdern besitzen sie entsprechende Consulting Skills. Außerdem sind sie Marketingexperten und haben ein ausgeprägtes Händchen für Talente. Recruiter müssen zukünftig zwar nicht programmieren können, es kann aber bei diesem Tätigkeitsprofil nicht schaden, wenn sie gewisse Zusammenhänge verstehen und anwenden können. Das bedeutet beispielsweise, dass Recruiter die wesentlichen Begriffe aus dem IT-Umfeld kennen sollten, um ihre eigene Sprachfähigkeit zu erhöhen. Darüber hinaus sollten Recruiter verstehen, wie Software funktioniert, um den Gestaltungsraum von HR-relevanten Anwendungen mit all ihren Möglichkeiten und Veränderungspotenzialen auszuschöpfen. Recruiter sollten sich außerdem mit neuesten Technologien und Trends beschäftigen, damit sie diese für ihre Arbeit in HR adaptieren und übersetzen können. Die veränderten Erwartungen von Bewerbern erfordern außerdem eine stärkere Serviceorientierung. Alles in allem werden sich die Aufgaben und das Anforderungsprofil für Mitarbeiter in HR noch stärker differenzieren als bisher. Neue Rollen wie der HR (Data) Analyst werden hinzukommen, der eine entscheidende Funktion beim Sammeln, Strukturieren, Analysieren und Berichten von HR-Prozessen und -Daten inne haben wird, um Erkenntnisse in Handlungsempfehlungen umwandeln zu können. Fazit

Um eines vorweg zu nehmen: Die Ausgangsfrage, ob sich Recruiting Analytics für mittelständische Unternehmen eignet, kann ganz klar mit Ja beantwortet werden. Recruiting Analytics ist keineswegs nur ein Instrument großer Konzerne, sondern eignet sich hervorragend für den Einsatz in mittelständischen Unternehmen. Recruiting Analytics schafft v. a. Transparenz und bringt Unternehmen dazu, Zufälle bei Entscheidungen zu vermeiden. Recruiting Analytics versetzt HR-Abteilungen außerdem in die Lage, ihre Budgets effizienter einzusetzen und das Recruiting messbar zu machen. Das verbessert die interne Position von HR und verschafft dem Unternehmen eine bessere Ausgangslage, wenn es darum geht, die besten Mitarbeiter für sich zu gewinnen. Doch bevor es soweit ist, müssen Schwachpunkte während der Candidate Journey und Treiber für Fluktuation identifiziert werden. Wer in der Lage ist, mithilfe den zur Verfügung stehenden Datenquellen die Ursachen und Wirkungen zu erkennen, kann einen exzellenten Recruiting-Prozess schaffen, Fluktuation proaktiv ­managen und Vakanzen schnell besetzen. Die Steuerung durch die festgelegten KPI hilft dabei, individuelle Ziele des Unternehmens zu erreichen und Probleme zu beheben. ­Recruiting Analytics kann darüber hinaus auch als Mindset in HR verstanden werden, das zahlen- und evidenzbasiertes Recruiting in den Mittelpunkt stellt und das Bauchgefühl links liegen lässt. Recruiting Analytics ist also keine Frage der Unternehmensgröße, sondern vielmehr des strategischen Weitblicks, des Veränderungswillens, der analytischen Kompetenz und der Offenheit für technische Unterstützung.

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Literatur Knabenreich, H. (2017). Cost of Vacancy – So viel kostet eine unbesetzte Stelle, Personalmarketing2Null. https://personalmarketing2null.de/2017/10/cost-of-vacancy-so-viel-kostet-eine-unbesetzte-stelle/. Zugegriffen: 16. Nov. 2018. Rütten, M. (2017). Employer brand monitoring – before you act, listen! HR4Good. https://hr4good. com/2017/09/11/employer-brand-monitoring-before-you-act-listen/. Zugegriffen: 11. Nov. 2018. Rütten, M. (2018). Heatmaps im Personalmarketing – Hot Or Not? HR4Good. https://hr4good. com/2018/08/20/heatmaps-im-personalmarketing-hot-or-not/. Zugegriffen: 10. Okt. 2018. Wald, P., Athanas, C., & Schimek, T. (2018). Recruiter Experience Studie 2018. Hrsg. meta HR Unternehmensberatung GmbH und stellenanzeigen.de GmbH & Co. KG, Berlin/München.

Marcel Rütten  ist seit mehr als zehn Jahren im Personalmanagement tätig und verantwortet seit 2019 als Head of Talent Acquisition & Employer Branding bei der Berner Group die Personalgewinnung des international ausgerichteten, familiengeführten Konzerns. Zuvor hat er mehr als sechs Jahre als HR-Manager der Kindernothilfe das Recruiting und Employer Branding der Nichtregierungsorganisation geprägt. Er gilt als einer der Experten rund um das Thema Recruiting und Personalmarketing. Seine Konzepte im HR-Bereich wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Als Referent durfte er zudem in den vergangenen Jahren auf den unterschiedlichsten Veranstaltungen ­sprechen.

Handlungsbedarf: Wie sich das Recruiting an die Zukunft anpassen muss

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Stefan Scheller

Inhaltsverzeichnis 14.1 Lernen im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 14.2 Herausforderung: up to date bleiben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 14.3 Klassische Weiterbildungsangebote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 14.4 Human-Resources-Messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 14.4.1 Was Sie bei der Auswahl von Vorträgen beachten sollten. . . . . . . . . . . . . . . . 186 14.5 BarCamps und Meet-ups. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 14.6 Human Resources Failure Night und Human Resources Fucked up Night. . . . . . . . . . . 187 14.7 Human-Resources-Blogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 14.7.1 News-Blogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 14.7.2 Themen-Blogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 14.7.3 Meinungs-Blogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 14.8 Fachzeitschriften und HR-Magazine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 14.9 Podcasts und Videokanäle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 14.10 Human-Resources-Channels und Newsletter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 14.11 Human-Resources-Studien Download-Portal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

S. Scheller (*)  Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_14

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Zusammenfassung

Mit Blick auf die vorangegangenen Kapitel steht das moderne Recruiting von morgen vor der Herausforderung, sich noch schneller und besser an Veränderungen des Markts anzupassen. Dazu ist es einerseits notwendig, die gesamte Recruiting-Organisation nebst Prozessen und Werkzeugen weiterzuentwickeln. Andererseits müssen die Recruiter 4.0 an ihren Eigenschaften und Profilen arbeiten. Das lebenslange Lernen hat die Personalgewinnung längst erreicht.

14.1 Lernen im Wandel Lernen ist dabei heute wesentlich vielfältiger möglich als noch vor 15 Jahren. Dies liegt u. a. an Formaten wie Blended Learning als Zusammenführung von Präsenzlernen in Seminaren und Workshops und Elementen des eLearning. Unter eLearning werden alle Formate verstanden, bei denen elektronische bzw. digitale Medien zur Vermittlung der Lerninhalte zum Einsatz kommen. Der Einsatz digitaler Medien oder Kanäle im eLearning hat sich in den letzten Jahren stark professionalisiert. Unter diesem Begriff hat sich eine Vielzahl weiterer moderner Lernmethoden gruppiert. Einige davon sind für den Wissensaufbau sowie die Weitergabe von Wissen im HR-Bereich sehr gut geeignet. Lernen löst sich zudem immer stärker von der Räumlichkeit. So lassen sich kleinteilige sog. Lernnuggets (Mikrolerneinheiten) heute via Smartphone oder Tablet überall konsumieren. Rund um den Arbeitsplatz entsteht eine Infrastruktur für ein Learning-on-demand. Das vormalige reine Anhäufen von Vorratswissen erscheint heute weniger zielführend. Lernen soll dann möglich sein, wenn es gebraucht wird. Dies steigert einerseits die Lerneffektivität, da neues Wissen sofort angewendet werden kann, andererseits wächst die Motivation zum Lernen. Denn aus der Hirnforschung wissen wir längst, dass wir dann besonders aufnahmebzw. leistungsfähig sind, wenn wir uns beim Lernen am Ort unserer Wahl wohlfühlen. Lernen erfolgt auch in kollaborativem Rahmen, z. B. durch sog. Massive Open Online Courses (MOOC), bei denen Hunderte oder gar Tausende Menschen gleichzeitig miteinander Lernen. Trotz dieser Skaleneffekte wird Lernen gleichzeitig deutlich individueller. One-size-fits-all-Formate stellen häufig lediglich den Auftakt für ein deutlich persönlicheres Lernen dar.

14.2 Herausforderung: up to date bleiben Es führt kein Weg daran vorbei: Im Recruiting tätige Personaler müssen sich mit den Veränderungen ihres Aufgaben- und Verantwortungsbereichs immer stärker auseinandersetzen. Es gilt up to date zu bleiben. Verschlafen sie Trends, z. B. die Einführung von kostenlosen Stellenanzeigen auf Facebook oder gar den auch in Deutschland anstehenden Start von Google for Jobs, geraten sie zunehmend ins Hintertreffen.

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Nicht nur die großen Social-Media-Portale versuchen, einen Großteil der zukünftigen Personalgewinnungsprozesse über ihre Plattformen laufen zu lassen. Teilweise haben diese Bestrebungen zur Folge, dass sich Recruiting-Prozesse radikal – oder wie man neudeutsch sagt: disruptiv – ändern werden. Die Folgen des Nichtkennens solcher Trends könnten beispielsweise ein: • • • • •

Zunehmende technische Sichtbarkeitseinschränkung der eigenen Stellenanzeigen Deutlicher Rückgang der Bewerberzahlen durch das Festhalten an sterbenden Kanälen Überdurchschnittlich hoher Ressourceneinsatz für die Personalgewinnung Fehlerhafte Ansprache von potenziellen Bewerbern Missglückte Personalauswahl bei Einsatz von zweifelhaften Verfahren, wie Grafologie

Zum Glück finden sich auf dem Markt mannigfaltige Angebote, um den eigenen Kenntnisstand auf dem Laufenden zu halten.

14.3 Klassische Weiterbildungsangebote Großen Zulauf haben weiterhin klassische Weiterbildungsformate wie Seminare und Workshops. Neben einer Vielzahl kleinerer Anbieter haben sich v. a. große Player wie die Deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP), die Quadriga Hochschule oder die Haufe Akademie einen Namen gemacht. Sie bieten beispielsweise Ausbildungs- und Zertifikatslehrgänge in Form eines mehrtägigen Curriculums an. Neben theoretischen Grundlagen sollen dabei v. a. die praxisnahen Fähigkeiten der Teilnehmer verbessert und trainiert werden. 

Tipp: Achten Sie bei der Buchung entsprechender Weiterbildungen unbedingt auf die Praxisnähe der Referenten und Workshopleiter.

Darüber hinaus sind in den letzten Jahren auf dem Markt zahlreiche sehr themenspezifische Kongresse und Tagungen entstanden. Egal ob es um den Aufbau einer Arbeitgebermarke, Social Media Recruiting oder Active Sourcing geht – auf einer eintägigen oder zweitägigen Fachveranstaltung erhalten Sie geballtes Wissen zum Thema. Einige wenige Beispiele hierfür sind die Social Recruiting Days (#SRD), das Sourcing Summit Deutschland (#SoSuDe) oder der Recruiting Convent (#RC18).

14.4 Human-Resources-Messen Früher dienten Messen für Personaler einzig der Leistungsshow der Anbieter und somit dem Verkauf der eigenen Dienstleistungen und Produkte. Zwischenzeitlich bieten Messen, wie beispielsweise die Zukunft Personal Europe mit ihren Ablegern Zukunft Personal Nord

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und Süd oder auch die Talent Pro, eine Vielzahl an Vorträgen und Workshops zu spezifischen Themen rund um Trends und Entwicklungen auf dem Markt. Das Feld der Referenten dabei ist bunt gemischt. Neben Human-Resources(HR)-Dienstleistern, Beratern und Agenturen finden sich auf den Listen der Speaker auch zunehmend HR-Praktiker. Leider wird insbesondere unter den Stichwörtern Digitalisierung des Recruitings oder Personalarbeit 4.0 oft munteres Buzzword-Bingo gespielt. Der Mehrwert solcher Vorträge hält sich dann häufig in Grenzen.

14.4.1 Was Sie bei der Auswahl von Vorträgen beachten sollten Achten Sie auf den Praxisbezug der Vortragenden. Reines Beraterwissen hilft Ihnen in den seltensten Fällen weiter. Die Vorträge von Dienstleistern sind zudem oft von stark vertrieblichen Absichten geprägt. Einen deutlichen Hinweis auf qualitativ hochwertige Inhalte, die für einen Referenten sprechen, geben dessen sonstige Aktivitäten. Recherchieren Sie daher vor dem Besuch eines Vortrags im Internet! 

Folgende Kriterien sprechen für die Expertise eines Referenten: • Kostenlose Weitergabe von fachlicher Expertise im Internet • Regelmäßige Aktivitäten, z. B. Schreiben eines HR-Blogs oder von Fachbeiträgen bzw. Fachbüchern • (Eigene) Produkte und Dienstleistungen bleiben weitestgehend im Hintergrund • Hoher Praxisbezug • Aufbau einer einzigartigen Eigenmarke als Vordenker

So sollten Sie Betreiber eines spezialisierten Blogs oder Podcasts oder eines vergleichbaren Mediums, die fortlaufend an der thematischen Verbreitung ihrer Expertise arbeiten, rein vertrieblich orientierten Anbietern ohne Veröffentlichungen im (Social) Web vorziehen.

14.5 BarCamps und Meet-ups Weitere Veranstaltungsformate, die sich sehr gut für ein Wissens-Update eignen, sind sog. BarCamps und Meet-ups. Bei beiden Formaten kommen vorwiegend Praktiker zusammen, um spezielle Themen zu bearbeiten. Während auf dem BarCamp als sog. Un-Conference die Agenda erst im Lauf der Veranstaltung durch sog. Pitches der Teilnehmer entsteht, wird zu einem Meet-up meist bereits thematisch eingeladen. In spezifischen Sessions von rund einer Stunde werden in kleineren Gruppen Themen frei bearbeitet. Oftmals gibt es einen kurzen Impuls des Sessiongebers, bevor es in die Diskussion geht.

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Der große Vorteil einer Teilnahme an einem HR-BarCamp oder einem HR-Meet-up liegt in der deutlich gesteigerten Interaktivität. Statt reiner Wissensaufnahme steht der gegenseitige Austausch der Teilnehmer untereinander im Vordergrund. Praxiswissen wird auf Augenhöhe weitergegeben, Erfahrungen werden ausgetauscht. Durch diese sehr kommunikationsintensiven Formate entstehen häufig persönliche Netzwerke, auf deren Mitglieder bei konkreten Fragen im Alltag einfach zurückgegriffen werden kann. BarCamps und Meet-ups stehen somit für Vernetzen und praxisbezogenes Lernen voneinander.

14.6 Human Resources Failure Night und Human Resources Fucked up Night Mit der HR Failure Night bzw. HR Fucked up Night kamen in den letzten Jahren komplett neue Veranstaltungsformate auf dem Markt. Dort, wo klassische Seminare und Workshops mit einem Best-Practice-Ansatz locken, setzt die HR Failure Night einen Kontrapunkt. Von den Besten lernen ist gut. Aber es hilft oftmals sogar noch mehr, aus den Fehlern und dem Scheitern der anderen zu lernen. Diese Methodik steht im Zentrum dieser oftmals sehr geselligen Abendveranstaltungen. Aus Fehlern zu lernen und Scheitern positiv für die eigene Entwicklung zu nutzen, ist auch für Personaler immer wichtiger. Die HR Failure Night ist ein geeigneter Ort dafür.

14.7 Human-Resources-Blogs HR-Blogs stellen eine der herausragendsten Möglichkeiten dar, um über aktuelle Trends umfassend informiert zu sein. Dies liegt daran, dass die meisten Blogs eine thematisch sehr klare Ausrichtung besitzen und viel schneller auf Neuigkeiten aus dem Markt reagieren können als klassische Printformate wie Zeitschriften oder Magazine. Dabei gibt es unterschiedliche Ausrichtungen von HR-Blogs: • News-Blogs • Themen-Blogs • Meinungs-Blogs

14.7.1 News-Blogs Auf News-Blogs erhalten Sie v. a. aktuelle Informationen, z. B. über neue Anbieter, Produkte oder Dienstleistungen. Die Wissensvermittlung erfolgt entweder in Nachrichtenform oder via Interview. Nicht selten sind diese News werblich und wurden kostenpflichtig durch den jeweiligen Anbieter eingebucht. Da leider häufig eine Kennzeichnung als Werbung unterbleibt, ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten. Trotzdem können

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News-Blogs einen guten Einstieg für die weitere Recherche, v. a. in ein neues Thema ­bieten. Drei Beispiele für News-Blogs: • crosswater-job-guide.com • saatkorn.com • online-recruiting.net

14.7.2 Themen-Blogs Deutlich spezialisierter sind sog. Themen-Blogs. Jeweils zu einem Fachgebiet werden sowohl aktuelle News als auch allgemeine Abhandlungen und Entwicklungen beschrieben. Darüber hinaus beleuchten die Autoren Themen aus einer ganzheitlichen Expertensicht. Dies macht sie zu Leuchttürmen mit einer besonderen Sichtbarkeit und Bedeutung im Markt. Häufig besitzen die Autoren der Blogs eine inhaltliche Themenführerschaft im Markt. Die überwiegend kostenfreie Weitergabe des Expertenwissens an die Leser steht bei diesen HR-Bloggern im Vordergrund. Im besten Fall geschieht dies vollkommen ohne jeglichen Bezug zu einem Produkt des Autors. Beispiele für Themen-Blogs: • • • •

Blog.recrutainment.de metaHR.de Wollmilchsau.de NocheinPersonalmarketingBlog.blogspot.com

14.7.3 Meinungs-Blogs Neben stark sachorientierten Blogs etabliert sich immer stärker eine dritte Kategorie mit dem Schwerpunkt Meinung. Der Mehrwert dieser Blogs liegt darin, dass sie Trends und Entwicklungen sowie die Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt kritisch hinterfragen und teilweise auch auf Praxistauglichkeit testen. Meinungsblogs sind i. d. R. unabhängiger und können inhaltlich freier agieren. Beispiele für Meinungs-Blogs: • • • •

Personalmarketing2null.de HR4good.de HRisnotacrime.com Persoblogger.de

Selbstverständlich ist diese Aufteilung der Blogs alles andere als trennscharf. Dennoch kann das grundlegende Verständnis der Ausrichtung eines Blogs dabei helfen, die

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passende Mischung für das eigene Up-to-date-Bleiben zu finden. Und genau auf diese Mischung kommt es an. Suchen Sie sich daher für Sie passende Blogs aus jedem Bereich aus und abonnieren sie diese noch heute! Auch lohnt es sich, Meinungsführern und HR-Experten auf Twitter zu folgen. Dort erhalten Sie ungefilterten und topaktuellen Zugang zu geballtem Wissen für Ihren Fachbereich. Zu guter Letzt ein paar Beispiele internationaler Blogs und Plattformen: • • • •

HRweb.at Frechmut-blog.ch Ere.net Theundercoverrecruiter.com

14.8 Fachzeitschriften und HR-Magazine Zwischenzeitlich arbeiten auch große Fachzeitschriften und HR-Magazine intensiv mit HR-Bloggern zusammen. Die bekanntesten Printmedien, darunter • Personalmagazin, • Personalwirtschaft, • Human Resources Manager, • Personalperformance, • managerSeminare und • Personal Quarterly, greifen immer häufiger auf Blogger als Autoren zurück. Die Zusammenarbeit ist dabei für alle Seiten fruchtbar: Über die Online-Portale der Magazine werden einzelne Beiträge mit wichtigen News und Informationen rund um das Thema Personal angereichert. Gleichzeitig werden den Lesern wie beispielsweise bei @haufe die interessantesten Blog-Beiträge wochenweise auf Twitter präsentiert und vorgestellt. Darüber hinaus bieten Fachzeitschriften und HR-Magazine einen guten Überblick zum vertieften Einstieg in ein Thema. Viele der Angebote sind zwischenzeitlich auch in unterschiedlichen digitalen Formaten zugänglich.

14.9 Podcasts und Videokanäle Für eine stärker audiovisuelle Vermittlung von HR-Wissen eignen sich die ebenfalls immer zahlreicher werdenden HR-Podcasts und Videokanäle. Neben kurzen unterhaltsamen Episoden aus dem HR-Leben, widmen sich einige Podcasts der ausführlichen Diskussion einzelner Themen aus der Personalerwelt.

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Beispiele für HR-Podcasts: • Personalerschnack.de • hzaborowski.de/podcasts • lovinghr.de Einen sehr lehrreichen und kurzweiligen YouTube-Kanal betreibt Prof. Dr. Uwe Peter Kanning unter dem Titel „15 Minuten Wirtschaftspsychologie“. In viertelstündigen Episoden werden sowohl Recruiting-Methoden als auch Theorien und Personalerglaubenssätze wissenschaftlich untersucht und auf extrem unterhaltsame Weise kritisch beleuchtet.

14.10 Human-Resources-Channels und Newsletter Das soziale Business-Netzwerk XING hat in den letzten Jahren zahlreiche News-Channels aufgebaut. In der Kategorie Personalwesen lassen sich aktuelle Nachrichten aus dem HR-Kosmos abonnieren. Dieser Service fungiert dabei als News-Aggregator. Das heißt, die am häufigsten auf XING geteilten Beiträge mit HR-Bezug werden in einer Art Best-of bereitgestellt und via Newsletter beworben. Hier dominieren allerdings häufig die Beiträge großer Portale oder Medien. Ähnliche Leistungen bietet das Abonnement des Quadriga-Newsletter. Nutzer erhalten täglich eine kuratierte Auswahl an wissenswerten Beiträgen aus dem gesamten HR-Spektrum.

14.11 Human-Resources-Studien Download-Portal Einen gewissen Grad von wissenschaftlichem Hintergrundwissen zu liefern, ist im weiteren Sinn auch der Anspruch des seit Anfang 2018 bestehenden HR-Studien Download-Portals (www.hr-studien-download.de). Das Ziel des Portals: Einen relevanten Einstiegspunkt zu bieten für die Recherche rund um HR-Themen. In den sechs Kategorien • • • • • •

Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Recruiting und Bewerbung, Personalmarketing und Employer Branding, Arbeit 4.0 und New Work, Führung und Personalentwicklung sowie HR allgemein und Digitalisierung

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stehen bereits über 300 Studien und Infografiken aus 2017 bis 2019 zum kosten- und anmeldungsfreien Download zur Verfügung. Die Sammlung wird insoweit erweitert und kuratiert, als dass rein vertriebliche Publikationen nicht veröffentlicht werden. Befragungsergebnisse müssen einen gewissen Reifegrad besitzen und einen Mehrwert für die Nutzer liefern. Dafür können sie diese entweder zum Aufbau von Hintergrundwissen oder für die Recherche bei eigenen Arbeiten oder Präsentationen und Vorträgen unter Angabe der Urheberschaft nutzen. Sollten Sie zukünftig entsprechende Hintergrundinformationen benötigen, beispielsweise wie die von Ihnen gesuchte Bewerberzielgruppe auf die Ansprache reagiert oder welche Anforderungen sie an einen neuen Arbeitgeber hat, finden Sie auf dem HR-­ Studien Download-Portal und via Twitter (@HRStudien) ausführliche Antworten.

