Digitalisierung der Produktionsarbeit: Arbeitsfähig sein und bleiben [1. Aufl. 2019] 978-3-658-27702-4, 978-3-658-27703-1

Im vierten Band der Schriftenreihe der SRH Fernhochschule widmen sich die Beiträge dieses Sammelbandes den Ergebnissen d

1,633 90 13MB

German Pages IX, 239 [243] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Digitalisierung der Produktionsarbeit: Arbeitsfähig sein und bleiben [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-27702-4, 978-3-658-27703-1

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Die Arbeit in der digitalisierten Produktion – von der Analyse zum zukunftsorientierten Ansatz (Paul Bittner, Jörg von Garrel)....Pages 1-7
Die Digitalisierung der Produktion – Rückblick, Gegenwart und Zukunftsperspektiven (Manfred Mühlfelder)....Pages 9-18
Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – von den wissenschaftlichen Grundlagen zum integrativen Modell (Paul Bittner, Stefanie Samtleben)....Pages 19-40
Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben – eine qualitative Untersuchung (Silke Stopper)....Pages 41-57
Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen – eine Wertstromanalyse (Stefanie Samtleben, Denise Rose)....Pages 59-69
Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung – eine quantitative Untersuchung (Jörg von Garrel, Maja Bauer)....Pages 71-87
Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – eine Analyse und Bewertung bestehender Verfahren (Martin Ulber, Paul Bittner)....Pages 89-111
Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – Anforderungen an ein neues Instrumentarium (Martin Ulber, Frauke Remmers)....Pages 113-137
Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit – Teil I eines partizipativen Ansatzes (Frauke Remmers, Martin Ulber)....Pages 139-156
Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – die Entwicklung eines Maßnahmensets (Martin Ulber, Paul Bittner)....Pages 157-176
Ein Instrumentarium zur Realisierung zukunftsorientierter Arbeitsfähigkeit – Teil II eines partizipativen Ansatzes (Frauke Remmers, Bianca Zorn)....Pages 177-196
Die kleinen Helfer in der Produktion – ein Assistenzsystem wird konzipiert (Stefanie Samtleben, Denise Rose)....Pages 197-214
Lernangebote für die digitalisierte Industrie – Ein Praxisbeitrag (Malte Stamer, Claudia Ball)....Pages 215-224
Präventionsallianzen – Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der digitalisierten Industrie durch Kooperation (Jörg von Garrel, Simone Thomas)....Pages 225-239

Citation preview

Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule The Mobile University

Jörg von Garrel Hrsg.

Digitalisierung der Produktionsarbeit Arbeitsfähig sein und bleiben

Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University Reihe herausgegeben von SRH Fernhochschule, Riedlingen, Deutschland

In der Schriftenreihe werden innovative Themen aus den Fachbereichen der Hochschule behandelt. Die Schriftenreihe deckt dadurch ein breites Themenspektrum in Wirtschaft & Management, Psychologie & Gesundheit sowie Naturwissenschaft & Technologie ab. Neben der Förderung eines zukunftsgerichteten Wissenstransfers fokussiert die Schriftenreihe auf eine Begleitung aktueller themenbezogener sowie gesellschaftlicher Diskurse. Sie richtet sich an Interessierte in Wirtschaft, Wissenschaft und Studium.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15671

Jörg von Garrel (Hrsg.)

Digitalisierung der Produktionsarbeit Arbeitsfähig sein und bleiben

Hrsg. Jörg von Garrel SRH Fernhochschule Riedlingen, Deutschland

Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University ISBN 978-3-658-27703-1  (eBook) ISBN 978-3-658-27702-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Autorenbeschreibungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Die Arbeit in der digitalisierten Produktion – von der Analyse zum zukunftsorientierten Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Paul Bittner und Jörg von Garrel Die Digitalisierung der Produktion – Rückblick, Gegenwart und Zukunfts­perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Manfred Mühlfelder Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – von den wissenschaftlichen Grundlagen zum integrativen Modell. . . . . . . 19 Paul Bittner und Stefanie Samtleben Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben – eine qualitative Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Silke Stopper Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen – eine Wertstromanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Stefanie Samtleben und Denise Rose Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung – eine quantitative Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Jörg von Garrel und Maja Bauer

V

VI

Inhaltsverzeichnis

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – eine Analyse und Bewertung bestehender Verfahren. . . . . . 89 Martin Ulber und Paul Bittner Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – Anforderungen an ein neues Instrumentarium. . . . . . . . . . . 113 Martin Ulber und Frauke Remmers Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit – Teil I eines partizipativen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Frauke Remmers und Martin Ulber Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – die Entwicklung eines Maßnahmensets. . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Martin Ulber und Paul Bittner Ein Instrumentarium zur Realisierung zukunftsorientierter Arbeitsfähigkeit – Teil II eines partizipativen Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . 177 Frauke Remmers und Bianca Zorn Die kleinen Helfer in der Produktion – ein Assistenzsystem wird konzipiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stefanie Samtleben und Denise Rose Lernangebote für die digitalisierte Industrie – Ein Praxisbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Malte Stamer und Claudia Ball Präventionsallianzen – Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes in der digitalisierten Industrie durch Kooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Jörg von Garrel und Simone Thomas

Autorenbeschreibungen

Claudia Ball Claudia Ball besitzt einen Bachelor-Abschluss in Lehr-, Lern- und Trainingspsychologie und Erziehungswissenschaft sowie einen Master-Abschluss in Bildungsmanagement der Universität Erfurt . Seit 2009 arbeitet sie bei der DEKRA Akademie GmbH als Projektleiterin und Forscherin für europäische Bildungsprojekte und als Research Managerin . Maja Bauer Maja Bauer hat Ihren Master of Science im Bereich Wirtschaftspsychologie, Leadership & Management an der SRH Fernhochschule – The Mobile University absolviert . Nach mehrjähriger Tätigkeit, unter anderem in einer Führungsposition als Leiterin des Bauprozessmanagement in einem mittelständischen Unternehmen, ist sie mittlerweile als Coach und Beraterin im Bereich Stressmanagement und Burn-out-Prophylaxe selbstständig . Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Beratung zum Thema Arbeitsfähigkeit in Unternehmen und der Erstellung von maßgeschneiderten Konzepten . Paul Bittner Paul Bittner studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg . Er war von 2012 bis 2015 am Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in der Abteilung Logistik und Fabriksysteme LFS tätig . Sein Arbeitsschwerpunkt lag dort unter anderem im Bereich des Service Engineering . Seit 2015 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich der SRH Fernhochschule tätig . Er leitet öffentliche Forschungsprojekte, die sich mit der Analyse und Gestaltung der Arbeitsorganisation in den Bereichen Produktion, Logistik und Service befassen .

VII

VIII

 

Autorenbeschreibungen

Jörg von Garrel Prof. Dr. Jörg von Garrel hat eine Professur für Prozess- und Produktinnovationen an der Hochschule Darmstadt (h_da) inne und ist Associate Professor an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Seine Forschungen fokussieren auf eine partizipative sowie effektive und effiziente Gestaltung von Arbeitssystemen und Arbeitsprozessen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen der Digitalisierung und des demografischen Wandels. Manfred Mühlfelder Dr. Manfred Mühlfelder ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Projektmanagement an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Seine Schwerpunkte in der Forschung und Lehre liegen in der Analyse und Gestaltung von Organisationen, Arbeitsgruppen und -systemen unter Berücksichtigung neuer Technologien und sich verändernder Wettbewerbsbedingungen. Insbesondere agile und selbstorganisierte Formen der Arbeitsorganisation wie beispielsweise SCRUM bilden den Schwerpunkt seiner aktuellen Tätigkeiten und Interessen. Frauke Remmers Frauke Remmers hat an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg Betriebswirtschaft mit juristischem Schwerpunkt studiert. Seit 2010 ist sie als Lehrbeauftragte und seit 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich der SRH Fernhochschule tätig. Sie arbeitet in einem BMBF-geförderten Forschungsprojekt, in dem die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit der Zukunft untersucht werden. Denise Rose Denise Rose studierte zunächst BWL an der DHBW Ravensburg und anschließend Wirtschaftspsychologie, Leadership und Management an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Seit 2017 arbeitet sie bei der Liebherr-Werk Biberach GmbH in der Personalentwicklung als Referentin. Stefanie Samtleben Stefanie Samtleben studierte Mathematik an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg. Seit 2012 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in der Abteilung Logistik- und Fabriksysteme LFS. In den Themenfeldern energieorientierte Produktionsplanung und Digitalisierung der Bauwirtschaft bearbeitet und leitet sie Projekte. Ein wiederkehrender Schwerpunkt ist die Entwicklung von Software-Anwendungen, die in der Planung und in der Produktion eingesetzt werden können.

Autorenbeschreibungen

IX

Malte Stamer Malte Stamer besitzt einen Abschluss als Master Personal- und Organisationsentwicklung. Seit 2007 ist er als Projektleiter und Forscher in der Abteilung Business Development International der DEKRA Akademie GmbH in Stuttgart tätig. Silke Stopper Silke Stopper M.A. war als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich an der SRH Fernhochschule – The Mobile University tätig. Ihre Forschungsarbeit fokussierte auf den Menschen in einer digitalisierten Wirtschaft. Sie ist seitdem als Geschäftsführerin in einer Einrichtung für ambulante Jugendhilfe und freie Mitarbeiterin in wissenschaftlichen Forschungsprojekten tätig. Simone Thomas Simone Thomas studierte an der SRH Fernhochschule – The Mobile University „Prävention und Gesundheitspsychologie B.A.“ mit dem Schwerpunkt „Führung und Gesundheit“ und schloss gleichzeitig ihren Betriebswirt (SRH) ab. Vor und parallel zu dieser Tätigkeit war Frau Thomas in verschiedenen mittelständigen Unternehmen mit verschiedenen Leitungsfunktionen, einschließlich der Personalführung, betraut. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Martin Ulber Martin Ulber hat einen B.Sc. in „Wirtschaftspsychologie“ der SRH Fernhochschule Riedlingen – The Mobile University und einen M.Sc. in „Management and Organisation Studies“ der Technischen Universität Chemnitz. Derzeit arbeitet er an der Professur für „Betriebliche Umweltökonomie und Nachhaltigkeit“ als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Open Engineering 2. Er arbeitete von 2016 bis 2018 im Forschungsprojekt Prädikatsarbeit. Seine Themenschwerpunkte waren die Veränderungen der Arbeitswelt durch die Digitalisierung, Analyseverfahren der Arbeitsfähigkeit und Methoden der Arbeitsgestaltung. Bianca Zorn Bianca Zorn studierte an der Hochschule Magdeburg-Stendal Wirtschaftsingenieurwesen und war von 2009 bis 2015 Projektcontrollerin am Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF. Seit 2016 ist sie Geschäftsführerin und Mitinhaberin von ZORN INSTRUMENTS GmbH & Co. KG.

Die Arbeit in der digitalisierten Produktion – von der Analyse zum zukunftsorientierten Ansatz Paul Bittner1 und Jörg von Garrel2

In einer gleichzeitig dynamischer und älter werdenden Gesellschaft werden hohe Anforderungen an die Veränderungsbereitschaft von Unternehmen und ihre Mitarbeiter gestellt. Durch die Digitalisierung werden präventive Kompetenzen sowie flexible und nachhaltige Gestaltungskonzepte Faktoren von Erfolg und Innovationsfähigkeit. Ebenso verlangt der demografische Wandel adäquate Konzepte aus den Erkenntnissen der Arbeitsforschung und der Kompetenz-, Personal- und Organisationsentwicklung. Das Zusammenspiel von digitaler und demografischer Entwicklung stellt die Unternehmen vor die Herausforderung, Innovationen umzusetzen und gleichzeitig die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Insbesondere die Entwicklung digitaler Technologien, welche spätestens seit der Hannover Messe 2011 unter dem Schlagwort Industrie 4.0 firmierte, wird die Prozesse in der Produktion grundlegend verändern. Als Teil der High-Tech-Strategie der Bundesregierung soll das Projekt Industrie 4.0 die deutsche Industrie in die Lage versetzen, stark individualisierte Produkte im Rahmen einer hoch flexibilisierten Produktion bereitzustellen, Kunden direkt in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse einzubinden und mittels modernem Monitoring „Wert1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] Hochschule Darmstadt, SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_1

1

2

Paul Bittner und Jörg von Garrel

schöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit“ zu steuern und zu optimieren3. Umgesetzt werden sollen diese Ziele vor allem durch anpassungsintelligente4, sogenannte cyberphysische Produktionssysteme (CPPS), die durch die Vernetzung der virtuellen Welt mit der physischen Welt der Dinge charakterisiert sind5. Möglich wird es, dadurch sowohl die Wertschöpfungskette als auch die betriebswirtschaftlichen Prozesse der entsprechenden Produkte miteinander zu vernetzen und – so das Versprechen – „ein durchgängiges Engineering über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts einschließlich seines Produktionssystems“6 zu ermöglichen. Diverse Protagonisten stehen dem Hype um den technisch geprägten Ansatz von Industrie 4.0 allerdings deutlich nüchterner gegenüber und erweitern den engen Fokus auf die Technik um gesellschaftliche und soziale Belange der Beschäftigten7. Dieses erweiterte Verständnis von CPPS integriert demnach auch die Beschäftigten bezüglich jener Eigenschaften, die über die bloße Anpassung, Effizienzsteigerung und Kontrolle der menschlichen Arbeitskraft über bzw. an digitale Dynamiken hinausgehen8. Exemplarisch dafür sprach der wissenschaftliche Beirat der „Plattform Industrie 4.0“ nicht nur der Technologie Entwicklungsmöglichkeiten im Zuge von Industrie 4.0 zu, sondern in gleichem Maße denjenigen, die mit diesen Technologien tagtäglich zu tun haben. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Arbeit der Beschäftigten in der Produktion sind unumstritten9 (Abbildung 1). In diesem Sinne stellen CPPS soziotechnische Systeme dar, die den in diesen Arbeitenden die Möglichkeit bieten, ihr „Aufgabenspektrum zu erweitern, ihre Qualifikationen und Handlungsspielräume zu erhöhen sowie ihren Zugang zu Wissen deutlich zu verbessern“10. Von besonderer Bedeutung sind hierbei lernförderliche Arbeitsmittel, Communities of Practice und eine alterns- und aufgabengerechte Arbeitsgestaltung. Schlussendlich, so die Annahme des Beirats, sorgen CPPS für eine humangerechte Gestaltung des Arbeitslebens, das heißt für die Schädigungslosigkeit und Ausführbarkeit der Arbeitsaufgabe sowie die Beeinträchtigungsfreiheit und Möglichkeiten zur 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Kagermann et al.: 2013, S. 2 Vgl. Hirsch-Kreinsen: 2014, S. 421 Vgl. Hirsch-Kreinsen: 2014, S. 421 Vgl. Kagermann et al.: 2013, S. 2 Vgl. Geisberger und Broy: 2012, S. 105 Vgl. Stopper et al.: 2017, S. 28 Vgl. Geisberger und Broy: 2012, S. 105 und BMWI: 2013, S. 7 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat Industrie 4.0: 2015, S. 2

Die Arbeit in der digitalisierten Produktion …

3

Persönlichkeitsentwicklung der Beschäftigten11. Die Vision des Beirats lässt eine uneingeschränkt positive Tendenz bezüglich der Zukunft der Arbeit erkennen. Sie soll allerdings nicht über die Realität hinwegtäuschen: Die Digitalisierung stellt etablierte Strukturen und Prozesse grundlegend infrage und sie stellt damit Unternehmen und auch ihre Beschäftigten schon jetzt vor enorme Herausforderungen.

Abbildung 1 Einordung der Arbeitsperson in den Kontext des cyberphysischen Pro­ duktionssystems

Neben der Digitalisierung ist es insbesondere auch der sich zunehmend schärfer abzeichnende demografische Wandel (Abbildung 2), welcher eine älter werdende Erwerbsbevölkerung bei gleichzeitig ansteigendem Fachkräftemangel prognostiziert12. Die Herausforderung besteht für Unternehmen darin, geeigneten Nachwuchs zu finden und die Leistungsfähigkeit der Betriebsbelegschaft zu erhalten13. Der demografische Wandel und die Digitalisierung wirken allerdings nicht nur auf die Unternehmen. Auch die Beschäftigten sind wesentlich durch die unterschiedlichen Facetten dieser Entwicklungen sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld geprägt. Technologien wie das Smartphone sind in beiden Fällen zum ständigen Begleiter geworden, Informationen stehen vollumfänglich und jederzeit online zur Verfügung. Auch die Auswirkungen des demografischen Wan-

11 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat Industrie 4.0: 2015, S. 2 12 Vgl. Adenauer: 2015, S. 9 13 Vgl. Adenauer: 2015, S. 9

4

Paul Bittner und Jörg von Garrel

dels werden für Beschäftigten, beispielsweise durch die Themen Renteneintrittsalter oder Work-Life-Balance14, spürbar.

Abbildung 2 Die Arbeitsfähigkeit stellt das essenzielle Bindeglied zwischen den Unternehmen und den in ihnen arbeitenden Menschen dar

Unumstritten ist, dass sich diese Entwicklungen nicht aufhalten lassen. Die Herausforderung besteht darin, diese Entwicklungen so zu gestalten, dass sie zur Verbesserung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen genutzt werden. Gefordert sind Ansätze, die integrative und nachhaltige Gestaltungslösungen zulassen. An diesem Punkt setzte das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt Prädikatsarbeit (FKZ: 02L14A093) an. In Kooperation von Präventionsdienstleistern, interdisziplinären Forschungsinstitutionen, Unternehmenspartnern und Sozialpartnern zielte das Projekt darauf ab, praxisnahe Lösungskonzepte für eine nachhaltige Personal- und betriebliche Gesundheitspolitik im Hinblick auf eine digitalisierte Industrie aus der Perspektive des Konzepts der Arbeitsfähigkeit (nach Ilmarinen15) mittels einer integrativen Sicht systematisch zu konzipieren und zu erproben. Dazu wurden arbeits14 Stichworte sind hier Generation Y nach Hurrelmann & Albrecht: 2014 sowie WorkLife-Balance nach Badura et al.: 2004 15 Vgl. Tempel und Ilmarinen: 2015

Die Arbeit in der digitalisierten Produktion …

5

wissenschaftliche, betriebs-, und ingenieurswissenschaftliche sowie besonders digitalisierungsaffine organisationspsychologische Perspektiven zusammengeführt und im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus an den Beispielen konkreter Problemlagen zweier Praxispartner neue Lösungskonzepte entwickelt und erprobt. Dieser Band gibt Ihnen einen Einblick in die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten des Projektes und dient der Darstellung zentraler Erkenntnisse. Die folgend erläuterte Struktur dieses Bandes und der Beiträge ist an die Arbeitspakete und die inhaltliche Arbeit im Forschungsprojekt Prädikatsarbeit angelehnt. Diese Struktur (Abbildung 3 und 4) dient Ihnen in diesem Band wiederkehrend als Übersicht und sie soll Ihnen eine schnelle und einfache Orientierung ermöglichen. Im ersten Teil des Bandes (siehe Abbildung 3) werden zunächst im Beitrag von Manfred Mühlfelder die Entwicklung der Digitalisierung und erste Auswirkung auf die Arbeit in der industriellen Produktion dargestellt, bevor anschließend Gestaltungsfelder für die Digitalisierung der Produktionsarbeit aufgezeigt werden.

Abbildung 3  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Weiterhin werden im Beitrag Paul Bittner und Stefanie Samtleben die wesentlichen wissenschaftlichen Grundlagen und Theorien näher betrachtet, mit denen der Frage nachgegangen wurde, welche Anforderungen Produktionsmitarbeiter in Industriebetrieben infolge der zunehmenden Digitalisierung am Arbeitsplatz erleben und welche Chancen und Risiken diese Entwicklungen für ihre eigene berufliche Situation bergen. Im Projekt wurde dazu in einem ersten Schritt mittels Fokusgruppeninterviews eine Analyse bei den Praxispartnern des Projektes

6

Paul Bittner und Jörg von Garrel

und einem Referenzunternehmen durchgeführt (siehe Beitrag von Silke Stopper), die für ein tiefgreifendes Prozessverständnis in den Unternehmen mit einer erweiterten Wertstromanalyse (siehe Beitrag von Stefanie Samtleben und Denise Rose) kombiniert wurde. Die Erkenntnisse aus der Analyse in den Unternehmen dienten im Anschluss als inhaltliche Grundlage für eine deutschlandweite Befragung produzierender Unternehmen (siehe Beitrag von Jörg von Garrel und Maja Bauer). Auf dieser Basis wurde ein integratives Modell (siehe Beitrag von Paul Bittner und Stefanie Samtleben) für die formale Beschreibung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion entwickelt. Außerdem wurde eine Analyse bezüglich Adaptionspotenzialen bestehender Verfahren zur Messung der Arbeitsfähigkeit durchgeführt, deren Erkenntnisse im Beitrag von Martin Ulber und Paul Bittner dargestellt sind. Für den zweiten Teil des Forschungsprojektes dienten das integrative Modell und die darin enthaltenen Einflussfaktoren als Grundlage, um weiterführend ganzheitliche Ansätze zur Beschreibung und Verbesserung der Arbeitsfähigkeit zu entwickeln. Der zweite Teil des Bandes hat demnach folgende Struktur (Abbildung 4):

Abbildung 4  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

Das Modell diente in diesem Sinne zunächst zur Identifikation von Anforderungen an ein neuartiges Instrumentarium zur Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Industrie (siehe Beitrag von Martin Ulber und Frauke Remmers), die im Anschluss in einem ersten Teil eines partizipativen Ansatzes (siehe Beitrag von Frauke Remmers und Martin Ulber) umgesetzt wurden, welcher die Beteiligung der Beschäftigten als Lösungsansatz in den Fokus stellt. Zudem diente das integrative Modell als Strukturierungs- und Modellierungsgrundlage für

Die Arbeit in der digitalisierten Produktion …

7

ein arbeitsgestalterisches Methodenset (siehe Beitrag von Martin Ulber und Paul Bittner). Dieses Methodenset wiederum stellt gemeinsam mit den Schwerpunkten „Assistenzsysteme“ (siehe Beitrag von Stefanie Samtleben und Denise Rose), „Lernangebote“ (siehe Beitrag von Malte Stamer und Claudia Ball) und „Präventionsallianzen“ (siehe Beitrag von von Jörg von Garrel und Simone Thomas) wesentliche Gestaltungsansätze für den zweiten Teil des partizipativen Ansatzes dar, der im Beitrag Remmers/Zorn dargelegt ist.

Literatur Badura, B., Schellschmidt, H., Vetter, C., & Bäcker, G. (Hrsg.) (2004): Wettbewerbsfaktor Work-Life-Balance: betriebliche Strategien zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben. Berlin: Springer. Adenauer, S. (2015): Demografischer Wandel und Auswirkungen auf Unternehmen. In: Leistungsfähigkeit im Betrieb. Institut für angewandte Arbeitswissenschaften e.V. (ifaa) (Hrsg.) Berlin/Heidelberg: Springer. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWI) (2013): Mensch-TechnikInteraktion, Berlin. Geisberger, E. und Broy, M. (Hrsg.) (2012): agenda CPS – Integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems, Heidelberg. Abgerufen in 01.2019 unter https://www.iosb.fraunhofer.de/servlet/is/21752/acatech_STUDIE_agendaCPS_Web.pdf?command=downloadContent&filename=acatech_STUDIE_agendaCPS_Web.pdf Hirsch-Kreinsen, H. (2014): Wandel der Produktionsarbeit – Industrie 4.0, In: WSI-Mitteilungen 6/2014, S. 421–429. Hurrelmann, K. und Albrecht, E. (2014): Die heimlichen Revolutionäre: wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim: Beltz. Kagermann, H., Wahlster, W., Helbig, J. (Hrsg.) (2013): Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort sichern. Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Berlin. Abgerufen in 12.2018 unter https://www.bmbf.de/files/Umsetzungsempfehlungen_Industrie4_0.pdf Stopper, S., von Garrel, J., Bittner, P., & Mühlfelder, M. (2017): Digitalisierung in der Produktion. In: SRH Fernhochschule (Hrsg.), Digitalisierung in Wirtschaft und Wissenschaft (S. 27–36). Wiesbaden: Springer. Tempel, J. und Ilmarinen, J. (2015): Arbeitsleben 2025: das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen (2. unveränd. Aufl). Hamburg: VSA. Wissenschaftlicher Beirat Industrie 4.0 (Hrsg.) (2015): Neue Chancen für die Produktion. 17 Thesen des wissenschaftlichen Beirats.

Die Digitalisierung der Produktion – Rückblick, Gegenwart und Zukunfts­ perspektiven Manfred Mühlfelder1

Zusammenfassung

Die digitale Vernetzung von Unternehmen, Menschen, Produkten und Maschinen in flexiblen Produktionsnetzwerken eröffnet viele Chancen, birgt aber auch Risiken für Unternehmen, Kunden und Mitarbeiter. Die Chancen bestehen vor allem in der schnellen Anpassungsfähigkeit der Produktion an individuelle Kundenanforderungen und Schwankungen in den Märkten. Die Risiken liegen sowohl in technischen Problemen zur Datensicherheit und Datenintegrität, vor allem aber auch in einer unzureichenden Beachtung soziotechnischer Belange, wie dies in der Vergangenheit bei computerintegrierten Produktionssystemen (CIM) häufig der Fall war. In diesem Beitrag werden rückblickend Erfahrungen mit der Einführung von numerisch gesteuerten Produktionssystemen in den 1970er- bis 80er-Jahren berichtet, der gegenwärtige Stand der Forschung und Praxis zur Digitalisierung in Produktionsunternehmen skizziert und Gestaltungsfelder für die Zukunft aufgezeigt.

1

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_2

9

10

1

Manfred Mühlfelder

Die Einleitung – Wohin geht die Reise?

In diesem Kapitel wird zunächst eine historische Einordnung der Digitalisierung der Produktionsarbeit vorgenommen, bevor anschließend auf die Ziele sowie Chancen und Risiken eingegangen wird. Anschließend werden Gestaltungsfelder im Rahmen der Digitalisierung von Produktionsarbeit aufgezeigt, die in die Analysen (siehe Kapitel 4 bis 7) einbezogen wurden (Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Der Begriff und der Trend zur Digitalisierung haben sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt. Digitale Medien, digitale Medizin oder digitale Geschäftsprozesse sind nur drei Beispiele, die zeigen, dass sich durch den Einsatz von Micro-Computern in verschiedenen Anwendungsgebieten die Vernetzung zwischen Daten, Menschen und Artefakten weiter fortsetzt2. War es in der Vergangenheit vor allem die Mensch-Computer-Interaktion (HCI), mit der sich Arbeitssystemgestalter beschäftigt haben, so hat sich dieses Feld durch die zunehmende Vernetzung von Menschen, Maschinen und Produkten zu einer Mensch-ComputerMensch-Interaktion (HCHI) erweitert. Bei der Digitalisierung von Produktionssystemen und -prozessen ergeben sich weitere Fragen, inwieweit der Einsatz von miteinander vernetzten Maschinen, Anlagen und Produkten in Gestalt von cyber-physikalischen Produktionssystemen 2

Neugebauer, R.: 2018

Die Digitalisierung der Produktion …

11

(CPPS)3 die Arbeitsaufgaben und die Anforderungen an die Produktionsmitarbeiter verändern. Komplexe, miteinander eng gekoppelte Arbeitsabläufe ermöglichen eine schnellere Anpassung an Umweltveränderungen (z. B. Auftrags- und Los-größenschwankungen), sind aber auch störanfällig und benötigen eine hohe Systemresilienz4. In diesem Kapitel soll ein kurzer historischer Überblick über den Einsatz von Micro-Computern in der industriellen Produktion sowie den Chancen und Risiken der Digitalisierung in diesem Bereich gegeben werden. Danach werden die Ziele der Digitalisierung von industriellen Produktionssystemen erörtert, und die Erfahrungen aus den ersten Ansätzen des Computer Integrated Manufacturing (CIM) in den 1970er-bis 1980er-Jahren zusammengetragen und reflektiert. Daraus werden offene Fragen und Gestaltungsfelder abgeleitet, die im Rahmen des Forschungsprojekts PRÄDIKATSARBEIT bearbeitet wurden.

2

Die Digitalisierung der Produktionsarbeit – ein Blick in die Vergangenheit

Der Begriff „Digitalisierung“ wurde im Kontext industrieller Produktion bereits in den 1960-Jahren verwendet, als es mittels APT (Automatically Programmed Tools) zum ersten Mal gelang, durch elektronische Steuerbefehle verschiedene Fertigungsprozesse (z. B. Fräsen, Drehen, Bohren) zu automatisieren5. Damit einher gingen erhöhte Anforderungen an die Produktionsmitarbeiter bezüglich des Einsatzes von speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) und CAM-Technologien (Computer Aided Manufacturing). Der Einsatz von numerisch gesteuerten (NC: numerical controlled bzw. CNC: computerized numerical controlled) Maschinen und Anlagen verbreitete sich in den 1970er- bis 1980er-Jahren rasch, weil dadurch eine erhöhe Präzision und Geschwindigkeit im Vergleich mit manuell gesteuerten Maschinen erreicht werden konnte6. Gleichzeitig entwickelte sich die Sensor-, Verfahrens- und Steuerungstechnik kontinuierlich weiter, sodass auch komplexe Bauteile und neue Werkstoffe bearbeitet werden konnten. In den 1980er-Jahren wurden die bis dahin isoliert betrachteten Anwendungsfelder der Computerunterstützung in der Konstruktion (CAD), Arbeitsplanung 3 4 5 6

Broy, M.: 2010 Hollnagel, E., Woods, D. D. & Leveson, N. C.: 2006 Ross, D. T., Feldmann & McAvinn, D.F.: 1959 Kief, H. B., Roschiwal, H. A., Schwarz, K.: 2017

12

Manfred Mühlfelder

(CAP), Beschaffung (ERP) und Fertigung (CAM) miteinander verschmolzen und zum Konzept einer computerintegrierten Produktion (CIM: Computer Integrated Manufacturing) weiterentwickelt7. Das Ziel dieses Ansatzes war es, eine ganzheitliche und integrative Betrachtung des kompletten Produktentstehungsprozesses von der Konstruktion, über die Beschaffung und Produktionsplanung bis hin zur Auftragssteuerung und Fertigung zu ermöglichen. Durch die Anbindung von Lieferanten- und Kundensystemen sollte es möglich werden, komplexe Produktionsverbünde aufzubauen und die Lieferkette bis hin zum Verbraucher effizienter zu gestalten (Digital Supply Chain Management). Durch die Anwendung von Internettechnologien und -protokollen konnten seit den 1990er-Jahren auch in der Produktion Verknüpfungen zwischen physischen Objekten und Produktionsanlagen hergestellt werden. Das „Internet der Dinge“8 ermöglicht die Vernetzung zwischen physischen Gegenständen und digitalen Informationen, die zu neuen Anwendungsfunktionen und -szenarien führen. Beispiele hierfür sind autonome Logistikroboter oder internetfähige Maschinen, die in einem Produktionsverbund mit anderen Maschinen kommunizieren.

3

Ziele der Digitalisierung – das Zukunftsversprechen

Die wirtschaftlichen Ziele, die mit einer Digitalisierungsstrategie verfolgt werden, sind zum einen die Reduktion der Fertigungskosten der produzierten Menge durch die Minimierung von Losgrößen, zum anderen die Reduktion der Herstellkosten der Produktion durch eine Reduzierung der Bestände. Hierbei kommen auch Konzepte des Lean Management zum Einsatz, wie z. B. das Ziel einer Reduzierung von Verschwendung, Überproduktion und eine kontinuierliche Verbesserung der Produktionsprozesse9. Die Flexibilisierungsziele bestehen zum einen in einer raschen Anpassungsfähigkeit des Produktionssystems an Auftragsschwankungen und zum anderen in der Auflösung herkömmlicher Produktionslinien zugunsten flexibler Fertigungszellen, die schnell und einfach aufgebaut und miteinander kombiniert werden können10. 7 8 9 10

Scheer, A.-W.: 1989 Bullinger, H.-J., ten Hompel, M.: 2007 Bertagnolli, F.: 2018 Pfeifer, T., Schmitt, R.: 2006

Die Digitalisierung der Produktion …

13

Humanorientierte Ziele sind die Anreicherung der Produktionstätigkeiten um Planungs- und Steuerungsaufgaben. Damit einher gehen steigende kognitive und kommunikative Anforderungen für die Produktionsmitarbeiter, aber auch Lernund Gestaltungsmöglichkeiten und höhere Qualifikationsanforderungen.

4

Chancen und Risiken der Digitalisierung – aus Fehlern der Vergangenheit lernen

Digitale Technologien ermöglichen es, flexibel auf Kundenanforderungen zu reagieren und schnell neue Funktionen in bestehende Hardware zu integrieren. Maschinen können „lernen“, Produktionsprozesse zu optimieren und die Effizienz entlang der Wertschöpfungskette zu erhöhen. Eine große Chance bietet die Integration verschiedener Informationsquellen, beispielsweise aus der Produktentwicklung, der Beschaffung, der Auftragsplanung und der Logistik, um bedarfs- und auftragsgerecht auf alle notwendigen Daten und Informationen in der Produktion zugreifen zu können. Dabei spielen auch vermehrt mobile Geräte eine Rolle, mit denen die Produktionsmitarbeiter ortsunabhängig auf verschiedene Systeme zugreifen können, um ihre Arbeitsaufträge auszuführen. Risiken bestehen vor allem bezogen auf den Datenschutz und die IT-Sicherheit. Digitale Produktionsverbünde können zum Ziel von Angriffen von Computer-Hackern werden, die durch gezielte Eingriffe in die Hard- und Software das gesamte Produktionssystem oder zumindest wichtige Teile kontrollieren können. Ebenso können aber, ähnlich wie bereits in der digitalisierten Musik- und Filmindustrie, Daten illegal kopiert und für andere, nicht zulässige Zwecke genutzt werden. Für die Mitarbeiter besteht das Risiko, zu „gläsernen“ Mitarbeitern zu werden, deren Daten öffentlich zugänglich und zu Überwachungszwecken ausgewertet werden. Rückblickend auf die in Abschnitt 2 kurz dargestellten Phasen der Digitalisierung von Produktionssystemen können wichtige Lernerfahrungen abgeleitet werden, die für die weitere Entwicklung genutzt werden können. Eine zentrale Erfahrung aus der Ära des CIM (Computer Integrated Manufacturing) war die Erkenntnis, dass sich eine stark zentralisierte Produktions- und Unternehmensteuerung, die flexibel auf Änderungen reagieren kann, nur schwer in der industriellen Praxis erreichen lässt. Die Gründe hierfür sind zum einen die hohe Komplexität der Produktionssysteme und zum anderen die zu geringe Flexibilität im Umgang mit Störungen und Schwankungen im System11. Statt11 Gausemeier, J.& Plass, C.: 2013

14

Manfred Mühlfelder

dessen sollten dezentrale Regelkreise implementiert werden, die über definierte Schnittstellen miteinander kommunizieren. Solche dezentralen Einheiten können zu flexiblen Produktionsverbünden kombiniert und ergänzt und erweitert werden. Anstelle einer zentralen Entscheidungsinstanz tritt ein verhandlungsorientiertes Modell, bei dem verschiedene Akteure auf einer gemeinsamen Plattform in Beziehung treten und sich als flexibles Produktionsnetzwerk organisieren. Eine weitere Lektion war, dass CIM oft zu einseitig als ein rein technisch orientiertes Konzept betrachtet worden ist, was zu aktiven und passiven Widerständen bei den Mitarbeitern in den Betrieben geführt hat. Stattdessen sollte in Zukunft wieder vermehrt ein soziotechnischer Systemansatz betrachtet werden, bei dem Mensch, Technik und Organisation in gleicher Weise im Fokus stehen12. Es sollten auch verstärkt partizipative Ansätze zur Technologieentwicklung und -einführung gewählt werden, bei denen die Produktionsmitarbeiter aktiv in die weitere Digitalisierung ihrer Arbeitstätigkeiten und -prozesse eingebunden werden. Nicht zuletzt bedarf es auch einer Reorganisation sowohl der Strukturen als auch der Abläufe in einer digitalen und vernetzten Produktion. Anstelle einer hierarchisch-sequenziell ausgerichteten Arbeitsorganisation sind selbstorganisierte, miteinander vernetzte Strukturen, die auftragsbezogen miteinander kommunizieren, geeigneter, um das Potenzial der Digitalisierung besser zu nutzen.

12 Strohm, O., & Ulich, E.: 1997

Die Digitalisierung der Produktion …

5

15

Gestaltungsfelder im Rahmen der Digitalisierung von Produktionsarbeit – eine Orientierung für die Zukunft

Abbildung 2  Gestaltungsfelder im Rahmen der Digitalisierung von Produktionsarbeit

Es stellt sich nun die Frage, wie der Einfluss der Digitalisierung auf Produktionsarbeit und -systeme beschrieben, analysiert und operationalisiert werden kann. In der Abbildung 2 wird der Versuch unternommen, verschiedene Facetten dieser Wirkungen zu veranschaulichen. Dabei werden die drei Bereiche „Vorausschau“, „Ausführung“ und „Folgen“ einer Digitalisierung von Prozessen, Produkten und System voneinander abgegrenzt. Bezüglich der Vorausschau zukünftiger Markt- und Kundenbedarfe ermöglichen digitale Informationen genauere Prognosen der Produktions- und Auftragsmengen. Gleichzeitig werden auch die Produktionsabläufe für die Kunden transparenter, sodass sie einen direkten Einblick in die Herstellung des von ihnen bestellten Gegenstands nehmen können. Kunden-, Markt- und Wettbewerbsdaten (z. B. Preise) können kontinuierlich überwacht und analysiert werden, um optimale Produktionsmengen zu minimalen Kosten zu gewährleisten. Bei der operativen Ausführung von Digitalisierungsprojekten kommt es vor allem darauf an, dass sich die Dimensionen „Struktur“, „Strategie“ und „Systeme“ wechselseitig beeinflussen. Ebenso bedingen und beeinflussen sich „Mitarbeiter“, „Partner“ und „Ziele“ wechselseitig. Im Zentrum steht eine Organisationskul­

16

Manfred Mühlfelder

tur, die durch Transparenz, wechselseitigen Respekt, Mut, Commitment und Vertrauensbereitschaft geprägt sein muss. (Vgl. auch die Werte im sogenannten „agilen Manifest“13, die als Voraussetzung für die Bildung und das Funktionieren selbstorganisierter Teams in agilen Organisationen betrachtet werden.) Bei den Folgen der Digitalisierung zeigt sich eine höhere Geschwindigkeit und Frequenz der Kommunikationsereignisse innerhalb des Produktionssystems als auch zwischen Kunden, Produzenten und Lieferanten. Zu erwarten ist auch eine bessere Qualität der Produkte durch schnelle Rückmeldungen von Qualitätsmängeln und Methoden einer vorausschauenden Qualitäts- und Wartungsplanung („predictive/preventive maintenance“) der Produktionsanlagen. Nicht zuletzt können auch Ziele einer ökologisch-nachhaltigen Produktion durch eine ressourcenschonende und energieeffiziente Nutzung der miteinander vernetzten Produktionsanlagen erreicht werden, indem beispielsweise die Auslastungsgrade einzelner Maschinen optimiert werden. Damit diese Potenziale einer Digitalisierungsstrategie realisiert werden können, bedarf eines Change-Management-Prozesses, der die Akteure in den drei genannten Bereichen dazu befähigt, Veränderungsprozesse zu initiieren und zu begleiten. Hierbei bedarf es vor allem der Ermöglichung von Selbstorganisation, Partizipation und Empowerment in den betroffenen Bereichen.

6

Fazit – was ist zu tun?

In diesem Einführungskapitel wurde ein kurzer historischer Abriss über die historische Entwicklung der Digitalisierung in der industriellen Produktion seit den 1960er-Jahren bis heute gegeben. Das Schlagwort einer vierten industriellen Revolution, in der wir uns heute befinden, kann besser eingeordnet und verstanden werden, wenn man die seitdem aus der Forschung in die Praxis eingeführten technischen Konzepte und Hilfsmittel wie beispielsweise CAD/CAE (Computer Aided Design/Computer Aided Engineering), CAM (Computer Aided Manufacturing) und SPS (speicherprogrammierbare Maschinen- und Anlagensteuerung) in ihrer technikgeschichtlichen und soziotechnischen Entwicklung begreift. Eine „Revolution“ stellt die rasante Ausbreitung digitaler Techniken in den unterschiedlichen Lebensbereichen dar, die durch die Vernetzungs- und Analysemöglichkeiten von Daten sowohl Chancen als auch Risiken birgt. Im Rahmen des Forschungsprojekts Prädikatsarbeit stellte sich daher die Frage, wie auf der Grundlage eines soziotechnischen Systemansatzes ein integrativer 13 Beck, K.; Beedle, M., van Bennekum, A., et al.: 2001

Die Digitalisierung der Produktion …

17

Ansatz für die Gestaltung der Arbeitstätigkeit und -fähigkeit in einer digitalisierten Produktion entwickelt und in der Praxis evaluiert werden könnte. Dabei sollten Fehler der Vergangenheit, wie sie bei der Konzeption von Computer-Integrated-Manufacturing-Ansätzen gemacht worden sind, vermieden werden und stattdessen eine ausgewogene Betrachtung von Mensch, Technik und Organisation stattfinden14. Der Ansatz in diesem Projekt war es, zusammen mit den Verbundpartnern verschiedene Facetten der Arbeitsfähigkeit in einer digitalisierten Produktion in ausreichender Tiefe zu beleuchten und anhand konkreter Anwendungsfälle den Theorie-Praxis-Transfer zu fördern. In den nachfolgenden Kapiteln werden daher zunächst die soziotechnischen Grundlagen einer digitalisierten Produktionsarbeit erörtert und die Ergebnisse differenzierter Analysen dargestellt.

Literatur Beck, K.; Beedle, M., van Bennekum. A. et al.: Agiles Manifest. 2001. www.agilemanifesto. org [letzter Zugriff am 21.10.2018] Bertagnolli, F.: Lean Management: Einführung und Vertiefung in die japanische Management-Philosophie. Wiesbaden. 2018 Broy, M.: Cyber-Physical Systems: Innovation durch softwareintensive eingebettete Systeme. Berlin/Heidelberg. 2010 Bullinger, H.-J. & ten Hompel, M.: Internet der Dinge. Berlin. 2007 Gausemeier, J.& Plass, C.: Zukunftsorientierte Unternehmensgestaltung – Strategien, Geschäftsprozesse und IT-Systeme für die Produktion von morgen. 2. Auflage. München. 2013. Hollnagel, E., Woods, D. D. & Leveson, N. C.: Resilience engineering: Concepts and precepts. Aldershot, UK. 2006 Kief, H. B., Roschiwal, H. A., Schwarz, K.: CNC-Handbuch. 30., überarbeitete Auflage. München. 2017 Neugebauer, R.: Digitalisierung. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft und Gesellschaft. Berlin. 2018 Pfeifer, T. & Schmitt, R.: Autonome Produktionszellen. Komplexe Produktionsprozesse flexibel automatisieren. Berlin. 2006 Ross, D. T., Feldmann & McAvinn, D.F.: The automatically programmed tool system. Hrsg.: Massachusetts Institute of Technology. Cambridge, Mass. 1959

14 Strohm, O. & Ulich, E.: 1997

18

Manfred Mühlfelder

Scheer, A.-W.: CIM Computer Integrated Manufacturing: Der computergesteuerte Industriebetrieb. Berlin. 1989 Strohm, O. & Ulich, E: Unternehmen arbeitspsychologisch bewerten. Ein Mehr-EbenenAnsatz unter besonderer Berücksichtigung von Mensch, Technik, Organisation. Zürich. 1997

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – von den wissenschaftlichen Grundlagen zum integrativen Modell Paul Bittner1 und Stefanie Samtleben2

Zusammenfassung

In diesem Kapitel werden die wesentlichen wissenschaftlichen Theorien erörtert, die der Bearbeitung des Forschungsprojektes Prädikatsarbeit und damit den Ausführungen in den weiteren Kapiteln zugrunde liegen. Das soziotechnische System, bestehend aus einem technischen und einem sozialen Subsystem, stellt den wesentlichen Ausgangspunkt zur Analyse des Verhältnisses zwischen technologischen Entwicklungen und menschlicher Arbeitskraft dar. Um ein tiefgreifendes Verständnis bezüglich der Subsysteme zu ermöglichen, wurden diese entsprechend eines hierarchischen Systemverständnisses weiter strukturiert. Dem Verständnis soziotechnischer Systeme folgend, handelt es sich dabei um Arbeitssysteme, die mit der Arbeitsaufgabe als verbindendes Systemelement das Zusammenwirken von Mensch bzw. Arbeitsperson und Technologie definiert. Eine Systematisierung der Arbeitsperson wird weiter durch die Betrachtung der Arbeitsfähigkeit ermöglicht; die Systematisierung der Technologien und Prozesse erfolgt durch das Produktionssystem. Basierend auf der wissenschaftlichen Theorie und unter Einbeziehung der Ergebnisse aus 1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_3

19

20

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

den in den Kapiteln 4 bis 7 dargestellten Analysen wurde anschließend das Integrative Modell der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion entwickelt.

1

Das soziotechnische System – Mensch und Technik in Interaktion

Ein erster Ausgangspunkt zum Verhältnis technologischer Entwicklungen und menschlicher Arbeitskraft lässt sich in der Theorie soziotechnischer Systeme finden. Eine detaillierte Betrachtung der Systemelemente findet im Anschluss in den Abschnitten zum Arbeitssystem, der Arbeitsfähigkeit und dem Produktionssystem statt. Die wissenschaftliche Theorie diente den Partnern im Forschungsprojekt als gemeinsame Basis und stellte in diesem Sinne den Ausgangspunkt für die Analysen, auf welche in den Kapiteln 4, 5, 6 und 7 eingegangen wird, dar (siehe Abbildung 1). Die Erkenntnisse aus diesen Analysen dienten anschließend in Verbindung mit der wissenschaftlichen Theorie der Entwicklung des integrativen Modells, welches zum Abschluss dieses Kapitels vorgestellt wird.

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

21

Die Theorie des soziotechnischen Systems wurde in den 1950er-Jahren am Tavistock-Institut in London entwickelt. Die Grundlage bildete eine Untersuchung im Bergbau, in welchem nach einer Umstellung der Produktionsbedingungen von der „Short wall method of coalgetting“ auf die „Long wall method of coalgetting“ Produktivitätseinbußen infolge eines Motivationsrückgangs bei gleichzeitigem Anstieg der Fehlzeiten bei den Bergarbeitern zu verzeichnen waren. Während bei der Short wall method die Arbeiter am selben Ort arbeiteten, den Lohn unter sich aufteilten und selbst über die Aufteilung der Schichten entschieden, wurden bei der Long wall method durch die Vergrößerung der Gänge die Arbeitsorte auseinandergezogen3, die Arbeitszeiten in festen Schichten anhand vorgegebener Tätigkeiten festgelegt und somit die Verantwortlichkeiten für die Arbeitstätigkeiten verteilt und die Löhne entsprechend vergeben. Mit diesen Veränderungen wurde das Vertrauen in die Arbeit (vor allem die Sicherheitsvorkehrungen) der vorherigen Schichten zerstört und dieser Vertrauensverlust als Ursache der verzeichneten Gewinneinbußen und Fehlzeiten identifiziert4. Trist und Bamforth wiesen somit nach, dass die auftretenden Probleme nicht auf Mängel an der eingeführten Technik, sondern auf die Störung des vorhandenen sozialen Systems zurückzuführen waren5. An diese Beobachtungen anschließend entwickelte sich die Theorie des soziotechnischen Systems, bei dem die Wechselwirkungen zwischen technischen (Maschinen, Anlagen und Informationstechnologie) und sozialen Teilkomponenten (Menschen) berücksichtigt werden.6 Soziotechnische Systeme (Abbildung 2) sind offene und dynamische Systeme7, die Inputs aus der Umwelt erhalten und Outputs an selbige abgeben, wobei es sich diesbezüglich um materielle, energetische, informationelle und normative Faktoren handeln kann8.

3 4 5 6 7 8

Vgl. Bamforth et al.: 1951, S. 11 Vgl. Bamforth et al.: 1951, S. 11 ff. Vgl. Bamforth et al.: 1951, S. 37 Vgl. Ulich: 2011, S. 198 Vgl. van Bertalanffy: 1950, S. 129 Vgl. Ulich: 2011, S. 194

22

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Abbildung 2  Das soziotechnische System9

Primäre Arbeitssysteme sind identifizierbare und abgrenzbare Subsysteme innerhalb einer Organisation, wie beispielsweise Montage- oder Fertigungsabteilungen, die aus einer Gruppe oder aus einer Anzahl von Gruppen bestehen und deren Zweck die Beschäftigten und die Aktivitäten miteinander verbindet10. Es besteht aus einem sozialen sowie technischen Subsystem, wobei das soziale Teilsystem aus „Organisationsmitgliedern mit ihren individuellen und gruppenspezifischen Bedürfnissen physischer und psychischer Art, insbesondere deren Ansprüchen an die Arbeit sowie ihren Kenntnissen und Fähigkeiten“11 besteht. Das technische Teilsystem besteht „aus den Betriebsmitteln, den Anlagen und deren Layout, generell aus technologischen und räumlichen Arbeitsbedingungen, die als Anforderungen dem sozialen System gegenüberstehen.“12 Verknüpft werden die beiden Subsysteme über die Arbeitsrollen der Beschäftigten. Diese legt fest, welche Aufgaben die Beschäftigten im Produktionsprozess wahrzunehmen haben; zudem werden über diese Verbindung die notwendigen Kooperationsbeziehungen zwischen den Beschäftigten definiert13. Die Verknüpfung der beiden Teilsysteme 9 10 11 12 13

Vgl. Sydow: 1985, S. 29 Vg. Trist: 1981, S. 11 Alioth: 1980, S. 26 Alioth: 1980, S. 26 Vgl. Ulich: 2011, S. 198

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

23

erfolgt in der praktischen Umsetzung beispielsweise in konkreten Ausprägungen der Mensch-Maschine-Funktionsteilung und der -interaktion14. Von nicht unerheblichem Einfluss sind auch die Sekundäraufgaben, welche zur Systemerhaltung (Unterhalt, Wartung, Schulung etc.) und Regulation (Steuerung der Inputs etc.) notwendig sind und unmittelbar auf das primäre Arbeitssystem bzw. die Primäraufgabe wirken. Die Implementierung neuer Technologien, wie sie beispielsweise mit der Einführung neuer Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme einhergeht, kann die Gestaltungsspielräume zur Erfüllung der Primäraufgabe entscheidend beeinflussen. Wird beispielsweise die Auftragsbearbeitung inhaltlich und zeitlich bis ins letzte Detail festgelegt, werden unter Umständen individuelle Gestaltungsspielräume zerstört15. Bei der Analyse und der Gestaltung eines primären Arbeitssystems stehen die beiden Teilsysteme im Fokus – das Gestaltungsziel ist die gemeinsame Optimierung im Sinne einer bestmöglichen Passung16. Die soziotechnische Systemgestaltung fokussiert explizit auf die „Notwendigkeit, Technologieeinsatz, Organisation und Einsatz von Humanressourcen gemeinsam zu optimieren.“17 Dabei geht mit dem Konzept der soziotechnischen Systemgestaltung, wie bereits Oesterreich im Ergebnis seiner Diskussion unterschiedlicher Konzepte feststellte, ein explizit praktischer Anspruch einher: Es ist grundsätzlich mit dem Anspruch einer gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung vereinbar, wobei sich die gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung nicht nur auf einzelne Arbeitsplätze beziehen kann, sondern mindestens ganze betriebliche Abteilungen betreffen muss; zudem nutzt entsprechend dem Konzept der soziotechnischen Systemgestaltung eine gesundheitsgerechte Arbeit nicht nur den Beschäftigten, sondern wirkt sich auch positiv auf Produktivitätsziele des Unternehmens aus18. Das soziotechnische Systemverständnis stellt die Grundlage dar, um eine integrative Betrachtung der technologischen Entwicklung und der Situation von Beschäftigten in produzierenden Unternehmen vornehmen zu können. Für eine tiefgreifende Betrachtung der Interdependenzen zwischen sozialem und technischem Teilsystem werden folgend weitere Konstrukte erschlossen, die eine detaillierte Betrachtung der Teilsysteme zulassen. Mit der Betrachtung des Arbeitssystems wird zunächst die Bedeutung der Arbeitsaufgabe als zentrales Element des soziotechnischen Systems herausgearbeitet, die das verbindende Element zwischen 14 15 16 17 18

Vgl. Johannsen: 1993, S. 404 Vgl. Ulich: 2013, S. 5 Vgl. Susman: 1976, S. 153 Vgl. Ulich: 2011, S. 200 Vgl. Oesterreich: 1999, S. 212

24

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Arbeitsperson und Technologie darstellt. Anschließend wird das Konstrukt der Arbeitsfähigkeit zur Systematisierung der Arbeitsperson beleuchtet, bevor abschließend das Produktionssystem als Rahmen des Technologieeinsatzes beleuchtet wird.

3

Das Arbeitssystem – die Arbeitsaufgabe als verbindendes Element

Die im deutschen Sprachraum verbreitetste Darstellungsform ist die des Arbeitssystems nach REFA19. Die Allgemeinheit dieses Systemansatzes fokussiert auf keine spezielle Betrachtungsebene von Arbeitsprozessen, sondern lässt sowohl die Systematisierung einzelner Arbeitsplätze als auch ganzer Betriebe zu20. Ein Arbeitssystem21 lässt sich analytisch in den Arbeitsauftrag, die Arbeitsaufgabe, Input und Output, die Arbeitsperson, die Betriebs- und Arbeitsmittel, dem Arbeitsobjekt, dem Arbeitsablauf und schließlich Umwelteinflüsse zergliedern, womit die Beschreibung beliebiger Arbeitsplätze möglich ist22. Bei der Arbeitsaufgabe handelt es sich um eine Aufforderung an den Menschen, Tätigkeiten auszuführen, die der Erreichung eines Ziels dienen. Sie kennzeichnet den Zweck des Arbeitssystems. Bei In- und Output handelt es sich um Arbeitsgegenstände, Daten und Energie, die im Sinne der Arbeitsaufgabe verändert, verwendet oder, gegebenenfalls im Falle des Outputs, neu erstellt werden. Die Arbeitsperson ist das wichtigste „aktive“ Element des Arbeitssystems, das von sich aus tätig werden und inaktive Elemente in Bewegung setzen kann. Betriebs- und Arbeitsmittel sind die Systemelemente, die gemeinsam mit den Arbeitspersonen die Kapazitäten des Arbeitssystems darstellen. Das räumliche und zeitliche Zusammenwirken von Arbeitspersonen und Betriebs- und Arbeitsmitteln, durch welche das Input entsprechend der Arbeitsaufgabe in ein Output überführt wird (Abbildung 3), wird als Arbeitsablauf bezeichnet23. 19 REFA: Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung; heute REFA – Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e.V. 20 Vgl. Schlick et al.: 2018, S. 21 21 „System, welches das Zusammenwirken eines einzelnen oder mehrerer Arbeitender/ Benutzer mit den Arbeitsmitteln umfasst, um die Funktion des Systems innerhalb des Arbeitsraumes und der Arbeitsumgebung unter den durch die Arbeitsaufgaben vorgegebenen Bedingungen zu erfüllen“ DIN EN ISO 6385:2004 22 REFA: 2002 23 Vgl. Tuppinger: 2013, S. 35 f.

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

25

Abbildung 3  Das Arbeitssystem nach REFA24 und Schlick et al.25

Bei den Elementen des Arbeitssystems handelt es sich um die physischen Bausteine von Organisationen und den betrieblichen Prozessen. Es ermöglicht aufgrund seiner Allgemeinheit nicht nur die Abbildung, Analyse und Gestaltung aktueller, sondern auch zukünftiger Arbeitssysteme – so lassen sich neue technische Entwicklungen ebenso wie neue Arbeitsabläufe abbilden. Bei der systematischen Betrachtung des Elements Arbeitsperson – bzw. dem Menschen – wird deutlich, dass auch dieses aus mehreren Subsystemen besteht. Einen strukturierten Ansatz, bei dem die individuellen Ressourcen der Arbeitsperson und die Anforderungen der Arbeit ins Verhältnis gesetzt werden, stellt die Arbeitsfähigkeit dar. Dabei fokussiert Arbeitsfähigkeit auf die wechselseitige Bedingtheit von individuellen Eigenschaften und den Anforderungen der Arbeitsaufgabe, womit sie hier ihren Schnittpunkt mit der Theorie soziotechnischer Systeme und damit zum Arbeitssystem findet.

4

Die Arbeitsfähigkeit – individuelle Ressourcen und Charakteristika der Arbeit

Arbeitsfähigkeit ist von entscheidender Bedeutung für die Produktivität, Leistung und Innovation von Unternehmen und sie ist dann gegeben, wenn zwischen der Arbeitssituation und den Leistungsmerkmalen einer Arbeitsperson eine möglichst 24 Vgl. REFA: 1993, S. 120 25 Vgl. Schlick et al.: 2010, S. 36

26

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

hohe Passung besteht. Nur wenn die Anforderungen der Arbeit und die Ressourcen der Arbeitspersonen zusammenpassen, kann demnach die Arbeitsaufgabe zielführend erledigt werden26. Das Konzept der Arbeitsfähigkeit geht auf den finnischen Forscher Juhani Ilmarinen zurück, der es erweitert wie folgt beschreibt: „Ein modernes Konzept von Arbeitsfähigkeit setzt sich zusammen aus individuellen Ressourcen und Charakteristika der Arbeit. Individuelle Ressourcen umfassen funktionale Fähigkeiten (körperlich, mental, sozial) und Gesundheit, Kompetenzen sowie Einstellungen und Werte. Die Vielfalt der Dimensionen der Arbeit kann beschrieben werden durch Aspekte der Arbeitsumgebung, des sozialen Arbeitsumfeldes, durch körperliche und psychische Arbeitsanforderungen und durch Aspekte des Managements sowie der Führung.”27

Das verbreitetste Modell zur Arbeitsfähigkeit stellt das ebenfalls von Juhani Ilmarinen entwickelte „Haus der Arbeitsfähigkeit“ dar. Es verbindet die für die Arbeitsfähigkeit grundlegenden Bereiche der Ressourcen Gesundheit, Kompetenz und Werte sowie Arbeit miteinander28. Durch die erste Etage des Hauses (die physische und psychische Gesundheit) sind Menschen grundsätzlich dazu in der Lage, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Darauf baut die Ebene der (Aus-)Bildung und Kompetenz einer Person auf, die die gestellten Arbeitsanforderungen abdecken muss, um eine gute Arbeitsfähigkeit aufzuweisen. Darüber liegt das Stockwerk der Werthaltungen und Einstellungen zur Arbeit, das idealerweise mit der Arbeit gebenden Organisationen eine hohe Übereinstimmung aufweist. Diese beeinflusst sowohl Motivation, Leistungsverhalten und das Zugehörigkeitsgefühl der Arbeitsperson zum Unternehmen. Die oberste Etage betrifft die Arbeit: die dortige Umgebung, die Kollegen, die gestellten Anforderungen, die Führung, das Unternehmen selbst etc. Verbunden sind die einzelnen Stockwerke durch Treppen, die sinnbildlich für die Wirkung der Stockwerke aufeinander stehen. Die Arbeitsfähigkeit von Menschen ist allerdings noch von weiteren Faktoren abhängig. Um sie möglichst holistisch betrachten zu können, müssen Aspekte, wie Familienverhältnisse, das direkte persönliche Umfeld einer Person sowie gesellschaftliche und politische Verhältnisse betrachtet werden29. Die Stockwerke des Hauses (Abbildung 4) werden im Folgenden beschrieben. Um die Inhalte für eine weitere Verwendung greifbar und charakterisierbar zu 26 27 28 29

Vgl. Rimser: 2014, S. 95 Ilmarinen und Tuomi: 2004, S. 1–25 Vgl. Ilmarinen und Tempel: 2002, S. 166 f. Ilmarinen und Tuomi: 2004, S. 1–25 und Tempel und Ilmarinen: 2015, S. 40 ff.

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

27

machen, wird auf wissenschaftlich fundierte Modelle und Konstrukte zur detaillierten Beschreibung der Stockwerke zurückgegriffen.

Abbildung 4  Das Haus der Arbeitsfähigkeit30

Das Fundament: Gesundheit und Leistungsfähigkeit Das erste Stockwerk des Hauses bilden die physische und die psychische Gesundheit31, welche die grundlegenden Voraussetzungen für menschliche Leistungsfähigkeit darstellen. Der Metapher des Hauses folgend, stellt sie das Fundament und damit die grundlegende Basis für die Arbeitsfähigkeit dar. In den modernen Industriegesellschaften ist vor allem eine Zunahme psychische Belastungen zu beobachten. Mit zunehmender Arbeitsverdichtung, Automatisierung, Informatisierung und Anforderungen an flexiblen Arbeitszeiteinsatz lassen sich seit einigen Jahren gesteigerte Anforderungen an selbstorganisiertes und -verantwortliches Handeln erkennen, die gleichermaßen zu einem Anstieg psychischer Belastungen, wie Burn-out, Depressionen und Stress, geführt haben32. Das zweite Stockwerk: Kompetenz Das zweite Stockwerk bildet die berufliche Handlungskompetenz, die sich im Detail aus Fach-, Methoden-, Sozial- und der Persönlichkeitskompetenz zusammensetzt. Die Einteilung in die vier Kompetenzarten ist ein Ansatz zur Strukturierung, der die theoretische Betrachtung vereinfachen soll. In der Realität sind sie nicht unabhängig voneinander, sondern greifen vielmehr ineinander. Das Ziel in 30 Vgl. Tempel und Ilmarinen: 2015, S. 40 ff. 31 Vgl. WHO: 1946, S. 1 32 Morschhäuser et al.: 2010

28

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

der Förderung der Kompetenz im betrieblichen Kontext besteht darin, die professionelle Handlungskompetenzen der Beschäftigten zu stärken und somit positiv auf die Arbeitsfähigkeit zu wirken – Kenntnisse und Fähigkeiten sollen problemlösungsorientiert und situationsgerecht in eigener Verantwortung selbstreflektiert zum Einsatz kommen33. Fachkompetenzen werden verstanden als „organisations-, prozess-, aufgabenund arbeitsplatzspezifische berufliche Fertigkeiten und Kenntnisse sowie die Fähigkeit, organisationales Wissen sinnorientiert einzuordnen und zu bewerten, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu generieren“34. Nach Kauffeld handelt es sich bei der Methodenkompetenz um „die Fähigkeit, situationsübergreifend und flexibel kognitive Fähigkeiten zum Beispiel zur Problemstrukturierung oder Entscheidungsfindung einzusetzen“35. Erpenbeck und Heyse ergänzen diese Definition um weitere Aspekte, wie selbstständiges Denken, Planen, Durchführen und Kontrollieren sowie Flexibilität im Sinne von Umstellungsfähigkeit und den Einsatz von Arbeits- und Lösungsverfahren36. Von gleichwertiger Bedeutung sind ebenfalls die Sozial- und die Persönlichkeitskompetenz. Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit stellen dabei die grundlegenden Säulen der sozialen Kompetenz dar, die die Interaktionsfähigkeit in den Fokus rückt und sich im Detail aus vielen weiteren Facetten, wie Zwischenmenschlichkeit, Fairness, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Teamfähigkeit, zusammensetzt37. Die Persönlichkeitskompetenz ist die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zu eigenverantwortlichem Handeln38 und fokussiert hingegen ganz auf das Individuum und dessen Organisations-, Entscheidungs-, Verantwortungs- und Führungsfähigkeiten39. Grundsätzlich entscheiden nicht nur Ausbildungs- und Berufsqualifikationen maßgeblich über Erfolg und Misserfolg in der Arbeitswelt, denn auch während der Berufsausübung nimmt die Aus- und Weiterbildung eine immer bedeutendere Rolle ein. Grund dafür sind die sich schnell verändernden und zunehmend komplexen Anforderungen einer auch durch die Digitalisierung beeinflussten Arbeitswelt, welche die ständige Neujustierung beruflicher Kompetenzen und Fähigkeiten 33 34 35 36 37 38 39

Vgl. Treier: 2016, S. 18 Vgl. Kauffeld: 2002, S. 137 Vgl. Kauffeld: 2002, S. 137 Vgl. Erpenbeck und Heyse: 1996, S. 42 Erpenbeck und Heyse: 2007 Vgl. Ott: 1998, S. 25 Vgl. Bernien: 1997, S. 33

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

29

im Verlauf des Arbeitslebens erfordern. Wesentliche Themen sind beispielsweise alternsgerechte Lernkonzepte, lebenslanges Lernen und Gesundheitskompetenz40. Das dritte Stockwerk: Werte und Einstellungen Im dritten Stockwerk des Hauses der Arbeitsfähigkeit befinden sich die Werte – die Sichtweisen und Einstellungen der Arbeitnehmer in Hinblick auf die Unternehmenskultur. Diese Einstellungen fördern oder behindern die Motivation, und wirken sich somit auf die Arbeitsfähigkeit aus. So können auf der einen Seite Unternehmen den Rahmen dafür bereitstellen, dass Arbeitnehmer die Ziele, Aufgaben und Operationen des Unternehmens nachvollziehen können; auf der anderen Seite können Arbeitnehmer durch eigenes Zutun dazu beitragen, das Unternehmen bei dessen Zielrichtung bestmöglich zu unterstützen. Werte haben damit zum Ziel, Stabilisierungs-, Orientierungs-, Motivations-, Integrations-, Konfliktlösungs-, Kritik- und Legitimationsfunktionen zu übernehmen und sie tun dies sowohl für die Beschäftigten als Individuum, als auch für das gesamte Unternehmen41. In der wissenschaftlichen Theorie existiert unterschiedlichste Ansätze zur Kategorisierung von Werten42. Für eine praxisorientierte Klassifikation bietet sich das Werteviereck nach Wieland an, mit dem Werte in die vier Bereiche Leistungs-, Kommunikations-, Kooperations- und moralische Werte unterteilt werden können (Abbildung 5)43.