Stefan Scheller verantwortet das Personalmarketing der DATEV eG. Auf seinem privaten Blog unter Persoblogger.de schreibt er ­kritisch zum Thema Personalmarketing, Recruiting, Employer Branding, die Digitalisierung von Human Resources (HR) sowie über aktuelle Personalertrends. Daneben testet er Anbieter und deren HR-Dienstleistungen und bloggt darüber. Stefan Scheller ist mehrfacher Buchautor und Keynote-Speaker. Seit 2018 betreibt er das www.hr-studien-download.de Portal als Mehrwertservice für seine Leser.

Die HR TEC Nights – digitale Bildung im Snackformat

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Michael Witt und Robindro Ullah

Inhaltsverzeichnis 15.1 Digitale Bildung in Deutschland – Gibt es den Status quo?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 15.2 Ist die Digitalisierung nun ein Problem oder die Lösung für Human Resources?. . . . . . . 195 15.3 Digitalisierungshappen für Human Resources – leicht verdaulich und verstetigt. . . . . . . 197 15.4 Die HR TEC Nights – weil die Zukunft gestern begann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 15.5 HR TEC Nights – die ersten Insights. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Zusammenfassung

Durch die in diesem Buch aufgezeigten Veränderungen im Recruiting durch die Möglichkeiten der Digitalisierung entsteht eine neue Facette des Berufsbilds von Recruitern, die durch herkömmliche Bildungsformate wenig abgedeckt wird. Dadurch, dass sich sowohl Technologien als auch Methoden in zukunftsweisenden Themen, wie Analytics, künstliche Intelligenz oder Robotics stetig weiterentwickeln, ist es zwangsläufig wichtig, dass Bildungsformate sehr agil sind und auf aktuelle Entwicklungen eingehen können. Gleichzeitig ist das Publikum – der Recruiter – noch sehr am Anfang seines Wissenserwerbs in diesen Teilbereichen und muss früh genug abgeholt werden. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wurde das neue Format der HR TEC Nights konzipiert. M. Witt (*)  Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Ullah  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_15

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Dass sich die Arbeitswelt in den letzten Jahren von Grund auf verändert hat, ist vermutlich an niemandem vorbeigegangen. Auch im Personalwesen und insbesondere im Recruiting nimmt die Digitalisierung raumgreifende Züge an, wie wir in den vergangenen Kapiteln gelesen haben (Kap. 2). Es ist also zwingend an der Zeit, sich mit den Themen der neuen und technologischen Arbeitswelt auseinanderzusetzen. Der erste Schritt ist sicherlich getan: Sie halten ein Buch in ihren Händen, das sich mit dem digitalen Recruiting auseinandersetzt und notwendige Impulse, Anregungen und Praxiseinblicke liefert. Doch wenn sich Arbeitsbereiche und deren Inhalte so stark und v. a. mit einer zunehmenden Geschwindigkeit verändern, wie kann dann sichergestellt werden, dass diejenigen, die darin arbeiten, stets über das aktuellste Know-how und die entsprechenden Kompetenzen verfügen, ohne dafür Unsummen an Budget und unzählige Fehltage für Fortbildungen zu investieren? Snack Learning ist ein Format, das hierfür eine geeignete Antwort bieten kann – in regelmäßigen Abständen werden kurze, verarbeitbare und mundgerechte Happen Wissen vermittelt in einem Format, das Bildung zum Kinopreis ermöglicht und nach Feierabend stattfindet – in diesem Fall die Entstehungsstunde der HR TEC Nights. Warum diese Idee ins Leben gerufen wurde und mit welchen Themen sich diese Community in ihrer Freizeit beschäftigt, erfahren Sie im folgenden Abschnitt.

15.1 Digitale Bildung in Deutschland – Gibt es den Status quo? Erst vor Kurzem hat die deutsche Bundesregierung den Digitalpakt1 zwischen Bund und Ländern beschlossen und somit Deutschland indirekt als digitales Entwicklungsland gebrandmarkt (BMBF 2018). Der Bereich, an dem der Digitalpakt ansetzt, ist jedoch absolut richtig und nachvollziehbar: er beginnt in den Schulen und bei den Schülern, also unseren heranwachsenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Blicken wir ein wenig globaler auf die deutsche Wirtschaft und Industrie so scheint es, dass wir einige Jahre schlichtweg verschlafen haben in denen sich Forschung und Entwicklung auf die neue Zeit hätten einstellen sollen. Industrie 4.0, künstliche Intelligenz und schnelles, flächendeckendes Internet waren und sind teilweise leere Worthülsen und nicht mehr als politische Versprechen. Jetzt beschlossen auf höchster Ebene wird sich hier mit dem üblichen Zeitversatz hoffentlich Wirkung entfalten. Die infrastrukturelle Ausstattung und der Zugang zu den notwendigen Fortschritten der Digitalisierung sind aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sind die Menschen und in unserem Kontext die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und konkret Recruiter, die sich mit den technologischen Neuheiten auskennen und sie auch anwenden müssen. Hier ist dennoch eine klare Grenze zwischen privater Nutzung in Form vom beispielsweise digitalen Freizeit- oder Shoppingangeboten und dem Einsatz im beruflichen Umfeld zu ziehen. Setzten wir auf ein digitalisiertes Arbeitsumfeld,

1Kurze

Bezeichnung für den Digitalpakt Schule, der 2018 beschlossen wurde.

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so ­werden Themen wie Wertschöpfung und Produktivität neu zu organisieren und zu beleuchten sein. Der Umgang damit und der Wandel dahin müssen inhaltlich begleitet und bestenfalls moderiert werden. Versuchen wir in einem ersten Schritt die Lage der digitalen Bildung in Deutschland zu erfassen, können uns dabei verschiedene Studien helfen. Stellvertretend sei hier die als repräsentativ geltende Studie D21-digital-Index herangezogen, die mithilfe von 20.000 Interviews ein jährliches Lagebild der digitalen Gesellschaft in ­ Deutschland erhebt (Initiative D21 2018). Das Gute gleich einmal vorweg: Der Digital-Index ist in Deutschland 2017/2018 um 2 Punkte auf 53 (von 100) gestiegen. Der Digital-Index beschreibt einen Mittelwert, der aus insgesamt vier Rubriken gebildet wird. Innerhalb dieser Rubriken werden verschiedene Aspekte einer digitalen Gesellschaft bewertet. Es wird u. a. der Zugang zum Internet betrachtet, die grundlegende Offenheit und das Nutzungsverhalten bezüglich digitaler Produkte oder Dienstleistungen, die Kompetenz dieses zu tun und die Art der Nutzung, also die Geräte oder Assistenzsysteme, wie digitale Angebote wahrgenommen werden. Vertiefen wir teilweise die Studienergebnisse so können wir sehen, dass wir den „mobile moment“ mit 68 % mobilem Anteil an der Internetnutzung in Deutschland schon deutlich überschritten haben. Darüber hinaus sagt die Hälfte aller repräsentativ Befragten, dass sie sehr skeptisch gegenüber digitalen Assistenzsystem sind. Dies gilt sowohl für Anwendungen im Smart-Home-Bereich als auch für Kollege Roboter. Eine weitere spannende Aussage, die innerhalb der Studie zutage gefördert wurde, betrifft das mobile Arbeiten. Hier geben nur 16 % an, dass sie dies tun. Bei den 84 %, die nicht mobil arbeiten, sehen 58 % keine Möglichkeit in ihrem Beruf und 26 % sehen keine Möglichkeit in ihrem Unternehmen. Ein weiterer Insight aus der Studie ist, dass die grundlegende Akzeptanz innerhalb der gesamten Bevölkerung bezüglich der Digitalisierung und ihren Produkten steigt. Dennoch sagt die Studie klar aus, dass die Digitalkompetenz in Deutschland deutlich zu wünschen übriglässt. So wird gesagt, dass maximal die Hälfte der Bevölkerung die Begrifflichkeiten der Digitalisierung versteht. So gut die Ergebnisse auf der einen Seite doch klingen mögen, so erschreckend sind sie auf der anderen Seite. Es wird ganz klar herausgestellt, dass es eine deutliche Wissenslücke zwischen den Anforderungen der Digitalisierung und dem Können bezogen auf das digitale Know-how in der breiten Gesellschaft gibt. Hier besteht zum einen dringender unternehmerischer Handlungsbedarf, aber auch privat motivierter Wille zur Mitgestaltung darf dabei nicht fehlen.

15.2 Ist die Digitalisierung nun ein Problem oder die Lösung für Human Resources? Im Zeitalter der Digitalisierung bildet ein modernes Personalmanagement eine Menge von Tätigkeiten ab, die heute zunehmend technologische Unterstützung benötigen. Durch die unzähligen Möglichkeiten und Wissensquellen, die uns beispielsweise die

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Nutzung des Internets bietet, benötigen wir Hilfe, um die Daten in Struktur zu bringen um einen Informations-Overflow zu umgehen. Nehmen wir technische Hilfe an, werden wir schneller und sind effizienter – so der Duktus der Verfechter der Digitalisierung. Allein bei der Betrachtung des Bewerbungsprozesses der letzten 20 Jahre wird deutlich, wie immens sich die Arbeitswelt im Wandel befindet und wie die Ansprüche der Bewerber sich ändern und auch der Bearbeitungsaufwand für Recruiter dadurch wächst. Dem Bewerber bieten sich zahlreiche Optionen, sich zu bewerben. Er sucht sich mittlerweile den Arbeitgeber aus und stellt seine Anforderungen an die neue, digitale Arbeitswelt, die aus Work-Life-Balance, Life-long-Learning und dem am besten ausgestatteten technologischen Arbeitsplatz bestehen. Die Digitalisierung verändert grundlegend und rasend schnell die Art und Weise, wie Unternehmen in Arbeit organisiert werden. Die aktuelle Arbeitswelt steht vor einem Berg an digitalen Informationen und Daten, die in die richtige Reihenfolge gebracht und an den richtigen Stellen sortiert und zugeordnet werden müssen. Aufseiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer machen sich dagegen Panik und Verunsicherung breit und es stellen sich zunehmend drängende Fragen: Wie komme ich mit der neuen digitalen Art zu arbeiten klar und werde ich womöglich durch eine Maschine ersetzt? Wird dieser angesprochene Wandel nicht durch Human Resources (HR) und die Unternehmen selbst moderiert, dann kann das durchaus zu Ängsten bei den Mitarbeiter führen. Die weitere Folge ist, dass Vorhaben im Sinn der Digitalisierung oftmals nicht wohlwollend begrüßt werden. Ablehnung und der fehlende Drang, sich mit Themen der Digitalisierung auseinanderzusetzen, zeichnen sich im Fortgang einer weiteren Spiralbewegung ab. Diesem Trend gilt es schnell und konsequent entgegen zu steuern durch: • beratendes Change Management für die eigenen Mitarbeiter in einem realistischen Kontext, • eine mitarbeiterorientierte Organisationsentwicklung unter Berücksichtigung eines innovativen Arbeitsumfelds, • eine integrative Weiterbildung der Mitarbeiter angepasst an Bedarfe des Unternehmens und des Einzelnen. Die Digitalisierung lässt uns jedoch für eine traditionelle langfristige Projektplanung zu diesen Themen kaum Zeit, denn wir alle handeln schneller, denken vernetzter. Bei der Implementierung einer digitalen Unternehmenskultur müssen alle an einem Strang ziehen: Bewerber werden online rekrutiert und sollten eine optimierte und effiziente Candidate Journey schon im Bewerbungsprozess erfahren, gleichzeitig sollten bestehende Mitarbeiter in ihren digitalen Kompetenzen geschult werden. Abteilungen wie beispielsweise HR und IT müssen viel enger miteinander arbeiten, um technologische Prozesse verständlich und effizienter zu gestalten usw. Dies betrifft nicht nur die Suche nach den besten Mitarbeitern für das Unternehmen, sondern auch das Weiterentwickeln und Unterstützen neuer und bestehender Mitarbeiter, um die digitale Zukunft zu gestalten.

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Laut einer Korn-Ferry-Studie aus dem Jahr 2017 wird es für zukünftige Führungskräfte zunehmend wichtiger, ausgeprägte Soft Skills in das Unternehmen zu bringen (Haufe 2017). Dabei sind zusätzliche Kompetenzen wie u. a. technologisches Knowhow, Innovationsfähigkeit und Personal- und Kulturkompetenz gleichauf genannt – und dies gilt für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Unternehmens, auch für die, die im Bereich Human Resources arbeiten! Und HR wird in vielen Unternehmen die Rolle des digitalen Change Managers zugewiesen. Dabei wird häufig vergessen, dass auch Personaler den digitalen Umwälzungen nicht von heute auf morgen Herr werden können. Es fehlt an Wissen und Zeit, sich diese Kompetenzen anzueignen. Diesen Zustand können wir nahezu getrost auch für die ganze HR-Szene konstatieren, wo aktuell ein enormer Wissens-Gap in den Bereichen der Digitalisierung zu verzeichnen ist. So exponentiell auch der hybride Bereich der HR-IT wächst, so schnell ändert sich weder das Mindset noch wächst auch das Wissen in den Personalabteilungen derartig rapide. Fortbildungen in diesem Bereich sind umfangreich, teuer, zeitlich begrenzt und bilden meist nur einen Bruchteil des nötigen und dann auch wieder schnell veralteten Wissens ab. Auch aufseiten der Dienstleister besteht eine Verständnislücke. Was viele HR-­ Softwareanbieter und -berater bis heute nicht verstanden haben und auch die HR-Startups aus dem Tec-Bereich nicht: Ihre Lösungen verkaufen sich nicht bzw. funktionieren nicht, wenn die User aufgrund mangelnden digitalen Verständnisses deren Nutzen nicht erfassen. Wie oft haben wir bei Kunden Beispiele vorgefunden, in denen das volle Potenzial einer Software nicht erkannt wurde und diese deswegen auf der Abschussliste stand (Ullah und Witt 2018).

15.3 Digitalisierungshappen für Human Resources – leicht verdaulich und verstetigt Versuchen wir die zwei soeben diskutierten Stränge zusammenzuführen, so wird deutlich, dass auf der einen Seite in Unternehmen die infrastrukturelle und technische Ausstattung an Hard- und Softwarelösungen sowie das Wissen über Anwendung mitunter nicht vorhanden sind. Zudem fehlt es auf der anderen Seite, unabhängig ob die erforderliche Infrastruktur bereitsteht oder nicht, an Know-how und wahrscheinlich an einem grundlegenden Digital-Mindset. Eines muss bei dieser umfänglichen Betrachtung aber klar sein: Die Zukunft beginnt bereits gestern. Doch wie können sich Personalschaffende für ihre neuen Aufgaben im Unternehmen fit machen, ohne dass sie wertvolle Zeit im Alltagsgeschäft verlieren? Sind die HR-Abteilungen nicht im besonderen Maß Unternehmensteile, die in den Themen der Digitalisierung weiterentwickelt werden müssen, da sie auch eine beratende und/ oder eine coachende Rolle einnehmen sollen? Deshalb steht es außer Frage, dass insbesondere auch Personaler sich weiterbilden müssen, um den Anforderungen des Digital Change gerecht zu werden. Dabei muss das lebenslange Lernen integrativ sein und in

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bestimmten Themen unterstützen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass das digitale Wissen unabhängig, beispielsweise in der Freizeit, ohne Urlaubstage zu nehmen und bezahlbar erworben werden soll. Stellt man sich der bereits gestern begonnenen Zukunft und will man sich darüber informieren und sich weiterbilden, so benötigt man i. d. R. inhaltlich theoretische Begleitung. Diese fachlichen Inputs können heutzutage auf unterschiedlichste Art und Weise in Form von Fort- und Weiterbildungen erlangt werden. Eine Internetrecherche zeigt, dass hier letztendlich bekannte und bereits etablierte Fortbildungsangebote zwar inhaltlich angepasst, aber faktisch nur weitergeschrieben wurden. Vor allem scheinen Kongresse, die sich mit der Digitalisierung auseinandersetzen, nicht nur aufseiten der Zielgruppen auf Interesse zu stoßen, sondern auch für die Anbieter ein neues lukratives Geschäftsfeld zu sein. Wer schon einmal eine ein- bis zweitägige Fortbildung, vollgepackt mit theoretischen Inhalten, Neuem und Innovationen besucht hat, der kann für sich selbst einmal den sog. Praxistransfer bewerten. Also die Teile, die nachhaltigen Einfluss auf ihre Arbeit genommen haben. Und wenn wir schon dabei sind, uns ein wenig an die Nase zu packen, wie oft gehen Sie denn im Jahr auf Seminare, Fortbildungen oder Kongresse im Bereich der Digitalisierung? Weiter oben haben wir es schon besprochen: Die Themen und Anwendungen der Digitalisierung gehen so schnell vonstatten, dass es nicht ausreichen mag, ein bis zwei Mal pro Jahr sich über die aktuellen Trends und Neuerungen zu informieren. Es benötigt einen verstetigten Wissensaufbau der gesamten HR-Community in den Bereichen HR-TEC und Digitalisierung. Das Ziel einer Fortbildungsreihe muss sein, Digitalisierung und HR-TEC greifbar und begreifbar für alle zu machen und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf ihrem Weg der Digitalisierung zu begleiten und immer wieder neue Impulse zu geben. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dann möglichst direkt in den eigenen Berufsalltag einfließen können, und dabei ist jedem selbst überlassen, in welcher Intensität sie bzw. er sich damit beschäftigt.

15.4 Die HR TEC Nights – weil die Zukunft gestern begann Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen war und ist es an der Zeit, sich konzeptionell mit einem neuen verstetigten und begleitenden Fortbildungsformat auseinanderzusetzen. Im Februar 2018 war es dann tatsächlich soweit und die erste HR TEC Night fand in Stuttgart statt. Die HR TEC Nights verstehen wir als eine deutschlandweite Bildungsoffensive im Personalwesen, die sich intensiv mit der Digitalisierung des gesamten Berufsbilds und ihrer digitalen Arbeitsweise auseinandersetzt. Dabei sollen praxisnahe und aktuelle Inhalte vermittelt und gemeinsam diskutiert werden (Witt 2018). Das Rezept ist dabei recht einfach: In mehreren Städten werden zu HR-TEC-spezifischen Fokusthemen zwei- bis dreistündige Feierabendsessions angeboten. Zwei Spezialisten beleuchten ihre

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Erfahrungen und zeigen ihre digitalen Lösungsansätze in zwei jeweils 30-minütigen Beiträgen auf, die im Anschluss mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammen diskutiert werden. Den Abschluss bildet immer ein Panel mit allen Referenten unter Einbindung des Plenums. Bei ein paar Happen zu Essen und Getränken ist nach dem Input dann ausreichend Platz, um sich mit den anwesenden Kolleginnen und Kollegen zu vernetzen und über die zuvor gehörten Themen auszutauschen. Neben den Offline-Veranstaltungen in ganz Deutschland ist es unser Ziel, eine HR TEC Community zu etablieren, die sich offline sowie online austauscht und dabei unterstützt, die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern und gemeinsam anzugehen. Nur voneinander lernen, heißt miteinander wachsen. Welche Erfahrungen machen die unterschiedlichen Unternehmen? Wo gibt es die größten Herausforderungen? Wie gehen Start-ups an solche Themen heran? Welche Software kann unseren Bedarf decken? Wie sieht die Zukunft des Recruitings aus und worauf muss ich mich und mein HR-Team einstellen, um die richtigen Talente im Unternehmen zu finden und zu binden? Bei all diesen Fragen soll keine HR-Abteilung mehr allein gelassen werden. Offline setzen wir deshalb auf den direkten und intensiven Austausch zwischen allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Online bieten wir der wachsenden HR TEC Community zusätzlich die Möglichkeit, sich über verschiedene Kanäle zu informieren: In unserem Newsroom auf unserer Website2 veröffentlichen wir regelmäßig Beiträge zu aktuellen Themen und Trends aus der HR-TEC-Szene. Darüber hinaus führen wir regelmäßig Interviews mit spannenden Vertretern der HR-TEC-Szene, um direkt hinter die Kulissen der Technologie und Digitalisierung zu schauen.

15.5 HR TEC Nights – die ersten Insights Nach nunmehr fast einem ganzen Jahr HR TEC Night können wir festhalten, dass die Überlegungen, die wir für diese Fortbildungsreihe angestellt haben, gut aufgingen. Wir haben 2018 insgesamt neun HR TEC Nights an drei unterschiedlichen Standorten (­Stuttgart, Köln, Düsseldorf) durchgeführt und sind der Meinung, das mit großen Erfolg. Wir konnten auf den HR TEC Nights über 400 Teilnehmer begrüßen, die von 22 Referenten unterschiedlichen Input zu aktuellen Themen der Digitalisierung der HR-Welt vorgetragen bekamen. Im Jahr 2019 planen wir ein deutliches Wachstum und werden in drei weiteren Städten (München, Hamburg, Leipzig) mit den HR TEC Nights vor Ort sein und freuen uns schon, die HR Community dort kennenzulernen. Der folgende Text soll Ihnen ein paar erste Themenschwerpunkte näherbringen und aufzeigen, welche Lessons Learned die Diskussion mit den Anwesenden inhaltlich hervorgebracht hat. Bei den HR TEC Night wurden 2018 folgende Themen behandelt, von denen zwei exemplarisch aufgearbeitet werden:

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finden unter: www.hrtecnight.com.

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Recruiting Analytics Recruiting Automation Digital Employee Engagement Künstliche Intelligenz Digitale Eignungsdiagnostik Digitale Mitarbeiterkollaboration

Folgend werden die Themen Recruiting Analytics sowie digitale Eignungsdiagnostik vertiefend dargestellt: Recruiting Analytics (22. Februar 2018, Stuttgart) Bei der ersten HR TEC Night ging es um das Thema Analytics, und zwar genauer gesagt um Recruiting Analytics. Hier wurde deutlich, dass eine Zahl noch kein Kennzahlensystem ist und auch nicht sein kann. „Versucht doch mal mit zwei Händen zwölf Finger zu zeigen – das geht nur im Team – denn nur mit einem Kennzahlenverbund, der Businessbelange berücksichtigt und auch strategisch ausgerichtet ist, kann eine Recruiting-­ Organisation ihre Erfolge messbar machen und so deutlich besser performen“ (Daniel Mühlbauer, functionHR). Letztendlich haben Recruiting und seine Hires deutlichen Einfluss auf die Bindung der neuen Mitarbeiter und deren Arbeitsleistung. Dieses messbar und nachweisbar zu machen ist, ein großer Asset von Recruiting Analytics. Dafür stehen auch verschiedene Modelle, wie z. B. das LAMP-Modell zur Verfügung. Eine weitere Problemstellung für Recruiter ist, dass wir Jobbörsen nach Kosten bzw. Leistung bewerten müssen. Denn wir müssen Aussagen treffen, bis wann wir eine Stelle besetzen könnten, und dafür stehen uns i. d. R. zig verschiedene Datensätze und Möglichkeiten zur Verfügung – meist aber vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Es sollten Voraussetzungen geschaffen werden, um unterschiedliche Korrelationen zu erstellen und Aussagen über Qualität einer Recruiting-Organisation zu treffen. Die wichtigsten Learnings zum Bereich Recruiting Analytics der Veranstaltung waren: • Viele Daten helfen nicht viel, wenn man nicht genau definiert, was man wissen möchte. • Die Visualisierung der Daten ist ein Schlüsselpunkt in der Nutzung, da die wesentlichen Schlüsse für alle leicht ablesbar sein sollten. • Die Datenqualität sollte zudem jederzeit gewährleistet sein. Digitale Eignungsdiagnostik (15. November 2018, Köln) Der digitale Footprint einer jeden Person wird immer tiefer und inhaltlich umfangreicher. Mit unserem digitalen Handeln (dem was wir online kaufen, organisieren, liken usw.) hinterlassen wir unverkennbare Spuren, die nicht nur die Werbetreibenden interessieren,

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sondern auch immer mehr in den Fokus von eignungsdiagnostischen Verfahren rücken. Welche Möglichkeiten gibt es hier und wie valide sind diese derzeit? Die Learnings zum Thema digitale Auswahldiagnostik und Kompetenzmanagement waren hierbei: • Um eine valide diagnostische Aussage treffen zu können, muss nicht nur eine Korrelation bestätigt werden. Auch Kausalität wird benötigt. • Man muss sich überlegen, welche Aussagekraft ein Tool hat und was man erreichen will. • Ohne eine Vereinheitlichung bzw. ein Angleichen von Bezeichnungen und Begrifflichkeiten im Unternehmen wird ein effizientes und innerhalb des Unternehmens vernetztes Kompetenzmanagement nicht möglich sein. Hier sollen die Beschreibungen aber auch schon ein Ende finden, denn das geschriebene Wort kann immer noch schwer eine in Teilen lebhaft geführte Diskussion widerspielen. Damit aber jeder Personalverantwortliche die Möglichkeit erhält, sein Wissen in dem drängenden Thema unserer Zeit, der Digitalisierung, stetig zu erweitern, werden die HR TEC Nights im nächsten Jahr noch weitere Fokusthemen beleuchten. Die Notwendigkeit für das Format ist unumstritten: Wissensaneignung im Snack-­ Learning-Format wird für viele der Schlüssel sein, um in der Digitalisierung mitzuhalten und auf dem neusten Stand zu bleiben. Und da sich Algorithmen und Technologien schnell verändern, ist es notwendig, diese Formate immer wieder zu verstetigen und in leicht verdaulichen inhaltlichen Happen anzubieten. Wir freuen uns auf sie!

Literatur BMBF. (2018). Wissenswertes zum DigitalPakt Schule. https://www.bmbf.de/de/wissenswerteszum-digitalpakt-schule-6496.html. Zugegriffen: 3. Jan. 2019. Haufe. (2017). Wie die Digitalisierung die HR-Agenda verändert. https://www.haufe.de/personal/hr-management/arbeiten-40-digitalisierung-veraendert-hr-agenda_80_397934.html. Zugegriffen: 21. Jan. 2019. Initiative D21. (2018). D21-Digital-Index 2017/2018. https://initiatived21.de/publikationen/d21-digital-index-2017-2018/. Zugegriffen: 3. Jan. 2019. Ullah, R., & Witt, M. (2018). HR Tec Night gestartet: Digitalwissen für Personaler. Personalwirtschaft Online. https://www.personalwirtschaft.de/hr-organisation/hr-software/artikel/hr-tec-night-gestartet-­ digitalwissen-fuer-personaler.html. Zugegriffen: 19. Jan. 2019. Witt, M. (2018). HR TEC Night: Digitalisierung tut nicht weh. Lebensweltrecruiting. https:// lebensweltrecruiting.com/hr-tec-night-digitalisierung-tut-nicht-weh/. Zugegriffen: 3. Jan. 2019.

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M. Witt und R. Ullah Michael Witt,  selbstständiger Recruiting- und Personalmarketingberater, Stuttgart. Michael Witt war von Beginn seiner beruflichen Tätigkeit im Spannungsfeld zwischen Menschen und Arbeit tätig. In seinen beruflichen Stationen arbeitete er in leitenden Recruiting- und Personalmarketingfunktionen, die sich mit sämtlichen Facetten des nationalen und internationalen Recruitings und Personalmarketings auseinandersetzten. Für seine Arbeit wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und gilt dabei als einer der innovativsten Recruiter der Szene. Zudem ist er Founder des RecruiterSlam und der HR TEC Night, Blogger, Podcaster und Buchautor. Als selbstständiger Berater gibt er nun sein Wissen weiter und unterstützt Unternehmen bei der Modellierung ihrer Recruiting- und Personalmarketingorganisation. Robindro Ullah,  CEO trendence institute GmbH. Als studierter Wirtschaftsmathematiker hat Robindro Ullah das Personalmanagement erst Mitte 2007 für sich entdeckt. Nachdem er in den vergangenen Jahren für die Deutsche Bahn und die Voith GmbH u. a. international tätig war und mehrfach für seine Arbeit mit dem Personalmarketinginnovator Preis und dem HR E ­ xcellence Award ausgezeichnet wurde, erhielt der Blogger und Buchautor zuletzt den Deutschen Preis für Onlinekommunikation. Heute bloggt er unter www.hrinmind.de, ist Herausgeber des ersten deutschen HR Trendmagazins hr|tomorrow (www.hr-tomorrow.eu), als freier Berater für diverse Unternehmen und Visionen tätig und CEO von der trendence institut GmbH.

Die Lagerfeuerparabel Eine Geschichte über das digitale Dilemma der Stellenanzeige

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Florian Schrodt

Inhaltsverzeichnis 16.1 Am Anfang war das Feuer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 16.2 Spontaner Besuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 16.3 Zeitlos digital. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 16.4 Vom Geben und Nehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 16.5 Märkte sind Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 16.6 Wie oft verliebt sich ein Bewerber?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Zusammenfassung

Die digitale Revolution ist v. a. eine kulturelle Revolution. Die digitale Welt ist komplex und schnelllebig. Aber ist das alles wirklich so neu? Vielleicht haben wir einfach das Wesentliche aus den Augen verloren? Es geht um Informationen. Was machen wir als Human-Resources(HR)-Manager mit Informationen? Wir packen sie in Stellenanzeigen. Ein Sinnbild für das digitale Dilemma von HR. Vor lauter Prozessen und irgendwo zwischen digitalem Ehrgeiz und digitaler Frustration haben wir vergessen, was wir erreichen wollen. Oder besser gesagt wen. Den Menschen. Zeit, dass wir darüber reden. Warum nicht an einem gemütlichen Lagerfeuer. Ein guter Platz, sich ­auszutauschen. Genau wie das Internet.

F. Schrodt (*)  Verkehrsbetriebe Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_16

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16.1 Am Anfang war das Feuer Vor langer Zeit brachte uns das Feuer Erleuchtung. Auch im sozialen Sinn. Unsere Vorfahren saßen beisammen am Lagerfeuer und erzählten sich Geschichten. Die Menschen teilten ihre Erfahrungen. Man konnte etwas beitragen. Oder etwas lernen. Sich austauschen. Kurzum: Wir entwickelten uns weiter durch Narrative. Seither ist viel geschehen und wir haben uns enorm entwickelt. Die Digitalisierung lässt grüßen. Aber wir haben auch einiges verloren. Das meint zumindest eine digitale Ikone: Jeff Bezos. Ausgerechnet der Amazon-Gründer, der mit seinem Unternehmen das Synonym für den digitalen Versandhandel ist – und der Albtraum der analogen Buchbranche – propagiert also den Mehrwert der guten, alten Lagerfeuererzählung. In der Tat, Bezos will das Feuer der Leidenschaft für das Erzählen von Geschichten neu entfachen. Er verbannt Power Points aus Business Meetings. Warum? Weil Bullet Points schlecht Informationen transportieren. Seine Einstellung zu Stellenanzeigen ist leider nicht bekannt. Aber er könnte diese gleich mit verbannen. Wieso? Das ganze digitale Dilemma von HR findet sich in der Stellenanzeige wieder. Machen wir es doch, wie von Bezos vorgeschlagen. Erörtern wir das ganz in Ruhe bei einer Geschichte am Lagerfeuer. Ich hätte einige Impulsgeber, die uns dabei unterstützen können. Packen Sie etwas Fantasie, Aufgeschlossenheit und Brennholz ein und begleiten mich ans Feuer. Das ist doch ein wunderbarer Rahmen für unseren Austausch.

16.2 Spontaner Besuch Beginnen wir also noch einmal. Vielleicht so. Was macht HR erfolgreich? Verlässlichkeit? Seriosität? Verbindlichkeit? Mag sein. Ich glaube allerdings, dass in Zukunft Informationen und Beziehungen HR erfolgreich machen werden. Das digitale Zeitalter ist ein Informationszeitalter, das geprägt von Netzwerken ist. Zeit, dass HR diesen Umstand konsequent nutzt, um relevanten Mehrwert zu schaffen. Und die Stellenanzeige abschafft. Aber was kommt dann? Bevor wir den Gedanken zu Ende bringen können, nähert sich eine Silhouette unserer Feuerstelle. Als er nähertritt, wird aus dem schemenhaften Schatten ein bekanntes Gesicht. Es ist ein alter Vertrauter, den auch Sie sicherlich kennen. Dave Ulrich, HR-Guru, Erfinder des Business-Partner-Modells und einer der profiliertesten Denker in diesem Kontext. Dave Ullrich kann bestimmt viele brillante Gedanken beitragen, hier ist er jedoch einfach nur Stichwortgeber. Denn er hat sich sehr treffend auf Twitter zum Mehrwert von HR geäußert: „In HR geht es nicht um HR“. Das könnte man schon für sich stehen lassen, aber es geht noch weiter, denn: „Es geht um den Mehrwert, den wir kreieren für unsere Mitarbeiter, Kunden, Manager oder auch die Community“, so Ulrich. Wir rücken näher zusammen, um für ihn Platz zu machen. Aber er muss leider weiter. Schade, wäre sicher spannend gewesen. Während er unsere Feuerstelle verlässt, hallt sein Zitat nach. Mehrwert. Wie kann HR mit Stellenanzeigen Mehrwert liefern? Was

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Ulrich über diese denkt, ist mir nicht bekannt. Wir können darüber jedoch sicherlich trefflich diskutieren. Oder sinnieren. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich jemand zu uns gesellt hat. Sie etwa? Wie lange die Dame schon da saß, kann ich gar nicht sagen. Sie war so still. Was will sie nur? Normalerweise würden wir als HR jetzt sicherlich erst einmal eine Grundsatzdiskussion führen: Wer ist überhaupt Ansprechpartner. Duzen wir oder siezen wir. Antworten wir schriftlich oder telefonisch. Vielleicht lieber gar kein Ansprechpartner. Ganz egal, in diesem Fall antworten wir einfach, denn die Dame ist nun einmal da. „Ich hätte eine Frage“, sagt sie. Und legt uns einen Ausdruck vor. Es ist eine Stellenanzeige. Offensichtlich für eine Projektleiterstelle (m/w/d). Ein Abschnitt darin ist markiert, ansonsten ist das Papier mit vielen ??? versehen. • Sie setzen überzeugende Bestlösungen um und verantworten die Projektziele wie Kosten, Termine, Qualität und Sicherheit. • Sie sind verantwortlich für multidisziplinäre Projektteams sowie deren Teilprojektleiter. • Projektbearbeitungen von der Planung bis zur Umsetzung. • Sie stellen die Umsetzung von Interessen, Normen und Standards sicher. Sie erinnern sich, was Bezos über Bullet Points sagte? Bullet Points taugen nicht zur Informationsvermittlung. Warum sind sie also das Herzstück von Stellenanzeigen? Neben schönen bunten Bildern natürlich und einem Unternehmensporträt, das meist von Marketing oder Unternehmenskommunikation geborgt scheint. Die unbekannte Dame scheint ebenso ratlos, was die Anzeige ihr sagen soll. Die Annonce ist sicherlich keine überzeugende Bestlösung, sondern entspricht in der Umsetzung eher der Norm und gängigen Standards. Der Standard Stellenanzeige ist ein generelles Problem, das sich mit „post and pray“ zusammenfassen lässt. Aber erst mal zurück zur Dame. Wir laden Sie ein, sich zu uns ans Feuer zu gesellen. Vielleicht können wir ihr hier gemeinsam Erleuchtung bringen. Ich kann mir nach wie vor nicht erklären, wo sie herkam. Sie hat wohl zufällig unser Gespräch mitbekommen und gehofft, dass wir als erfahrene Personaler weiterhelfen können. Unser Lagerfeuer ist immerhin gut sichtbar. Sie würde gerne wissen, was mit den markierten Passagen genau gemeint sei. Wir fragen unisono: „Waren Sie schon einmal Projektleiterin?“ Typisch HR. Daraufhin die Dame: „Ja, deswegen frage ich ja. Das, was dort steht, ist mir aus der täglichen Arbeit bekannt, aber was heißt das konkret?“ Also setzen wir neu an: „Wissen Sie, unsere X Tausend Mitarbeiter sorgen in vielzähligen Projekten dafür, dass…“ Bevor wir uns weiter beweihräuchern können, bemerken wir, dass Frau die Augen verdreht. „Leute, ich würde gern einfach wissen, was für ein Projekt das ist. Wer und wie sind die Kollegen? An wen berichte ich? Kann ich Teilzeit arbeiten? Wie ist das Gehalt…“ Wir kommen also ins Gespräch. All ihre Fragen können wir jedoch nicht beantworten. Zum Glück habe ich die Handynummer der Bereichsleiterin, die die Projektleiterstelle ausgeschrieben hat. Vielleicht hat sie spontan Zeit und

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bereichert unsere Runde. Wer kann einem Lagerfeuer schon widerstehen? Sie kann und hat Lust. Und bringt sogar Getränke mit. Es wird gemütlich und der Austausch immer spannender. Nachdem die Fragen der Dame beantwortet sind, schaut sie verschmitzt zu uns: „Das war wirklich spontan, aber schlussendlich sehr aufschlussreich. Besser als jedes Bewerbungsgespräch“. Bevor die Interessentin aufbricht, fragt die Bereichsleiterin, ob sie sich denn bewerben wolle. „Leider nein, zwischenmenschlich passt es gut. Aber inhaltlich nicht so ganz. Außerdem würde ich gern in Teilzeit arbeiten. Ich empfehle Sie jedoch gern an eine Kollegin weiter.“ Ein bisschen Wehmut kommt auf. Aber versöhnlich stimmt uns, dass sie uns noch im Gehen in einem Businessnetzwerk eine Nachricht schreibt und uns mit einer Bekannten vernetzt. Sie wird eine Woche später eingestellt. Was wohl Dave Ulrich dazu gesagt hätte? Das wissen wir leider nicht, aber die Bereichsleiterin scheint sehr zufrieden. Mehrwert pur, Bürokratie Null. Warum nicht öfter so? Wir sitzen noch einen Augenblick am Feuer zusammen und lassen das Erlebte Revue passieren, bevor sich auch die Bereichsleiterin verabschiedet. „Schön, dass wir mal Zeit für einen gelungenen Austausch hatten. Vor lauter Meetings hat man ja nie Zeit dafür“, ruft sie uns nach. Das war auf jeden Fall ergiebiger als jedes Meeting. Ich hoffe, Sie bleiben noch, oder? Wir erwarten immerhin noch Gesellschaft. Diesmal ganz geplant. Es wird spannend. Ist eigentlich noch etwas zu trinken da? Lassen Sie uns erst einmal anstoßen, denn eine Lektion haben wir gelernt. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, würde Paul Watzlawick treffend zusammenfassen (Watzlawick et al. 1969). Wie gern hätte ich ihn an unserem Lagerfeuer begrüßt. Leider weilt er nicht mehr unter uns. Aber seine Axiome bleiben für die Ewigkeit. Bezüglich HR müsste man wohl etwas korrigieren: Man kann sehr deutlich kommunizieren, kein Interesse an Kommunikation zu haben. Zumindest durch Stellenanzeigen.

16.3 Zeitlos digital So einfach, gesellig und direkt wie an unserem Lagerfeuer geht es in der digitalen Welt selbstverständlich weniger zu. Hier wird es schon etwas komplizierter. Viele Aspekte der direkten oder auch analogen Kommunikation sind hier nicht vorhanden, da Mimik, Gestik usw. nicht nachvollziehbar sind. Aufgrund unserer verhaltenen Reaktion gegenüber der Projektleiterin, wäre diese digital wahrscheinlich schon längst weitergezogen. So hat sie jedoch gemerkt, dass wir offensichtlich ins Gespräch vertieft waren, und ihr Glück versucht. In der digitalen Kommunikation haben wir andere Erwartung an den Austausch, der von Schnelligkeit, Feedback, Erreichbarkeit, möglichen Fehlinterpretationen und einer erhöhten Komplexität gekennzeichnet ist. Dennoch ist digitale Kommunikation heute maßgeblich. Von dieser digitalen Omnipräsenz lassen wir uns im wahrsten Sinn schnell zu Schnellschüssen verleiten. Dabei wäre ein wenig zwischenmenschliches Verständnis hilfreich, um das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Rein k­ ommunikativ

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s­elbstverständlich. Greifen wir doch noch mal auf den altbekannten Paul Watzlawick zurück. Er hat hierfür insgesamt fünf Axiome aufgestellt, das erste haben wir ja schon herangezogen. Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich trotz Lagerfeuerromantik das Tablet auspacke, damit ich die Webseite zu Hilfe nehme, meine Interpretation erhalten Sie auf der Tonspur. 1. Man kann nicht nicht kommunizieren Bereits bekannt. 2. Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt Die Beziehung der Gesprächspartner bestimmt den Austausch. Welche Beziehung? Eine Stellenausschreibung ist ein formaler und kein Liebesakt. 3. Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung Eine Beziehung entsteht meist über einen längeren Zeitraum. Auch wenn man als Bewerber das ausschreibende Unternehmen noch nicht kennt. Für die meisten ist es nicht die erste Bewerbung, man hat schon mehrfach Erfahrungen mit Personalabteilungen gemacht. Man kennt sich, ohne sich zu kennen. Ähnlich oberflächlich wie die Beschreibung der Stelle, ist auch die Überprüfung der Unterlagen durch den Personaler. Wer wundert sich also über mäßig motivierte Motivationsschreiben. Der Personaler nörgelt über die mangelnde Reflexion. Der Bewerber sieht sich nicht gemüßigt, die komplette Karriereseite des Unternehmens zu analysieren. Wozu gibt es schließlich eine Stellenausschreibung? 4. Menschliche Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten Der analoge Part bedient die zwischenmenschliche Ebene, der digitale Part den Sachinhalt. Jetzt fangen Sie bitte nicht an, Ihre Stellenanzeigen wie wild mit Emoticons zu versehen, um eine analoge Interpretation zu gewährleisten. Aber man kann auch eine sachliche Information sehr versachlichen. Oder den Kontext konterkarieren. Man stelle sich bei der Stellenausschreibung der Projektleiterin vor, es wäre ein lebensfroher Kollege gesucht worden. Das wäre vielleicht immerhin unbeabsichtigt humorvoll. 5. Kommunikation ist symmetrisch oder komplementär Begegnet man sich auf Augenhöhe, oder nicht? HR gibt sich alle Mühe zu zeigen, wer den Hut auf hat. Sind damit devote und gefällige Bewerbungen nicht vorprogrammiert? Bevor wir uns also beim nächsten Mal Gedanken machen, auf welchen Kanälen wir unsere Anzeigen schalten, sollten wir unseren Fokus schärfen: der Mensch als Empfänger unserer Botschaften. Das ist eine sehr individuelle Angelegenheit, abhängig von privaten sowie beruflichen Situationen des Adressaten, Alter, Geschlecht, Beruf und vielem mehr. Stellenanzeigen sind noch aus dem HR-Arsenal, als man auf ein Massenpublikum zielte. Heute sollte sie einer individuellen Ansprache gerecht werden. Digitalisierung, Individualisierung, sie kennen die Entwicklung.

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Ich habe das Gefühl, dass sich HR digital v. a. um Schnelligkeit bemüht, andere Aspekte aber außer Acht lässt. Wir brauchen mal schnell eine Stellenausschreibung. Das Kontingent bei der Stellenbörse ist da, die Stellenbeschreibung lässt sich adaptieren oder copy und pasten, hübsch gelayoutet ist die Anzeige ohnehin standardmäßig, also raus damit, die Linie will schnell Bewerber. Was wollen wir denn aber mit der Anzeige? Reichweite? Bekommt man online quasi gratis (schauen Sie sich mal Impressions auf Ihren Stellenbörsen an). Sollte die Anzeige nicht eher an eine Zielperson denn an eine Zielgruppe adressiert sein? Zeit, dass wir uns mit dem funktionalen und emotionalen Nutzen auseinandersetzen, die unsere Ansprache erfüllen sollte. Aber erlauben Sie mir, dass ich vorher kurz entschwinde, die Getränke zollen ihren Tribut. Sie sind noch da. Sehr schön. Also: Wo stehen wir beim funktionalen Nutzen, der die grundlegenden Fragen von Bewerbern beantworten sollte? Was bieten wir hier argumentativ? Zu den Jobinhalten bieten wir Textkonserven aus den Stellenbeschreibungen. Die kennt jeder Bewerber aus dem eigenen Beruf oder braucht viel Fantasie, damit man sich etwas darunter vorstellen kann. Langfristige Beziehungen, sprich sichere Arbeitsplätze bieten ja fast alle. Die Differenzierung hierdurch – geschenkt. Beim Gehalt hört der Spaß schon auf. Ein marktübliches, attraktives oder welches Gehalt auch immer, bieten wir selbstverständlich. Aber was heißt das? Darüber hüllen wir den Mantel des Schweigens. Man stelle sich vor, dass Sie den Preis für ein Produkt frühestens an der Ladentheke erfahren. Zahlen, Daten, Fakten gibt es sonst nur pauschal zur Unternehmensgröße, Umsatz und ähnlichem. Halten wir fest, dass der funktionale Nutzen in Stellenanzeigen fast unter emotionalen Nutzen zu subsumieren ist, da man zur Einschätzung dessen ein gut ausgeprägtes Bauchgefühl braucht. Apropos Bauchgefühl. Wir hätten etwas zum Grillen mitnehmen sollen, dann wäre es am Lagerfeuer sicherlich noch angenehmer. Aber zurück zum Thema. Der emotionale Nutzen dreht sich um Bedürfnisse, Erwartungen und Emotionen. Die beeinflussen wir v. a. durch das Design der Anzeige und zeigen damit, dass das für uns eigentlich wenig interessant ist. Schick soll es sein, aber bitte individuell nicht zu anspruchsvoll. Es reicht, wenn wir das vom Bewerber erwarten. Dabei spielt dieser emotionale Nutzen eine große Rolle. Hier kommt unsere Wahrnehmung ins Spiel, die grob gesagt über zwei Systeme funktioniert. Das erste ist das limbische System. Hierin zeigen sich die Prädispositionen von Menschen, die größtenteils angeboren oder sozial angeeignet sind. Und die entscheiden implizit zu einem wesentlichen Teil. Über 10.000.000 Bits werden hier unbewusst über Assoziationen übertragen. Beim kognitiven und zweiten entscheidenden Wahrnehmungssystem sind es lediglich etwa 40 Bits pro Sekunde (Bürki o. D.). Wer gewinnt wohl unsere Aufmerksamkeit, deren Schwelle online nicht gerade sonderlich ausgeprägt ist? Was sagt uns das über die digitale Kommunikationsfähigkeit von HR? Gerade wir Personaler sollten uns wieder mehr mit dem Menschen beschäftigen. Im Sinn der kommunikativen Relevanz. Gerade, wenn es digital wird. Immerhin suchen wir auch heute noch nicht den schnellsten Bewerber, sondern den passendsten. Das kann man sich gut über die 1:1:1-Regel merken: eine Vakanz, ein

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Bewerber, eine Einstellung sollte das Ziel sein. Auch bei einer Stellenanzeige. Lieber konkreter als gefälliger. Woher kommt aber diese ausbaufähige Einstellung hinsichtlich der Individualisierung? Ich würde einen Interpretationsversuch wagen. Insofern Sie mir noch ein Getränk reichen und mir weiterhin Ihre Aufmerksamkeit schenken.