40 Vgl. Treier: 2016, S. 18 41 Kunze: 2008, S. 159 42 Vgl. beispielsweise die sieben Werte-Klassen nach Knassmüller: 2005 oder die Werttypen nach Schramm: 2006 43 Vgl. Wieland: 2005, S. 94

30

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Abbildung 5  Werteviereck nach Wieland44

Formalisiert werden Werte auf Unternehmensebene beispielsweise durch die Formulierung von wertorientierten Unternehmenszielen als Instrument einer wertorientierten Unternehmensführung. Im Kontext der Projektbearbeitung bot das Werteviereck nach Wieland eine optimale Möglichkeit, die Thematik zu strukturieren und zu beleuchten. Der Umgang mit Werten im Unternehmen ist in der Praxis ein wesentlich komplexeres Thema und steht in direkter Wechselwirkung mit Unternehmenskultur und -ethik, mit Zielformulierungen und Motivation usw. Ein Hindernis für die Erreichung der Unternehmensziele ist beispielsweise oft das Verhältnis zwischen Führung und Beschäftigten. Dies kann beeinträchtigt sein, wenn es der Führung nicht gelingt, den Beschäftigten durch gelebte Werte den Eindruck der Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit der ausgeführten Tätigkeit zu vermitteln. Mitarbeitermotivation hängt neben der Akzeptanz auch wesentlich von Handlungsspielräumen, beispielsweise in Bezug auf Arbeitszeiteinteilung und Vorgehensweise, ab.

44 Vgl. Wieland: 2005, S. 94

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

31

Das vierte Stockwerk: Arbeit, Arbeitsumgebung und Führung Auf der vierten Etage wird die Arbeit mit allen Aspekten des Arbeitsinhalts, die die physischen, psychischen und sozialen Anforderungen an die Beschäftigten darstellen, die Arbeitsumgebung, die Arbeitsabläufe und die Arbeitsorganisation zusammengefasst. Eine detaillierte Betrachtung wird durch das bereits in diesem Kapitel beschriebene Arbeitssystem möglich. Die Bedeutung der Führung und der Einfluss des Führungsverhaltens wurde bereits im Zusammenhang mit den Werten und der Einstellung erwähnt. Exkurs: Arbeitsfähigkeit und Alter Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Arbeitsfähigkeit fokussiert vielfach auf die Auswirkungen des Alters auf die individuelle Arbeitsfähigkeit von Arbeitspersonen. Die Längsschnittstudie von Tuomi und Ilmarinen45 weist eine kontinuierliche Abnahme der Arbeitsfähigkeit über die Lebensphasen nach; somatische und psychische Störungen sowie chronische Erkrankungen des Muskelskeletts nehmen mit fortgeschrittenem Lebensalter zu. Auch wenn der demografische Wandel unumstritten und die Folgen für die Arbeitsfähigkeit erwiesen sind, zeigen empirische Untersuchungen jedoch, dass eine differenzierende Sichtweise notwendig ist46. Die Alters- und Alternsforschung, unterstützt durch psychologische und soziologische Erkenntnisse, kommt zu dem Schluss, dass das klassische Defizitmodell die Unterschiede des Alterungsprozesses nicht abbilden kann47. Leistungspotenziale wandeln sich kontinuierlich, zudem weist jeder Mensch individuelle Stärken und Schwächen auf, die eine differenzierte und individuelle Betrachtung notwendig machen. Folgende Erkenntnisse zur differenziellen Sichtweise verdeutlichen die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs zwischen Alter und Arbeitsfähigkeit48: • Die körperliche Arbeitsfähigkeit steigt bis ca. 30 und sinkt dann kontinuierlich, wobei der Verlauf dieser Kurve durch eine aktive und gesunde Lebensführung, Achtsamkeit etc. beeinflusst werden kann. • Die geistige Arbeitsfähigkeit erreicht ihren Höhepunkt ca. zwischen dem 45. und 50. Lebensjahr, wobei der Schlüsselfaktor in diesem Fall die intelligente Kapazität darstellt. 45 46 47 48

Tuomi und Ilmarinen: 1999 Hoß et al.: 2013 Kruse und Wahl: 2010; Mietzel: 2014 Vgl. Treier: 2016, S. 7 ff.

32

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

• Das Erfahrungswissen nimmt bis ca. 60 bis 65 Jahren, wobei allerdings die Flexibilität älterer Beschäftigter, neuartige Erfahrungssituationen aufzusuchen, tendenziell eher ab- als zunimmt. • Ältere Mitarbeiter weisen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit eine höhere Variabilität auf als Beschäftigte unter 45 Jahren. Durchschnittwerte im Bereich der Arbeitsfähigkeit weisen deshalb im Bereich der Arbeitsfähigkeit oftmals eine ausgeprägte Streuung auf. Deutlicher zeigen sich Tendenzen in der Entwicklung der Arbeitsfähigkeit bei der Betrachtung der Gründe für Frühverrentung. Dabei steht seltener die körperliche als vielmehr die psychische Konstitution der Arbeitnehmer als Begründung im Fokus. Jede zweite Frühverrentung ist mittlerweile psychisch bedingt, weshalb weitere Zusammenhänge zu berücksichtigen sind. Weiterhin liegt die Abnahme der Arbeitsfähigkeit nicht nur in der individuellen Konstitution der Arbeitspersonen begründet. Holler und Trischler nennen etwa Einflüsse der Arbeitswelt, wie erhöhten Zeitdruck, reduzierte Handlungsspielräume, zunehmende Monotonie und verändertes Führungsverhalten als Gründe49. Treier geht rund um den Diskurs um die psychische Gefährdungsbeurteilung als Begründung für die abnehmende Arbeitsfähigkeit von einem Verhältnis von 40 % (Person) zu 60 % (Arbeit) aus50. Ältere Arbeitnehmer müssen somit als Herausforderung, nicht aber als Bedrohung gesehen werden. Eine beeinträchtigte Arbeitsfähigkeit veranschaulicht vielmehr ein Missverhältnis zwischen der Arbeitsperson und der Arbeitssituation.

5

Das Produktionssystem – Potenzial für Assistenzsysteme

Ein allgemeines Modell eines Unternehmens gibt Aufschluss darüber, aus welchen Teilsystemen es besteht. Unterschieden wird dabei zwischen Subsystemen, welche räumliche oder funktionale Einheiten bilden und Flusssystemen, die Elemente durch das System transportieren51. Das Produktionssystem ist ein Subsystem zur Güterherstellung, in dem wertschöpfende Produktionsprozesse stattfinden. Prozesse der Fertigungstechnik aber auch das Montieren und die Lagerung werden dort durchgeführt. Zur genauen Beschreibung des Produktionssystems ist die Kenntnis über die dort ablaufenden 49 Holler und Trischler: 2010 50 Vgl. Treier: 2016, S. 9 51 Vgl. Schenk: 2014, S. 123

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

33

Prozesse erforderlich. Weiterhin müssen Parameter bekannt sein. Diese sind Maßzahlen, die zur Quantifizierung und qualitativen Beschreibung dienen. Beispiele für Parameter sind die Nennleistung der Betriebsmittel, der Schichtplan oder der Durchsatz von Maschinen52. Die direkt wertschöpfenden Prozesse hängen von den Stütz- und Hilfsprozessen ab. Dazu gehört zum einen die Verwaltung und das Management, welche den Einkauf und den Vertrieb organisiert oder neues Personal einstellt. Zum anderen gehören dazu die internen Logistikprozesse wie der Informations- und Materialfluss. Im Umfeld des Produktionssystems sollen zukünftig Arbeitskräfte durch Assistenzsysteme unterstützt und entlastet werden. „Die Assistenzsysteme werden sich dabei den Arbeitsraum gemeinsam mit den Menschen teilen und mit einer einfachen Benutzerschnittstelle ausgestattet sein.“53 Der Begriff Assistenzsystem kann sehr weit gefasst werden, daher ist dieses Teilsystem in Abbildung 6: Unternehmensmodell quer über die anderen Teilsysteme gelegt. Assistenzsysteme können beispielsweise die Montage, das Lager oder den Informationsfluss unterstützen.

Abbildung 6 Unternehmensmodell54

52 Vgl. Hecklau: 2014, S. 59 53 Vgl. Schenk: 2015, S. 52 54 Vgl. Hecklau: 2014, S. 78

34

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Im Digitalisierungskontext arbeiten Assistenzsysteme zielgerichtet mit dem Menschen in einem Mensch-Maschine-System zusammen. Die Maschine arbeitet dabei parallel mit dem Menschen oder autonom. Sie sind „rechnerbasierte Systeme, die den Menschen bei der Entscheidungsfindung und -durchführung unterstützen.“55 Ein Assistenzsystem muss eine klar definierte Funktion aufweisen, um den Nutzer zielorientiert unterstützen zu können. Hierfür gibt es verschiedene Ausprägungen. Wandke56 gliedert Assistenzsysteme nach Art der Interaktion mit dem Nutzer. Dies unterstützt zusätzlich das Verständnis des Begriffs „Assistenz“ und reduziert die Unterschiede auf drei eindeutig abzugrenzende Merkmale. Ludwig hat diese Merkmale57 erläutert: Der simpelste Grad der Assistenz ist eine vollautomatische Unterstützung einfacher Funktionen. Diese werden ohne Auslösung durch den Benutzer ausgeführt. „In diese Klasse fallen Systeme wie Autopiloten in Flugzeugen, Antiblockiersysteme in Kraftfahrzeugen oder automatische Abschaltungssysteme für technische Geräte in Haushalt oder Produktionsstätten.“58 Der nächst komplexere Grad der Assistenz führt den Nutzer durch einen vorab definierten Prozess. Dieser muss nicht in jedem Anwendungsfall exakt gleich ablaufen, aber das Ziel bleibt das gleiche. Entscheidungsbäume im Hintergrund können auf verschiedene implementierte Elementarfunktionen zugreifen. „Typische Beispiele hierfür sind Installationsassistenten von Softwareprogrammen, die Kombination von verschiedenen Funktionen wie Telefon, Kamera, Radio, Navigationssystem und Mailclient in einem Mobiltelefon […] oder die Kommunikation von Informationen über sprachliche oder taktile Modalitäten.“59 Die höchste Komplexität eines Assistenzgrads antizipiert die Absicht des Nutzers. Die Assistenzfunktion muss dazu die Situation erkennen und einordnen können. Daraus werden dann geeignete Lösungsvorschläge generiert. „Typische Assistenten dieser Klasse sind Onlinehilfen für Softwaresysteme, die teilweise mithilfe animierter Charaktere ein anthropomorphes Aussehen annehmen.“60 Die Hauptfunktionen von Assistenzsystemen sind nach Ludwig Motiv- und Zielbildung, Informationsaufnahme, Integration von Information, Entscheiden über Auswahl einer Aktion und Aktionsausführung61. Dies zeigt die Nähe zum 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Clausen und Buchholz: 2009, S. 248 Vgl. Wandke: 2010, S. 129 Vgl. Ludwig: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig: 2015, S. 15

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

35

Informationsfluss. Der Informationsfluss in Unternehmen wird zunehmend digitalisiert. Dazu kommen verschiedene Softwaresysteme zum Einsatz, unter anderem Enterprise Ressource Planning- (ERP), Manufacturing Executions- (MES) und Betriebsdatenerfassungs- (BDE) Systeme, die je nach Unternehmensgröße verschiedene Funktionen übernehmen. Eine besondere Herausforderung in Unternehmen ist es, diese Systeme miteinander kommunizieren zu lassen, um beispielsweise eine doppelte Datenhaltung und damit Fehler zu vermeiden. Die dort hinterlegten Informationen sind zum Teil auch für die Prozesse in der Produktion relevant. Um wie zuvor beschrieben, Situationen erkennen zu können, muss ein Zugriff auf solche Informationen möglich sein. Erst dann können Assistenzsysteme im Produktionsumfeld ihre Potenziale entfalten. Produktion- und Assistenzsysteme werden zukünftig über eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verfügen müssen, um neue Anwendungsbereiche erschließen zu können62.

6

Das integrative Modell – Arbeitsfähigkeit verbindet

Zur umfassenden Integration der dargestellten Systemansätze in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten in einer digitalisierten Produktion wurde ein Modell entwickelt, das die vier Gestaltungsbereiche der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt und inhaltlich erweitert. Das Ziel in der Entwicklung des Modells bestand darin, sowohl die möglichen Ausprägungen der Einflussfaktoren, als auch deren Interdependenzen abzubilden, sodass Wirkbeziehungen differenziert nachvollziehbar und darüber hinaus modellierbar werden. Wie in der Einführung erwähnt, diente die dargestellte wissenschaftliche Theorie zum soziotechnischen System, zur Arbeitsfähigkeit und zum Produktionssystem zunächst zur Konzeption und Durchführung der Analysen, wie sie in den Kapiteln 4 bis 7 dargestellt sind. Zunächst wurden im Rahmen einer qualitativen Analyse bei den Praxispartnern und einer quantitativen Analyse mittels deutschlandweiter Unternehmensbefragung Untersuchungen durchgeführt, die Fragestellungen unter anderem zur Personal- & Kompetenzentwicklung unter Berücksichtigung der heterogenen Voraussetzungen der Beschäftigten, zur Gesundheit der Beschäftigten sowie betrieblichen Gesundheitspolitik, der Arbeitsorganisation und -gestaltung und sowie zur Ausgestaltung heutiger und zukünftig geplanter Produktionssysteme bezüglich der Digitalisierung beinhalteten. Die Ergebnisse aus diesen Analysen wurden 62 Vgl. Schenk: 2015, S. 52

36

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

anschließend mit der wissenschaftlichen Theorie zusammengeführt und zu einem generischen, qualitativen Modell (Abbildung 7) abstrahiert, das für die weitere Projektarbeit die wesentlichen Gestaltungsfelder aufzeigen sollte:

Abbildung 7 Das integrative Modell der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion

Die Basis des Modells bildete die grundlegende Erkenntnis, dass die Arbeitsfähigkeit in Zukunft noch wesentlicher als bisher als Bindeglied zwischen den Unternehmen und den Beschäftigten, im Modell als Arbeitsperson bezeichnet, fungieren wird. Diese Erkenntnis prägt den integrativen Charakter des Modells: Die Arbeitsfähigkeit ist in diesem Modell nicht als Anspruchshaltung der Beschäftigten gegenüber den Unternehmen (oder umgekehrt) zu interpretieren, sondern als gleichwertiges Kommunikationsinstrument zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Aus diesem Grund sind beispielhaft auch die Nebenbedingungen erwähnt, die auf die beiden Parteien, Unternehmen und Arbeitspersonen, wirken. Handlung und Aktivitäten der Parteien sind immer durch äußere Einflüsse geprägt.

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

37

Das zentrale Element des Modells stellt das Arbeitssystem dar und es integriert im Wesentlichen folgende Ansprüche: 1. Mit dem Arbeitssystem kann aus Sicht der menschlichen Tätigkeit die Betrachtung eines Produktionssystems erfolgen: Das Arbeitssystem ermöglicht die detaillierte Darstellung von Produktionssystemen aus Sicht der auszuführenden Arbeit, die von der initialen Arbeitsaufgabe, über den Arbeitsprozess mit den einzelnen Prozessschritten bis hin zu Arbeitsmittel und -gegenstand reicht und somit auch eine Technologiebetrachtung zulässt. 2. Die Elemente des Arbeitssystems stellen die verbindenden Steuergrößen der Arbeitsfähigkeit dar: Das Arbeitssystem definiert die Anforderungen an die Personalführung, an die Arbeitsorganisation und das soziale Arbeitsumfeld aufseiten der Unternehmen sowie die Anforderungen an die Ressourcen (Gesundheit, Kompetenz, Werte) aufseiten der Arbeitsperson(en). Mit dem integrativen Modell ist somit eine Betrachtung der Arbeitsfähigkeit in produzierenden Unternehmen möglich, die mittels des Arbeitssystems eine Verbindung zwischen den Charakteristika der Arbeit und den Ressourcen der Arbeitsperson schafft und darüber explizit die Betrachtung von Prozessen und Technologien integriert. Der generische Anspruch an das Modell lässt zudem eine Betrachtung auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad zu. Das dargestellte Modell diente somit im weiteren Verlauf des Projektes dazu, ganzheitliche Ansätze zur Analyse und Entwicklung der Arbeitsfähigkeit abzuleiten und diese aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Literatur Alioth, A. (1980): Entwicklung und Einführung alternativer Arbeitsformen. Bern/Stuttgart/ Wien: Huber. Bamforth, K. W. und Trist, E.L. (1951): Some Social and Psychological Consequences of the Longwall Method of Coal-Getting: An Examination of the Psycological Situation and Defences of a Work Group in Relation to the Social Structure and Technological Content of the Work System. SAGE Publications; auch online unter: http://hum.sagepub.com Bernien, M. (1997): Anforderungen an eine qualitative und quantitative Darstellung der beruflichen Kompetenz-entwicklung. In: Arbeitsgemeinschaft Qualifikations-Entwicklungs-Management Berlin (Hrsg.): Kompetenzentwicklung ´97: Berufliche Weiterbildung in der Transformation – Fakten und Visionen. Berlin: Waxmann Verlag, S. 17–83.

38

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Clausen, U. und Buchholz, P. (Hrsg.) (2009): Buchholz Große Netze der Logistik. Berlin: Springer. Erpenbeck, J. und Heyse, V. (1996): Berufliche Weiterbildung und berufliche Kompetenzentwicklung. In: Arbeitsgemeinschaft QUEM (Hrsg.): Kompetenzentwicklung ´96: Strukturwandel und Trends in der betrieblichen Weiterbildung. Münster/New York, S. 15–124 Erpenbeck, J. und Heyse, V. (2007): Die Kompetenzbiographie. Strategien der Kompetenzentwicklung durch selbstgesteuertes Lernen und multimediale Kommunikation. Münster u.a..: Waxmann Verlag. Hecklau, F. (2014): Modell zur Steigerung der Energieeffizienz in produzierenden Unternehmen. Masterarbeit, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Holler, M. und Trischler, F. (2010): Einflussfaktoren auf die Arbeitsfähigkeit  – Der Einfluss belastender Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit bis zum Rentenalter. Projekt „Gute Erwerbsbiographien“ der Hans Böckler Stiftung und des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie (INIFES). Stadtbergen: INIFES. Zuletzt abgerufen: 01.2019 unter https://www.boeckler.de/pdf_fof/95617.pdf. Hoß, K., Pomorin, N., Reifferscheid, A., Wasern, J. (2013): Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – Version 1.0. Hrsg. vom Institut für Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft (IBES), Ausgabe 200, April 2013. Essen: Universität Duisburg-Essen. Zuletzt abgerufen: 01.2019 unter https://www.econstor.eu/obitstream/10419/75280/1/746886764.pdf. Ilmarinen, J. und Tempel, J. (2002): Arbeitsfähigkeit 2010, Was können wir tun, damit Sie gesund bleiben?, Hamburg. Ilmarinen J. und Tuomi K. (2004): Past present and future of work ability. In: Ilmarinen J & Lehtinen S. Past present and Future of Work Ability – People and Work Research Report 65, Finnish Institute of Occupational Health, Helsinki. Johannsen, G. (1993): Gestaltung der Mensch-Maschine Funktionsteilung In: Mensch-Maschine-Systeme. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. Kauffeld, S. (2002): Das Kasseler- Kompetenz-Raster (KKR) – ein Beitrag zur Kompetenzmessung. In: Clement, Ute/Arnold, Rolf (Hrsg.): Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung. Hemsbach: Leske + Budrich, Opladen, S. 131- 151. Knassmüller, M. (2005): Unternehmensleitbilder im Vergleich – Sinn und Bedeutungsrahmen deutschsprachiger Unternehmensleitbilder – Versuch einer empirischen (Re) konstruktion, In: Forschungsergebnisse der Wirtschaftsuniversität Wien, Frankfurt/ Main, Berlin, Bern, Wien: Lang. Kruse, A. und Wahl, H.-W. (2010): Zukunft Altern – individuelle und gesellschaftliche Weichenstellungen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Kunze, M. (2008): Wertemanagementsysteme als Instrumente der Unternehmensethik. In: Unternehmensethik und Wertemanagement in Familien- und Mittelstandsunternehmen. Wiesbaden: Gabler Ludwig, B. (2015): Planbasierte Mensch-Maschine-Interaktion in multimodalen Assistenzsystemen. Wiesbaden: Springer Vieweg. Mietzel, G. (2014): Erfolgreich altern – Strategien für ein aktives und zufriedenes Älterwerden. Göttingen: Hogrefe. Morschhäuser, M., Ertel, M., Lenhardt, U. (2010): Psychische Arbeitsbelastungen in Deutschland: Schwerpunkte – Trends – betriebliche Umgangsweisen. In: WSI-Mitteilungen, Jahrgang 63 (2010), Heft 7, Seite 335 – 342

Die Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

39

Oesterreich, R. (1999): Konzepte zu Arbeitsbedingungen und Gesundheit – Fünf Erklärungsmodelle im Vergleich. In: R. Oesterreich & W. Volpert (Hrsg.), Psychologie gesundheitsgerechter Arbeitsbedingungen (S. 141–215). Schriften zur Arbeitspsychologie, Band 59. Bern: Huber. Ott, B. (1998): Ganzheitliche Berufsbildung als Leitziel beruflichen Fachdidaktik. In B. Bonz, & B. (. Ott, Fachdidaktik des beruflichen Lernens (S. 9–30). Stuttgart: Franz Steiner Verlag. REFA (1993): Methodenlehre der Betriebsorganisation: Grundlagen der Arbeitsgestaltung, München. REFA (2002): Ausgewählte Methoden zur prozessorientierten Arbeitsorganisation. Darmstadt: REFA-Sonderdruck. Rimser, M. (2014): Generation Resource Management. Wiesbaden: Springer Gabler. Schenk, M. (Hrsg.) (2015): Produktion und Logistik mit Zukunft: digital engineering and operation. Berlin: Springer. Schenk, M. (Hrsg.) (2014): Fabrikplanung und Fabrikbetrieb : Methoden für die wandlungsfähige, vernetzte und ressourceneffiziente Fabrik. Heidelberg: Springer-Vieweg. Schlick, C., Bruder, R., Luczak, H. (Hrsg.) (2010): Arbeitswissenschaft, Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. Schlick, C., Bruder, R., Luczak, H. (Hrsg.) (2018): Arbeitswissenschaft, Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. Schramm, M. (2006): Der Preis der Werte – Wirtschaftsethische Notizen, In: AMOS, 4/2006, Dortmund 2006, S. 11–18. Susman, G. (1976): Autonomy at work: A sociotechnical analysis of participative management. New York: Praeger. Sydow, J. (1985): Der soziotechnische Ansatz der Arbeits- und Organisationsgestaltung: Darstellung, Kritik, Weiterentwicklung, Campus Verlag, Frankfurt am Main. Tempel, J. und Ilmarinen, J. (2015). Arbeitsleben 2025: das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen (2. unveränd. Aufl). Hamburg: VSA. Tuomi, K. und Ilmarinen, J. (1999): Work, lifestyle, health, and work ability among aging municipal workers in 1981–1992. In J. Ilmarinen & W. Louhevaara (Hrsg.), FinnAge – Respect for the aging: Action programme to promote health, work ability, and well-being of aging workers in 1990–96 (S. 220–232). Helsinki: Finnish Institute of Occupational Health. Tuppinger, J. (2013): Wissensorientierter Organisationswandel: Ein Ansatz zur Veränderung von Struktur und Kultur. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Treier, M. (2016): Betriebliches Arbeitsfähigkeitsmanagement – Mehr als nur Gesundheitsförderung. Wiesbaden: Springer-Verlag Trist, E. (1981): The evolution of socio-technical systems. A conceptual framework and an Action Research Program [Occasional Paper] Toronto, ON: Ontario Quality of Working Life Centre. Ulich, E. (2011): Arbeitspsychologie (7., neu überarb. u. erw. Aufl). Zürich: vdf Hochschulverlag AG. Ulich, E. (2013): Arbeitssysteme als Soziotechnische Systeme – eine Erinnerung. Journal Psychologie des Alltagshandelns, 6(1), 4–12. van Bertalanffy, L. (1950): An Outline of General System Theory, British Journal for the Philosophy of Science 1, p. 114–129.

40

Paul Bittner und Stefanie Samtleben

Wandke, H. (2010): The many faces of human operators in process control: a framework of analogies. Theor. Issues in Ergonomics Sci. WHO (1946): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation, Stand: 08. Mai 2014, New York. Wieland, J. (2005): Ethik der Governance, 4. Aufl., Marburg 2005.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben – eine qualitative Untersuchung Silke Stopper1

Zusammenfassung

Um Digitalisierung in Unternehmen nachhaltig zu verankern, genügt es nicht, lediglich die technologische Infrastruktur entsprechend zu gestalten. Auch die von Digitalisierungsmaßnahmen Betroffenen müssen als Träger und Gestalter von Digitalisierungsprozessen verstanden und in das unternehmerische Handeln einbezogen werden. Welche erhofften, befürchteten oder bereits eingetretenen Auswirkungen digitalisierte Produktionsbedingungen auf die menschliche Arbeit haben, wurde am Beispiel zweier produzierender Unternehmen untersucht. Die Basis der Untersuchung bildeten Gruppeninterviews mit verschiedenen Beschäftigtengruppen zur Arbeitsfähigkeit von Produktionsmitarbeitern. Es wurde ersichtlich, dass Digitalisierung als ambivalenter Prozess erfahren wird, der durch arbeitsgestalterische Maßnahmen in seinen negativen Folgen abgemildert und, noch wichtiger, in seinen positiven Folgen nicht nur Arbeitsbedingungen verbessern, sondern auch die Motivation und Arbeitsfreude von Mitarbeitern steigern kann.

1

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_4

41

42

1

Silke Stopper

Einleitung – die Vorteile einer qualitativen Untersuchung im Kontext der Arbeit

Nachdem die Theorie soziotechnischer Systeme zunächst im Rahmen von Kapitel  3 spezifiziert wurde, indem diese in Verbindung mit den Konzepten der Arbeitsfähigkeit und des Arbeitssystems gesetzt wurde, wurde dieser Ansatz im nächsten Schritt empirisch nutzbar gemacht2. Dazu wurde zunächst in den zwei beteiligten Unternehmen eine qualitative Untersuchung durchgeführt, mit der der Frage nachgegangen wurde, wie sich die Digitalisierung auf die in der Produktion Beschäftigten auswirkt (Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Bezieht man die Theorie soziotechnischer Systeme und das Konzept der Arbeitsfähigkeit aufeinander wird deutlich, dass Digitalisierung und Automatisierung keinesfalls Selbstläufer sind und letztendlich immer in soziales, also von individuellen Interessen, Fähigkeiten und Einflussmöglichkeiten geleitetes, Handeln eingebettet sind. Dessen ungeachtet bezog sich die initiale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Industrie 4.0 vor allem auf technologische Optimierungsbestrebungen und möglichst flexibilisierte Verfahrensabläufe. In dessen Zentrum stehen vor allem optimierte Produktions- und Kommunikationsabläufe, die darauf abzielen, durch die Normierung und Standardisierung technischer Abläufe effizientere Produktionsergebnisse zu sichern, individuelle Fehler 2

Vgl. Tempel, J. & Ilmarinen, J.: 2015, Vgl. REFA: 2002.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

43

weitest möglich auszuschließen und menschliche Ressourcen möglichst umfassend und effektiv in Prozesse zu integrieren. Diesbezüglich liegt das Interesse in Bezug für Industrie 4.0 also vor allem in Fragen danach, wie sich durch zunehmende Digitalisierung die Produktionsabläufe, z. B. in Form von Assistenzsystemen, voll roboterisierter Fertigungsanlagen, automatisierter Zuweisung von Aufgaben oder optimierten Organisationsprozessen, individuelle Leistungsressourcen bestmöglich nutzen lassen3. Untersuchungen, vor allem arbeitspsychologischer Art, die sich mit den Auswirkungen technischer Entwicklungen auf die menschliche Arbeit befassen, zielen letzten Endes darauf ab, eine Passung zwischen vorhandenen Produktionsbedingungen und menschlicher Beanspruchung herzustellen. Hier geht es zuvörderst darum, die menschliche Arbeitskraft auf möglichst hohem Niveau stabil nutzbar zu halten. Besondere Aufmerksamkeit erfährt diesbezüglich seit einem Jahrzehnt die Gruppe der älteren Arbeitnehmer, da diese aufgrund des demografischen Wandels sowohl zu einer zahlenmäßig immer stärkeren als auch unverzichtbar werdenden Gruppe anwächst4. Was sowohl technische bzw. organisationale Prozess- als auch psychologische Arbeitsanalysen eint, ist, dass diese vor allem mittels hochstandardisierter, in quantitative Messzahlen überführbare, Methoden durchgeführt werden. In Bezug auf Produktionsabläufe erfolgt dies vor allem durch standardisierte Evaluationsmethoden und Prozessbeschreibungen, während psychologische Arbeitserfordernisse in der Regel durch den Einsatz psychometrischer Fragebögen erfasst werden. Von Letzterem ist eine Vielzahl für verschiedenste Branchen, Problemlagen, Altersgruppen usw. verfügbar. So zählt alleine die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) über 90 Verfahren auf, mit denen sich psychische Belastungen am Arbeitsplatz messen lassen5. Teilweise enthalten diese Verfahren auch mündliche Befragungen, wobei diese allerdings sehr spezifizierte und hoch standardisierte Fragestellungen aufweisen und somit kaum Möglichkeit bieten, interessante und wichtige Aspekte, die außerhalb der vorgegebenen Fragestellungen liegen, zu erfassen und eher einen Faktenwissen abfragenden Charakter aufweisen, als am Erleben und den Verarbeitungsstrategien der Befragten Interesse 3 4

5

Vgl. Schenk, M. (Hrsg.): 2015 und Kriegesmann, B. et al.: 2015. Exemplarisch auf dem Gebiet der Arbeitspsychologie können hier vor allem die wegweisenden Arbeiten von Winfried Hacker und Eberhard Ulich angeführt werden, welche wesentliche Anregungen zur Arbeitsgestaltung, z. B. durch vollständige Tätigkeitsaufgaben, geben. Vgl. Hacker, W.: 1984. Vgl. Hacker, W. & Sachse, P.: 2014. Vgl. Ulich, E.: 2011. Vgl. Richter, G.: 2010.

44

Silke Stopper

zu zeigen6. Demgegenüber führt die BAuA genau zwei qualitative Verfahren auf: „Detektor“ hat zum Ziel, über Einzelinterviews und Arbeitsplatzbeobachtungen Verbesserungen hinsichtlich der Arbeitsqualität in Betrieben herbeizuführen, wohingegen das „Bochumer Verfahren zur beteiligungsgestützten Belastungs- und Gefährdungsbeurteilung“ mittels regelmäßiger Gruppengespräche Mitarbeiter die Gefährdungen und Belastungen ihrer Arbeitssysteme/-bereiche einschätzen und praktische Lösungsvorschläge entwickeln lässt7. Für den Bereich der Prozessbeschreibungen spielen qualitative Untersuchungen ebenfalls, wenn überhaupt, eine äußerst marginale Rolle. Beispielhaft kann hier auf die Untersuchung von Kriegesmann et al. zur Innovationsfähigkeit von Unternehmen verwiesen werden, in welcher teilstrukturierte Experteninterviews durchgeführt wurden, diesen aber eine lediglich vorbereitende, vergewissernde und korrigierende Funktion für die breitenempirische Untersuchung zugeschrieben wird, ohne zu beschreiben, inwiefern die gewonnenen Ergebnisse dann tatsächlich zum Tragen kommen8. Dies ist nicht nur deshalb verwunderlich, weil es sowohl für Prozess- und Produktentwickler als auch für Arbeitspsychologen hoch interessant sein müsste, welche konkreten Aspekte in einem bestimmten Umfeld wie verarbeitet bzw. bewertet werden, sondern auch deshalb, weil sowohl den mit Prozessbeschreibungen als auch mit psychometrischen Tests verbundenen generellen Schwierigkeiten durch den Einsatz qualitativer Verfahren ein Stück weit begegnet werden kann. Neben der Unmöglichkeit, die genaue Beschaffenheit einer Situation eruieren bzw. vollständig beschreiben zu können, sind hier die von vornherein festgelegten Antwortmöglichkeiten, die fehlende Relation zu weiteren Erhebungszeiträumen und die fehlenden kausalen Zuordnungsmöglichkeiten zu nennen9. Gerade eine Fragestellung, die sich mit den Auswirkungen digitalisierter Produktionsbedingungen auf die menschliche Arbeit beschäftigt, wie es im Projekt „Prädikatsarbeit“ der Fall ist, bietet daher an, sich auch explorativ-erkundend ihrem Forschungsgegenstand zu widmen. Hier bietet sich die Möglichkeit, vorliegende Kausalzusammenhänge zu eruieren und Aussagen, die über korrelative Zusammenhänge hinausreichen, zu generieren. Ebenso ist es möglich, aus der Vielzahl der vorliegenden Mess- und Untersuchungsinstrumente jene auszuwählen 6 7 8 9

Vgl. Richter, G.: 2010. Zu den genannten Verfahren kommen dann noch diverse Persönlichkeitstests, Leistungstests oder Arbeitsplatzbeschreibungen, die ebenfalls zur Beurteilung von Arbeitstätigkeiten herangezogen werden können. Vgl. Richter, G.: 2010. Kriegesmann et al.: 2015. Vgl. Gläser J. & Laudel, G.: 2006 und Kuckartz: 2014.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

45

und weiterzuentwickeln, die auf die spezifische Situation von Mitarbeitern in den ausgewählten Betrieben abgestimmt sind.

2

Die qualitative Untersuchung – mit Gruppendiskussionen zum Kern der Sache

Als anwendungsorientiertem Forschungsprojekt standen im Projekt „Prädikatsarbeit“ zunächst die Erfahrungen, Interessen und Erwartungen der untersuchten Firmen an geeignete Produktionssysteme und arbeitsfördernde Maßnahmen im Mittelpunkt. Ein exploratives Vorgehen bietet die Möglichkeit, sowohl die spezifischen Erfahrungs- und Wissensbestände der Beschäftigten im Hinblick auf technischen Wandel in den Blick zu nehmen als auch deren Erwartungen, Hoffnungen und Ängste an derzeitige und künftige technische Veränderungen zu identifizieren. Ausgehend von den so gewonnenen Daten können dann zum einen bestehende Prozessabläufe analysiert werden und zum anderen unternehmensinterne Schwingungen, wie z. B. steigende Unzufriedenheit, arbeitsplatzbezogene Überund Unterforderungen usw., erkundet werden. Für die hier interessierende Fragestellung nach den Auswirkungen von Automatisierung und Digitalisierung auf Produktion und menschliche Arbeit bietet sich die Methode der Fokusgruppen an. Allgemein bedürfen Gruppendiskussionen eine möglichst hohe Kommunikationsbereitschaft der Befragten und Alltagsnähe des Berichteten. Über die Rekonstruktion von Wirklichkeitskonstruktionen hinaus, bieten Gruppeninterviews verbesserte Chancen, die bei qualitativen Erhebungen (meist)10 nicht vermeidbare Hierarchie zwischen Befrager und Befragtem sowie der künstlich hergestellten Gesprächssituation zu minimieren. Entscheidend dafür ist, dass der Austausch innerhalb der Gruppe als angenehm und locker erlebt wird und möglichst wenige hierarchische Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern bestehen. Besonders geeignet sind Gruppendiskussionen, um Prozesse aufzudecken, in denen bestimmte Handlungen und Themen zu besonderer Bedeutung gelangten und sowohl deren Sinn als auch deren (gemeinsame) Bearbeitung zu erschließen11. Gruppendiskussionen haben im Verlauf ihrer Geschichte, je nach Ausgestaltung und Schwerpunkt unterschiedlichste Bezeichnungen erhalten, beginnend von den durch Kurt Lewin begründeten Gruppenexperimenten über Fokusgruppen und

10 Eine Ausnahme kann hier die nicht teilnehmende Beobachtung bilden. 11 Vgl. Kühn, T. & Koschel K.-V.: 2011.

46

Silke Stopper

Delphi-Methode bis zum Gruppeninterview12. Bei Letzteren stehen schwerpunktmäßig allerdings weniger die Konstitutionsprozesse kollektiver Orientierungen im Mittelpunkt, als vielmehr die Möglichkeit einer effizienteren Erhebung von Einzelberichten. Fokusgruppen hingegen sind durch einen Moderator angeleitete Gruppendiskussionen über ein festgelegtes Thema, welches durch einen Input seitens des Moderators, z. B. in Form eines Bildes, eingeleitet werden kann13. Für ein Forschungsprojekt wie „Prädikatsarbeit“, welches sich mit der Entstehung, Verarbeitung und den Verbesserungsmöglichkeiten arbeitsplatzbezogener Verhältnisse und arbeitsplatzbezogenen Verhaltens befasst, bieten Fokusgruppen die Möglichkeit, gemeinsam geteilte Werte, Überzeugungen, Verarbeitungsstrategien, Erwartungen und Ängste sowie Differenzen bzw. Konflikte bezüglich der vorhandenen Arbeitsplatzsituation zu erheben sowie konkrete Situationen zu ermitteln, die ausschlaggebend für bestimmte technische und soziale innerbetriebliche Entwicklungen waren und sind. Diese Vorteile der Fokusgruppe wurden genutzt, um in den untersuchten Unternehmen das Management sowie Produktions- und Montagemitarbeiter zu den infrage stehenden Aspekten zu befragen. Allerding schien es forschungstechnisch nicht immer möglich, Gruppen mit der gerne empfohlenen Gruppengröße von ca. acht Teilnehmern zusammenzustellen14. Bei kleineren mittelständischen Unternehmen umfasst das gesamte Management oft nur zwei bis drei Personen und die Befragung einer Produktionsgruppe von fünf bis zehn Produktionsmitarbeitern würde zu einer Unterbrechung der Abläufe mit in der Folge unverhältnismäßig hohen Produktionsausfällen führen. Um sowohl den forschungsbedingten als auch den betrieblichen Interessen Rechnung zu tragen, war es notwendig, die Größe der Gruppen in kleinen Unternehmen auf zwei bis drei Teilnehmer zu beschränken und dieser Erhebungsform den Namen „Mini-Fokusgruppe“ zu geben. Angewendet wurde diese Erhebungsform ebenfalls bei allen Managementgruppen. Befragt wurden insgesamt sieben Gruppen, wovon drei Gruppen aus einem kleinen Unternehmen mit ca. 50 Beschäftigten und vier Gruppen aus einem mittleren Unternehmen mit ca. 1500 Beschäftigten generiert werden konnten. Diese wiederum teilten sich in zwei Managementgruppen, eine Meister- und vier Arbeitergruppen auf. Dabei erreichten drei Beschäftigtengruppen aus dem mittleren Unternehmen eine über die für Mini-Fokusgruppen definierte Gruppengröße von zwei bzw. drei Personen, nämlich zwischen sechs und acht Teilnehmer. Die 12 Vgl. Morgan, D.: 1997. Vgl. Lück, H. E.: 2001. Vgl. Mäder, S.: 2013. Vgl. Häder, M.: 2014. 13 Vgl. Mäder, S.: 2013 und Häder, M.: 2014. 14 Vgl. Kühn, T. & Koschel, K.-V.: 2011, S. 86.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

47

Teilnehmer wurden von Vorgesetzten zur Teilnahme an den Gruppeninterviews gebeten. Problematisch erwies sich zu Beginn, die Vorgesetzten von der Durchführbarkeit offener Interviews zu überzeugen, da Bedenken bezüglich der Verschwiegenheit bezogen auf Firmengeheimnissen sowie der Verletzung des Datenschutzes bestanden. Im Falle des mittleren Unternehmens konnte diesen Bedenken durch eine Vorgehenserläuterung gegenüber dem Betriebsrat, der Fachkraft für Arbeitssicherheit sowie der Personalleitung erörtert und weitestgehend beseitigt werden, aufseiten des kleinen Unternehmens erwies sich die Vorstellung des Vorhabens in gemeinsamen Projekttreffen als ausreichend. Die Durchführung der Interviews erfolgte in den jeweiligen Betrieben. Mit besonderer Spannung wurde dabei den Arbeiterinterviews entgegengesehen, da im Vorfeld sowohl einige Mitarbeiter der wissenschaftlichen Projektpartner als auch die Führungskräfte Bedenken bezüglich der Antwortbereitschaft der Befragten hatten, da diese eher als maulfaul angesehen wurden15. Diese Befürchtungen kamen allerdings nur in einer Gruppe zum tragen, wobei diesbezüglich eher sprachliche Barrieren (verschiedene Nationalitäten und Dialekte) als mangelnde Ausdrucksfähigkeit als Grund für die relativ kurze Interviewdauer von 45 Minuten angesehen werden können. Begonnen wurden die Interviews mit einem kurzen Video, welches über die Hintergründe der Digitalisierung in der Produktion aufklärte. Befragt wurden die Gruppen im Anschluss entlang eines teilstrukturierten Interviewleitfadens. Bei der Konstruktion des Leitfadens wurden alle vier Gestaltungsbereiche der Arbeitsfähigkeit16 – Gesundheit, Kompetenzen, Werte und Einstellungen sowie Arbeitsinhalt und -organisation – unter besonderer Berücksichtigung der Einführung und des Einsatzes digitaler Technologien einbezogen. Die Auswertung erfolgt mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse17.

3

Erste Erkenntnisse – Chancen und Risiken

Die im Projekt untersuchten Aufträge umfassen die Produktion und Montage unterschiedlicher Geräte(teile) samt deren Inbetriebnahme und Wartung. Die Aufträge und Instruktionen für die einzelnen Arbeitsplätze befinden sich auf Print-Arbeitsbegleitkarten, auf welchen auch die benötigten Zeitvorgaben verzeichnet sind 15 Siehe hierzu auch die prominenten Studien von Basil Bernstein zum Sprachgebrauch. Vgl. Bernstein, B.: 1980. 16 Vgl. Tempel, J. & Ilmarinen, J.: 2015. 17 Vgl. Kuckartz, U.: 2014.

48

Silke Stopper

(Akkord), beide befragten Unternehmen streben die Umstellung auf digitale Arbeitsbegleitkarten an, teilweise läuft diese Umstellung bereits dahingehend, dass die Arbeitsperson die Produktionsdaten direkt vom PC in die Fertigungsmaschinen einpflegt und Maschinen, die zuvor durch das ERP-System generierten Auftragsdaten entsprechend der auf den Arbeitsbegleitkarten vorhandenen Instruktionen verarbeiten, und im weiteren Verlauf neue Prozessdaten generieren. Dies führt zunächst dazu, dass die Produktionsmitarbeiter vermehrt anpassende und überwachende Aufgaben an den Maschinen übernehmen, indem eingepflegte Programmdaten nochmals direkt an der jeweiligen Maschine auf Korrektheit hin geprüft werden. Daneben erfordert die vollständige und akkurate Erfassung von Informationen aus den Arbeitsbegleitkarten die bedingungslose Ausrichtung der Arbeitstätigkeit an den vorhandenen Vorgaben aufseiten der Arbeitnehmer und ermöglicht gleichzeitig immer akkuratere Kontroll- und Zugriffsmöglichkeiten auf dieselben. Dieser Entwicklung zu vermehrter Automation und Kontrolle sehen Arbeitgeber und -nehmer mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen entgegen, die sich aus der individuellen Wahrnehmung vorhandener Chancen und Risiken ergibt. Chancen werden aufseiten der Arbeiter zunächst in einer vermehrten Unabhängigkeit von organisationalen Strukturen gesehen: Informationen, etwa über anstehende Arbeitsaufträge oder auch Lösungsmöglichkeiten bei auftretenden technischen Problemen, können via Inter- und/oder Intranet schnell und unkompliziert bezogen werden, da zum einen nicht erst ein Vorgesetzter befragt und zum anderen der Arbeitsplatz nicht verlassen werden muss. Die befragten Produktionsmitarbeiter erhoffen sich hiervon eine „Unabhängigkeit von Büro und Schreibtisch“, welche darin mündet, dass sich Mitarbeiter über das eigenständige und selbstgesteuerte Beschaffen von Informationen arbeitsplatzspezifische Kenntnisse aneignen, die sie nicht unbedingt explizit darstellen oder weitergeben lassen und die deshalb zumindest in Teilen als „implizites Wissen“18 für andere Organisationsmitglieder nicht ohne Weiteres abrufbar sind. Ebenso erwarten die Mitarbeiter auch eine Anhebung ihres individuellen Kompetenzniveaus durch Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung sowie der Weiterentwicklung technischer Produktions- und Kommunikationsmittel. Insbesondere die Möglichkeit der direkten Einflussnahme von Kunden und die unmittelbare Umsetzung individueller Wünsche im Produktionsprozess stellen aus Sicht der Befragten den Motor dar, der eine Erweiterung der Aufgaben- und Qualifikationsbereiche von Produktionsmitarbeitern bewirken wird. 18 Polanyi: 1966.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

49

Da sich Mitarbeiter durch die erworbene Expertise in fachlicher Hinsicht als mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar als überlegen, im Vergleich zu ihren Vorgesetzten ansehen, erwarten sie dann eine Anerkennung der erworbenen Kompetenzen dahingehend, vermehrte Einflussnahme auf arbeitsplatzbezogene Entscheidungen, also Produktionsabläufe und Ausstattung, nehmen zu können. Schließlich bergen digitale Technologien Innovationspotenziale, da die entsprechenden Entwicklungen und damit verbundenen Neuerungen Herausforderung darstellen und Faszination ausüben können. Angespornt durch die nun mögliche Vielfalt der Produkte, Kommunikations- und Informationswege bei vorhandenem Know-how versprechen sich Mitarbeiter Neues zu entdecken und vorhandene Technologien weiterentwickeln zu können. Diesen, in ökonomischer und individueller Hinsicht, durchaus funktionalen Effekten zunehmender Digitalisierung, stehen verschiedene dysfunktionale Effekte gegenüber. Als Pendant zu der beschriebenen Unabhängigkeit ortsgebundenen Wissens- und Kompetenzerwerbes wird, erstens, eine zunehmende Fremdbestimmung der eigenen Arbeit durch digitale Technologien beschrieben. Diese äußert sich nicht nur in der Sorge um den Weiterbestand vorhandener Arbeitsplätze, sondern auch, wie es in einem Interview treffend ausgedrückt wurde, in „digitaler Vergesslichkeit“. Die Folgsamkeit der Menschen gegenüber Computervorgaben, die durch sekundengenaue Taktung und detaillierte Beschreibungen der Arbeitsschritte das Arbeitshandeln bestimmen, droht Eigenständigkeit und eigene Denkanstrengungen im Keim zu ersticken. Diese Folgsamkeit gegenüber digitalen Anforderungen steht diametral jenen Anforderungen entgegen, welche digitale Technologien ebenso von Mitarbeitern fordern, nämlich die digitalen Systeme mit wesentlichen Informationen zu versorgen. So darf, bei aller Folgsamkeit, keinesfalls vergessen werden, die entsprechenden Systeme zu warten und deren Informationsstand auf dessen Konsistenz hin zu überprüfen. Beispielhaft wurde hier immer wieder der digitale Werkzeugschrank benannt, dessen Bestand allerdings hochgradig vom zuverlässigen und korrekten Umgang, der damit Betrauten abhängig ist und eben keine Vergesslichkeit, etwa bei der korrekten Durchführung einer Entnahme, duldet. Auch schnell wechselnde Aufgaben und Informationen stellen hohe kognitive Anforderungen an die Produktionsmitarbeiter und stehen dem auf pure Anpassung und Vorgabenerfüllung angelegten digitalen Kontrollregime moderner Zeit- und Prozesserfassungssysteme diametral entgegen. Insbesondere wenn ein Bauteil oder eine Maschine zig-mal gleich hergestellt wurde, kann eine kleine Abweichung in Größe, Form oder Belag leicht übersehen werden, was den Beschäftigten hohe Konzentrationsleistungen abfordert. Die Ambivalenz zwischen Folgsamkeit und Aufmerksamkeit dahingehend, dass auf der einen Seite eigene Denkanstrengungen möglichst unterlassen werden sollen und im nächsten

50

Silke Stopper

Moment wieder unabdingbar sind, kann dann zu Konzentrationsstörungen, Angst vor Fehlern und in der Folge zu tatsächlichen Fehlern führen. Eine weitere Quelle psychischer Fehlbeanspruchungen findet sich, zweitens, in den Möglichkeiten des sekundengenauen Trackings, also der Nachverfolgbarkeit der getätigten Arbeitsschritte, welches vornehmlich über ERP-Systeme19 bewerkstelligt wird. Der „gläserne Mitarbeiter“ dessen Arbeitsabläufe mittels digitaler Technologien genauestens im Vorfeld festgelegt, während der Durchführung beobachtet und noch weit nach der Durchführung nachvollzogen werden können, wurde in den Interviews allgemein als Fixpunkt arbeitsorganisatorischer Maßnahmen beschrieben. Aufseiten der Führung wird dieser eher positiv konnotiert, da den digitalen Technologien die Herstellung von Transparenz zugesprochen wird, welche den Mitarbeiter unabhängig von persönlichen Leistungsbeurteilungen mache. So sind es nun nicht mehr die Vorgesetzten, die den Mitarbeiter motivieren, loben oder tadeln müssen, sondern (scheinbar)20 neutrale Maschinen geben den Mitarbeitern ein klares Feedback über deren Arbeitsleistung. Allerdings wird hier nicht nur seitens der Vorgesetzten Verantwortung an Technologie abgegeben, sondern auch die Mitarbeiter verlegen ihre Verantwortlichkeiten in den vorgegebenen Rahmen. Beispielsweise wurde bezüglich der Einführung von ERP-Systemen berichtet, dass vormals als selbstverständlich angesehene arbeitsvorbereitende Arbeiten (Warmlaufen von Maschinen), die außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit geleistet wurden, nun in den vorgegebenen Zeitrahmen verlegt werden und auf informellen Erfahrungsaustausch, der ebenfalls außerhalb der Arbeitszeit stattfand, zunehmend verzichtet wird. Daneben werden entsprechende Kontrollmöglichkeiten seitens der Mitarbeiter nicht nur zum Teil als willkürlich festgelegt und intransparent wahrgenommen, sondern auch als Misstrauen der Führung in die eigene Arbeitskraft gedeutet und als gleichsam konstanter wie unausweichlicher Druck erlebt. Diesem sehen sich die Produktionsmitarbeiter immer weniger gewachsen und berichten über zunehmende Burn-out-Symptomatiken21. Neben den Risiken der digitalen Vergesslichkeit und der Überkontrolle wird, drittens, auf die mangelnde Fehlertoleranz automatisierter Arbeitsgestaltung verwiesen, da diese von einem störungsfreien Ablauf, also einer reibungslos funktio19 Mit Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Systemen sollen sämtliche digitalisierte Abläufe eines Unternehmens sowohl abgebildet als auch betrieben werden können (Stopper, von Garrel, Bittner, & Mühlfelder, 2017) 20 Natürlich stammen auch digitale Arbeitsvorgaben letztendlich von Menschen – immer wieder wurde in den Interviews beispielsweise auf die als willkürlich erlebte Festlegung von Akkordzeiten verwiesen. 21 Genauer betrachtet weist die Untersuchung auf Folgen auf allen drei Burn-out-Komponenten hin, die jeweils individuell variieren.

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

51

nierenden Mensch-Maschine-Schnittstelle, ausgeht. Hier wird Produktionsplanern vorgeworfen, realitätsfern zu planen, weil von einem weitgehend störungsfreien Produktionsablauf ausgegangen wird, was gleichsam eine Beschränkung des Arbeits- und Einflussbereiches von Produktionsmitarbeitern auf die jeweilige Mensch-Maschine-Schnittstelle darstellt. Dem gegenüber stehen aber eine Fülle technischer und sozialer Störungen im Arbeitsprozess, auf welche der betroffene Produktionsmitarbeiter kaum Einfluss nehmen kann. Bei technischen Störungen, wie beispielsweise einem Maschinenausfall, müssen Mitarbeiter einen Vorgesetzten informieren, der unter Umständen entsprechende Anpassungen vornimmt, was aber immer mit einer Zeitverzögerung verbunden ist, welche im Nachhinein in die ERP-Vorgaben eingespeist werden muss und wiederum einen kommunikativen und zeitlichen Mehraufwand von Mitarbeitern und Vorgesetzten erfordert. Berichtet wurde hier auch, dass sich Mitarbeiter wie „Bittsteller“ vorkommen und auf entsprechende Anpassungen der Zeiterfassung verzichten, was sie aber dann in einem Gefühl des ungerecht behandelt worden zu sein, zurücklässt. Daneben wird auch über die oft mangelhafte bzw. überhaupt nicht vorhandene Verknüpfung verschiedener Programme berichtet, welche von den am Arbeitsprozess Beteiligten immer wieder die Nachjustierung vormals getroffener Entscheidungen bzw. Prozessschritte erfordert. Auf der sozialen Ebene können Änderungen im Produktionsablauf, etwa durch eingehende Kundenwünsche bei der Produktionsleitung, zu schnellen Aufgabenwechseln aufseiten der Mitarbeiter und zu Unklarheiten, wer für welche Entscheidung zuständig ist, führen. Wie bei auftretenden technischen Schwierigkeiten scheinen auch bei neuen Aufgaben Entscheidungswege nicht immer transparent, was die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen erschwert und bei Mitarbeitern in eine Mischung aus Argwohn gegenüber den Entscheidungsträgern und einem gewissen Fatalismus münden kann. Dies äußert sich dann darin, dass sich Mitarbeiter auf einen „Dienst nach Vorschrift“ zurückziehen, allerdings nicht ohne ihre Unzufriedenheit verbal oder durch Mimik und/oder Gestik kundzutun. Schließlich, viertens, gehen die Investitionen für Kontrollsysteme zulasten der Erwägung von Möglichkeiten zur aktiven Unterstützung von Mitarbeitern, beispielsweise durch Assistenzsysteme. Diese werden nämlich in erster Linie in Verbindung mit Kontrolloptionen in Betracht gezogen und allenfalls dann, wenn ein genauestens getakteter und kontrollierbarer Produktionsablauf gewährleistet ist. Angesichts der doch offensichtlich hohen Risiken einer vorwiegend auf Kontrolle zielenden Digitalisierungsstrategie bleibt die Frage, warum sich Entscheider dies zumuten. Ein Erklärungsansatz kann das Bemühen um diejenigen sein, die im modernen Arbeitsleben nicht mitkommen können oder wollen. So konnten in den Interviews bei den Produktionsmitarbeitern zwei sehr unter-

52

Silke Stopper

schiedliche Digitalisierungstypen22 identifiziert werden, nämlich Digitalisierungsexperten und Digitalisierungsverweigerer, von denen sich jene, die die betriebliche Digitalisierungsstrategie festlegen, vor allem Letzteren widmen.

4

Die Mitarbeiter – Digitalisierungsexperten, -verweigerer und -macher

Die „Digitalisierungsexperten“ beschreiben sich selbst in den Interviews partizipationsfreudig, technikaffin und kompetent. Partizipationsfreudig bedeutet, dass Mitarbeiter ihre Ideen in Organisationsabläufe einbringen, zu Neuentwicklungen befragt werden und selbige mitgestalten wollen. Technikaffinität äußert sich in einer gewissen Begeisterungsfähigkeit für technologische Neuerungen, welche sich die Mitarbeiter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich zuschreiben. Direkt aus dieser Technikbegeisterung leiten die Mitarbeiter Kompetenzansprüche im Sinne fachlichen Sachverstandes ab. Sie wollen in ihrer Fachkompetenz ernst genommen werden, informieren sich auch außerhalb des Unternehmens über technologische Entwicklungen und geben an, einen sowohl kritischen als auch an der Sinnhaftigkeit orientierten Umgang mit digitalen Technologien pflegen zu können. Dabei fällt es ihnen zum Teil schwer, sich in andere Prozesse (z. B. Verwaltung oder Produktionssteuerung) einzudenken und erleben dies umgekehrt genauso. Während sich die Befragten durchweg der Gruppe der älteren Arbeitnehmer (>40, über zehn Jahre Betriebszugehörigkeit) zuordnen lassen und gerade ihre Erfahrung und Know-how als geeignetes Mittel zum erfolgreichen Umgang mit digitalen Technologien ansehen, verorten Leitungskräfte die „Digitalisierungsexperten“ eher im jüngeren und schwer zu rekrutierenden Alterssegment. Arbeitnehmer unter 30 Jahren, so eine in den Leitungsinterviews durchgehende Annahme, haben den Umgang mit digitalen Technologien quasi in die Wiege gelegt bekommen, wobei diese Expertise gewissen Einschränkungen unterliege. So hätten Jüngere ein unkritisches Verhältnis zu digitalen Technologien, was sich vor allem im Verzicht auf die Inanspruchnahme eigener Denkanstrengungen und einem nahezu ungehinderten Vertrauen in diese Technologien zeige. Dies schlage sich auch darin nieder, dass wenig digitalisierte Arbeitsplätze, die mit körperlicher und/oder kognitiver Eigenleistung verbunden sind, von diesen gemieden werden wie vom Teufel das Weihwasser. Von der Gruppe der „Digitalisierungsexperten“ lassen sich die „Digitalisierungsverweigerer“ unterscheiden. Diese wurden ausschließlich von den Leitungskräften 22 Kelle, U. & Kluge, S.: 2010

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

53

identifiziert und als wenig flexibel, manchmal störrisch, technikscheu und im „Alltagstrott“ verharrend beschrieben . Im betrieblichen Alltag ziehen sich diese Mitarbeiter zurück (was vermutlich auch ein Grund dafür ist, dass diese nicht in den befragten Arbeitergruppen zu finden waren) und vermeiden die Berührung mit neuen Anforderungen bzw . brauchen, wenn es dauerhaft nicht gelingt, diese zu umgehen, länger um mit diesen umzugehen . Diese technikscheuen Mitarbeiter wurden in den Interviews als Hauptzielgruppe arbeitsorganisatorischer Bemühungen seitens der Leitung beschrieben . Dabei wird, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits beschrieben, weniger auf qualifizierende denn auf kontrollierende Maßnahmen gesetzt, zu denen vor allem detaillierte Arbeitsbeschreibungen und -vorgaben inklusive genau vorgegebener Zeiten zählen . Diese Vorgaben gelten jedoch für alle Beschäftigten gleichermaßen, sodass entsprechende organisatorische Maßnahmen von den ursprünglich technikaffinen Mitarbeitern als Misstrauen in die eigene Arbeit oder Gängelei erlebt werden . Die betroffenen Mitarbeiter berichten dementsprechend über Frustrationen, permanente Unzufriedenheit mit ihrem Arbeitsalltag und das, ebenfalls bereits beschriebene, sich zurückziehen auf besagten „Dienst nach Vorschrift“ . Im Unterschied zu körperlichen Beschwerden, welche soweit als möglich ignoriert und, sofern dies nicht mehr möglich ist, in den Arbeitsalltag integriert werden (indem z . B . die Arbeitsposition bei Rückenbeschwerden kontinuierlich verändert wird) werden diese psychischen Beschwerden häufig depersonalisiert. Dies geschieht beispielsweise, indem betriebliche Anforderungen ignoriert werden, diesen mit Galgenhumor oder Fatalismus begegnet wird . In der Folge sehen sich Vorgesetzte mit zunehmenden Problematiken psychischer Fehlbelastungen konfrontiert, die sich als zusätzliche Anforderungen an ihre Arbeit, für die sie weder Ausbildung noch hinreichend Erfahrung mitbringen, manifestiert . Die Konfrontation mit psychischen Beschwerden und Erkrankungen der Mitarbeiter, etwa in Form von Depressionen, Burn-out oder Suchtmittelmissbrauch stellt eine nicht immer gut bewältigbare Aufgabe dar, die sich vor allem in der Vermittlung zwischen erlebtem Leistungsdruck sowie Frustrationen und den Ansprüchen der Führungsebenen an Leistungssteigerungen und Anpassung an digitale Vorgaben der Mitarbeiter niederschlägt . Möglichkeiten, den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, liegen dann zunächst in der Delegation der Bearbeitung psychischer Problemlagen an andere Berufsgruppen wie psychologische Dienste oder Sozialberatung . Darüber hinaus wurde auch der Aspekt des eigenen „Sich-kümmerns“ um die Mitarbeiter benannt, der in das eigene Berufsbild integriert wird . So sahen sich vor allem die Mitglieder der befragten Meistergruppe des größeren Unternehmens als Vertrauenspersonen an, die erster Ansprechpartner für die psychischen Belange ihrer Mitarbeiter sind und sich den verschiedenen

54

Silke Stopper

Problemlagen als Gesprächspartner und/oder Vermittler sowohl zwischen Leitung und Mitarbeiter als auch zu anderen Berufsgruppen zur Verfügung stellen. In kleineren Unternehmen hingegen, in welchen aufgrund der geringen Betriebsgröße diese Vermittlerfunktion durch die mittlere Führungsebene weitgehend entfällt, prallen hingegen die infolge zunehmender Digitalisierung sich verschärfenden psychischen Problemaspekte der Mitarbeiter mit den zunehmenden Ansprüchen an Leistungssteigerungen unmittelbar aufeinander. Hier wird die Be- und Verarbeitung psychischer Problemlagen zur direkten Managementaufgabe, wobei deren Auftreten eher als persönliches als organisationales Problem interpretiert wird. Insgesamt erscheint im Anschluss an die Interviews die unternehmensinterne Kommunikation über Digitalisierung von überragender Bedeutung für deren Umsetzung, weshalb das Thema „interne Unternehmeskommunikation“ im letzten Abschnitt hinsichtlich seiner arbeitsorganisatorischen Gestaltungspotenziale beleuchtet wird.

5

Das Fazit – Kommunikation und Kooperation als Schlüssel

Um sich der Treue ihres Gatten Zeus zu versichern, setzte, wenngleich letzten Endes erfolglos, bereits die Göttin Hera auf vollständige Überwachung und ließ ihren abtrünnigen Ehemann durch den Riesen Argus bewachen. Was in der griechischen Mythologie noch durch dessen 100 Augen bewerkstelligt wurde, scheint in der Moderne die Gestalt digitaler Kontroll- und Bewertungstechnologien angenommen zu haben. Anders jedoch als jener Argus, der einseitig Zeus bewachte, ermöglichen die modernen Technologien reziproke Überwachungsszenarien. Auf der einen Seite werden Arbeitnehmer einer zunehmenden Kontrolle und Lenkung zugeführt, auf der anderen Seite werden aber auch Vorgesetzte von ihren Mitarbeitern bezüglich ihrer fachlichen und sozialen Kompetenzen permanent beobachtet und bewertet. Dies führt zu zusätzlichen und nicht widerspruchsfreien Aufgabenerweiterungen für beide Gruppen. Arbeitnehmer sollen sich einerseits digitalen Vorgaben zu eigen machen und andererseits Flexibiliät zeigen, um Anforderungen an individualierte Produkte erfüllen zu können. Führungskräfte sollen Mitarbeiter zur Anpassung an veränderte Produktionsbedingungen anleiten, laufen aber im Angesicht zunehmender Wissenserwerbsmöglichkeiten von Mitarbeitern Gefahr, bezüglich ihrer fachlichen Kompetenzen hinterfragt und auch angezweifelt zu werden. Hinzu kommt, dass sich Vorgesetzte mit neuen Problematiken psychischer Fehlbelastungen ihrer Mitarbeiter konfrontiert sehen, mit

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

55

deren Umgang sie weder vertraut noch geschult sind. In beiden Fällen erscheint ein erster Schritt zu einem reibungsloseren Einsatz digitaler Technologien in betrieblich-kommunikativen Veränderungen zu liegen. Gerade stark hierarchische Führungsmodelle scheinen kaum geeignet, um die aufgezeigten Intra- und Interrollenkonflikte angemessen bearbeiten zu können. Zwar, so zeigen die Interviews, können vor allem mittlere Führungsebenen durchaus vermittelnde Funktionen einnehmen und beispielsweise positiv auf das psychische Befinden der Mitarbeiter einwirken, auch von diesen in fachlicher Hinsicht hochgradig anerkannt werden und gleichzeitig die Unternehmensziele verfolgen – sinnvoller erscheint es aber auf der Grundlage der vorgelegten Befunde, Führungsmodelle von vornherein an die sich verändernden Arbeitsbedingungen anzupassen. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass Arbeitsgruppen als Communities of Practice mit einem selbstgewählten Sprecher agieren, wobei diese Gruppen selbstständig und -tätig ihre Arbeitsaufgaben erledigen und in Prozesse der Arbeitsplanung und -gestaltung einbezogen sind. Die Führungsaufgaben der oberen und mittleren Ebenen würden sich von einer kontrollierenden zu einer kommunizierenden sowie qualifizierenden Schwerpunktsetzung verändern. Solch ein Konzept setzt allerdings mehrere Bedingungen voraus: • Die Leitungsebene gesteht ihren Mitarbeitern die entsprechenden Kompetenzen zu, was automatisch auch eine Abnahme der eigenen Kompetenzen etwa im Kontrollbereich bedeutet. • Die Gruppen sind miteinander verbunden, um sich gegenseitig zu beeinflussen und zu kontrollieren, um negative Effekte wie beispielsweise „Group-think“ zu verhindern23. • Kommunikation wird zunehmend zur Leitungsaufgabe: Dazu gehört beispielsweise auch ein offener und ehrlicher Umgang mit unerwünschten Nebeneffekten bei der Einführung neuer Technologien, Schaffung von Informationskanälen von „unten nach oben“, Überprüfung bestehender Kommunikationskanäle, um redundante Informationen zu vermeiden, Schaffung einer Betriebskultur, in welcher Informationen als Ressource und nicht als Druckmittel angesehen werden. Eine Möglichkeit dazu wäre, Workflows einer permanenten Neuanpassung zu unterziehen, indem beispielsweise verschiedene Ablaufalternativen systematisch erfasst und in Betracht bezogen werden. In Bezug auf die Gestaltung der Mensch-Mensch-Schnittstelle erscheinen klare Kommunikationsstrukturen und Zuständigkeiten ein probates Mittel, entstehende Unsicherheiten zu vermeiden. Mitarbeiter brauchen schnelle, transparente und unkomplizierte 23 Vgl. Janis, I. L.: 1982.

56

• •





Silke Stopper

Möglichkeiten, auftretenden Schwierigkeiten im Produktionsablauf zu begegnen und damit verbundene Zeitverluste mühelos ausgleichen zu können. Gesundheit wird integraler Bestandteil dieser Unternehmenskultur, wobei insbesondere für KMUs zugeschnittene Möglichkeiten des Gesundheitsmanagements entwickelt werden müssen. Digitalisierung kann und soll Mitarbeiter ent- und nicht belasten. Dazu ist vor der Einführung digitaler Technologien eine Prüfung der erwarteten positiven als auch negativen Folgen für Belegschaft und Betriebserfolg vorzunehmen. Beispielsweise können bei der Einführung digitaler Arbeitsbegleitkarten deren Motivationscharakter (beispielsweise durch positive Rückmeldungen mit Belohnungsmöglichkeiten etwa in zeitlicher oder materieller Hinsicht), deren Möglichkeiten, auf sich ändernde Aufgaben nicht nur schriftlich, sondern beispielsweise durch sich ändernde Farbgebung oder Hinweistöne aufmerksam zu machen und auch deren Möglichkeiten, die Handlungsspielräume der Mitarbeiter, beispielsweise im Falle technischer Störungen berücksichtigt werden. Qualifikation fördert sowohl fachliche als auch soziale Fähigkeiten: Dazu gehört, dass die Gruppenmitglieder sowohl in technologischer als auch in sozialer Hinsicht, beispielsweise im Bereich von Gruppeneffekten, Möglichkeiten der gesundheitlichen Prävention oder auch den sie betreffenden Verfahrensabläufen, in welche sie nicht direkt eingebunden sind, geschult werden. Für die als „Digitalisierungsverweigerer“ identifizierten Mitarbeiter sollten extra Schulungsangebote bereitgestellt werden, die an deren aktuellen Wissensstand anknüpfen und hochgradig motivierenden Charakter haben.

Grundsätzlich zeigten die Interviews, dass klare und stabile Verantwortlichkeiten, die fachliche und soziale Kompetenz sowie die Bereitschaft zur Mitarbeiterpartizipation seitens der Führungsverantwortlichen ausschlaggebend für die Wahrnehmung der Attraktivität des eigenen Arbeitsplatzes sind. Mitarbeiter, die über einen subjektiv attraktiven Arbeitsplatz verfügen, sehen den durch Digitalisierung gegebenen Möglichkeiten offen und motiviert entgegen, versprechen sich Chancen bezüglich der eigenen fachlichen Weiterentwicklung und sind bereit, entsprechende Änderungen engagiert umzusetzen. Die wahrgenommene Attraktivität des Arbeitsplatzes geht also einher mit der Bereitschaft zur Leistungs- und damit Effizienzsteigerung und wird daher zu einem kritischen Faktor bei der Einführung von und dem Umgang mit digitalen Technologien. Daher scheint eine Schlüsselfrage zur erfolgreichen Umsetzung von Industrie 4.0 zu sein: „Inwiefern können digitale Technologien körperliche und psychische Belastungen verringern und damit Arbeitsplätze attraktiver machen?“

Wie Produktionsmitarbeiter die Digitalisierung erleben …

57

Literatur Bernstein, B.: Studien zur sprachlichen Sozialisation: Internationale Studien zur pädagogischen Anthropologie. Düsseldorf. 1980 Gläser, J., & Laudel, G.: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse: als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. Wiesbaden. 2006 Hacker, W.: Psychologische Bewertung von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen: Ziele und Bewertungsmaßstäbe. Berlin. 1984 Hacker, W., & Sachse, P.: Allgemeine Arbeitspsychologie: psychische Regulation von Tätigkeiten. Göttingen. 2014 Häder, M.: Delphi-Befragungen: ein Arbeitsbuch. Wiesbaden. 2014 Janis, I. L.: Groupthink: psychological studies of policy decisions and fiascoes. Boston. 1982 Kelle, U. & Kluge, S.: Vom Einzelfall zum Typus: Fallvergleich und Fallkontrastierung in der Qualitativen Sozialforschung. Wiesbaden. 2010 Kriegesmann, B., Kley, T., Knickmeier, A., Altner, N. & Ottensmeier, B.: Innovationsfähigkeit 2020+: Ressourcen für kreative Kompetenz stärken. Bochum. 2015 Kuckartz, U.: Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim. 2014 Kühn, T. & Koschel, K.-V.: Gruppendiskussionen: Ein Praxis-Handbuch. Wiesbaden. 2011 Lück, H. E.: Kurt Lewin: eine Einführung in sein Werk. Weinheim. 2001 Mäder, S.: Die Gruppendiskussion als Evaluationsmethode: Entwicklungsgeschichte, Potenziale und Formen. Zeitschrift für Evaluation, 12(1), 2013, S. 23–51 Morgan, D.: Focus Groups as Qualitative Research. Thousand Oaks. 1997 Polanyi, M.: The tacit dimension. Chicago. 1966 REFA. Ausgewählte Methoden zur prozessorientierten Arbeitsorganisation. Darmstadt. 2002 Richter, G.: Toolbox Version 1.2 – Instrumente zur Erfassung psychischer Belastungen. Dortmund. 2010. PDF-Datei verfügbar unter: http://www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/F1965.pdf?__blob=publicationFile&v=6 Schenk, M. (Hrsg.): Produktion und Logistik mit Zukunft: digital engineering and operation. Berlin. 2015 Stopper, S., von Garrel, J., Bittner, P., & Mühlfelder, M.: Digitalisierung in der Produktion. In: S. Fernhochschule (Hrsg.): Digitalisierung in Wirtschaft und Wissenschaft, Wiesbaden, 2017, S. 27–36 Tempel, J., & Ilmarinen, J.: Arbeitsleben 2025: das Haus der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen bauen. Hamburg. 2015 Ulich, E.: Arbeitspsychologie. Zürich. 2011

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen – eine Wertstromanalyse Stefanie Samtleben1 und Denise Rose2

Zusammenfassung

Die Wertstrommethode ist ein beliebtes Mittel, um Produktionsprozesse zu analysieren und kontinuierlich zu verbessern. Die Methode selbst wurde bereits vielfach adaptiert, mal um Prozesse hinsichtlich ihrer Energieeffizienz zu bewerten, mal um die Informationsflüsse zu bewerten. Letzteres ist ein entscheidender Punkt für die Digitalisierung. Denn tatsächlich werden in erster Linie Informationsflüsse digitalisiert. Das klingt banal, ist es aber nicht. Viele Informationen liegen bereits digital vor, doch die Informationen sind häufig an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Software gebunden. Erst durch die Einführung von WLAN in der Produktion und zentrale Datenbanken können Informationen softwareunabhängig weiteren Prozessen zur Verfügung gestellt werden. Mithilfe der Wertstrom 4.0 Methode können Medienbrüche erkannt und Handlungsbedarfe abgeleitet werden. Diese Methode wurde auf einen Produktionsbereich des Liebherr-Werks Biberach angewandt. Hieraus wurden Verbesserungsvorschläge erarbeitet, vor dem Hintergrund die Arbeitsfähigkeit der Werker zu erhöhen. 1 2

Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und Automatisierung IFF, [email protected] Liebherr-Werk Biberach GmbH, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_5

59

60

1

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Einleitung – den Wertstrom analysieren

Wie Abbildung 1 verdeutlicht, ordnet sich dieses Kapitel in den Teil der Analyse ein. Der Wertstrom ist eine konkrete Methode, die vielfältig eingesetzt und adaptiert werden kann und im Forschungsprojekt die qualitative Analyse ergänzte.

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Das Produktionssystem ist Teil eines Unternehmens. Ein allgemeines Modell eines Unternehmens gibt Aufschluss darüber, welche Systeme darin vorhanden sind. Unterschieden wird dabei zwischen räumlichen Einheiten (Subsystemen) und Flusssystemen, die Elemente durch das System transportieren (Abbildung 2)3. Das Produktionssystem ist das Subsystem zur Güterherstellung, in dem wertschöpfende Produktionsprozesse stattfinden. Prozesse der Fertigungstechnik, aber auch das Montieren und die Lagerung werden dort durchgeführt. Zur genauen Beschreibung des Produktionssystems ist die Kenntnis über die dort ablaufenden Prozesse erforderlich. Weiterhin müssen Parameter zur Quantifizierung der Prozesse bekannt sein. Beispiele für Parameter sind die Nennleistung der Betriebsmittel, der Schichtplan, die Luftfeuchtigkeit und die Durchlaufzeit4.

3 4

Vgl. Schenk, M.: 2014, S. 123 Vgl. Hecklau, F.: 2014, S. 59

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen …

61

Abbildung 2 Unternehmensmodell5

Im Umfeld des Produktionssystems sollen zukünftig Arbeitskräfte durch Assis­ tenzsysteme unterstützt und entlastet werden. „Die Assistenzsysteme werden sich dabei den Arbeitsraum gemeinsam mit den Menschen teilen und mit einer einfachen Benutzerschnittstelle ausgestattet sein.“6 Produktion- und Assistenzsysteme werden zukünftig über eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verfügen müssen, um neue Anwendungsbereiche erschließen zu können7. Doch wie können diese Anwendungsbereiche identifiziert und bewertet werden? Bezugnehmend auf Abbildung 2 • Quantitative Methoden, die durch Befragungen allgemeine Aussagen ableiten; • qualitative Methoden, die die persönliche Stimmung von Mitarbeitergruppen aufnehmen und konkrete Probleme aufzeigen können und • systematische Analysen wie die Wertstrommethode.

5 6 7

Nach Hecklau F.: 2014, S. 78 Vgl. Schenk, M.: 2015, S. 52 Vgl. Schenk, M.: 2015, S. 52

62

2

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Die Wertstrommethode – auch für Digitalisierungsfragestellungen geeignet

Die Wertstrommethode gilt als transparentes und einfaches Werkzeug zur Prozessoptimierung, Verschwendungsaufdeckung und -vermeidung im Arbeitssystem. Durch ein Produktionssystem wird der Wertstrom dargestellt, analysiert und optimiert. Sowohl die direkt produzierenden als auch die logistischen und indirekten Tätigkeiten werden dem Wertstrom zugeordnet. Ein Prozess ist dann wertschöpfend, wenn die Eigenschaft der Materialveränderung eine Werterhöhung aus Kundensicht zur Folge hat. Im Wesentlichen setzt sich die Wertstrommethode aus der Wertstromanalyse und dem Wertstromdesign zusammen. Anhand einer Momentaufnahme soll die Wertstromanalyse den Zustand des Produktionssystems beschreiben und grafisch darstellen. Der letztendliche Entwurf eines verschwendungsarmen Produktionssystems ist das Wertstromdesign. Zur korrekten Durchführung ist die Ernennung eines „Wertstrommanagers“ erforderlich. Dieser trägt die Verantwortlichkeit für die Durchführung der Wertstrommethode. Neben der Anwendung in der Produktion, von der Großserienfertigung bis hin zur „Produktion von Stückgütern mit komplexer, mehrstufiger Produktstruktur und hoher Produktvarianz“8, finden sich auch Ansätze für den Einsatz der Methode in administrativen Bereichen9. Hierbei wird die Wertstromanalyse um die Informationsflüsse ergänzt. Die Wertstromanalyse bietet eine gute Möglichkeit, verschiedene Szenarien zur Einführung von Assistenzsystemen zu beschreiben und zu bewerten. Die Liebherr-Werk Biberach GmbH hat zusammen mit dem Fraunhofer-Institut einen Vorschlag für den Untersuchungsrahmen der Wertstromanalyse unter Berücksichtigung des Informationsflusses erarbeitet. Dabei wurde eine Baugruppe gewählt, welche häufig produziert wird. Am Pilotarbeitsplatz werden verschiedene Typen dieser Baugruppe hergestellt. Das bedeutet, dass hier auch Informationen benötigt werden, die nicht für jeden Auftrag gleich sind, sondern variieren. Das heißt, dass die Mitarbeiter auf einen guten Informationsfluss angewiesen sind. Für die Analysephase bot sich uns folgendes Bild (Abbildung 3):

8 9

Vgl. Erlach, K.: 2010, S. 2 Wittenstein, A.: 2006

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen …

Abbildung 3

63

Wertstrom für einen Teilprozess bei der LBC unter besonderer Berücksichtigung des Informationsflusses10

Die Informationsweitergabe erfolgt überwiegend auf Papier . Der Vorteil ist, dass es robust ist und überallhin mitgenommen werden kann . Um eine große Zeichnung zu erhalten, ist allerdings ein gesonderter Arbeitsgang nötig . Das bedeutet, dass der Werker diese beim Meister oder Vorarbeiter einfordern muss . Das Ausdrucken von Zeichnungen, sowie das Nachhalten von Änderungen nimmt sehr viel Zeit in Anspruch . Die Betriebsdatenerfassung erfolgt über Terminals, die verteilt in der Produktionshalle vorzufinden sind. Hier meldet sich der Werker bei Arbeitsbeginn für einen Auftrag an . Zudem werden über dieses System die produzierte Menge sowie prüfpflichtige Maße rückgemeldet. 10

Nach Kabelitz, S ./Mühlfelder, M ./Rose, D .: 2017

64

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Bei Arbeitsplätzen, die im 2-Schicht-Betrieb besetzt sind, erfolgt die Weitergabe von Informationen häufig per handschriftlicher Notiz. Die für den jeweiligen Arbeitsplatz relevanten Normen und Qualitätssicherungsanweisungen werden in Papierform am Arbeitsplatz aufbewahrt. Diese immer auf dem aktuellen Stand zu halten ist sehr zeitintensiv. Diese Wertstromanalyse wurde durch Fokusgruppeninterviews ergänzt (siehe Kapitel 4). Nach Auswertung aller Informationen wurde in Abstimmung mit Liebherr der Fokus auf die Vision der papierlosen Fabrik gelegt. Das Papier ist in der Produktion Informationsträger, robust und geduldig. Die Idee, dem Werker aktuelle Informationen direkt aus einer Datenbank zur Verfügung zu stellen und die schnelle Weitergabe von neuen Informationen wie technischen Änderungen, verspricht enormes Optimierungspotenzial in Bezug auf Prozessstabilität und -qualität. Unter Einsatz einer Morphologie für Assistenzsysteme (siehe Kapitel 12) wurden verschiedene Lösungsansätze erarbeitet und bewertet. Der Industrie-4.0-Check-up gab einen Überblick über die Digitalisierungs- und Automatisierungssituation im Unternehmen. Dieser wurde eigens für die „Standortbestimmung“ eines Unternehmens in Bezug auf die Digitalisierung durchgeführt. Dadurch kann Klarheit über Potenziale und Folgen der Digitalisierung geschaffen werden. Außerdem können potenzielle Effizienzsteigerungen und Kostenreduzierungen identifiziert werden, die der Wahrung der Innovationskraft dienen. Das Ziel sollte sein, den Mensch so in die Produktion zu integrieren, dass eine gesunderhaltende und wertschöpfende Arbeit in allen Phasen des Berufslebens möglich ist. Das Fraunhofer IFF erfuhr dadurch, welche Erfahrungen Liebherr bereits mit verschiedenen anderen Digitalisierungsthemen sammeln konnte. Für den Check-up wurde ein standardisiertes Vorgehen entwickelt, bestehend aus fünf Schritten (Abbildung 4):

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen …

65

Abbildung 4 Prinzipielles Vorgehen bei der Durchführung des Industrie-4.0-Check-ups des Fraunhofer IFF

Im Kickoff-Workshop sollen den Beteiligten die Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung aufgezeigt werden. Anschließend werden Experteninterviews mit ausgewählten Mitarbeitern durchgeführt. Die Dokumentation und Integration des Prozess‐Know‐hows der langjährig tätigen Meister und Werker ist hierbei genauso relevant, wie das planerische Wissen und die technologischen Einschätzungen der Ingenieure. Dieser Top-down initiierte Managementansatz mit Bottom-up-seitig integriertem Verbesserungsprozess verspricht hohe Umsetzungschancen, da Lösungen durch die Belegschaft mitentwickelt und akzeptiert werden. Ein Fragebogentool erlaubt anschließend die Einstufung des Unternehmens in die Integrationsstufen der Industrie 4.0. Innerhalb eines Unternehmens kann es verschiedene Integrationsstufen von Industrie 4.0 geben. Diese müssen auf die gleiche Integrationsstufe angehoben werden. Aus der Einstufung können dann konkrete Maßnahmen für jeden Betriebsbereich abgeleitet werden. Es bedarf dafür stets anwendungserprobte, situative und mitarbeiterindividuelle Konzepte. Die Durchführung des Industrie-4.0-Check-ups muss durch ein erfahrenes Team aus Technologie- und Prozessgestaltern durchgeführt werden und benötigt ca. ein bis drei Monate zeitlichen Aufwand.

66

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Bei der LBC wurde eine fokussierte Variante des Check-ups durchgeführt. Zum einen, da es bereits die Wertstromanalyse gab, zum anderen da der Untersuchungsbereich durch die Auswahl des Szenarios „papierlose Fabrik“ bereits eingeschränkt wurde.

Abbildung 5  Betrachtungsrahmen des Industrie-4.0-Check-ups bei Liebherr

Neben mehreren Werksbegehungen wurden bei der LBC folgende Abteilungen befragt: die Arbeitsvorbereitung, die Koordination Produktion/IT, die IT-Services, die Qualitätssicherung, der Stahlbau sowie die Endmontage. Dabei wurden die in Abbildung 5 aufgeführten Querschnittsthemen besprochen. Es wurde deutlich, dass bereits zahlreiche IT-Lösungen bei der LBC im Einsatz sind, um die Prozesse zu vereinfachen. In den Produktionshallen ist WLAN verfügbar. Derzeit gibt es eine neue zentrale Datenbank (DataStore), um die Systeme besser integrieren und nutzen zu können. Die Daten aus dem ERP-System und die Konstruktionsdaten sollten die ersten zu migrierenden Daten sein. Für die Instandhaltung und die Qualitätssicherung bei der Endabnahme sind bereits Tablet-Lösungen im Einsatz. Darüber hinaus ermöglicht ein Staplerleitsystem eine bessere Koordination der Staplerfahrten. In Planung befand sich das Thema Ausbau Chargenrückverfolgbarkeit und die bessere Nutzung der eigenen Qualitätsdaten zur Produktionssteuerung.

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen …

3

67

Das Fazit – nicht immer einfache, aber robuste Lösungen

Im Ergebnis konnte das Fraunhofer IFF die Produktionsumgebung klar eingrenzen und daraus Lösungsangebote erstellen (Abbildung 6). Nicht alle Ausprägungen werden in diesem Schritt genau spezifiziert. Deutlich ist aber, dass die typischen Produktionsumgebungen eine robuste Lösung benötigen, die über viele Stunden, auch bei mittlerem Geräuschpegel und Staubbelastung sicher funktionieren. Die Häufigkeit und Dauer der Informationsbeschaffung hängt davon ab, wie erfahren der Mitarbeiter ist, wie häufig er dieselbe Variante fertigt und ob es Änderungen in den Zeichnungen oder Stücklisten oder Ähnliches gibt. Daher reicht hier das Spektrum von Sekunden bis zu Tagen. Der Werker muss Informationen aufnehmen, aber auch zurückmelden. Zur Qualitätssicherung werden gewisse Abmessungen erfasst und dokumentiert.

68

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Abbildung 6  Bestandsaufnahme der Produktionsumgebung

Den Stand der Digitalisierung in der Produktion erfassen …

69

Literatur Erlach, K. (2010): Wertstromdesign: Der Weg zur schlanken Fabrik. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. Hecklau, F. (2014): Modell zur Steigerung der Energieeffizienz in produzierenden Unternehmen. Masterarbeit, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Kabelitz, S./Mühlfelder, M./Rose, D. (2017): Arbeitsfähigkeit im Fokus der Prozessanalyse. productivITy 4. Schenk, M (Hg.). (2015): Produktion und Logistik mit Zukunft. Springer Vieweg. Schenk, M. (Hrsg.). (2014): Fabrikplanung und Fabrikbetrieb: Methoden für die wandlungsfähige, vernetzte und ressourceneffiziente Fabrik. Heidelberg: Springer-Vieweg. Wittenstein, A. (2006): Wertstromdesign – Schlanke Prozesse in der Administration.: Ein Leitfaden vom Ist- zum Soll-Prozess im administrativen Bereich. Fraunhofer IRB Verlag.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung – eine quantitative Untersuchung Jörg von Garrel1 und Maja Bauer2

Zusammenfassung

In der Industrie wächst die reale Welt mit der virtuellen zum sogenannten Internet der Dinge zusammen. Diese „industrielle Digitalisierung“ führt zu einer Integration von Informationstechnik (IT) in den Produktionsprozessen, wodurch massive Veränderungen innerhalb der Arbeitsprozesse und -inhalte auf die Mitarbeiter zukommen. Es entstehen neue Berufs- und Anforderungsprofile für Arbeiter, Facharbeiter und Führungskräfte in Entwicklung, Administrierung und Überwachung der neuen Arbeitsprozesse und somit auch neue Anforderungen an die Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung. Um eine Aussage darüber treffen zu können, wie die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten vor diesem Hintergrund gestaltet werden kann, muss die aktuelle Situation in produzierenden Unternehmen analysiert werden. Daher wurde im Zeitraum von April bis Mai 2018 eine bundesweite quantitative Bestandsaufnahme in deutschen Unternehmen durchgeführt. Während sich bisherige Studien nur auf Teilbereiche der Arbeitsfähigkeit beschränken, fokussiert die dargestellte Studie auf sämtliche Stockwerke des 1 2

Hochschule Darmstadt, SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_6

71

72

Jörg von Garrel und Maja Bauer

„Hauses der Arbeitsfähigkeit“ und berücksichtigt in diesem Kontext auch den Digitalisierungsgrad der Organisationen.

1

Die Einleitung – Arbeitsfähigkeit als Erfolgsfaktor?

Zur Absicherung aber auch Verallgemeinerung der Erkenntnisse der qualitativen Untersuchung wird eine bundesweite Studie in produzierenden Unternehmen durchgeführt (Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

Dabei verdeutlichen die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung, dass die Digitalisierung veränderte Anforderungen an die Tätigkeiten der Beschäftigten und somit auch an die Arbeitsfähigkeit stellt. Wenn „intelligente“ Produktions- und IT-Systeme miteinander verschmelzen, werden Arbeitstätigkeiten im Produktionsbereich sowohl aus technologischer als auch organisatorischer Perspektive anspruchsvoller, sodass die Unternehmen daher vor der Herausforderung stehen, die richtige Management- und Implementierungsstrategie für das Spannungsfeld zwischen einer stabilen, zieloptimierten digitalisierten Industrie und einer Beherrschung der zunehmenden Komplexität in allen Dimensionen durch seine Beschäftigten zu finden. Selbstverantwortliche Autonomie sowie dezentrale Führungs- und Steuerungsformen innerhalb einer kollaborativen Produktionsund Arbeitsorganisation sowie -gestaltung erscheinen diesbezüglich essenzielle Erfolgsfaktoren zu sein. Der Erfolg dieser Unternehmen wird daher unmittelbar

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

73

determiniert von der Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten in dem neuen Produktionsumfeld. Diese Entwicklung führt dazu, dass Unternehmen darauf vorbereitet sein müssen, neue Arbeitskonzepte zu entwickeln, um Mitarbeiter zu befähigen, in einer digitalisierten Wirtschaft effektiv und effizient tätig zu sein. Es geht darum, Arbeitgeber und -nehmer in Bezug auf ihre Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Arbeitswelt zu bewerten. Solche drastischen Veränderungen bringen zugleich Chancen und Risiken für die Beschäftigten mit sich. Optimistische Schätzungen halten eine Entkopplung von Arbeitszeit und -ort für möglich, wodurch flexible Arbeitszeitmodelle und eine bessere „Work-Life-Balance“ für Industriearbeiter möglich würden. Gegenteilig dazu steht das Szenario einer dunklen mitarbeiterlosen Fabrik („dark factory“) und dem sogenannten „lights-out manufacturing“, das den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze nach sich ziehen könnte. Um die Chancen zu nutzen, bedarf es neuer Wege in der Arbeitsgestaltung, Kompetenzentwicklung, Prävention, Personal- und Organisationsentwicklung. Ebenso ändern sich die Arbeitsbedingungen und -anforderungen für die Arbeitnehmer durch den Einzug der Digitalisierung in die Produktion. Ein hierfür denkbares Szenario ist ein „Upgrading“ von Qualifikationen, beispielsweise heißt das, dass die IT-Kompetenz und die Fähigkeit, eigenverantwortlich in vernetzten Prozessen denken zu können, wichtiger werden. Eine andere Prognose sieht eine Polarisierung der geforderten Qualifikationen auf die Arbeitnehmer zukommen, bei der nur noch zwischen hoch anspruchsvollen und einfachen (Hilfs-)Arbeiten unterschieden wird. Mit Bezug auf die Faktoren der Arbeitsfähigkeit können durch die zunehmende Digitalisierung in der Produktion folgende Änderungen der Arbeitsbedingungen identifiziert werden: • • • • • •

körperliche Arbeitserleichterungen, zunehmender Wegfall von Routinetätigkeiten, zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit, Weiterbildung findet zunehmend am Arbeitsplatz statt, Komplexität der Arbeitsaufgaben und -systeme wird steigen, Zusammenarbeit findet nicht mehr nur im eigenen Betrieb statt, sondern auch mit Mitarbeitern anderer Unternehmen, • Bedeutung und Häufigkeit digitaler Kommunikation wird zunehmen.

74

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Diese Entwicklungen führen zu veränderten Arbeitsanforderungen: • Bedeutungszunahme von interdisziplinärem Wissen und Fähigkeiten der Zusammenarbeit, IT-Kompetenz, Prozess- und Systemkompetenz und sozialer Kompetenzen, • ständige Bereitschaft und Fähigkeit, sich breit gefächert und arbeitsplatznah auch mithilfe neuer Technologien lebenslang weiterzubilden, • durch körperliche Arbeitserleichterungen sinkt der Stellenwert der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Arbeitsfähigkeit in einer digitalisierten Industrie wird also – neben den für die Arbeitsfähigkeit grundlegenden Gestaltungselementen wie die körperliche und psychische Gesundheit oder die Rahmenbedingungen der Arbeit – folgende Kriterien abdecken müssen: • • • • •

2

Einschätzung der Ausprägung relevanter interdisziplinärer Kenntnisse, Einschätzung der Ausprägung der IT-Kompetenz, Einschätzung der Ausprägung von Prozess- und Systemkompetenz, Einschätzung der Ausprägung sozialer Kompetenzen, Einschätzung der Weiterbildungsfähigkeit bzw.-bereitschaft.

Die Methodik – Design und Stichprobe

Das Ziel der quantitativen Studie ist zu beantworten, wie sich der Umsetzungsgrad der Arbeitsfähigkeit in produzierenden Unternehmen vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Industrie gestaltet. Die Daten der empirischen Untersuchung werden mithilfe eines quantitativen Verfahrens in Form eines Fragebogens im Online-Format ermittelt. Der für die Untersuchung entwickelte Fragebogen enthält dabei Fragen • zur Erfassung des aktuellen Stands der Arbeitsfähigkeit auf Basis des Konzepts „Haus der Arbeitsfähigkeit“, • zum Umsetzungsgrad der Digitalisierung, • zu Branche und Charakteristika der Produktionssysteme und • zu soziodemografischen Daten.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

75

Der Teil der Arbeitsfähigkeit beinhaltet die vier Dimensionen: • • • •

Gesundheit und Leistungsfähigkeit Kompetenzen Werte, Einstellungen und Motivation Arbeit, Arbeitsumgebung und Führung

Der Teil der Digitalisierung beinhaltet die drei Dimensionen: • Grad der Betroffenheit • Grad der Digitalisierung • Veränderte Anforderungen an Kompetenzen Die Auswertung der Daten erfolgt mithilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics, Version 24, und berücksichtigt deskriptive sowie inferenzstatistische Verfahren, um Aussagen über den aktuellen Stand der Arbeitsfähigkeit zu treffen. Für die intervallskalierten Variablen werden die arithmetischen Mittelwerte (MW) ausgegeben. Für die Bewertung der Ausprägungen wurde durchgängig eine fünfstufige Likert-Skala mit einer Abstufung von 1 = gar nicht, 2 = geringen Umfang, 3 = mittleren Umfang, 4 = hohen Umfang, 5 = sehr hohen Umfang ausgewählt. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit „keine Angaben“ zu wählen. Weiterhin werden für die Auswertung der Zusammenhangshypothese neue Variablen gebildet, die sich aus der Berechnung der Mittelwerte ergeben. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Umsetzungsgrad der Arbeitsfähigkeit und dem Umsetzungsgrad der Digitalisierung in deutschen Unternehmen Die Zielgruppe der quantitativen Bestandsaufnahme umfasst deutsche Unternehmen, die durch eine Firmendatenbank mit einem Branchenfokus in der Produktion recherchiert wurden. Von ca. 30.000 angeschriebenen Unternehmen wurden 290 verwertbare Antworten zurückgesendet. Dies entspricht einer Rücklaufquote von ca. einem Prozent. Die Güte dieser Rückmeldungen ist als hoch anzusehen, da fast drei Viertel der Befragten (72,7 %) entweder als Inhaber/-in bzw. Geschäftsführer/-in oder Angestellte/r mit Führungsverantwortung tätig sind. Dass die Befragten diese Aussagen über die Unternehmen, in denen sie tätig sind, geben können, wird weiterhin bei der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit deutlich, bei der 77,6 % der Befragten angeben, länger als fünf Jahre im Unternehmen tätig zu sein. Trotz des Branchenfokus bei der Recherche der Unternehmensdaten geben knapp drei Viertel (74,3 %) der Befragten an, dass ihr Unternehmen im Produktionsbereich tätig ist. 18,1 % der Unternehmen sind im Dienstleistungsbereich und 7,6 % im Handel tätig.

76

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Hinsichtlich der Unternehmensgröße entstammt fast die Hälfte der Befragten (44,6 %) kleinen Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl zwischen 10–49 Mitarbeitern, Jeweils knapp 20 % entstammen Kleinstunternehmen (Anzahl zwischen 0–9 Mitarbeiter) sowie mittlere Unternehmen, mit einer Größe von 50–249 Mitarbeitern. Ca. 16 % der Befragten entstammen Großunternehmen (nach EU-Definition) mit einer Anzahl, die höher als 250 Mitarbeiter ist.

3

Die Auswertung – Deskriptive Darstellungen

Bei der deskriptiven Darstellung der Ergebnisse werden diese in die Gruppe der Unternehmen der Branche der Produktion und der Branchen Dienstleistung und Handel unterteilt. Die Ergebnisse der Gruppe Dienstleistung und Handel werden in der Auswertung in Klammern aufgeführt. Die Arbeitsfähigkeit – Status quo Entsprechend des dargestellten Erkenntnisinteresses erfolgt in einem ersten Schritt eine deskriptive Darstellung des aktuellen Stands der Arbeitsfähigkeit. Hierzu werden die vier bekannten Dimensionen des Hauses der Arbeitsfähigkeit herangezogen. Gesundheit Die Dimension Gesundheit setzt sich aus der Kategorie „Arbeitsschutz und -sicherheit“ und „Gesundheitsförderung“ zusammen. Fast alle produzierenden Unternehmen setzen sich – auch gesetzlich vorgegeben – mit dem Thema Arbeitsschutz und -sicherheit auseinander, so liegt der Anteil der Unternehmen, die in diesem Bereich Maßnahmen anbieten, bei allen abgefragten Maßnahmen (unter anderem Gefährdungsbeurteilungen, Unterweisungen am Arbeitsplatz) bei einem Prozentsatz zwischen 80 % und knapp 100 %. Lediglich das Vorhandensein von Betriebsärzten mit 62,7 % (53,4 %) und das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorgetermine mit 54,8 % (53,4 %) fallen geringer aus. Hinsichtlich des betrieblichen Gesundheitsmanagements geben ein Viertel der Befragten (27,6 %) an, ein Gesundheitsmanagement in ihrem Unternehmen installiert zu haben. Der Mittelwert der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung (unter anderem Bewegung, Stress, Ernährung) liegt bei produzierenden Unternehmen bei MW = 2,58 (MW = 2,57), sodass hier nur ein geringer bis mittlerer Umsetzungsgrad vorherrscht. Die Umsetzung dieser Maßnahmen variiert aber stark, wobei insbesondere klassische Maßnahmen zur Gestaltung der physischen Gesundheit

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

77

(z. B. ergonomische Arbeitsplätze, z. B. höhenverstellbare Tische, Hebehilfen“ mit MW = 3,52, (MW = 3,05)) gegenüber Maßnahmen zur Gestaltung der psychischen Gesundheit (z. B. Entspannungsverfahren, z. B. Yoga, Meditation bei MW = 1,96 (MW = 2,14)) überwiegen. Kompetenzen Die Dimension Kompetenzen setzt sich aus den Kategorien „Ausbildungs-/Einstiegsformen“, „Leistungsfähigkeit“, „Schlüsselqualifikationen“, „Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung“, und „Altersgerechte Kompetenzentwicklung“ zusammen. Hinsichtlich der Ausbildungs- bzw. Einstiegsformen bilden zwei Drittel der Unternehmen (66,8 % (71,6 %)) aus und über die Hälfte (56,5 % (58,1 %)) bieten jungen Menschen zum Einstieg Praktika oder Werkstudententätigkeiten an. Ein duales Studium wird in 22,4 % (31,1 %) der Unternehmen angeboten. Mitarbeitergespräche finden in 91,6 % (91,9 %) der Unternehmen statt. Weitere Formen zur Gestaltung der Leistungsfähigkeit finden in einem stark geringeren Maße statt. So nutzen 38,8 % (55,4 %) der Unternehmen Ziel- und Leistungsbeurteilungen und 12,6 % (17,6 %) Mentorenprogramme. Individuelle Maßnahmen der Personalentwicklung werden bei einem Drittel der Unternehmen (34,1 % (41,9 %)) umgesetzt. Maßnahmen zur Gestaltung der Arbeitsorganisation (z. B. Jobrotation) finden bei 23,8 % (20,3 %) der befragten Unternehmen statt. Schlüsselkompetenzen werden insgesamt im mittleren Umfang gefördert (MW = 3,06 (MW = 3,26)). Lediglich bei der Förderung der fachlichen Kompetenz liegt mit einem Mittelwert mit MW = 3,71 (MW = 3,69) eine hohe Ausprägung vor. Die Förderung von IT- und Medienkompetenzen findet in einem mittleren Umfang (MW = 2,82 (MW = 3,24) statt. Auch Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung (unter anderem Weiter- und Fortbildungen, Seminare, Schulungen) werden in den befragten Unternehmen mit einem MW = 2,68 (MW = 2,88) in einem geringen bis mittleren Umfang angeboten. Hervorgehoben seien hier die E-Learning- bzw. Onlineangebote. Diese sind mit einem Mittelwert von MW = 2,00 (MW = 2,39) nur im geringen Umfang in den Unternehmen vorhanden. Hinsichtlich einer altersgerechten Kompetenzentwicklung passen über die Hälfte der Unternehmen (57,5 % (43,2 %)) die Arbeitstätigkeiten für ältere Mitarbeiter an. Ein Drittel der Unternehmen (33,6 % (32,4 %)) nutzen generationsübergreifende Teams, wobei die Anpassung der Trainings- und Weiterbildungskonzepte an die ältere Belegschaft nur bei 4,2 % der produzierenden Unternehmen erfolgt. Gerade hinsichtlich dieser Maßnahme ist bei den Unternehmen aus dem Bereich Dienstleistungen und Handeln eine große Differenz auszumachen, nut-

78

Jörg von Garrel und Maja Bauer

zen doch 9,5 % dieser Unternehmen die Anpassung der Trainings- und Weiterbildungskonzepte als Maßnahme altersgerechter Kompetenzentwicklung. Flexible Arbeitszeitstrukturen (unter anderem Ruhestandsregelungen) werden bei weniger als der Hälfte der Unternehmen (43,9 % (40,5 %)) genutzt. Werte, Einstellungen und Motivation Dieses Konstrukt setzt sich aus den Dimensionen der „Innovationsorientierung“, „Regelorientierung“ und „Zielorientierung“ zusammen. Unternehmen mit einer hohen Innovationsorientierung sind durch Offenheit für Veränderungen und Kreativität zur Generierung von Innovationen gekennzeichnet. Eine hohe Regelorientierung fokussiert auf hierarchische Strukturen und den Respekt gegenüber Autoritäten und misst einer Prozessorientierung eine hohe Bedeutung bei. Unternehmen mit einem Fokus auf eine Zielorientierung sind durch Rationalität und Leistungsmessung sowie Leistungsorientierung charakterisiert. Die Innovationsorientierung gestaltet sich in den befragten Unternehmen mit einem Mittelwert MW = 3,24 (MW = 3,24) als gering und verdeutlicht einen „konservativen Charakter“. Die Regel- sowie Zielorientierung ist in den befragten Unternehmen aber stark ausgeprägt. Mit Mittelwerten von MW = 4,84 und MW = 4,55 sind diese Dimensionen in den produzierenden Unternehmen in Deutschland als eher typisch bzw. typisch ausgestaltet. Arbeit, Arbeitsumgebung und Führung Diese Dimension beinhaltet Maßnahmen der Arbeitsgestaltung, Führungsverhalten und Betriebsklima. Eine Betrachtung der Tätigkeiten mit Bezug auf eine menschengerechte Arbeitsgestaltung (unter anderem Benutzerorientierung, Vielseitigkeit, Ganzheitlichkeit, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten) verdeutlicht einen mittleren bis hohen Umsetzungsgrad (MW = 3,73 (MW = 3,66)). Bei den Arbeitsbedingungen kann festgehalten werden, dass eine Vereinbarung von Familie und Beruf als mittel bis hoch wahrgenommen (MW = 3,67 (MW = 3,71)) wird. Die freie Wahl des Arbeitsortes wird mit einem Mittelwert von MW = 1,73, (MW = 2,14) – wie nicht anders zu erwarten – als gering eingeschätzt. Die flexible Einteilung der Arbeitszeit ist mit einem Mittelwert von MW = 2,98, (MW = 3,11) in einem mittleren Umfang als gegeben einzuschätzen. Auch beim Führungsverhalten (unter anderem Unterstützung der Mitarbeiter) wird deutlich, dass die Führungskräfte in einem mittleren bis hohen Umfang (MW = 3,65 (MW = 3,61)) unterstützend wirken.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

79

Das Betriebsklima wird mit einem Mittelwert von MW = 3,98, (MW = 3,99) insgesamt als gut beschrieben. 53,1 % (52,7 %) der Befragten geben an, dass ein gutes Betriebsklima in dem Unternehmen vorherrscht. 24,2 % (24,3 %) beschreiben das Betriebsklima sogar als sehr gut. Nur 0,9 % (0,0 %) geben an, in ihrem Unternehmen ein sehr schlechtes Betriebsklima vorzufinden. Digitalisierung – Status quo Das Ziel der Datenerhebung ist die Feststellung der Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung. Neben dem Umsetzungsgrad der Faktoren der Arbeitsfähigkeit benötigt es daher auch Indikatoren, die den Umsetzungsgrad der Digitalisierung in deutschen Unternehmen erheben. Eine Messung des Konstrukts „Digitalisierung“ soll Aufschluss geben, inwiefern ein Unternehmen • von der Digitalisierung betroffen ist, • sich mit dem Thema der Digitalisierung beschäftigt und • die Förderung der Kompetenzen aufgrund veränderter Rahmenbedingungen berücksichtigt. Dadurch ergeben sich folgende Dimensionen für ein solches Konstrukt: • Grad der Betroffenheit • Grad der Digitalisierung • Veränderte Anforderungen an Kompetenzen Mit einem Mittelwert von MW = 3,30, (MW = 3,62) des eindimensionalen Konstrukts sind die befragten Unternehmen in einem mittleren bis starken Umfang von der Digitalisierung betroffen. Über 40 % (50 %) der Befragten geben an, dass sie stark bzw. sehr stark von der Digitalisierung betroffen sind. 42,0 % (41,2 %) der Unternehmen sind im mittleren Maß von der Digitalisierung betroffen und für nur 2,7 % (0,0 %) spielt die Digitalisierung keine Rolle (Abbildung 2).

80

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Abbildung 2 Kategorie Grad der Betroffenheit, Vergleich zwischen Produktion und Andere (Dienstleistung und Handel).

Der Grad der Digitalisierung berücksichtigt, inwiefern eine Digitalisierungsstrategie als Grundvoraussetzung für die digitale Transformation implementiert ist. Darüber berücksichtigt dieser, ob eine offene Unternehmenskultur, digitale Kompetenzen, grundlegende technologische Voraussetzungen und die Betrachtung der gesamten Wertschöpfungskette – als wesentliche Faktoren einer erfolgreichen Bewältigung einer digitalen Transformation – im Unternehmen vorhanden sind. Der Mittelwert dieses Konstruktes liegt bei MW = 3,01 (MW = 3,19). Das Ergebnis zeigt somit, dass die Digitalisierung in den befragten Unternehmen in einem mittleren bis hohen Umfang ausgeprägt ist. Betrachtet man die einzelnen Items wird deutlich, dass insbesondere der Technologieeinsatz bei den befragten Unternehmen am höchsten ausgeprägt ist. Eine wertschöpfungsübergreifende Digitalisierung aber auch das Vorhandensein einer Digitalisierungsstrategie sind in den befragten Unternehmen nur bei ca. einem Drittel vorhanden (Abbildung 3).

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

81

Abbildung 3  Ausprägungen der Items zum Grad der Digitalisierung

Auch hinsichtlich veränderter Anforderungen an Kompetenzen werden diese in den befragten Unternehmen in einem mittleren Umfang wahrgenommen (MW = 3,08, (MW = 3,27)) Die veränderten Anforderungen an die IT- und Medienkompetenz werden mit einem Mittelwert von MW = 3,70 (MW = 3,81) als hoch eingeschätzt. Der Einfluss auf die Sozialkompetenz wird am geringsten bewertet. Mit einem Mittelwert von MW= 2,53, (MW = 2,80) liegt dieser in einem geringen bis mittleren Umfang (Abbildung 4).

82

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Abbildung 4 Veränderte Anforderungen an Kompetenzen, Vergleich der Mittelwerte Produktion und Andere (Dienstleistung und Handel)

4

Die Auswertung – Zusammenhangshypothesen

Zur Auswertung der Zusammenhangshypothese werden das Korrelationsverfahren nach Pearson, die Rangkorrelation nach Spearman und Eta verwendet. Für die Berechnung nach Pearson sind die Voraussetzungen eine Intervallskalierung der Variablen, eine Normalverteilung der Variablen sowie ein linearer Zusammenhang zwischen den Variablen. Die Prüfung der Normalverteilung erfolgt mit dem Kolmogorov-Smirnov-Test. Bei folgenden Alternativhypothesen wird – aufgrund einer Normalverteilung der Variablen und eines linearen Zusammenhangs – das Korrelationsverfahren nach Pearson verwendet: H1b: Umso höher der Umfang der Gesundheitsförderung, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1e: Umso höher der Umfang der Schlüsselkompetenzen, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

83

H1e: Umso höher der Umfang der Schlüsselkompetenzen, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1h: Umso höher die Ausprägung der Unternehmenskultur, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1i: Umso typischer die Ausprägung der Unternehmenswerte, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. Aufgrund folgender Ergebnisse können alle Alternativhypothesen angenommen werden. Tabelle 1  Übersicht Ergebnisse des Korrelationsverfahrens nach Pearson Korrelation

Korrelations- Signifikanzwert Zusammenhang koeffizient (p < ,05) p = ,024 geringer und signiH1b: Gesundheitsförderung“ r = ,259 fikanter Zusammenund „Grad der hang Digitalisierung p = ,000 geringer und hoch H1e: „Schlüsselkompetenzen“ r = ,462 signifikanter und „Grad der Zusammenhang Digitalisierung“ p = ,000 mittlerer und hoch H1h: „Unternehmenskultur“ r = ,533 signifikanter und „Grad der Zusammenhang Digitalisierung“. r = ,382 p = ,000 geringer und hoch H1i: „Unternehmenswerte“ signifikanter und „Grad der Zusammenhang Digitalisierung“

Bei folgenden Alternativhypothesen wird – aufgrund einer nicht Normalverteilung der Variablen und einem linearen Zusammenhang – das Korrelationsverfahren nach Spearman verwendet: H1f: Umso höher der Umfang der Maßnahmen der Kompetenzentwicklung, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung H1j: Umso höher der Umfang der menschengerechten Arbeitsgestaltung, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1k: Umso höher der Umfang der Arbeitsbedingungen, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1l: Umso höher der Umfang des Führungsverhaltens, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1m: Umso besser das Betriebsklima, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung.

84

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Aufgrund folgender Ergebnisse können alle Alternativhypothesen angenommen werden. Tabelle 2  Übersicht Ergebnisse des Korrelationsverfahrens nach Spearman Korrelation

Korrelations- Signifikanzwert Zusammenhang koeffizient (p < ,05) p = ,000 geringer und hoch H1f: Kompetenzentwicklung r = ,461 signifikanter und Grad der Zusammenhang Digitalisierung r = ,383 p = ,000 geringer und hoch H1j: menschengerechten signifikanter Arbeitsgestaltung und Zusammenhang Grad der Digitalisierung p = ,000 geringer und hoch r = ,239 H1k: A rbeitsbedingungen signifikanter und Grad der Zusammenhang Digitalisierung  ührungsverhaltens und r = ,345 p = ,000 geringer und hoch H1l: F Grad der Digitalisierung signifikanter Zusammenhang r = ,318 p = ,000 geringer und hoch  etriebsklima und H1m: B signifikanter Grad der Zusammenhang Digitalisierung

Bei folgenden Alternativhypothesen wird das Korrelationsverfahren Eta verwendet: H1a: Umso mehr Maßnahmen des Arbeitsschutzes/der Arbeitssicherheit, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1c: Umso mehr Ausbildungs- und Einstiegsformen, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1d: Umso mehr Maßnahmen zur Förderung der Leistungsfähigkeit, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. H1g: Umso mehr altersgerechte Kompetenzentwicklung, umso höher der Umfang des Grads der Digitalisierung. Aufgrund folgender Ergebnisse können alle Alternativhypothesen angenommen werden.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

85

Tabelle 3  Übersicht Ergebnisse des Korrelationsverfahrens Eta Korrelation H1a: A rbeitsschutzes/der Arbeitssicherheit und Grad der Digitalisierung  usbildungs- und EinH1c: A stiegsformen und Grad der Digitalisierung H1d: L  eistungsfähigkeit und Grad der Digitalisierung H1g: altersgerechte Kompetenzentwicklung und Grad der Digitalisierung

5

Eta Zwischen Eta = ,077 und Eta = ,163

Zusammenhang geringen bis mittleren Zusammenhang

Zwischen Eta = ,123 und Eta = ,193

mittleren Zusammenhang

Zwischen Eta = ,148 und Eta = ,276 Zwischen Eta = ,079 und Eta = ,297

mittleren Zusammenhang geringen bis mittleren Zusammenhang

Die Ergebnisse – Eine Interpretation

Ziel der Untersuchung ist eine Analyse des Status quo der Arbeitsfähigkeit in produzierenden Unternehmen in Deutschland vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Industrie. Durch den Einzug der Digitalisierung in die Produktion werden sich die Arbeitsbedingungen und -anforderungen verändern. So werden vor allem körperliche Arbeitserleichterungen, eine zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit, die Notwendigkeit einer kontinuierlichen und praxisnahen Weiterbildung, eine zunehmende Komplexität der Arbeitsumwelt, der Zusammenschluss von Unternehmen zu Netzwerken bzw. Produktionsnetzwerken und Veränderungen in der Kommunikation erwartet. Dadurch werden von den Arbeitspersonen mehr Interdisziplinarität, digitale Kompetenzen, Prozess- und Systemkompetenz, soziale Kompetenzen sowie lebenslanges Lernen gefordert werden. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Faktoren zur Gestaltung der Arbeitsfähigkeit für einen digitalen Wandel aktuell vielfach noch nicht implementiert sind, da die Maßnahmen bisher nur im mittleren Umfang in den Unternehmen umgesetzt werden. Ist der Arbeitsschutz und -sicherheit bei der Vielzahl der Unternehmen noch strukturell verankert, werden die übrigen Faktoren von weniger als der Hälfte der Unternehmen (zwischen 27 % und 40 %) umgesetzt. Auch werden die Maßnahmen zur Umsetzung der Arbeitsfähigkeit nur in einem Umfang (Mittelwerte zwischen MW = 2,58 und MW = 3,24) genutzt.

86

Jörg von Garrel und Maja Bauer

Gerade vor dem Hintergrund der veränderten Arbeitsbedingungen und -anforderungen in einer digitalisierten Industrie wird deutlich, dass es noch an weiteren Implementierungen von Maßnahmen zum Erhalt und zur Steigerung der psychisch-geistigen Funktionen in der deutschen Industrie fehlt. Auch die Förderung von Schlüsselkompetenzen erfolgt bei den Unternehmen nur in einem mittleren Umfang. Lediglich fachliche Kompetenzen werden in den Unternehmen in einem höheren Umfang gefördert. Weiterhin werden hinsichtlich der Vermittlung der Kompetenzen digitale bzw. Onlineangebote wie E-Learning nur im geringen Umfang genutzt. So kann interpretiert werden, dass die Bedeutung der Vermittlung von IT-Kompetenzen, Prozess- und Systemkompetenzen sowie sozialer Kompetenzen den deutschen Industrieunternehmen somit noch nicht als relevant angesehen wird bzw. diese Kompetenzen aktuell noch wenig gefördert werden. Ähnliche Befunde ergeben sich hinsichtlich der Gestaltung der Arbeit. Die Ergebnisse zeigen auf, dass die Passung zwischen den Anforderungen aus der Tätigkeit und den Fähigkeiten der Mitarbeiter bisher nur in einem mittleren Maß gesehen wird. Auch in diesem Kontext besteht somit noch Entwicklungsbedarf. Hinsichtlich des Standes der Digitalisierung ist noch ein Gap zwischen Bedarf (Grad der Betroffenheit) und Potenzial (Grad der Digitalisierung) festzustellen. In diesem Kontext wird deutlich, dass die deutsche Industrie die Digitalisierung vorwiegend als Technologieprojekt ansieht. Strategische Faktoren, aber auch wertschöpfungsübergreifende Digitalisierungsprojekte sind ausbaufähig. Zwar sehen die Unternehmen eine Veränderung der Anforderungen an die Kompetenzen aufgrund der Digitalisierung als notwendig. Dies bezieht sich aber vor allem auf neue Anforderungen an die IT- und Medienkompetenz. Die Entwicklung der übrigen Kompetenzarten wird noch in einem geringen Maße berücksichtigt. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Arbeitsfähigkeit und der Digitalisierung über alle Stockwerke hinweg kann die Hypothese, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Umsetzungsgrad der Arbeitsfähigkeit und dem Umsetzungsgrad der Digitalisierung in deutschen Unternehmen gibt, widerlegt werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es einen Zusammenhang zwischen beiden Umsetzungsgraden gibt. Über die Kausalität lässt sich aber keine Aussage treffen.

Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund …

6

87

Das Fazit – Arbeitsfähigkeit in einer digitalisierten Wirtschaft

Die aktuelle Problemstellung der zunehmenden Digitalisierung der Industrie und damit verbunden die zunehmende Bedeutung der Arbeitsfähigkeit ist Ausgangspunkt dieser Bestandsaufnahme in produzierenden Unternehmen in Deutschland. Die Ergebnisse geben erste Hinweise, wie sich der aktuelle Stand der Arbeitsfähigkeit in produzierenden Unternehmen darstellt und wie sich der Umsetzungsgrad der Digitalisierung in den Unternehmen beschreiben lässt. Die durchgeführte Studie verdeutlicht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen an die Arbeitsfähigkeit und den aktuellen Umsetzungsgrad für die einzelnen Stockwerke. So ergeben die Ergebnisse konkret, dass … der Einfluss der Digitalisierung auf die Arbeitsfähigkeit wahrgenommen wird, die Umsetzung einer Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit aber noch nicht vollumfänglich stattfindet. … der Umsetzungsgrad der Digitalisierung nicht den benötigten Bedarfen gerecht wird. … ein Zusammenhang zwischen dem Umsetzungsgrad der Arbeitsfähigkeit und dem Umsetzungsgrad der Digitalisierung festgestellt werden kann. Ein Vorteil der vorliegenden quantitativen Datenerhebung im Vergleich zu bereits bestehender Forschung ist die umfassende Erfassung des Konzepts „Haus der Arbeitsfähigkeit“. Dadurch kann ein guter Überblick über den aktuellen Stand in produzierenden Unternehmen vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung gegeben werden. Aus den Ergebnissen können erste Hinweise und Einflussfaktoren abgeleitet werden, um ein integratives Modell der Arbeitsfähigkeit zu entwickeln.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – eine Analyse und Bewertung bestehender Verfahren Martin Ulber1 und Paul Bittner2

Zusammenfassung

Die Digitalisierung des industriellen Sektors führt zu veränderten Arbeitsbedingungen und -anforderungen. Die Messung der Arbeitsfähigkeit ist eine Möglichkeit, um eine Aussage treffen zu können, wie eine Arbeitsperson mit den sich verändernden Arbeitsbedingungen und -anforderungen umgeht und wie sich ihre Arbeitsfähigkeit voraussichtlich entwickeln wird. Ziel dieses Beitrags ist es, bestehende Instrumente zur Messung der Arbeitsfähigkeit auf ihre Anwendbarkeit unter den neuen Arbeitsbedingungen im industriellen Sektor zu analysieren. Es wurde eine strukturierte Literaturrecherche durchgeführt, um bestehende Instrumente zu identifizieren. Anschließend wurden die Verfahren anhand aus der Literatur abgeleiteter Kriterien bewertet. Von 19 analysierten Instrumenten weisen die Instrumente BASA II, COPSOQ, SALSA und WAI die größten Adaptionspotenziale auf.

1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_7

89

90

1

Martin Ulber und Paul Bittner

Die Einleitung – Analyse der Arbeitsfähigkeit im digitalisierten Produktionssektor

Wie bereits in diesem Band dargestellt wurde, befindet sich der industrielle Sektor in einem großen Umbruch. Die Digitalisierung breitet sich gleichermaßen im Privatleben und in der Wirtschaft aus. So wächst auch in der Industrie die reale Welt mit der virtuellen zum sogenannten Internet der Dinge zusammen. Diese „industrielle Digitalisierung“ führt zu einer Integration von Informationstechnik (IT) in den Produktionsprozess, wodurch Veränderungen innerhalb der Arbeitsprozesse und -inhalte auf die Mitarbeiter zukommen.3 Veränderte Arbeitsbedingungen und das Entstehen neuer Berufs- und Anforderungsprofile für Arbeiter, Facharbeiter und Führungskräfte in Entwicklung, Administration und Überwachung der neuen Arbeitsprozesse werden Realität (siehe Kapitel 4, 6 und 8)4. Die Kompetenzen, Fähig- und Fertigkeiten von Arbeitspersonen in Relation zu den gestellten Arbeitsanforderungen sind wichtige Determinanten dafür, wie gut eine Person ihre Arbeit heute und zukünftig bewältigen kann. Um eine Aussage darüber treffen zu können, wie eine Arbeitsperson mit sich verändernden bzw. neuen Arbeitsbedingungen und -anforderungen umgehen kann, muss die aktuelle Situation ihrer Arbeitsfähigkeit analysiert werden. Es gibt eine Vielzahl an Instrumenten, die die Situation von Arbeitspersonen hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit5, verwandter Konstrukte6 und Teilgebieten7 messen. Jedoch fehlt es an erprobten Ansätzen, die die zu erwartenden neuen Gegebenheiten und Anforderungen digitalisierter Produktionssysteme berücksichtigen (siehe Kapitel 4, 6 und 8). Des Weiteren gibt es zum Stand der Veröffentlichung keine Übersichtsarbeiten im deutschsprachigen Raum, die etablierte Instrumente ordnen bzw. kategorisieren und gleichzeitig für den Kontext der Industrie 4.0 relevante Stärken und Schwächen darstellt und somit einen Ausgangspunkt für Weiter- bzw. Neuentwicklungen bietet. Es ist nicht klar, welche Methoden sich für dieses Anwendungs-

3 4 5 6 7

Vgl. zu diesem Absatz BMBF (Hrsg.): (22.12.2018), https://www.bmbf.de Vgl. Kagermann et al. (Hrsg.): 2015, S. 105 Z. B. der Work Ability Index (WAI) nach Tuomi et al.: 1998 Z. B. dient das Job Diagnostic Survey (JDS) nach Hackman und Oldham: 1975 zur subjektiven Analyse von Tätigkeiten, um ggf. arbeitsgestalterische Maßnahmen abzuleiten. Z. B. kann das Konstrukt der Schmerzchronifizierung als Teilbereich der Gesundheit mithilfe des Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung (MPSS) nach Gerbershagen: 1986 gemessen werden.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

91

feld empfehlen, respektive aus welchen Methoden ein neues Verfahren entstehen könnte. Ziel dieses Beitrags ist eine Übersicht über bereits bestehende Methoden und Verfahren zur Analyse der Arbeitsfähigkeit von Arbeitspersonen in einem Produktionssystem zu liefern. Der Fokus liegt auf der individuellen Situation der Arbeitsperson und den situativen Rahmenbedingungen, die in produzierenden Unternehmen bestehen. Als theoretische Grundlage dient das integrative Modell der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion (siehe Kapitel 3). Nach der Beschreibung dieses Zustandes erfolgt die Beschreibung des Vorgehens der Identifikation, Selektion und Einschätzung der identifizierten Instrumente zur Situationsanalyse von Arbeitspersonen hinsichtlich der arbeits- und gesundheitsbezogenen Rahmenbedingungen. Das Vorgehen und die Ergebnisse werden nach ihrer Vorstellung abschließend reflektiert und diskutiert. Der Beitrag ist im ersten Teil dieses Bandes verortet und vervollständigt die Grundlagen zur Arbeitsfähigkeit, indem er die Messung der Arbeitsfähigkeit mit den Veränderungen im Produktionssektor durch die Digitalisierung verbindet (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des ersten Teils dieses Bandes

92

2

Martin Ulber und Paul Bittner

Das Vorgehen – Identifikation, Selektion und Bewertung bestehender Instrumente zur Analyse der Arbeitsfähigkeit

Zur Identifikation bestehender Situationsanalyseinstrumente wurde gezielt nach Übersichtsarbeiten bzw. Review-Artikeln recherchiert. Gesucht wurde deshalb nach Reviews in Verbindung mit (Tabelle 1): Tabelle 1 Suchalgorithmus Suchfelder Title/ Abstract/ Keywords Title/ Abstract/ Keywords Title/ Abstract/ Keywords

Suchbegriffe employer OR employee OR employment OR work OR worker OR working OR workplace OR labor OR labour

Operator AND

ability to work OR workability OR productivity OR health OR health-related OR cost

AND

measure OR measurement OR instrument OR method OR evaluation OR tool



Die Suche fand im August 2016 in den Datenbanken PubMed8 und EBSCO PsycARTICLES. statt. Der Suchzeitraum umfasste die Jahre 2000 bis einschließlich 2016. Deutschsprachige Arbeiten wurden mit den entsprechenden deutschen Pendants der Suchbegriffe gefunden. Zusätzlich erfolgte eine Handsuche bei Google, Google Books9 und Google Scholar10. Die Auswahl der Artikel erfolgte über eine zweistufige Auswertung der Titel ihrer Abstracts. Mittels einer Volltextanalyse der Review-Artikel wurden die Instrumente herausgefiltert. Für die weitere Arbeit fanden nach der Auflistung aller recherchierten Instrumentarien folgende Ausschlusskriterien (Tabelle 2) Anwendung. Die Ausschlusskriterien ergaben sich zum einen aus der Beschaffenheit der Datenlage und zum anderen aus den Anforderungen an neuartige Instrumentarien zur Analyse der Arbeitsfähigkeit in produzierenden Unternehmen (siehe Kapitel 8).