16.4 Vom Geben und Nehmen Reziprozität ist das Prinzip der Gegenseitigkeit. Geben und Nehmen quasi. Früher war das ganz einfach. HR gibt Angestellten einen Vertrag mit gewissen Rahmenbedingungen. Das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist darin grob geregelt. Mitarbeitende erbringen Leistung anhand einer Stellenbeschreibung, deren Inhalt nach Antritt noch genau geregelt wird, die Arbeitgeber sorgen für ein entsprechendes Gehalt. Dieser Bedarf wird über eine Stellenanzeige kundgetan. Ist doch alles klar, wunderbar. Nein. Das ist nicht mehr ausreichend. Warum? Wir haben gelernt, die Erfüllung unserer Bedürfnisse überprüfen zu können. Bevor wir einen neues Elektronikprodukt kaufen, bevor wir in ein Restaurant gehen, bevor wir unseren Urlaub buchen und in vielen anderen Situationen holen wir uns vorab Informationen ein. Mit wie vielen Sternen ist das Restaurant bewertet? Welche Rezensionen hat der neue Fernseher? Wie sieht das Hotel wirklich aus, gibt es Bilder anderer Urlauber? Sie wissen, was ich meine. Wir unterziehen die schönen Selbstdarstellungen der Unternehmen einem Realitätscheck. Urlaub ist ein schönes Beispiel, um den Bogen zu Arbeitgebern zu schlagen. Der Urlaub soll ein individuelles Erlebnis sein. Wir wollen Neues entdecken. Das kleine, feine Restaurant in einer Seitenstraße von Paris. Der nahezu unentdeckte Strand auf Bali. Unser Leben wird zum Ausdruck unserer Individualität. Schauen Sie bei Gelegenheit noch einmal bei Maslow nach. Diese Bedürfnisse müssen heute auch Arbeitgeber berücksichtigen, denn wir haben gelernt, sie zu artikulieren. Nehmen wir nur einmal Work-Life-Balance, Homeoffice, Teilzeit, Jobsharing und so weiter. Das sind alles Leistungen, die Arbeitgeber immer öfter anbieten. Eine zweite Dimension der Reziprozität beachten wir allerdings nicht. Das Gleichgewicht der Informationen. Kann auf Basis einer Stellenanzeige ein Informationsbedürfnis befriedigt werden? Man könnte jetzt entgegnen, dass die Überprüfung im Vorstellungsgespräch stattfindet. Und hierin sehen wir die Manifestation des Ungleichgewichts. Der Arbeitgeber vertagt die Transparenz und stellt lediglich schön drapierte Informationen bereit, der Bewerber soll aber vorher schon alle relevanten Informationen über sich ganz transparent Preis geben. Watzlawick lässt grüßen. HR erwartet von Bewerbern alles an Informationen, der Bewerber darf aber kaum etwas erwarten. Als könnte Geheimniskrämerei die Auswahl durch ein überraschendes Spannungsmoment im Bewerbungsgespräch verbessern. Mehrwert schafft HR durch mehr relevante Informationen – von Beginn an. Erinnern wir uns doch an das angenehme Gespräch mit der Dame von vorhin. Wir brauchen mehr kommunikative Augenhöhe oder andere werden diese schaffen. Sie kennen Kununu und Co. Dann brauchen wir

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uns aber nicht zu wundern, wenn Bewerber eines tun: sich erst gar nicht bewerben. Wer kauft schon gern die Katze im Sack. Oder das Restaurant in der Pariser Gosse. Oder den Arbeitgeber ohne passende Perspektive. Da hilft auch nicht die schönste Employer Brand. Diese ist oftmals nur eine schöne Scheinwelt. Apropos Schein. Das Feuer geht gleich aus. Könnten Sie mir noch etwas Holz geben? Dann haben es auch unsere neuen Impulsgeber in der Runde gleich gemütlich. Die helfen uns, den Kreis zu schließen. Ich meine jetzt nicht nur am Feuer.

16.5 Märkte sind Gespräche Wie auf Kommando rückt die Verstärkung an. Es sind Rick Levine, David Weinberger, Doc Searls und Christopher Locke. Kennen Sie nicht? Würde ich auch vom Namen her nicht kennen, obwohl sie digitale Pioniere sind. Ihr Manifest sollte man gelesen haben. Das Cluetrain Manifest (Levine et al. 1999). Tun Sie das, wenn wir mit unserer Runde fertig sind. Achtung! Spoiler Alarm! Ich kann nichts dafür, aber die Jungs sitzen kaum und kommen schon ins Erzählen. Von wegen gemütlich, die bringen Schwung rein. „Vernetzte Märkte beginnen sich schneller selbst zu organisieren als die Unternehmen, die sie traditionell beliefert haben. Mithilfe des Webs werden Märkte besser informiert, intelligenter und fordernder hinsichtlich der Charaktereigenschaften, die den meisten Organisationen noch fehlen“, zitieren sie sich selbst. Kennen wir irgendwoher. Ich sage nur Bewertungen und so. „Märkte sind Gespräche“, kann ich gerade noch ergänzen, die neuen Gäste sind so in Erzähllaune, dass man kaum zu Wort kommt. Vielleicht sollten wir ihnen was zu trinken geben, damit wir das erstmal sacken lassen können. Ist noch etwas da? Klingt aber plausibel, was die erzählen. Was heißt das jedoch für uns als HR? Vor allem Bewerber- und Mitarbeitermärkte sorgen für heißen Gesprächsstoff. Denn es geht um mehr als eine Urlaubsbuchung. Es geht gewissermaßen ums Ganze. Das ­Problem, wir wissen davon kaum etwas. Die Gespräche darüber finden meist hinter ­vorgehaltener Hand statt. „Aber Sie geben den Menschen ja auch kein Forum und ­nutzen Feedback nicht“, erwidert jemand aus der Runde. Bevor wir auch nur irgendetwas zu unserer Verteidigung antworten können, heizt die Truppe nach. Das Feuer schlägt ­Funken, im wahrsten Sinne. „Das Internet ermöglicht Gespräche zwischen Menschen, die im Zeitalter der Massenmedien unmöglich waren.“ Schon klar, aber… Es geht weiter, bevor Einwände überhaupt aufkommen können. „Die Menschen in den vernetzten Märkten haben herausgefunden, dass sie voneinander wesentlich bessere Informationen und mehr Unterstützung erhalten als von den Händlern und Verkäufern. Soviel zur unternehmerischen Rhetorik über den Mehrwert ihrer Waren.“ Es wird langsam anstrengend viel Input. Aber das ist ein Punktsieg für uns, denn das haben wir bei der Projektleiterstelle schon gemerkt und berücksichtigt! Es geht jedoch ohne Punkt und Komma weiter… Ich höre gerade noch raus „… Firmen stehen zwischen Märkten und Mitarbeitern“. Vielleicht sollten wir eine Brücke bauen? Bevor ich den schönen Gedanken zu Ende denken kann… „Mission-Statements

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und Unternehmensbroschüren werden so künstlich und aufgesetzt klingen, wie die Sprache am französischen Hof im 18. Jahrhundert.“ Tun Sie das nicht jetzt schon? Sie können gern einmal versuchen, folgende Claims Unternehmen zuzuordnen: „Echt. Stark. Grün.“, „Menschen verbinden. Leben verbessern.“, „Sinnvoll Karriere machen.“ Die Jungs beten wirklich alle 95 Thesen runter. „Schon jetzt erreichen Unternehmen, die mit der Stimme des Marktschreiers reden, niemanden mehr“, entgegnet es uns. Muss nur ich wieder an die Stellenanzeige denken? Plumpes Marktgeschrei kann man unseren Gästen nicht vorwerfen, ziemlich laut sind sie trotzdem. Schon kommt die nächste These: „Wenn wir nicht gerade eure Zielgruppe sind, sind viele von uns eure Mitarbeiter. Wir würden lieber mit Freunden im Netz reden, als auf die Stechuhr zu schauen. Das würde euren Namen schneller bekannt machen als jede noch so schicke Webseite. Aber ihr sagt uns, dass das Gespräch mit dem Markt die Sache des Marketings ist.“ Der hat gesessen. Mein „Aber“ verhallt… Stattdessen geht es weiter: „Als Märkte und als Arbeitnehmer fühlen wir uns zu Tode gelangweilt von den Informationen, die wir von Euch nur per Fernbedienung bekommen.“ „Zwei Gespräche finden gleichzeitig statt. Eines im Unternehmen. Das andere mit dem Markt. Leider ist immer gerade der Teil eines Unternehmens, mit dem der Markt sprechen möchte hinter einem Schleier aus Worthülsen versteckt.“ Welch feine Ironie: Hier findet gerade nur noch ein Gespräch statt, aber ein sehr interessantes. Ich zeige unsere Projektleiterstellenanzeige. „Meinen Sie so etwas hier?“ Vielleicht verbuchen wir das unter „Unternehmen entwickeln Sinn für Humor“. Mangelnde Situationskomik kann man uns damit schließlich nicht vorwerfen. Machen wir eine Thesenpause. Ich denke, dass wir die weiteren Thesen tatsächlich noch einmal in Ruhe nachlesen können. Wir halten fest: Statt auf fruchtbare Oasen des Austauschs, setzt HR auf Informationswüsten. Die Stellenanzeige können wir nicht oft genug erwähnen. Wie wir dort Vernetzung vortäuschen? Schauen Sie sich mal die Kontaktmöglichkeiten zu abgebildeten Personalern an. Wenn diese denn überhaupt abgebildet werden wollen und nicht protestieren. Muss man mehr zum Status quo digitaler Kommunikation in HR sagen? Vielleicht doch: Erreichbar sind die anonymen Porträtfotos über eine Sammel-E-Mail-Adresse oder irgendeine Telefonnummer. Das Ganze dann noch im kontextlosen Raum. Bestenfalls mit „Falls Sie Fragen haben…“ versehen. Haha, Realsatire pur. Wer hat denn beim Lesen einer Stellenausschreibung keine Fragen. Damit wollen wir Verbindungen aufbauen? Und wenn wir das gar nicht wollen, warum bilden wir dann Personen ab? Welchen Mehrwert soll das liefern? So werden Bewerber zu informativen Bittstellern. Sie könnten jetzt mit Blick auf das gerade Gehörte einwenden, dass Sie Ihr gebrandetes Karriereseitenprojekt nicht nur mit Agenturunterstützung, sondern v. a. samt Einbindung Ihrer Mitarbeitenden umgesetzt haben. Sie setzen auf Testimonials, Markenbotschafter oder wie Sie diese auch immer nennen wollen. Damit müsse ich doch zufrieden sein? Nicht ganz. Ihre Seite ist schön anzuschauen, die Claims sind „catchy“, die Statements der Mitarbeiter klangvoll, aber es bleiben Konstruktionen. Sie binden Ihre Mitarbeitenden nicht wirklich ein, Sie bilden diese nur ab. Das ist übrigens der Grund, warum im Marketing Influencer so unglaublich erfolgreich sind. Sie füllen eine Lücke.

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Diese Influencer führen statt der Unternehmen Gespräche, die diese verweigern. So können sich die Unternehmen weiter hinter ihren Worthülsen verstecken. Ich könnte jetzt noch einmal die Projektleiterin ins Feld führen. Sie könnten außerdem die Stellenanzeige für überholt erklären, da Sie sogar auf Performance Marketing setzen, dem allerneuesten Trend. Anzeigen in sozialen Netzwerken schalten. Mit Verlaub: das ist alter Wein in neuen Schläuchen. Am Ende landen Bewerber übrigens doch wieder auf der Stellenanzeige. Sie gewinnen damit also weder Relevanz noch Bewerber noch die Resonanz Ihrer Mitarbeitenden. Das sind trendgetriebene Hilfeschreie, aber keine digitale Entwicklung. Anbieter versprechen Ihnen damit Reichweite. Wenn die Digitalisierung jedoch eines inflationär bietet, dann ist es Reichweite. Sie wollen aber keine Reichweite, Sie wollen Aufmerksamkeit. Wirkungsvolle Aufmerksamkeit, die die anspricht, die Sie erreichen wollen. Hier hilft die Digitalisierung, denn Sie können Informationen besser ausspielen. Beispielsweise durch teilen und teilbar machen. Jaja, ich weiß, dafür gibt es jetzt auch Mitarbeiterempfehlungsplattformen. Sie teilen aber auch hier am Ende nach wie vor die schlechte, alte Stellenausschreibung. Das Pferd von hinten aufgezäumt. Warum nutzen wir die digitalen Möglichkeiten nicht konsequent, um bessere Informationen anzubieten. Der inhaltliche Austausch – egal ob mit Bewerbern, Mitarbeitenden, Führungskräften, Kollegen – kann sehr bereichernd sein. Quasi wie an einem Lagerfeuer.

16.6 Wie oft verliebt sich ein Bewerber? Das geht übrigens gleich aus. Lassen Sie uns zum Ende kommen und zusammenfassen: Bei der Digitalisierung geht es in erster Linie nicht um Technik, sondern um Kulturtechniken. Aber was können wir denn nun als HR aus der Technologie machen? HR dreht sich nicht um HR. Und eine Stellenausschreibung nicht um eine Ausschreibung. Weder digital noch anlog. Wie heißt es so schön zu Beginn des Cluetrain Manifests: „Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen.“ Um die geht es in HR. Und um die geht es in Stellenausschreibungen. Es wird Zeit, dass HR das berücksichtigt. Wir suchen Menschen. Um diese zu finden, bieten wir relevante Informationen. Daraus entstehen Beziehungen. Spätestens mit der Anstellung. Warum nicht schon früher? Wer würde schließlich nicht gern wissen wollen, auf was er sich bei einer Beziehung einlässt. Deshalb müssen wir uns auf der Beziehungsebene mehr engagieren. Brauchen wir dazu eine Stellenanzeige? Wir brauchen auf jeden Fall ein bisschen mehr Verständnis für die Menschen, die sich bewerben (und die in unseren Unternehmen arbeiten). Denn die Technik sollte dem Nutzen folgen. Und den muss HR bereitstellen. Im digitalen Zeitalter v. a. auf Informationsebene. Irgendwie muss ich gerade schmunzeln. Mich erinnert die Stellenanzeige an Printkontaktanzeigen früherer Jahre. Nicht, dass ich diese jemals studiert hätte. Aber die gingen ungefähr so: Männlich, 50, akademisches Niveau und gepflegte Mittelscheitelfrisur sucht Geschlecht egal, Hauptsache mit gleichwertigem Bildungsabschluss und

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regem Interesse an Spielzeugeisenbahnen. Bitte melden unter folgender Chiffre. Digital haben sich diese Anzeigen längst gewandelt bzw. sind daraus Beziehungsnetzwerke geworden. In der Hinsicht sind sie unserer Stellenanzeige voraus. Offensichtlich mit Erfolg für die Zielpersonen, denn immerhin verliebt sich alle elf Minuten jemand. Am Ende muss man wissen, wen man wie umwirbt. Die Wirkung kommt nicht durch den Kanal, sondern durch den Inhalt. Ich erinnere mich da an eine ganz analoge musikalische Annonce, die aufgrund ihrer sehr konkreten Formulierung zum Erfolg führte. Mit sehr überraschendem Ergebnis. Ich stimme mal an: „If you like Pina Coladas, and getting caught in the rain If you’re not into yoga, if you have half a brain If you like making love at midnight, in the dunes of the cape I’m the love that you’ve looked for, write to me, and escape“ …

Bei dem Klassiker können wir unser Lagerfeuer gemütlich runterbrennen lassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hat mir Spaß gemacht, unser gemeinsamer Blick zurück auf die digitale Zukunft. Wenn das nicht der Beginn einer guten Beziehung ist. Darauf sollten wir noch einmal anstoßen. Auf die Erleuchtung!

Literatur Bürki, C. (o. D.). Bürki, Claude: „Hirn aktivieren – verkaufswirksamer werben und verpacken“, in Medienforum. http://www.mediaforum.ch/bilder_packs/hirn_aktivieren.pdf. Zugegriffen: 15. Okt. 2018. Levine, R. et al. (1999). „Das Cluetrain Manifesto, in Internetseite Cluetrain“. http://www.cluetrain. com/auf-deutsch.html. Zugegriffen: 10. Okt. 2018. Watzlawick, P., Beavin, J., & Jackson, D. (1969). Menschliche Kommunikation. Bern: Huber (2.24).

Florian Schrodt  hat Politikwissenschaften studiert und nach seiner Zeit als freier Journalist sowie in einer PR-Agentur bei der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH angeheuert. Hier war er in der Kommunikation tätig und ist aufgrund spannender Projekte in das Personalmarketing gewechselt. Dort hat er das digitale Marketing im Human-Resources(HR)-Bereich auf- und die Employer Brand ausgebaut. Danach war er in verschiedenen Leitungspositionen bei einem internationalen Versicherungskonzern tätig und hat sich v. a. mit den Themen Active Sourcing, Performance-Personalmarketing sowie HR-Stakeholder-Kommunikation beschäftigt. Auf Basis dieser Klaviatur orchestriert er seit August 2018 das Personalmarketing der Verkehrsbetriebe Zürich. Als Referent, Redner und Autor gibt er Einblicke in seine Erfahrungen.

Der Mensch im digitalisierten Recruiting

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Henrik Zaborowski

Inhaltsverzeichnis 17.1 Digitalisierung in der Bewerberkommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 17.2 Digitalisierung in der Personal(vor)auswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 17.3 Die positiven Seiten der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 17.4 Digitalisierung – warum die Sinnfrage so wichtig ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Zusammenfassung

Dieses Buch zeigt Ihnen auf, welche Möglichkeiten durch die Digitalisierung, Algorithmen, Automatisierungen etc. im Recruiting genutzt werden können. Ich möchte die Frage stellen, wie sinnvoll manche Einsatzmöglichkeiten sind. Und ob alles, was möglich ist, auch hilfreich ist? Oder nicht vielleicht sogar kontraproduktiv. Die finale Antwort wird uns die Zukunft geben. Aber die richtigen Fragen sollten wir jetzt schon stellen. Letztens fror mein iPhone nach einem Update ein und tat nichts mehr. Zwei Stunden vor dem Abflug zu einer zweitägigen Geschäftsreise mit Terminen an verschiedenen Adressen in München. Flugticket, Termine, Adressen, Kontaktdaten, ÖPNV … alles im Smartphone. Und ab sofort nicht mehr zugänglich. Ich stand kurz unter Schock. Wie sollte ich diese zwei Tage bewältigen ohne Smartphone? Doch dann fiel mir wieder ein, dass meine Generation (ich bin Jahrgang 1972) noch ein Leben ohne Smartphone und digitale Helferlein kannte. Wie hatte ich das denn früher nochmal gemacht? Stimmt: Laptop

H. Zaborowski (*)  Bergisch Gladbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_17

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und Google Maps auf, Adressen reingehackt, Wegbeschreibungen ausgedruckt, darauf die Kontaktdaten meiner Ansprechpartner notiert. Bei der Fluggesellschaft eingeloggt, Ticket ausgedruckt. Alles etwas mühsam und aufwendig, aber am Ende lief es problemlos. Ich bin also doch noch überlebensfähig. Aber warum? Weil ich die Wege, die Abläufe noch kannte. Das, was mir heute die Apps im Vorbeigehen und spontan ermöglichen, konnte ich früher auch schon alles. Nur halt Schritt für Schritt und aufwendiger. Weil ich gelernt hatte, wie es geht. Eine kleine Anekdote? Oder doch mehr? Ich glaube, es ist mehr. Und darüber möchte ich mit Ihnen ein wenig nachdenken.

17.1 Digitalisierung in der Bewerberkommunikation Viele Unternehmen kommen aus (und befinden sich offenbar gedanklich immer noch in) einer Zeit, in der Arbeitgeber mit Bewerbungen überschüttet wurden. Es waren eigentlich immer genug Bewerber da. Und da die Personaler so viel mit Bewerberadministration, Interview und allerlei anderem Kram zu tun hatten, waren telefonische Anfragen (zu ausgeschriebenen Jobs) und Rückfragen (zum Stand des Bewerbungsprozesses) auch nicht gern gesehen und wurden nach Möglichkeit gar nicht erst zugelassen. Ansprechpartner mit Telefonnummer? Gab es im Zweifel nur bei den Personalberatern. Da dann auch am Wochenende ;-). Arbeitgeber hatten im Lauf der Zeit die Schotten immer mehr hochgezogen, um bloß von den Bewerbern in Ruhe gelassen zu werden. Das gedankliche Motto der Personalabteilungen lautete in etwa so: „Gib brav deine Bewerbung ab und verhalte dich unauffällig. Wir melden uns bei dir, nicht du dich bei uns“. Dabei wollten die Bewerber eigentlich nur was völlig Legitimes. Suchen Arbeitgeber nicht motivierte Bewerber, die unbedingt bei ihnen arbeiten wollen? Ja, eigentlich schon. Und sind dann Rückfragen nicht ein Zeichen von Motivation? Absolut! Naja, manchmal sind es auch Zeichen von Verzweiflung. Verzweiflung über die Kommunikationswand, die die Arbeitgeber hochgezogen haben. Die Internetforen und Studien sind voll mit den Klagen von Bewerbern über fehlende oder sehr späte Rückmeldungen seitens der Arbeitgeber, nicht gehaltene Zusagen und überhaupt einer allgemeinen Nichtkommunikation. Und jetzt passiert etwas Spannendes. Auf einmal bringen Dienstleister Chatbots auf den Markt. Im Online-Handel ja durchaus schon gut etabliert. Der Käufer hat noch Fragen zum Produkt, Preis, Lieferbedingungen etc.? Na, idealerweise stehen alle diese Infos gut auffindbar auf der Homepage. Aber für eine bessere Kundenerfahrung beantwortet der Chatbot nun die einfachsten Standardfragen, ohne dass der potenzielle Kunde selbst suchen muss. Ein Traum. Und natürlich ist der Gedanke der Verkäufer der, nicht nur Standardfragen zu beantworten, sondern in naher Zukunft auch kompliziertere Fragen beantworten sowie eine richtige Produktberatung oder ein Cross Selling durchführen zu können. Dieser Trend schwappt jetzt auch ins Recruiting rüber (Kap. 8). Einige Vordenker bei den Arbeitgebern haben schon Chatbots auf ihrer Karriereseite eingeführt, andere denken konkret drüber nach. Wenn dieses Buch veröffentlicht wird, ist das Thema sicherlich noch

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ein Stück weiter. Aber wie sinnvoll ist das, nur weil es technisch machbar ist? Schauen wir uns mal die Anwendungsmöglichkeiten an. Aus meiner Sicht gibt es zwei Arten von ­Fragen, die Bewerber haben. Zum einen eher technische Fragen zu Bewerbung. Also z. B.: • • • • •

Welche Jobs bietet das Unternehmen, die zu mir passen? Wie kann ich mich bewerben? Reicht ein Social-Media-Profil oder muss es eine komplette Bewerbung sein? Wie läuft der weitere Prozess? Wo stehe ich gerade im Prozess?