8 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ 9 https://books.google.de/ 10 https://scholar.google.de/

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

93

Tabelle 2  Ausschlusskriterien der Situationsanalyseinstrumente Nr. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Beschreibung Das Verfahren … … ist kein vollwertiges psychometrisches Verfahren, sondern nur ein Merkblatt, eine Checkliste, Prüfliste etc. … weist eine hohe Spezifik auf (krankheits-, branchen-, tätigkeitsspezifisch etc.). … erfüllt nicht die Anforderungen wissenschaftlicher Gütekriterien bzw. liegen keine Ergebnisse darüber vor. … ist veraltet bzw. liegen keine vergleichsweise aktuellen Publikationen vor. … liegt nicht in einer validierten deutschsprachigen Version bzw. Übersetzung vor. … hat keinen schriftlichen Befragungsanteil. … ist nicht zugänglich.

Hinweise auf mögliche Kriterien, die zur Bewertung der Verfahren herangezogen werden können, ergaben sich aus der Literatur11, die zur Identifikation der Tools herangezogen wurde. Publikationsübergreifend haben wissenschaftliche Gütekriterien eine hohe Relevanz. Weitere Kriterien, die auch für diese Arbeit als sinnvoll erscheinen, sind die Erfassung von Produktivitätsverlusten durch Absentismus oder Präsentismus und Generalisierbarkeit. Eine Umrechnung von Arbeitsfähigkeitsverluste in monetäre Größen kann für viele Unternehmen interessant sein, steht aber in diesem Beitrag nicht im Vordergrund. Ferner bieten auch die Erkenntnisse der Anforderungen eines neuartigen Instrumentariums Ideen für die Einschätzung der Verfahren (siehe Kapitel 8). Mithilfe dieser werden Merkmale der praktischen Anwendung und das Spektrum von Faktoren, das auf die Arbeitsfähigkeit einwirkt, präzisiert. Demzufolge wurde mit wissenschaftlichen Gütekriterien (Objektivität, Reli­ abilität, Validität), der Praktikabilität (Durchführungsdauer, Auswertungsaufwand, Personalbedarf etc.), der Verfügbarkeit und dem Umfang der Erfassung der Arbeitsfähigkeit bzw. verwandter Konstrukte wie Präsentismus und Absentismus (hierunter fällt die Gesundheit der Befragten) gearbeitet. Bezüglich der Arbeitsfähigkeit sind eine Vielzahl an Faktoren gemeint, z. B. die Arbeitsbedingungen (hierzu zählen auch Kollegen, Führungsverhältnisse etc.), Arbeitsanforderungen, Qualifikations- und Kompetenzeinschätzung (Selbsteinschätzung) und weitere Aspekte (Einstellung zur Arbeit, Arbeitszufriedenheit, Motivation, soziales Um-

11 Vgl. Loeppke et al.: 2003; Lofland et al.: 2004; Prasad et al.: 2004, Mattke et al.: 2007; Tang: 2015; Amler: 2016, S. 328–332

94

Martin Ulber und Paul Bittner

feld etc.). Tabelle 3 stellt die ausgewählten Bewertungsdimensionen als Übersicht dar. Darauf aufbauend wurden die Stärken und Schwächen herausragender Instrumente abschließend herausgearbeitet. Kriterien wie eine breite Anwendbarkeit (respektive Generalisierbarkeit) wurden bereits durch die Ausschlusskriterien der Instrumente gewährleistet. Tabelle 3  Bewertungskriterien der Situationsanalyseinstrumentarien Kriterium wissenschaftliche Gütekriterien Praktikabilität

Erfassung der Arbeitsfähigkeit

3

Beschreibung Objektivität Reliabilität Validität Durchführungs- und Auswertungsdauer Expertise des Personalbedarfs Vorhandensein von Interpretationshilfen oder Handlungsempfehlungen freier Zugang zum Verfahren Präsentismus, Absentismus, Produktivität Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen Qualifikation und Kompetenzausprägung (vor allem durch Selbsteinschätzung) Einstellung zur Arbeit, Motivation (extrinsisch oder intrinsisch), Arbeitszufriedenheit soziales Umfeld

Das Ergebnis – 19 Verfahren für eine nähere Betrachtung

In der ausgewerteten Literatur wurden 136 Verfahren gefunden. In dieser Zahl sind auch krankheitsspezifische Versionen eines Verfahrens enthalten. In sechs Übersichtsarbeiten12 konnten 47 Instrumente gefunden werden. Diese Arbeiten suchten beispielsweise nach Verfahren, mit denen gesundheitsbezogene Produktivitätsverluste messbar werden. Dafür wurden Datenbanken wie MEDLINE, HealtSTAR, PsycINFO, CANCERLIT, EMBASE, Cochrane Library, ScienceDirect, ABI/ INFORM, AIDSLINE und EconLit durchsucht. Weitere 89 Verfahren wurden in 12 Loeppke et al.: (2003); Lofland et al.: (2004); Prasad et al.: (2004); Mattke et al.: (2007); Tang: (2015); Amler: (2016)

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

95

der Toolbox – Instrumente zur Erfassung psychischer Belastungen der BAuA13 identifiziert. Durch die Anwendung der Ausschlusskriterien (vgl. Kapitel 4.2) wurden 18 Verfahren für eine nähere Betrachtung ausgewählt. Sieben haben ihren Fokus auf die Arbeitsperson, elf auf die Arbeitsverhältnisse gerichtet. Aus den Übersichtsarbeiten wurden die meisten Instrumente nicht näher betrachtet, weil sie entweder einen bestimmten Krankheitsbezug haben oder weil keine deutsche Version existiert. Es wurden die Verfahren COPSOQ, iPCQ, VOLP, WAI, WPAIGH untersucht. Alle in der Toolbox enthaltenen Verfahren liegen in deutscher Sprache vor. Dennoch wurden einige ausgeschlossen, da sie lediglich Checklisten oder Ähnliches sind. Des Weiteren weist eine Reihe von Verfahren Mängel hinsichtlich der Gütekriterien auf und/oder hat keinen schriftlichen Befragungsanteil. Zu sieben Verfahren (AVEM, DigA, EBF, KOEPS, SynBA 2014, TICS, TPF) waren auch nach Kontaktaufnahme mit den Autoren bzw. Ansprechpartnern keine ausreichenden Informationen für eine Einschätzung zugänglich. Ferner wurden einige Verfahren auch ausgeschlossen, da sie für die Arbeit in einer bestimmten (industriefernen) Branche entwickelt wurden oder ihr Analysefokus zu eng ist. Tabelle 4  Identifizierte Instrumente nach Anwendung der Ausschlusskriterien Abkürzung ABS14 ATAA15 BASA-II16 COPSOQ17 FABA18 FEG19

13 14 15 16 17 18 19

Verfahrensbezeichnung Arbeitsbewertungsskala Analyse von Tätigkeitsstrukturen und prospektive Arbeitsgestaltung bei Automatisierung Psychologische Bewertung von Arbeitsbedingungen – Screening für Arbeitsplatzinhaber II Copenhagen Psychosocial Questionnaire Fragebogen zur Analyse belastungsrelevanter Anforderungsbewältigung Fragebogen zur Erfassung des Gesundheitsverhaltens

BAuA (Hrsg.): (22.12.2018), http://www.baua.de/ AUVA (Hrsg.): 2013 Wächter et al.: 1989 Richter und Schatte: 2011 Nübling et al.: 2005 Richter et al.: 1999 Dlugosch und Krieger: 2002

96

Martin Ulber und Paul Bittner

Abkürzung FIT20 IMPULSTEST|221 iPCQ22 JDS23 mH-Screening24 P-TAI25 CEQ26 BEA27 SALSA28 SPA-P29 SPA-S30 VOLP31 WAI32 WPAI-GH33

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Verfahrensbezeichnung Fragebogen zum Erleben von Intensität und Tätigkeitsspielraum in der Arbeit IMPULS-TEST|2: Bewertung psychischer Belastung iMTA Productivity Cost Questionnaire Job Diagnostic Survey manageHealth-Screening 3.0 Projekt-Tätigkeitsinventar Checkliste zur Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs Belastungsanalyse Salutogenetische Subjektive Arbeitsanalyse Screening psychischer Arbeitsbelastungen-Person Screening psychischer Arbeitsbelastungen-Situation Valuation of Lost Productivity Work-Ability-Index Work Productivity and Activity Impairment QuestionnaireGeneral Health

Richter et al.: 2000 humanware (Hrsg.) (o. J.a): (22.12.2018), http://www.impulstest2.info/ Bouwmans et al.: 2015 Schmidt und Kleinbeck: 1999 Schöne und Jäger: 2015 Kannheiser et al.: 1993a und 1993b; Das P-Tai enthält eine Vielzahl an Verfahren, von denen aber nur die zwei dargestellten relevant für diese Arbeit sind. Hormel: 1993a Hormel: 1993b Rimann und Udris: 1997, S. 290–295 Vgl. Richter und Schütte: 2014, S. 212–128 Vgl. Richter und Schütte: 2014, S. 212–128 Zhang et al.: 2011; Zhang et al.: 2012 Vgl. WAI-Netzwerk (Hrsg.) (2015a): (22.12.2018), http://www.arbeitsfaehigkeit. uni-wuppertal.de/ Reilly et al.: 1993; dt. Version: Lambert et al.: 2014

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

4

97

Die Erkenntnis – Vier Instrumente mit Adaptionspotenzial

Zunächst werden die identifizierten Verfahren anhand der in Tabelle 3 beschriebenen Kriterien analysiert. Anschließend erfolgt eine Einschätzung mittels dieser Kriterien. Die Tools lassen sich, wie bereits dargestellt, hinsichtlich ihres Fokus auf die Arbeitsverhältnisse oder die Arbeitsperson ordnen. Die Tabellen weisen die Abkürzungen der Verfahren, ihre Ziele, Verweise auf die Veröffentlichungen der Gütekriterien, Faktoren der Praktikabilität und Aspekte der Arbeitsfähigkeit aus. Das Verfahren P-TAI basiert auf dem TAI34, zu dem kein Zugang erlangt werden konnte, weswegen das verwandte P-TAI untersucht wurde. Die Suche zu diesem Tool ergab keine Auskünfte über seine wissenschaftliche Güte. Das mH-Screening 3.0 ist bisher nur zum Teil validiert. Beide Verfahren wurden dennoch in die Analyse aufgenommen, da im Selektionsverfahren erste Hinweise über das Vorhandensein wissenschaftlicher Gütekriterien identifiziert wurden. Weitere Recherchen brachten jedoch keine Belege dafür hervor. Auf der offiziellen Internetpräsenz des Verfahrens VOLP wird das Vorhandensein einer deutschen Fassung angezeigt. Nach Rücksprache mit den Autoren stellte sich heraus, dass es zu dieser Übersetzung keine deutschsprachige Validierungsstudie gibt, das Verfahren aber durch eine professionelle Agentur unter der Beachtung der relevanten Standardrichtlinien übersetzt wurde. Tabelle 5  Übersicht mit Zielen und Gütekriterien der untersuchten Verfahren Tool Ziel Fokus Arbeitsverhältnisse ABS Analyse arbeitsbezogener psychischer Belastungen ATAA Analyse: Tätigkeitstrukturen bei Automatisierung BASA-II Erfassung: psych. Belastungen und Ressourcen bei der Arbeit

34 Vgl. Frieling: 1999

Gütekriterien AUVA (Hrsg.): 2013, S. 40 Wächter et al.: 1989, S. 94–179 Richter und Schatte: 2011, S. 24–38 (Gütekriterien des BASA); eval IT GmbH (Hrsg.): (11.09.2016), http://www.basa2. com/ (verbesserte Gütekriterien BASA II)

98

Martin Ulber und Paul Bittner

Tool COPSOQ

Ziel Analyse: Belastungen und gesundheitliche sowie motivationale Folgen der Arbeit FIT Analyse Erleben gesundheitsrelevanter Anforderungsmerkmale IMÜbersicht psych. Belastungen PULS-TEST|2 einer Tätigkeit JDS motivationsorientierte Arbeitsanalyse mH-Screening systemische Analyse Gefährdungen und Gefährdungspotenziale der Arbeit CEQ: Ermittlung des P-TAI Qualifizierungsbedarfs CEQ BEA: Analyse stressrelevanter BEA Arbeitsbedingungen SALSA Analyse: psych. Belastungen und Ressourcen am Arbeitsplatz SPA-S Gefährdungsbeurteilung Situation Fokus Person FABA personenbezogene Analyse von potenziell krankheitsauslösenden Verhaltensweisen FEG Messung: Gesundheitsverhalten iPCQ SPA-P VOLP

WAI WPAI-GH

Messung von Produktivitätsverlusten inkl. Schätzung der Kosten Gefährdungsbeurteilung Person

Gütekriterien Nübling et al.: 2005, S. 25–82 Richter et al.: 2000 humanware (Hrsg.): 2012 Schmidt und Kleinbeck: 1999, S. 215–223 Schöne und Jäger: 2015, S. 32f, bisher nur zum Teil validiert Keine Angabe

Rimann und Udris: 1997, S. 290–295 Metz et al.: 2007, S. 239 f. Richter et al.: 1999 Dlugosch und Krieger: 1995, S. 75–88 Bouwmans et al.: 2015, S. 756

Richter und Schütte: 2014, S. 212–128 (Screening psychischer Arbeitsbelastungen-Situation) Abschätzung gesundheitsbedingter Zhang et al.: 2011, S. 531 f. (Validierung der Originalversion); Produktivitätsverluste für die deutschsprachige Version konnte keine Validierungsstudie gefunden werden. Messung Arbeitsfähigkeit WAI-Netzwerk (Hrsg.): (24.01.2019), http://www.arbeitsfaehigkeit.uni-wuppertal.de Erfassung (gesundheitsbedingter) Reilly et al.: 1993; dt. Version: Lambert et al.: 2014 Arbeitsausfälle bzw. Produktivitätsverluste

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

99

In Tabelle 6 beziehen sich die Angaben über die Dauer auf die Durchführung Verfahren und Auswertung der erhobenen Daten. In den beiden rechten Spalten ist angegeben, ob dem Anwender Interpretationshinweise und Handlungsempfehlungen in einem Manual oder Ähnlichem gegeben werden. Dabei steht X dafür, dass Interpretationshinweise Handlungsempfehlungen gegeben werden sowie freier Zugang möglich ist. Ein – steht für das Gegenteil. Tabelle 6  Übersicht über die Praktikabilität der untersuchten Verfahren Tool

Praktikabilität Dauer

Fokus Arbeitsverhältnisse ABS ~ 10–15 Min. (22 Items) ATAA BASA-II COPSOQ

FIT IMPULSTEST|2 JDS mH-Screening P-TAI CEQ BEA

~ 270 Min (105 Merkmale in 24 Handlungsarten) ~ 20 Min. (102 Fragen und 15 Items) ~ 25 Min. (lang: 46 Fragen, kurz: 16 Fragen, größtenteils mit mehreren Items) ~ 5–10 Min. (13 Items) ~ 20 Min. (25 Items) ~ 40 Min. (78 Items) ~ 15 Min. (64 Items) gesamtes Verfahren 120–480 Min., Teilverfahren deutlich kürzer

Expertise

freier Interpret. Handlungs- Zugang empf.

arbeitspsychologisches Grundlagenwissen Experten

-

-35

-

-

geschulte Nutzer (für x Auswertungssoftware)

x

geschulte Nutzer

-

x

geschulte Nutzer geschulte Nutzer

x

-

Arbeitspsychologe Experten des Entwicklerinstituts Experten

x

x -36

-

-

35 freier Zugang in Österreich 36 Das unveröffentlichte Handbuch kann bei den Autoren für Forschungszwecke angefordert werden.

100

Tool SALSA SPA-S Fokus Person FABA FEG iPCQ SPA-P VOLP

WAI WPAI-GH

Martin Ulber und Paul Bittner

Praktikabilität Dauer

Expertise

freier Interpret. Handlungs- Zugang empf. x

~ 30 Min. (78 Fragen bzw. Items ~ 45–240 Min. (37 Merkmale à 2 Statements)

Experten oder geschulte Nutzer Experten

-

x

~10 Min. (20 Items) ~ 45 Min. (85 Fragen, größtenteils mit mehreren Items) ~ 10 Minuten (18 Fragen)

Arbeitspsychologe Experten

x

-

x

-

-

x

-

-37

x

x

-

x

gesundheits- bzw. arbeitswissenschaftliche Experten Experten oder ~ 20 Min. (60 Items) geschulte Nutzer gesundheits- bzw. ~ 20 Min. (L: 37 arbeitswissenschaftFragen S: 36 Fragen, beide mit teilw. mehre- liche Experten ren Items pro Frage) ~ 15 Min. (10 Fragen, Betriebsarzt inkl. Abfrage von 51 bzw. 14 Krankheiten) ~ 5 Min. (6 Fragen) gesundheits- bzw. arbeitswissenschaftliche Experten

In der folgenden Tabelle wird gezeigt, ob die Dimensionen der Arbeitsfähigkeit durch die untersuchten Instrumente abgedeckt werden. Dabei beinhaltet die zweite Spalte die Faktoren Präsentismus, Absentismus und Produktivität, die als „Maß“ für die Gesundheit der Befragten stehen. Die Angabe X steht für eine explizite Erfassung der Dimension, X* für eine implizite. Ein – zeigt an, dass die Dimension nicht erfasst wird.

37 Der VOLP-Fragebogen kann in mehreren Sprachen auf Anfrage an die Autoren über diese Internetseite bezogen werden: http://www.thevolp.com/.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

101

Tabelle 7 Übersicht über Abdeckung der Dimensionen Arbeitsfähigkeit der untersuchten Verfahren Arbeitsfähigkeit ArbeitsPräs. bedingungen/ Abs. ArbeitsProd. anforderungen Fokus Arbeitsverhältnisse ABS x* x ATAA x BASA-II x* x COPSOQ x x FIT x IMx PULS-TEST|2 JDS x mH-Screening x P-TAI CEQ BEA x SALSA x SPA-S x Fokus Person FABA x* FEG iPCQ x SPA-P x* x VOLP x x WAI x x* WPAI-GH x -

Tool

Qualifikatio- Einnen/Kompe- stellungen Motivation tenz

soz. Umfeld

x x* x* -

x -

x x

x* x*

x x*

-

x x* -

x* -

x -

x* -

x* x* -

x* x -

Näher betrachtet werden Verfahren, die mehrere der untersuchten Aspekte der Arbeitsfähigkeit explizit abdecken. Kaum ein personenzentriertes Verfahren erfasst die Rahmenbedingungen der Arbeit; sie konzentrieren sich in der Regel auf die Person. Hingegen erfassen verhältniszentrierte Verfahren trotz ihres Schwerpunktes häufig auch personenzentrierte Faktoren. Die Arbeitsbewertungsskala (ABS) konzentriert sich auf Arbeitsmerkmale, die Organisationskultur, die Arbeitsumgebung und -zeit sowie die -abläufe. Aufgrund dieses engen Fokus der Arbeitsbedingungen wird es hauptsächlich als

102

Martin Ulber und Paul Bittner

Gruppenverfahren mit Gruppendiskussionen bzw. moderierten Workshops angewendet. Als ABS-Gruppe richtet es sich an Unternehmen mit wenigen Mitarbeitern, bei denen umfassende Screening-Instrumente nicht zielführend bzw. notwendig erscheinen38. Die Dauer dieses Verfahrens ist mit ca. vier Stunden vergleichsweise lange, dafür beinhalten die Workshops auch die Erarbeitung von Veränderungsmaßnahmen. Die psychologische Bewertung von Arbeitsbedingungen (BASA II) erfasst drei relevante Bereiche der Arbeitsfähigkeit und diese sogar verhältnismäßig umfangreich und detailliert. Als Beispiel existieren bereits Fragen im Umgang mit Technik, Software und Maschinen, die den Bedingungen der Industrie 4.0 leicht angepasst werden können. Positiv hervorzuheben ist, dass Interpretationshilfen und Gestaltungsempfehlungen gegeben werden. Auch kann das Tool mit einem Beobachtungsverfahren und moderierten Workshops bzw. Gruppenverfahren kombiniert werden, wodurch sich die Dauer jedoch erheblich erhöht. Hinsichtlich der Gütekriterien existiert Verbesserungspotenzial. Auch wenn die Ergebnisse des BASA (I) verbessert wurden bzw. bessere Ergebnisse angenommen werden können, gibt es in diesem Bereich noch Reserven. Das Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ – deutsche Version) erfasst die Aspekte der Arbeitsfähigkeit im Vergleich recht detailliert und umfassend, ein Aspekt wird allerdings nur implizit erfasst. Auf die Selbsteinschätzung der Qualifizierung und Kompetenzen der Arbeitsperson kann durch die Beantwortung mancher Items, z. B. „Wie oft kommt es vor, dass Sie nicht genügend Zeit haben, alle Ihre Aufgaben zu erledigen?“, zu einem gewissen Grad geschlossen werden. Dafür taucht der Begriff der Arbeitsfähigkeit selbst in mehreren Fragen auf und auch Absentismus oder Produktivitätsverluste werden erfragt. Ein gewisser Bezug zu industrieller bzw. produzierender Arbeit fehlt, Handlungsempfehlungen werden nicht mitgeliefert. Die Gütekriterien weisen auf minimale Schwächen im Bereich der Skalen-, Konstrukt- und Kriteriumsvalidität hin. Des Weiteren ist der Fragebogen mit 46 Fragen relativ lang, jedoch wurde auch eine Kurzversion entwickelt. Der IMPULS-Test|2 erfasst auf fünf Skalen die Arbeitsbedingungen und das soziale Umfeld des Probanden explizit. Das Verfahren wurde von der Vorversion ausgehend grundlegend überarbeitet, um Schwächen abzubauen. Zu erwähnen ist, dass Handlungsempfehlungen gegeben werden können und die Ergebnisse für alle fünf Skalen sehr anschaulich dargestellt werden. Da zum Verfahren selbst kein Zugang erlangt und nur auf Publikationen der Vertreibergesellschaft zurückgegriffen 38 Vgl. humanware (Hrsg.) (o. J.b): (22.12.2018), http://www.abs-arbeitsbewertungsskala. info/

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

103

werden konnte, war eine tiefgehende Analyse, die möglicherweise auch Schwächen offenbart hätte, nicht möglich. Das Job Diagnostic Survey (JDS) basiert auf dem „Job-Characteristics-Model“ von Hackman und Oldham39. Hervorzuheben ist, dass dieses Instrument die Arbeitsmotivation und -zufriedenheit wohl am aussagekräftigsten abfragt. Allerdings ist dieser Schwerpunkt gleichzeitig eine Schwäche bezogen auf das Ziel dieser Arbeit. Das manageHealth-Screening 3.0 (mH-Screening) zielt auf die Erhebung und Bewertung von Belastungen der Arbeit und Ressourcen der Arbeitspersonen im Arbeitsalltag ab. Die anschauliche Ergebnisdarstellung („Gesundheitsradar“ und Belastungsindex), die umfassende Erhebung der Arbeitsbedingungen sowie der Leitfaden zur Maßnahmenimplementierung inklusive derer Evaluierung ragen heraus. Neben der Anwendung, die nur durch das Entwicklerteam des Verfahrens geschieht, fällt auf, dass das Verfahren nur in Teilen validiert ist und mehrere Aspekte der Arbeitsfähigkeit nur implizit erfasst werden bzw. von manchen Items Rückschlüsse gezogen werden können. Das Projekt-Tätigkeitsinventar (P-TAI) ist eine Gruppe aus mehreren Verfahren zur Belastungs- und Gefährdungsermittlung, von denen die Checkliste zur Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs (CEQ) und die Belastungsanalyse (BEA) durch ihre immense Fragetiefe herausragen. Auch wenn die Bezeichnungen der beiden Verfahren es nicht vermuten lassen, handelt es sich um Fragebögen, die auch unabhängig vom Kontext „Projektarbeit“ verwendet werden können. Durch ihren hohen Grad an Spezialisierung erheben sie allerdings auch keine weiteren Aspekte der Arbeitsfähigkeit. Ferner bedürfen sie einer Aktualisierung hinsichtlich der arbeitsrelevanten Bereiche und Begriffe für die heutige Zeit. Des Weiteren wurden zum Gesamtverfahren keine Angaben über die wissenschaftlichen Gütekriterien identifiziert. Die salutogenetische subjektive Arbeitsanalyse (SALSA) ermittelt arbeitsbezogene Belastungen und Ressourcen der befragten Person. Durch den großen Umfang der Befragung werden zwei Bereiche der Arbeitsfähigkeit (die Arbeitsbedingungen und das soziale Umfeld) direkt erfragt. Rückschlüsse auf das Qualifizierungs- und Kompetenzniveau der befragten Person können beispielsweise durch Items wie „Bei dieser Arbeit gibt es Sachen, die zu kompliziert sind.“ oder „Bei dieser Arbeit kommen meine Fähigkeiten zu wenig zum Zuge.“ gezogen werden. Auf die Motivation und die Arbeitseinstellung bzw. die -zufriedenheit kann von einer Vielzahl an Items zurückgeschlossen werden, die allgemeine positive und negative Aspekte von Arbeit ansprechen. Andererseits werden durch die um39 Vgl. Nerdinger: 2014, S. 424 ff.

104

Martin Ulber und Paul Bittner

fangreiche Befragung auch Indikatoren erhoben, die vordergründig wenig relevant für die Arbeitsfähigkeit sind. Das Screening psychischer Arbeitsbelastungen-Person (SPA-P) gehört ebenfalls zu einer mehrteiligen Verfahrensgruppe (SPA), die auch einen Beobachtungsteil beinhalten kann. Der Ergebnis-Score erleichtert die Interpretation und es kann abgeleitet werden, ob Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen oder bei der Person notwendig sind. Andererseits erfordert das Beobachtungsverfahren einen erhöhten Aufwand und die SPA-„Familie“ eignet sich nicht für Führungs- oder Emotionsarbeit, womit beispielsweise Führungskräfte nicht eingeschätzt werden können. Der Valuation of Lost Productivity-Fragebogen (VOLP) forciert die Messung gesundheitsbedingter Produktivitätsverluste, womit der Fokus leicht erkennbar auf Absentismus, Präsentismus und der Gesundheit liegt. Ferner werden teilweise auch die Arbeitsbedingungen erfragt. Obwohl eine deutsche Fassung des VOLP vorliegt, ist diese noch nicht in einer Validationsstudie an einer deutschen Stichprobe untersucht worden. Somit besteht neben dem Bedarf der Erfassung weiterer Aspekte der Arbeitsfähigkeit auch zusätzlicher Forschungsbedarf zu diesem Verfahren. Obwohl der Work-Ability-Index (WAI) laut Ansicht des Autors nur den Bereich „Absentismus, Präsentismus und Produktivität“ explizit erfasst, muss dieser als heutiges Standardinstrument der Arbeitsfähigkeitsmessung in Deutschland einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Hervorzuheben ist, dass der Index-Wert eine gewisse Anschaulichkeit des Ergebnisses der Befragung bietet. Ebenso wichtig ist die Vorhersage über einen vorzeitigen Berufsaustritt, dessen hohe Praktikabilität (freier Zugang, zügige Durchführung, weite Verbreitung, viele Einsatzmöglichkeiten, hohe Akzeptanz) und die guten Ergebnisse der Gütekriterien. Auf der anderen Seite wird empfohlen, ihn stets durch einen Betriebsarzt anzuwenden, es werden keine Handlungsempfehlungen bei einem niedrigen WAI gegeben und in dessen deutschem Manual steht auf Seite 7, dass der WAI nur die Beanspruchung und Beanspruchungsfolgen misst und er deswegen keinesfalls ausreichend für eine umfassende Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist40. Schaut man sich den gesamten Fragebogen an, fällt auf, dass dieser sich, obwohl er auf dem „Haus der Arbeitsfähigkeit“ (siehe Kapitel 8) beruht, stark auf Krankheiten fokussiert. Die Arbeitsfähigkeit wird mehrfach direkt abgefragt, jedoch ist dabei unklar, ob jede befragte Person stets alle Aspekte des Konzeptes kennt und bedenkt. Direkte Fragen hinsichtlich des sozialen Umfelds 40 Vgl. WAI-Netzwerk (Hrsg.) (2015a): (22.12.2018), http://www.arbeitsfaehigkeit. uni-wuppertal.de/

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

105

als Ressource oder nach der Arbeitsmotivation und -zufriedenheit werden nicht gestellt. Ferner bleiben auch Arbeitsbedingungen wie die Führung der Mitarbeiter, die Zusammenarbeit mit Kollegen oder die Personalstruktur des Unternehmens unbeachtet. Trotz alledem birgt der WAI durch seine weite Verbreitung, seine zugrunde liegende Theorie und die Stärke des Index-Wertes weiterhin großes Potenzial. Tabelle 8 listet die festgestellten Stärken und Schwächen der Verfahren auf. Tabelle 8  Stärken und Schwächen analysierter Situationsanalyseinstrumente Tool ABS

Stärken Schwächen • hauptsächlich in Gruppen­ • leicht verständlich verfahren und für den Einsatz • keine Experten für Anwendung in kleinen Unternehmen notwendig vorgesehen • als eigenständiger Fragebogen wenig hilfreich • Gütekriterien durch die BASA II • Interpretationshilfen und Autoren nicht abschließend Gestaltungsempfehlungen untersucht • explizite Fragen nach Technik und Software • minimale Schwächen im COPSOQ • Kurzversion vorhanden Bereich der Skalen-, Konstrukt• leicht verständlich und Kriteriumsvalidität • Erhebung vieler Aspekte • keine Handlungsempfehlungen der Arbeitsfähigkeit • hoher Detailgrad • keine Aussage über Schwächen IMPULS• anschauliche Ergebnis­ möglich darstellung TEST|2 • gibt Handlungsempfehlungen JDS • Erhebung der Arbeitszufrieden- • Erhebung weiterer Aspekte der heit und Motivation Arbeitsfähigkeit schwach • nur zum Teil validiert mH-Screening • anschauliche Ergebnis­ darstellung (grafisches Gesund- • viele Arbeitsfähigkeitsaspekte nur implizit erfragt heitsradar und Belastungsindex) • Leitfaden zur Maßnahmenimplementierung inklusive ihrer Evaluierung P-TAI • Tiefgang der Einzelverfahren • hoher Zeitaufwand und Expertenbedarf • Gütekriterien fraglich • mangelnde Aktualität, erfordert Überarbeitung/Anpassung

106

Martin Ulber und Paul Bittner

Tool SALSA

Stärken • Erhebung vieler Aspekte der Arbeitsfähigkeit

SPA-P

• ermöglicht verschiedene Blickwinkel auf Belastungen durch Kombination mit Beobachtungsinterview • Ergebnisse mit Score • gibt Hinweise über Notwendigkeit von Interventionen • Forschungsbedarf (Validierung • Kurzversion vorhanden deutscher Version) • Abschätzung der Produktivi• Erhebung weiterer Aspekte der tätsverluste Arbeitsfähigkeit schwach • Einsatz mithilfe von Betriebs• Anschaulichkeit durch ärzten empfohlen Index-Wert • gibt keine Handlungs• Kurzversion vorhanden empfehlungen • Vorhersage über vorzeitigen • erfasst nicht alle Bereiche der Berufsausstieg zugrunde liegenden Theorie • weite Verbreitung, hohe Bekanntheit und Akzeptanz

VOLP

WAI

Schwächen • große Teile der Befragung vor dem Hintergrund der Arbeitsfähigkeit irrelevant • hoher Aufwand mit Beobachtungsverfahren • keine Eignung für Führungsoder Emotionsarbeit

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass sich die Instrumente BASA II, COPSOQ, SALSA und WAI für eine Anpassung an die Gegebenheiten einer digitalisierten Produktion eignen. Die Adaptionspotenziale ergeben sich aus den identifizierten Schwächen der jeweiligen Verfahren und den Anforderungen an ein neuartiges Messinstrument. Sie sind in Tabelle 9 dargestellt. Die Instrumente sollten die jeweiligen Gegebenheiten eines Unternehmens erheben, da sich das Ausmaß an Veränderungen (auch hinsichtlich der Anforderungen) durch die Digitalisierung des Produktionssektors zunächst stark von Betrieb zu Betrieb unterscheiden dürfte.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

107

Tabelle 9  Verfahren mit Adaptionspotenzialen Tool BASA II

COPSOQ

SALSA

WAI

5

Adaptionspotenziale • explizitere Erfassung von Absentismus, Präsentismus und/oder der Produktivität • Ergänzung um Indikatoren zum sozialen Umfeld (Rückhalt) und zur Arbeitseinstellung, -motivation etc. • Modifikation hinsichtlich der Erfordernisse eines digitalisierten Produktionssektors • Ausbau der Untersuchung der Gütekriterien • explizitere Erfassung der Qualifikationen und Kompetenzen • Modifikation hinsichtlich der Erfordernisse eines digitalisierten Produktionssektors • Adaptionen bezüglich der Schwächen in den Gütekriterien • erneute Überprüfung der Gütekriterien • Ermöglichung von Handlungsempfehlungen • e xplizitere Erfassung der Arbeitsbedingungen und -anforderungen sowie der Qualifikationen und Kompetenzen  rgänzung um Indikatoren zu Qualifikation und Kompetenzen und zu • E Absentismus, Produktivitätsverlusten bzw. zum Gesundheitszustand • Eliminierung redundanter bzw. irrelevanter Bereiche • M  odifikation hinsichtlich der Erfordernisse eines digitalisierten Produktionssektors • Ermöglichung von Handlungsempfehlungen  ockerung der Anforderungen an die Anwender des Verfahrens, bei• L spielsweise durch Verringerung des Krankheitsfokus (Abkehr vom Anwenderfokus der Betriebsärzte) • e xplizite Erfassung aller Komponenten der zugrunde liegenden Theorie (Haus der Arbeitsfähigkeit), vor allem Ergänzung um Indikatoren zum sozialen Umfeld (Rückhalt) und zur Arbeitseinstellung, -motivation etc. sowie explizitere Erfassung der Arbeitsbedingungen und -anforderungen  odifikation hinsichtlich der Erfordernisse eines digitalisierten • M Produktionssektors • Ermöglichung von Handlungsempfehlungen

Das Fazit – Adaptionspotenzial bestehender Instrumente als Basis eines neuen Instruments

Das Ziel dieser Untersuchung war es, eine Übersicht über bestehende Methoden und Verfahren zur Analyse der Arbeitsfähigkeit unter den Rahmenbedingungen des industriellen Sektors zu liefern. Es wurde eine Vielzahl an Verfahren aus Übersichtsarbeiten extrahiert. Das Angebot an relevanten Instrumenten ist groß und nur schwer zu überschauen. Deswegen wurden mehr als 85 % der Verfahren

108

Martin Ulber und Paul Bittner

anhand einer begründeten Auswahl von Kriterien ausgeschlossen. Das verwendete Literaturselektionsverfahren birgt die Gefahr, dass aufgrund eines wenig aussagekräftigen Titels, Arbeiten bereits ausgeschlossen werden, die eine hohe Relevanz aufweisen. Die Auswertung aller Abstracts wäre mit einem ungleich höheren Aufwand verbunden gewesen. Die gewählte Vorgehensweise erscheint deswegen als pragmatisch und die Ergebnisse lassen vermuten, dass sie auch zielführend war. Die große Zahl an Instrumenten machte eine Selektion vor der Analyse und Bewertung der Instrumente notwendig. Checklisten, Prüflisten etc. (Selektionskriterium 1) sind keine Verfahren, die eine umfassende Situationsanalyse gewährleisten können, da sie nicht die Befragung der Arbeitspersonen vorsehen. Auch Verfahren, die bereits durch ihre Bezeichnung einen engen Erkenntnishorizont nahelegen (z. B. krankheitsspezifische Versionen – Selektionskriterium 2), können einem Konstrukt wie der Arbeitsfähigkeit nicht gerecht werden. Wissenschaftliche Gütekriterien (Selektionskriterium 3) sind für die Einschätzung der Qualität wissenschaftlicher Methoden unabdingbar. Das vierte Selektionskriterium hängt eng mit den Gütekriterien zusammen, da nur eine regelmäßige Überprüfung der Instrumente ihre Validität auch viele Jahre nach ihrer Entwicklung sicherstellen kann. Durch das fünfte Selektionskriterium sind möglicherweise potenziell gute Verfahren unberücksichtigt geblieben. Da die Publikation aber auf den deutschen Sprachraum abzielt und das Thema Industrie 4.0 vor allem Deutschlands Forschungsaktivitäten tangiert, erscheint diese Entscheidung als gerechtfertigt. Das Vorhandensein schriftlicher Befragungsanteile (Selektionskriterium 6) erscheint zum einen aus Gesichtspunkten der Praktikabilität als sinnvoll, da Beobachtungs- und Interviewverfahren stets aufwendiger als schriftliche Befragungen sind. Bezüglich des letzten Selektionskriteriums bleibt anzumerken, dass zu mehreren Verfahren kostenpflichtiger Zugang besteht (z.  B. AVEM oder TICS), der allerdings aufgrund eines fehlenden Budgets nicht realisiert werden konnte. Für 18 Instrumente wurde eine Stärken- und Schwächen-Analyse durchgeführt. Die Instrumente BASA II, COPSOQ, SALSA und WAI erscheinen am geeignetsten für eine Adaption an die neuen, durch die Digitalisierung in der Produktion entstandenen, Arbeitsbedingungen und den anschließenden Einsatz im industriellen Sektor. Die Übersicht über die notwendigen Anpassungsbedarfe zeigt aber auch, dass sowohl hinsichtlich der Digitalisierung der Produktion als auch bezüglich der Arbeitsfähigkeit als Konstrukt die Notwendigkeit weiterer Forschung und Entwicklung besteht. Die Komplexität der Arbeitsfähigkeit, die im integrativen Modell in Kapitel 3 beschrieben ist, kann keines der untersuchten Instrumente in Gänze abbilden.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

109

Literatur Amler, N., (2016), Produktivität, Präsentismus und Arbeitsfähigkeit, Konzepte und Instrumente, Schriften zur Gesundheitsökonomie 25, Norderstedt. AUVA (Hrsg.), (2013), Evaluierung psychischer Belastungen, Die Arbeits-BewertungsSkala – ABS Gruppe, Wien. BAuA (Hrsg.), (2010), Toolbox Version 1.2 – Instrumente zur Erfassung psychischer Belastungen, URL: https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F1965.html (22.12.2018). BMBF (Hrsg.), (o. J.), Zukunftsprojekt Industrie 4.0. URL: https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4–0–848.html (22.12.2018). Bouwmans, C., Krol, M., Severens, H., Koopmanschap, M., Brouwer, W., Hakkaart-van Roijen, L., (2015), The iMTA Productivity Cost Questionnaire: A Standardized Instrument for Measuring and Valuing Health-Related Productivity Losses. in: Value in Health, 18(6), S. 753–758. Dlugosch, E., Krieger, W., (2002), Fragebogen zur Erfassung des Gesundheitsverhaltens (FEG), 2 Aufl., Frankfurt a. M. Frieling, E., (1999), Tätigkeitsanalyseinventar (TAI), in: Dunckel, H. (Hrsg.), Handbuch psychologischer Arbeitsanalyseverfahren, Zürich. Gerbershagen, H. U., (1986), Organisierte Schmerzbehandlung, Eine Standortbestimmung, in: Internist, 27, S. 459–469. Hackman, J. R., Oldham, G. R., (1975), Development of the Job Diagnostic survey. in: Journal of Applied Psychology, 60, S. 159–170. Hormel, R. (1993b), Belastungsanalyse (BEA), in: Kannheiser, W., Hormel, R., Aichner, R., Planung im Projektteam, Band 2: Checklisten und Verfahren des P-TAI, München et al. Hormel, R., (1993a), Checkliste zur Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs (CEQ). in: Kannheiser, W., Hormel, R., Aichner, R., Planung im Projektteam, Band 2: Checklisten und Verfahren des P-TAI, München et al. humanware (Hrsg.), 2012, IMPULS-Test|2® Professional, Wissenschaftliche Basis, URL: https://www.impulstest2.com/fileadmin/pdf/impulstest2_info/IP2_Wissenschaft_-_ Grundlagen_15–10–2015.pdf (22.12.2018). humanware (Hrsg.), (o. J.a), IMPULS-Test|2® Professional, Wissenschaftliche Basis, URL: https://www.impulstest2.info/ (22.12.2018). humanware (Hrsg.), (o. J.b), Unternehmensgröße, URL: http://www.abs-arbeitsbewertungsskala.info/unternehmensgroesse (22.12.2018). Kagermann, H., Riemensperger, F., Hoke, D., Schuh, G., Scheer, A.-W., Spath, D., Leukert, B., Wahlster, W., Rohleder, B., Schweer, D., acatech (Hrsg.), (2015), Smart Service Welt, Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Internetbasierter Dienste für die Wirtschaft, Abschlussbericht, Berlin. Kannheiser, W., Hormel, R., Aichner, R., (1993a), Planung im Projektteam, Band 1: Handbuch zum Planungskonzept Technik-Arbeit-Innovation (P-TAI), München et al. Kannheiser, W., Hormel, R., Aichner, R. (1993b), Planung im Projektteam, Band 2: Checklisten und Verfahren des P-TAI, München et al. Lambert, J., Hansen, B. B., Arnould, B., Grataloup, G., Guillemin, I., Strandberg-Larsen, M., Reilly, M. C., (2014), Linguistic validation into 20 languages and content validity of

110

Martin Ulber und Paul Bittner

the rheumatoid arthritis-specific Work Productivity and Activity Impairment questionnaire, in: The Patient, 7(2), S. 171–176. Loeppke, R., Hymel, P. A., Lofland, J. H., Pizzi, L. T., Konicki, D. L., Anstadt, G. W., Baase, C., Fortuna, J., Scharf, T. (2003), Health-related workplace productivity measurement: general and migraine-specific recommendations from the ACOEM Expert Panel, in: Journal of Occupational and Environmental Medicine, 45(4), S. 349–359. Lofland, J. H., Pizzi, L., Frick, K. D., (2004), A Review of Health-Related Workplace Productivity Loss Instruments. in: PharmacoEconomics. 22(3), S. 165–184. Mattke, S., Balakrishnan, A., Bergamo, G., Newberry, S. J., (2007), A review of methods to measure health-related productivity loss. in: The America Journal of Managed Care, 13(4), S. 211–217. Metz, A.-M., Rothe, H.-J. & Panek, F. (2007), Screening psychischer Arbeitsbelastungen (SPA) – Verfahrensentwicklung und Anwendungserfahrungen. In Bärenz, Metz, Rothe (Hrsg.). Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Arbeitsschutz, Gesundheit und Wirtschaftlichkeit. 14. Workshop 2007 (S. 237–240). Kröning: Asanger Verlag. Nerdinger, F. W., (2014), Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit, in: Nerdinger, F. W., Blickle, G., Schaper, N. (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie, 3. Aufl., Berlin et al. Nübling, M., Stößel, U., Hasselhorn, H.-M., Michaelis, M., Hofmann, F. (2005): Methoden zur Erfassung psychischer Belastungen, Erprobung eines Messinstrumentes (COPSOQ), Bremerhaven. Prasad, M., Wahlqvist, P., Shikiar, R., Shih, Y.-C. T., (2004), A Review of Self-Report Instruments Measuring Health-Related Work Productivity, in: PharmacoEconomics, 22(4), S. 225–244. Reilly, M. C., Zbrozek, A. S., Dukes, E. M., (1993), The validity and reproducibility of a work productivity and activity impairment instrument, in: Pharmacoeconomics, 4(5), S. 353–365. Richter, G., Schatte, M., (2011), Psychologische Bewertung von Arbeitsbedingungen – Screening für Arbeitsplatzinhaber II (BASA II), Validierung‚ Anwenderbefragung und Software, 2. Aufl., Dortmund. Richter, G., Schütte, M., (2014), Infoteil B: Porträts exemplarisch ausgewählter Analyseinstrumente und –verfahren, in: BAuA (Hrsg.), Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, Erfahrungen und Empfehlungen, Berlin. Richter, P., Hemmann, E., Merboth, H., Fritz, S., Hänsgen, C., Rudolf, M., (2000), Das Erleben von Arbeitsintensität und Tätigkeitsspielraum – Entwicklungen und Validierung eines Fragebogens zur orientierenden Analyse (FIT), in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 44(3), S. 129 – 139. Richter, P., Hille, B., Rudolf, M. (1999), Gesundheitsrelevante Bewältigung von Arbeitsanforderungen, in: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 20(1), S. 25–38. Rimann, M., Udris, I., (1997), Subjektive Arbeitsanalyse. Der Fragebogen SALSA, in: Strohm, O., Ulich, E. (Hrsg.), Unternehmen arbeitspsychologisch bewerten, Ein MehrEbenen-Ansatz unter besonderer Berücksichtigung von Mensch, Technik und Organisation, Zürich. Schmidt, K.-H., Kleinbeck, U., (1999), Job Diagnostic Survey (JDS – deutsche Fassung), in: Dunckel, H. (Hrsg.), Handbuch psychologischer Arbeitsanalyseverfahren, Zürich.

Die Messung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

111

Schöne, M.-L., Jäger, W., (2015), Handbuch über die Entwicklung, Validierung und Einsatzmöglichkeiten des Evaluierungsinstruments „mH-Screening 3.0“ zur Erfassung der psychischen Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz, in: Institut manageHealth (Hrsg.), mH-Screening 3.0 Gesundheitsradar, Screeningverfahren zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz, Mödling. (unveröffentlicht) Tang, K., (2015), Estimating productivity costs in health economic evaluations: A Review of instruments and psychometric evidence, in: PharmacoEconomics, 33(1), S. 31–48. Tuomi, K., Ilmarinen, J., Jahkola, A., Katajarinne, L., Tulkki, A., (1998), Work ability index, 2. Aufl., Helsinki. Wächter, H., Modrow-Thiel, B., Roßmann, G., (1989), Persönlichkeitsförderliche Arbeitsgestaltung, Die Entwicklung des arbeitsanalytischen Verfahrens ATAA, München et al. WAI-Netzwerk (Hrsg.), (2015a), Wie steht es um Ihre Arbeitsfähigkeit? WAI-Fragebogen & Auswertung (Langversion), URL: http://www.arbeitsfaehigkeit.uni-wuppertal.de/picture/upload/file/WAI-Langversion_mit%20Auswertung_2015.pdf (24.01.2019). WAI-Netzwerk (Hrsg.), (2015b), WAI-Manual. Anwendung des Work-Ability Index. URL: http://www.arbeitsfaehigkeit.uni-wuppertal.de/picture/upload/file/WAI-Manual.pdf (22.12.2018). Zhang, W., Bansback, N., Kopec, J., Anis, A. H., (2011), Measuring time input loss among patients with rheumatoid arthritis: validity and reliability of the Valuation of Lost Productivity questionnaire, in: Journal of Occupational and Environmental Medicine, 53(5), S. 530–536. Zhang, W., Bansback, N., Boonen, A., Severens, J. L., Anis, A. H., (2012), Development of a composite questionnaire, the valuation of lost productivity, to value productivity losses: application in rheumatoid arthritis, in: Value in Health, 15(1), S. 46–54.

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – Anforderungen an ein neues Instrumentarium Martin Ulber1 und Frauke Remmers2

Zusammenfassung

In vielen Regionen und Branchen Deutschlands herrscht ein Mangel an Fachkräften. Um zusätzlichen Personalengpässen durch arbeitsunfähige Mitarbeiter vorzubeugen muss die Arbeitsfähigkeit analysiert werden können. Die Digitalisierung des industriellen Sektors stellt neue Anforderungen an die Messung dieser und ähnlicher Konstrukte. Deshalb zielt dieser Beitrag darauf ab, zu bestimmen, welche Veränderungen der Arbeitsbedingungen und -anforderungen durch die Industrie 4.0 erwartet werden und welche Anforderungen diese Faktoren an die Messung der Arbeitsfähigkeit stellen. Dazu wurde eine strukturierte Literaturrecherche und -auswertung durchgeführt. Es zeigte sich, dass unter anderem physische Arbeitserleichterungen, eine größere Komplexität der Arbeitsumwelt, eine zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit sowie Veränderungen in der Kommunikation zu erwarten sind. Ein höherer Bedarf an Interdisziplinarität, IT-Kompetenz, Prozess- und Systemkompetenz sowie sozialen Kompetenzen wird vorausgesagt. Ebenso werden Arbeitspersonen mit der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens konfrontiert werden. Eine Über1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_8

113

114

Martin Ulber und Frauke Remmers

prüfung bestehender Instrumente zur Messung der Arbeitsfähigkeit auf diese Faktoren hin wird angezeigt.

1

Die Einleitung – Fachkräftemangel und Wandel der Produktion

In verschiedenen, für das produzierende Gewerbe relevanten, Berufsgruppen gibt es zu wenige Fachkräfte3 in Deutschland. Laut der Arbeitsmarktberichterstattung der Bundesagentur für Arbeit von Juni 2018 steigen die durchschnittlichen Vakanzzeiten in Berufsgruppen Fahrzeugtechnik, Softwareentwicklung und Programmierung sowie Energietechnik4. In zehn der deutschen Bundesländer gibt es einen Fachkräftemangel in der Softwareentwicklung und Programmierung und außerdem in der IT-Anwendungsberatung5. Fachkräfte der Mechatronik und Automatisierung fehlen in der Hälfte der Bundesländer und an Fachkräften der Energietechnik mangelt es in ganz Deutschland6. Vor allem MINT7-Fachkräfte werden vor dem Hintergrund der Digitalisierung in der Produktion immer wichtiger8. Bereits im Jahr 2013 arbeitete mehr als ein Drittel (38,2 %) aller MINT-Akademiker im Industriebereich, 61,3 % von ihnen sind zwar im Dienstleistungssektor tätig, doch dieser vollbringt durch Outsourcing von Industrieunternehmen viele industrienahe Dienstleistungen9. Zwar herrscht derzeit kein genereller Fachkräftemangel im Feld der MINT-Berufe, jedoch ist in den nächsten Jahren mit zahlreichen altersbedingten Abgängen zu rechnen10. Offene Stellen in den Berufsgruppen der Energietechnik, Softwareentwicklung und Programmierung, Informatik sowie des Maschinenbaus und der Betriebstechnik haben Vakanzzeiten von mehr als 100 Tagen11. Nach einer Befragung von Bitkom Research12 im Jahr 2016 sehen 3

Fachkräfte sind laut der Bundesagentur für Arbeit Personen mit einer abgeschlossenen mindestens zweijährigen Berufsausbildung oder einer vergleichbaren Qualifikation. 4 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): 2018a, S. 6 ff. 5 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): 2018a, S. 10 6 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): 2018a, S. 11 f. 7 Zu den sogenannten MINT-Fächern gehören Mathematik, Informatik, die Naturwissenschaften und Technik. 8 Vgl. Hammermann und Stettes: 2016 9 Vgl. Anger et al.: 2016, S. 9 10 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): 2018b, S. 16 f. 11 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.): 2018b., S. 18 12 Vgl. Bitkom Research (Hrsg.): (04.08.2016), https://www.bitkom.org/

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

115

53 % der Befragten13 den Mangel an Fachkräften als Hemmnis beim Einsatz von Industrie-4.0-Anwendungen. Deswegen ist es umso wichtiger, die Menschen, die bereits im industriellen Sektor tätig sind, arbeitsfähig zu halten. Um dies zu ermöglichen bzw. zu unterstützen, ist es notwendig, die derzeitige Arbeitsfähigkeit von Arbeitspersonen analysieren zu können. Eine derartige Analyse ist idealerweise auf die neuen Anforderungen und Arbeitsbedingungen, die sich durch die Digitalisierung des Produktionssektors ergeben, zugeschnitten. Allerdings fehlt es an solchen spezialisierten Messinstrumenten – nicht zuletzt, weil die zukünftige Anforderungs- und Bedingungslage zwar breit diskutiert, dadurch aber auch vergleichsweise unübersichtlich ist. Dabei zeichnen sich zwei entgegengesetzte Hauptströmungen ab: Ein „Upgrading“ von Qualifikationen und eine „Polarisierung“ von Qualifikationen14. Im Falle einer flächendeckenden Aufwertung („Upgrading“) sollen einfache, repetitive Tätigkeiten durch Automatisierung wegfallen15, für den Fall der Polarisierung wird eine „Erosion mittlerer Qualifikationsebenen“16 angenommen. Bei der ersten These ist auch der Begriff des „Werkzeugszenarios“ zutreffend, in dem „Automatisierung als Werkzeug, das heißt als Mittel zur Unterstützung des Menschen, angesehen“17 wird. Die zweite Annahme kommt dem „Automatisierungsszenario“ gleich, bei dem die Gefahr besteht, „dass lediglich noch solche Arbeitsaufgaben beim Menschen verbleiben, bei denen eine Automatisierung wirtschaftlich nicht sinnvoll umzusetzen ist.“18 Im Automatisierungsszenario tritt ein „Substitutionseffekt“ (Routinearbeiten werden ersetzt) und im Werkzeugszenario der „Komplementaritätseffekt“ (Unterstützung der Kreativität, Flexibilität des Menschen und bei komplexer Kommunikation oder anderen „Nicht-Routine-Tätigkeiten“) ein19. Da diese Annahmen sehr allgemein sind, müssen zunächst die zu erwartenden Änderungen der Arbeitsbedingungen und -anforderungen recherchiert, spezifiziert, geordnet und strukturiert werden, um zu erfahren, welche Aspekte von Messverfahren der Arbeitsfähigkeit in digitalisierten Produktionssystemen abgedeckt werden müssen. 13 Grundlage der Angaben ist eine repräsentative Befragung, bei der 559 Produktionsleiter, Vorstände oder Geschäftsführer von Industrieunternehmen ab 100 Mitarbeitern befragt wurden (vgl. Bitkom (Hrsg.): (04.08.2016), https://www.bitkom.org/). 14 Vgl. Hirsch-Kreinsen: 2015, S. 15–20 15 Vgl. Hirsch-Kreinsen: 2015, S. 16 16 Ittermann und Niehaus: 2015, S. 43 17 Deuse et al.: 2015, S. 152 18 Deuse et al.: 2015, S. 152 19 Vgl. Pfeiffer und Suphan.: 2015, S. 210

116

Martin Ulber und Frauke Remmers

Dieser Beitrag zielt auf die Beantwortung der folgenden Leitfragen ab: 1. Welche Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind im Produktionssektor durch die zunehmende Digitalisierung zu erwarten? 2. Welche neuen Arbeitsanforderungen werden für die Arbeitenden in produzierenden Unternehmen bzw. Systemen entstehen? 3. Welche Faktoren, bezogen auf die Arbeitsanforderungen, muss ein neuartiges Instrumentarium zur Analyse der Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der Digitalisierung in der Produktion abdecken? Nach der Einführung in die Problemlage, der Zielstellung und der Vorstellung der Leitfragen dieses Beitrags, erfolgt eine zusammengefasste theoretische Einordnung zur Arbeitsfähigkeit nach Ilmarinen und Tempel (2002) und die Bedeutung deren Messung herausgearbeitet. Es folgen allgemeine Hinweise für die Ausgestaltung von Messverfahren der Arbeitsfähigkeit. Anschließend wird die Strategie der angewendeten Recherche beschrieben und reflektiert bevor die Ergebnisse vorgestellt und interpretiert werden. Als Abschluss wird das Fazit des Beitrags gezogen. Der Beitrag ist am Anfang des zweiten Teils dieses Bandes verortet und vervollständigt die Grundlagen für die Entwicklung von Verfahren und Angeboten für den Produktionssektor, um Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

2

117

Die Arbeitsfähigkeit – die Bedeutung und Ausgestaltung ihrer Messung

Ausgangspunkt für die Förderung der Arbeitsfähigkeit oder eine Veränderung der Arbeitsbedingungen sollte eine Analyse sein, in der die aktuelle Arbeitsfähigkeit einer Arbeitsperson in ihrer jeweiligen Arbeitssituation ermittelt wird. Darauf aufbauend können fördernde und arbeitserleichternde Maßnahmen abgeleitet werden. Folglich müssen Faktoren der Arbeitsperson und der Arbeitssituation (Arbeitsbedingungen) beleuchtet werden. Zur Veranschaulichung kann das Haus der Arbeitsfähigkeit (siehe Kapitel 3) herangezogen werden. Die Faktoren der Arbeitsperson werden durch die ersten drei Stockwerke des Hauses der Arbeitsfähigkeit abgebildet. Das vierte Stockwerk (die Arbeit, Arbeitsumgebung, die Kollegen, Arbeitsanforderungen etc.) steht dabei für die Faktoren der Arbeitssituation. Aber beispielsweise auch die Familie oder der Freundeskreis können als Ressourcen der Arbeitsperson angesehen werden, die Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben können. Weitere Umweltfaktoren können weder von der Arbeitsperson noch von Unternehmen direkt gesteuert werden. Beispiele sind rechtliche Normen und Gesetze (politisch-rechtlich), Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenquote (ökonomisch) sowie Zukunftstechnologien und Investitionen in diese (technologisch). Sind diese Faktoren analysiert, ist eine möglichst umfassende Ist-Situation der Person hinsichtlich ihrer Arbeitssituation bzw. in diesem Fall ihrer Arbeitsfähigkeit bekannt. Um daraus nutzbringende Veränderungs- bzw. Entwicklungsziele und entsprechende Maßnahmen ableiten zu können, ist auch hier eine Prognose über die zukünftige Entwicklung ohne Maßnahmen von Interesse. Aus diesem Grund ergeben sich aus einer umfangreichen arbeitsbezogenen Situationsanalyse von Personen idealerweise auch Aussagen über ihr berufsbezogenes Potenzial (Prognose) und Ansatzpunkte, wie die Arbeitsfähigkeit langfristig erhalten und/oder verbessert werden kann. In der Literatur20 lassen sich Hinweise über Faktoren finden, die für die Ausgestaltung von Messverfahren für Konstrukte wie der Arbeitsfähigkeit generell als relevant angesehen werden können. Faktoren, die durch einen Bezug zur Digitalisierung Bedeutung für solche Instrumente erlangen können, werden an späterer Stelle in diesem Beitrag behandelt. Die Abfrage von Krankheiten bei der Erfassung der Arbeitsfähigkeit kann kritisch gesehen werden, da diese bei den Befragten zu einer Blockadehaltung führen und die Akzeptanz des Verfahrens abnehmen kann. Eine Selbsteinschätzung des psychischen und physischen Wohlbefindens bzw. der Gesundheit (inklusive even20 z. B. Amler: 2016

118

Martin Ulber und Frauke Remmers

tueller vorhandener Schmerzen) wird als ausreichend angesehen. Ebenso werden generische Tools gegenüber krankheitsspezifischen Tools bevorzugt21. Um das Konstrukt der Arbeitsfähigkeit vollständig zu erfassen, müssen neben der gesundheitsbezogenen Dimension auch alle anderen Ebenen dieses Konstrukts erhoben werden. Zentral sind dabei die für die zu verrichtende Arbeit relevanten Kompetenzen, die Einstellung zur Arbeit, intrinsische und extrinsische Motive sowie die Arbeitszufriedenheit, die auch mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängt. Auch das persönliche Umfeld kann die Arbeitsfähigkeit beeinflussen. Eine erlebte Selbstverwirklichung bzw. wahrgenommene Anerkennung der Arbeit im sozialen oder beruflichen Umfeld kann als motivationaler Faktor in den Interessensfokus eines Messverfahrens rücken. Zu den Arbeitsbedingungen gehören unter anderem Arbeitsinhalte und die Strukturierung der Arbeit, die Mitarbeiter- und Unternehmensführung und auch Umgebungsfaktoren wie beispielsweise die Fabrik- oder Raumgestaltung. Darüber hinaus kann auch die Erfassung monetärer Einsparungen oder verursachter Kosten bzw. Produktivitätsverluste durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit Teil entsprechender Betrachtungen sein22. In der praktischen Anwendung werden allgemein kurze Verfahren (bzw. Kurzversionen) längeren Verfahren vorgezogen. Hingegen können für klinische Studien bzw. bei der Entwicklung eines neuen Verfahrens umfassende Instrumente sinnvoll sein. Weiterhin sind die wissenschaftlichen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität zu beachten. Zusätzliche Faktoren, die von Bedeutung sein können, sind die Fähigkeit eines Instruments, auch kleine Veränderungen erfassen zu können, die Praktikabilität und die Benutzerfreundlichkeit eines Instruments, das Vorliegen von Referenzwerten für verschiedene Populationen sowie die möglichst freie Verfügbarkeit23. Bei Übersetzungen fremdsprachiger Verfahren ist ein Übersetzungs- und Adaptionsverfahren mit Rückübersetzung gemäß entsprechender Richtlinien24 mit anschließender Validierungsstudie notwendig.

3

Das Vorgehen – eine strukturierte Literaturrecherche

Das Vorgehen bestand zunächst aus einer strukturierten Literaturrecherche. Die angewendeten Arbeitsschritte nach Boyer und Wiedeking (2010) sind in Tabelle 1 dargestellt. 21 22 23 24

Vgl. zu diesem Absatz Amler: 2016, S. 325–328 Vgl. Mattke et al.: 2007; Tang, K.: 2015 Vgl. zu diesem Absatz Amler: 2016, S. 325–328 Vgl. Wild et al.: 2005; ITC (Hrsg.): 2005

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

119

Tabelle 1  Ausschlusskriterien der Situationsanalyseinstrumente Arbeitsschritte einer Recherche 1 Ermittlung des Informationsbedarfs à Definition der Fragestellung à Ableiten wichtiger Suchbegriffe 2 Identifizieren der relevanten Quellen à Überprüfung von Zugriff, Kosten, Zuverlässigkeit und Qualität à Hinzufügen weiterer Quellen im Verlauf der Recherche 3 Recherche und Selektion der Informationen 4 Auswertung der Ergebnisse 5 Aufbereitung und Bericht

Aus den definierten Leitfragen lassen sich folgende drei Obergriffe25 für die Suche ableiten: Industrie 4.0, Wirtschaftssektor und Arbeitsbedingungen/-anforderungen (vgl. Tabelle 1, Schritt 1). Dieses Vorgehen ist für Theorie- bzw. Review-Arbeiten („research review, literature review“) typisch26. Verwendet wurden die Datenbanken WISO27, und EBSCO28 sowie die Google-Suche29 (vgl. Tabelle 4, Schritt 2). WISO und EBSCO stellen ein umfangreiches Angebot zu Online-Wirtschaftsinformationen und -Publikationen bereit. Die Google-Suche soll dabei helfen, Publikationen von Verbänden, Stiftungen, staatlichen Institutionen etc. zu finden. Bei der Suche in den Datenbanken kam folgender Suchalgorithmus zur Anwendung (siehe Tabelle 2). Die Datenerhebung zielte auf deutschsprachige Literatur ab, um für den deutschen Wirkungsraum möglichst aussagekräftige und gültige Ergebnisse zu erlangen. Zusätzlich wurde die Datenmenge dadurch begrenzt und handhabbar gemacht. Außerdem wurden weitere Einschränkungen vorgenommen, um die Informationen zu selektieren (siehe Abbildung 2, Schritt 3). Es wurden lediglich Veröffentlichungen ab dem Jahr 2010 berücksichtigt, um die Aktualität der Daten zu gewährleisten. Obwohl die Thematik der Digitalisierung der Produktion unter dem Schlagwort Industrie 4.0 erst seit 2014 existiert30, gab es bereits davor Forschungen zu der sinnesgleichen Thematik. Bei Publikationen vor dem Jahr 2010 wurde 25 Vgl. Döring und Bortz: 2016, S. 158 26 Vgl. Döring und Bortz: 2016, S. 187 27 https://www.wiso-net.de/ 28 https://www.ebscohost.com/ 29 https://www.google.de/ 30 Vgl. BMBF (Hrsg.): 2014

120

Martin Ulber und Frauke Remmers

davon ausgegangen, dass die heutigen technologischen Entwicklungen noch nicht in einer breiten Masse bekannt bzw. absehbar waren und somit nicht der Thematik entsprechend diskutiert wurden. Tabelle 2 Suchalgorithmus Suchfelder Title/ Abstract/ Keywords Title/ Abstract/ Keywords Title/ Abstract/ Keywords

Suchbegriffe Industrie 4.0 Industrie 4.0 OR digital* OR Internet der Dienste OR Internet der Dinge OR smart* OR CPS OR cyber physical system OR cloud OR computing OR embedded software OR integrierte Software OR eingebettete Software Wirtschaftssektor Produktion* OR produzi* Gewerbe OR produzi* Sektor OR indus* Arbeitsbedingungen/-anforderungen Arbeitsbedingung OR Bedingung OR Arbeitsanforderung OR Anforderung OR Qualifikation OR Qualifizierung OR Kompetenz* OR Erwartung OR Mitarbeiter OR Personal OR Angestellt*

Operator AND

AND –

Die Literaturauswahl erfolgte im ersten Schritt mittels der Durchsicht der Titelbzw. Abstract31-Informationen. Dokumente mit relevanten Hinweisen wurden für die spätere Volltextanalyse aufgenommen und gespeichert. Lagen solche Zusammenfassungen nicht vor, wurde anhand der Inhaltsverzeichnisse und einzelner Abschnitte geprüft, ob die gesuchten Informationen enthalten sein konnten. Existierten keine Inhaltsangaben, beispielsweise in Zeitungsartikeln, erfolgte bereits zu diesem Zeitpunkt die Volltextanalyse. Die Publikationen wurden mittels der qualitativen Analysesoftware MAXQDA untersucht, um relevante Textstellen herauszufiltern (siehe Abbildung 2, Schritt 4). Es wurde kein umfassendes Codesystem angestrebt, sondern lediglich die Einteilung entsprechender Textstellen in Arbeitsbedingungen und -anforderungen angewendet. Hierbei fiel auf, dass sich die neuen Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen nicht immer eindeutig trennen lassen, da sich auch Anforderungen an die Arbeitspersonen aus den Bedingungen der Arbeit ergeben. Das Kodieren ist ein hochflexibles Verfahren zum Verständnis qualitativen Materials. Dabei geht es nicht um die Gesamtbedeutung des Textes, sondern um die Analyse des Textes aus einer ganz bestimmten Perspektive. In diesem Fall sind 31 Respektive Kurzfassungen, Executive Summarys, Management Summarys, Zusammenfassungen etc.

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

121

die zwei „Hauptcodes“ (s. zuvor) „theoriegeleitet“ entstanden, wobei Subcodes induktiv, das heißt datengesteuert, entstehen. Codieren ist besonders geeignet, wenn eine Theorie entwickelt werden soll. Das trifft in diesem Fall auf die Subcodes zu, die möglicherweise als präzisere Ordnung der gefundenen Ergebnisse fungieren können. Die hohe Flexibilität dieser Methode ist gleichzeitig ihre Schwäche, da es die einzig „richtige“ Kodierung für eine Textstelle nicht gibt32.

4

Die Ergebnisse – neue Arbeitsanforderungen und -bedingungen

Das nachstehende Kapitel zeigt die Befunde hinsichtlich der zu erwartenden Veränderungen der Arbeitsbedingungen und -anforderungen in der Produktionsarbeit durch die Digitalisierung der Arbeit. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden größtenteils mittels qualitativer Befragungen erhoben, teilweise kamen auch sekundäranalytisches Vorgehen und quantitative Verfahren zur Anwendung. Durch die Suche und Selektion wurden 83 Dokumente33 für die Volltextanalyse identifiziert. Nach der Analyse von ca. einem Drittel der Dokumente aus allen Dokumentengruppen wurde festgestellt, dass sich der Großteil hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und -anforderungen auf eine geringe Anzahl an Publikationen bezieht. Daraufhin wurde der Fokus auf sieben, als „Primärpublikationen“ identifizierte, Arbeiten gelegt und für die weitere Analyse berücksichtigt. Darüber hinaus wurden zwei Publikation zwei Dokumente aus dem Jahr 2016 miteinbezogen, die aufgrund ihrer Aktualität selten zitiert wurden. Um den Umfang des Beitrags zu limitieren, werden hier nur sehr prägnante Aussagen aufgezeigt. Eine der ersten Publikationen zu diesem Thema ist von Zeller, Achtenhagen und Föst34, die vom BMBF gefordert wurde und auf die „Früherkennung von Qualifikationserfordernissen“ abzielte. Sie erwarten folgende Änderungen der Arbeitsbedingungen und Qualifikationsbedarfe aufgrund des Einsatzes von Technologien des „Internets der Dinge“ im Produktionssektor (vgl. Tabelle 3): 32 Vgl. zu diesem Absatz Hussy et al.: 2013, S. 253 ff. 33 3 Print-Sammelbände, 1 Print-Journal, 12 Publikationen von Forschungsgruppen, 20 Publikationen staatlicher Institutionen, 4 wissenschaftliche Journalartikel, 4 Publikationen von Stiftungen, 6 Publikationen von Verbänden, Kammern und Vereinen, 7 Publikation von Unternehmensberatungen oder ähnlichen Institutionen, 13 Zeitschriftenartikel (z. B. industrie- und wirtschaftsnahe Zeitschriften), 13 Tageszeitungsartikel 34 Vgl. Zeller et al.: 2010

122

Martin Ulber und Frauke Remmers

Tabelle 3 Veränderte Arbeitsbedingungen und Qualifikationsbedarfe bei digitalisierter Produktionsarbeit nach Zeller et al.: 2010 Arbeitsbedingungen […] werden zukünftig wenig unterschiedliche Tätigkeiten vorzunehmen sein, diese aber dafür an einer Vielzahl von Maschinen. (S. 3)

Qualifikationsbedarfe Mechanik und Elektronik: Vertiefte Kombination von Kenntnissen beider Bereiche sowie zusätzliche Kenntnisse mechatronischer Systeme und erweiterte Programmier- bzw. Parametrierfähigkeiten für spezielle Software. (S. 5) Umgang mit Informationen im Rahmen der Außerdem wird verbale und schriftliche Analyse und Behebung von Problemen/ Kommunikation und Dokumentation häufig durch netzgestützte Kommunikation Störungen: höhere Anforderungen an die Analysefähigkeit, an den Umgang mit absabgelöst werden. (S. 4) trakten Informationen, die Fähigkeit zur selbstständigen Informationsbeschaffung sowie an die Organisation von Problemlösungsprozessen. (S. 5) sozial-/kommunikative und fremdsprachAuch der Umfang von Außenkontakten liche Kompetenzen: verbale Kompetenzen wird sich erhöhen – insbesondere über unterschiedliche Kommunikationsmedien, zur Vermittlung relevanter Sachverhalte, wobei infolge zunehmender Internationali- Kommunikation in englischer Sprache, Teamfähigkeit. (S. 5) tät die Konversation auf Englisch immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. (S. 4)

In den Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt 4.035 gehen die Forschungsunion und acatech von hochkomplexen, wandlungsfähigen und flexiblen Arbeitssystemen aus, die von den Mitarbeitern mehr Eigenverantwortung erfordern. Zusätzlich halten sie eine Entgrenzung der Arbeit für möglich, was positive Effekte auf die Work-Life-Balance der Arbeitspersonen haben kann. Die Änderungen hinsichtlich der Arbeitsanforderungen erwarten sie folgendermaßen (vgl. Tabelle 4):

35 Vgl. Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft und acatech (Hrsg.): 2013

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

123

Tabelle 4 Veränderte Arbeitsbedingungen und -anforderungen bei digitalisierter Pro­ duktionsarbeit nach Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft und acatech: 2013 Arbeitsbedingungen Die flexible Arbeitsorganisation ermöglicht es den Mitarbeitern, Beruf und Privatleben sowie Weiterbildung besser miteinander zu kombinieren und erhöht die Work-LifeBalance. (S. 5) Die zunehmende echtzeitorientierte Steuerung verändert Arbeitsinhalte, -prozesse und -umgebungen. (S. 6) Darüber hinaus werden Industrie-4.0Arbeitsplätze unter anderem unter Verwendung von CPS-Technologien so ausgelegt, dass die zwischenmenschliche Kommunikation unter den Beschäftigten befördert wird und Arbeitsunterstützung, Lernaufgaben sowie physisches Training in sinnvollen Intervallen in den Arbeitsalltag arbeitsplatznah integriert werden. (S. 60)

Qualifikationsbedarfe Darüber hinaus wird den Arbeitnehmern ein sehr hohes Maß an selbstgesteuertem Handeln, kommunikativen Kompetenzen und Fähigkeiten zur Selbstorganisation abverlangt. (S. 57) Dabei gilt es, die Grenzen zu den Naturund Ingenieurswissenschaften zu öffnen und überfachliche Kompetenzen wie Management oder Projektsteuerung stärker zu adressieren. (S. 59) Durch das Zusammenwachsen von IKT, Produktions- und Automatisierungstechnik und Software werden mehr Arbeitsaufgaben in einem technologisch, organisatorisch und sozial sehr breit gefasstem Handlungsfeld zu bewältigen sein. (S. 59)

Ebenfalls aus dem Jahr 2013 ist die Studie „Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0“36 Hier führte das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation Experteninterviews mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden durch (vgl. Tabelle 5).

36 Vgl. Spath (Hrsg.), Ganschar et al.: 2013

124

Martin Ulber und Frauke Remmers

Tabelle 5 Veränderte Arbeitsbedingungen und -anforderungen bei digitalisierter Pro­ duktionsarbeit nach Spath (Hrsg.), Ganschar et al.: 2013 Arbeitsbedingungen Steigende Vernetzung und der zunehmende Komplexitätsgrad werden dazu führen, dass die Fertigungstiefe in der Produktion weiter abnimmt und in Zukunft deutlich mehr Lieferanten-Netzwerke entstehen. (S. 43)

Arbeitsanforderungen Die kurzfristigere Einsatzflexibilität von Produktionsmitarbeitern erfordert nicht nur die systematischere Dimensionierung und Nutzung von Flexibilitätsinstrumenten durch die Unternehmen, sondern fordert auch zusätzliche Qualifikationen von den Mitarbeitern. (S. 86) Herr Glatz […]: „[…]. Die Bedeutung Das heißt auch, dass weniger große und des Menschen als Produktionsfaktor, der verstärkt kleine, dezentrale Produktionseinheiten genutzt werden. „Die Mitarbeiter wirklich handwerkliche Tätigkeiten übernimmt, nimmt ab. Es wird noch mehr dazu werden dann mehr unterschiedliche kommen, dass der Mensch eine steuernArbeitsinhalte haben, was vermehrt erfordert, dass die Arbeitsstruktur standardi- de Funktion haben wird und wesentlich siert wird“, erläutert Respondek-Osterloff. mehr Entscheidungen treffen muss. […]“ (S. 100 f.) (S. 44) Was sich hier noch ändern muss, beschreibt „[…] Wir müssen die Verständigung zum Beispiel Dr. Holfelder: „Die Nutzung zwischen den Einzeldisziplinen weiter verstärken, damit die Probleme in eine von Social Media im Unternehmen ist Informatiksprache übersetzt werden könnicht nur eine Technikfrage, sondern in nen“, […] Dr. Wittenstein […]. (S. 126) erster Linie eine Kulturfrage. Es muss zum Beispiel in Ordnung sein, dass ich von Zuhause aus an einem Meeting teilnehmen kann, ohne dass die anderen sich wundern.“ (S. 60) „[…] Sinnvoll ist es, kompakte zertifizierte „ […] Hierbei bieten die neuen TechnoInhalte zu schaffen, die on-the-Job erlogien wie Digitale Medien, Blended Learning, Distance Learning etc. völlig neue worben werden können. Dies ermöglicht auch Wechselfähigkeit und AustauschMöglichkeiten. So nimmt das Gelernte Verbindung mit der Tätigkeit auf und kann barkeit und macht eine Zusatzausbildung so zum Wert für die Mitarbeiter. […].“ bald eingesetzt werden. Wir nennen das Just-in-Time-Learning oder Just-in-Time- (S. 126) (Professor Spath) Training. […].” (S. 126) „In Summe werden wir langfristig wieder „[…] Nur an dem Device die Knöpfe oder die Schieber am Touchscreen zu bewegen, mehr Automatisierung haben. Es wird das ist viel zu oberflächlich. Die Mitmehr Unterstützung bei den Montagearbeiter müssen nachvollziehen können, tätigkeiten geben, um zum Beispiel was das insgesamt für den Zusammenhang ergonomisch ungünstige Bewegungen zu vermeiden“, meint Herr Respondek-Oster- bedeutet und was das für Folgen hat, wenn sie was wo bedienen.“ (S. 126) (Professor loff. (S. 129) Spath)

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

125

Aus dem Jahr 2014 ist die Untersuchung „Innovations- und Effizienzsprünge der chemischen Industrie“37, die vom VDI Technologiezentrum herausgegeben und von der Hans-Böckler-Stiftung finanziell unterstützt wurde. Das Methodenarsenal bestand aus einer Literatur- und Quellenanalyse sowie qualitativen Experteninterviews. In Bezug auf die Arbeitsanforderungen publizieren sie (vgl. Tabelle 6): Tabelle 6 Veränderte Arbeitsanforderungen bei digitalisierter Produktionsarbeit nach Malanowski und Brandt: 2014 Arbeitsanforderungen Mitarbeiter müssen für kurzfristigere, weniger planbare Arbeitstätigkeiten on-the-Job qualifiziert werden. (S. 35) Z. B. seien gute Englischkenntnisse und zusätzlich eine solide Basis im technischen Englisch sowie profunde Informatikkenntnisse, Systemwissen und -verständnis von großer Bedeutung in der zukünftigen Produktion. (S. 40)

Von 2014 ist auch die Untersuchung „Industrie 4.0 – Eine Revolution der Arbeitsgestaltung“38, von der Ingenics AG in Auftrag gegeben durch das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation bearbeitet wurde (vgl. Tabelle 7). Von Januar 2015 ist das Unternehmensbarometer zur Digitalisierung vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag39. Die Befragten ihrer Untersuchung gaben Qualifizierungsbedarfe in ihren Unternehmen in folgenden Bereichen an: IT-Sicherheit (61  %), Umgang mit spezifischen IT-Systemen (60  %), Prozess-Know-how und -Gestaltung (54 %), Datenschutz (49 %), eCommerce, Online-Marketing, Kundenbeziehungsmanagement (43 %) und Social Media (31 %)40. Auch im Abschlussbericht 41 des Arbeitskreises Smart Service Welt und der acatech lassen sich Hinweise auf mögliche Arbeitsbedingungen und -anforderungen digitalisierter Industriearbeit finden (siehe Tabelle 8). Die Vision der Smart Service Welt fokussiert ebenfalls industrielle Prozesse, da der Produktionsbereich unmittelbar an die Vision der Industrie 4.0 anschließt42.

37 38 39 40 41 42

Vgl. Malanowski und Brandt: 2014 Vgl. Schlund et al.: 2014 Vgl. DIHK (Hrsg.): 2014 Vgl. DIHK (Hrsg.): 2014, S. 16 Vgl. Arbeitskreis Smart Service Welt und acatech (Hrsg.): 2015 Vgl. Arbeitskreis Smart Service Welt und acatech (Hrsg.): 2015, S. 11

126

Martin Ulber und Frauke Remmers

Tabelle 7 Veränderte Arbeitsanforderungen bei digitalisierter Produktionsarbeit nach Schlund et al.: 2014 Arbeitsbedingung Industrie 4.0 wird Produktionsarbeit verändern. Mehr als die Hälfte der Befragten (51 %) erwartet, dass die Einführung von Industrie 4.0 zu einer Reduzierung einfacher, manueller Tätigkeit führt. (S. 6)

Arbeitsanforderung Selbstorganisation und dezentrale Entscheidungsfindung gewinnen an Bedeutung. (S. 21)

In Summe wird beim Betrachten der Ergebnisse deutlich, dass gerade Kompetenzen, die auf eine Erhöhung der Handlungssicherheit und die aktive Prozessverbesserung ausgerichtet sind, von den Befragten als besonders wichtig eingeschätzt wurden. (S. 25 f.) Die Fähigkeit, Prozessverantwortung zu Die zukünftige Entwicklung dieses Themas lässt allerdings viel erwarten, zeichnet übernehmen, diese weiterzuentwickeln sich doch schon heute ab, dass die indirekte sowie in vernetzten und domänenübergreifenden Prozessen zu denken und zu Führung verteilter Teams, Führung via Mobilgerät und Social Media rasant an Be- handeln, bildet neben der Erhöhung der IT-Kompetenz die wichtigsten qualideutung gewinnen. (S. 21) fikationstechnischen Handlungsfelder ab. (S. 26) Ein Anstieg des Anteils indirekter Mitarbeiter in planenden und steuernden Tätigkeiten wird von 54 % der Befragten vorausgesagt. (S. 6)

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

127

Tabelle 8 Veränderte Arbeitsanforderungen bei digitalisierter Produktionsarbeit nach Arbeitskreis Smart Service Welt und acatech (Hrsg.): 2015 Arbeitsbedingungen Bei der Konfiguration von entsprechenden Smart-Service-Geschäftsmodellen wird deutlich, dass dieser Anspruch nur durch ein Netzwerk von unternehmens- und branchenübergreifenden Partnern realisierbar wird. (S. 101)

Arbeitsanforderungen Kommunikative Fähigkeiten und Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Selbstorganisation und Systemverständnis sowie lebenslanges Lernen werden zur Grundvoraussetzung. Grundkenntnisse der Datenverarbeitung, das Arbeiten in virtuellen Räumen und die Nutzung digitaler Assistenzsysteme gehören zu den neuen Qualifikationsanforderungen. (S. 23) Die zunehmend arbeitsteilige Organisation An Arbeitszeiten und -inhalte werden höhere Flexibilitätsansprüche gestellt. Dies von Aufgaben und Tätigkeiten innerhalb eröffnet für Beschäftigte die Chance, Beruf von Kollaborations- und Transaktionsplattund Privatleben leichter miteinander zu ver- formen wirkt, neben diesen wachsenden Anforderungen an system- und prozessbinden. Arbeit wird räumlich und zeitlich mobiler. Die Arbeit zu Hause, die nur über analytische Kompetenzen, auch auf die konkrete fachliche Tätigkeitsebene zurück. das Internet mit den Kollegen verbunden (S. 107) ist, eröffnet bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. (S. 113)

Im April 2016 wurden erste Ergebnisse der „Kompetenzentwicklungsstudie Industrie 4.0“, die von der acatech43 herausgegeben wird, veröffentlicht. Sie stellen zusammenfassend fest, dass „die Themen Datenauswertung und -analyse, bereichsübergreifendes Prozess-Know-how und -management sowie interdisziplinäres Denken und Handeln, aber auch Kundenbeziehungsmanagement und Führungskompetenz von zentraler Bedeutung sind“44. Eine Systematisierung aller festgestellten relevanten Fähigkeiten aufseiten der Beschäftigten ist in Tabelle 9 aufgeführt.

43 Vgl. acatech (Hrsg.): 2016 44 acatech (Hrsg.): 2016, S. 5

128

Martin Ulber und Frauke Remmers

Tabelle 9 Systematisierung der Fähigkeiten der Beschäftigten (Eigene Darstellung der Daten nach acatech (Hrsg.): 2016, S. 12) Fähigkeiten der Beschäftigten Technologie-/ datenorientiert Prozess-/ kundenorientiert Infrastruktur-/ organisationsorientiert

• • • • • • • • • • •

Interdisziplinäres Denken und Handeln Beherrschung komplexer Arbeitsinhalte Fähigkeit zum Austausch mit Maschinen Problemlösungs- und Optimierungskompetenz Zunehmendes Prozess-Know-how Mitwirkung an Innovationsprozessen Fähigkeit zur Koordination von Arbeitsabläufen Dienstleistungsorientierung Führungskompetenz Treffen eigenverantwortlicher Entscheidungen Sozial-/Kommunikationskompetenz

Im Mai 2016 wurde die Studie „Industrie  4.0  – Qualifizierung 2025“45, die vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Auftrag gegeben wurde und demnach den Maschinen- und Anlagenbau fokussiert, veröffentlicht. Die Autoren betonen, dass der Zusammenhang der Arbeitsbedingungen in einer Industrie  4.0 und Qualifizierungsanforderungen thematisch kaum zu trennen seien46. Sie kombinierten qualitative und quantitative Methoden und werteten einen Datensatz der BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung sekundäranalytisch aus. Bei den qualitativen Erhebungen fiel auf, dass es den Befragten schwerfiel, eindeutige Aussagen über zukünftig bedeutungsvolle Kompetenzen zu treffen47. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen werden eine geringe Bedeutungsabnahme der Robotik und des Web 2.0, aber deutliche Bedeutungszunahmen von CPS, additiven Verfahren (z. B. 3-Druck) und Wearables erwartet. Die Robotik-Technologie wird dabei vor allem „als direkte Assistenz gesehen, die nach wie vor unverzichtbaren menschlichen Arbeitstätigkeiten ergonomisch sinnvoll zu unterstützen bzw. zu erleichtern, beispielsweise beim Heben von schweren Gegenständen.“48 Die Ergebnisse ihrer Befragung lauten (vgl. Tabelle 10):

45 46 47 48

Vgl. Pfeiffer et al.: 2016 Vgl. Pfeiffer et al.: 2016, S. 80 Vgl. Pfeiffer et al.: 2016, S. 93 Pfeiffer et al.: 2016, S. 103

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

129

Tabelle 10 Veränderte Arbeitsbedingungen und Qualifikationsbedarfe bei digitalisierter Produktionsarbeit nach Pfeiffer et al.: 2016 Arbeitsanforderungen Die Bandbreite an zukünftig potenziell benötigten IT-Kompetenzen der Beschäftigten reicht hier vom einfachen Bedienungswissen bis hin zur Modellierung und Administration komplexer IT-Architekturen, je nachdem in welcher Domäne die beruflichen Funktionsrollen angesiedelt sind […]. (S. 98) […] die Fähigkeit, Big Data basierte Informationen korrekt deuten und auf reale Bedingungen beziehen zu können, sowie die Fähigkeit, die damit potenziell zu verbindenden Geschäftsmodellinnovationen erkennen zu können. Für den Umgang mit Big Data sind also nicht IT-Kompetenzen entscheidend, sondern die branchenspezifischen technischen Kompetenzen. (S. 109)

5

Die Erkenntnis – je fünf bedeutende Veränderungen

Für das Ziel dieses Beitrags sind keine präzisen Anforderungsprofile oder konkrete Beispiele über veränderte Arbeitsbedingungen notwendig. Vielmehr reicht eine übersichtsartige Darstellung der Bereiche, die für die Arbeitsfähigkeit wahrscheinlich von Bedeutung sein werden. In den Tabellen 11 und 12 befinden sich in den Kategorien paraphrasierte Beispiele aus dem Ergebnisteil. Aufseiten der Arbeitsbedingungen (vgl. Tabelle 11) wird eine Arbeitserleichterung durch die Digitalisierung erwartet. Vor allem die Ausführung körperlich belastender Tätigkeiten soll zunehmend durch Roboter übernommen bzw. durch digitale Assistenzsysteme ergonomisch unterstützt werden. Das lässt Chancen vor allem für Ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte Mitarbeiter erwarten, die durch sinkende körperliche Belastungen länger eine gute Arbeitsfähigkeit aufweisen können. Die mögliche zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit kann zum einen eine bessere Balance des Arbeits- und Privatlebens ermöglichen. Andererseits können durch bestimmte Ausgestaltungsformen flexibler Arbeit auch Belastungen entstehen, indem es beispielsweise keine klare Grenze mehr zwischen Arbeits- und Freizeit gibt oder Mitarbeiter häufiger an verschiedenen Arbeitsorten eingesetzt werden. Auch wird publikationsübergreifend die Bedingung einer praxisnahen Weiterbildung erwartet. Das kann bedeuten, dass die Arbeitspersonen in der Lage sein müssen, komplexe Sachverhalte direkt am Arbeitsplatz zu verstehen, ohne vorher umfassende theoretische Schulungen erhalten zu haben. Diese steigende Komplexität der Arbeit durch in Echtzeit gesteuerte Maschinensysteme findet in allen Publikationen Erwähnung. Zu jener erhöhten Komplexität können auch die erwarteten Unternehmensnetzwerke beitragen. Die Bedingung, mit betriebsfremden Arbeitspersonen zusammen-

130

Martin Ulber und Frauke Remmers

zuarbeiten, kann eine Vielzahl von interdisziplinären und branchenbezogenen Kenntnissen sowie sozialen Kompetenzen erfordern. Als letzte Kategorie ließen sich viele Aussagen zu einer digitalen Kommunikation innerhalb produzierender Arbeitssysteme verdichten. Nicht nur durch Zusammenarbeit in Unternehmensnetzwerken müssen digitale Kommunikationsformen beherrscht werden, sondern auch zunehmende Dezentralität in Produktionsstätten erfordert die Kommunikation über Tablets, Smartphones und andere Wearables. Tabelle 11  Zusammenführung der erhobenen Arbeitsbedingungen Arbeitserleichterung durch Digitalisierung • Übernahme körperlich belastender Arbeiten durch Roboter • Übernahme von Routinetätigkeiten durch IT • Datenbrillen leiten bestimmte Arbeitsaufgaben an (beispielsweise Reparaturen) Entgrenzung der Arbeit bzw. zunehmende Flexibilitätserfordernisse • bessere Work-Life-Balance möglich • e vtl. zusätzliche Belastungen durch Einsatzflexibilität und unregelmäßige Arbeitszeiten Praxisnahe Weiterbildung • Fachkräfte werden unentbehrlich, sie müssen vor Ort sein • n eue Technologien ermöglichen Training, Coaching, Weiterbildung etc. am Arbeitsplatz steigende Komplexität • mehr Maschinen, dezentrale komplexere Arbeitsinhalte, -prozesse, -systeme etc. • Echtzeitsteuerung, wandlungsfähige und flexible Systeme Unternehmensnetzwerke  ntstehung von Lieferantennetzwerken und unternehmens- und branchen­ • E übergreifenden Partnernetzwerken, die Fertigungstiefe sinkt • M  ehr Außenkontakte und Internationalität erfordern Englischkenntnisse und den Umgang mit neuen Kommunikationsformen Veränderung der Kommunikation • Vermehrt digitale Kommunikation, weniger persönliche Kommunikation • kommuniziert wird über Tablets, Wearables etc.

Die zunehmend zentralen Qualifikationen und Kompetenzen lassen sich in die Bereiche Interdisziplinarität, IT-Kompetenz, Prozess- und Systemkompetenz, soziale Kompetenz(en) sowie Weiterbildung bzw. lebenslanges Lernen (vgl. Tabelle 12) unterteilten. Die IT-Kompetenz, die neben entsprechenden Kenntnissen vor allem den kompetenten Umgang mit Informationstechnik beinhaltet, wird eine zentrale Rolle spielen. Deswegen wird sie als eine Kategorie aufgeführt, obwohl Teile von ihr auch in den Bereich der Interdisziplinarität fallen. Neben den interdiszipli-

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

131

nären Fachkenntnissen geht es dort vorzugsweise um die Anwendungsfähigkeiten des fächerübergreifenden Wissens und um die effektive Zusammenarbeit mit Mitarbeitern anderer Fachbereiche. Dieser Aspekt ist nicht mit der Teamfähigkeit aus dem Gebiet der sozialen Kompetenzen zu verwechseln, deren Schwerpunkt darauf liegt, in einer Gruppe kooperativ zusammenarbeiten zu können. Die fachlichen oder überfachlichen Kenntnisse stehen bei der Teamfähigkeit nicht im Vordergrund. Zu den sozialen Kompetenzen zählen ebenso die kommunikativen (fremdsprachlichen) Kenntnisse und Fertigkeiten, selbstständiges Denken und Handeln und die interkulturelle Kompetenz. Hinsichtlich der Prozess- und Systemkenntnis geht es vor allem darum, einen Überblick über das gesamte Arbeitssystem und verschiedene Arbeitsprozesse zu haben. Dadurch soll es möglich sein, zügig Entscheidungen treffen zu können, was in echtzeitbasierten Systemen notwendig ist. Die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen kann als Grundvoraussetzung angesehen werden, um langfristig im digitalisierten Produktionssektor arbeitsfähig sein zu können. Wenn die Zeitspannen zwischen Innovationen und Neuerungen immer kürzer werden, ist ein stetiges Anpassungslernen gefordert. Auch „menschenspezifische“ Fähigkeiten (Denken, Assoziieren, Kreativität, Interaktivität etc.) fanden wiederholt Erwähnung. Wenngleich sie sich nicht eindeutig einer der Kategorien zuordnen lassen, werden sie als essenziell für das Erfüllen neuer Anforderungen angesehen. Es ist ferner davon auszugehen, dass Arbeitspersonen, die die abgeleiteten Qualifikationen und Kompetenzen aufweisen, Schwierigkeiten in einer zunehmend digitalisierten Produktion selbstständig begegnen können (Problemlösefähigkeit).

132

Martin Ulber und Frauke Remmers

Tabelle 12  Zusammenführung der erhobenen Arbeitsanforderungen Interdisziplinarität • Kombination von Mechanik, Elektrotechnik, und Informationstechnik • überfachliche Qualifikationen • (Einsatz-)Flexibilität • F  ähigkeit des überfachlichen Austauschs und der überfachlichen Zusammenarbeit mit fachfremden Kollegen in interdisziplinären Teams IT-Kompetenz • Kenntnisse über Funktechnologien • Umgang mit Daten (Analyse, Auswertung, Schlussfolgerungen etc.) • Kenntnisse über IT-Sicherheit und Datenschutz • U  mgang mit IT-Systemen (Steuerung, Administration, Programmierung, Modellierung etc.) • Nutzung verschiedener digitaler Kommunikationsmedien • Umgang mit Wearables, Tablets etc. Prozess- und Systemkompetenz • Kenntnisse über Wertschöpfungs- und Arbeitsprozesse • F  ähigkeit, sich zügig Überblick über System- und Netzwerkstrukturen verschaffen zu können • Verständnis für Zusammenhänge und Folgen von Entscheidungen • Prozessverbesserungs-, Problemlösungs- und Optimierungskompetenz • Prozesssteuerung und Treffen von Entscheiden • Mitwirken an Innovationsprozessen • Fähigkeit, Arbeitsabläufe zu koordinieren Soziale Kompetenzen49 • fachspezifische Englisch-/Fremdsprachenkenntnisse • Kommunikationsfähigkeit • Teamfähigkeit • Selbstständigkeit • Interkulturelle Kompetenz Weiterbildung bzw. lebenslanges Lernen • Weiterbildungsfähigkeit „on-the-Job“ bzw. „just-in-time“ • Anpassung an neue IT-Geräte • Bereitschaft bzw. Wille zum lebenslangen Lernen

Für die Beantwortung der ersten Leitfrage (Welche Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind im Produktionssektor durch die zunehmende Digitalisierung zu erwarten?) kann festgehalten werden, dass im produzierenden Sektor folgende Änderungen der Arbeitsbedingungen durch die zunehmende Digitalisierung zu erwarten sind: 49 Vgl. Kanning: 2002, S. 155–158

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

133

• immer mehr körperliche Arbeitserleichterungen und der zunehmende Wegfall von Routinetätigkeiten, • eine zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit, • Weiterbildung findet zunehmend am Arbeitsplatz statt, • die Komplexität der Arbeitsaufgaben und -systeme wird steigen, • durch (globale) Unternehmensnetzwerke findet die Zusammenarbeit nicht mehr nur im eigenen Betrieb statt, sondern auch mit Mitarbeitern anderer Unternehmen, • die Bedeutung und Häufigkeit digitaler Kommunikation wird zunehmen. Für die Beantwortung der zweiten Leitfrage (Welche neuen Arbeitsanforderungen werden für die Arbeitenden in produzierenden Unternehmen bzw. Systemen entstehen?) kann festgehalten werden, dass im produzierenden Gewerbe folgende Änderungen der Arbeitsbedingungen durch die zunehmende Digitalisierung zu erwarten sind: • Bedeutungszunahme interdisziplinären Wissens und Fähigkeiten der Zusammenarbeit sowie der IT-Kompetenz, Prozess- und Systemkompetenz und sozialer Kompetenzen, • ständige Bereitschaft und Fähigkeit, sich breit gefächert und arbeitsplatznah auch mithilfe neuer Technologien weiterzubilden, • durch körperliche Arbeitserleichterungen sinkt der Stellenwert der physischen Leistungsfähigkeit – bestimmte körperliche Beeinträchtigungen haben einen weniger großen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit als heute. Demnach kann für die dritte Leitfrage (Welche Faktoren, bezogen auf die Arbeitsanforderungen, muss ein neuartiges Instrumentarium zur Analyse der Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund der Digitalisierung in der Produktion abdecken?) festgestellt werden, dass Verfahren zur Bestimmung der Arbeitsfähigkeit, die folgende Kriterien abdecken, für den Einsatz in der Produktion unter den veränderten Bedingungen durch die Digitalisierung geeignet erscheinen: • Einschätzung der Ausprägung relevanter interdisziplinärer Kenntnisse bzw. Fähigkeit des Umgangs mit Fachkräften anderer Disziplinen • Einschätzung der Ausprägung der IT-Kompetenz • Einschätzung der Ausprägung von Prozess- und Systemkompetenz • Einschätzung der Ausprägung sozialer Kompetenzen • Einschätzung der Weiterbildungsfähigkeit bzw. -bereitschaft

134

Martin Ulber und Frauke Remmers

Neben diesen Bereichen gehören auch die weiteren Dimensionen der Arbeitsfähigkeit, wie die körperliche und psychische Gesundheit, die Rahmenbedingungen der Arbeit(s-stätte), die Motivlage und Ressourcen des sozialen Umfelds zu einer holistischen Erfassung. Für die Messung der Arbeitsfähigkeit können aufgrund dieser Erkenntnisse Implikationen abgeleitet werden. Im Bereich der Gesundheit kann der Schwerpunkt der Erhebung möglicherweise auf psychische Faktoren gelegt werden, da eine Komplexitätsverdichtung der Arbeit, oder der Umgang mit mehreren mobilen Geräten (Arbeitsunterbrechungen durch Kontaktaufnahmen, Erinnerungen, Anweisungen etc.) eher zu einer geistigen Erschöpfung als zu einer körperlichen führen. Hinsichtlich physischer Beschwerden können auf Bereiche fokussiert werden, in denen durch digitale Assistenzsysteme (z. B. Trage- und/oder Hebehilfen) eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit erzielt werden kann. Hinsichtlich der Kompetenzebene stehen disziplinübergreifende Kenntnisse bzw. die Fähigkeiten im Umgang mit (fach-)fremden Kollegen (gegebenenfalls auch Face-to-Face-Kommunikation), die IT-Kompetenz sowie die Prozess- und Systemkompetenz im Vordergrund. Neben der allgemeinen Motivlage der Arbeitsperson (intrinsische vs. extrinsische Arbeitsmotivation) können auch Einstellungen bezüglich der Digitalisierung erfragt werden. Ebenso kann die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen oder der Wille zum Umgang mit neuen Geräten und/oder Technologien (Weiterbildungsbereitschaft) von Interesse sein. Für die Erhebung der Arbeitsbedingungen sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Die Befragten können Aussagen zu als belastend empfundenen Arbeitsbedingungen treffen oder die Informationen werden durch Beobachtung erhoben. Beide Varianten können auch kombiniert werden. Im Verfahren sollte nicht von einer Homogenität neuer Arbeitsbedingungen durch die Digitalisierung ausgegangen werden, da die tatsächlich eingetretenen Veränderungen der Arbeitsbedingungen in den Betrieben bzw. der Grad der Digitalisierung in den Produktionsprozessen sehr unterschiedlich ausfallen können. Zu einer vollumfänglichen Erhebung der Arbeitsfähigkeit gehört auch die Beachtung des sozialen Umfeldes (vgl. Kapitel 3 dieses Beitrags) und wie dieses auf die Arbeitsfähigkeit einer Person einwirkt. Wie die Umsetzung der „Work-Life-Balance“ durch eine evtl. flexiblere Arbeitszeitgestaltung gelingt, kann ebenfalls an in diesem Kontext erfragt werden.

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

6

135

Das Fazit – Anforderungen an ein neues Verfahren

Ziel des vorliegenden Beitrags war es, Veränderungen der Arbeitsbedingungen und -anforderungen durch den Einzug der Digitalisierung in die Produktion zu ermitteln. Sie können als Anhaltspunkte dienen, welche inhaltlichen Anforderungen an ein neuartiges Messverfahren der Arbeitsfähigkeit in der Produktion zu stellen sind. Zu diesem Zweck erfolgte eine strukturierte Literaturrecherche und -analyse, durch die die gewonnenen Erkenntnisse verdichtet, geordnet und kategorisiert wurden. Den beiden Kategorien (Arbeitsbedingungen und -anforderungen bzw. Qualifikationsbedarfe) wurden die entsprechenden Textstellen der Publikationen zugeordnet. Durch den Verzicht auf die Paraphrasierung der Textstellen wurden Verzerrungen der Aussagen vermieden, jedoch kann ein gewisser Grad an Subjektivität bei der Auswahl der Betrachtungen nicht vollständig ausgeschlossen werden. Um der Trennung zwischen Arbeitsbedingungen und -anforderungen zu begegnen, wurden hinsichtlich der Anforderungen Aussagen gesucht, die zukünftige Qualifikationsbedarfe möglichst konkret benennen. Eine weitere Limitierung dieses Beitrags ist, dass lediglich deutschsprachige Veröffentlichungen berücksichtigt wurden. Ergebnisse nicht-deutscher Studien hätten möglicherweise ein umfassenderes Bild hinsichtlich der Veränderungen in der Produktion vor dem Hintergrund der Digitalisierung ergeben. Allerdings vertreten vor allem US-amerikanische50 und britische51 Untersuchungen die Theorie der breiten Rationalisierung menschlicher Arbeit durch Maschinen. Bei der Betrachtung dieser Studien wird oft übersehen, dass die Qualifikationsstrukturen, zumindest zwischen den USA und Deutschland, nicht einfach gleichzusetzen sind. „Die „Mitte“ der Beschäftigung ist in Deutschland vielfältiger als irgendwo sonst auf der Welt“52. Deswegen erscheint der Ausschluss von Arbeiten, die nicht den deutschen Produktionssektor als Gegenstand hatten, als vertretbarer Weg. Durch die Analyse der Daten stellte sich heraus, dass vor allem körperliche Arbeitserleichterungen, eine zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit, die Notwendigkeit einer kontinuierlichen und praxisnahen Weiterbildung, eine zunehmende Komplexität der Arbeitsumwelt, der Zusammenschluss von Unternehmen zu (Produktions-)Netzwerken und Veränderungen in der Kommunikation erwartet werden. Dadurch werden von den Arbeitspersonen mehr Interdisziplinarität, IT-Kompetenz, Prozess- und Systemkompetenz, soziale Kompetenzen sowie lebenslanges Lernen gefordert werden. Damit diese Ergebnisse in die Praxis der 50 Vgl. Brynjolfsson und McAfee: 2015 51 Vgl. Frey und Osborne: 2013 52 Pfeiffer und Suphan: 2015, S. 209

136

Martin Ulber und Frauke Remmers

Arbeitsfähigkeitsmessung einfließen können, müssen bestehende Verfahren auf die ermittelten Faktoren hin analysiert werden. Dabei sind zusätzliche Erkenntnisse über Stärken, Schwächen und Probleme bei der Messung der Arbeitsfähigkeit und verwandter Konstrukte zu erwarten.

Literatur acatech (Hrsg.), (2016), Kompetenzentwicklungsstudie Industrie 4.0 – Erste Ergebnisse und Schlossfolgerungen, München. Amler, N., (2016), Produktivität, Präsentismus und Arbeitsfähigkeit. Konzepte und Instrumente, Schriften zur Gesundheitsökonomie 25, Norderstedt. Anger, C., Koppel, O., Plünnecke, A., (2016), MINT-Frühjahrsreport 2016, Herausforderungen der Digitalisierung, Köln. Arbeitskreis Smart Service Welt, acatech (Hrsg.), (2015), Smart Service Welt – Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Internetbasierte Dienste für die Wirtschaft, Abschlussbericht, Langversion, Berlin. Bitkom Research (Hrsg.), (2016), Industrie 4.0 – wie Sensoren, Big Data und 3D-Druck die Produktion und die Arbeit in der Fabrik verändern URL: https://www.bitkom.org/Presse/ Anhaenge-an-PIs/2016/Bitkom-Pressekonferenz-Industrie-40–21–04–2016-Praesentation-final.pdf (11.01.2019). BMBF (Hrsg.), (2014), Die neue Hightech-Strategie, Innovationen für Deutschland, Berlin. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), (2018a), Fachkräfteengpassanalyse, in: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt, Nürnberg. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), (2018b), MINT – Berufe, in: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt, Nürnberg. Boyer, N., Wiedeking, M., (2010), Marktanalyse im Non-Profit-Bereich auf Basis der Sekundärforschung, in: Bär, M., Borcherding, J., Keller, B. (Hrsg.), Fundraising im Non-Profit-Sektor, Marktbearbeitung von Ansprache bis Zuwendung, Wiesbaden. Brynjolfsson, E., McAfee, A., (2015), The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird, 5. Aufl., Kulmbach. Deuse, J., Busch, F., Weisner, K., Steffen, M., (2015), Gestaltung sozio-technischer Arbeitssysteme für Industrie 4.0. in: Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P., Niehaus, J. (Hrsg.), Digitalisierung industrieller Arbeit, Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden. DIHK (Hrsg.), (2014), Wirtschaft 4.0: Große Chancen, viel zu tun, Das IHK-Unternehmensbarometer zur Digitalisierung, Berlin et al. Döring, N., Bortz, J., (2016), Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften, 5 Aufl., Berlin et al. Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft/acatech (Hrsg.), (2013), Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, Frankfurt am Main. Frey, C. B., Osborne, M. A., (2013), The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation?, Woring Paper. Oxford.

Die Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

137

Hammermann, A., Stettes, O., (2016), Qualifikationsbedarf und Qualifizierung. Anforderungen im Zeichen der Digitalisierung, IW policy paper 3, Köln. Hirsch-Kreinsen, H., (2015), Einleitung: Digitalisierung industrieller Arbeit, in: Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P., Niehaus, J. (Hrsg.), Digitalisierung industrieller Arbeit, Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden. Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P., Niehaus, J. (Hrsg.), (2015), Digitalisierung industrieller Arbeit, Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden. Hussy, W., Schreier, M., Echterhoff, G., (2013), Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften, Bachelor, 2. Aufl., Berlin et al. Ilmarinen, J., Tempel, J., (2002), Arbeitsfähigkeit 2010, Was können wir tun, damit Sie gesund bleiben?, Hamburg. ITC (Hrsg.), (2005), ITC Guidelines for Translating and Adapting Tests. URL: https://www. intestcom.org/files/guideline_test_adaptation.pdf (11.01.2019). Ittermann, P., Niehaus, J., (2015), Industrie 4.0 und Wandel von Industriearbeit. in: Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P., Niehaus, J. (Hrsg.): Digitalisierung industrieller Arbeit, Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden. Kanning, U. P., (2002), Soziale Kompetenz – Definition, Strukturen und Prozesse, in: Zeitschrift für Psychologie, 210(4), S. 154–163. Malanowski, N., Brandt, J. C., (2014), Innovations- und Effizienzsprünge in der chemischen Industrie?, Wirkungen und Herausforderungen von Industrie 4.0 und Co., Düsseldorf. Mattke, S., Balakrishnan, A., Bergamo, G., Newberry, S. J., (2007), A review of methods to measure health-related productivity loss. in: The America Journal of Managed Care. 13(4), S. 211–217. Pfeiffer, S., Lee, H., Zirnig, C., Suphan, A., (2016), Industrie 4.0  – Qualifizierung 2025, Frankfurt am Main. Pfeiffer, S., Suphan, A., (2015), Industrie 4.0 und Erfahrung., in: Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P., Niehaus, J. (Hrsg.), Digitalisierung industrieller Arbeit, Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen, Baden-Baden. Schlund, S., Hämmerle, M., Strölin, T., (2014), Industrie 4.0 – Eine Revolution der Arbeitsgestaltung, Wie Automatisierung und Digitalisierung unsere Produktion verändern werden, Ulm. Spath, D. (Hrsg.), Ganschar, O., Gerlach, S., Hämmerle, M., Krause, T., Schlund, S., (2013), Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Stuttgart. Tang, K., (2015), Estimating productivity costs in health economic evaluations: A Review of instruments and psychometric evidence, in: PharmacoEconomics, 33(1), S. 31–48. Wild, D., Grove, A., Martin, M., Eremenco, S., McElroy, S., Verjee-Lorenz, A., Erikson, P., (2005), Principles of good practice for the translation and cultural adaptation process for patient-reported outcomes (PRO) measures: report of the ISPOR task force for translating adaptation, in: Value in Health, 8(2), S. 94–104. Zeller, B., Achtenhagen, C., Föst, S., (2010), Das „Internet der Dinge“ in der industriellen Produktion – Studie zu künftigen Qualifikationserfordernissen auf Fachkräfteebene, Abschlussbericht, Überarbeitete Fassung. Nürnberg.

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit – Teil I eines partizipativen Ansatzes Frauke Remmers1 und Martin Ulber2

Zusammenfassung

Heute wird Gesundheitsförderung vorrangig in gesonderten Bemühungen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement (kurz: BGM) realisiert, ohne dass sie in die Gesamtstrategie des Unternehmens eingebettet ist und/oder einen monetär orientierten Charakter aufweisen würde. Die sogenannte Work-LifeHealth-Strategie (kurz: WLH) soll daher eine Möglichkeit aufzeigen, wie es Unternehmen in einem 2x4-Punkte-Plan gelingen kann, Bestrebungen zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit, zur Förderung der Gesundheit und damit einen ausgeglichenen Wertemanagement gleichermaßen zu realisieren, in dem alle Bereiche einer ethisch wie auch monetär orientierten Unternehmensführung ausbalanciert nebeneinander existieren und miteinander interagieren können. Dazu werden im vorliegenden ersten Teil vier Schritte dargestellt, die zunächst den Status quo der im Unternehmen existierenden Auffassungen zu den Bereichen Arbeit, Leben und Gesundheit erfassen. Es erfolgt eine Auswertung anhand von Kennzahlen mit daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen, die zugleich den Übergang zum zweiten Teil des partizipativen Ansatzes (siehe Kapitel 11) schaffen. 1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_9

139

140

1

Frauke Remmers und Martin Ulber

Einführung – Bestimmungsfaktoren der zukünftigen Arbeitsfähigkeit

Mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Produktionssysteme und der damit einhergehenden Verschlankung von Arbeits- und Prozessketten bei gleichzeitig abnehmender Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung und älter werdender Beschäftigter stehen die Unternehmen inzwischen vor der Herausforderung, ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter zu legen. Diese nicht nur langfristig zu erhalten, sondern kontinuierlich zu fordern und zu fördern geht nicht nur mit einer generell werteorientierten Personal- und Motivationspolitik einher, sondern zieht zur Realisierung auch eine feste Verankerung in der allgemeinen Geschäftsstrategie und dem Organisationsaufbau nach sich. Gerade mit dem Thema Digitalisierung hängen viele Befürchtungen zusammen: Wird der Mensch von ihr überrollt? Schafft die Digitalisierung die menschliche Arbeitskraft mittelfristig sogar ab? Erfolgs- und Innovationsfaktoren stellen zukünftig nicht nur die digitalen Entwicklungen dar, sondern auch die Fähigkeit, dem Menschen in seiner Arbeits- und Leistungsfähigkeit ein neues Rollenverständnis zuzuschreiben. Dazu gehört es auch, präventive Kompetenzen und Maßnahmen im Rahmen einer gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit zu etablieren und Mitarbeiter zunehmend in Strategie- und Organisationsprozesse aktiv mit einzubinden. Damit dies in Zukunft gelingen kann, ist eine interdisziplinäre Zusammenführung der Gestaltungsbereiche Gesundheit, Kompetenzen, Arbeitsinhalte, Digitalisierung, Strategie und Organisation unumgänglich, wofür es jedoch gerade in kleineren und mittelständischen, von der Digitalisierung im besonderen Maße betroffenen, Unternehmen keine geeigneten Konzepte gibt. Die Etablierung eines interdisziplinären Indikators soll dafür eine Möglichkeit aufzeigen, Arbeitsfähigkeit individuell und aufs Einzelunternehmen bezogen zu erfassen und für die Zukunft konkret skalierbare Handlungsoptionen aufzuzeigen, mit denen die Zusammenführung von Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Strategie, Kompetenzen und Digitalisierung gezielt gefördert werden kann. Konkrete Scoring-Werte liefern Anhaltspunkte für Maßnahmen, die langfristig die drei übergeordneten Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit sowohl aus Unternehmenswie auch aus Mitarbeiterperspektive im Kontext von Industrie 4.0 ausbalancieren und sowohl Unternehmen wie auch Mitarbeitern Hilfestellung – auch vor dem Hintergrund eines konkreten ROI – bieten. Die identifizierten Anforderungen an ein Instrumentarium zur Analyse der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Industrie (siehe Kapitel 8) wurden in einem ersten Teil eines konkreten Instruments umgesetzt, das die Beteiligung der Beschäftigten als Lösungsansatz in den Fokus stellt (Abbildung 1):

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

141

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

2

Erfassung des Status quo im Unternehmen – Konstruktion eines Verfahrens zur Situationsanalyse

Die Entwicklung des integrativen Modells hat gezeigt, dass der Mensch in der digitalisierten Wirtschaft und Industrie einen besonderen Stellenwert einnimmt3. Gleichzeitig wird der Erhalt und die Förderung der Arbeitsfähigkeit von mehreren Wissenschaftsdisziplinen nicht nur postuliert, sondern in Form von Lösungen, wie der Ermittlung des Work Ability Index4 oder dem Fünf-Säulen-Konzept5 zunehmend geprägt6. Die Humanisierung der Arbeit in den vergangenen Jahren hat jedoch vermehrt gezeigt, dass Unternehmen inzwischen erkannt haben, dass trotz fortschreitender Digitalisierung und Entwicklungen im Kontext von Industrie 4.0 eine gesunde, menschengerechte Arbeitskraft auch zukünftig eine tragende Säule wettbewerbsorientierter Unternehmen sein wird. Zudem werden Tendenzen zu einer verstärkten Fokussierung auf gesundheitliche und präventive Aspekte im Kontext der Arbeit herausgebildet. Allerdings – und dies ist vor allem im Kontext wirtschaftlicher Unternehmensführung von Interesse – ist die Investition in den Menschen stets mit zeitlichen, organisationalen und monetären Ressourcen verbunden, die vor dem Hintergrund eines zweifelhaften Return on Invest (ROI) der 3 4 5 6

Vgl. Spitzer, M.: 2015, S. 315 f. Vgl. Ilmarinen, J.; Tempel, J.: 2002 Vgl. Voelpel, S., Leibold, M., Früchtenicht, J.-D.: 2007 Vgl. Karl, D.: 2009

142

Frauke Remmers und Martin Ulber

stetigen Frage der Legitimierung unterliegen7. Investitionen in technische Anlagen und Maschinen lassen sich in Bezug auf den Leistungsoutput eindeutig erfassen; präventive, der Gesunderhaltung von Mitarbeitern dienliche und damit der Arbeitsfähigkeit fördernde Leistungen und Investitionen unterliegen demgegenüber seit jeher der Problematik, weder skalierbar noch in Form eines konkreten Nutzenversprechens im Rahmen existierender Geschäftsmodelle abbildbar zu sein.

3

Stand der Forschung – Ansätze der Work-Life-Balance

Nichtsdestotrotz existieren in der Praxis eine Vielzahl von Tools und Methodensettings, die darauf abzielen, vor allem im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsschutzes Maßnahmen – zumindest im Sinne von Einzelfallbetrachtungen – in Unternehmen zu etablieren, die sich verstärkt den Themen Work-Life-Balance, betrieblicher Gesundheitsschutz, Präventionsmöglichkeiten, Suchtberatungen und generell Themen zu einem sogenannten Well-Being widmen (gemeinhin als Betriebliches Gesundheitsmanagement, kurz: BGM, verstanden). Ihnen gemein ist jedoch die Tatsache, dass sie zwar in Bezug auf Prävention und Gesundheitsschutz durchaus ausgereifte Modelle und Verfahren zur Verfügung stellen, diese aber – insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen – nur schwer umzusetzen sind. Dies liegt daran, dass sie meist nur punktuelle Lösungsansätze bereithalten, ohne das Unternehmen und seine Mitarbeiter in der Gesamtschau, auch vor dem Hintergrund von Kultur, Strategie und Erhalt der Arbeitsfähigkeit, miteinzubeziehen. Zukünftig ist deshalb eine Betrachtung entsprechend des integrativen Modells (siehe Kapitel 3) aller Elemente, wie Gesundheit, Kompetenzen, Einstellungen und Werte sowie Arbeitsinhalte, -zielsetzungen und -strukturen vonnöten. Weiterhin müssen in neuen Ansätzen auch persönliche Lebens- und Gesundheitsumstände wie auch individuelle Arbeitsbedingungen und Unternehmenskulturen in einer stetigen Wechselbeziehung stehen8. Dies bedeutet, dass zukünftige Ansätze nicht nur allumfassend sämtliche Aspekte der Arbeitsgestaltung und -organisation berücksichtigen, sondern sich auch flexibel an die persönlichen Lebensumstände von Mitarbeitern anpassen müssen9. Die im Kontext des Projektes durchgeführten Fokusgruppeninterviews (siehe Kapitel 4) haben gezeigt, dass sich die Mitarbeiter der beteiligten Partnerunternehmen ein höheres Mitspracherecht bei Innovatio7 8 9

vgl. Remmers, F.: 2018; S. 283 Vgl. zum aktuellen Stand der Forschung z. B. Felfe, J., Wombacher, J.C.: 2016 (Untersuchung vom Zusammenhang zwischen Mitarbeiterbindung und Gesundheit) Vgl. Hollmann, S.: 2013

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

143

nen und die Übertragung von mehr Verantwortung bei zukunftsorientierten Entwicklungen und die aktive Einbindung in Change-Prozesse wünschen. Damit entsprechen sie auch dem in der Wissenschaft postulierten Gedanken, auf diese Weise Widerstände gegenüber Veränderungen zu reduzieren10 und durch kooperative Zusammenarbeit zwischen Geschäftsführung und Belegschaft eine vertrauensvolle Arbeitsumgebung zu gestalten. In der Forschung ist die Bedeutung der Mitarbeiterpartizipation bereits fest verankert, stellt in der Praxis jedoch nach wie vor eine große Herausforderung dar11. Dies liegt nicht nur daran, dass viele Unternehmen in ihrem Aufbau nach wie vor klassisch hierarchisch angeordnet sind12, sondern auch, dass der Begriff Partizipation in verschiedenen Umgebungen und Disziplinen einem äußerst defizitären Verständnis unterliegt. Vor allem dann, wenn interdisziplinäre Felder, wie Industrie und Wirtschaft, Psychologie und Gesundheit aufeinandertreffen, impliziert Partizipation häufig eine Assoziation mit Verlangsamung durch Diskussion, negativ beeinflusste Change-Prozesse und unwirtschaftlicher Arbeitsweisen ohne Entscheidung. Menzel definiert in diesem Kontext daher Partizipation recht weit gefasst und zwar als „sämtliche Verfahren der mentalen und realen Teilnahme an betrieblichen Entscheidungen über die Arbeitsbedingungen, mit dem Ziel, die eigenen Interessen zur Geltung zu bringen“13. Dies kann laut Wegge auch eine finanzielle Miteigentümerschaft und die Teilhabe der Mitarbeiter am Unternehmenserfolg mit einschließen14. In der vorliegenden Betrachtung steht allerdings primär die personale Partizipation der Mitarbeiter an betrieblichen Entscheidungen im Vordergrund, wozu ein kooperativer Führungsstil vonnöten ist, bei dem eine klare Kommunikation und das Vertrauen in die Mitarbeitenden wesentliche Grundpfeiler sind15. Vor diesem Hintergrund haben sich in jüngster Zeit vor allem Studien und Forschungsarbeiten aus den Bereichen der Gesundheitsdisziplinen, der Psychologie und auch der Sozialwissenschaften etabliert. Allen gemein ist die Erkenntnis, dass Arbeitsfähigkeit und zukunftsorientierte Absicherung durch Arbeit nur in einem ausbalancierten Verhältnis zu Umweltfaktoren und durch aktive Einbindung der Mitarbeiter möglich sind. Dies lässt sich jedoch nur dann realisieren, wenn entsprechende Tools, Maßnahmen, Konzepte oder auch Strategien flexibel genug sind, sich an die spezifischen Besonderheiten der Unternehmen mit den ihnen eigenen 10 11 12 13 14 15

Vgl. Vahs, D., Weiand, A..: 2010, S. 376 f. Vgl. Russ, T.L.: 2008, S. 204 Vgl. Menzel, W.: 2000, S. 51 Menzel, W.: 2000, S. 36 Vgl. Wegge, J.: 2004, S. 207 Vgl. Bittner, P., Remmers, F.: 2019; S. 17 f.

144

Frauke Remmers und Martin Ulber

Kulturen zu adaptieren. Die organisationale Beschaffenheit von Unternehmen entscheidet in besonderer Art und Weise über Erfolg bzw. Misserfolg verschiedener Varianten der betrieblichen Bemühungen, Arbeitsfähigkeit vor dem Hintergrund einer Balance sämtlicher Einfluss- und Umweltfaktoren zu generieren und zu erhalten16. Aus diesem Grund ist auch die Betriebswirtschaft und damit das Management von Unternehmen verstärkt auf das Thema der strategieorientierten Gesundheitsförderung aufmerksam geworden. Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) bedeutet in diesem Sinne, dass „Gesundheitsaspekte in Personal- und Managemententscheidungen grundsätzlich einfließen und zu einer eigenständigen Größe im Zielsystem des Managements werden.“17 Damit wird bereits deutlich, dass Gesundheitsmanagement, Gesundheitsförderung, die Achtsamkeit in Bezug auf Mitarbeiter und deren Einbettung in das Gesamtsystem auch vor dem strategischen Hintergrund der Gewinnmaximierung an Bedeutung gewinnt und nicht – wie vielfach bisher angenommen – eine freiwillige oder gar sozialorientierte Leistung von Unternehmen darstellt. Aktuelle Modelle und Überlegungen, die gesundheitsbezogenen Handlungsfelder mit anderen betrieblichen Handlungsfeldern abzustimmen und entsprechende Ziele neben anderen Zielen ins Managementsystem zu integrieren, gehen insbesondere auf die Forschungsarbeiten von Güntert18 und auf seine Begründung des sogenannten St. Gallener Gesundheitsmanagement-Konzeptes zurück19. Die Förderung der Mitarbeitergesundheit stellt in diesem Konzept einen integralen Bestandteil des Leitbildes und der Führungsgrundsätze dar und ist somit sogar als normative Grundlage zu verstehen, die auf strategischer und operativer Managementebene umgesetzt wird und damit auch finanzkalkulatorisch einen wesentlichen Stellenwert einnimmt20. Hinzu kommt der Aspekt, dass bei diesem Modell ein tatsächliches Interesse der Unternehmensführung daran besteht, Arbeitsabläufe sinngebend und nicht nur entsprechend den Arbeitsschutzbestimmungen zu gestalten und Mitarbeitern Raum zur Entfaltung zu geben21. Darüber hinaus ist es dann auch möglich, die Einflüsse von Umweltfaktoren entsprechend aufzunehmen und sämtliche Elemente der Arbeits-, Gesundheits- und Lebensgestaltung gleichermaßen zu berücksichtigen. 16 17 18 19

Vgl. Goldgruber, J.: 2011, Geleitwort Güntert, B.J.: 2004, S. 853 Vgl. Güntert, B.J.: 2004, S. 860 Vgl. Goldgruber, J.: 2012, S. 59 oder auch zum St. Gallener Management Konzept Rüegg-Stürm, J.: 2005 20 Vgl. Goldgruber, J.: 2012, S. 59 21 Vgl. Güntert, B.J.: 2004, S. 860–861

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

145

Nach Lenhardt und Rosenbrock ist die „dauerhafte Verankerung“ [des genannten, integrativen Modells als] „Querschnittskriterium betrieblicher Entscheidungen [jedoch] weit entfernt“22, da die Aktivitäten in der Praxis zumeist punktuell und von anderen betrieblichen Themen-, Entscheidungs- und Handlungsfeldern isoliert bleiben23. Auch entsprechen sie nicht dem Anspruch einer Return-on-Invest entsprechenden Strategieorientierung. Lenhardt und Rosenbrock haben somit das sogenannte „Idealmodell“ betrieblicher Gesundheitsförderung entwickelt, welches aus 14 Komponenten besteht, die allerdings als „Abstraktion von praxisüblichen Abweichungen vom Optimum“24 zu verstehen sind. Zusammengefasst fokussieren diese 14 Komponenten folgende Elemente: Leitbild- und Kulturorientierung Unabhängig davon, welche Maßnahmen das Unternehmen verfolgt, gesunde Arbeitsbedingungen und Well-Being der Mitarbeitenden zu generieren, sie müssen zur Ideologie und zur Kultur des Unternehmens passen und bereits existierende und für gut befundene Maßnahmen, wie den betrieblichen Unfallschutz und Arbeitsschutzmittel mit einbeziehen. Integration aller Unternehmensparteien Damit dies gelingen kann, ist der Einbezug und die Partizipation aller Unternehmensmitglieder insbesondere die der Mitarbeitenden entscheidend. Dadurch ist es nicht nur möglich, Widerstand- und Akzeptanzproblemen vorzubeugen, sondern auch ein sogenanntes Empowerment zu fördern. Im Idealfall können dazu informelle (Projekt-)Gruppen, bestehend aus Management und Mitarbeiter gleichermaßen, gebildet und ergänzende Betriebsvereinbarungen erlassen werden. Aktivierung von Impulsinstrumenten Qualitative Befragungen, Impulsvorträge von Krankenkassen und Gesundheitspartnern sowie die Sensibilisierung für die Integration einer ausbalancierten Unternehmensentwicklung sind nur einige Beispiele, die für das Interesse und damit für die Bereitschaft sorgen können, proaktiv an der Etablierung eines entsprechenden Strategiekonzeptes mitzuwirken. Dazu ist es hilfreich, skalierbare Ergebnisse aufzubereiten, die Mitarbeitende und Unternehmensführung gleichzeitig Handlungsbedarf und Handlungsoptionen offerieren. Im Idealfall werden so viele Elemente 22 Lenhardt, U., Rosenbrock, R.: 1999; S. 321 23 Vgl. Goldgruber, J.; 2012, S. 61 24 Rosenbrock, R.: 2006, S. 62

146

Frauke Remmers und Martin Ulber

und Faktoren wie möglich miteinbezogen, um ein möglichst umfassendes Bild des Unternehmens zu erlangen. Ableitung von Umsetzungsmodalitäten und Controlling Die Umsetzung und Verabschiedung von Betriebsvereinbarungen und von konkreten Maßnahmen im Rahmen von Budgetvorgaben stellt in dem Modell von Lenhardt und Rosenbrock eine idealtypische Situation des Empowerments dar. Die zukünftige Gestaltung der Arbeitssituation hängt ausschließlich von den gemeinsam erarbeiteten Meinungen und Vorschlägen der Unternehmensbeteiligten (dargestellt durch eine entsprechende Vertretergruppe) ab. Im Optimalfall hat diese Gruppe die Vollmacht, bis zu einer bestimmten Investitionssumme direkt und verbindlich über Angebote und Maßnahmen zu entscheiden und die Verwendung des Budgets anhand konkreter Erfolgsnachweise zu belegen. Dadurch kann sichergestellt werden, dass nicht nur die Steuerung, sondern auch die Kostenkontrolle wie auch die Planung eines entsprechenden Modells gleichermaßen Berücksichtigung findet und der Return-on-Invest für das Unternehmen besser nachweisbar wird. So kann auch dem Anspruch des betriebswirtschaftlichen Gedankens vollumgänglich entsprochen werden. Lenhardt und Rosenbrock statuieren mit ihrem 14-Punkte-Modell zusammenfassend den aktuellen Stand der Forschung, betriebliche Gesundheitsförderung mit Aspekten der Organisationsentwicklung zu paaren und zukunftsorientiert aufzustellen. Dennoch fehlt es an einem konkreten, praxisorientierten Umsetzungstool, welches den zuvor genannten Ansprüchen vollumfänglich entsprechen könnte. Die Annahme, dass Arbeitsfähigkeit nur dann erhalten, gefordert und gefördert werden kann, wenn sämtliche Aspekte der menschlichen und unternehmensorientierten Gewinnmaximierung inkludiert sind, begründet die Idee einer sogenannten Work-Life-Health-Balance (kurz WLHB). Diese soll im Folgenden als Lösungsansatz für die dargestellte Problematik aufgefasst werden, indem ein konkretes Umsetzungstool für die Realisierung des Idealmodells nach Rosenbrock und Lenhardt entwickelt wird.