Zum anderen Fragen, die ich eher informell nennen möchte. Also z. B.: • Was sind wirklich die Aufgaben bzw. Anforderungen des Jobs? • Passe ich darauf? Entspricht mein Profil soweit den Erwartungen, dass eine Bewerbung überhaupt Sinn macht? Bin ich gut genug? • Oder genau anders herum: Entspricht der Job wirklich meinen Erwartungen? Bin ich da wirklich gefordert? Lohnt es sich, für diesen Job zu wechseln? • Wie sind das Umfeld und die Kultur in der Abteilung? • Wer sind meine Vorgesetzten? Wer meine Kolleginnen und Kollegen? Die eher technischen Fragen kann ein Chatbot problemlos beantworten. Dafür ist er sogar deutlich besser geeignet als jeder Mensch. Denn er ist 24/7 verfügbar, hat nie schlechte Laune und ermüdet nie. Außerdem ist er viel günstiger als ein Mitarbeiter. Und gerade auch so eine elementare Frage wie „welcher Job passt fachlich am besten zu mir“ lässt sich vermutlich mit gut geführten Fragen und den entsprechenden Daten von einem Algorithmus viel besser beantworten als von jemandem aus der Personalabteilung, der/ die 30 verschiedene Stellen betreut, ohne alle im Detail zu kennen. Aber was ist mit den eher informellen Fragen? Die Fragen nach der Kultur und den Vorgesetzten und Mitarbeitern ließen sich sicherlich auch noch vom Chatbot lösen. Man müsste nur alle Abteilungen vorher erfassen, die Infos mit Bildern und Daten der Menschen in der Datenbank hinterlegen und den Chatbot dann abhängig vom Job die richtigen Daten anzeigen lassen. Aber ab einem gewissen Punkt wird es persönlich. Ein Jobwechsel ist in Deutschland kein Spaziergang. Die richtigen Mitarbeiter finden übrigens auch nicht. Was wollen beide Seiten immer? Den anderen persönlich kennenlernen! Um zu klären, ob die Chemie stimmt, ob man miteinander kann, ob die Vorstellungen und Erwartungshaltungen ähnlich sind. Viele Vorstellungsgespräche enden mit dem Ergebnis, dass die Aufgaben des Jobs dann doch nicht die sind, die man sich vorgestellt hat. Oder der Bewerber nicht das kann, was man gedacht hat, oder dass es halt irgendwie persönlich nicht passt. Und dieses irgendwie lässt sich oft nicht genau erklären, es ist nur so ein diffuses Gefühl. Ein Problem, auf das ich weiter unten noch zum Thema Personalauswahl eingehe.

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Und diese Ergebnisse möchten doch beide Seiten eigentlich vermeiden, oder? Und es kann sehr gut sein, dass ein Chatbot oder ein Algorithmus ein super Matching hinbekommt. Und trotzdem möchten wir Menschen uns nochmal unser eigenes Urteil verschaffen. Wir brauchen das für uns selbst. Wir stellen nicht blind jemanden ein, unterschreiben nicht blind einen Job, nur weil irgendein Algorithmus meint, es passt alles. Und wir fahren inzwischen auch ungern blind zu einem Bewerbungsgespräch und nehmen den ganzen Aufwand auf uns. Jetzt noch mal als kleine Erinnerung. Machen Sie sich klar, wir reden von einem leergefegten Bewerbermarkt. Die wenigsten Arbeitnehmer müssen wechseln. Jeder Bewerber weiß, so ein Bewerbungsprozess kann langwierig werden. Ich muss mir Urlaub nehmen für die Gespräche, ich muss meinem Chef erklären, warum ich schon wieder mitten drin Urlaub haben will. Für einen oder einen halben Tag. Der wird doch misstrauisch. Aber ich weiß als Bewerber auch, dass es ohne das nicht geht. Ich will ja auch im eigenen Interesse meinen Chef und vielleicht sogar ein paar Kollegen kennenlernen. Also, was sollte ich hier als Arbeitgeber auf jeden Fall anbieten? Genau, den direkten (z. B. telefonischen) Austausch mit der Führungskraft und/oder Kolleginnen und Kollegen. Ab hier holt mich als Bewerber ein Chatbot nicht mehr ab. So funky er auch sein mag. Ich glaube, wir sind uns über diesen Punkt einig. Mit dieser kurzen Betrachtung ist klar: Ich halte Chatbots definitiv für sinnvoll, v. a. in einer sehr frühen, noch unverbindlichen Bewerberkommunikation. Aber eben nicht in der kompletten Bewerberkommunikation. Ich möchte die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Chatbots aber noch anders stellen. Und diese Perspektive halte ich für die entscheidende: Wenn ich als Arbeitgeber händeringend Mitarbeiter suche, wenn ich keine 100, ja nicht mal mehr 20 oder 10 Bewerbungen bekomme, wenn ich weiß, dass ich gegen andere Toparbeitgeber konkurriere und Stellenanzeigen, Karriereseiten und Employer-Branding-Aussagen nur eine erste und lückenhafte Kommunikation sind – muss ich dann nicht geradezu darum ringen, so schnell wie möglich in einen direkten Austausch mit einem potenziellen Bewerber zu kommen? Muss ich mich nicht bildlich gesprochen ihm in den Weg werfen und ihn in ein persönliches und wertschätzendes Gespräch verwickeln? Doch, das wäre eine gute Idee! Und ich erzähle Ihnen auch nichts Neues, dass der persönliche Kontakt, die Chemie mit der direkten Führungskraft am Ende ein wesentliches Kriterium ist, ob ein Bewerber ein Jobangebot annimmt oder eben auch nicht. Von daher lautet meine Empfehlung: Wenn Sie mit 50 oder 100 Bewerbern rechnen, sind Chatbots eine sehr gute Möglichkeit, ein besseres Niveau in der Bewerberkommunikation herzustellen als bisher. Nämlich bisher ohne irgendeine Möglichkeit der Rückfrage. Aber wenn Sie froh über jeden sind, der überhaupt Interesse haben könnte … dann vergessen Sie Chatbots! Dann ist Recruiting Aufgabe des Menschen. Und zwar, und auch das predige ich schon seit Jahren, der Führungskräfte bzw. Hiring Manager, nicht der Personalerinnen und Personaler. Und wenn Sie mich fragen, bewegen wir uns bei vielen Positionen schon längst in die zweite Richtung. Die größte Gefahr, die ich bei diesem Thema sehe, ist, dass Unternehmen dankbar und gedankenlos Chatbots einführen – um sich nach wie vor diese leidigen Bewerber

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vom Hals zu halten. Schließlich haben HR- und Hiring Manager ja wichtigeres zu tun, als sich mit (potenziellen) Bewerbern auseinander zu setzen. Aber genau so werden die Hiring Manager nie ihre neue Rolle im Recruiting verstehen: Nämlich erster und wichtigster Ansprechpartner der Bewerber zu sein.

17.2 Digitalisierung in der Personal(vor)auswahl Über dieses Thema müsste man vermutlich ein ganzes Buch schreiben, ich kann hier nur anreißen. Umso wichtiger ist es mir, Ihnen die wesentlichen Punkte klar zu machen. Fangen wir an mit einer kleinen Zustandsbeschreibung. Kein Dienstleister, wie Jobbörsenbetreiber oder Anbieter von Bewerbermanagementsystemen oder Instrumenten für die Personalauswahl, kommt heute ohne „KI inside“ in seiner Produktbeschreibung und seinem Marketing daher. Künstliche Intelligenz (KI) ist sowas wie der Zauberstab der Recruiting-Szene geworden, der jedem Anbieter und Personaler feuchte Träume auf Knopfdruck beschert. Ein Hauch von Magie ist in die verstaubte Personalerszene eingezogen. Es ist der Wunsch unserer Gesellschaft und Arbeitswelt nach einfachen Lösungen in einer immer komplexer werdenden Zeit, die das Thema KI zusätzlich befeuert. Ein echtes Phänomen. Je komplexer ein Problem, umso schneller stürzen wir uns auf jeden, der eine einfache – oder besser formuliert – sichere Lösung verspricht. Sicher im Sinn von richtig. Aber weiß nicht jeder von uns, dass es gerade für komplexe Probleme bzw. Situationen gar keine einfache und eindeutig richtige Lösung bzw. Antwort geben kann? Wir sollten es eigentlich wissen. Mir scheint, wir belügen uns hier gern sehenden Auges selbst. Faszinierend. Jetzt gibt es inzwischen (z. T. medial gefeierte) Anbieter, die behaupten, mithilfe von Analysen der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, der Social-Media-Einträge oder auch mithilfe einer Videoaufnahme von einem Menschen seine Persönlichkeit und auch gleich seine Eignung für einen bestimmten Job ermitteln zu können. Ein Traum, nicht wahr? Wenn es denn funktioniert. Nur leider ist, und da sind sich alle Eignungsdiagnostikexperten, die nicht auf der Produktanbieterseite arbeiten, einig, die Feststellung der Eignung eines konkreten Menschen für einen konkreten Job eine Aufgabe mit extrem hoher Unsicherheit. Wenn Sie sich mal das Vergnügen gönnen wollen, den Youtube-­Kanal von Prof. Dr. Peter Kanning zu besuchen werden Sie lernen: Die Validität (also: Wie gut kann eine bestimmte Auswahlmethode die zukünftige Leistung im Job voraussagen?) fast aller bekannten Methoden ist erschreckend gering! Bei der Analyse von Sprache als Methode z. B. können Sie genauso gut würfeln oder das Los entscheiden lassen. Die zwei Methoden mit der höchsten Validität sind hochstrukturierte Interviews und die Ermittlung der Intelligenz eines Bewerbers! Und selbst bei diesen Methoden liegt die Validität noch deutlich unter 50 %. Das heißt, Sie haben auch hier immer noch eine mindestens 50 %ige Wahrscheinlichkeit, die falsche Entscheidung zu treffen. Darum empfiehlt auch jeder seriöse Eignungsdiagnostiker einen Methodenmix, z. B. aus Intelligenztest, Arbeitsprobe und strukturiertem Interview. Und hier sehen Sie schon: Eine seriöse Personalauswahl ist aufwendig. Strukturierte Interviews werden in kaum

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einem Unternehmen in Deutschland eingesetzt. Nicht nur, weil die Eignungsdiagnostikkompetenz der meisten Personalabteilungen gering ist, sondern auch, weil strukturierte Interviews sehr aufwendig sind! Ich möchte jetzt nicht näher auf diese beiden Methoden eingehen, sondern noch mal die grundsätzliche Frage stellen, warum eine gute Personalauswahl so schwierig ist. Die Antwort ist einfach: Weil Leistung, Zufriedenheit und Erfolg im Job von Hunderten individuellen Faktoren beeinflusst werden, die nicht in der Person des jeweiligen Menschen liegen. Oder wie Prof. Dr. Rüdiger Hossiep es mir gegenüber einmal ausdrückte: „Das Problem ist, dass wirklich niemand ein auch nur im Ansatz funktionierendes Modell vom individuell verursachten beruflichen Erfolg hat“. Konkret heißt das folgendes: Ein Mensch, der in seinem Job bei Unternehmen A sehr gut und erfolgreich war (wie auch immer man Erfolg definieren mag), kann im gleichen Job bei Unternehmen B komplett in die Durchschnittlichkeit fallen oder sogar ganz scheitern. Umgekehrt kann ein Versager bei Unternehmen A zum gefeierten Superstar bei Unternehmen B werden. Die Gründe hierfür können marginal sein, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass es so ist. Natürlich sind Abstürze „from Hero to Zero“ und umgekehrt eher selten. Aber selbst Leistungsunterschiede von 10 bis 30 % sind ja durchaus spürbar. Erst recht für den einzelnen Menschen selbst. Das Leben ist also komplex und es gibt wenig direkte und immer und überall gültige Zusammenhänge bestimmter Faktoren zum Erfolg im Job. Das Problem ist aber, dass KI genau diese Zusammenhänge braucht und sucht, um daraus Vorhersagen treffen zu können. Das ist ja genau ihre Stärke! Aus meiner Sicht wird KI diese Komplexität des Lebens aber nie ganz erfassen können! Dafür ist jeder Mensch, sind viele Jobs, sind viele Einflussfaktoren zu individuell. Und dazu kommt, dass KI auch die nötige Grundlage, nämlich die nötigen Datenmengen, nie wird erreichen können. Damit eine KI wirklich ihr Potenzial ausschöpfen kann, muss sie mit Millionen von Datensätzen gefüttert und von Menschen permanent angelernt werden. Praktisch stellt man sich dann fragen wie: Wer ist bei uns im Unternehmen ein Leistungsträger und warum? Welche Faktoren finden wir, die zum Erfolg führen und wo finden wir diese Faktoren noch? Das Tolle ist, dass die KI aus Millionen Daten Zusammenhänge finden kann, die ein Mensch nie entdeckt hätte! Hier liegt also wirklich echtes Potenzial für Verbesserungen. Es tauchen aber zwei Probleme auf. Erstens findet die KI offensichtlich auch Zusammenhänge, die aber von den Menschen nicht gewollte sind! Amazon musste sein KI Projekt abbrechen, weil die KI aus der Vergangenheit gelernt hatte, dass Männer vor Frauen bevorzugt werden. Und hat Frauen deswegen schlechter gestellt. Da die KI selbst lernt, wissen die Entwickler im Zweifel gar nicht mehr, wie die KI zu dem vorgeschlagenen Ergebnis kommt. Das andere Problem ist ganz schlicht: Kaum ein Unternehmen kann Millionen von Datensätzen zum Füttern der KI zur Verfügung stellen. Das gelingt maximal den großen Konzernen. Wir haben hier also trotzdem noch eine hohe Fehleranfälligkeit und wir haben einen Algorithmus, der sich verselbstständigt. Zu dem Thema ließe sich noch viel sagen, aber ich möchte Ihr Augenmerk noch auf einen ganz wichtigen Aspekt lenken. Nämlich wieder den Menschen. Jeder Mensch hat

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seine Meinungen, Vorlieben, Vorurteile, Ansichten etc. Und fühlt sich i. d. R. erstmal ganz gut damit. Was passiert also, wenn die KI jetzt auf einmal Bewerber für ein Interview vorschlägt, die Führungskraft als Mensch diese Entscheidung aber überhaupt nicht nachvollziehen kann? Schlimmer noch: Total anderer Meinung ist? Wird die Führungskraft dann auf die KI hören? Und sich überzeugen lassen? Das wäre denkbar, ich halte es allerdings nicht in allen Fällen für wahrscheinlich. Was ist, wenn der von der KI vorgeschlagene Topkandidat der Führungskraft gegen den Strich geht? Die beiden auf der persönlichen Ebene einfach nicht mit einander können? Wird der Kandidat dann trotzdem eingestellt? Ich halte es für unwahrscheinlich. Und wenn doch, wie wohl wird sich der neue Mitarbeiter dann im Kontakt mit seiner Führungskraft fühlen? Wir erleben das ja schon auf ganz niedrigem Niveau bei der anonymisierten Bewerbung, die sich einfach nicht durchsetzt. Warum? Weil die meisten Führungskräfte eben doch anhand von Aussehen, Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Nationalität etc. persönliche Befindlichkeiten und Vorurteile haben und dem Bewerber dann halt nach dem Gespräch absagen. Egal, wie gut er oder sie gepasst hätte. Im Moment erlebe ich die Mehrzahl der einstellenden Führungskräfte noch sehr beratungsresistent. Ob starke Führungskräfte auf einmal auf eine KI hören und deren Urteil vertrauen, ohne überhaupt die Herleitung bzw. Begründung des Urteils zu kennen? Ehrlich gesagt, hoffe ich, dass das nicht passieren wird. Blindes Vertrauen führt selten zu etwas Gutem. Aber wenn ein geschulter Experte mit der Führungskraft in den Austausch geht und jedes Für und Wider des Kandidaten offen bespricht und dabei vielleicht die Führungskraft ihre mentalen Modelle überdenkt und sich davon löst und neue, bessere Methoden und Kriterien anwenden lernt? Davon hätten alle etwas: Die Bewerber, die Personaler und die Führungskräfte. Und wir haben seit Jahrzehnten gesicherte Erkenntnis in der Eignungsdiagnostik, die sich jederzeit anwenden ließen. Wenn die Arbeitgeber nur wollen würden. Wir brauchen keine KI, die sich selbst Lösungen und Zusammenhänge baut. Wir kennen die Zusammenhänge für gute Leistung schon. Die beiden stärksten Einflussfaktoren sind die Intelligenz und gewisse, auf den Job und das Unternehmen abgestimmte, persönliche Eigenschaften. Der Rest ist Führung und Entwicklung. Das ist das ganze Geheimnis.

17.3 Die positiven Seiten der Digitalisierung Ich sehe in der Digitalisierung großes Potenzial. Aber vielleicht ganz anders, als die Anbieter der aktuellen Produkte es ahnen. Wir könnten die Erkenntnisse der Eignungsdiagnostik durch die Digitalisierung weltweit für alle verfügbar machen. Jeder Mensch könnte sein Persönlichkeit, seine Fähigkeiten und seine Intelligenz mit wissenschaftlich fundierten Methoden ermitteln und in einer Datenbank zur Verfügung stellen. Umgekehrt erstellt jeder Arbeitgeber für jeden Job ein Anforderungsprofil, basierend auf genau diesen drei Faktoren. Und dann lassen wir einen Algorithmus darüber laufen (dafür brauchen wir keine KI), der das „matching“ vornimmt, nur anhand dieser drei Faktoren. N ­ atürlich

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können Arbeitnehmer das umgekehrt auch machen und für sich die passenden Jobs suchen lassen. Nach einem Match öffnet sich ein Chatbot, klärt noch verbleibende Fragen und verbindet beide Seiten dann für ein Telefonat oder Skype-Gespräch. Und dann müssen sich beide Seiten immer noch intensiv miteinander auseinandersetzen. Aber dafür brauchen wir keine KI, die aus ominösen Daten aus dem Netz irgendwelche Schlüsse zieht. Die notwendigen Daten lassen sich ganz einfach abfragen und zur Verfügung stellen. Sie sehen, ich bin kein Gegner der Digitalisierung. Wir müssen aber mit Sinn und Verstand vorgehen.

17.4 Digitalisierung – warum die Sinnfrage so wichtig ist Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Gedanken zum Sinn des Ganzen formulieren. Die Digitalisierung bringt viele Vorteile für uns Menschen. Robotic Process Automation (RPA; Abschn. 2.4.2) in der Verwaltung dürfte z. B. mittelfristig viele langweilige, weil rein auf Routine basierende, Jobs wegrationalisieren und den Menschen Kapazität schaffen für seine menschlichen Kompetenzen wie Kreativität, Empathie und Zusammenarbeit. Experten haben eine klare Sicht auf die Möglichkeiten von RPA: Alles, was immer gleich oder mit nur minimalen Varianten abgearbeitet wird, kann automatisiert werden. Je häufiger allerdings Abweichungen und Varianten des Vorgehens auftreten können, umso weniger macht RPA Sinn. Die Frage ist also, warum wir komplexe Dinge wie zwischenmenschliche Kommunikation zu wichtigen und vielschichtigen Dingen wie einem Jobwechsel und die Personalauswahl, also die Frage, unter welchen vielen möglichen und jederzeit veränderbaren Umständen jemand für einen Job geeignet ist, an die Digitalisierung (und hier v. a. die KI) ausliefern wollen? Der Sinn erschließt sich mir ehrlich gesagt nicht. Obwohl ich mit meiner Erfahrung aus 18 Jahren Recruiting-Erfahrung sagen muss, dass KI vermutlich oft die bessere Personalauswahl treffen würde. Das liegt aber nicht an der KI, sondern daran, dass die meisten Personalentscheider und Führungskräfte keine Ahnung von einer fundierten Personalauswahl haben. Sollten wir also nicht die Entscheider stärken und aufklären, statt sie dumm zu lassen und die Entscheidung an eine KI zu delegieren? Und wenn wir in die Vollbeschäftigung kommen und froh über jede Bewerbung sind, die wir bekommen, sollte Personalauswahl dann nicht Chefsache sein? Sollte nicht jede Bewerbung die gleiche Chance bekommen, anhand fundierter Kriterien (die allen bekannt sind) geprüft zu werden? Ich denke schon. Und eine letzte Frage möchte ich stellen. Wenn es tatsächlich Faktoren aus der Vergangenheit gäbe, die früheren Erfolg erklären und daraus zukünftigen Erfolg ableiten – wo bleibt dann die verändernde Kraft des menschlichen Miteinanders? Lebt Hollywood nicht davon, dass Menschen das Unmögliche schaffen, weil andere ihnen die Chance dafür gaben? Dass Verlierer auf einmal über sich hinauswachsen, weil jemand da war, der ihnen etwas zugetraut, sie bestärkt und gefördert hat? KI kann die Daten liefern, die wir brauchen, um Potenzial zu erahnen. Aber kann KI Menschen verändern? Ich glaube nicht.

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Das können nur Menschen. Sollten wir als Menschen nicht die Verantwortung für einander übernehmen? Sollten wir nicht wahrnehmen, ansehen, fördern, fordern und begleiten? Doch, genau das sollten wir. Genau das ist Aufgabe von Führung. Aber damit wir das schaffen, brauchen wir erst mal das Verständnis von Erfolg, Leistung und Menschsein. Und dieses Verständnis bekommen wir nur durchs (durch)leben und erspüren. Aber nie durch Algorithmen.

Henrik Zaborowski verfügt über 18 Jahre Recruiting-Erfahrung als Personalberater sowie Inhouse Recruiter und ist seit Ende 2013 als Redner und Recruiting-Experte selbstständig. Er unterstützt seine Kunden sowohl operativ als auch durch seine Impulse als Berater, Blogger und Redner und ist in der HR Szene als „Luther des Recruitings“ bekannt.