4

Der Lösungsansatz – Work-Life-Health-Balance (WLHB) als Zukunftskonzept der Arbeitsfähigkeit

Die Auflösung der bisherigen Spannungsfelder zwischen den Ansprüchen zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit, eingebettet in ein komplexes System äußerer Einflüsse, wie der Digitalisierung oder dem demografischen Wandel, kann nur dann gelingen, wenn Mitarbeiter und Unternehmen gleichermaßen auf eine Balance zwischen den

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

147

Anforderungen der Arbeit (Work), des privaten Lebens (Life) und der Gesundheit (Health) hinarbeiten25. Auf Basis der vier übergeordneten „idealen“ Elemente wird daher nun ein Konzept vorgestellt, welches den Anspruch verfolgt, Work-Life-Health-Balance als idealtypische Situation zu verfolgen und strategisch, individuell zugeschnitten an die Bedürfnisse von Unternehmen, einzelne Schritte durchläuft. Das Modell gliedert sich in zwei Teile, wovon jedes insgesamt vier Schritte umfasst und die 2x4-Methode genannt wird. Die ersten vier Schritte umfassen die in Abbildung 2 dargestellte Abfolge, welche in Kapitel 11 um den zweiten Teil ergänzt werden.

Abbildung 2  Die ersten vier Schritte der WLHB-Strategie

Schritt 1: Situationsanalyse Für Unternehmen ist es heute von entscheidender Bedeutung, quantifizierbare Ist-Zustände in Bezug auf Produktivität, Ausfallquoten und Gesundheitszustand ihrer Mitarbeiter abzubilden26. Vor allem in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen vor dem Hintergrund der Digitalisierung geben Analysetools nicht nur Aufschluss über Fluktuation, Krankheitsquoten und Produktivität; auch der Grad der Digitalisierung, Einsparpotenziale und Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien zeigen Unternehmen Potenziale zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf. Der Weg zur Work-Life-Health-Balance beginnt daher mit einer Analyse, das die drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit erfasst. Die Zielsetzung besteht zum einen darin, mittels dieses Screening-Verfahrens Aufschluss über den Status quo zu gewinnen; andererseits aber vor allem in Bezug auf den Grad der Digitalisierung Auswirkungen auf die drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit zu erfassen und abzubilden. So ist es möglich, potenzielle Abweichungen zwischen einer allgemeinen Auffassung und einer, durch die Digitalisierung geprägten Meinung zu 25 Vgl. Remmers, F.: 2018, S. 287 26 Vgl. Losbichler, H.: 2015

148

Frauke Remmers und Martin Ulber

gewinnen. Um dies zu erreichen, wurde ein anonymisierter Fragebogen entwickelt, der nach einem allgemein einführenden Teil auf Basis bereichskompatibler Fragestellungen die drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit quantifizierbar erfasst. Abbildung 3 zeigt einen Ausschnitt des Fragebogens, anhand dessen die Kompatibilität der Fragestellungen erkennbar ist.

Abbildung 3  Auszug aus dem Fragebogen zur Erfassung des Status quo

Die möglichst exakte Kompatibilität ist einerseits vor dem Hintergrund einer balance-orientierten Auswertung vonnöten; andererseits wird eine breite Zugänglichkeit für eine heterogene Zielgruppe garantiert27. Im Vorfeld wurden Pretests mit Unternehmen aus dem industriellen Mittelstand durchgeführt, um die geeignete Frageform und Skalierung der Antworten (Skalierung von 1 = trifft gar nicht zu (negativ bewertet) bis 5 = trifft voll zu (positiv bewertet)) sowie um die wissenschaftliche Gütequalität der Fragen zu prüfen28. Durch ein eigens angelegtes Auswertungstool und einer entsprechenden Fragenskalierung ist es nun möglich, sowohl einzelfallbezogen, sprich individuumsorientiert oder einzelfragenorientiert, Antworten auszuwerten und Korrelationen aufzubauen. So konnte im Rahmen der Erprobung mit den beteiligten Praxispartnern Zorn Instruments und Liebherr eine 27 Vgl. Roth, E., Holling, H.: 1999 28 Vgl. Kromrey, H.: 2006; Porst, R.: 2008

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

149

deutliche Korrelation zwischen der zunehmenden Belastung am Arbeitsplatz aufgrund der Einführung digitaler Technologien und der Einschätzung der persönlichen Arbeitsbelastung festgestellt werden (Korrelation zwischen Aussage 1.9 und 3.9.1), während die Auswirkungen auf das Privatleben eine eher untergeordnete Rolle spielen. Umgekehrt bestand auf Basis der allgemeinen Fragen eine deutlich positive Unabhängigkeit zwischen der Belastungseinschätzung am Arbeitsplatz und den individuellen Einschätzungen des Privatlebens. Diese Erkenntnis würde bisherigen wissenschaftlichen Auffassungen widersprechen29. In der Gesamtschau ist es weiterhin möglich, die Ergebnisse der Befragung nicht nur als rein statistische Werte abzubilden, sondern auch als zusammenhängendes Dreieck mit entsprechenden Verschiebungen grafisch aufzubereiten. Praxisexkurs: Im Kontext des Projektes „Prädikatsarbeit“ wurden die beteiligten Partnerunternehmen zu ihrem Status quo zu den Aspekten Arbeit, Leben und Gesundheit mit dem dafür entwickelten Fragebogentool befragt und ausgewertet. Im ersten Unternehmen ergaben sich deutlich positive Werte für den Bereich Leben (3,9) und mittlere Werte für den Bereich Gesundheit (2,9). Der Bereich Arbeit wurde mit einem Durchschnittswert von 2,0 am schlechtesten bewertet. Bei Unternehmen 2 schnitt dieser Bereich hingegen mit 3,0 deutlich besser ab, wohingegen der Gesundheitsbereich mit 2,0 am schlechtesten bewertet wurde. Auch hier konnte der Bereich Leben mit 3,9 positive Werte erzielen. Unternehmen 1 weist demzufolge vor allem im Bereich der Arbeit Handlungsbedarf auf, während Unternehmen 2 eher im Bereich der Gesundheitsunterstützung aktiv werden müsste (Abbildung 4). Die Darstellung in Form des Dreiecks veranschaulicht die sogenannte „Schieflage“ des jeweiligen Unternehmens auf einen Blick. Je länger die einzelnen Seiten sind und desto größer damit das Dreieck, umso mehr Handlungsbedarf hat das Unternehmen. Da Arbeit, Leben und Gesundheit in unmittelbarer Wechselwirkung zueinander stehen, kann davon ausgegangen werden, dass bei der Verbesserung der Skalenwerte eines Bereiches auch die anderen zwei entsprechend positiv tangiert werden. Im Idealfall verkleinert sich im Laufe der Zeit und anhängig an entsprechende Maßnahmen das Dreieck, sodass die Durchschnittswerte zunehmen (bis im Idealfall 5) und das Dreieck (und damit der Handlungsbedarf) demzufolge immer kleiner wird.

29 Vgl. Jurczyk, K., Oechsle, M.: 2002, S. 5–8

150

Frauke Remmers und Martin Ulber

Abbildung 4  Auswertungsbeispiel des Status quo in den befragten Unternehmen

Schritt 2: Formulierung von unternehmensweiten Grundsätzen Die Unternehmenskultur nimmt bei Unternehmen seit jeher einen besonderen Stellenwert ein30. Dies zeigt nicht nur die Identitätsstiftung mittels einer einheitlichen Kultur an sich; auch Bemühungen, diese neu zu gestalten und sogar signifikant zu verändern stellen sich in der Praxis als besondere Herausforderung dar31. Auf dem Weg zu einem Work-Life-Health-balancierten Unternehmen ließe sich annehmen, dass die Veränderung der Unternehmenskultur eine wichtige Rolle einnimmt. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass Change-Prozesse größeren Ausmaßes jedoch häufig auf Widerstand stoßen und einen vergleichsweise geringen Nachhaltigkeitseffekt aufweisen32. Veränderungsprozesse stehen und fallen insofern damit, dass das emotionale Klima und die Bedürfnisse der Adressaten richtig eingeschätzt werden. Es ist sorgfältig zu beurteilen, wie viel Angst und Reaktanz ein Veränderungsvorhaben auslösen wird33. Einfacher gestaltet es sich hingegen, wenn Unternehmenskulturen um weitere Inhalte ergänzt und sowohl für die Unternehmensführung wie auch für die Mitarbeiter eine Art „Abkommen“ oder „Vertragsverhältnis“ implizieren. WLHB zielt auf diese Möglichkeit ab und bietet daher im zweiten Schritt die Formulierung von Grundsätzen an, die sich aus der 30 31 32 33

Vgl. Janich, N.: 2005 Vgl. Berner, W.: 2012 Vgl. Vahs, D., Weiland, A.: 2010, S. 244 f. Vgl. Berner, W.: 2010, S. 13 f.

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

151

Befragung in Schritt 1 ableiten. Die Formulierung sogenannter WLHB-Grundsätze ist deshalb von entscheidender Bedeutung, da nur der offizielle Charakter eines Abkommens auch praxisorientiert dazu beitragen kann, die in der Auswertung des Fragebogens aufkommenden Handlungsbedarfe schriftlich im Unternehmen zu verankern und dadurch eine gemeinsame Linie festzulegen. Das WLHB-Tool impliziert dafür eine automatische Vorschlagsgenerierung, die sich aus den schlechtesten Ergebnissen der Befragung ergibt (Skalenwerte 1 bis 3). Diesem Schritt liegt der Gedanke zugrunde, dass die am stärksten negativ bewerteten Aussagen des Fragebogens den dringendsten Handlungsbedarf hervorrufen. Das Tool bietet damit hinter jeder Frage sogenannte Vorschläge an Grundsatzformulierungen an, die individuell pro Frage abgerufen und als zukünftige Leitsätze im Unternehmen zunächst kommuniziert werden können. Die Formulierung dieser Grundsätze orientiert sich an der Fragestellung (invers formuliert), wie z. B. Frage/Aussage zum Bereich Gesundheit: Durch den Einsatz digitaler Technologien an meinem Arbeitsplatz hat sich der Anteil der Zeit, die ich mir für meine Gesundheit nehme, verbessert. (Aussage 3.12.1; Bewertung 2 = trifft nicht zu) Grundsatz: Wir sorgen für ein variables, bewegungsorientiertes Angebot in unserem Unternehmen. Sie liefern damit eine erste Verständigungsgrundlage für das Unternehmen und stehen in keinem Widerspruch zu der vorhandenen Unternehmenskultur, sondern sollen diese im Idealfall um die Betonung einer Trennschärfe von arbeits-, lebensund gesundheitsorientierten Aspekten ergänzen und untermauern34. Schritt 3: Workshop im Unternehmen Auch wenn das WLHB-Tool im Rahmen der automatischen Auswertung bereits hinterlegte Grundsätze für besonders negativ beurteilte Bereiche vorschlägt und damit zunächst gleichermaßen die Ansprüche von Management und Belegschaft erfüllt, ist eine Kommunikation der Ergebnisse und daraus abzuleitende Grundsätze, die speziell für das individuelle Unternehmen gelten, unabdingbar. Aus diesem Grund sieht das Vorgehen im weiteren Schritt die Durchführung eines geleiteten Workshops vor, an dem Vertreter der Unternehmensführung und Mitarbeiter gleichermaßen teilnehmen und die Auswertung des Fragebogens diskutieren bzw. daraus abzuleitende Grundsätze formulieren. Die praktische und selbstständige Erarbeitung entsprechender Grundsätze wurde im Rahmen der Projektarbeit mit dem Praxispartner Zorn Instruments erprobt und erfolgreich durchgeführt. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass der Automatismus der Auswertung auch um subjektive Empfindungen hinsichtlich Richtigkeit und 34 Vgl. Remmers, F.: 2018, S. 286

152

Frauke Remmers und Martin Ulber

Anwendbarkeit der Grundsätze praxisorientiert diskutiert und entsprechend angepasst werden kann. Die generierten Grundsatzvorschläge können so in einem praktischen Austausch um individuelle Besonderheiten des Unternehmens angepasst und sogar noch um weitere ergänzt werden, die das Tool nicht als „statistisch notwendig“ eingestuft hat. Praxisexkurs: Im Kontext der ersten drei Schritte von WLHB hat eine enge Zusammenarbeit mit den beteiligten Praxispartners des Projektes stattgefunden. Insbesondere die Workshops bei Zorn Instruments haben wesentliche Beiträge für die Entwicklung des Fragebogens und der Formulierung der Grundsätze, die zunächst im Tool hinterlegt sind, geliefert. So wurde in der engen Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden und Geschäftsführung nicht nur deutlich, dass Theorie und Praxis oftmals nicht zusammen realisierbar sind, sondern auch, wie hoch der Abstimmungsbedarf unternehmensintern zwischen allen Betriebsangehörigen ist. Insbesondere wurde im Kontext der Zusammenarbeit deutlich, dass sich vor allem die Mitarbeitenden des Unternehmens mehr Beteiligungs- und Verantwortungsspielräume wünschen und durchaus bereit sind, auch außerhalb der Arbeitszeit an Betriebsangeboten zur Gesunderhaltung teilzunehmen. Erste, aus dem Gesamtprojekt hervorgegangenen Maßnahmen, wie die Einführung eines Punktekontos für die Teilnahme an Rückenfit-Kursen und entsprechende Prämien konnten auch im Hinblick auf die Motivation positiv verzeichnet werden. In dem Workshop zur Entwicklung der Grundsätze bekamen die Mitarbeitenden die Möglichkeit, ohne die Beteiligung der Geschäftsführung ihre Ansicht von möglichen weiteren Vereinbarungen zu artikulieren, die anschließend erfolgreich der Geschäftsführung vorgelegt werden konnten (Abbildung 5).

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

Abbildung 5

153

Das WLHB-Team bei der Erarbeitung der Grundsätze

Schritt 4: Fixierung der 2x4-Grundsätze Die automatische Auswertung des WLHB-Fragebogens und dessen anhängige Verabschiedung von daraus resultierenden Vereinbarungen sollte im zunächst letzten Schritt mit der Fixierung von insgesamt maximal acht Grundsätzen schließen, die für eine Laufzeit von zwei Jahren angelegt sind . Dadurch ist es möglich, nicht nur im Rahmen einer wertschätzend und nachhaltig angelegten Unternehmenskultur und Mitarbeiterführung einen festgelegten Orientierungsrahmen zu offerieren35, der die bestehende Unternehmenskultur in keinster Weise torpediert, sondern auch ein verbindliches Dokument in der Kommunikation zwischen den Mitarbeitern und der Unternehmensführung zu etablieren . Dieses kann bei einer turnusgemäßen, erneuten Befragung nach zwei Jahren neu aufgesetzt und – entsprechend der dann herrschenden Situation im Unternehmen – flexibel angepasst und verändert werden . Die konkrete Ausgestaltung dieser Grundsätze manifestiert sich in weiteren vier Schritten, auf die in Kapitel 11 näher eingegangen wird . Praxisexkurs: Durch die enge Zusammenarbeit mit Zorn Instruments konnte während der Entwicklungs- und Realisierungsphase von WLHB deutlich werden, wie die Mitarbeitenden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit wahrnehmen . Aber auch eine, von der Digitalisie35

Vgl . Bittner, P ., Remmers, F .: 2019, S . 17 f .

154

Frauke Remmers und Martin Ulber

rung unabhängige Betrachtung des Zusammenspiels verdeutlichte sowohl Mitarbeitenden wie auch Geschäftsführung, dass weder nur das Unternehmen noch nur die Mitarbeitenden für eine Balance ihrer Lebensbereiche allein verantwortlich sind. Es hat sich deutlich gezeigt, dass nicht nur Arbeit, Leben und Gesundheit eine Balance bilden müssen, sondern auch der Austausch und die Kommunikation innerhalb des Unternehmens auf allen Ebenen. Die Auswertung des Fragebogens wie auch die Workshops haben aufgezeigt, wo potenzielle Verbesserungsmöglichkeiten etabliert werden können. Die entwickelten Grundsätze wurden von der Geschäftsführung als zielführend erachtet und in, die Unternehmenskultur ergänzende, Leitlinien offiziell übersetzt und verankert. Um die langfristige Nachhaltigkeit dessen zu gewährleisten, wurde ein abteilungsübergreifendes Team aus Beschäftigten (WLHB-Team) gegründet, welches die Realisation von WLHB begleiten und überwachen soll und zugleich als Ansprechpartner für die konkrete Quantifizierbarkeit in den Arbeitsschritten 5 bis 8 (siehe Kapitel 11) dienen soll.

5

Fazit – WLHB (Schritt 1 bis 4) als ganzheitlicher Analyseansatz

Unternehmen und Menschen in der digitalen Wirtschaft können dann erfolgreich sein, wenn Aspekte der Arbeit, des Lebens und der Gesundheit gleichermaßen berücksichtigt und im Idealfall miteinander in Einklang gebracht werden. Unternehmen sollten daher zunehmend ihre Energie nicht nur in den Ausbau ihrer (digitalen) Geschäftsmodelle und Prozesse investieren, sondern ihr wesentliches Kapital – den Menschen – mindestens genauso viel, wenn nicht mehr Achtsamkeit und Beachtung entgegenbringen. Gelingen kann dies durch eine Work-Life-Health-Balance. Die vorgestellten ersten vier Schritte auf dem Weg zu einem ausbalancierten Unternehmen bieten erste Ansätze, wie Unternehmen quantifizierbar Aufschluss über die einzelnen, die Arbeitsfähigkeit erhaltenden Elemente erlangen können. Die individuelle wie auch unternehmensweite Abbildung der eingeschätzten Work-Life-Health-Balance offeriert somit einen deutlichen Bezug zu potenziellen Handlungsfeldern, die einem bisher eher punktuell orientierten Weg entgegenstehen. Den Ansprüchen, die sich aus dem integrativen Modell ergeben haben, wird damit vollumfänglich Rechnung getragen.

Ein Instrumentarium zur holistischen Analyse der Arbeitsfähigkeit …

155

Literatur Berner, W.: 2010, Change! 15 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung. Schäffer-Poeschel; Stuttgart. Berner, W.: 2012, Culture Change – Unternehmenskultur zum Wettbewerbsvorteil machen; Schäffer-Poeschel; Stuttgart. Bittner, P., Remmers, F.: 2019, Nachhaltige Personalführung in der digitalisierten Industrie; in: Nachhaltigkeit im interdisziplinären Kontext; Hrsg.: SRH Fernhochschule; Springer Verlag Felfe, J., Wombacher, J. Ch.: 2016, Mitarbeiterbindung und Gesundheit; in: Fehlzeiten-Report 2016: Unternehmenskultur und Gesundheit – Herausforderungen und Chancen; S. 129–138 Goldgruber, J.: 2012, Organisationsvielfalt und betriebliche Gesundheitsförderung; Gabler Verlag Güntert, B. J.: 2004, Gesundheitsstrategien/-management. In E. Gaugler (Hrsg.), Handwörterbuch des Personalwesens. 3. neubearbeitete Aufl. (S. 853–863). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Hollmann, S.: 2013, Sustainable Leadership – Modellentwicklung, empirische Überprüfung und Gestaltungshinweise; Springer Verlag Ilmarinen, J., Tempel, J.: 2002, Arbeitsfähigkeit 2010 – Was können wir tun, dass Sie gesund bleiben? Hamburg; VSA-Verlag Janich, N.: 2005, Unternehmenskultur und Unternehmensidentität – Wirklichkeit und Konstruktion; Springer Verlag; Wiesbaden Jurczyk, K., Oechsle, M.: 2002, Moderne Zeiten: Zur Entgrenzung von Arbeit und Leben; Heftthema; in: Diskurs; Jg. 12, Heft 3; Seite 5–8 Karl, D.: 2009, Arbeitsfähigkeit – ein ganzheitlicher integrativer Ansatz; Hrsg.: Knauth, P.; Peter Lang Verlag; Band 31 Kromrey, H.: 2006, Empirische Sozialforschung, Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, 11. Auflage, Lucius & Lucius, Stuttgart Lenhardt, U., Rosenbrock, R.: 1999, Betriebliche Gesundheitsförderung durch Krankenkassen. Rahmenbedingungen, Angebotsstrategien, Umsetzung, edition sigma Verlag Losbichler, H.: 2015, Handbuch der betriebswirtschaftlichen Kennzahlen: Key Performance Indicators für die erfolgreiche Steuerung von Unternehmen; Linde Verlag Ges.m.b.H.; Auflage: 1. Auflage 2015 Menzel, W.: 2000, Partizipative Fabrikplanung: Grundlagen und Anwendung. Als Ms. gedr. Düsseldorf: VDI-Verl. Porst R.: 2008, Fragebogen: Ein Arbeitsbuch, 1. Auflage, VS-Verlag, Wiesbaden Remmers, F.: 2018, Gesundheitsschutz im Kontext von Industrie 4.0 – in Balance mit der WLHB™-Strategie; in: Zeitschrift: Betriebliche Prävention; ESV-Verlag; S  282–286 Rüegg-Stürm, J.: 2005, Das neue St. Galler Management-Modell: Grundkategorien einer modernen Managementlehre. Der HSG-Ansatz. Bern u.a.: Haupt. Rosenbrock, R.: 2006, Betriebliche Gesundheitsförderung als Systemeingriff. In W. Bödeker & J. Kreis (Hrsg.), Evidenzbasierung in Gesundheitsförderung und Prävention (S. 57–71). Bremerhaven: Wirtschaftsverl. NW.

156

Frauke Remmers und Martin Ulber

Roth, E., Holling H.: 1999, Sozialwissenschaftliche Methoden: Lehr- und Handbuch für Forschung und Praxis, 5. Auflage, Oldenbourg, Wien, München Russ, T. L.: 2008, Communicating Change: A Review and Critical Analysis of Programmatic and Participatory Implementation Approaches. Journal of Change Management 83–4, S. 199 –211 Spitzer, M.: 2015, Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesellschaft ruiniert; Droemer Vahs, D., Weiand, A.: 2010, Workbook Change-Management. Methoden und Techniken;. 1. Aufl.; Schäffer-Poeschel; Stuttgart Voelpel, S., Leibold, M., Früchtenicht, J.-D.: 2007, Herausforderung 50 plus. Konzept zum Management der Aging Workforce: Die Antwort auf das demographische Dilemma. Erlangen: Publicis KommunikationsAgentur GmbH Wegge, J.: 2004, Führung von Arbeitsgruppen; Göttingen [u.a.]; Hogrefe, Verl. für Psychologie.

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion – die Entwicklung eines Maßnahmensets Martin Ulber1 und Paul Bittner2

Zusammenfassung

Die Digitalisierung führt dazu, dass mehr als die Hälfte der Beschäftigten aller Branchen eine höhere Arbeitsmenge und knapp die Hälfte der Beschäftigten eine größere Arbeitsmenge wahrnehmen3. Betrachtet man verschiedene produzierende Gewerbe, liegen die Werte größtenteils noch höher4. Darüber hinaus führt die Digitalisierung zu Veränderungen in den Arbeitsbedingungen und -anforderungen in allen Bereichen, was auch neue Erfordernisse an den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Arbeitsgestaltung stellt. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) müssen somit sowohl ihre Arbeitsprozesse als auch ihre Strukturen zum Schutz und der Gesundheitsförderung ihrer Mitarbeiter an die Veränderungen durch die Digitalisierung anpassen. Es wird ein arbeitsgestalterisches Maßnahmenset vorgestellt, das Besonderheiten von KMU berücksichtigt und ihnen erleichtert, gesundheitsfördernde Maßnahmen anzubieten. Um Maßnahmen für ein solches Set zu identifizieren, wurde eine Literaturrecherche durchgeführt. Das vorgestellte Maßnahmenset orientiert 1 2 3 4

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hrsg.): 2017, S. 50 f. Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hrsg.): 2017, S. 51, 76

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_10

157

158

Martin Ulber und Paul Bittner

sich am „Haus der Arbeitsfähigkeit“ und enthält sowohl schnell umzusetzende als auch komplexere Maßnahmen.

1

Die Einführung – erhöhte Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung

Die Digitalisierung der Arbeitswelt führt zu Veränderungen in den Arbeitsbedingungen. Maschinen, Anlagen, Logistik- sowie Produktionsprozesse und auch der Mensch werden miteinander vernetzt, wodurch neue Anforderungen für Arbeitspersonen entstehen5. Im Jahr 2016 gaben 55 % der Beschäftigten aller Branchen an, durch die Digitalisierung mit einer eher größer gewordenen Arbeitsmenge konfrontiert zu sein6. Bei derselben Befragung berichteten ebenfalls 48 % der Beschäftigten aller Branchen von einer eher größer gewordenen Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung7. Betrachtet man nur die Chemiebranche, die Metallerzeugung und -bearbeitung, den Maschinen- und Fahrzeugbau sowie das sonstige verarbeitende Gewerbe, liegen die Werte für eine eher gestiegene Arbeitsmenge zwischen 51 % und 68 % und für eine eher größer gewordene Arbeitsbelastung zwischen 42 % und 60 %8. Vergleicht man die Gesundheitsberichte verschiedener Krankenkassen, fällt auf, dass psychische Erkrankungen (16,6 % bis 19,1 %) nach Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems (21,8 % bis 24,7 %) die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit sind9. Somit befindet sich nicht nur die Arbeitswelt im Wandel, sondern auch der Gesundheitszustand bzw. die Krankheitshäufigkeiten von Arbeitspersonen. Ein Grund hierfür kann sein, dass durch das zunehmend digitale Zusammenschmelzen der Arbeitsprozesse Arbeitsfehler und Abweichungen vom Soll-Zustand schneller registriert werden und die Arbeitskräfte sich einer gesteigerten Überwachung und Kontrolle ausgesetzt fühlen (46 %)10. Arbeitsausfälle von Mitarbeitenden bedeuten für Unternehmen auch immer eine finanzielle Belastung. Deswegen ist die gezielte Steigerung der Gesundheit von Mitarbeitern eine mögliche Strategie, um die Kosten von Fehlzeiten zu redu5 6 7 8 9

Vgl. McKinsey Digital: 2015, S. 45 Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hrsg.): 2017, S. 50 f. Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hrsg.): 2017, S. 75 f. Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hrsg.): 2017, S. 51, 76 Vgl. Grobe et al.: 2018, S. 11; Knieps und Pfaff (Hrsg.): 2018, S. 18; Marschall et al.: (2018), S. VII 10 Vgl. Institut DGB-Index Gute Arbeit: 2016, S. 13

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

159

zieren. Um diesem Ziel näher zu kommen, können Unternehmen aktiv die Gesundheit ihrer Mitarbeiter fördern, indem sie Maßnahmen, die über die gesetzlichen Vorgaben zum Schutz von Beschäftigten vor arbeitsbedingten Sicherheits- und Gesundheitsgefährdungen hinausgehen (siehe z. B. Arbeitsschutzgesetz, Arbeitsstättenverordnung, Infektionsschutzgesetz etc.), anbieten. Solche Maßnahmen können in einem betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) gebündelt werden. Ein derartiges Managementsystem soll gesundheitsförderliche Strukturen schaffen, durch welche es den Beschäftigten erleichtert wird, sich in Eigenverantwortung gesundheitsbewusst zu verhalten und Belastungen reduziert werden. Das BGM fußt auf den drei Säulen der betrieblichen Gesundheitsförderung (z. B. Sportangebote), Arbeits- und Gesundheitsschutz, das heißt Maßnahmen zur Unfallverhütung und zum Schutz der Arbeitenden, und dem betrieblichen Eingliederungsmanagement, das Beratungs- und Unterstützungsangebote enthält11. Erfolgsfaktoren dabei sind eine unterstützende Führungskultur, Qualifikation der Mitarbeitenden, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie eine Arbeitsgestaltung, die sich an verschiedene Altersgruppen anpasst12. Viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) können die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen zur Etablierung einer solchen institutionalisierten betrieblichen Gesundheitsförderung und -erhaltung nicht aufbringen, weswegen es oft lediglich bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien bleibt13. Deswegen ist es Ziel dieses Beitrags, ein arbeitsgestalterisches Maßnahmenset vorzustellen, das es KMU ermöglicht, ihren Mitarbeitenden auch ohne institutionalisiertes BGM gesundheitsfördernde Maßnahmen zu offerieren. Dabei soll auch den Besonderheiten der Digitalisierung und des produzierenden Gewerbes Rechnung getragen werden. Nach der Einleitung werden Herausforderungen der Digitalisierung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie der Arbeitsgestaltung aufgezeigt. Darauf folgt der methodische Teil, der die Erstellung des Maßnahmensets beschreibt. Anschließend wird das Maßnahmenset beschrieben und dessen Aufbau erklärt. Einige enthaltene Unterbereiche werden exemplarisch vorgestellt. Eine detaillierte Beschreibung einzelner Maßnahmen erfolgt ebenso wenig wie eine Diskussion derer Vor- oder Nachteile sowie notwendiger Implementierungsschritte. Das Maßnahmenset bietet Lösungsansätze für Fragestellungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der Arbeitsgestaltung, für deren Umsetzung jedoch weitere Planungs- und Recherchearbeit notwendig ist. Abschließend wird das entworfene 11 Vgl. Pfannstiehl und Mehlich (Hrsg.): 2016, S. VI 12 Vgl. Pfannstiehl und Mehlich (Hrsg.): 2016, S. V 13 Vgl. Pfannstiehl und Mehlich (Hrsg.): 2016, S. V

160

Martin Ulber und Paul Bittner

Maßnahmenset diskutiert. Der Beitrag ist im zweiten Teil dieses Bandes verortet und erweitert die Verfahren und Angebote für den Produktionssektor, um Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

2

Die Digitalisierung – Herausforderungen für die Arbeitsgestaltung

Die zu erwartenden Veränderungen durch die Digitalisierung im Produktionssektor haben verschiedenste Auswirkungen auf die dort Beschäftigten. Durch Möglichkeiten, gewisse Arbeiten zeit- und ortsunabhängig erledigen zu können, können die Mitarbeiter mehr Flexibilität erlangen. Jedoch geht diese Flexibilität häufig auch mit mehr Erreichbarkeit einher. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen zunehmend durch nicht klar festgelegte Arbeitszeiten. Eigentliche Erholungs- und Pausenzeiten können leichter unterbrochen oder gestört werden. Ein Überschreiten der persönlichen Leistungsgrenze durch mangelnde oder mangelhafte Erholung führt zu Fehlbelastungen der Psyche und zu vermehrten Arbeitsunfällen14. Hier ist es Aufgabe der Arbeitsgestaltung, Wege zu einer Balance zwischen Flexibilisierung der Arbeit und klar geregelten Arbeits-, Pausen- und Erholungszeiten zu finden. Wenn sich Arbeitsanforderungen, -tätigkeiten und -modelle verändern, hat das auch Auswirkungen auf den Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Beschäftigten. Ein stark eingeschränkter Handlungsspielraum und monotone 14 Vgl. DGUV: 2016, S. 24

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

161

Tätigkeiten können zu einer Unterforderung der Arbeiter führen. Viel Handlungsspielraum in komplexen Handlungskontexten mit Arbeitsunterbrechungen und Multitasking hingegen können Überforderung, Erschöpfung und einen gefühlten Kontrollverlust hervorrufen15. Darüber hinaus führt Multitasking langfristig zu einer Fehlbelastung der Psyche und kann das Risiko für Arbeitsunfälle steigern16. Außerdem ist zu erwarten, dass lebenslanges Lernen, nicht zuletzt aufgrund der kürzeren Innovationszyklen durch die Digitalisierung, für die Arbeitskräfte immer wichtiger wird. Der Wert erworbener Qualifikationen nimmt relativ gesehen ab17, da eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit neuen Technologien, (digitalen) Arbeitsmitteln, Funktionen, etc. notwendig wird. In Abhängigkeit des Umgangs mit dieser Bedingung der regelmäßigen Weiterbildung (z. B. Herausforderung vs. Druck/Zwang) können negative Auswirkungen auf die Gesundheit bzw. die Psyche die Folgen sein. Auch kann es sein, dass Arbeitnehmer im Rahmen eines immer länger werdenden Erwerbslebens an ihre individuellen Grenzen geraten und neue Qualifikationen nicht erreichen können18. Durch flexible Arbeitszeitmodelle, räumliche Mobilität, komplexe Arbeitsaufgaben mit fragmentierten Arbeitsschritten, Unterbrechungen und Multitasking wird ein hohes Maß an Selbstorganisation erforderlich werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die dafür notwendige Fähigkeit des Selbstmanagements und die persönlichen Kompetenzen bei jedem Mitarbeiter gleichermaßen ausgeprägt sind, sondern erst ausgebildet werden müssen19. Der Arbeitsschutz, der Gesundheitsschutz und die Arbeitsgestaltung müssen diesen Veränderungen Rechnung tragen, indem sie Präventionsangebote und Gestaltungsansätze bereitstellen, die auch unter veränderten Arbeitsbedingungen effektiv funktionieren20.

15 16 17 18 19 20

Vgl. Becker et al.: 2016, S. 19 Vgl. BAuA (Hrsg.): 2018, S. 8 Vgl. Vgl. Becker et al.: 2016, S. 17 Vgl. DGuV: 2016, S. 26 Vgl. DGuV: 2016, S. 25 Vgl. DGUV: 2016, S. 42

162

3

Martin Ulber und Paul Bittner

Das Vorgehen – Literaturrecherche und -kategorisierung

Das Maßnahmenset enthält dokumentierte Maßnahmen und Ansätze der Arbeitsgestaltung, dem betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie dem Wissensmanagement. Zur Identifikation der Maßnahmen und Empfehlungen wurde im Frühjahr des Jahres 2017 eine Literaturrecherche zu Ansätzen, (Präventions-) Maßnahmen und Maßnahmen des Arbeitsschutzes, Gesundheitsschutzes, der Kompetenzentwicklung, der Arbeitsgestaltung und Prävention durchgeführt. Um der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit und den sich daraus ergebenden neuen Unterstützungsmöglichkeiten für Arbeitende im Produktionssektor gerecht zu werden, erfolgte im Jahr 2018 eine weitere Recherche zu digitalen Assistenzsysteme sowie zum Thema Wissensmanagement. Es wurde gezielt nach entsprechenden Fachbüchern gesucht. Bei der Selektion der Maßnahmen wurde keine Unterscheidung zwischen Gesundheitsförderung, Schutzmaßnahmen und Unterstützungsangeboten gemacht. Maßnahmen aller drei Säulen des BGM wurden den entsprechenden Bereichen der Arbeitsfähigkeit zugeordnet. Zur Strukturierung der Maßnahmen wurde sowohl deduktiv als auch induktiv vorgegangen. Das Haus der Arbeitsfähigkeit bildete den übergeordneten Rahmen zur Einordnung der Maßnahmen (Deduktion): Gesundheit; Kompetenzen, Qualifikationen, Fähigkeiten, Fertigkeiten; Werte, Einstellungen, Motivation; Arbeit, Arbeitsumgebung, Arbeitsorganisation. Für eine bessere Übersicht über die Maßnahmen wurden sie in Unterkategorien weiter zusammengefasst. Diese ergaben sich während der Recherche aus der Literatur, indem Ordnungen der recherchierten Werke teils übernommen und adaptiert wurden (Induktion). Für die Zuordnung der Maßnahmen in eine der vier übergeordneten Kategorien wurden folgende Regeln angewendet: • Alle Maßnahmen, die Erhalt und die Förderung der physischen und psychischen Gesundheit dienen, werden der ersten Oberkategorie zugeordnet. • Alle Maßnahmen, die auf den Erhalt und Ausbau bestehender sowie den Erwerb neuer Kompetenzen und Qualifikationen sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene abzielen, werden der zweiten Oberkategorie zugeordnet. • Alle Maßnahmen, die die Werte, Arbeitsmotivation und arbeitsbezogenen Einstellungen ansprechen sollen, werden der dritten Oberkategorie zugeordnet. • Alle Maßnahmen, die auf die Gestaltung der Arbeitsorganisation, Arbeitsumgebung und die eigentlichen Arbeitstätigkeiten abzielen, werden der vierten Oberkategorie zugeordnet.

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

163

Das soziale Umfeld außerhalb des Berufslebens spielt ebenfalls eine Rolle für die Arbeitsfähigkeit einer Person. Jedoch wird die Meinung vertreten, dass Unternehmen eine aktive Einflussnahme auf das soziale Umfeld ihrer Beschäftigten vermeiden sollten. Deswegen werden Maßnahmen, die vordergründig an die private Domäne anknüpfen, ausgeschlossen, genauso wie Maßnahmen, die für den Produktionssektor als ungeeignet erscheinen. Dazu gehören zum jetzigen Stand der Forschung beispielsweise Ansätze, die auf mobiles Arbeiten bzw. Außendienstarbeit fokussiert sind.

4

Das Ergebnis – ein arbeitsgestalterisches Maßnahmenset

Allgemeine Anmerkungen Das Maßnahmenset soll teils vergleichsweise einfach und schnell umzusetzende, teils aufwendige Lösungsansätze für typische Probleme der Arbeitsgestaltung bereitstellen. Dabei steht eine anwenderorientierte Gestaltung des Maßnahmenpakets im Vordergrund. Die enthaltenen Maßnahmen können auf den Erhalt der Gesundheit, die Veränderung des Arbeitsinhaltes oder der Arbeitsumgebung, die Verbesserung der Arbeitsorganisation, die Adaption der Qualifikationen und Kompetenzen der Beschäftigten im Unternehmen oder die Ansprache motivationaler Faktoren aufseiten der Mitarbeitenden abzielen. Die Ordnung der Maßnahmen in diesen Bereichen orientiert sich am Haus der Arbeitsfähigkeit21. Mithilfe dieses Konzepts können die Leistungsfähigkeit und Ressourcen von Arbeitspersonen den Anforderungen einer bestimmten Arbeitssituation zu einem bestimmten Zeitpunkt angepasst werden, damit die gestellten Arbeitsaufgaben bewältigt werden können22. Die regelmäßige Verrichtung einer bestimmten Arbeit reicht nicht aus, um die Arbeitsfähigkeit dafür zu erhalten, da sowohl betriebliche (z. B. Verhalten der Führungskräfte) als auch außerbetriebliche Faktoren (z. B. Verlust eines Familienmitglieds) Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit ausüben23. Somit sollten im Rahmen des BGM Maßnahmen bereitgestellt werden, die alle Ebenen der Arbeitsfähigkeit ansprechen und darüber hinaus Bezug zu persönlichen Ressourcen wie dem sozialen Umfeld einer Person nehmen. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Arbeitsprozesse in der Industrie sollen auch Maßnahmen Beachtung finden, die psychische Belastungen ver21 Vgl. Ilmarinen und Tempel: 2002 22 Vgl. Ilmarinen: 2011, S. 20 23 Vgl. BAuA (Hrsg.): 2013, S. 109 f.

164

Martin Ulber und Paul Bittner

mindern und zur psychischen Stabilität der Mitarbeitenden beitragen (können). Komplexe Maßnahmen, wie z. B. die Ausrichtung eines Gesundheitstages und was es dabei zu beachten gilt, werden nicht detailliert beschrieben. Vielmehr sollen Entscheidungsträger durch die kategorisierte Auflistung möglicher Maßnahmen bei ihren Planungs- und Entscheidungsprozessen unterstützt werden. Es werden Ideen geliefert, welche Maßnahmen für die Lösung bestimmter Probleme geeignet sind. Diese Maßnahmen erfordern jedoch in Abhängigkeit zu ihrem Umsetzungsaufwand entsprechende Recherche- und Planungsarbeiten der Unternehmen selbst. Deswegen ist es vor allem für KMU ratsam, sich durch erfahrene Präventionsoder Gesundheitsdienstleister (z. B. Krankenkassen, Physiotherapien, Arztpraxen, Fitnessstudios) unterstützen zu lassen oder Kooperationen bzw. Allianzen (siehe Kapitel 14) mit anderen Unternehmen einzugehen. Darüber hinaus sind stellenweise allgemeinere Empfehlungen enthalten, deren Umsetzung zunächst trivial erscheinen mag. Beispiele hierfür sind, dass Führungskräfte stets als Vorbilder agieren oder Mitarbeiter in bestimmte Entscheidungsprozesse eingebunden werden sollen. Die Einhaltung solcher als einfach erscheinender Empfehlungen ist in der Summe wichtig für die Förderung der Arbeitsfähigkeit und das Funktionieren eines Arbeitssystems. Einige dieser allgemeinen Empfehlungen können für (manche) Mitarbeiter einen hohen Stellenwert besitzen und eine positive Wirkung beispielsweise auf die Einstellungen und Motivation der Mitarbeiter haben (Einbindung); andere können sich gegenteilig auswirken (Verlust der Glaubwürdigkeit von Führungskräften). Das arbeitsgestalterische Maßnahmenset ist an das Haus der Arbeitsfähigkeit nach Ilmarinen und Tempel (2002) angelehnt. Die Konzeption dieses Modells bietet sich für die Einteilung und Systematisierung von arbeitsgestalterischen Maßnahmen an24. Das Maßnahmenset gliedert sich in die vier Bereiche „Gesundheit“, „Kompetenzen, Qualifikationen und Wissensmanagement“, „Werte, Einstellungen, Motivation und Führung“ und „Arbeit, Arbeitsumgebung und Arbeitsorganisation“, die jeweils in drei bzw. vier Unterbereiche unterteilt sind. Die einzelnen (konkreten) Maßnahmen sind in Gruppen zusammengefasst und den entsprechenden Unterbereichen zugeordnet (siehe Tabelle 1). Die Feingliederung in die Unterbereiche des Maßnahmensets und die Gruppierung der einzelnen Maßnahmen vereinfacht es Anwendern, schnell Lösungsansätze für Probleme der Arbeitsgestaltung zu finden. Der erste Bereich, „Gesundheit“, beinhaltet Maßnahmen und Informationen, für die Arbeitspersonen selbst verantwortlich sind. Dazu gehören beispielsweise das Führen eines gesunden Lebensstils sowie auf eine Balance zwischen 24 Siehe Prognos AG (Hrsg.): 2012

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

165

Arbeit- und Privatleben zu achten. Des Weiteren sind Maßnahmen enthalten, die Unternehmen ergreifen können, um ihre Mitarbeiter beim Führen eines gesunden Lebensstils und dem Management ihrer Lebensbereiche zu unterstützen, aber nicht direkt mit den eigentlichen im Unternehmen vertretenen Tätigkeiten oder Arbeitsplätzen zu tun haben. Tabelle 1  Allgemeiner Aufbau des Maßnahmensets Bereich 1: Gesundheit Work-Life-Balance

Gesundheitsrelevante Maßnahmen und Angebote

sonstige betriebliche Gesundheitsförderung Bereich 2: Kompetenzen, Qualifikationen und Wissensmanagement Personalentwicklung Wissensmanagement, org. Lernen Bereich 3: Werte, Einstellungen, Motivation und Führung Unternehmenskultur Personalerhaltungsmaßnahmen Materielle Anreizsysteme, Entlohnung Führung und Zusammenarbeit Bereich 4: Arbeit, Arbeitsumgebung und Arbeitsorganisation Pausen, Urlaub, … Arbeitsumgebung, Arbeitsplatz, spezielle Arbeitsplätze Arbeitsgestaltung, Arbeitsstrukturierung, Tätigkeitsvielfalt Arbeitsmaßnahme, Arbeitsablauf, …

Das Feld der Kompetenzen, Qualifikationen und des Wissensmanagements enthält Empfehlungen für Unternehmen und Mitarbeiter, wie sie die für ein erfolgreiches Wirtschaften notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen (im Unternehmen) entwickeln, erweitern und (er-)halten können. Wird der Wissensstand des gesamten Unternehmens gesichert und zugänglich gemacht, erleichtert es allen Mitarbeitern die Arbeit und steigert durch bessere Bedingungen deren Arbeitsfähigkeit. Neben den tätigkeitsbezogenen Kompetenzen bzw. Qualifikationen wird auch auf die Selbstmanagementkompetenz Wert gelegt. Arbeitsbezogene Werte, Einstellungen und Motivation werden durch die Unternehmenskultur, Personalerhaltungsmaßnahmen, Anreizsysteme, die Führung der Mitarbeiter und die Möglichkeiten der Kooperation beeinflusst. Die darin enthaltenen Maßnahmen sind allgemeiner Natur und branchen-, arbeitsplatz- und tätigkeitsübergreifend anwendbar. Sowohl in der Unternehmenskultur als auch im Führungsverhalten sowie den Anreizsystemen müssen sich die gesundheits- und kompetenz- bzw. qualifikationsbezogenen Ziele der Mitarbeiter wiederfinden. Der vierte Bereich enthält die Maßnahmen, die einen direkten Einfluss auf die Arbeitstätigkeiten in Unternehmen haben und die Arbeitsbedingungen bzw.

166

Martin Ulber und Paul Bittner

den Arbeitsort gestalten. Dazu gehören die Gestaltung von Pausen-, Arbeits- und Urlaubszeiten ebenso wie Gestaltungsempfehlungen für die Arbeitsumgebung und (spezielle) Arbeitsplätze. Darüber hinaus werden Maßnahmen betreffend der Arbeitsstrukturierung, verschiedener Arbeitsmaßnahmen und -abläufe präsentiert. Abschließend werden Wege aufgezeigt, monotone Tätigkeiten zu reduzieren und Mitarbeitern möglichst vielfältige Tätigkeiten zu ermöglichen. Der erste Bereich – die Gesundheit Gesundheit kann als Ausgangspunkt für die Leistungsfähigkeit eines Menschen angesehen werden. Jedes Individuum ist zunächst einmal eigenverantwortlich für die Erhaltung seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zuständig. Jedoch können Unternehmen durch entsprechende Angebote und Maßnahmen Rahmenbedingungen schaffen, die es Arbeitspersonen erleichtern, auf ihre Gesundheit zu achten, sie zu erhalten oder sogar zu fördern. Unternehmen eignen sich für die Durchführung von gesundheitsförderlichen Maßnahmen besonders, da die bereits existierenden Strukturen der Organisationen zur zielgruppengerechten Ansprache viele Personen genutzt werden können25. So können auch Gruppen erreicht werden, die sonst nur schwer für gesundheitsdienliche Maßnahmen erreichbar wären26. Eine klare Trennung zwischen der physischen und psychischen Gesundheit kann nicht gezogen werden. Sie beeinflussen sich gegenseitig27. Körperliche Leiden (z. B. chronische Schmerzen) können die Psyche negativ beeinflussen und psychische Störungen können körperliche Symptome hervorrufen. Deswegen sind in diesem Teil des Maßnahmensets sowohl Maßnahmen für das körperliche Wohlbefinden als auch zur Reduzierung psychischer Belastungen enthalten. Das erste Stockwerk fokussiert Maßnahmen aufseiten der Mitarbeitenden, die aber durch entsprechende Unterstützung durch das Unternehmen angeregt und positiv beeinflusst werden können. So ist das Bewusstsein der Arbeitspersonen, dass eine Balance zwischen der Arbeits- und Freizeitdomäne (Work-Life-Balance) wichtig ist, für eine gesunde Arbeits- und Lebensgestaltung unabdingbar28. Gesundheitsrelevante Maßnahmen und Angebote, die dazu beitragen, dass sich die Mitarbeitenden (auch auf Arbeit) gesundheitsorientiert verhalten (können), teilt das vorgeschlagene Maßnahmenset in die Bereiche Ernährung, Bewegung, Entspannung, arbeits- und führungsbezogene Stressreduktion, Suchtprävention und psychische Stabilität ein und beachtet somit mögliche Wechselwirkungen 25 26 27 28

Vgl. Metschar: 2013, S. 16 Vgl. Metschar: 2013, S. 16 Vgl. Hapke et al.: 2010, S. 41 Vgl. Cernavin und Georg: 2004, S. 86 ff.

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

167

zwischen Ernährung, Bewegung und Stressregulation29. Der dritte Unterbereich, sonstige betriebliche Gesundheitsförderung, bündelt Instrumente der betrieblichen Gesundheitsförderung und Maßnahmen, die auf die Bildung eines Gesundheitsbewusstseins und gesundheitsbewussten Verhaltens abzielen. Sie bieten Unternehmen einen methodischen Einstieg und zeigen Wege auf, wie sie sicheres (arbeitsschutzgerechtes) Verhalten fördern können30. Auch Empfehlungen zum Hautschutz der Mitarbeiter und dem Umgang mit Allergenen sind hier verortet. Abbildung2 zeigt die unter der Kategorie „Bewegung“ zusammengefassten Maßnahmen. Um die Mitarbeiter dazu zu animieren, sich regelmäßig in ihrer Freizeit zu bewegen, wird Unternehmen beispielsweise vorgeschlagen, betriebsinterne Sportgruppen zu initiieren. Zwei weitere Ansatzpunkte sind das Offerieren von Fitnesskursen oder Bewegungsangeboten in Zusatzpausen. Beide Maßnahmen könnten in Kooperation mit Präventionspartnern (z. B. selbstständige Personal Trainer, Physiotherapien etc.) angeboten werden. Während Fitnesskurse bestenfalls in unternehmenseigenen Räumen während, vor oder nach der Arbeitszeit durchgeführt werden, kann Pausengymnastik abteilungsweise durch einen entsprechenden Präventionspartner begleitet werden.

Abbildung 2  Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Gesundheit

Der zweite Bereich – Kompetenzen, Qualifikationen und Wissensmanagement Dar zweite Bereich des Maßnahmensets beinhaltet Maßnahmen des Unternehmens und der Beschäftigten, die dazu dienen, dass Mitarbeitende sich notwendige Qualifikationen31 aneignen und ihre Kompetenzen32 weiterentwickeln können. Qualifikationen sind erworbene und in Form von Zertifikaten oder Ähnliche nachweisbare Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die häufig eine Voraussetzung

29 30 31 32

Vgl. Mann-Luoma et al.: 2002 Vgl. Kern und Schmauder: 2005, S. 196 ff., 286 ff., S. 196 ff. Vgl. Erpenbeck und Sauter: 2013, S. 32 ff. Vgl. Erpenbeck und Sauter: 2013, S. 32 ff.

168

Martin Ulber und Paul Bittner

für die Ausübung bestimmter beruflicher Stellen sind33. Kompetenzen entsprechen Sets von Fähigkeiten, Fertigkeiten und weiteren Merkmalen, die es Personen ermöglichen, komplexe Situationen zu bewältigen34. Aus diesen Definitionen geht hervor, dass der Nachweis über bestimmte Qualifikationen nicht zwingend bedeutet, dass Individuen auch dazu in der Lage sind, die erworbenen Kenntnisse, Fähig- und Fertigkeiten erfolgreich in Handlungen umzusetzen35. Demnach ist es für Unternehmen bedeutend, ihre Mitarbeiter nicht nur für die Übernahme bestimmter Tätigkeiten zu qualifizieren, sondern sie auch dabei zu unterstützen, ihre persönliche Handlungskompetenz auszubilden und zu verbessern. Das Wissen einer Person ist die Gesamtheit ihrer Kenntnisse (z. B. theoretischer Natur) und Fähigkeiten (z. B. Handlungsabfolgen), die sie zur Lösung von Problemen einsetzen kann. Es beruht auf Daten und Informationen, die in einem individuellen Prozess zusammengesetzt werden und so als kontextspezifisches Wissen an bzw. in einer Person gebunden ist, solange sie es nicht für andere Personen zugänglich macht36. Deswegen sollen Instrumente aus dem Feld des Wissensmanagements den Aufbau eines organisationalen Wissensreservoirs ermöglichen. Dadurch kann das Wissen erfahrener Mitarbeiter auch anderen zugänglich gemacht werden und bei der Lösung von Problemen und Aufgaben helfen. Das Vorhandensein einer solchen Wissensinfrastruktur kann die Arbeitsfähigkeit positiv beeinflussen. Die Empfehlungen im ersten Unterbereich decken Sparten der Personalentwicklung ab. Neben allgemeinen Hinweisen sind sowohl Maßnahmen on the Job als auch off the Job sowie betriebliche Projektgruppen, die der Entwicklung der Mitarbeitenden dienen, enthalten. Ferner werden Handlungsempfehlungen angezeigt, um das Zeit- und Selbstmanagement des Personals zu unterstützen. Der Unterbereich des organisationalen Lernens ist an das Modell von Pawlowsky37 angelehnt und schlägt eine Vielzahl an Instrumenten zum Aufbau eines Wissensmanagements vor. Dazu gehören die Bereiche Wissenserfassung, -bewertung, -identifikation, -transfer und -sicherung. Die in Abbildung 3 und Abbildung 4 aufgelisteten Ansätze zeigen, wie Mitarbeiter ihr Zeitmanagement selbst verbessern können, aber auch, wie Unternehmen ihre Beschäftigten unterstützen können, ein gutes Zeitmanagement zu ent33 Vgl. Deutscher Bildungsrat: 1974, S. 65 zitiert nach Gessler und Sebe-Opfermann: 2016, S. 162 34 Vgl. Krumm et al.: 2012, S. 3; Gessler und Sebe-Opfermann: 2016, S. 163 35 Vgl. Gessler und Sebe-Opfermann: 2016, S. 162 36 Vgl. zu diesem Absatz Probst und Geussen:1997, S. 69; North: 2011, S. 37 37 Vgl. Pawlowsky: 1994, S. 305–310; Pawlowsky: 2012, S. 49–52

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

169

wickeln. Dazu zählen klare Terminvereinbarungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, die Schaffung klarer Verantwortungs- und Zuständigkeitsstrukturen, die Festlegung und Einhaltung von Informations- und Kommunikationswegen sowie die Schaffung bestimmter lokaler Arbeitsbedingungen.

Abbildung 3 Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Kompetenzen, Qualifikationen und Wissensmanagement I

Abbildung 4 Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Kompetenzen, Qualifikationen und Wissensmanagement II

Der dritte Bereich – Werte, Einstellungen, Motivation und Führung In diesem Feld geht es um Maßnahmen des Unternehmens, die dabei helfen, dass die Werte und Einstellungen der Mitarbeiter möglichst gut mit der Philosophie und Kultur des Unternehmens übereinstimmen. Dabei soll es nicht um eine einseitige Anpassung der Mitarbeiter gehen, sondern auch um eine kontinuierliche Weiterentwicklung der unternehmensbezogenen Werte, Philosophie, und Kultur im Dialog mit den Beschäftigten. Bei der Erstellung des Maßnahmensets wurde die Personalführung als ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Arbeitsmotivation identifiziert. Deswegen wurde vom Haus der Arbeitsfähigkeit abgewichen, in dem Führung im Stockwerk der Arbeitsbedingungen angesiedelt ist. Eine Divergenz zwischen Werten und Einstellungen von Personal und denen, die das Unternehmen, ihr Management und ihre Führungskräfte vertreten bzw. auch der Arbeit an sich, kann die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen38. Jedoch fußen Unternehmens- und Führungskulturen und somit auch das Verhalten von Führungskräften auf Werten der Organisation, was die Zuordnung der Führung und Unternehmenskultur im Bereich der Werte, Einstellungen und Motivation als begründet erscheinen lassen. Folglich findet im Maßnahmenset auch eine Trennung zwischen räumlichen und materiellen Arbeitsbedingungen (z. B. Raumgestaltung, Arbeitsmitteln) und Arbeitsbedingungen wie 38 Vgl. Illmarinen und Oldenbourg: 2006, S. 545

170

Martin Ulber und Paul Bittner

den Vorgesetzten und der Hierarchie eines Unternehmens statt. Außerdem ist gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung und damit verbundenen neuen Arbeitsformen (z. B. ortsunabhängiges Arbeiten) eine Vertrauensbasis zwischen Führungskraft und Beschäftigten wichtig. Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitenden zutrauen, dass sie ihre Arbeit auch ohne Anwesenheit und Kontrolle der Führungskraft selbstorganisiert und selbstdiszipliniert bewältigen und diese Leistungen anerkennen. Dafür kann eine gemeinsame und abgestimmte Werteund Einstellungsbasis als hilfreich betrachtet werden. Darüber hinaus sollen verschiedene Wege der in- und extrinsischen Anreizgestaltung den Mitarbeitern gute Arbeitsleistungen erleichtern. Zur Unternehmens- bzw. Organisationskultur gibt es zahlreiche Theorien39. Dabei geht es unter anderem häufig um gemeinsam geteilte Werte, Normen, Grundannahmen, Kommunikations- und Interpretationsregeln. Solche grundsätzlichen Ausrichtungen können beispielsweise eine Gesundheits-, Anerkennungs- oder Familienorientierung sein. Das Maßnahmenset macht allgemeine Vorschläge, welche Handlungsweisen sich günstig auf eine anerkennende und kooperationsorientierte Unternehmenskultur auswirken. Zusätzlich werden für beispielhafte Arbeitssituationen Wege aufgezeigt, wie Mitarbeitenden Handlungsspielraum und Eigenverantwortung eingeräumt werden können. Ferner sind Maßnahmen und Instrumente enthalten, anhand derer Unternehmenskulturen (weiter-) entwickelt werden können. Die vorgeschlagenen Personalerhaltungsmaßnahmen sprechen verschiedenste immaterielle und materielle Bedürfnisse an. Auch betriebliche Sozialleistungen können ein starkes Argument für die Bindung an das Unternehmen sein. Zusätzlich wirken auch Maßnahmen bindend, die Einfluss auf das Betriebsgeschehen und die Unternehmensentwicklung ermöglichen. Materielle Anreizsysteme und die Entlohnung dienen natürlich auch der Personalbindung, stellen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Bedeutung als Motivationsfaktor jedoch einen einzelnen Unterbereich dar. Die Empfehlungen und Maßnahmen geben allgemeine Hinweise, beschreiben die verschiedenen Entgeltarten, was es beim Einsatz von Kennzahlen und Prämien zu beachten gilt sowie monetäre betriebliche Sozialleistungen. Der letzte Unterbereich betrifft die Führung und Zusammenarbeit im Unternehmen. Die Unterbereiche Leitbilder und Unternehmensführung stehen in einem engen Zusammenhang miteinander und sind auch mit der Unternehmenskultur verknüpft. In Leitbildern können Werte und Normen festgesetzt werden und dadurch die Unternehmenskultur mitprägen. Die beiden anderen Unterbereiche, 39 Vgl. z. B. Schein: 2010; Hatch: 1997; Alvesson: 2002

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

171

Mitarbeiterführung und Mitarbeiterinformation, beziehen sich auf den Umgang mit den Mitarbeitenden und zielen erneut auf eine intensive Zusammenarbeit und Kooperation ab. Die Maßnahmen der Mitarbeiterführung beziehen sich auf Verhaltensweisen in der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden. Der Unterbereich Mitarbeiterinformation beinhaltet Hinweise für die Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. In Abbildung 5 wird der Bereich der Mitarbeiterführung des Maßnahmensets gezeigt. Darin enthalten sind allgemeine Verhaltensempfehlungen für Führungskräfte, wie die Unterstützung und Beachtung der Wünsche der Mitarbeitenden, Maßnahmen der Führungskräfteentwicklung sowie Führungsinstrumente.

Abbildung 5 Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Werte, Einstellungen, Motivation und Führung

Der vierte Bereich – Arbeit, Arbeitsumgebung und Arbeitsorganisation Im letzten und umfangreichsten Bereich sind Ansätze enthalten, wie die Arbeitsbedingungen, beispielsweise die Lage und Strukturierung der Arbeitszeit, den Arbeitsort, die Arbeitsmaterialien und die Arbeitsmaßnahmen, möglichst konkret gestaltet werden können. Diese Bedingungen üben Einfluss auf alle anderen Bereiche des Maßnahmensets aus, da jede Arbeitsbedingung eine Wirkung auf die Arbeitsfähigkeit eines Mitarbeitenden hat. Arbeitsbedingungen können für die Gesundheit eines Menschen schädlich sein, z. B. verursacht Schichtarbeit nicht nur Schlafstörungen, sondern kann auch die Entstehung weiterer Krankheiten begünstigen40. Ebenso können Umgebungsfaktoren wie Lärm das Lernen an einem Arbeitsplatz behindern. Monotone und repetitive Arbeit kann sich negativ auf die Arbeitszufriedenheit auswirken41. Die Maßnahmen dienen deswegen immer der Sicherung der Gesundheit, der (Weiter-)Entwicklung der Kompetenzen oder der Verbesserung der Arbeitsmotivation der Mitarbeitenden. 40 Vgl. Angerer und Petru: 2010 41 Vgl. Melamed et al.: 1995

172

Martin Ulber und Paul Bittner

Der erste Unterbereich thematisiert die Arbeits-, Pausenzeiten und Urlaub und stellt verschiedene Modelle vor. Hinsichtlich der Arbeitszeit gibt es Gestaltungsansätze in Bezug auf Lage, Dauer und Gliederung der Arbeitszeit. Daran anknüpfend sind Maßnahmen zur alter(n)sgerechten Gestaltung von Schichtarbeit integriert. Der nächste Teilbereich beinhaltet die Felder Arbeitsgestaltung, Arbeitsstrukturierung, die Anpassung von Arbeitsmaßnahmen und den Arbeitsablauf. Es werden Arbeitsprozessveränderungs- und Arbeitssystemveränderungsmöglichkeiten sowie das Fließprinzip und Mehrstellenarbeit unterschieden. Weiterhin werden Ansätze der Arbeitsteilung (Spezialisierung) und der Funktionsteilung zwischen Mensch und Technik bis hin zur Teilmechanisierung und -automatisierung beschrieben. Neben Maßnahmen der Arbeitsteilung gibt es auch Ansätze zur Arbeitszusammenführung (Job-Rotation, Job-Enrichment, Job-Enlargement)42. Zu weiteren Ansätzen gehören auch Arbeitsformen wie Gruppen- und Teamarbeit. Hinsichtlich der Gesundheitsorientierung im Maßnahmenset sind Empfehlungen für körpergerechtes Bewegen, Heben und Tragen enthalten. Zuletzt wird auf verschiedene Werkzeugarten eingegangen. Der folgende Abschnitt umfasst Maßnahmen zur Gestaltung spezieller Arbeitsplätze und der allgemeinen Arbeitsumgebung. Grundsätzlich gilt es, bei der Gestaltung der Arbeitsplätze den Wirkbereich und den Beobachtungsbereich arbeitsgestalterisch an die jeweilige Arbeitsperson anzupassen. Als spezielle Arbeitsplätze werden Bildschirmarbeitsplätze, Telearbeit (die häufig Bildschirmarbeitsplätze sind), Montage und Lager- bzw. Logistikarbeitsplätze thematisiert. Während die beiden zuerst genannten durch die Digitalisierung auch im Produktionssektor vermutlich immer häufiger zum Einsatz kommen werden, spielen Montage- und Lagerarbeitsplätze bereits heutzutage und, wohlmöglich in veränderter Form, auch zukünftig eine wichtige Rolle in Industriebetrieben. Hinsichtlich der arbeitsplatzunabhängigen Arbeitsumgebung werden Gestaltungsmaßnahmen in Bezug auf Beleuchtung, Farben, hygienischen und sozialen Einrichtungen, Fußböden, Schall und Lärm sowie Klima und den Frischluftbedingungen beschrieben. Den letzten Abschnitt bilden Maßnahmen zur Erzeugung einer Tätigkeitsvielfalt. Am Ausgangspunkt steht die Überprüfung der aktuellen Arbeitsaufgaben. Als danach gelagerte Ansatzpunkte sind Arbeitsplatz- und Arbeitsfeldveränderungen aufgeführt. Des Weiteren werden Maßnahmen hinsichtlich des Personaleinsatzes älterer Beschäftigter aufgezeigt, um dem Charakter des Konzeptes nach Ilmarinen, vor allem zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit von älteren Arbeitspersonen, Rechnung zu tragen. 42 Vgl. Kubitscheck und Kirchner: 2005, S. 112 f.; Kern und Schmauder: 2005, S. 190 ff.

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

173

Abbildung 6 zeigt den Ausschnitt mit Möglichkeiten, Mitarbeitende möglichst vielfältige und abwechslungsreiche Tätigkeiten ausüben zu lassen. Ergänzend dazu zeigt Abbildung 7 exemplarisch, was es bei einer Möglichkeit der Arbeitsfeldveränderung (der Job-Rotation) zu beachten gilt.

Abbildung 6 Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Arbeit, Arbeitsumgebung und Arbeitsmethode I

Abbildung 7 Ausschnitt aus dem Maßnahmenset, Bereich Arbeit, Arbeitsumgebung und Arbeitsmethode II

5

Das Fazit – eine praxisorientierte Maßnahmensammlung

Das beschriebene Maßnahmenset enthält zahlreiche Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die nach dem Modell der Arbeitsfähigkeit geordnet sind. Der Anspruch auf eine vollständige Abbildung von Ansätzen und Maßnahmen der Arbeitssicherheit, Arbeitsgestaltung oder des (betrieblichen) Gesundheitsmanagements kann nicht erhoben werden. Jedoch erlaubt das Maßnahmenset einen ganzheitlichen Blick auf die Vielfalt an Möglichkeiten zur gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeit. Für eine einfachere Arbeit mit dem Maßnahmenset wurde auf deren Beschreibung in der Regel verzichtet. Das Set unterbreitet dafür Maßnahmenvorschläge aus verschiedenen Bereichen, auf deren Grundlage Unternehmen befähigt sind, Maßnahmen auszuwählen und diese nach einer entsprechenden Planungsphase umzusetzen. Eine gewisse Subjektivität bei der Zuordnung der Maßnahmen zum jeweiligen Bereich der Arbeitsfähigkeit kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Nicht jede Maßnahme ist eindeutig nur einem Stockwerk zuordenbar. Nicht zuletzt, weil mit manchen Maßnahmen mehrere Ziele verfolgt werden können. Beispielsweise können beim Ansatz flexibler Arbeitszeitgestaltung mindestens für drei Stockwerke Argumente gefunden werden: Erstens ermöglichen flexible Arbeitszeiten eine bessere Work-Life-Balance und können so Stress reduzieren (Gesundheits-

174

Martin Ulber und Paul Bittner

orientierung). Zweitens können damit bestimmte Werte und Normen der Unternehmenskultur (z. B. Familienfreundlichkeit) als sichtbares Artefakt umgesetzt werden und damit gleichzeitig der Personalbindung bzw. -erhaltung dienen. Drittens stellen Arbeitszeiten eine formal gegebene Arbeitsbedingung dar, wodurch auch die Einordnung in den Bereich der Arbeitsbedingungen als schlüssig erscheint. Deswegen wurden die Maßnahmen danach getrennt, ob sie die lokalen und materiellen Arbeitsbedingungen betreffen oder noch andere Bereiche wie beispielsweise die Vergütung der Beschäftigten oder Zusatzangebote wie Gesundheitsdienstleistungen. Dabei sind die tätigkeits- und umgebungsbezogenen Ansätze dem vierten Bereich zugeordnet. Maßnahmen, die die Gesundheit der Mitarbeiter, individuelle Kompetenzen und organisationales Wissen oder die Werteebene und Motivation der Beschäftigten durch Unternehmenskultur und/oder Führungsverhalten in den Mittelpunkt stellen, sind in den jeweiligen anderen Bereichen verortet. Diese Maßnahmen können in der Regel unabhängig vom jeweiligen Unternehmenskontext Anwendung finden. Durch die beschriebene Mehrdeutigkeit und große Ähnlichkeit bestimmter Maßnahmen kommt es in den Bereichen auch zu Überschneidungen. Befindet sich eine Maßnahme in verschiedenen Bereichen, stellt dies einen Verweis zwischen den jeweiligen (Unter-)Bereichen dar und zeigt, wie vernetzt die Bereiche des Maßnahmensets miteinander sind. Das Maßnahmenset ersetzt bei der Einführung oder Umsetzung nicht das Hinzuziehen zusätzlicher Literatur oder die Konsultation von Experten, Beratern oder Kooperationspartnern. Präzise Beschreibungen und Handlungsanweisungen für die Einführung und Umsetzung bestimmter Instrumente können nicht flächendeckend geboten werden. Es bietet Ansatzpunkte, wie gewissen organisationalen Problemen arbeitsgestalterisch begegnet werden kann. Hinsichtlich der Anwendbarkeit auf verschiedene Unternehmensgrößen sei gesagt, dass Großunternehmen stets den Vorteil größerer Finanz- und Personalressourcen für die Umsetzung von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen haben. KMU stehen bei einer Freistellung von Mitarbeitern für zusätzliche Aufgaben vor der Herausforderung, das operative Tagesgeschäft nicht zu vernachlässigen. Jedoch können kleine Belegschaften mit einem geringeren Zeitaufwand in Planungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden als große. Das vereinfacht die Planung von Maßnahmen, die vor allem die Mitarbeitenden als hilfreich und notwendig ansehen. Dies schafft gleichzeitig Verständnis für Veränderungen und macht Entscheidungen der Unternehmensleitung nachvollziehbarer. Eingebundene Beschäftigte fühlen sich eher wertgeschätzt, was Barrieren abbauen und die Kooperation im Betrieb stärken kann. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Eingehen strategischer Partnerschaften mit anderen Unternehmen und Gesundheitsdienstleistern KMU bei der Umsetzung eines effektiven und effizienten

Die Gestaltung der Arbeitsfähigkeit in der digitalisierten Produktion …

175

Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie einer Gesundheitsförderung ihrer Mitarbeitenden helfen kann (siehe Kapitel 14).

Literatur Alvesson, M., (2002), Understanding organizational culture, London et al. Angerer, P., Petru, R., (2010), Schichtarbeit in der modernen Industriegesellschaft und gesundheitliche Folgen, in: Somnologie, 14(2), S. 88–97. BAuA (Hrsg.), (2013), Why WAI? Der Work Ability Index im Einsatz für Arbeitsfähigkeit und Prävention – Erfahrungsberichte aus der Praxis. 5. Aufl., Dortmund. BAuA (Hrsg.), (2018), Arbeitsunterbrechungen und Multitasking täglich meistern, Dortmund Becker, T., Breucker, G., Ducki, A., Engelhardt-Schagen, M., Glomm, D., Kilian, R., Krempien, A-K., Petersen, J., Petereit-Haack, G., Schoeller, A., Stork, J., Wagner, S., Wolters, J., (2016), Psychische Gesundheit im Betrieb – Arbeitsmedizinische Empfehlung, Bonn. Cernavin, O., Georg, A., (2004), Praxishandbuch Arbeitsschutz, Wiesbaden. Deutscher Bildungsrat, (1974), Empfehlungen der Bildungskommission zur Neuordnung der Sekundarstufe II, Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen, Bonn. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) (Hrsg.), (2016), Neue Formen der Arbeit Neue Formen der Prävention, Arbeitswelt 4.0: Chancen und Herausforderungen, Berlin. Erpenbeck, J., Sauter, W., (2013), So werden wir lernen!, Kompetenzentwicklung in einer Welt fühlender Computer, kluger Wolken und sinnsuchender Netze, Berlin, Heidelberg. Gessler, M., Sebe-Opfermann, A., (2016), Kompetenzmodelle, in: Müller-Vorbrüggen, M., Radel, J. (Hrsg.), Handbuch Personalentwicklung, 4. Aufl., Stuttgart. Grobe, T. G., Steinmann, S., Gerr, J., (2018), Gesundheitsreport 2018, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 9, Berlin. Hapke, U., von der Lippe, E., Busch, M., Lange, C., (2010), Psychische Gesundheit bei Erwachsenen in Deutschland, Daten und Fakten: Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2010“, Robert Koch-Institut, Berlin. Hatch, M. J., (1997), Organization theory: Modern, symbolic, and postmodern perspectives, Oxford et al. Ilmarinen, J., (2011), Arbeitsfähig in die Zukunft, in: Giesert, M. (Hrsg.), Arbeitsfähig in die Zukunft, Willkommen im Haus der Arbeitsfähigkeit, Hamburg. Ilmarinen, J., Oldenbourg, R., (2006), Die Arbeit muss sich den Menschen anpassen – nicht umgekehrt, in: Die BKK, 11/2006, S. 544–546. Ilmarinen, J., Tempel, J., (2002), Arbeitsfähigkeit 2010, Was können wir tun, damit Sie gesund bleiben?, Hamburg. Institut DGB-Index Gute Arbeit, (2017), Verbreitung, Folgen und Gestaltungsaspekte der Digitalisierung in der Arbeitswelt, Auswertungsbericht auf Basis des DGB-Index Gute Arbeit 2016, Berlin. Kern, P., Schmauder, M., (2005), Einführung in den Arbeitsschutz, München et al. Knieps, F. Pfaff, H. (Hrsg.), (2018), Arbeit und Gesundheit Generation 50+, BKK Gesundheitsreport 2018, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin.

176

Martin Ulber und Paul Bittner

Krumm, S., Mertin, I., Dries, C., (2012), Kompetenzmodelle, Göttingen. Kubitscheck, S, Kirchner, J.-H., (2005), Kleines Handbuch der praktischen Arbeitsgestaltung, München et al. Mann-Luoma, R., Goldapp, C., Khaschei, M., Lamersm, L., Milinski, B., (2002), Integrierte Ansätze zu Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung, Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 45(12), S. 952–959. Marschall, J., Hildebrandt, S., Zich, K., Tisch, T., Sörensen, J., Nolting, H.-D., (2018), Gesundheitsreport 2018, Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten, Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 21), Heidelberg. McKinsey Digital, (2015), Industry 4.0 , How to navigate digitization of the manufacturing sector, URL: https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Business%20Functions/ Operations/Our%20Insights/Industry%2040%20How%20to%20navigate%20digitization%20of%20the%20manufacturing%20sector/Industry-40-How-to-navigate-digitization-of-the-manufacturing-sector.ashx (22.01.2018). Melamed, S., Ben-Avi, I., Luz, J., Green, M. S., (1995), Objective and subjective work monotony: Effects on job satisfaction, psychological distress, and absenteeism in blue-collar workers, in: Journal of Applied Psychology, 80(1), S. 29–42. Metschar, D., (2013), Qualität im Betrieblichen Gesundheitsmanagement zwischen wissenschaftlichem Anspruch und betrieblicher Wirklichkeit, Eine Fallstudie aus der Automobilindustrie zur qualitätsgesicherten Vorgehensweise im Betrieblichen Gesundheitsmanagement, Dissertation, Universität Bremen, Bremen. North, K., (2011), Wissensorientierte Unternehmensführung, Wertschöpfung durch Wissen, 5. Aufl., Wiesbaden. Pawlowsky, P., (1994), Wissensmanagement in der lernenden Organisation. Habilitationsschrift: Universität Paderborn. Pawlowsky, P., (2012), Wissensmanagement Lehrbrief 2, Perspektiven organisationalen Lernens und des Wissensmanagements, FOKUS prints 05/12, Lehrstuhl „Personal und Führung“ der TU Chemnitz, Chemnitz. Pfannstiel, M. A., Mehlich, H. (Hrsg.), (2016), Betriebliches Gesundheitsmanagement. Konzepte, Maßnahmen, Evaluation. Gabler. Wiesbaden Probst, G. J. B., Geussen, A., (1997), Wissensziele als neue Management-Instrumente, in: Gablers Magazin, 8, S. 6–9. Prognos AG (Hrsg.), (2012), Instrumentenkasten für eine altersgerechte Arbeitswelt in KMU, Analyse der Herausforderungen des demografischen Wandels und Systematisierung von Handlungsoptionen für kleine und mittlere Unternehmen, Berlin. Schein, E. H., (2010), Organizational culture and leadership, 4. Aufl., San Francisco, Calif.

Ein Instrumentarium zur Realisierung zukunftsorientierter Arbeitsfähigkeit – Teil II eines partizipativen Ansatzes Frauke Remmers1 und Bianca Zorn2

Zusammenfassung

Die bisher dargestellten Anforderungen, Modelle und Instrumentarien zur Arbeitsfähigkeit haben gezeigt, dass nur eine integrative Betrachtung aller Komponenten erfolgsversprechend ist. Kapitel 9 hat in diesem Kontext bereits die ersten Schritte auf dem Weg zu einer Work-Life-Health-Balance aufgezeigt, welche durch die Entwicklung eines Maßnahmensets (Kapitel 10) und den Anforderungen an ein Instrumentarium zur Analyse der Arbeitsfähigkeit allgemein (Kapitel 8) flankiert wurde. Im zweiten Teil der in Kapitel 9 begonnenen Darstellung einer Work-Life-Health orientierten Unternehmensstrategie soll es nun darum gehen, wie die bisher verorteten Werte der drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit konkret in Maßnahmen und quantifizierbare Werte überführt und angewendet werden können. Dazu stellen die weiteren vier Schritte Ansätze eines Planungs-, Steuerungs- und Evaluationsprozesses dar. Dieser zeigt zum einen konkrete Maßnahmen auf, die das Unternehmen seinen Mitarbeitern in den unterschiedlichen Feldern anbieten kann. Zum anderen enthält er Überlegungen hinsichtlich eines ganzheitlichen Controlling-Ansatzes in Form einer arbeitsfähigkeitsfokussierenden Balanced Scorecard. 1 2

SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] Zorn Instruments GmbH & Co.KG, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_11

177

178

1

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Einführung – wie Arbeitsfähigkeit in digitalisierten Unternehmen erreicht werden kann

Damit erfolgreiches Wirtschaften in einem zunehmend digitalisierten Umfeld langfristig ausgerichtet sein und grundsätzlich erreicht werden kann, braucht es arbeitsfähige Menschen, damit für Unternehmen und Mitarbeiter gleichermaßen eine Win-win-Situation entstehen kann. Unternehmen sollten daher zunehmend ihre Energie nicht nur in den Ausbau ihrer digitalen Geschäftsmodelle und Prozesse investieren, sondern ihrem wesentlichen Kapital – dem Menschen – mindestens genauso viel Beachtung schenken. Allerdings sind Unternehmen stets darum bemüht, jegliche Investitionsausgaben für die menschliche Arbeitskraft ihren Erträgen gegenüber zu stellen. Die Legitimierung dessen erfolgt auf der Grundlage, dass andere Investitionen, wie z. B. in technische Anlagen und Maschinen, ebenfalls einer Erfolgs- und Nutzenkontrolle unterzogen werden. Umso wichtiger ist demnach eine prozess- und nutzenorientierte Begleitung entsprechender Maßnahmen, die im vorliegenden Kontext zur Arbeitsfähigkeit beitragen und Aspekte von Arbeit, Leben und Gesundheit gleichermaßen zielorientiert berücksichtigen. Kapitel 9 hat dazu bereits aufgezeigt, wie der Status quo im Unternehmen ermittelt und somit anhängige Maßnahmen bedarfsorientiert formuliert und aufgesetzt werden könnten. Im zweiten Schritt soll nun eine qualitative wie auch quantitative Grundlage für eine begleitende wie auch abschließende Bewertung gegeben werden. Thematisch ordnet sich der zweite Teil der WLHB-Strategie damit folgendermaßen ein (Abbildung 1):

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

179

Auf Basis des Bestrebens, jegliche Investitionsausgaben für die menschliche Arbeitskraft ihren Erträgen gegenüber zu stellen, ist die sogenannte Humankapitaltheorie nach Becker3 entstanden. Kern dieser Theorie war die Betrachtung des Menschen als Investitionsgut. Genauso wie in technische Anlagen und Betriebsausstattung lässt sich nach der Auffassung von Becker auch in Menschen investieren – z. B. durch Weiterbildungen oder in Form der Gesunderhaltung und des Gesundheitsschutzes – um dadurch den Wert des Humankapitals zu erhöhen sowie Produktivitätspotenziale vollends auszuschöpfen4. Werden diese Investitionen von Unternehmen in ihrem Interesse geführt, so spricht man von betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen. Die damit verbundene Idee bestand in der Entwicklung einer Art „Humanvermögensrechnung“5, die die Kosten für diese Investitionen den sich ergebenen Erträgen gegenüberstellen sollte6. Allerdings konnten diese Überlegungen in Bezug auf die weichen Faktoren des Humankapitals bisher nicht vollumfänglich realisiert werden, da bisherige, an der Theorie von Becker angeknüpfte Untersuchungen, zu theoretisch ausgerichtet waren und sind7. Die Aufgabe der Kosten-Nutzen-Gegenüberstellung übernimmt in Unternehmen das Controlling. Abhängig von der Größe des Unternehmens kann dies wiederum in einzelne Segmente gegliedert werden, z. B. dem Produktcontrolling, dem Fertigungscontrolling, Innovationscontrolling etc. Ausgehend von der These, dass zu sämtlichen Investitionsentscheidungen und Unternehmensaktivitäten ein entsprechendes Controlling gehört, müsste dies auch für den aktuellen Investitionsaufwand im Bereich Gesundheit und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit gelten. Momentan wird dies annähernd ausschließlich über rein monetäre Ausgaben bzw. Investitionen im Gesundheitswesen erfüllt, indem z. B. die Bereitstellung einer Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio seitens des Unternehmens als Kostenpunkt in den allgemeinen Betriebsausgaben erfasst werden. So verschwinden Investitionen in diesem Kontext in einem allgemein Ausgabenpunkt für betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ohne dass eine Aufschlüsselung und Zuordnung der Investitionen erfolgt ist und eine abschließende Effektivitätskontrolle ermöglicht wird. Somit können die entsprechenden Ausgaben weder einem eindeutigen ROI gegenübergestellt noch konkreten Kostenstellen wie z. B. dem Kompetenzerwerb, den Ausgaben für Arbeitsplatzergonomie oder Präventionskostenstellen zugeordnet werden. 3 4 5 6 7

Vgl. Becker, G.: 1993 Vgl. Heckman, J.: 2000, S. 3–56 vgl. Gebauer, M.: 2005, Marschlich, A., Menninger, J.: 2006, S. 32–41. Vgl. Rindermann, H., Sailer, M., Thompson, J.: 2009, S. 3–25 Vgl. Bourdieu, P.: 2005, S. 49–80

180

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Arbeit, Leben und Gesundheit muss ökonomisiert werden und ist damit gleichsam Element der Arbeitsfähigkeitsförderung. Ein eigenständiger Begriff, wie z. B. Gesundheitscontrolling oder Ähnliches, konnte jedoch bisher in der wissenschaftlichen Literatur wie auch in der Praxis nicht vollumfänglich etabliert werden. Einzig die Arbeiten von Stierle benennen den Begriff Gesundheitscontrolling, wo er jedoch häufig in eher theoretische Konstrukte eines Gesundheitsmanagements mündet und weniger mit dem eigentlichen, betriebswirtschaftlichen Verständnis von Controlling synonymisiert werden kann8.

2

Stand der Forschung – Ansätze zur ökonomischen Betrachtung des betrieblichen Gesundheits­ managements

Die Ökonomisierung und damit eindeutige Zuordnung der Aspekte Arbeit, Leben und Gesundheit als Ausdruck der Arbeitsfähigkeitsförderung erlangt aus den vorangegangenen Überlegungen heraus eine besondere Bedeutung. Bereits in den 90er-Jahren zeigten dazugehörige Forschungsarbeiten, dass das Bestreben nach einer Balance zumindest zwischen Arbeit und Leben eine der zentralen Herausforderungen für Unternehmen und Mitarbeiter gleichermaßen darstellt9. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung, erhöhten Anforderungen an Flexibilität und vor allem Aspekte der Arbeitsumgebungen haben Dysbalancen sofortige Auswirkungen auf die Arbeitsperformance10, die seitens der Unternehmen aufgefangen und durch zunehmende Fürsorge an den Mitarbeitern entgegengewirkt werden muss. Vor allem die bisher ausbleibende Partizipation der Mitarbeitenden an Maßnahmen des Gesundheitswesens aber auch zu Aspekten und Angeboten der Work-Life-Balance wird seitens der Belegschaft vor allem durch die undurchsichtige gesamtbetriebliche Ausrichtung begründet. Die Motivation zur Teilnahme an entsprechenden Programmen würde sich im Kontext einer übergreifenden Unternehmensstrategie gleichwohl höher einschätzen lassen und zielführender wahrgenommen werden. Vor allem der Aspekt der Gesundheit spielt vor diesem Hintergrund eine besondere Rolle. Wenn Arbeits- und Lebensbedingungen sukzessive miteinander verschmelzen, müssen Unternehmen wie Mitarbeiter auch dafür Sorge tragen, dass physische und psychische Gesundheit 8 9

Vgl. Siller, H., Stierle, J.: 2011, S. 103–106; Stierle J.: 2011, S. 65–66 Vgl. Kossek, E.E:, Ozeki, C.: 1998, S. 139–149; O’Driscoll, M., Illgen D.R., Hildreth, K.: 1992, S. 272–279 10 Vgl. Allen, T. D., Herst, D. E. L., Bruck, C. S., Sutton, M.: 2000, S. 278–308

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

181

gegeben ist, um ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeits- und Privatleben zu ermöglichen. Dazu sind Messinstrumente zur ökonomischen Erfassung eben jener Bereiche erforderlich und unumgänglich. Erste Arbeiten zur Messung skalierter Zusammenhänge zwischen Arbeit und Leben beschäftigen sich zunächst mit dem Versuch, die wechselseitigen Einflüsse zwischen den beiden Bereichen anhand von Einzel-Items, wie Konflikte, Stress, Belastungen, Krankheiten, Arbeitszeiten, Freizeit etc. zu erfassen11. Als problematisch hat sich bei den dazugehörigen Arbeiten jedoch die Validität erwiesen, da die subjektive Bewertung einzelner Bereiche nicht zwangsweise eine direkte Korrelation untereinander impliziert12. Hinzu kommt, dass die Fokussierung auf die Annahme, dass Work-Life-Balance gleichzusetzen ist mit der Abwesenheit von Konflikten einer nicht hinreichend genauen Definition von Work-Life-Balance entspricht, die auf dieser Grundlage eindeutig ökonomisierbar wäre13. Die alleinige Fokussierung auf Einzel-Items schlägt sich somit negativ auf die eigentlich anvisierte Messung des Balance-Aspektes nieder, da sie grundsätzlich einer Introspektion unterlegen wäre14. Hinzu kommt, dass mehrdimensionale Messinstrumente nicht nur sehr umfangreich und zeitaufwendig anzuwenden sind; die Vergleichbarkeit und Praktikabilität in Bezug auf ein einfaches Controlling innerhalb des individuellen Unternehmens – vor allem bezogen auf Einzel-Items – können weder gewährleistet noch anhand konkreter ökonomischer Instrumente nachgewiesen und beeinflusst werden. Auch die Forderung nach größtmöglicher Allgemeinheit von Items15 oder die Verwendung erster Skalen, wie sie z. B. von Greenhaus et al. (2003)16 oder durch die sogenannte Trier-Kurzskala zur Messung

11 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Carlson, D. S., Kacmar, K. M., Williams, L. J.: 2000, in Bezug auf Work-Family Conflicts 12 Vgl. Ellwart, T., Konradt, U., Hoch, J.: 2008 13 Die meisten Arbeiten beziehen sich in diesem Kontext eher auf den sogenannten Work-Family Conflict; z. B. Higgins, G., Duxbury, L., Johnson, K.L.; 2000; Peeters, M. C. W., Montgomery, A. J., Bakker, A. B., Schaufeli, W. B.: 2005 14 Vgl. Tetrick, L.E:, Buffardi, L.C.: 2006 15 Vgl. dazu die Arbeiten von Bellavia, G., Frone, M. R.: 2004 16 Greenhaus, J. H., Collins, K. M., Shaw, J. D.: 2003; beziehen sich dabei auf die Erfassung von Werten zwischen -1 und +1. Ein Wert von 0 würde demzufolge eine komplette Ausgeglichenheit zwischen Arbeit und Leben implizieren. Allerdings wird in diesem Fall nicht zwischen objektiver Imbalance und subjektiv empfundener Balance differenziert. Wird also z. B. die Arbeitszeit erhöht, muss dies nicht zwangsweise eine subjektiv negativere Einschätzung der allgemeinen Work-Life-Balance zur Folge haben.

182

Frauke Remmers und Bianca Zorn

der Work-Life-Balance17 propagiert werden, können den Anspruch der normativen Limitierung in Bezug auf einen konkreten Return-on-Invest sämtlicher Arbeitsund Lebensbereiche nicht vollumfänglich entsprechen.

3 Work-Life-Health-Balance – Ansätze für eine Operationalisierung Die Ökonomisierung der drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit zielt darauf ab, die verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereiche, Rollen und Ziele in einer Gesamtschau zu vereinen und subjektiv angestrebte Balancevorstellungen im Einklang mit der realisierten, durchaus auch ökonomisch begründeten Organisationsperspektive zu gestalten. Dies wird dabei als ein dynamischer und längerfristiger Prozess verstanden, bei dem die jeweils für das Individuum (Unternehmen und Mitarbeiter gleichermaßen) bedeutsamen Arbeits-, Lebens- und Gesundheitsbereiche im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit geplant, gesteuert und bewertet werden. Der integrative Ansatz spiegelt sich hier durch die gegenseitigen Wechselbeziehungen und dessen gleichberechtigte Ausgestaltung von Unternehmen und Menschen wider. Mit dem zweiten Teil der 2x4-Methode des WLHB-Konzeptes sollen daher im Folgenden erste Ansätze und Überlegungen vorgestellt werden, wie die Investitionen zur Gesunderhaltung von Mitarbeitern und dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit betriebswirtschaftlich erfasst und abgebildet werden können. Grundlage bildet die Auswertung des Fragebogens und die anschließende Entwicklung der unternehmensweiten Grundsätze aus Teil 1 in Kapitel 9. Theoretischer Bezugsrahmen Der Ursprung aller unternehmerischer Entscheidungen, Aktivitäten und Investitionen geht grundsätzlich auf einen mehr oder minder ausgeprägten Planungsprozess zurück. Fehler und Missachtung bestimmter Einflussgrößen wirken sich in irgendeiner Form immer negativ auf die daran anhängigen Prozesse und zu erzielenden Ergebnisse aus. Die Grundlage jeglicher weiteren Planungen bildet die Sensibilität sämtlicher Unternehmensmitglieder für ein allumfassendes Werte-

17 Die Trier-Kurzskala umfasst insgesamt fünf allgemeine Items, die eng an die Theorien der Effort-Recovery Theorie (Geurts, S. A. E., Sonnentag, S.: 2006 oder auch Meijman, T. F., Mulder, G.: 1998) und der Conservation of Resources Theorie (Hobfoll, S. E.: 1998) angelehnt sind und insbesondere den Erholungsfaktor und den Aufbau der Ressourcen betonen.

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

183

management, welches sich – dem Werteviereck von Wieland18 folgend – nicht ausschließlich auf klassische Unternehmenswerte fokussiert, sondern als allumfassendes Wertemanagement zu verstehen ist. Außer den Bereich der Arbeitsprozesse bezieht dieses Verständnis eines Wertemanagements auch Aspekte des Lebens und der Gesundheit zu gleichen Teilen mit ein, ohne dass diese die Privatsphäre der Menschen gefährdet. Problematisch bei dieser Herangehensweise an ein werteorientiertes Unternehmensmanagement ist jedoch die ausbleibende strukturelle Einbettung. Erste wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema „moralische Führung“, Ethikmanagement oder Code of Conduct Leadership propagieren in der Regel zwar Modelle moralischen Handelns, betten diese aber nicht in strukturelle gleichermaßen ökonomisch wie ethisch ausgerichtete Handlungsprozesse mit ein. Einzig das Konzept der Balanced Scorecard als bereichsübergreifendes Managementinstrument wird dieser Herausforderung gerecht, indem sie die vier Bereichseinheiten Finanzen, Potenziale, Prozesse und externe Faktoren (betitelt mit Kunden) impliziert und die überkreuzten Transaktion- und Beziehungsmuster für sich proklamiert. Damit stellt die Balanced Scorecard den theoretisch-wissenschaftlichen Bezugsrahmen zur Entwicklung der weiteren Vorgehensweise dar. Leitgedanke des Konzeptes zur Balanced Scorecard ist die integrative Unternehmenssteuerung durch einen Mix monetärer und nicht monetärer Kennzahlen, welche die zur Erzielung des angestrebten Erfolgs maßgeblichen Sachverhalte abbilden sollen. Diese multikriterielle Erkenntnis basiert auf der Annahme, dass konventionelle Kennzahlensysteme, wie z. B. das ROI-Schema mit ihrem finanziellen Fokus, einen zu einseitigen, primär operativen und vergangenheitsbezogenen Charakter besitzen und weder einen ausreichenden Bezug zum betrieblichen Leistungsprozess noch zur gesamten Unternehmensstrategie herstellen können. Der zukünftige wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens gründet sich jedoch ganz wesentlich auf immaterielle Faktoren, die hinter den finanziellen Kennzahlen stehen und die Zielerreichung maßgeblich beeinflussen. Dazu zählen z.  B. die Qualifikation der Mitarbeiter, prozessbezogenes Know-how, Kundenzufriedenheit, Arbeitsplatzgestaltung, Arbeitsumgebungen, Gesundheitsmanagement, Werteorientierung und maßgeblich in neuerer Zeit Aspekte des „Wohlfühlens“ gepaart mit ergonomischen wie auch psychologischen Treatment-Faktoren. Gerade solche immateriellen Faktoren sollen mit der Balanced Scorecard abgebildet und gesteuert werden. Die Balance bzw. Ausgewogenheit, die im Namen des Konzepts zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf die Berücksichtigung jeweils gegensätzlicher Gleichgewichtskriterien des operativen bzw. strategischen Managements. Dabei handelt es sich um Ergebnis und Treibergrößen (sollen Aufschluss darüber 18 Vgl. Wieland, J., Fürst, M.: 2002, S. 37

184

Frauke Remmers und Bianca Zorn

geben, ob die strategischen Ziele erreicht wurden sowie die gewünschten Ergebnisse anhand von Treibereffekten anstoßen) • Monetäre und nicht-monetäre Maßgrößen • Intern und extern orientierte Maßgrößen (intern = Sachverhalte innerhalb des Unternehmens; extern = Einflüsse von außen, wie Kundenverhalten, Gesetzesänderungen etc.) • Harte und weiche Maßgrößen (harte Faktoren = Kennzahlen des Finanzwesens; weiche Faktoren = Kennzahlen der Unternehmensmitarbeiter in subjektiver Hinsicht, z.  B. gesundheitliche Belastungsfaktoren, Stressempfinden, Motivation etc.). Kaplan und Norton proklamieren, diese vier Betrachtungsweisen als grundsätzliche Unternehmensperspektiven einzuordnen und formulieren diese als Grundgerüst der Balanced Scorecard19 (kurz: BSC), namentlich als • • • •

Finanzwirtschaftsperspektive Kundenperspektive Interne Prozessperspektive Potenzialperspektive.

Abbildung 2 zeigt, welche Inhalte gemeinhin den einzelnen Perspektiven zugeordnet sind.

Abbildung 2  Die vier Perspektiven der BSC20

19 Vgl. Kaplan, R.S., Norton, D.P.: 1996 20 Vgl. Kaplan, R.S., Norton, D.P.: 1996, S. 46 f.

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

185

Ein weiteres zentrales Element der BSC stellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge dar. Grundlegende Kausalitäten bestehen zwischen den Perspektiven sowie den strategischen Zielen der BSC. So stehen nach der von Kaplan und Norton entwickelten Grundlogik die Perspektiven nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden vielmehr ein hierarchisch verknüpftes System. In diesem System können die Ziele der Finanzperspektive nur dann erreicht werden, wenn bestimmte kundenbezogene Ziele realisiert werden. Letztere werden determiniert durch die Qualität der internen Prozesse, welche wiederum durch die Potenzialperspektive tangiert werden. Realisierung Dieses Grundgerüst bildet damit den Anspruch der angestrebten Vereinbarkeit der drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit ab. Wie bereits in Kapitel 9 angedeutet wurde, ist davon auszugehen, dass die Veränderung eines der drei Bereiche auch zu einer entsprechenden Veränderung der anderen Bereiche führen wird. Mithilfe der Balanced Scorecard können sich die einzelnen, zusammenhängenden Effekte eindeutig abbilden lassen. Dazu müssen zunächst die vorhandenen vier Dimensionen in entsprechende WLH-konforme Dimensionen übersetzt werden (Abbildung 3):

Abbildung 3  Dimensionen der BSC im Kontext von WLH

186

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Die Ausgestaltung dieser vier Dimensionen mündet nun in den zweiten Teil der 2x4-Methode und unterteilt sich in die folgenden vier Schritte (Abbildung 4):

Abbildung 4  Der zweite Teil der 2x4 Methode (Schritte von 5 bis 8)

Schritt 5: Überführung der Grundsätze in dazugehörige Maßnahmen Im letzten Schritt des ersten Teils der 2x4-Methode (Schritt 4; Kapitel 9) wurde dargelegt, dass die jeweilige Projektgruppe des Unternehmens in Anlehnung an die Auswertung des Fragebogens Grundsätze verabschiedet, die den Handlungsrahmen darstellen, um eine tendenzielle Balance zwischen Arbeit, Leben und Gesundheit zu realisieren. Um die Umsetzung der Grundsätze im Sinne der vorherigen Ausführungen zur Ökonomisierung auch skalierbar zu gestalten, ist es im nächsten Schritt nötig, diese mit konkreten Maßnahmen zu hinterlegen. Dazu kann die Projektgruppe einerseits aus einem Maßnahmenkatalog, entsprechend der Situation im Unternehmen, auswählen. Andererseits ist es ihr freigestellt, eigene skalierbare Maßnahmen zu formulieren, die der Belegschaft und der Unternehmensführung entsprechende Impulse liefern. Anschließend werden die ausgewählten Maßnahmen pro Grundsatz der Belegschaft vorgestellt und in öffentlicher Abstimmung der Entschluss für diejenigen Maßnahmen getroffen, die die formulierten Grundsätze am ehesten realisieren können. Das Team bekommt so unmittelbar Feedback und die gesamte Belegschaft ist in den Entscheidungsprozess einbezogen. Praxisexkurs: Die Überführung der Grundsätze in konkrete Maßnahmen stellt für das Unternehmen die größte Hürde dar. Dies liegt daran, dass die praktische Ausgestaltung nicht nur die daran anhängigen Kostenpositionen, sondern auch die Negativorientierung vieler Mitarbeiter und Unternehmen beachten muss, wenn es um ressourcenerhaltende Wertmaßstäbe aber auch um die eigene Beteiligung und Aktivität geht. Die eindeutige Erfassung des Return-on-Invest bzw. die Ableitung konkreter Betriebsergebnisse bei gleichzeitig humanistischer Führung, Wertschätzung und Transparenz steht deshalb an oberster Stelle bei der Formulierung.

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

187

Die beteiligten Partnerunternehmen haben deshalb die Idee der Balanced Scorecard aufgegriffen und den genannten WLH-Dimensionen ihre Grundsätze und daran anhängige Maßnahmen in einem ersten Schritt zugeordnet und jeweils eine quantifizierbare Zielsetzung formuliert. Konkret ergab sich daraus auszugsweise das folgende Bild (Abbildung 5):

Abbildung 5  Übersetzung der WLH-Dimensionen in Grundsätze und Maßnahmen

Schritt 6: Planung der Realisierung der Maßnahmen Die Fokussierung der Planungsphase liegt im besonderen Maße auf der Skalierbarkeit und damit der Erfassung des ROI sämtlicher Maßnahmen, die auf Basis der Grundsätze zuvor formuliert wurden. Dies ist nicht nur betriebswirtschaftlich von entscheidender Bedeutung, sondern hat auch signifikante Auswirkungen auf die Motivation aller am Unternehmen Beteiligten. Auch hier dient die Balanced Scorecard als entsprechendes Unterstützungstool, indem kritische Erfolgsfaktoren, Kennzahlen und zur Umsetzung notwendige Ressourcen monetär bzw. skaliert abgebildet, in konkrete Ziele überführt und in Ursache-Wirkungsbeziehungen gesetzt werden. Praxisexkurs: Der wichtigste Schritt dieser Phase lag für die beteiligten Praxispartner zunächst in der Umwandlung der bisher definierten strategischen Ziele und Bedarfe in konkrete, operationalisierbare Skalenwerte. Im Kontext der WorkLife-Health-Orientierung ist bei diesem Prozess durchaus von einer Gratwanderung zu sprechen. An die Auswertung der Fragebögen zum WLHB anhängige Maßnahmen dürfen weder über- noch unterfordern, sie müssen nachvollziehbar festlegen, welche Maßnahmen und Aktivitäten mit welcher Zielvereinbarung zusammenhängen und damit Unternehmen wie Mitarbeiter Referenzpunkte für die zu erreichenden Ziele bieten. Gleichzeitig – und gerade bei funktions- und lebensbereichsübergreifenden Aktivitäten – war für die beteiligten Unternehmen aber auch wichtig, dass diese so gestaltet und formuliert sind, dass Spontanität und Kreativität nicht verloren gehen und alle am Prozess beteiligten Individuen auch motiviert sind, erworbenes Wissen in unterschiedlichen Funktionsfeldern anzuwenden.

188

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Dienlich für die Zielformulierung war für die beteiligten Unternehmen die Orientierung an der SMART- oder auch AROMA-Formel21 (Abbildung 6):

Abbildung 6  SMART- und AROMA-Formel der Zielformulierung

Das WLHB-Team konnte mithilfe dieser Grundlage die bisherigen Maßnahmen in konkrete Handlungsziele überführen und angestrebte ökonomische Ergebniswerte formulieren (Abbildung 7).

Abbildung 7  Das WLHB-Team bei der Erarbeitung der Maßnahmen

21 Vgl. Yemm, G.: 2013, S. 37–39

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

189

Anschließend wurde die niedergeschriebene Planung der Geschäftsführung vorgelegt und in einer gemeinsamen Runde zwischen Vertretern beider Parteien zahlenmäßig korrigiert und aufbereitet. Auf diese Weise war es möglich, zugleich unterschiedliche Wahrnehmungen in Bezug auf die Erfassung und Auswertung von Kennzahlen miteinander zu vergleichen und gleichzeitig die vorhandenen Zieloptionen kritisch zu beleuchten. Im Praxisfall von Zorn Instruments ergab sich in diesem Kontext z. B. eine interessante Abweichung zwischen der Zielgrößenvorstellung in Bezug auf die Inanspruchnahme sogenannter Raucherpausen. Während die Geschäftsführung als zu erstrebende Zielgröße eine Reduzierung von aktuell 40 Minuten auf maximal 35 Minuten als realistisch einstufte, sahen die Mitarbeiter eine durchaus zu erstrebende Zielgröße bei max. 30 Minuten pro acht Stunden Arbeitszeit. Die damit selbstständig höher gesteckte Zielerwartung wurde schriftlich festgehalten und seitens der Geschäftsführung bei Realisierung mit einem zusätzlichen Bonusversprechen hinterlegt. Die konstruktive Diskussion von zu erstrebenden Zielgrößen förderte auf diese Weise ein gesteigertes Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen beider Parteien und trug entscheidend für ein verbessertes Betriebsklima und einem Wir-Gefühl bei. Schritt 7: Umsetzung der Maßnahmen Die Umsetzung der zuvor verabschiedeten Maßnahmen und die Beachtung der daran anhängigen Zielgrößen obliegt in ihrer Realisierung und Förderung in erster Linie dem WLHB-Team. Es hat dafür Sorge zu tragen, dass die WLHB-Strategie, ihre Grundsätze und Maßnahmen mit daran anhängigen Zielgrößen in einem ersten Schritt unternehmensweit kommuniziert und anschaulich aufbereitet wird. Dazu eignen sich digitale Rundschreiben, Infobroschüren und Flyer und gegebenenfalls – abhängig von der Größe des Unternehmens – Betriebs- und Abteilungsversammlungen. Da in der Regel vor allem kleine und mittlere Unternehmen nicht über ausreichend Fachkräfte über WLHB-orientierte Themen wie Arbeitssicherheit, Betriebliche Gesundheitsförderung, Präventionsmöglichkeiten etc. verfügen22 bietet es sich spätestens in der Umsetzungsphase an, sogenannte Präventionsallianzen zu nutzen bzw. zu gründen (siehe Kapitel 14). Externe Dienstleister wie Krankenkassen, Physiotherapeuten oder auch digitale Assistenzsysteme zur Schulung der Eigenverantwortlichkeit (siehe Kapitel 12 und 13), wie auch die Schaffung von Synergien und Zusammenarbeit mit anderen KMUs, können sämtlichen Unternehmensmitgliedern teilweise sogar kostenlos und je nach Angebot digital und damit auch zur privaten Nutzung zugänglich gemacht werden. So besteht einerseits die Möglichkeit, mit Unterstützung von externen Vertretern 22 Vgl. Gohm, A.: 2015

190

Frauke Remmers und Bianca Zorn

und Kooperationspartnern einzelne Maßnahmen umzusetzen, die der jeweiligen Zielformulierung auf strategischer und operativer Seite entsprechen, andererseits aber auch jedem Unternehmensmitglied freistellen, im Rahmen einer personalisierten, digitalen Oberfläche eigene, individuelle Maßnahmen und Aktivitäten zur Gesunderhaltung zu nutzen und sich mithilfe der angebotenen Tools stets selbst zu überwachen und zu motivieren. Netzwerkeffekte wie auch unternehmensinterne Potenziale stehen hierzu in einem besonderen Fokus. Dem Unternehmen ist es an dieser Stelle freigestellt, mit welchen Inhalten die angestrebten Ziele und Ergebnisse erreicht werden sollen, wobei als koordinierende Instanz das WLHB-Team stets als Ansprechpartner fungiert, da die Einbettung in die Organisationsstrategie gewährleistet sein (vgl. Kapitel 9) und die WLHB-Orientierung nicht als weiteres Element einer punktuellen Gesundheitsförderung aufgefasst werden soll. Dies würde im Widerspruch zu dem integrativen Ansatz stehen und die Potenziale einer Work-Life-Health orientierten Unternehmung nicht vollends ausschöpfen. Aus diesem Grund fungiert das WLHB-Team als sogenannte Schnittstelle zwischen dem strategischen Management und der operativen Begleitung der Work-LifeHealth-Orientierung. Vor dem Hintergrund, dass die Unternehmen selbst maßgeblich Verantwortung für die Realisierung entsprechender Maßnahmen tragen, in der Regel aber keine Experten in Sachen Gesundheitsschutz und Prävention darstellen, sind Allianzen auf externer betrieblicher Ebene notwendig, um Betriebe bei der WLH-Strategie zu unterstützen23. Vor allem KMUs sind ohne speziell befähigte Mitarbeiter (z. B. Arbeitsschutzbeauftragte, Präventionsbeauftragte, BGM-Experten etc.) in besonderer Weise auf Kooperationen mit beratenden Unternehmen, Schulungen oder die Begleitung von Maßnahmen durch externe Instanzen angewiesen24, die in der Realisierungsphase sondiert und aktiviert werden müssen. Dies betrifft insbesondere die Tatsache, dass es sich bei der Realisierung der Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung nach den Regeln der DIN SPEC 91020 sowohl um präventive wie auch um gesundheitsfördernde Aktivitäten handeln muss, die nur durch eine fachpraktische Begleitung in Gänze abgedeckt werden können. Praxisexkurs: Im Zuge der Umsetzung der Maßnahmen hat der Praxispartner Zorn Instruments zunächst eine Präventionsallianz mit der Techniker Krankenkassen gegründet. Dies lag daran, dass die meisten der Beschäftigten dort versichert sind und im Rahmen der regelmäßigen Infobroschüren seitens der TK auf kostenlose Angebote aufmerksam wurden, die für das Unternehmen von Interesse und Relevanz waren. Nach einem informativen Vortrag seitens der TK-Vertretung 23 Vgl. Badura, B., Litsch, M., Vetter, C.: 2001, S. 20 f. 24 Vgl. Galuska, J.: 2011, S. 36

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

191

konnte eine Zusammenarbeit vertraglich geregelt werden, die auch die nicht bei der TK versicherten Mitarbeiter miteinschließt. In diesem Kontext stellt die TK kostenlos Gesundheits-Apps, Präventionskurse, Rückenschulungen, Vorträge zum Thema Ernährung und Rauchen etc. zur Verfügung. Weiterhin konnte Zorn eine Zusammenarbeit mit einem ortsansässigen Physiotherapeuten realisieren, der zu einem fest vereinbarten Monatsentgelt zwei Termine in der Woche jeweils für eine bestimmte Zeit Massagetermine für die Mitarbeitenden vergibt. Dadurch lassen sich die Investitionskosten nicht nur moderat halten, sondern auch monatsweise zuverlässig kalkulieren. Die Beteiligung an entsprechenden Angeboten wie auch die Umsetzung der Raucherpausenregelung wird seitens Zorn mit einem Punktekonto honoriert. Ab einer bestimmten Punktzahl und gekoppelt an die Formulierung und Erreichung der Zielvorgaben erwarten die Mitarbeiter Prämien in Form von freien Tagen, finanzielle Prämien, Gutscheine etc. Zorn Instruments konnte binnen sechs Monaten deutlich die Fehlzeiten in der Produktion senken und immer mehr Mitarbeiter nehmen trotz anfänglicher Skepsis nun an entsprechenden Angeboten teil. Krankheitstage aufgrund von Rückenleiden konnten ebenfalls maßgeblich gesenkt werden. Beim zweiten Praxispartner Liebherr wurde im Rahmen der Umsetzung ein digitales Assistenzsystem etabliert. Dieses bedient ebenfalls gleichermaßen die drei Bereiche Arbeit, Leben und Gesundheit, fokussiert allerdings mehr die Eigenverantwortung der Mitarbeiter, indem Vorschläge zur Verbesserung der individuellen Work-Life-Health-Balance auf Basis der spezifischen Arbeitsplätze generiert werden (vgl. Kapitel 12). Die Ausarbeitung und Schulung der Mitarbeiter im Kontext entsprechender Lernangebote kann und konnte ebenfalls dazu beitragen, dass vor allem auch größere Unternehmen die Eigenverantwortlichkeit ihrer Mitarbeiter deutlich fokussiert in die internen Abläufe und Betriebsstrategie miteinbinden können. Im Rahmen einer Vergleichsstudie mithilfe des WLHB-Fragebogens konnte zudem nachgewiesen werden, dass sich der subjektive Eindruck der vorhandenen Work-Life-Health-Balance durch den Einsatz des Assistenzsystems merklich verbessert hat. Auch wenn beide Praxispartner damit zwei völlig unterschiedliche Herangehensweisen der Maßnahmenumsetzung aufweisen, erscheint die angestrebte Balance durchaus realisierbar. Schritt 8: Evaluierung Die dargestellte Abfolge der bisherigen Schritte (inklusive Teil 1) zeigen einen strukturierten Gesamtprozess auf, der zugleich dem Anspruch der Flexibilität und an die jeweilige Unternehmenskultur adaptierbare Individualität gerecht wird. Eine strategisch orientierte wie auch ethisch geprägte Unternehmens- und Personalführung ist dadurch möglich. Vor diesem Hintergrund muss der letzte

192

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Schritt der Evaluierung zugleich zwei Ansprüchen genügen: Zum einen sollte sie vergangenheitsorientiert den betriebswirtschaftlichen Erfolg und den Nutzen sämtlicher operationalisierter Ziele im Kontext der umgesetzten Maßnahmen ermitteln und diese in Abgleich mit den Ergebnissen des Fragebogens bringen25. Dazu erfolgt eine erneute Befragung mit dem WLHB-Fragebogen. Andererseits können und sollten die Ergebnisse zukunftsorientiert zur Optimierung sämtlicher nachhaltiger Personalführungsaktivitäten genutzt werden, um eine langfristige Balance von Arbeit, Leben und Gesundheit zu fördern. Vor allem in Bezug auf den Begriff „Nutzen“ herrschen im Kontext der 2x4-Methode zwei unterschiedliche Perspektiven vor: Auf der einen Seite beinhaltet die subjektiv geprägte Sichtweise Aspekte wie Zeitaufwand, Anwendungserfolg im Alltag und am Arbeitsplatz, ein verbessertes Arbeitsklima, veränderte gesundheitliche Aspekte, Kommunikationsverläufe, Fairness, Transparenz und generell ein individuell verändertes Wohlbefinden26. Die objektive Perspektive – vornehmlich vertreten durch die Unternehmensleitung – bewertet auf der anderen Seite Aspekte wie Performance, Veränderungen von definierten Kennzahlen, Zeitinvestitionen, Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg, Reputation etc.27 Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich in der Summe drei abschließende Aspekte, die im Rahmen des Kontrollprozesses den Nutzen für alle beteiligten Individuen bewerten (sollten): 1. Bewertung und Kontrolle des tatsächlichen Maßnahmenerfolgs anhand der unter Schritt 1–7 definierten Ziele und Kennzahlen (Ergebnisse des Fragebogens, monetäre Aspekte, statistische Abweichungen etc.). 2. Transfer und Auswirkungen in die individuellen Funktionsfelder sowohl im Kontext von betrieblichen Workflows wie auch in den privaten Bereich. 3. Gegenüberstellung von Investition und tatsächlichem Nutzen im Rahmen einer Kostenumlegung auf die operationalisierten und kennzahlengestützten Zielvorgaben. Auf diese Weise lassen sich sämtliche Maßnahmen nicht nur eindeutig Zielvereinbarungen zuordnen, sondern anhand konkreter ökonomischer Kennzahlen rechtfertigen und langfristig als Bestandteil der Unternehmensstrategie aufnehmen. An dieser Stelle greift nun wieder das System der Balanced Scorecard. Während die ursprüngliche BSC in ihrer Konzeption darauf ausgelegt war, dem Top-Manage25 Remmers, F.: 2018, S. 282–286 26 Vgl. Ebd. 27 Ebd.

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

193

ment als Informationsinstrument zu dienen, ist inzwischen erkannt worden, dass eine ausschließlich auf die oberste Führung angelegte Informationsversorgung die Implementierung einer Strategie – wie sie WLHB darstellt – aufgrund mangelnder Kommunikation und Transparenz nur in Ansätzen unterstützt. Der Gedanke eines gemeinsamen Wertemanagements und daraus entwickelter Grundsätze versucht zwar, diesem entgegenzuwirken; nichtsdestotrotz kann die BSC in Bezug auf das Zusammenspiel zwischen Arbeit, Leben und Gesundheit in der Praxis ihren vollen Nutzen erst dann entfalten, wenn sie von der Ebene des Top-Managements auf einzelne Unternehmensbereiche bis hin zu einzelnen Arbeitsgruppen und Individuen wie auch umgekehrt heruntergebrochen wird (Ziel-Kaskadierung). Allerdings sind hierbei insbesondere drei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens steigt mit der Anzahl (hierarchisch) verbundener Lebens-, Arbeits- und Gesundheitsbereiche auch die Menge an zu verarbeitenden Informationen. Zweitens wird für die Analyse der ermittelten Informationen ein flexibles Auswertungs- und Berichtsinstrumentarium benötigt, welches beispielsweise eine Analyse der Informationen und Veränderungen im Zeitablauf sowie eine differenzierte Betrachtung eines Sachverhalts durch Aufspaltung nach bestimmten Merkmalen umfassen sollte. Drittens erfordert die Dynamik der Wirtschaftsprozesse, Einflüsse der Digitalisierung und Anforderungen in Bezug auf Datenschutz in Verbindung mit sich ständig wechselnden Umfeldbedingungen eine kontinuierliche Anpassung der BSC. Aus den aufgeworfenen Aspekten lässt sich nun folgende Quintessenz für den Evaluationsprozess ableiten: Je weiter die BSC in Bezug auf die Aspekte Arbeit, Leben und Gesundheit ausdifferenziert ist, desto weniger kann eine rein manuelle bzw. papiergestützte Implementierung den Anforderungen an eine führungsorientierte Informationsversorgung unter Flexibilitäts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten gerecht werden. Für den erfolgreichen Einsatz ist deshalb eine informationstechnologische Unterstützung der entscheidende Implementierungsansatz, welcher in der Forschung im Rahmen des Balanced-Scorecard-Gedankens auch von Gilles proklamiert wird28. Die Abbildung strategierelevanter Kennzahlen (wie die Reduzierung von Fehltagen, Reduzierung von Raucherpausenzeiten, die Teilnahme an Präventionskursen etc.) und der sie verbindenden Ursache-Wirkungszusammenhänge beruht auf einer integrativen Gesamtschau, bei der die Unternehmensperformance sowohl aus prozess-, wie auch aus potenzialund ergebnisorientierten Blickwinkeln spezifiziert wird. Daher ist im Rahmen der Evaluationsphase weniger eine konkrete zeitliche wie auch örtliche Realisierung der formulierten Maßnahmen angedacht, sondern vielmehr ein Kriterienkatalog möglicher Bestimmungsfaktoren zur Qualitäts- und Erfolgssteuerung abzuleiten, 28 Vgl. Gilles, M.: 2002, S. 212

194

Frauke Remmers und Bianca Zorn

an welchem sich die anschließende Kontrollphase angliedert und zugleich orientieren kann. Diese Bestimmungsfaktoren sind zwar individuell in Unternehmen verschieden, dennoch lassen sich wesentliche Übereinstimmungen in Form von übergeordneten Prädikatoren finden. Praxisexkurs: Im Zuge der Umsetzung haben die beteiligten Praxispartner zunächst ihre Ziele in konkrete Ergebniswerte überführt und daraus skalierbare Größen entwickelt. Anhand dessen wurde nach Ablauf der Umsetzungsperiode von sechs Monaten geprüft und im letzten Schritt evaluiert, welche Maßnahmen als effektiv und effizient bewertet werden können. Bei Zorn Instruments wurde dies folgendermaßen aufgestellt (Abbildung 8):

Abbildung 8 Auszug aus der Evaluation der realisierten Maßnahmen bei Zorn Instruments

6

Fazit – WLHB (Schritt 5 bis 8) als partizipative Ausgestaltung werteorientierter Unternehmens­ entwicklung

Die 2x4-Methode konnte darstellen, dass das integrative Gesamtmodell zum Erhalt, der Förderung und Forderung von Arbeitsfähigkeit nicht im Widerspruch zu einer individualisierten Unternehmenskultur oder als weiteres Investitionsgut mit fraglichem Output angesehen werden muss und darf. Ganz im Gegenteil: Wenn eine WLHB-Strategie Teil der gesamten Unternehmenskultur wird, fördert sie im

Ein Instrumentarium zur Realisierung …

195

entscheidenden Maße nicht nur die Arbeitsfähigkeit per se. Vor allem durch aktive Partizipation der Mitarbeitenden in arbeits-, lebens- und gesundheitsorientierte Prozesse begünstigt im besonderen Maße eine spezielle Wertekultur, die dem von Wieland propagierten Werteviereck vollumfänglich entspricht und auch sämtlichen Stockwerken des Hauses für Arbeitsfähigkeit nach Ilmarinen gerecht wird. Diese Strategie geht damit über bisherige BGM- oder Work-Life-Balance-Konzepte hinaus29. Auch Ansprüche der Arbeit 4.0, veränderte Menschenbilder und Einflüsse der Digitalisierung können mithilfe der 2x4-Methode flexibel begegnet und in eine nachhaltig präventive Personal- wie auch Unternehmensführung übersetzt werden. Im Idealfall kann es durch wiederholtes Durchlaufen der 2x4-Schritte gelingen, eine sogenannte Work-Life-Health-Balance dauerhaft herzustellen und als essenziellen Bestandteil der Unternehmenskultur zu verankern, indem sämtliche Arbeits-, Lebens- und Gesundheitsbereiche gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Literatur Allen, T. D., Herst, D. E. L., Bruck, C. S., Sutton, M.: 2000, Consequences associated with work-to-family conflict: A review and agenda for future research. Journal of Occupational Health Psychology, 5, S. 278–308. Badura, B., Litsch, M., Vetter, C.: 2001, Zukünftige Arbeitswelten: Gesundheitsschutz und Gesundheitsmanagement. Springer. Berlin [u.a.] Becker, G.:1993, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Mohr, Tübingen Bellavia, G., Frone, M. R.: 2004, Work-family conflict. In Barling, J., Kelloway, E.K., Frone, M.R. (Eds.); Handbook of work stress; Thousand Oaks, CA: Sage; S. 113–148 Bourdieu, P.: 2005, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital in: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, VSA-Verlag Hamburg; S. 49 – 80 Carlson, D. S., Kacmar, K. M. & Williams, L. J.: 2000, Construction and initial validation of a multidimensional measure of work-family conflict. Journal of Vocational Behavior, 56, S. 249–276 Ellwart, T., Konradt, U., Hoch, J.: 2008, Modeling multiple causes of work-family balance: Validation of a formative measurement approach. Manuscript submitted for publication Galuska, J.: 2011, Vitale Unternehmen in Balance. Ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement. Metabalance-Verl. Leipzig. Gebauer, M.: 2005, Unternehmensbewertung auf der Basis von Humankapital. Josef Eul Verlag., Köln Gilles, M.: 2002, Balanced Scorecard als Konzept Zur Strategischen Steuerung Von Unternehmen; Europäische Hochschulschriften (European University Studie) Gohm, A.: 2015, Betriebliches Gesundheitsmanagement: Konzeptionelle Überlegungen zur Einführung in kleinen und mittleren Unternehmen; Igel Verlag 29 Vgl. Remmers, F. : 2018, S. 282–286

196

Frauke Remmers und Bianca Zorn

Greenhaus, J. H., Collins, K. M., Shaw, J. D.: 2003, The relation between work-family balance and quality of life. Journal of Vocational Behavior, 63, S. 510–531. Geurts, S. A. E., Sonnentag, S.: 2006, Recovery as an explanatory mechanism in the relation between acute stress reactions and chronic health impairment. Scandinavian Journal of Work, Environment & Health, 32, S. 482–492. Heckman, J.: 2000, Policies to foster human capital. In: Research in Economics, 54, S. 3–56 Higgins, G., Duxbury, L., Johnson, K. L.: 2000, Part-time work for women: Does it really help balance work and family? Human Resource Management, 39, S. 17–32 Hobfoll, S. E.: 1998, Stress, culture, and community: The psychology and physiology of stress; New York: Plenum. Kaplan, R., Norton, D.P.: 1996, The Balanced Scorecard: Translating Strategy into Action; Harvard Business Review Press; Auflage: First Edition, Eighth Impression Kossek, E. E., Ozeki, C.: 1998, Work-family conflict, policies, and the job-life satisfaction relationship: A review and directions of organizational behavior-human resources research. Journal of Applied Psychology, 83, S. 139–149 Marschlich, A., Menninger, J.: 2006, Humankapital als Beitrag zum Value Reporting. In: Controlling & Management. Jg. 50, H. 3; S. 32–41. Meijman, T. F., Mulder, G.: 1998, Psychological aspects of workload. In Drenth, P.J., Thierry, H. (Eds.); Handbook of work and organizational psychology; Vol. 2: Work psychology; Hove, England: Psychology Press; S. 5–33 O’Driscoll, M., Ilgen, D. R., Hildreth, K.: 1992, Time devoted to job and off-job activities, interrole conflict and affective experiences. Journal of Applied Psychology, 77, S. 272–279 Peeters, M. C. W., Montgomery, A. J., Bakker, A. B., Schaufeli, W. B.: 2005, Balancing work and home: How job and home demands are related to burnout. International Journal of Stress Management, 12, S. 43–61 Remmers, F.: 2018, Gesundheitsschutz im Kontext von Industrie 4.0 – in Balance mit der WLHB™-Strategie; in: Zeitschrift: Betriebliche Prävention; ESV-Verlag; S  282–286 Rindermann, H., Sailer, M., Thompson, J.: 2009, The impact of smart fractions, cognitive ability of politicians and average competence of peoples on social development. In: Talent Development and Excellence, 1, S. 3–25 Siller, H., Stierle J.: 2011; Gesundheitscontrolling – Früherkennung und Eigenverantwortung zur nachhaltigen Gesundheitssicherung. In: CFOaktuell, 6/2011, S. 103–106 Stierle J.: 2011, Gesundheitsgefahren frühzeitig erkennen – Warum Krankenhäuser ein Gesundheitscontrolling installieren sollten. In: KU-Gesundheitsmanagement, 8/2011, S. 65–66 Tetrick, L. E., Buffardi, L. C.: 2006, Measurement issues in research on the work-home interface. In Jones, F., Burke, R.J., Westman, M. (Eds.); Work-life-balance – A psychological perspective; Hove and New York: Psychological Press; S. 90–114 Wieland, J., Fürst, M.: 2002, WerteManagement – Der Faktor Moral im Risikomanagement; KIeM – Working Paper Nr. 01/2002 Yemm, G.: 2013, Essential Guide to Leading Your Team: How to Set Goals, Measure Performance and Reward Talent.. Pearson Education; S. 37–39

Die kleinen Helfer in der Produktion – ein Assistenzsystem wird konzipiert Stefanie Samtleben1 und Denise Rose2

Zusammenfassung

Der Begriff Assistenzsystem kann sehr umfassend verstanden werden. Im weitesten Sinne kann auch eine Schere als Assistenzsystem gesehen werden. Um den Begriff zu schärfen, wird er zunächst charakterisiert und die für den Produktionskontext wichtigsten zu berücksichtigende Parameter über eine Morphologie zusammengefasst. Nach dem Prinzip der partizipativen Planung wurden systematisch geeignete Lösungen erarbeitet. Mithilfe der Morphologie und den Ergebnissen aus der Wertstrommethode wurden verschiedene Konzepte erarbeitet und bewertet. Das beste Konzept wurde umgesetzt.