Die Risiken der Digitalisierung Wie Fakes, Betrug und die Frage der Moral unseren Arbeitsalltag verändern wird

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Tim Verhoeven

Inhaltsverzeichnis 18.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 18.2 Doch alles nur Fake?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 18.2.1 Fake Reviews. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 18.2.2 Fake-Follower . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 18.2.3 Fake-Profile in Businessnetzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 18.2.4 Deepfakes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 18.2.4.1 Video-Deepfakes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 18.2.4.2 Voice-Deepfakes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 18.2.4.3 Auswirkungen von Deepfakes auf Recruiting . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 18.3 Diskriminierende Algorithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 18.3.1 Der Chatbot Tay. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 18.3.2 Der Amazon-Algorithmus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 18.3.3 Österreichs Arbeitsmarktservice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 18.3.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 18.4 Externe Beeinflussung von Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 18.4.1 Adversarial Learning. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 18.4.2 Hacker, Trojaner und sonstige Angriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 18.5 Zusammenfassung und die Rolle von Recruitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_18

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Zusammenfassung

Die schöne, neue Welt der Digitalisierung im Recruiting verspricht Fortschritt, d. h. Arbeitserleichterung bei gleichzeitiger qualitativer Verbesserung der Ergebnisse. Das klingt zu schön, um wahr zu sein – und so ist es auch. Denn mit allen schönen neuen Möglichkeiten, kommen auch neue unberechenbare Risiken einher. Der erste Schritt, um eine Chancen-Risiken-Abwägung machen zu können, besteht darin, sich den Risiken bewusst zu werden und diese ansatzweise zu verstehen. Erst dann schafft man es, sich so weiterzuentwickeln, dass man souverän mit einem Großteil der Risiken umgehen kann. Denn, obwohl diese Themen sehr komplex und techniklastig sind, benötigen sämtliche Lösungen kompetente Recruiting-Experten, um sie anzuwenden, um sie zu steuern, um sie zu überwachen und gegebenenfalls zu trainieren und adjustieren.

18.1 Einleitung Die Digitalisierung hat ein enormes Potenzial, um Mehrwert für viele zu ermöglichen und das Wohlstandsniveau zu heben. Die schöne heile Welt der Digitalisierung ist jedoch in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Firmen, wie Cambridge Analytica, haben mutmaßlich das Zünglein an der Waage gespielt bei diversen politischen Entscheidungen. Staatstrojaner werden im Zweifel legitimiert, Bürger zu bespitzeln und überall lauern Fake-Accounts. Da gibt es keinen plausiblen Grund, warum diese Risiken vor dem Recruiting halt machen sollten. Grundsätzlich gibt es mehrere Risiken, die mit den digitalen Möglichkeiten der Technologisierung einhergehen: Immer mehr verschiedene digitale Lösungen und Anbieter kommen auf den Recruiting-Markt. Der komplette Recruiting-Prozess kann mittlerweile schon digital abgewickelt werden. Von der Jobsuche, über die Bewerbung, über das Videointerview und den OnlineTest, bis hin zum digital verschickten Arbeitsvertrag. Da ist es naheliegend, dass die normalen Mechanismen von anderen digitalen Märkten auch hier stattfinden. Bei allen positiven Entwicklungen und zweifelsohne gewichtigen Vorteilen, die mit vielen digitalen Lösungen im Recruiting einhergehen, dürfen wir nicht die andere Seite der Medaille außer Acht lassen. Digitale Lösungen heißt auch immer digitale Risiken. Ich merke auf Vorträgen, die ich zu dem Thema halte, relativ schnell, wie der Wissensstand zu dem Thema ist. Manche Risiken sind naheliegender und innerhalb der Recruiter-Szene bekannter und andere sind deutlich weniger bekannt. Auf den folgenden Seiten werde ich die wichtigsten Fakten dieses Themas zusammenfassen – angefangen von den noch eher bekannten Themen, bis hin zu den eher weniger bekannten Themen. Mit dem Wissen um jedes Risiko schafft man Risikobewusstsein, das unabdingbar ist, um gegen die Risiken vorzugehen oder um zu versuchen sie zu vermeiden. Innerhalb der Wertschöpfungskette des Recruitings lassen sich an jeder Phase des Recruiting-Prozesses Beispiele finden, wo Risiken lauern können. Wenn wir uns, wie schon bei der Frage nach Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz (Kap. 9)

18  Die Risiken der Digitalisierung

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Tab. 18.1  Risiken innerhalb des Recruiting-Prozesses Phase innerhalb des ­Recruiting-Prozesses

Risiken

Anziehung

Fake-Bewertungen in Online-Foren oder Arbeitgeberbewertungsportalen

Information

Fake-Follower auf Social-Media-Accounts

Bewerbung

Fake-Bewerbungen, gefälschte Unterlagen, Malware

Auswahl

Tools zum Betrug bei Videointerviews oder Online-Tests, falsch agierende oder explizit diskriminierende Algorithmen

verwende ich hier die ersten vier Phasen des Sechs-Phasen-Modells (Abschn. 5.3): Anziehung, Information, Bewerbung und Auswahl (Tab. 18.1). Auch Bewerber haben Bedenken bei den Themen Sicherheit und Datenschutz im Kontext von Bewerbungsverfahren. Laut einer Studie des auf Videointerviews spezialisierten Unternehmens Viasto gaben 86 % aller Befragten an, dass diese Themen ihnen im Bewerbungsprozess wichtiger seien als beispielsweise beim Online-Shopping oder bei der Registrierung bei anderen Online-Diensten (Viasto 2018). In Summe scheint das Vertrauen bei Bewerbern in Richtung potenzieller Arbeitgeber nicht allzu groß zu sein: 48 % der Teilnehmer gaben an, dass sie befürchten, dass deren Daten bei den potenziellen Arbeitgebern nicht sicher seien (vgl. Viasto 2018). Ebenso gaben 73 % der Teilnehmer an, dass sie insbesondere bei Start-ups aus dem Ausland besonders misstrauisch seien, dass dort sorgfältig mit den Bewerberdaten umgegangen wird. Im Vergleich dazu sehen dies bei deutschen Start-ups nur 40 % der Teilnehmer so – also deutlich weniger (vgl. Viasto 2018). Wenn man bedenkt, dass in anderen Bereichen, wie beispielsweise E-Commerce seit vielen Jahren auf das Thema Datenschutz und Security Wert gelegt wird, sind diese Werte nicht verwunderlich. Die Digitalisierung und insbesondere das Internet bergen Risiken, auf die man als Unternehmen reagieren muss. Immerhin schreiben Experten schon seit Jahren, dass ein Großteil der ans Internet angeschlossenen Geräte schwere Sicherheitsrisiken haben (vgl. Srinivasan und Schmitz 2018).

18.2 Doch alles nur Fake? 18.2.1 Fake Reviews Wir leben in einer Welt, in der Bewertungen unseren Alltag bestimmen. Ob es nun der Amazon-Kauf, die Wahl des Restaurants oder die Wahl des Urlaubsorts ist – wir lassen uns von der Anzahl, der Glaubwürdigkeit und den Ergebnissen von Bewertungen

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in unserem Konsumverhalten beeinflussen. Laut eKomi-Studie aus dem Jahr 2015 sind Produkte mit Produktbewertungen anderer User zwölfmal mehr vertrauenswürdig als ohne. Gleichzeitig zeigen Produkte mit einer positiven Bewertung einen Umsatzanstieg in Höhe von 30 % (eKomi 2015). Kein Wunder, dass auch im Recruiting das Thema Bewertung an Relevanz gewonnen hat. Sogenannte Arbeitgeberbewertungsportale, wie Kununu oder das aus den USA kommende Unternehmen Glassdoor, verzeichnen jedes Jahr aufs Neue Rekordzahlen. Laut Google Trends (Abb. 18.1) hat sich die Anzahl der Suchen nach dem Begriff Kununu in Deutschland in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt. Bei Amazon – einem Unternehmen, das wahrscheinlich wie kaum ein weiteres ­Unternehmen für Bewertungssysteme steht – hängen Bewertungen mit dem kommerziellen Erfolg der Verkäufer zusammen. Laut Sellics bezieht der Amazon-Algorithmus grob zwei verschiedene Dimensionen mit ein, wenn es um die Darstellung des Produkt-­ Listings geht: Relevanz und Performance. Die positiven Bewertungen haben einen direkten Einfluss auf die Performance und je nach Filtereinstellungen bei der Suche des Kunden auch auf die Relevanz (vgl. Pannicke 2018). Dies hat zur Folge, dass positive Bewertungen ein kostbares Gut sind, um das sich eine eigene kleine Industrie gegründet hat. So gibt es, von Amazon selbst gefördert, das Amazon Vine Produkttester Programm, bei dem Unternehmen offiziell und gegen Geld kostenlose Testmuster an besonders aktive Rezensionisten verschicken können, mit dem Ziel, möglichst viele und möglichst positive Rezensionen zu bekommen (vgl. Amazon o. D.). Daneben gibt es aber auch eine Menge Auswüchse, wie Gefälligkeitsbewertungen oder gekaufte Bewertungen, die entweder gegen die Geschäftsbedingungen verstoßen oder im Zweifel sogar illegal sind (vgl. Ptock 2016). Woran man Fakes erkennt: Beispiel Amazon Auf der Amazon-Fake-Bewertungs-Analyse-Webseite Reviewmeta werden Amazon-­ Bewertungen nach elf verschiedenen Dimensionen analysiert und jede dieser Bewertungen als vertrauenswürdig unklar und nicht vertrauenswürdig klassifiziert. Diese Klassifizierung entsteht aufgrund von verschiedenen statistischen Modellen (vgl. Reviewmeta 2018).

Abb. 18.1   Google-Trends-Abfrage „Kununu“ in Deutschland

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Dabei werden beispielsweise Auffälligkeiten analysiert, die ungewöhnlich sind, wie beispielsweise • besonders viele Bewertungen von Personen, die noch keine anderen Bewertungen abgegeben haben; • besonders viele Bewertungen von Personen, die andere Produkte gekauft haben, mit geringer Vertrauenswürdigkeit; • besonders viele nicht verifizierte Käufe; • besonders viele kurze und unspezifische Rezensionen; • auffällig viele Rezensionen innerhalb eines speziellen Zeitraums. Wenn diese Rezensionen im Vergleich zum Durchschnitt auch noch überproportional gut bewerten, dann liegt ein Betrug nahe – gemäß dem Algorithmus. Das möglicherweise extremste Beispiel ist das Produkt Maxboost Fidget Spinner1. Von den 1642 Reviews wurden nur 17 als vertrauenswürdig eingestuft und dabei sank die durchschnittliche Bewertung von sehr guten 4,1 von 5 auf 2,0 von 5. Auch, wenn diese Analyseseite nur auf Amazon-Reviews bezogen ist, so ist die Seite aus zwei Gründen für uns aufschlussreich. Erstens kann man einige Gedankengänge und Analyseansätze übernehmen, wenn man prüfen möchte, ob ein Review wirklich ­vertrauenswürdig und damit relevant ist oder nicht. Zweitens sieht man bei Nutzung dieses Tools, dass prozentual mehr potenzielle Fakes gefunden werden, als man im ersten Moment vermutet. Dies wird im Recruiting mutmaßlich nicht viel anders sein. Woran man Fakes erkennt: Beispiel Kununu Wir sollten uns also darüber bewusst sein, dass sowohl Bewertungen auf unseren Accounts als auch bei den Accounts unserer Konkurrenten mit Sicherheit Fakes sein können. Indizien für Fake-Bewertungen können sein – insbesondere, wenn mehrere Indizien vorliegen: • Auffällig viele Bewertungen innerhalb kurzer Zeit • Auffällig positive Bewertungen – häufig kurz nachdem besonders negative Bewertungen vorkamen • Null- oder Fünf-Sterne-Bewertungen (bei keiner Firma ist entweder alles super oder alles mies) – insbesondere ohne Kommentar • Typische Arbeitgebermundart • Angaben die sachlich falsch sind Nicht jedes Indiz ist ein Beweis – deswegen sollte man sich die Informationen im Kontext anschauen. Wenn man seine Bewertungen oder die Bewertungen der Konkurrenz

1Das

Produkt wurde mittlerweile von Amazon entfernt und ist deswegen unter dem ursprünglichen Link nicht mehr zu finden: https://reviewmeta.com/amazon/B071NW974Q9.

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Abb. 18.2   Google-Trends-Abfrage „Follower kaufen“ in Deutschland

genau erfasst, dann sollte man zumindest die auffälligen Bewertungen gesondert markieren, damit man diese gegebenenfalls auch zum Vergleich rausrechnen kann.

18.2.2 Fake-Follower Neben Fake-Reviews gibt es einen weiteren Bereich, bei dem wahrscheinlich noch mehr Fakes zum Einsatz kommen. Fake-Follower werden Social Media Accounts genannt, die von Bots2 gesteuert werden oder nur mit unechten Profilen arbeiten. Deren Ziel ist es i. d. R., entweder für Reichweite zu sorgen, die Diskussion zu einem Thema mit gewissen inhaltlichen Beiträgen in eine Richtung zu bewegen oder ganz einfach Größe und Attraktivität zu suggerieren. Auch hier bietet Google Trends einen sehr guten Indikator dazu, wie sich das Interesse am Thema des Kaufs von Followern entwickelt hat. In den letzten fünf Jahren haben sich die Suchanfragen aus Deutschland für den Begriff „Follower kaufen“ mehr als verdreifacht (Abb. 18.2). Auch wenn das Kaufen von Followern am Rande der Illegalität existiert, geht der Kauf von Followern heutzutage erschreckend einfach und komplett öffentlich vor sich. Dabei reagieren die Verkäufer immer mehr darauf, dass manche Käufer nicht möchten, dass deren Käufe als Fake identifiziert werden. Woran man Fakes erkennt: Beispiel Twitter Für manche Social-Media-Plattformen gibt es spezielle Dienste, die analysieren, wie viele Follower eines Accounts wahrscheinlich Fake-Accounts sind. Das Selbstexperiment zeigte bei der Analyse, dass 2 % meiner Follower von @tim__verhoeven wahrscheinlich Fakes sind (Abb. 18.3).

2Der

Begriff Bot leitet sich von Robots ab und bezeichnet selbstständig laufende Softwareprogramme.

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Abb. 18.3   Analyse meiner Follower via twitteraudit.com

Abb. 18.4   Analyse der Follower von @AfD via twitteraudit.com

Um einen etwas populistischeren Vergleich zu nehmen, ergibt die Analyse des offiziellen Twitter-Accounts der Alternative für Deutschland @AfD, dass 51 % derer Follower wahrscheinlich Fakes sind (Abb. 18.4). Woran man Fake-Accounts erkennt, hier am Beispiel von Twitter: Es gibt viele Indikatoren, die dafürsprechen, dass es sich um einen Fake-Account handelt. Sprache: Wenn die Profilsprache als auch die in Tweets genutzte Sprache nicht die Sprache ist, in der man selbst schreibt, dann ist dies häufig ein starkes Indiz. Wenn Profile erst wenige Tage vor den ersten Kommentaren oder Folgen erstellt wurden. Wenn Profile bisher keinem Thema folgen, das man selbst veröffentlicht. Wenn Profile nur anderen auffälligen Profilen folgen. Einzeln betrachtet sind diese Indizien noch nicht zwingend ein Anzeichen dafür, dass ein Fake-Account vorliegt. Je mehr der Indizien jedoch erkannt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen Fake-Account. Nach dieser Methode arbeiten auch die meisten Anbieter für Fake-Analysen in sozialen Netzwerken.

18.2.3 Fake-Profile in Businessnetzwerken Auch auf den seriöseren Businessnetzwerken, wie Xing und LinkedIn, gibt es immer wieder Profile, hinter denen nicht der Mensch existiert, der er laut Profil vorgibt zu sein. Während wir hier weniger das Problem mit Bots haben, gibt es hier jedoch Fälle, wo bewusst Fake-Profile aus verschiedensten Gründen erstellt werden, über die man i. d. R. nur spekulieren kann.

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Tab. 18.2  Businessnetzwerke und andere soziale Medien Merkmale

Businessnetzwerke

Andere soziale Medien

Profilfoto

Soll den Eigentümer abbilden

Muss in der Regel nicht den Eigentümer abbilden

Art des Profils

In der Regel Premiummodelle, für mehr Möglichkeiten der Interaktion

In der Regel ausschließlich kostenlose Modelle

Klarname

Ja

Nein

Persönliche Daten

In der Regel sehr viele Daten, die im In der Regel Daten, die eher im beruflichen Kontext sind privaten Kontext sind

Selbst Anti-Viren-Softwarehersteller, wie die Firma Symantec empfehlen seit einigen Jahren, dass man vorsichtig sein sollte, bei der Annahme von unbekannten Anfragen in solchen Business Netzwerken, da es durchaus professionelle Strukturen gibt, die versuchen, sich durch solche Fake-Profile illegale Vorteile zu verschaffen (Daemon 2015). Ob es nun der Fake-Headhunter ist, der Bewerberdaten sammelt, der Fake-Bewerber, der Fake-Dienstleister oder der Fake-Experte – es gibt nicht das eine klar erkennbare Muster, bei der Funktion von Fake-Profilen in Businessnetzwerken. Insbesondere seit 2015 wird dieses Thema stärker in der Öffentlichkeit diskutiert – sicherlich auch, weil XING in diesem Jahr erstmalig öffentlich formulierte, gegen etwa 20.000 Fake-Profile vorzugehen (Spiegel-Online 2015). Woran man Fake erkennt: Beispiel Xing und LinkedIn Es gibt Unterschiede zwischen den meisten Businessnetzwerken, wie Xing und LinkedIn, auf der einen Seite und anderen sozialen Medien, wie Facebook, Twitter oder Instagram. Diese Unterschiede sind häufig auch die Bereiche, die man genauer untersuchen sollte, wie auch in Tab. 18.2 gezeigt wird. Wenn man diese vier Merkmale bei Fake-Profilen in Businessnetzwerken untersucht, findet man i. d. R. Indizien, dass es sich um ein Fake-Profil handelt. Ein Fake-Profil wird entweder kein Profilbild haben, Stock-Bilder nutzen oder Fotos von anderen Menschen missbrauchen. Stock-Bilder und Fotos, die von anderen Menschen bereits online zu finden sind, kann man über diverse Suchmaschinen ausfindig machen, innerhalb von wenigen Minuten, in dem ich das Bild des vermeintlichen Fakes in diese Bildsuchmaschine hochlade.3 Fake-Profile kommen deutlich häufiger bei kostenlosen Profilvarianten vor als bei Premiumprofilen, da die Pflege von Hunderten Premium-Fake-Profilen mitunter sehr teuer werden würde. Bei den Namen kommen zwei Varianten vor: entweder auffällig oder unauffällig, wie Michaela Müller oder sehr abstrakte und exotische Namen, wie Ametyst Williams-Rover (Braehmer 2015). Daneben sind auch bei den persönlichen

3Die

bekannteste Variante ist die Google-Bilder-Suche (https://www.google.de/imghp?hl=de), bei der man entweder ein Bild hochladen kann oder die URL verlinken kann.

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Daten bei Fake-Profilen sehr viele Auffälligkeiten zu entdecken. Entweder überhaupt keine Daten, was in einem Businessnetzwerk wenig Sinn macht oder inhaltliche Fehler, wie falsche Schreibweisen von Arbeitgebern oder Fachkenntnissen.

18.2.4 Deepfakes Der Begriff Deepfake ist ein moderner Kunstbegriff, zusammengestellt aus den Worten Deep (hier für Deep Learning, einer Lernmethode von künstlicher Intelligenz) und Fake (Schwindel/Betrug). Er bezeichnete die Methode über künstliche Intelligenz insbesondere Gesichter in Videos auszutauschen und automatisch diese Gesichter auf die Mimik und Bewegungen der Originalperson anzupassen. Im weiteren Sinn kann man aber Deepfake auch definieren als alle visuellen oder auditiven Identitätsveränderungen durch künstliche Intelligenz, die das Ziel haben, das Original zu verändern. Denn es gibt genauso auch Deepfakes, die sich auf die Stimme beziehen – aber dazu später mehr.

18.2.4.1 Video-Deepfakes Eigentlich ist das Thema inhaltlich betrachtet nicht neu – bei Hollywood ist es schon häufiger der Fall gewesen. Dort wird es dann CGI – Computer Generated Imagery – genannt und kommt in verschiedenen Filmen vor. Entweder haben Personen andere Personen in Filmszenen digital ersetzt, wie beispielsweise bei Forrest Gump4. Oder es wurden komplette Personen digital nachgebaut wie bei Star Wars „Rogue One“5. Anders als bei CGI werden bei Deepfakes nicht dreidimensionale Gerüste von Menschen nachgebaut – mit enormem Aufwand, sondern es werden entsprechende von einem ausgebenden Medium (Quelle) analysiert und dann in das aufnehmende Medium (Ziel) angepasst, das vorher auch analysiert wurde. Eines der ersten Beispiele ist hier das gemeinsame Forschungsprojekt zur Echtzeitgesichtsveränderung der Unis Nürnberg-Erlangen und Stanford sowie dem Max-Planck-Institut für Informatik. In der Abb. 18.5 sieht man, dass die Mimik der Quelle mit dem Gesicht des Ziels – in diesem Fall Barack Obama – zusammengeführt wird. Als Ergebnis sehen wir Barack Obama mit einer Mimik, die er in diesem Video nicht hatte (Thies et al. 2016). Unrühmlich kamen Deepfakes in das Licht der Öffentlichkeit, als 2017 über die Deepfake-Technologie erotische Filme mit den Gesichtern von Hollywood-Stars erstellt und veröffentlicht wurden. Erste bekannte Nennung war auf Reddit von einem User, der unter dem Pseudonym deepfakes erste Filme veröffentlichte (vgl. Brühl 2019).

4Im

Film „Forrest Gump“ wurde der Protagonist Tom Hanks in einige historische Filmszenen hineingeschnitten, die mit ihm täuschend echt wirkten. 5Im Film Star Wars „Rogue One“ kam eine täuschend echte Animation zu dem Zeitpunkt des Drehs bereits totem Schauspielers Peter Crushing vor.

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Abb. 18.5   Forschungsprojekt Face2Face Deepfake

Weiter geht der Deepfake, wenn er nicht nur die Mimik der Quelle übernimmt, sondern gleich das komplette Gesicht. Die Abb. 18.6 zeigt ein Beispiel, in dem das Gesicht des US-Late-Night-Moderators John Oliver in das Video eines anderen Moderators, Jimmy Fallon eingefügt wurde. Grundsätzlich gilt bei den verschiedenen Algorithmen: Je mehr Quellenmaterial sie haben, desto besser und realistischer wirkt das Ergebnis. Das Beispiel in der Abb. 18.6 basiert auf etwa 15.000 Bildern pro Person. Da es sich hierbei um Videomaterial handelt, kommt man recht schnell auf die Anzahl von Bildern, wenn man 10–15 min Videomaterial als Grundlage hat.6

18.2.4.2 Voice-Deepfakes Eine ähnlich rasante Prominenz bekam die erste Aufführung einer Voice-Deepfake-Software. Im Gegensatz zum Videopendant wurde diese neue Technologie vom Internetkonzern Adobe vorgestellt. Das Programm Adobe VoCo soll in der Lage sein, jede beliebige Stimme nachzumachen, nachdem es durchschnittlich 20 min Sprachaufnahme von dieser Person analysiert hat. Auf der hauseigenen Adobe Max Creativity Conference zeigte Zeyu Jin eine Live-Demo der Software, wie die Software die Stimme eines Gasts nachmachen konnte mit beliebigen Worten (vgl. Vice 2016). Die Möglichkeiten, die sich hier ergeben würden, wären tatsächlich sehr groß – nicht nur technisch, sondern auch, weil es sich hierbei um eine offiziell erwerbbare Software handeln würde, die einfach genug wäre, dass man sie als einfacher User ohne größere Kenntnisse nutzen könne. Mutmaßlich hat dies auch dazu geführt, dass Adobe über ­dieses Projekt noch einmal genauer nachgedacht hat und es zumindest zum heutigen Stand – einige Jahre nach der Live-Demo – weder veröffentlicht hat, noch weitere größere Ankündigungen dazu gemacht hat. Offiziell verfügbar hingegen ist die Software Lyrebird. Auf der Seite von Lyrebird muss man mindestens 30 kurze festgelegte einsätzige Texte ins Mikrofon vorlesen. Dann kann man selbst beispielhafte Texte eingeben und diese werden von der künstlich generierten Stimme vorgelesen. Ich habe den Selbstversuch gemacht. Auch Wörter, die nicht in einem

6Je

nach Format sind rund 24 Bilder pro Sekunde üblich bei aktuellen TV-Übertragungen.

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Abb. 18.6   Deepfake John Oliver Jimmy Fallon

der Beispieltexte vorkamen werden richtig ausgesprochen. Lyrebird schafft es zumindest eine Stimme zu generieren, die der eigenen ähnlich ist. Nicht zum Verwechseln ähnlich, aber immerhin ähnlich. In Anbetracht der Tatsache, dass nur wenige Minuten Sprachaufnahme analysiert werden, gefällt es mir schon einmal gut.

18.2.4.3 Auswirkungen von Deepfakes auf Recruiting Die Welle der Deepfakes ist noch relativ jung und kann noch weiter Fahrt aufnehmen, wenn die Algorithmen noch besser werden. Man merkt auch schon: Die „Manipulationen werden immer besser“, so Matt Turek, Programmleiter Defense Advanced Research Projects Agency, der sich mit dem Erkennen von Deepfakes in diesem Teil des US-Verteidigungsministerium beschäftigt (Brühl 2019). Deswegen sollte man sich mit der Frage befassen, welche Risiken durch Deepfakes auf das Recruiting zukommen können. Deepfakes können insbesondere ihren Angriffspunkt in den neuen Software-Tools haben, die immer mehr in den Fokus rücken. Wenn wir mit Lösungen wie HireVue (Abschn. 9.4) Videos analysieren oder mit Lösungen wie Precire (Abschn. 9.4) gesprochene Sprache analysieren können, dann sind wir natürlich sehr anfällig für Software, die live Bilder oder Sprache verändern kann. Beispiel

Die Mustermann AG nutzt eine tolle neue Software zur automatischen Analyse und Auswertung von Videointerviews. Die Software analysiert Sprache, Mimik, Blickkontakt und erstellt dann ein Persönlichkeitsprofil und überprüft dies mit dem Anforderungsprofil der entsprechenden Stellenausschreibung.

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Ein cleverer Bewerber kommt auf eine Idee – er kennt sich sehr gut um IT-­Bereich aus und hat eine Software, mit der er live Deepfakes in Videos erstellen kann. Da er aber kommunikativ nicht so begabt ist, hat er Angst vor dem Videointerview. Er bittet seinen Freund, für ihn das Videointerview zu machen und trainiert die Software vorher darauf, dass sie live ohne Probleme das Gesicht und die Stimme seines Freundes durch seine austauschen. Sein Freund überzeugt, keiner merkt etwas und der Bewerber hat die erste Hürde gemeistert.

18.3 Diskriminierende Algorithmen 18.3.1 Der Chatbot Tay Sowohl beim Einsatz von künstlicher Intelligenz als auch beim Einsatz von anderen Algorithmen ist immer ein gewisses Risiko vorhanden, dass nicht das gemacht wird, was der moralischen Auffassung des Nutzers entsprechen würde. Das erste bekannte Beispiel, wo einer künstlichen Intelligenz Diskriminierung vorgeworfen wurde, ist Tay, ein in diesem Fall auf künstlicher Intelligenz basierter Chatbot der Firma Microsoft. Tay war ein selbstlernender Chatbot, der durch die Interaktion mit anderen Menschen permanent lernte. Das selbst erklärte Ziel Microsofts war es, zu erforschen, wie künstliche Intelligenz durch alltägliche Interaktion lernen und sich weiterentwickeln kann (Steiner 2016). Laut Microsoft wurde durch gezielte Ausnutzung einer Schwachstelle Tay so weit mit falschen, rassistischen und diskriminierenden Thesen bespielt, dass er sich selbst innerhalb von weniger als 24 h von einem freundlichen und weltoffenen Kommunikationsstil zu jemandem gewandelt hat, der folgendes geschrieben hat: „i just hate everybody“

(Twitter @Tayandyou 24.03.2016 08.59 Uhr), „I fucking hate feminists and they should all burn in hell“

(Twitter @Tayandyou 24.03.2016 11.41 Uhr). „Hitler was right I hate the jews.“

(Twitter @Tayandyou 24.03.2016 11.45 Uhr). Innerhalb von weniger als 24 h war dieses Experiment gescheitert – von einem der größten Internetkonzerne der Welt (Steinharter 2018). Microsoft hatte – nachdem der Fehler erkannt und analysiert wurde – Tay wieder online gestellt für einen sehr kurzen Moment. Nach einer Stunde wurde der Twitter-­ Account von Tay wieder auf privat gestellt, sodass keine öffentliche Kommunikation stattfinden konnte. Laut Microsoft wurde Tay nur aus Versehen wieder online genommen (FAZ.net 2016).

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Ein Chatbot ist durchaus eine im Recruiting nicht komplett unübliche Lösung (Kap. 8) zur Bewerberkommunikation. Also sehen wir hier ein Szenario, das auch in unserem Alltag denkbar gewesen wäre. Die Konsequenzen für die Arbeitgebermarke wären verheerend, wenn ein Szenario wie bei dem Chatbot Tay bei uns passiert wäre.

18.3.2 Der Amazon-Algorithmus Dürfen Algorithmen alles? Der Fall Amazon kam ans Licht, der sehr deutlich die Risiken aufzeigt – hier am Beispiel von geschlechtsbezogener Diskriminierung. Und dies ausgerechnet bei einem Internetkonzern, dem man zugetraut hätte, dass man dieses Problem hätte lösen können. Der Hintergrund: Laut einem Reuters Bericht nutzte Amazon seit 2014 ein Jahr lang eine selbstprogrammierte künstliche Intelligenz, die bei der automatisierten Selektion von Bewerbern helfen sollte und Bewerber in ein Rating-Modell (das bei Amazon bekannte Fünf-Sterne-Rating) einordnen sollte (vgl. Reuters 2018). Angeblich wurden als Datenbasis die realen Daten der letzten zehn Jahre betrachtet – also Bewerbungen der letzten zehn Jahre – und wie diese Bewerber dann innerhalb des Bewerbungsprozesses abgeschnitten hatten. Das Problem: Anscheinend hat diese künstliche Intelligenz Ergebnisse produziert, bei denen weibliche Bewerber gegenüber männlichen Bewerbern deutlich benachteiligt wurden. Man könnte also sagen, dass die künstliche Intelligenz den bisherigen Gender-Bias übernommen hat. Konkret wurde aber nicht einfach nur die Merkmale männlich oder weiblich besser bzw. schlechter bewertet, sondern es war etwas komplexer und lässt sich in zwei grundsätzliche Punkte unterteilen. 1. Benachteiligung bei weiblichen Bezeichnungen 2. Benachteiligung, wenn Begriffe benutzt wurden, die häufig Frauen benutzen Dieses Beispiel ist mitten aus dem Recruiting-Alltag und zeigt, wie schnell es gehen kann, dass man in die Diskriminierungsfalle tappt – obwohl man in diesem Fall wahrscheinlich eines der kompetentesten IT-Teams hatte und es sich um eine selbstprogrammierte Lösung handelte. Das einzig Positive an dieser Situation war, dass Amazon selbst in der Lage war, die offensichtlichsten Probleme dieses Algorithmus zu erkennen und man so einen LiveTest mit echten Bewerbern verhindern konnte (vgl. Rixecker 2018). Ähnlich wie im folgenden Beispiel, lag eines der Kernprobleme in der Auswahl der Trainingsdaten, mit denen die künstliche Intelligenz gelernt hat, Bewerber einzuordnen.

18.3.3 Österreichs Arbeitsmarktservice Der österreichische Arbeitsmarktservice – kurz AMS – ist das Pendant zu den in Deutschland genutzten Jobcentern. Eine der Aufgaben des AMS liegt in der Zuteilung

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von Maßnahmen zur Schulung und Weiterbildung von Arbeitssuchenden. Ende 2018 wurde beschlossen, dass ab Januar 2019 eine Software, die auf lineare Algorithmen setzt, berechnet, wer berechtigt ist, diese Maßnahmen zu bekommen. Im ersten Jahr soll sie im Test sein, ab 2020 soll sie regulär genutzt werden. Dabei werden die Arbeitssuchenden in drei Gruppen eingeteilt: Hohe Chancen, mittlere Chancen und niedrige Chancen. Hohe Chancen hat, wer mit 66 %iger Wahrscheinlichkeit innerhalb von sieben Monaten wieder einen Job haben wird. Ab weniger als 25 % innerhalb von 24 Monaten hat man niedrige Chancen. Alle anderen haben eine mittlere Chance. Die letztendliche Entscheidung wird nicht vom Algorithmus getroffen, sondern liegt weiterhin bei den Mitarbeitern des AMS (vgl. Kopf 2018a). So weit so gut. Das Ziel soll u. a. sein, weniger Geld in Maßnahmen an Zielgruppen zu investieren, die keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, einen Job zu finden (vgl. Kopf 2018b). Wenn man sich jedoch anschaut, welche Kriterien dazu genutzt wurden, um die Arbeitssuchenden zu kategorisieren, dann wird klar, warum Experten vor automatisierter Diskriminierung warnen (vgl. Fanta 2018). Unter anderem wird man niedriger eingestuft, wenn man weiblich oder älter ist und bekommt dadurch gegebenenfalls weniger gute Schulungen zur Wiedereingliederung.

18.3.4 Fazit Algorithmen selbst bzw. auf Algorithmen basierte Entscheidungen im Recruiting haben neben vielen Vorteilen auch einige Nachteile in der Praxis: Sie sind häufig sehr komplex und von vielen Recruitern können sie noch nicht richtig verstanden werden. Dies ist in der Kombination mit einer gewissen Algorithmengläubigkeit eine gefährliche Kombination (vgl. Lenzen 2016). Je mehr wir an künstliche Intelligenz abgeben, desto mehr müssen wir zumindest die Grundlagen von künstlicher Intelligenz auch verstehen. Michael Puntschuh, einer der Projektverantwortlichen des Projektes Ethik der Algorithmen der Bertelsmann Stiftung, bringt es auf den Punkt: „Aber wir müssen die technologiespezifischen Risiken identifizieren und ihnen begegnen – sonst werden bestehende Muster von Diskriminierung verstärkt und schlussendlich das Vertrauen in den Einsatz von Algorithmen gesenkt“ (Puntschuh 2018). Wenn wir die neuen tollen, intelligenten Algorithmen aus unseren Daten lernen lassen, dann wird es gefährlich. Unsere Daten basieren auf teilweise vielen Jahren angewandten Biases. Was also über Jahre durch diverse Verzerrungseffekte beeinflusst wurde, soll als Basis dienen, um vorurteilsfreier rekrutieren zu können? „Die große Herausforderung besteht darin, die künstliche Intelligenz diskriminierungsfrei zu trainieren“ (Laumer 2018).

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18.4 Externe Beeinflussung von Systemen Wie beim Beispiel von Tay zu erkennen ist, sind sämtliche Lösungen, die auf Input von außen angewiesen sind, potenziell anfällig für Missbrauch. Microsoft hat in diesem Fall selbst zugegeben, dass das Verhalten von Tay nur aufgrund des externen Einflusses zustande kam.

18.4.1 Adversarial Learning Jede Form von Bilderkennung ist anfällig für sog. Adversarial Learning. Hierbei handelt es sich um die bewusste Ausnutzung von Machine-Learning-Algorithmen von Bilderkennnungssoftware, um eine falsche Zuordnung zu erzeugen und somit die Algorithmen zu täuschen. Im Rahmen einer Forschungsarbeit an der Cornell University erreichten Papernot et al. bei sog. Black-Box-Attacken Erfolgsquoten von mehr als 80 % und erzeugten so bewusst gesteuerte Missinterpretationen bei gängigen Machine-Learning-Systemen von Google, Amazon und MetaMind (vgl. Papernot et al. 2017, S. 6). Das Beispiel Abb. 18.7 zeigt, wie man im Bereich Adversarial Learning vorgehen kann, um den Machine-Learning-Algorithmus zu täuschen. Man sieht links das Bild eines Pandabären, der zu 57,7 % mit dem Bilderkennungsalgorithmus als Panda erkannt wurde. Über dieses Bild kommt dann ein Störungsfilter. Das Bild rechts sieht zwar für das menschliche Auge immer noch aus, wie der Panda zuvor, das Bild wird jedoch von der Bilderkennungssoftware als Gibbon identifiziert, mit einer deutlich höheren Sicherheit von 99,3 % (vgl. Goodfellow et al. 2014). Man stelle sich vor, dass solche Methoden angewandt werden, um ein Machine-­ Learning-System zu verändern, das im Recruiting Text-, Bild- oder Videoanalysen fährt. Hier ein konstruiertes Beispiel:

Abb. 18.7   Beispiel Adversarial Learning

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Beispiel

Die Deutschland GmbH hat ihr Recruiting auf den neuesten Stand gebracht und nutzt jetzt ein auf Machine Learning basierendes System, das Bewerber anhand der Daten aus dem Lebenslauf, dem Anschreiben und den Zeugnissen in ein Scoring-Modell eingruppiert. Die Bewerber werden zukünftig automatisch mit Schulnoten versehen. Die Schulnoten 1 und 2 werden automatisch zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch eingeladen. Die Schulnoten 3 und 4 werden von den Recruitern manuell geprüft. Schulnoten 5 und 6 werden automatisch abgesagt. Die Software läuft sehr zuverlässig und die Kandidaten, die von der Software mit 1 oder 2 bewertet wurden, zeigen durchweg sehr gute Leistungen in den Vorstellungsgesprächen und viele davon wurden auch schon eingestellt. Nach anfänglicher Skepsis vertraut man der Software und beschäftigt sich gar nicht mehr damit, die Entscheidungen der Software anzuzweifeln, sondern konzentriert sich viel mehr darauf, die 3er- und 4er-Kandidaten zu prüfen. Jetzt hat sich die neue Software auch schon herumgesprochen und ein paar Informatiker haben sich einen Spaß daraus gemacht und über ihre Bewerbungsunterlagen auch jeweils einen Störfilter gelegt, durch den ihre Unterlagen komplett anders interpretiert wurden. Und sofort konnten sie den Algorithmus so manipulieren, wie sie wollten – und wurden für Stellen eingeladen, auf die ein Recruiter sie zu Recht nie eingeladen hätte. Der Betrug war mit dem menschlichen Auge nicht zu sehen. Man stelle sich vor, dass die Bewerber nicht nur an sich gedacht hätten, wie in dem Beispiel. Wären sie frustriert gewesen, hätten sie auch im großen Stil Chaos anstiften können, in dem sie ganz viele Lebensläufe so manipuliert hätten oder im schlimmsten Fall sogar eine Software erstellt hätten, die dies automatisiert gemacht hätte. Technisch ist dies alles möglich und ein Großteil der Erkenntnisse dazu sind auch schon einige Jahre alt – also durchaus geläufig, sofern man sich mit der Thematik beschäftigt.

18.4.2 Hacker, Trojaner und sonstige Angriffe Bewerberdaten sind auf den ersten Blick vielleicht nicht so interessant für Hacker wie Daten aus dem E-Commerce, da dort Zahlungsdaten hinterlegt sind. Jedoch gibt es immer wieder Versuche, explizit über die Form der Bewerbung unbemerkt Malware in Unternehmen einzuschleusen. Unternehmen als Ziel Im Jahr 2018 wurden vermehrt als Bewerbung getarnte und offensichtlich unauffällig formulierte E-Mails mit gefährlichem Inhalt an diverse Bewerbungs-E-Mail-Adressen verschickt. Freundlich und sympathisch formuliert, scheinbar mit Bezug auf Stellenausschreibung und den eigenen Stärken und im Anhang ein Word-Dokument von einer nicht

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auffälligen E-Mail-Adresse als Absender. So oder so ähnlich kam die letzte Welle im Dezember 2018 zu vielen Recruitern (vgl. Knabenreich 2018). Schon 2015 wurde von der Zentralstelle Cybercrime vom Landeskriminalamt ­Schleswig-Holstein eine offizielle Warnung herausgegeben, weil sich zu der Zeit ein ­Trojaner verbreitete, der die infizierten Unternehmen zwang, Geld zu überweisen. Genau wie heute war der schädliche Anhang getarnt in einer scheinbar harmlosen Bewerbung (vgl. Landeskriminalamt Schleswig-Holstein 2015). Die Kriminellen machten sich hier bewusst die Not der Recruiter zunutze und z. T. auch deren technisches Unwissen. Bewerber als Ziel Jedoch ist auch die Bewerberseite betroffen. So versuchen Kriminelle persönliche Daten über gefälschte Stellenanzeigen zu bekommen (vgl. Weck 2017). Die Stellenanzeigen sehen aus wie herkömmliche Stellenanzeigen. Entweder von einem unbekannten Unternehmen oder in manchen Fällen sogar im offiziellen Look von einem bekannten Unternehmen. Lediglich die Kontaktdaten weichen ab. Hier werden im schlimmsten Fall nicht nur die Bewerberdaten abgegriffen, sondern Bewerbern Fake-Einstellungszusagen geschickt, mit der Bitte u. a. Kontodaten anzugeben (vgl. Kappl o. D.). Ein expliziter Hackerangriff mit Fokus auf Recruiting-Abteilungen in Deutschland ist mir bisher noch nicht bekannt.

18.5 Zusammenfassung und die Rolle von Recruitern Es gibt sehr viele positive Beispiele, die zeigen, welche Erleichterung und Verbesserung der Qualität die Möglichkeiten der Digitalisierung im Recruiting mit sich bringen. Bei all dem Optimismus dürfen wir jedoch die damit einhergehenden Risiken nicht außer Acht lassen. Es gilt als erwiesen, dass Menschen in kritischen Situationen eher Maschinen glauben als anderen Menschen (vgl. Wagner et al. 2018). Menschen glauben den Ergebnissen von Maschinen sogar dann, wenn sie entgegen des eigenen Erfahrungsschatzes stehen. So wurden Menschen von einer Maschine gebeten, eine Topfpflanze mit Orangensaft zu gießen – und die Mehrheit machte dies. Zumindest in der Studie der Universität Hertfordshire unter Leitung der renommierten Expertin Dr. Kerstin Dautenhahn (vgl. Lenzen 2016). Dieses Phänomen wird in der Wissenschaft Overtrust-Effekt genannt. Es geht sogar so weit, dass am Massachusetts Institute of Technology – kurz MIT – in einer Studie herausgefunden wurde, dass Menschen in gewissen Szenarien sogar lieber Anweisungen von Maschinen annehmen als von Menschen (vgl. Conner-Simons 2014). Dieser Overtrust-Effekt ist im Recruiting-Kontext ein enormes Risiko, denn er kann Recruiting-Verantwortliche dafür anfällig machen, dass sie die neuen Möglichkeiten durch die Digitalisierung im täglichen Umgang nicht genügend hinterfragen. Wir werden

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diese Möglichkeiten nur vollkommen ausschöpfen können, wenn wir grundsätzlich verstehen, wie sie funktionieren und wo ihre Grenzen liegen. Wie wir gesehen haben – ohne durch uns eingebrachtes Expertenwissen, unser Feingefühl, unsere Moral, unser kritisches Hinterfragen werden die meisten der digitalen Neuerungen nicht automatisch in unserem Sinn funktionieren. Ob Fakes, die Anfälligkeit von künstlicher Intelligenz für Adversarial Learning oder Diskriminierung aufgrund von schlecht ausgewählten Trainingsdaten – Recruiter müssen ihre Klaviatur erweitern, um auch in der Zukunft Taktgeber sein zu können. Um Recruiting-Verantwortliche mit der richtigen Kompetenz auszustatten, bedarf es eines fundamentalen Umdenkens in der Aus- und Weiterbildung im Recruiting. Wenn wir uns diesen Herausforderungen stellen und uns der Risiken bewusst sind und nicht blind jeder Lösung vertrauen, dann werden wir alle durch die Möglichkeiten der Digitalisierung in Summe deutlich gewinnen.

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T. Verhoeven Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

Lessons Learned – zwölf Tipps für mehr Digitalisierung und Innovation im Recruiting

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Tim Verhoeven

Inhaltsverzeichnis 19.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 19.2 Nützliche Tipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 19.2.1 Zieldefinition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 19.2.2 Experten finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 19.2.3 Eigene Kompetenz einschätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 19.2.4 Interne Hindernisse überwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 19.2.5 Austausch und Benchmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 19.2.6 Permanente Adjustierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 19.2.7 Über Recruiting hinausdenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 19.2.8 Keine Angst vor dem Ausland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 19.2.9 Start-ups nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 19.2.10 Testen, testen, testen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 19.2.11 Offenheit für Open Source. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 19.2.12 Innovationsprozess einführen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Zusammenfassung

Die folgenden zwölf Tipps sollen dabei helfen, die Unsicherheit zu verringern, wenn es um die Umsetzung von konkreten Projekten im Kontext der Digitalisierung im Recruiting geht. Viele Themen sind neu und auch noch relativ unbekannt und man bewegt sich plötzlich auf unsicherem Terrain, im Gegensatz zu seinem täglichen Recruiting-Geschäft. Deswegen ist es wichtig, dass man selbst hin und wieder einen T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_19

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Rat bekommt und anderen einen hilfreichen Rat gibt. Denn nur so können wir alle die nächsten Schritte zu neuen, digitalen und vielleicht sogar innovativen Lösungen und Prozessen gehen.

19.1 Einleitung In den vergangenen 18 Kapiteln wurde sehr viel über neue Möglichkeiten, Technologien und Innovationen geschrieben. Zu diesen Themen halte ich auch häufig Vorträge und eine der Fragen, die oftmals am Ende eines solchen Vortrags kommen, ist die Frage, worauf man achten soll, wenn man ein solches Projekt umsetzen möchte. Mit den folgenden zwölf Tipps möchte ich meine wichtigsten Learnings zusammenfassen, die sowohl für die Planung als auch die Durchführung solcher innovativeren Projekte wichtig zu beachten sind. Dabei geht es auch um die Themen, bei denen ich selbst erst durch Fehler und Scheitern lernte, was richtig und was wichtig ist. Häufig scheitern solche Projekte schon relativ früh, nämlich vor dem eigentlichen Start, weil man unsicher ist, nicht genau weiß, was die nächsten Schritte sind, und die Angst vor dem, was im schlimmsten Fall kommen mag, größer ist als die Begeisterung und Neugier auf das, was im besten Fall kommen mag.

19.2 Nützliche Tipps 19.2.1 Zieldefinition Die Innovationskräfte vieler Projekte im Rahmen der Digitalisierung sind sehr anziehend. Ob nun Chatbots (Kap. 8), neue Matching-Tools (Kap. 7) oder neue Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz (Kap. 9): Alles klingt spannend und wird wahrscheinlich auch einen Mehrwert bringen. Aber wie sieht dieser Mehrwert genau aus? Deswegen sollte nie eine Technologie oder ein Tool im Fokus stehen, sondern die Frage, was man erreichen möchte. Möchte man ein konkretes Problem lösen? Möchte man etwas Bestehendes verbessern? Was wären denn die konkreten Auswirkungen, wenn ich das Problem gelöst hätte bzw. etwas Bestehendes verbessert hätte? Je genauer ich am Anfang festlege, was ich eigentlich mit diesem Projekt erreichen möchte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich die richtige Wahl bei Technologie, Dienstleister etc. treffe. Je klarer das Ziel, desto besser lassen sich auch Budgetverhandlungen durchführen, da man neben den Kosten nun auch den Nutzen besser beziffern kann. Am einfachsten funktioniert dies mit Herleitungen, die in mehr Bewerbern oder besseren Bewerbern enden oder die konkrete Einsparungen zum Ziel haben.

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Planen Sie von Anfang an ein, dass es Meilensteine gibt, bei denen Sie das Zielbild bewusst hinterfragen und gegebenenfalls neu ausrichten können.

19.2.2 Experten finden Die meisten Recruiting-Mitarbeiter sind noch keine Experten in den neuen Technologien und Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen. Daher ist es umso wichtiger, dass man genau solche Experten findet, die entsprechend weiterhelfen können und denen man auch vertrauen kann. Aber wo finde ich eigentlich die Experten, die mir weiterhelfen? Sowohl als Sparringspartner als auch als Dienstleister? Fragen Sie andere Recruiter. Sprechen Sie mit Leuten, die ähnliche Projekte umgesetzt haben, wie Sie es tun möchten. Ich selbst habe mittlerweile auch einen Expertenpool, mit dem ich fachliche Themen diskutieren kann, sobald mein Know-how endet. Schauen Sie sich auch außerhalb des Recruiting-Kosmos um, wenn Sie Experten suchen, bei denen es nicht um Recruiting-Kernkompetenz geht. 

Wenn Sie unsicher sind, ob der eine oder andere Experte wirklich hält, was er verspricht, schauen Sie sich die Hinweise in Kap. 14 an.

19.2.3 Eigene Kompetenz einschätzen Hält man sich überhaupt selbst dazu in der Lage, einschätzen zu können, ob eine spezielle Lösung, beispielsweise künstliche Intelligenz (KI), angemessen und qualitativ passend ist? In den meisten Fällen sollte die Antwort erst einmal Nein lauten. Das ist nicht schlimm, denn ein Eingeständnis ist der erste Weg, um Kompetenz aufzubauen. Entweder sucht man sich jemanden, der nachgewiesenermaßen die Kompetenz als Sparringspartner besitzt, oder man versucht, Stück für Stück die eigene Kompetenz aufzubauen. Auch hier gilt, dass Sie sich weder über- noch unterschätzen sollten, denn beides hat Nachteile. Überschätzen Sie sich, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie Fehler machen und diese im schlimmsten Fall erst merken, wenn es zu spät ist. Unterschätzen Sie sich, investieren Sie möglicherweise überflüssige Ressourcen in externe Partner, für Dinge, die Sie auch hätten selbst machen können. 

Wenn Sie einen Überblick über den Innovationsgrad oder das Maß der technischen Kompetenz Ihrer Recruiting-Abteilung bekommen möchten, dann sprechen Sie mich an. Oder gehen Sie zu einem Themenschwerpunkt der HR-Tec-Night (Kap. 15) und sprechen Sie mit thematischen Experten.

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19.2.4 Interne Hindernisse überwinden Bei meinen Vorträgen kann ich die Gesichter mancher meiner Zuhörer mittlerweile schon sehr gut lesen. Ich sehe sofort die Skepsis in deren Augen, dass solche Projekte ja bei denen nicht so funktionieren würden. Die IT-Abteilung, die Rechtsabteilung, das Marketing oder zu guter Letzt der Betriebsrat – das würde doch niemals funktionieren. Ich habe schon in vielen Unternehmen gearbeitet – vom internationalen Konzern mit fast hunderttausend Mitarbeitern bis hin zum kleinen Unternehmen mit weniger als hundert Mitarbeitern, zum Schluss war alles dabei. Die Gemeinsamkeit war immer wieder: Jedes Unternehmen ist anders, aber kein Unternehmen ist von seiner Struktur her übermäßig offen für Veränderung und überall gibt es erst einmal Widerstand, wenn man etwas verändern möchte. Wenn man von Anfang an überlegt, welche Auswirkungen ein potenzielles Projekt auf die entscheidenden Stakeholder hat, dann kann man viele Probleme antizipieren. 

Schauen Sie sich Beispiele an, wo ein vergleichbares Projekt in einem anderen Unternehmen erfolgreich umgesetzt wurde. Nehmen Sie das als Referenz. Sprechen Sie mit den Verantwortlichen des anderen Unternehmens und lernen Sie von denen. Die meisten Experten teilen gern ihr Wissen.

19.2.5 Austausch und Benchmark Lernen Sie von anderen Experten und lassen Sie andere von Ihren Erfahrungen profitieren. Die Zeit der Insellösungen, bei denen Personaler ihre tollen Kennzahlen in ihrem Elfenbeinturm behalten wollen, sind vorbei. Der Recruiting-Markt ist so komplex, dass man unmöglich allein das komplette, relevante Wissen erarbeiten kann. Wir können als Branche nur weiterwachsen, sofern wir alle unser Wissen teilen und alle daran partizipieren, wenn wir sinnvolle Standards haben. Nehmen Sie regelmäßig an Fachveranstaltungen teil, bei denen Sie auch Beiträge leisten können. Lesen Sie Experten-Blogs, teilen Sie, liken Sie, kommentieren Sie und diskutieren Sie, damit alle daran teilhaben können. 

Wenn Sie unsicher sind, welche Veranstaltungen oder sonstigen Formate für Sie die richtigen sein könnten, dann schauen Sie sich Kap. 14 und 15 an oder schreiben Sie mir – ich gebe Ihnen gern eine Einschätzung.

19.2.6 Permanente Adjustierung Auch, wenn es wichtig ist, dass man seine Ziele nicht aus den Augen verliert, so muss man, meiner Erfahrung nach, doch immer wieder Meilensteine einplanen, an denen man prüft, ob man mit seinem Projekt in die richtige Richtung läuft. Insbesondere bei

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­ hemen, wo es noch nicht viele Erfahrungswerte gibt, wie bei vielen Projekten im T Bereich Recruiting-Analytics (Kap. 4) oder Recruiting-KI (Kap. 9) wird es immer wieder dazu kommen, dass man sich eingestehen muss, dass man falsch abgebogen ist. Das ist normal und es gehört dazu – man muss dann nur einen kleinen Schritt zurück und nicht direkt alles infrage stellen. 

Planen Sie regelmäßige Adjustierungsmeetings ein, zu denen auch immer jemand eingeladen wird, der nicht tief im Projekt verankert ist. Diese Außensicht hilft i. d. R. sehr gut, einen objektiven Blick auf den Projektstatus zu bekommen.

19.2.7 Über Recruiting hinausdenken Ein Großteil dessen, was ich in den letzten zehn Jahren an neuen Ideen und Impulsen geschaffen habe, ist nicht auf dem gewachsen, was ich aus anderen Recruiting- oder Personalabteilungen mitgenommen habe. Das meiste hatte seinen Ursprung in interessanten Gesprächen oder Best Practices außerhalb des Personalerkosmos. Es gibt so viele unglaublich spannende Projekte, Herangehensweisen, Methoden, Tools oder Dienstleister, von denen wir im Recruiting so viel lernen können. Manche Dinge davon lassen sich gewinnbringend auf Recruiting-Prozesse anwenden und bei anderen macht es weniger Sinn. Schauen Sie sich beispielsweise die Produkte von Salesforce in der Praxis an – davon lässt sich auf den ersten Blick extrem viel auf unsere tägliche Arbeit adaptieren. Schauen Sie sich die Beispiele der Terminvereinbarung via Google Assistant an. Das schreit nahezu nach einem Einsatz im Recruiting. Dazu noch sehr viele herausragende Lösungen im Bereich Performance Marketing und der Automatisierung dessen. Die spannendsten Projekte, die Ende 2018 mit dem HR Excellence Award ausgezeichnet worden sind, sind diejenigen, die smart das Wissen aus diesen Bereichen adaptiert haben (Human Resources Manager 2018). 

Sprechen Sie mal eine andere Abteilung oder einen Ihrer Dienstleister an, ob Sie bei denen eine kurze Zeit hospitieren dürfen. Das ist eine kostenlose Möglichkeit, um den eigenen Horizont zu erweitern.

19.2.8 Keine Angst vor dem Ausland Deutschland ist nach wie vor nicht der Nukleus der Innovation im Bereich Recruiting. Auch wenn wir auf einem guten Weg sind, so sind doch andere Länder bei vielen Entwicklungen weiter – nicht nur auf technologischer Ebene. Da lohnt es sich auf jeden Fall auch, das eine oder andere Unternehmen als potenziellen Dienstleister oder

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­ parringspartner anzuschauen, die noch nicht größer auf dem deutschen Markt Fuß S gefasst haben. Wenn ein Unternehmen noch nicht auf dem deutschsprachigen Markt Fuß gefasst hat, sollte man sicherlich prüfen, inwieweit dies Einschränkungen auf die Funktionalität der jeweiligen Lösung oder Dienstleistung hat. Erfahrungsgemäß sind solche Firmen aber enorm dankbar und entgegenkommend, wenn sie die Chance haben, in einen neuen Markt zu kommen. Und wie Sie gelesen haben, die Liste an spannenden Unternehmen, die noch nicht in Deutschland aktiv sind, ist lang (Abschn. 9.4). 

Schauen Sie sich auf jeden Fall die eine oder andere internationale Recruiting-Technology-Fachveranstaltung an, wie beispielsweise die Veranstaltung Unleash, sicherlich eine der interessantesten Fachveranstaltung zu diesem Thema in Europa.1

19.2.9 Start-ups nutzen Moderne Tech-Start-ups sind überall in der Wirtschaft im Kommen. FinTechs (Technologie-Start-ups aus der Finanzindustrie), InsurTechs (Technologie-Start-ups in der Versicherungsindustrie), RegTechs (Technologie-Start-ups, die sich mit Regulatorik beschäftigen) oder HealthTechs (Technologie-Start-ups aus der Gesundheitsbranche); überall sind momentan Technologie-Start-ups im Kommen, prägen Branchen und verändern Geschäftsmodelle. Nur im Recruiting hält man sich vornehm zurück. Trotzdem haben Start-ups insbesondere im Recruiting die Möglichkeit, Themen komplett neu zu denken und Innovationen schneller umzusetzen. Meiner Erfahrung nach sind Start-ups auch sehr flexibel, indem sie bereit sind, ihre Lösungen, insbesondere in der Anfangsphase, auch noch an die Bedürfnisse der Kunden anzupassen. Das führt auch als positiver Nebeneffekt dazu, dass man im Recruiting noch eine Menge lernt. Einziges Manko, dessen man sich aber bewusst sein muss: Meiner Erfahrung nach muss man mehr Zeit in die Zusammenarbeit mit einem Start-up im Recruiting investieren als mit einem etablierten Anbieter, der schon seit zehn Jahren auf dem Markt ist. 

1Mehr

Nutzen Sie Formate, bei denen Sie einen ersten Überblick über eine Vielzahl von Start-ups bekommen, wie beim STARTUP VILLAGE auf der Zukunft Personal Europe.2

Informationen zur Unleash finden Sie hier: https://www.unleashgroup.io/world. Webseite der Zukunft Personal Europe handelt es sich hierbei um Europas größten HR-Startup-Hub (Zukunft Personal Europe 2018).

2Laut

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19.2.10 Testen, testen, testen Viele Geschichten über großartige Produkte oder Projekte beginnen damit, dass man irgendwann an einem Punkt ankam, wo man dachte – jetzt ist der Erfolg vorprogrammiert. Das kann i. d. R. in das Reich der Mythen und Fabeln eingeordnet werden. Insbesondere, wenn man etwas Neues ausprobieren möchte, wozu es noch keine Standardlösung gibt, ist es wichtig, dass man einen langen Atem beweist. Nicht jedes Projekt wird ein Erfolg im klassischen Sinn. Manche werden auch Niederlagen und enden irgendwann als spannende Anekdote auf einer Failure Night. Scheitern gehört dazu und nur durch Scheitern lernt man, die Dinge richtig einzuschätzen. Ich habe in meinen Projekten auch schon genug Situationen scheitern sehen – wichtig ist nur, dass man ein Frühwarnsystem etabliert hat, das einem rechtzeitig Bescheid sagt, dass es scheitern wird. 

Schauen Sie bei einer der vielen FuckUp oder Failure Nights vorbei, die es mittlerweile in vielen Städten gibt. Dort wird das Scheitern zelebriert. Es gibt mittlerweile sogar eine eigene HR-Failure-Night, bei denen HR-Experten über ihr Scheitern sprechen.

19.2.11 Offenheit für Open Source Open Source Software bezeichnet Software, deren Quelltext öffentlich zugänglich ist und von der Öffentlichkeit genutzt werden kann – häufig aber nicht immer kostenlos. Es muss nicht immer alles eine kommerzielle Lösung sein, auf der aufgebaut wird. Viele bekannte Programme wie der Mozilla Firefox Browser, die Linux Distributionen, wie Debian, Ubuntu oder der VLC Mediaplayer sind Open Source Software. Es gibt sehr viele Disziplinen, wo sehr viel in Open Source investiert wird, wie im Bereich der KI. Insbesondere, wenn die Erstellung einer Technologie sehr ressourcenbindend ist, macht es insbesondere für kleinere Unternehmen Sinn, lieber auf eine Open Source Software aufzubauen und dort dann das Know-how einfließen zu lassen. 

Schauen Sie sich das OpenAI-Projekt genauer an, das sich mit der Nutzung von KI auf Open-Source-Basis beschäftigt. Ebenso interessant ist das Projekt Common Voice von Mozilla, das sich mit einer öffentlich zugänglichen Datenbank zum Thema Spracherkennung beschäftigt.

19.2.12 Innovationsprozess einführen Zu guter Letzt möchte ich Ihnen noch einen Tipp ans Herz legen, wenn Sie noch innovativer sein möchten und sich nicht mit den Lösungen begnügen möchten, die schon andere

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umgesetzt haben. Führen Sie ein echtes Innovationsmanagement in ihrem HR-Bereich oder im Recruiting ein – so wie es in anderen Unternehmensteilen auch vorkommt. Grob lässt sich ein solches Innovationsprojekt in sechs Phasen einteilen: 1. Trendrecherche 2. Trendbewertung 3. Ableitung von Projektideen 4. Bewertung der Projektideen 5. Pilotierung einer Projektidee 6. Entscheidung, ob es in den Regelbetrieb kommt Mit dieser Vorgehensweise können Sie auf jeden Fall den einen oder anderen spannenden Piloten starten. Ob eine Projektidee letzten Endes auch tatsächlich das Innovationspotenzial zeigt, wie es angedacht war, hängt jedoch von vielen Faktoren ab. Deswegen sollte niemand davon ausgehen, dass jede einzelne Idee zu jeder Zeit ein voller Erfolg wird. 

Insbesondere bei den Punkten 1 und 2 sollten Sie sich externe Expertise zurate ziehen, von Personen oder Institutionen, die darauf spezialisiert sind.

Literatur Human Resources Manager. (2018). Gewinnerliste 2018 HR Excellence Awards 2018. https:// www.hr-excellence-awards.de/best-of-2018/. Zugegriffen: 16.12.2018. Zukunft Personal Europe. (2018). Europas grösster HR Startup Hub. https://www.europe.zukunftpersonal.com/de/besuchen/ausstellung/sonderbereiche/start-up-village/.

Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.

Interessante weiterführende Quellen zum Thema Digitalisierung

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Inhaltsverzeichnis 20.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 20.2 Blogs, Webseiten und Podcasts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Zusammenfassung

In den folgenden Seiten zeige ich Ihnen meine favorisierten Webseiten und sonstige Quellen, die man sich anschauen sollte, wenn man auf einem aktuellen Stand bleiben sollte und verschiedene Sichtweisen zu aktuellen Technologietrends haben möchte.

20.1 Einleitung Es gibt eine Vielzahl an Beiträgen, die sich mit dem Thema Digitalisierung an sich oder mit Teilbereichen der Digitalisierung beschäftigen. Die größte Herausforderung dabei ist, relevante Inhalte von weniger relevanten Inhalten zu unterscheiden. Als ­ersten Anlauf dazu werde ich in den kommenden Seiten einen Überblick über die Quellen geben, die sowohl mich als auch meine Mitautoren am meisten beeinflusst haben und wo es gegebenenfalls regelmäßig aktuelle interessante Beiträge hierzu gibt. Dabei ist es bewusst eine Mischung aus Seiten mit HR-Bezug und ohne HR-Bezug, denn wenn wir die Digitalisierung wirklich mitgestalten möchten, dann sollten wir am Puls der Zeit sein und der ist nicht immer die Personalabteilung. T. Verhoeven (*)  Indeed, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Verhoeven (Hrsg.), Digitalisierung im Recruiting, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25885-6_20

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Es sind auch sehr unterschiedliche Formate: Blogs, die teilweise fachlich in die Tiefe gehen und es schaffen, zwischen technischen Themen und HR zu vermitteln, Podcasts, News-Webseiten oder fachliche Anlaufstellen. Es werden hier sowohl nationale als auch internationale Formate vorgestellt, da häufig spannende Themen auf Englisch diskutiert werden. Daneben gibt es eine große Anzahl an interessanten Studien, die ich in erster Linie in den Kap. 2, 9 und 18 vertiefe, da sie dort am besten in den jeweiligen Kontext passen.

20.2 Blogs, Webseiten und Podcasts Algorithmenethik.de Basierend auf einem Projekt der Bertelsmann Stiftung über Ethik der Algorithmen, ­findet man hier sehr regelmäßig eigene oder Gastbeiträge rund um Algorithmen und den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Immer mit dem Blick darauf, welche ethischen oder gesellschaftlichen Konsequenzen der Einsatz dieser Technologien mit sich bringt. Business-Science.io Eine sehr spannendes englischsprachiges Blog für alle Statistik-Nerds und die, die es noch werden möchten. Hier werden durchaus anspruchsvolle, statistische Use Cases in Beiträgen und der Umgang mit Software, wie Python und insbesondere R, erklärt, die die Herzen von Statistikern höher schlagen lassen. Ein gewisses Grundwissen sollte man mitbringen. Chaos Computer Club Der Chaos Computer Club e. V. (kurz CCC) ist die größte europäische Hackervereinigung und seit mehr als 30 Jahren aktiv mit dem Fokus der Vermittlung zwischen IT und Gesellschaft. Sie drücken immer wieder tief den Finger in die Wunde, wenn es um das Thema Datenschutz geht und bieten auf ihrer Seite eine Menge fachlich sehr gutes eigenes Material an, u. a. rund 5000 h Videomaterial von Fachkonferenzen und anderen Events. ERE.net Eine der wenigen internationalen Anlaufstellen, wenn man informiert werden möchte, wie das HR-Business außerhalb Deutschlands funktioniert und welche Trends dort gerade aktuell sind. Logbuch-Netzpolitik.de Die Webseite ist eigentlich nur das Beiwerk des extrem spannenden Podcasts Logbuch:Netzpolitik. Inhaltlich eng vernetzt mit Netzpolitik.org, aber noch ein wenig mehr aus Sicht von echten Hackern und anderen IT(-Security)-Experten werden hier aktuelle

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Themen besprochen und auch für Nichtinformatiker verständlich aufbereitet. Trotzdem ist es ratsam, während des Podcasts hin und wieder mal zu stoppen und den einen oder anderen Fachbegriff nachzuschlagen. Netzpolitik.org Wie der Name schon sagt, ist dieses spendenfinanzierte Webseitenprojekt engagiert im Thema Netzpolitik. Man findet dort äußerst fundierte Experten, die zu aktuellen Themen rund um Datenschutz, Internet und auch politischen Entscheidungen berichten. Hier schreiben nicht nur Theoretiker, sondern im positivsten Sinn praktische Nerds. Methodisch inkorrekt Ein Podcast von Nicolas Wöhrl und Reinhard Remfort rund um interessante aktuelle Forschung, Experimente und allgemein Wissenschaft aller Disziplinen. Wer interdisziplinäres Wissen aufbauen möchte und das so aufbereitet, dass man es als Nichtnaturwissenschaftler versteht, ist hier genau an der richtigen Adresse. Recrutainment Blog Wer Interesse an Themen wie Recrutainment, Online-Assessments oder Matching und dazu den Anspruch an ein wissenschaftlich hohes Fundament hat, der ist auf dem Blog von Cyquest richtig aufgehoben. Ich bin immer wieder begeistert, wie die Autoren es schaffen, Themen aufzuspüren, die nicht überall schon durchgekaut sind, und gleichzeitig sehr komplexe Themen verständlich darzustellen. Golem IT-News für Profis – so der Slogan des IT-Nachrichtenportals. Ein deutschsprachiger Hub für alle interessanten News rund um IT, Technik und aktuelle Trends. Von Cyber-Security über die Versteigerung der 5G-Lizenzen bis hin zu aktuellen politischen Themen mit IT-Bezug: Golem ist extrem breit aufgestellt und bietet IT-News in nahezu jedem Kontext. Techcrunch Eine internationale Webseite mit dem Fokus auf technologische Trends und Start-ups – immer wieder auch mit HR-Bezug. Die Seite ist mit vielen entweder lokal oder thematisch spezialisierten Webseiten verbunden im sog. TechCrunch-Netzwerk. WIRED Ein amerikanisches Technik-Magazin, das sich durchaus kritisch mit aktuellen News um IT, AI und aktuellen Techniktrends auseinander setzt, auch bekannt für sehr gute exklusive Interviews mit hochrangigen IT-Experten und technologischen Trendsettern. Die deutsche Version der Seite wurde mittlerweile eingestellt.

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Wollmilchsau-Blog Der Blog der Agentur Wollmilchsau ist nicht nur optisch sehr ansprechend. Die Autoren schaffen es häufig, aktuelle technische Trends mit Bezug auf Recruiting aufzuzeigen und sind v. a. auch bei technischen Basisthemen mit extrem viel Tiefgang und Liebe zum Detail unterwegs, sodass ich jedem einen Blick auf diesen Blog empfehle.

Tim Verhoeven  arbeitet als Recruitment Evangelist bei Indeed und leitete zuvor das Recruiting einer internationalen Unternehmensberatung und war vorher auch bei anderen namhaften Unternehmen im Recruiting tätig. Zu digitalen Trendthemen wie Big Data, Recruiting Analytics, Performance Analytics, Robotics und Candidate Experience ist er gefragter Experte, Fachbuchautor und Blogger. Außerdem gewann er 2018 den HR-Excellence Award in der Kategorie Tech & Data.