1 2

Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und Automatisierung IFF, stefanie.samtleben@ iff.fraunhofer.de Liebherr-Werk Biberach GmbH, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_12

197

198

1

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Die Einführung – eine Einordnung von Assistenzsystemen

Wie Abbildung 1 verdeutlicht, ordnet sich dieses Kapitel in den Teil der Lösungsansätze ein. Ergänzt wird das Thema Assistenzsysteme durch die Lernangebote und Präventionsallianzen. Alle Lösungsansätze werden auf die spezifische Unternehmenssituation, die sich aus den Analysen abzeichnet, angepasst.

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils des Bandes

Im Digitalisierungskontext arbeiten Assistenzsysteme zielgerichtet mit dem Menschen in einem Mensch-Maschine-System zusammen. Die Maschine arbeitet dabei parallel mit dem Menschen oder autonom. Sie sind „rechnerbasierte Systeme, die den Menschen bei der Entscheidungsfindung und -durchführung unterstützen.“3 Ein Assistenzsystem muss eine klar definierte Funktion aufweisen, um den Nutzer zielorientiert unterstützen zu können. Hierfür gibt es verschiedene Ausprägungen. Wandke4 gliedert Assistenzsysteme nach Art der Interaktion mit dem Nutzer. Dies unterstützt zusätzlich das Verständnis des Begriffs „Assistenz“ und reduziert die Unterschiede auf drei eindeutig abzugrenzende Merkmale. Ludwig hat diese Merkmale erläutert5. Der simpelste Grad der Assistenz ist eine vollautomatische Unterstützung einfacher Funktionen. Diese werden ohne Auslösung durch den Benutzer ausgeführt. 3 4 5

Vgl. Clausen, P/Buchholz, U: 2009, S. 248 Vgl. Wandke, H: 2010, S. 129 Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 6

Die kleinen Helfer in der Produktion …

199

„In diese Klasse fallen Systeme wie Autopiloten in Flugzeugen, Antiblockiersysteme in Kraftfahrzeugen oder automatische Abschaltungssysteme für technische Geräte in Haushalt oder Produktionsstätten.“6 Die nächstkomplexere Klasse von Assistenz kombiniert verschiedene elementare, nicht notwendigerweise autonome Funktionen eines Geräts. Assistenz besteht in diesem Fall also darin, den Nutzer bei der Durchführung eines vorab definierten, nicht modifizierbaren Anwendungsfalls durch geeignete Bündelung von Funktionen für eine komplexe Aufgabe zu unterstützen. „Typische Beispiele hierfür sind Installationsassistenten von Softwareprogrammen, die Kombination von verschiedenen Funktionen wie Telefon, Camera Radio, Navigationssystem und Mailclient in einem Mobiltelefon […] oder die Kommunikation von Informationen über sprachliche oder taktile Modalitäten.“7 Die komplexeste Form von Assistenz versucht, die Intention des Nutzers einzelner durchgeführter Schritte zu erkennen, daraus die aktuelle Aufgabe, die gelöst werden soll, abzuleiten und geeignete Schritte vorzuschlagen, mit denen eine effiziente Lösung möglich ist. Typische Assistenten dieser Klasse sind Onlinehilfen für Softwaresysteme, die teilweise mithilfe animierter Charaktere ein anthropomorphes Aussehen annehmen.“8 In Tabelle 1 werden die Funktionen von Assistenzsystemen zusammengefasst. Die Hauptfunktionen sind Motiv- und Zielbildung, Informationsaufnahme, Integration von Information, Entscheiden über Auswahl einer Aktion und Aktionsausführung. Für die Unterstützung in der digitalisierten Industrie ist die Integration von Informationen entscheidend. Dies bildet die Basis für erweiterte Funktionen wie das Entscheiden über Auswahl einer Aktion oder die automatische Aktionsausführung.

6 7 8

Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 6 Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 6

200

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Tabelle 1 Taxonomie für Assistenzfunktionen bei einer zielorientierten Handlung nach Ludwig9 Motiv- und Zielbildung Schaffung eines optimalen Aktivierungsniveaus Verstärkung eines Motivs Hemmung eines Motivs Anregung eines Zielwechsels Informationsaufnahme Bereitstellung von Signalen Signalverstärkung Erzeugung von Redundanz Transformation von Signalen in andere Modalitäten Integration von Information Bereitstellung von Erklärungen Bereitstellung externer Bezugsysteme Erklärung von Systemausgaben Entscheidung über Auswahl einer Aktion Information über alle Optionen Information über ausgewählte Optionen Vorschlag einer Option Ausführung, wenn der Nutzer zustimmt Ausführung, wenn der Nutzer nicht widerspricht Ausführung mit Information an den Nutzer Aktionsausführung Verstärken von Aktionen Verkürzen einer Aktionsfolge Alternative Modalitäten bereitstellen Effektkontrolle Auswirkungen wahrnehmbar machen Grad der Zielerreichung bewerten

9

Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 15

Aktivierungsassistenz Coach-Assistenz Warn-Assistenz Orientierungsassistenz Anzeigefunktion Verstärkungsassistenz Wiederholungsassistenz Präsentationsassistenz Beschriftung, Anleitung, Hilfetexte Übersetzungsassistenz Erklärungsassistenz Angebotsassistenz Filterassistenz Beraterassistenz Delegationsassistenz Übernahmeassistenz Informierende Ausführungsassistenz Power-Assistenz Shortcut-Assistenz Eingabeassistenz Rückmeldeassistenz Kritikassistenz

Die kleinen Helfer in der Produktion …

2

201

Die Strukturierung – eine Morphologie für Assistenzsysteme

Jede nach einem bestimmten Verfahren hergestellte Ordnung wird als Morphologie bezeichnet. Der morphologische Kasten kann in allen Unternehmensbereichen wie Forschung & Entwicklung, Marketing, Fertigung, Organisation & Personal und Unternehmensplanung eingesetzt werden. In diesem Fall wird er für die Systematisierung des Lösungsraums verwendet. Dabei wird die Lösung in ihre Einzelaspekte zerlegt. Dies ermöglicht eine strukturelle und funktionale Durchdringung der Lösungsmöglichkeiten.10 Die Morphologie bietet die Möglichkeit, systematisch Lösungen zu beschreiben. Dazu werden Merkmale der Lösung und ihre möglichen Ausprägungen gesammelt11. Diese sind abhängig von den Anforderungen an das Assistenzsystem: Beispielsweise kann ein hohes Staubaufkommen eine besondere Schutzart der Technik bedingen oder das Betätigen von kleinen Tasten ist durch das Tragen von Handschuhen nur stark eingeschränkt möglich. Im Falle des Assistenzsystems können die Merkmale beschreiben, wie wichtig die Berücksichtigung besonderer Umgebungsbedingungen ist, wie die Bedienung und wie die Ausgabe von Informationen erfolgen kann. Für die Bestimmung der Merkmale und Ausprägungen sollten folgende drei Anforderungen berücksichtigt werden12: • Die Parameter müssen logisch unabhängig voneinander sein. Wenn sich die Parameter wechselseitig beeinflussen, können die Alternativen nicht mehr zu einer Gesamtlösung kombiniert werden. • Die Parameter müssen allgemeingültig sein, das heißt sie sollen auf alle Lösungen zutreffen und nicht nur auf eine Teilmenge. • Wenn der morphologische Kasten zu unübersichtlich wird, erschwert sich die Auswahl von relevanten Kombinationen. Von daher sollten alle Parameter relevant sein. Im Folgenden werden zu den übergeordneten Kategorien Fähigkeiten eines Assistenzsystems, Mensch-Maschine-Schnittstelle und Produktionsumgebung Merkmale und Ausprägungen gesammelt, die in einem morphologischen Kasten zusammengefasst werden. 10 Vgl. Dehr, G.; Biermann, T.: 1997, S. 90 11 Vgl. Garrel, J.: 2016, S. 201 12 Vgl. Dehr, G.; Biermann, T.: 1997, S. 90 f.

202

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Fähigkeiten eines Assistenzsystems Nach Ludwig werden die folgenden fünf Fähigkeiten von Assistenzsystemen unterschieden13: • Interaktivität ist die Fähigkeit des Assistenzsystems, die Eingabe des Nutzers zu ermöglichen. • Fähigkeit zur Diagnose in Bezug auf industrielle Assistenzsysteme bedeutet Fehler bei der Unterstützung zu identifizieren. • Die Fähigkeit zur Korrektur ist die Reaktion auf einen diagnostizierten Fehler und dessen Behebung. • Fähigkeit zur Erklärung bedeutet, dass das System seine Informationen dem Nutzer verständlichen machen kann. • Unter der Fähigkeit zur Relaxation versteht man die selbstständige Zielbildung von Assistenzsystemen. Das heißt, falls es für die eigentliche Aufgabe keine zielführende Lösung mehr gibt, orientiert sich das System neu. Für die Morphologie sind nicht alle diese Ausprägungen bei Berücksichtigung des Stands der Technik und der Machbarkeit interessant. Daher wurden die Fähigkeiten wie folgt zusammengefasst (Abbildung 2):

Abbildung 2  Merkmale und Ausprägungen für die Fähigkeiten eines Assistenzsystems

Mensch-Maschine-Schnittstelle Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist die Kommunikationsbrücke zwischen dem Anwender und der Technik. Hier muss immer zwischen der Eingabe und der Ausgabe von Informationen unterschieden werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten dies zu gestalten. Die Technik schreitet stetig fort und bietet neue Möglichkeiten. Die Ausprägungen dieser Merkmale sind begrenzt, da der Mensch 13 Vgl. Ludwig, B: 2015, S. 16 ff.

Die kleinen Helfer in der Produktion …

203

fünf Sinne hat, die separat oder kombiniert angesprochen werden können: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen . Der Mensch nutzt im Arbeitsumfeld zur Kommunikation sicher eher: Sehen, Hören und Fühlen . Das heißt, die Schnittstellen sprechen den Seh-, Hör- oder taktilen Reiz an . Typische Beispiele sind Bildschirme (Ausgabe), Touchbildschirme (Eingabe) oder das Piepen als akustisches Warnsignal . Für die industrielle Praxis haben visuelle Mensch-Maschine-Schnittstellen die höchste Relevanz . Ein Bildschirm beliebiger Größe kann Grafiken, dreidimensionale Ansichten oder Anleitung per Video darstellen . Mithilfe von Brillen kann diese Information in den Raum eingeblendet werden (Augmented Reality) . Der Nutzer kann am Bildschirm über Touch, Maus oder Tastatur auch direkt mit der Ansicht interagieren, sie drehen, etwas ein- oder ausblenden, zoomen etc . Die Brille lässt sich über kleine Knöpfe am Bügel oder über Gesten steuern . Neben den rein virtuellen Mensch-Maschine-Schnittstellen ist der „Multi-Touchscreen“ die beliebteste Schnittstelle . Der Unterschied von einem normalen Touchscreen zu einem Multi-Touchscreen liegt in der Anzahl der Berührungen, die der Touchscreen erkennen kann . Während man bei einem normalen Touchscreen mit einer erkennbaren Berührung nur simple Eingaben tätigen kann, sind bei einem Multi-Touchscreen beispielsweise Gestensteuerung möglich . Dies ermöglicht eine intuitivere Bedienung . Die Schnittstelle ist das entscheidende Merkmal für das Assistenzsystem . Genau hier findet die Interaktion statt. Diese Interaktion ist abhängig von der Art der Information, die bereitgestellt werden soll (Output) und wie der Werker die Informationen erhalten und gegebenenfalls verarbeiten können soll . Zusammenfassend lässt sich die Mensch-Maschine-Schnittstelle mit folgenden Merkmalen und Ausprägungen beschreiben (Abbildung 3) .

204

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Abbildung 3  Merkmale und Ausprägungen für die Mensch-Maschine-Schnittstelle

Prozessumgebung Die Prozessumgebung schränkt den Lösungsraum für Assistenzsysteme ein. Bestimmend ist hier, wie und in welcher Häufigkeiten Informationen eingeholt, verarbeitet und weitergegeben werden sowie die direkte Arbeitsumgebung. Zur Arbeitsumgebung gehören die technischen und die physischen Voraussetzungen direkt am Platz. Ein wichtiges Merkmal ist die Art der Information, die bereitgestellt werden soll und wie der Prozess in der Produktion überwacht wird (Abbildung 4).

Die kleinen Helfer in der Produktion …

205

Abbildung 4  Merkmale und Ausprägungen für die Prozessumgebung

3

Der Einsatz der Morphologie – drei Konzepte für die Produktion im Vergleich

Mithilfe des morphologischen Kastens konnten drei Konzepte ausgearbeitet werden, die für die Durchführung infrage kommen. Zusammenfassend wird an dieser Stelle noch einmal die Produktionsumgebung beschrieben, so wie sie in der Bestandsaufnahme der Produktionsumgebung dargestellt ist. Der erste Einsatzort für das Assistenzsystem war die Montage der Drehbühne eines Krans. Dabei handelt es sich um eine Reihenmontage. Die Arbeitsplätze sind in einer Linie angeordnet. Die zur Verfügung stehende Infrastruktur ist teilstationär. Die Arbeitsplätze können umgerüstet werden und durch zahlreiche Kräne in der Produktionshalle kann ein Umbau, aber auch der Transport der großen Kranbauteile sichergestellt werden. Die Übergangszeiten von einem Arbeitsplatz zum nächsten betragen Minuten bis Stunden. Bisher sind der Mensch und die Begleitpapiere die Informationsträger in der Montage. Es wird in einer mittleren Produktvarianz gefertigt, das heißt, es gibt Standardprodukte mit Varianten sowie ein typisiertes Produktspektrum, welches auch kundenspezifische Varianten zulässt. Die Lautstärke in der Produktion ist mittel. Es ist das Tragen von Schutzkopfhörern empfohlen, da es im Hintergrund einen permanenten Lautstärkepegel gibt, der nur durch die Geräusche die an dem eigenen Arbeitsplatz

206

Stefanie Samtleben und Denise Rose

entstehen unterbrochen wird. Die Lichtverhältnisse sind genau richtig, die Staubbelastung ist mittelmäßig, das heißt, es wird kein Atemschutz benötigt, da aber im Produktionsprozess Metallspäne anfallen, wird von allen Werkzeugen in der Produktion Robustheit gefordert (Abbildung 5).

Abbildung 5  Konzeptentwicklung Assistenzsystem 1

Die kleinen Helfer in der Produktion …

207

Die benötigten Informationen sollen auf einem großen Bildschirm (Beamer) angezeigt werden. Das System ist also fest installiert und die Art der Unterstützung ist kognitiv und visuell. Es ist dafür nötig einen QR-Code zu scannen. Anschließend werden Skizzen, Baupläne oder Checklisten angezeigt. Eine Gestensteuerung ist eine einfache und intuitive Art der Steuerung. Diese kann durch eine Kamera, Kinect, Leap Motion, oder ähnliche Systeme umgesetzt werden (Abbildung 6).

Abbildung 6 Konzept 1 – Gestensteuerung (Bildquelle links: © Viktoria Kühne, 2011, Fraunhofer IFF, All rights reserved, Bildquelle rechts: © Simon Adler, 2013, Fraunhofer IFF, All rights reserved)

Für den Mitarbeiter ergeben sich die Vorteile, dass die Informationen sehr groß angezeigt werden können und aus mehreren Perspektiven betrachtet werden können. Die Pflege des Systems gestaltet sich zudem als sehr einfach. Die benötigten Informationen sollen auf einem Tablet angezeigt werden. Das System ist also äußerst flexibel und die Art der Unterstützung ist kognitiv und visuell. Die Eingabe erfolgt über einen für Tablets üblichen Touchscreen (Abbildung 7). Anschließend werden Skizzen, Baupläne oder Checklisten angezeigt (Abbildung 8).

208

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Abbildung 7  Konzeptentwicklung Assistenzsystem 2

Die kleinen Helfer in der Produktion …

209

Abbildung 8 Konzept 2  – Touchbildschirm und Augmented Reality (Bildquelle: © Daniela Martin, 2014, Fraunhofer IFF, All rights reserved)

Mitarbeiter sind mit der Handhabung der Geräte in den meisten Fällen aus dem Alltag vertraut, weiterhin kann das Tablet sowohl an einem Mitarbeiter als auch an bestimmten Orten befestigt werden. Zum Erlangen der Informationen muss ein QR-Code gescannt werden, dies ist direkt über das Gerät möglich. Ferner ist eine Fotodokumentation durch die Kamera des Tablets möglich (Abbildung 9).

210

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Abbildung 9  Konzeptentwicklung Assistenzsystem 3

Durch eine sogenannte Augmented-Reality-Brille werden dem Mitarbeiter die Informationen angezeigt. Dafür ist ein QR-Code-Scanner notwendig. Gesteuert werden kann die Brille über an der Brille angebrachte Tasten oder ein großes Bedienfeld am Gürtel (Abbildung 10).

Die kleinen Helfer in der Produktion …

211

Abbildung 10 Konzept 3 – Datenbrille (Bildquelle links: © Dirk Mahler, 2015, Fraunhofer IFF, All rights reserved, Bildquelle rechts: © Dirk Mahler, 2013, Fraunhofer IFF, All rights reserved)

Im Gegensatz zur Bedienung eines Tablets, entsteht dabei keine Einschränkung für die Hände und auch hier ist eine Fotodokumentation möglich. Allerdings muss der Tragekomfort einer solchen Brille erst noch getestet werden. Eine Sprachsteuerung ist in dem gegebenen Produktionsumfeld eher problematisch. Nach ausführlicher Diskussion mit den Partnern im Konsortium haben wir uns für das zweite Konzept entschieden. Es bedeutet ein besonderes Maß an Flexibilität. Der Einsatz ist nicht auf Tablets beschränkt. Haben sich die Mitarbeiter an den Umgang mit ersten Funktionen gewöhnt, können die Assistenzfunktionen fast beliebig erweitert werden.

4

Die Umsetzung – Virtuelles Werkerinformationssystem (ViWIS)

Für die Umsetzung ist es immer wichtig, die Anforderungen an das Assistenzsystem aufzunehmen. Diese ergeben sich aus der Umgebung und den Prozessen, in welcher das System eingesetzt werden soll sowie aus den Funktionen, die es erfüllen soll. Dies entspricht der klassischen Vorgehensweise der Softwareentwicklung. In einem Lastenheft werden alle Anforderungen gesammelt. Je genauer sie beschrieben werden können, umso einfacher ist die Überführung in ein Pflichtenheft. Das Pflichtenheft beschreibt die technische Umsetzung der Anforderungen und schätzt den Aufwand für die Umsetzung ab. In diesem Schritt ist eine intensive Kommunikation zwischen dem Entwickler und dem Anwender notwendig. Die technischen Voraussetzungen beim Anwender bestimmen den Aufwand.

212

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Um nicht jede gewünschte Funktion so detailliert zu bewerten, ist eine Priorisierung notwendig. Für den ersten Prototyp sollten Funktionen ausgewählt werden, die einfach zu bedienen sind und einen hohen Nutzen haben. Dies ist von großer Bedeutung für die Akzeptanz der Nutzer. Die Akzeptanz wird zusätzlich durch das Berücksichtigen von Normen14 zur Entwicklung einer nutzerfreundlichen Oberfläche gesteigert. Dazu wird eine frühe Visualisierung der Anwendung empfohlen. Dies erleichtert das Einholen von Feedback und erlaubt erste kleine Tests. Automatisch werden so die Mitarbeiter und späteren Nutzer der Anwendung in die Entwicklung integriert. Die Funktionen sollten modular und in sich abgeschlossen entwickelt werden, damit parallel die Funktionen getestet werden können. Für eine erfolgreiche Umsetzung ist eine gute Kommunikation notwendig. Hierbei helfen feste wiederkehrende Termine und Webkonferenzen, in denen Bildschirminhalte geteilt werden können. So können alle Terminteilnehmer sehen, worüber gesprochen wird. Wichtig ist darüber hinaus eine gemeinsame Ablage der Projektergebnisse. Für die praktische Umsetzung des Assistenzsystems mussten zahlreiche Entscheidungen getroffen werden. Über Telefonkonferenzen, Vor-Ort-Workshops und externe Unterstützung haben sich Liebherr und Fraunhofer sukzessive dem Zielbild genähert. Zuerst wurde ganz klassisch nach dem Lasten- und Pflichtenheft-Prinzip vorgegangen. In dem Lastenheft werden alle Wünsche gesammelt, die für eine Integration in das Assistenzsystem interessant sein könnten. Diese Liste ist sehr schnell sehr umfangreich geworden. In die Sammlung der Ideen wurden Werker, Vorarbeiter und Meister einbezogen. Die Ideen wurden dann priorisiert und der Aufwand zu ihrer Umsetzung abgeschätzt. Dafür war bereits eine intensive Abstimmung zwischen den Entwicklern bei Fraunhofer und dem IT-Team bei Liebherr notwendig. Die erste zentrale Entscheidung bestand in der Festlegung der Art der Anwendung. Web-Anwendungen sind derzeit die Anwendungen mit der höchsten Kompatibilität. Sie sind mobil verfügbar und unabhängig von der Art und der Version des Betriebssystems. Entscheidet man sich jedoch für die Implementierung einer betriebssystemspezifischen Anwendung können Hardwarekomponenten einfacher angesprochen werden. Da bei Liebherr auf absehbare Zeit stets dasselbe Betriebssystem laufen wird und die Einbindung des Kartenlesegeräts sowie des Scanners am Tablet gewünscht war, haben wir uns für die Implementierung einer Windows-App entschieden. 14 Vgl. ISO 9241 Ergonomie der Mensch-System-Interaktion; vgl. ISO 14915 Software-Ergonomie für Multimedia-Benutzungsschnittstellen, S. 3 ff.

Die kleinen Helfer in der Produktion …

213

Nachdem das Szenario festgelegt war, wurden Ideen zum Funktionsumfang der Anwendung gesammelt. Auch dieser Wunschkatalog wurde sehr schnell sehr umfangreich. Der Rahmen des Projekts ließ es nicht zu, alle Funktionen umzusetzen, aber auch für die Einführung der Anwendung ist es sinnvoll, mit einem kleinen Paket an Funktionen zu starten. Bei der Priorisierung der Funktionen wurden vor allem Meister, Vorarbeiter und Mitarbeiter eingebunden. Für die Einführung in die Produktion war es wichtig mit einer Auswahl zu beginnen, die einen hohen Nutzen erzeugt und gleichzeitig einen Eindruck vermitteln kann, welche weiteren Einsatzmöglichkeiten denkbar sind. Daher haben wir uns auf die folgenden Funktionen konzentriert: • Bereitstellen der Arbeitsplaninhalte • Bereitstellen der Stücklisten (Pos.-Nr., Lagerorte, Bezeichnung etc.) • Bereitstellen von 2D-Zeichnungen und 3D-Modellen (perspektivisch auch ein Aufbauvideo) • Verbindung zur Betriebsdatenerfassung (zuvor nur stationär verfügbares System nun auch mobil einsetzbar) • Integration eines persönlichen Bereichs Da das User-Interface eine zentrale Rolle spielt, wurde ein externer Designer mit der Gestaltung eines Mockups beauftragt. Dies war sehr nützlich, da die Mitarbeiter bereits vorab einen praxisnahen Eindruck von der Anwendung bekommen konnten. Die DEKRA hat in diesem Zuge Sensibilisierungsworkshops durchgeführt, die zusätzlich die Akzeptanz zur Einführung weiterer technischer Hilfsmittel gesteigert hat. Natürlich konnten nicht alle Mitarbeiter sensibilisiert werden. Auch konnten nicht alle Mitarbeiter im ersten Schritt über die Anwendung und ihre Funktionen informiert werden. Dies wurde durch ein Mentorenkonzept umgesetzt. Die Mentoren kennen sich mit ViWIS aus und wurden in die Entwicklung einbezogen. Sie sind für ihre Kollegen die erste Anlaufstelle, falls es Fragen oder Schwierigkeiten gibt. Der Zeitpunkt für die Durchführung des gesamten Vorhabens war sehr günstig. Liebherr hatte bereits vor Projektbeginn mit der Ablage von Daten auf einem neu eingerichteten Data Store begonnen. Somit konnten die Datenquellen auf ein Minimum beschränkt werden. Die Vernetzung von mehreren Systemen und das Abgreifen von Daten aus einer Vielzahl von Quellen ist vermutlich eine der größten Herausforderungen für die Realisierung eines solchen Systems in anderen Unternehmen.

214

Stefanie Samtleben und Denise Rose

Literatur Clausen, P.; Buchholz, U. (Hrsg.). (2009) Große Netze der Logistik. Springer. Garrel, J.; Häberer, S (2016): Effiziente und partizipative Gestaltung hybrider Montagesysteme – von der Idee bis zur Serie; Bullinger, A.C. (Hrsg.): 3D-sensation – transdisziplinäre Perspektiven, Verlag aw&I Wissenschaft und Praxis, Chemnitz, S. 194–204. Dehr, G.; Biermann, T. (1997) Innovation mit System. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. DIN EN ISO 9241–110:2018, Ergonomie der Mensch-System-Interaktion – Teil 110: Grundsätze der Dialoggestaltung (ISO 9241–110:2006), Deutsche Fassung EN ISO 9241–110:2006 Ludwig, B. (2015) Planbasierte Mensch-Maschine Interaktion in multimodalen Assistenzsystemen. Springer Vieweg. Wandke, H. (2010) The many faces of human operators in process control: a framework of analogies. Theor. Issues in Ergonomics Sci.

Lernangebote für die digitalisierte Industrie – Ein Praxisbeitrag Malte Stamer und Claudia Ball1

Zusammenfassung

Die Digitalisierung verstärkt die Notwendigkeit lebenslangen Lernens erheblich. Die Dynamik der technologischen Veränderungen erfordern die Bereitschaft darüber nachzudenken, wie grundständige Ausbildung zu gestalten ist und welche Möglichkeiten in der Weiterbildung erforderlich sind. Zugleich bieten neue Technologien neue Formen des Lehrens und Lernens, die Bedrohung sein können, aber auch erhebliche Erleichterungen versprechen. Eigentlich zeichnet sich ein neues Geschäftsmodell für Kompetenzentwicklung ab: Die Trennung von Lernen für Arbeit oder Betrieb geht verloren, im Betrieb verschwindet durch Assistenzsysteme zunehmend die Grenze zwischen Arbeiten und Lernen. Kompetenzentwicklung ist nur noch als lebenslanges Lernen möglich.

1

DEKRA Akademie GmbH, E-Mail [email protected], E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_13

215

216

1

Malte Stamer und Claudia Ball

Der Hintergrund

Politik, Wissenschaft, Wirtschaftsverbände und Sozialpartner befassen sich intensiv mit den Veränderungen in der Arbeitswelt. Sie stellen fest, dass sich die Veränderungen nicht allein auf technologische Innovationen beziehen, sondern neue Geschäftsmodelle erforderlich werden, neue Kompetenzen zu entwickeln sind, aber auch die Arbeit neu zu organisieren, die Gesundheit anders zu schützen ist, da sich das Verhältnis von Arbeit und Leben grundlegend ändern wird. Als Herausforderung ist anzusehen, das Lernen zunehmend diskontinuierlich und entpersonalisiert stattfinden wird (Abbildung 1).

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils des Bandes

Die Diskussion der letzten Jahre hat auch gezeigt, dass es nicht einen Weg geben kann, sondern die Vielfalt der Sektoren, der Betriebsgröße, der Altersstruktur und vieles mehr zu berücksichtigen sind. Der folgende Beitrag versucht, unter dem zentralen Aspekt der Kompetenzentwicklung in dieser sich wandelnden Welt die aktuelle Situation für die Herausforderungen in den Themenfeldern Arbeit, Gesundheit und Ältere zu betrachten. Die Entwicklung von geeigneten Lehr-/Lernangeboten ist ein notwendiger, aber nicht hinreichender Teil des Transformationsprozesses. Lernen ist Teil eines integrativen Modells der Arbeitsfähigkeit, in dem Gesundheit, das Verhältnis von Arbeit und Freizeit aber auch veränderter Organisations- und Produktionsprozesse eine entscheidende Rolle spielen.

Lernangebote für die digitalisierte Industrie …

2

217

Betriebliche Aspekte

Smart Devices, Robotik/Sensorik und Big Data werden als die wesentlichen technologischen Treiber der Digitalisierung angesehen. Smart Devices ermöglichen die zunehmend automatisierte Kommunikation zwischen Maschinen. Sie ermöglichen eine effektivere Produktion bis hin zu einer wirtschaftlichen Einzelfertigung. Dies ändert die Tätigkeiten eines Produktionsmitarbeiters erheblich. Die eigentliche Produktionstätigkeit verliert an Bedeutung zugunsten von Überwachungs- und Steuerungsfunktionen. Zum Beispiel ist es Aufgabe eines Industriemechanikers, einen Fertigungsschritt komplett zu planen, abzuarbeiten und zu kontrollieren. Die eigentliche Fertigung verändert sich noch nicht, aber der Industriemechaniker muss in der Lage sein, auf dem Tablet die erforderlichen Steuerungsschritte umzusetzen und die Verantwortung für diesen Arbeitsprozess im Ganzen zu übernehmen. Mit dieser erhöhten Verantwortung geht zwangläufig eine geringere Verantwortung der bisherigen Führungskräfte (Vorarbeiter, Teamleiter, Meister) und hat damit Einfluss auf die Organisation von Arbeit und die Leitungsstruktur. Robotik ist nicht grundsätzlich neu. Roboter werden seit vielen Jahren in der Fertigung eingesetzt und sind aus dem Fertigungsprozess nicht wegzudenken. Neu ist in der aktuellen Entwicklung die enge Verknüpfung von Mensch und Maschine, nicht mehr der Ersatz des Menschen durch die Maschine. Roboter können Arbeit erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen und sie können und müssen mit dem Menschen kommunizieren. Allerdings hat diese Kommunikation ihre eigenen Regeln: Neben verbalen und manuellen Eingaben kommen noch die Kommunikationsebenen Gestik, Emotionen aber auch Gehirnströme hinzu. Aus technologischer Sicht erfordert Robotik neue spezifische fachliche Kompetenzen, um Roboter zu „einzuarbeiten“, zu steuern und zu warten. Robotik wird die Kommunikation erheblich verändern, da sie grundsätzlich hierarchiefrei ist. Dies bietet die Möglichkeit, dass Kompetenzen auch tatsächlich zum Einsatz kommen und nicht hierarchisch untergeordnet werden. Das Verarbeiten bisher unvorstellbar riesiger Datenmengen beinhaltet neben bekannten Risiken auch enorme Chancen für Betriebe und Individuen. Große Datenmengen werden zunehmend in nahezu allen Sektoren verarbeitet. Das Know-how hierzu wird in einer tiefgreifenden IT-Spezialisierung, meist als Hochschulabschluss erworben. Die Nutzung solcher großen Datenmengen ermöglicht aber auch eine verbesserte individuelle Gestaltung von Lehr/-Lernmitteln. Im Fremdsprachenunterricht ermöglicht die systematische Analyse von Nutzungsdaten Aufschluss über Lernprozesse, z. B. die beim Fremdsprachenerwerb bei bestimmten Personengruppen auftretenden Schwierigkeiten. Dies

218

Malte Stamer und Claudia Ball

ermöglicht eine neue „Feedback-Kultur“ und eine Individualisierung des Lernprozesses. Die Einführung von Industrie 4.0 ist ein sensibler, hochkomplexer Vorgang. Forschungseinrichtungen und Verbände haben daher in vielen Veröffentlichungen Handreichungen zur Einführung erarbeitet. Dabei gilt grundsätzlich, dass jedes Unternehmen im Rahmen der angebotenen Tools seinen eigenen Weg gehen muss.

3

Lernen für Industrie 4.0

Unstrittig ist, dass die Veränderungsprozesse, die mit der zunehmenden Einführung von komplexen, digitalisierten Produktionsprozessen einhergehen, neue und andere Kompetenzen der Beschäftigten erfordern. Da sich die Kompetenzanforderungen immer schneller ändern, ist die Forderung nach der Befähigung zu lebenslangem Lernen Gemeingut. Kurzfristig können Betriebe die Anforderungen nur erfüllen, in dem sie über gut ausgebildetes Personal verfügen bzw. neu einstellen oder durch Weiterbildung qualifizieren. Hier soll unter den Begriffen Ausbildung (Erstausbildung und Hochschulbildung) und Lernen in der Erwachsenenwelt der aktuelle Stand der Diskussion betrachtet werden. Ausbildung Der weltweite Erfolg der deutschen Wirtschaft beruht zu einem großen Teil auf einem Bestand von hochqualifizierten Facharbeitern, die einerseits die betrieblichen Anforderungen erfüllen, aber doch so flexibel sind, dass sie in Krisenzeiten vergleichsweise schnell wieder in den Arbeitsprozess integriert werden können. Für den industriellen Bereich stellt hier die duale Berufsausbildung immer noch den wichtigsten Faktor dar. Mit mehr als 300 dualen Berufen finden Betrieben immer genügend qualifizierte Arbeitskräfte. Sehr schnell war sich die Fachwelt darin einig, dass es zurzeit keinen Bedarf für eine Berufsausbildung „Industrie  4.0“ geben kann, da die spezifischen Ausprägungen branchenabhängig sind. Dabei spielt eine Rolle, dass der Beruf des Produktionstechnologe, der wesentliche Ausbildungsinhalte aktueller Anforderung beinhaltet, keine Akzeptanz gefunden hat. Mit Wirkung zum 01.08.2018 wurden dann die industriellen Metallberufe, die industriellen Elektroberufe und der Mechatroniker/-in (elf insgesamt) neu geregelt. Zwar wurden die Bezeichnungen der Berufe nicht geändert, aber den Anforderungen der Industrie 4.0 wurden in einer Reihe von erheblichen Neuerungen Rechnung getragen.

Lernangebote für die digitalisierte Industrie …

219

• Die bereits vorhandenen Berufsbildpositionen „Betriebliche und technische Kommunikation“ sowie „Planen und Organisieren der Arbeit, Bewerten der Arbeitsergebnisse“ wurden im Hinblick auf die Industrie 4.0-relevanten Qualifikationsanforderungen aktualisiert. • Es wurde in allen Neuordnungen eine neue Berufsbildposition „Digitalisierung der Arbeit, Datenschutz und Informationssicherheit“ in die gemeinsamen Kernqualifikationen der genannten Ausbildungsordnungen aufgenommen. • Für bundesweit nachgefragte, berufsübergreifende und interdisziplinär begründete Qualifikationsanforderungen in zentralen Tätigkeitsfeldern von Industrie 4.0, wurden eine Reihe optionaler, kodifizierter Zusatzqualifikationen in die Ausbildungsordnungen der folgenden Berufe aufgenommen. Die Veränderungen in den Ausbildungsordnungen sind zum Teil erheblich: Veraltete Lerninhalte verschwinden in der jeweiligen Verordnung, stattdessen werden neue Lerninhalte aufgenommen. Im Detail hat dies dann Auswirkungen auf die Lernfelder und die jeweiligen Zeitrahmen, die für die Ausbildung im betrieblichen und schulischen Teil zur Verfügung stehen. Schulische und betriebliche Inhalte sind eng aufeinander abgestimmt. Es werden neue Kompetenzfelder definiert. Darunter ein sogenanntes Basiskompetenzfeld und spezifische Industrie  4.0Kompetenzfelder. Der Zeitrahmen der betrieblichen Ausbildung korrespondiert mit dem Stundenansatz der Lernfelder im schulischen Teil. Eine Besonderheit der deutschen Berufsbildung ist, dass es umfangreiche Möglichkeiten der formalen Aufstiegsfortbildung gibt. Es gilt der traditionelle Grundsatz: Kein Abschluss ohne Anschluss. Auch hier finden umfangreiche Weiterentwicklungen statt, die zunehmend besser den Anschluss zur Hochschulbildung ermöglichen. Generell kann man sagen, dass in den industriellen Kernberufen eine sehr schnelle Anpassung an die neuen Herausforderungen gelungen ist und das System gezeigt hat, dass es auf Veränderungen schnell und erfolgreich reagieren kann. Hochschulbildung Grundsätzlich gilt, dass sich die Hochschulen sehr schnell mit neuen nachgefragten Studiengängen auf die Veränderungen eingestellt haben. Eher ist es schwierig einen Überblick über die Unterschiede der vielen Bachelor- und Masterangebote zu erhalten. Dabei ist es ein großer Vorteil, dass die öffentliche Hand mit der Förderung von Kompetenzzentren und Forschungslaboren den Hochschulen eine enge Kooperation mit Unternehmen ermöglicht. Ein Engpass besteht hier darin, dass sich nicht genügend Studenten, vor allem nicht genügend Frauen finden, einen MINT-Studiengang zu wählen.

220

Malte Stamer und Claudia Ball

Lernen im Erwachsenenalter Lernen im Erwachsenenalter2 wird kurzfristig den wichtigsten Beitrag zur Kompetenzentwicklung in den Betrieben leisten müssen. Darunter fallen die traditionellen Formen der allgemeinen Weiterbildung, der beruflichen Weiterbildung, der betrieblichen Bildung, aber auch die vielfältigen Formen von Lernen in kleinen bis kleinsten Einheiten wie Learning Nuggets, Podcasts oder Lernen in Assistenzsystem, die zunehmend an Bedeutung gewinnen.

4

Neues Lernen

Einige der neueren Lernformen, die sich vor allem in der Arbeitswelt durchsetzen, sollen daher näher betrachtet werden. Vernetztes Lernen Bereits heute haben das Internet und digitale Technologien die Art und Weise des Zugangs zu Informationen und wie man sich miteinander vernetzen kann verändert. Künftig können Lernende in ihrem eigenen Tempo und auf unterschiedlichste Arten auf Informationen zugreifen. Soziale Medien erlauben es Lernenden ohne Zeitverzögerung beizutragen, sich zu vernetzen und mit anderen Lernenden, Lehrenden, Praktikern und Experten über die ganze Welt verteilt zusammen zu arbeiten und zu lernen. Auf diese Weise entstehen vollständig neue und leistungsfähige Lernerfahrungen, die einen erheblichen Unterschied zum Lernen in der Gegenwart ausmachen. Es werden Informationen, Ressourcen und Lernmöglichkeiten überall verfügbar, Bildungseinrichtungen sind nur ein Teilelement eines größeren Ökosystems des Lernens, das zu Hause, online und mit anderen Lernenden stattfindet. Das vernetzte Lernen bezieht eine ganze Reihe an neuen Formen des Lernens und neue Technologien mit ein, die sich in den kommenden 15 Jahren in diesem Umfeld entwickeln werden. Vernetztes Lernen spiegelt dabei das Nutzungsverhalten der jungen Generationen in Bezug auf digitale Medien wieder und gilt als Leitmotiv für das Lernen in der Zukunft. Lernen in erweiterter und virtueller Realität Zusammen mit digitalen Endgeräten hält auch erweitere Realität (eng.: Augmented Reality) Einzug in die berufliche Bildung. Hierbei kommen in vielen Fällen Endgeräte zum Einsatz, die bereits heute einen Teil unserer Realität und teilweise 2

Die Vielfalt von Lernangeboten für Erwachsene macht es sinnvoll, den engen Begriff von Weiterbildung zu vermeiden.

Lernangebote für die digitalisierte Industrie …

221

unseres Alltags ausmachen. Allen voran werden hier Tablets, Smartphones und Datenbrillen nicht mehr wegzudenkendes Equipment, das auch beim Lernen regelmäßig zum Einsatz kommt. So ist bereits in naher Zukunft vorstellbar, dass z. B. Datenbrillen automatisch einen QR-Code auf einer Ladung erkennen und Just-in-Time weiterführende Informationen zur Sicherung der Ladung auf dem Head-Mounted Display einblenden, um Lernen am praktischen Objekt möglich zu machen. Auf ähnliche Weise werden bereits heute Lernanwendungen pilotiert, bei denen z. B. sonst verborgene Abläufe in einer Maschine durch entsprechende Programme auf dem Tablet sichtbar gemacht werden, als wäre die Maschine gläsern. In naher Zukunft können derartige Anwendungen bereits zum Alltag von Berufstätigen gehören, wodurch es einmal mehr zu einer Entgrenzung von Lernen und Arbeiten kommt, denn das Lernen rückt auch dadurch näher an den Arbeitsplatz. Aber auch aus dem Präsenztraining wird erweiterte als auch virtuelle Realität kaum noch wegzudenken sein. Fahrsicherheitsprojekte haben bereits im vergangenen Jahrzehnt mit Lernmaterial gearbeitet, das beim Fahren im Fahrsimulator Just-in-Time noch während der Fahrt in der Frontscheibe eingeblendet wird. Heute zeichnen sich speziell in diesem Kontext Lösungen ab, die sich virtueller Realität bedienen. Sie stellen die Realität in Form von Simulationen im virtuellen Raum nach und machen sie mithilfe einer Virtual-Reality-Brille erlebbar. Optimiertes Lernen durch Learning Analytics Künftig ermöglichen Learning Analytics die Individualisierung des Lernens noch weiter voranzutreiben. Die individuellen Lernprozesse von Lernern werden dadurch in einer bisher nie dagewesenen Qualität unterstützt und optimiert. Learning Analytics greifen auf einige zentrale Elemente zurück, die im Rahmen der Personalisierung von Lernerfahrungen notwendig sind. Es wird hierbei auf unterschiedliche Daten zurückgegriffen, die sich zum einen aus der Lernhistorie des Lernenden ableiten, so z. B. aus den Daten, die in genutzten Lernmanagementsystemen oder auch in sozialen Netzwerken gesammelt werden, als auch auf intelligente Daten, die grundsätzlich über das Lernen einer Referenzgruppe von Lernenden hinaus Auskunft geben. Aufbauend auf einem so entwickelten Profil und entsprechend durchgeführten Analysen wird eine Vorhersage angestellt, welche Lernwege z. B. am ehesten für einen bestimmten Lerner zum Erfolg führen. Letztlich ermöglicht dies eine vollständige Personalisierung der Lernerfahrung für einen einzelnen Lernenden. Die Daten der Lernenden und allgemeine Daten über das Lernen werden eine ausschlaggebende Rolle im Bildungssektor spielen, um sowohl individuelle Lernempfehlungen abgeben als auch Voraussagen zum potenziellen Erfolg oder Misserfolg machen zu können.

222

Malte Stamer und Claudia Ball

Aufgrund dieser neuen Möglichkeiten durch Learning Analytics übernehmen zu diesem Zeitpunkt KI-Tutoren (auf künstlicher Intelligenz basierende Lern-Coaches des Lernsystems) die Individualisierung von Lernmethoden und Lerninhalten. Der Lehrende kann sich hingegen auf das tatsächliche Lehren und Begleiten von Lernenden konzentrieren. Intel zeigt unter anderem dieses zukünftige Zusammenspiel zwischen dem Lehrenden und KI-Tutoren sehr anschaulich im Film „Bridging the Future“. Learning Analytics werden im Kontext der beruflichen Bildung in Zukunft z. B. auch dafür genutzt werden, um anhand von im beruflichen Alltag gesammelten Daten zur Arbeit eines Beschäftigten maßgeschneiderte Bildungsangebote zu erstellen, die einerseits die individuellen beruflichen Fähigkeiten und auch Defizite optimal identifizieren und adressieren und andererseits Lernerfahrungen ermöglichen, die optimal auf den individuellen Lerner, dessen Präferenzen und Lerndispositionen ausgerichtet sind. Auf dem Weg hin zu einem solchen Einsatz von Learning Analytics werden jedoch nicht nur technische Hürden zu überwinden sein. Gerade Fragen des Datenschutzes und auch die Frage, welche Daten hier tatsächlich von pädagogischer Relevanz sind, gilt es an dieser Stelle zu diskutieren. Aber auch im lernpsychologischen Kontext ist heute noch nicht abschließend geklärt, wie es in Zukunft möglich sein wird, die Komplexität des individuellen Lernprozesses derartig zu erfassen, dass tatsächliche Voraussagen abgeleitet werden können.

5

Industrie 4.0 und Gesundheit

Arbeit wirkt unmittelbar in Form von Risiken am Arbeitsplatz, aber zunehmend auch mittelbar auf Gesundheit. Durch moderne Arbeitsmittel und Arbeitsprozesse verändern sich die gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatz. Der klassische Arbeitsunfall nimmt ab, Belastungen durch vermehrten Einsatz von IT-Systemen nehmen ebenso zu wie psychische Belastungen durch erhöhte Arbeitsintensität. Dies kann bis zu einem Burn-out führen, dass die Krankheit dann auch zu einer Belastung des privaten Umfeldes führt. Die mit Industrie 4.0 verbundenen Technologien erlauben zu allererst eine deutliche Erleichterung bei harter, körperlicher Arbeit. Es erlaubt Menschen mit körperlichen Einschränkungen in Arbeitsfelder zu gelangen, die ihnen bisher verschlossen waren. Befragungen weisen aber auch darauf hin, dass die Beschäftigten die Zunahme von IT-nahen Tätigkeiten als gesundheitliche Belastung wahrnehmen. Ein bekanntes Beispiel ist die Nutzung sogenannter Exoskelette, die körperliche

Lernangebote für die digitalisierte Industrie …

223

Tätigkeit durch Maschinenunterstützung deutlich entlasten. Tatsächlich nehmen Erkrankungen der Muskeln und des Skeletts in den Betrieben seit Jahren ab. Allerding steigen offensichtlich psychische Belastungen und Erkrankungen an. Die Ursachen dabei sind vielfältig. In jedem Fall führen die zunehmende Datenmenge, die ständig wechselnden Anforderungen an die Arbeit zu einer von den Beschäftigten wahrgenommenen erhöhten Belastung. Die Digitalisierung ändert aber auch die hierarchische Dimension der Betriebe, Teams und Einzelne habe eine höhere Verantwortung, die Arbeitsorganisation ist in stetigem Wandel. Neue Geschäfts- und Arbeitsmodelle machen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben fließend. Am Beispiel des Homeoffice ist schnell zu erkennen, dass damit auch Erkrankungen der Arbeit sich stärker auf das Privatleben auswirken. Bei einem Burn-out ist die Ursache meist nicht nur die Arbeit oder das Privatleben. Zugleich wirkt sich diese Erkrankung massiv auf beide Bereiche aus. Hier kommen die Ansätze des präventiven Gesundheitsschutzes im Betrieb an ihre Grenzen. Gesundheitskompetenz ähnlich wie die berufliche Kompetenz werden anhand mehrerer Einflussfaktoren erworben. Ein hypothetisches Strukturmodell der Gesundheitskompetenz verknüpft grundlegende Fertigkeiten, Wissen und Motivation zu einer übergeordneten Handlungskompetenz. Den Betrieben stehen mit den Instrumentarien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes umfangreiche Instrumentarien und finanzielle Mittel zur Verfügung, passgenaue Hilfsangebote zur Entwicklung von Wissen, Fertigkeiten und Motivation. Die Herausforderung bei Veränderungen durch Industrie 4.0 besteht allerdings darin, Angebote zu entwickeln, ohne exakt die Veränderungen und die dazu erforderlichen Kompetenzen zu kennen und zugleich die subjektive Befindlichkeit der Beschäftigten anzunehmen und zu überwinden. Eine Kernkompetenz muss in jedem Fall die Bereitschaft und Fähigkeit sein, ständig offen für neue und andere Lernaktivitäten zu sein. Es ist also ratsam vor der inhaltlich-thematischen Realisierung von Lernangeboten die methodischen Grundlagen zu legen. Der Gedanke sich also auf Stärken anstelle von Schwächen zu konzentrieren ist ja nicht neu, aber bisher offenbar im Lernalltag wenig erfolgreich. Als ein hilfreicher Ansatz für eine solche Situation wird zunehmend die Resilienzforschung betrachtet. „Resilienz“ bezeichnet die Widerstandfähigkeit gegenüber existenz- und selbstwertbedrohenden Krisen sowie besonders ausgeprägten psychosozialen Bedingungen. Hier werden also bereits vorhandene „Ressourcen“ der Individuen identifiziert und genutzt, um Veränderungen, die noch unbekannt sind, aber Ängste auslösen, ohne Widerstände anzunehmen und im besten Fall als Chance für sich selbst wahrzunehmen. Das wichtigste methodische Instrumentarium ist hierzu die Achtsamkeit. Vorreiter sind hierbei

224

Malte Stamer und Claudia Ball

Unternehmen wie SAP, die Achtsamkeit als Bestandteil ihres Unternehmens betrachten. Die Achtsamkeit als betriebliches Vorsorgekonzept bedeutet: • Annehmen dessen, was da ist und was kommt; nicht Kampf oder Kontrolle. • Unterschiede in dem was da ist oder kommt wahrnehmen (Diskrimination). Modellhaft lässt sich dieser Ansatz schematisch wie folgt darstellen. • Ressourcen werden durch das Erfahren eines Gesamtzusammenhangs (Kohärenz) aktiviert. • Ressourcen werden eingesetzt, um die generelle Widerstandfähigkeit gegenüber Belastungen zu stärken. • Damit können neue Ressourcen in den Feldern Arbeitssicherheit, Gesundheitsmanagement und neue Arbeitsgestaltung entdeckt werden. Für diesen Weg stehen viele Übungen und Ressourcen immer auch lokal zur Verfügung. Jeder Betrieb kann den langfristigen Prozess der Veränderung durch Industrie 4.0 mit einem solchen Ansatz langfristig erfolgreich begleiten.

6

Industrie 4.0 und Ältere

Die bundesdeutsche Gesellschaft altert. Zum einen nimmt die Lebenserwartung zu, zum anderen bleibt die Geburtenrate niedrig. Diese hohe Zahl älterer Beschäftigter ist für Unternehmen eine Herausforderung, da die meisten als Fachkräfte dringend benötigt werden. Dies ist sehr deutlich an der ständig steigenden Beschäftigungsquote der Rentner zu sehen. Je besser der Status und die Qualifizierung sind, umso mehr werden Rentner als Erwerbstätige eingesetzt. Zumindest für den deutschen Arbeitsmarkt ist unstrittig, dass ältere Beschäftigte von Industrie 4.0 betroffen sind und nur ein kleiner Teil von Entlassungen bedroht ist. Es ist daher zu prüfen, ob spezifische Lösungen für diesen Beschäftigtenkreis zu suchen sind. Je nach Sektor und Tätigkeit sind hier sicherlich große Unterschiede zu erwarten. Grundsätzlich lernen ältere Beschäftigte nicht anders als alle anderen Beschäftigten. Sie verfügen aber über jahrzehntelange individuelle Lernerfahrungen und eine eigenständige Lernbiografie. Zugleich sind motivationale Aspekte wie Aufstieg oder finanzielle Verbesserungen kaum wirksam. Diese Aspekte müssen insbesondere bei zukünftigen Forschungen stärker berücksichtigt werden.

Präventionsallianzen – Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesund­ heitsschutzes in der digitalisierten Industrie durch Kooperation Jörg von Garrel1 und Simone Thomas2

Zusammenfassung

Eine ganzheitliche Gesundheitsförderung postuliert die Kooperation unterschiedlichster Akteure. Zur Realisierung einer umfassenden WLHB, müssen Maßnahmen verschiedenen praxisbezogenen Anwendungsfeldern zugeordnet werden können und durch die Kooperation innerhalb von Allianzen effektiv, zeitnah und individuell zur Verfügung stehen. Neue Technologien bieten hierfür ideale Voraussetzungen; des Weiteren können digitale Lösungen Zielgruppen dort erreichen, wo sie sich befinden. Digitale Präventionsallianzen bieten die Möglichkeit, von der Maßnahmenauswahl, über die optimale Betreuung während der Durchführungsphasen, bis zur Erfolgsanalyse und möglichen jederzeitigen Anpassungen für einzelne Nutzer, gesamte Zyklen selbstständig durchzuführen und zu verwalten.

1 2

Hochschule Darmstadt, SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected] SRH Fernhochschule – The Mobile University, [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 J. von Garrel (Hrsg.), Digitalisierung der Produktionsarbeit, Weiterbildung und Forschung der SRH Fernhochschule – The Mobile University, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27703-1_14

225

226

1

Jörg von Garrel und Simone Thomas

Einführung – Gelingende Prävention in einer digitalisierten Industrie

Um die rasant fortschreitende Digitalisierung als Chance zu begreifen und zu nutzen, ist es notwendig, Mitarbeiter in ihrer Gesamtheit – mit biologischen und psychologischen Limitationen – an der Mensch- Maschinen-Schnittstelle zu betrachten. Zur Optimierung dieser Schnittstelle muss der Mensch zunehmend befähigt und unterstützt werden, indem die Arbeit wie auch das Arbeitsumfeld so gestaltet werden, dass deren Arbeitsfähigkeit und Leistungsfähigkeit langfristig gesichert wird. Individuelle und ganzheitliche Angebote, im Rahmen einer WLHB, im Kontext einer digitalisierten Arbeitswelt, benötigen hierzu einen breit gefächerten Maßnahmenkatalog, der Gestaltungsmaßnahmen zur Verfügung stellt und insbesondere auch digitale, transparente und flexibel gestaltete Präventionsallianzen ermöglicht. Solche digitalen Präventionsallianzen können dazu beitragen, auf die Ressourcen der Beteiligten bedarfsgerecht, unkompliziert und sicher zugreifen zu können und deren Lösungsansätze zu einer gelingenden WLHB digital und mobil zur Verfügung zu stellen. Damit sind sie in der Lage, die Umsetzung von WLHB-Maßnahmen passgenau zu unterstützen, wie in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1  Die Struktur des zweiten Teils dieses Bandes

Präventionsallianzen …

227

Besonders für Unternehmen, welche nicht dauerhaft Kapazitäten zur Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes vorhalten können, ist dies ein wichtiger Schritt zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit in einer digitalisierten Industrie. Dabei müssen Lösungen den aktuellen Stand von Unternehmen aufgreifen, diesen prospektiv unterstützen und ihn weiterentwickeln.

2

Kooperationen – Die Notwendigkeit zur Bildung von Präventionsallianzen

Die zuvor ausgeführten Veränderungen der Arbeitswelt, geprägt durch äußere Faktoren, wie soziale und ökonomische Rahmenbedingungen oder technische Entwicklungen und Innovationen, prägen Arbeitsverfahren und Arbeitsorganisationen und beeinflussen, bzw. gestalten die Arbeit entscheidend3. Betriebe tragen hierfür im betrieblichen Setting, als Teil des Arbeitslebens, eine Verantwortung zur Gesundheitsförderung gegenüber ihren Beschäftigten. Weiterhin wird die Schaffung von Netzwerken und Allianzen auf externer betrieblicher Seite gefordert, um Betriebe bei diesem Vorhaben zu unterstützen4. Bereits in der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986 verabschiedeten „Ottawa Charta“, wurden die Zuständigkeiten zur Gesundheitsförderung definiert: Dementsprechend liegt die Gesundheitsförderung und der benötigte Aufbau umfassender Ressourcen nicht nur in der Zuständigkeit des Gesundheitssektors, sondern umfasst die Verantwortung aller Politikbereiche und erfordert ein „koordiniertes Zusammenwirken“5. Nur durch die Förderung präventiver Konzepte, welche alle Akteure und alle Instrumente berücksichtigt, ist demnach eine Präventionskultur möglich6. Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung zur Umsetzung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements – nach den Regeln der geltenden DIN SPEC 91020 – umfassen präventive und gesundheitsfördernde Aktivitäten. Betriebe benötigen für deren Umsetzung die Förderung und Unterstützung von Seiten7:

3 4 5 6 7

Vgl. Baur et al. 2009, S. 70 Vgl. z. B.: Barić und Conrad 1999, S. 15, Badura et al. 2001, S. 20 f. Vgl. Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986, S. 1 und 3 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002, S. 10 und 13 Vgl. Kaminski 2013, S. 27

228

Jörg von Garrel und Simone Thomas

• der Sozialpartner  – mit ihren betrieblichen wie überbetrieblichen Einflussmöglichkeiten, • der überbetrieblichen Akteure – wegen ihrer Verantwortung für bedarfsgerechte und nachhaltig wirksame betriebliche Gesundheitsmaßnahmen, • der Wissenschaft und Bildung  – zur Umsetzung des hohen Qualifizierungsbedarfs von Spezialisten, • unabhängiger Instanzen mit hoher Fachkompetenz8, und • von Akteuren – verknüpf durch Netzwerke und Allianzen, um Betriebe bei der Umsetzung zu unterstützen9. Damit ergibt sich die Notwendigkeit gemeinsamer Koordination zwischen vielen Personen und Organisationen, welche Interessen und Einflüsse auf bestimmte Maßnahmen (= Stakeholder) haben bzw. davon (mit-)betroffen sind, z. B. durch Betroffenheit, (Mit-)Verantwortlichkeit oder Expertenschaft10. Nach Barić und Conrad (1999) sind dabei Netzwerke von Allianzen abzugrenzen: Netzwerke werden zwischen gleichartigen Settings, wie z. B. zwischen Schulen, Krankenhäusern, Betrieben etc. gleichen Typs gebildet; das Konzept der Allianzen bezieht sich auf eine formelle Beziehung zwischen verschiedenartigen Settings, wie z. B. einem Unternehmen und einem Krankenhaus. Allianzen bieten die Möglichkeit zur Reduzierung potenzieller Konflikte und zur Entwicklung von Kooperationen. Neueren Ausführungen folgend gibt der Begriff „Netzwerk“ keinen Aufschluss über die Organisationsform des jeweiligen interorganisationalen Netzwerks. Netzwerkbegriffe wie „Partnerschaften“, „Allianzen“, „intersektorale Kooperationen“ und „Vernetzung“ sind hiernach eher Schlag- und Modeworte als geeignete Fachbegriffe. Eine ausreichende Terminologie für den Bereich der Gesundheitsförderung liegt hierzu noch nicht vor11. Aufgrund der angestrebten Verschiedenartigkeit der Settings wird dem Artikel der Begriff „Präventionsallianz“ zugrunde gelegt. Wird folgend von Allianz/-en gesprochen, bezieht sich dies auf alle damit verbundenen Begriffe wie „Vernetzung“, „Netzwerk“, „Partnerschaften“, „interorganisationale Netzwerke (ION)“ etc. Die Beziehung der Mitglieder innerhalb einer Allianz kann hierbei mehr oder weniger formal sein; sie können im Wettbewerbsverhältnis oder in Symbiose zueinander stehen; manchmal langfristig und spezifisch oder manchmal bewusst zeitlich variabel und eher allgemein sein. Auch eine zweistufige Begrenzung rund 8 9 10 11

Vgl. Bertelsmann Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung 2004, S. 80 Vgl. Barić und Conrad 1999, S. 38 Vgl. z. B.: Schwartz 2012, S. 260, Schlicht und Zinsmeister 2015, S. 145 Vgl. z. B.: Faller 2012, S. 328–340, Schwartz 2012, S. 261 f.

Präventionsallianzen …

229

um die Kern-Mitglieder und einen weiteren Kreis von Mitgliedern mit z. B. punktuell und zeitlich befristeter Mitgliedschaft ist denkbar12. In Faller. (2012) wird ergänzt, dass Allianzen Sozialformen darstellen, welchen Kooperation, Vertrauen, Selbstverpflichtung, Verlässlichkeit, Verhandlungen, Verträge oder dauerhafte Beziehungszusammenhänge zugrunde liegen. Eine horizontale Verbindung von Betrieben und überbetrieblichen Institutionen sollen hiernach Kooperationen und Lernprozesse auf beiden Seiten gewährleisten13. Durch digitale Lösungen können die möglichen Akteure vernetzt werden und mobile, flexible, ganzheitliche Lösungen für Unternehmen und deren Mitarbeiter erarbeiten und bereitstellen. Da sich der Einsatz neuer Technologien oder die Entwicklung ganzer Wertschöpfungsketten immer schneller vollzieht, müssen Maßnahmen für die Bereiche des Arbeits- und Gesundheitsschutzes bereits frühzeitig, möglichst in der Planungs- und Entwicklungsphase, mitberücksichtigt und initiiert werden. Die Gestaltung digitaler Präventionsallianzen – als möglicher Lösungsansatz zur Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes in einer digitalisierten Industrie  – benötigt in einem ersten Schritt die Identifikation der Anwendungsfelder (betriebliche Ebene) und hieraus resultierende Anforderungen, um eine praktische Umsetzung zu ermöglichen. Damit können den Anforderungen in der Praxis Best-Practice-Maßnahmen zugeordnet werden. Prospektiv agierende Präventionsallianzen müssen dabei innovative Annahmen und Forderungen – hypothetische Maßnahmen – zur betrieblichen Gesundheitsförderung aufgreifen und berücksichtigen, um den zukünftig an Geschwindigkeit zunehmenden Erneuerungsprozessen Rechnung zu tragen. Im Sinne organisationsübergreifender Präventionsallianzen muss sich die Gewinnung von Präventionspartnern, welche entsprechende Angebote vorhalten können, an diesen Punkten orientieren. Hierzu sollen in einem zweiten Arbeitsschritt mögliche Akteure eruiert und in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt werden. Die Vernetzung von Akteuren und Leistungen sind im Anschluss über IT-Lösungen zu bündeln und anwenderfreundlich zur Nutzung auf verschiedensten Endgeräten, dem jeweiligen Endverbraucher zeitnah, unternehmens- und personenspezifisch zur Verfügung zu stellen14. Hierzu erfolgt in einem dritten Schritt ein erstes Modell einer möglichen praktischen Umsetzung.

12 Vgl. Schwartz 2012, S. 261–264 13 Vgl. Faller 2012, S. 328 14 Vgl. Janneck und Hoppe 2018, S. 3 und Badura et al. 2017, S. 45

230

Jörg von Garrel und Simone Thomas

Entsprechend dieser dargestellten Vorgehensweise gliedert sich dieser weitere Artikel. Die Ausführungen sind dabei sowohl für die Praxis als auch für die anwendungsorientierte Forschung von Interesse.

3

Anwendungsfelder – Gestaltungsebenen in der Praxis

Unternehmen können ihre Mitarbeiter bei dem Aufbau von Ressourcen im personalen, sozialen und materiellen/organisationalen Bereich15 unterstützen. Dies kann im Gesamtunternehmen (beispielsweise durch die gelebte Unternehmenskultur), am Arbeitsplatz (beispielsweise bei den Arbeitsabläufen), bei der Arbeitstätigkeit und im sozialen Bereich erfolgen. Anforderungen, welche den Auf- und Ausbau dieser Ressourcen unterstützen, finden sich dabei in der Praxis innerhalb unterschiedlicher Anwendungsfelder, welche im weiteren Verlauf in personale Ebene, Teamebene und organisationale Ebene unterteilt werden.

4

Anforderungen – Notwendige Aktivitäten zum Aufbau von Ressourcen

Dabei lassen sich für die einzelnen Ressourcen-Bereiche folgende Anforderungen finden16: Personale Ressourcen Die umfangreichsten Anforderungen liegen im personalen Bereich. Als entscheidende Faktoren zur Gewährleistung eines präventiven Arbeits- und Gesundheitsschutzes in einer digitalisierten Industrie gelten Gesundheit, Kompetenzen und Motivation17. Die Anforderungen zur „Arbeitsgestaltung“ (beispielsweise durch Forderungen zur Minderung toxikologischer Belastungen) und zur „Optimierung von Arbeitsplatz und -tätigkeit“ lassen sich zusammenfassen und dem „traditionellen“ Arbeitsschutz zuordnen. Weitere extrahierte Anforderungen betreffen „Gesundheitsprogramme“, die „Work-Life- Balance“, die „Stressbewältigung“ und die 15 Vgl. Klaffke 2016, S. 89 und Richter et al. 2007, S. 306 16 wie beispielsweise Bamberg et al. 2011, Badura et al. 2001, Stoffel et al. 2001, Badura et al. 2009, Badura et al. 2010, Richter et al. 2007, Kagermann et al. 2013, Faller 2012, Klaffke 2016; Europäisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung 2014 17 Vgl. Klaffke 2016, S. 83 und Galuska 2011, S. 41

Präventionsallianzen …

231

„Arbeitszeitgestaltung“. Es können weiterhin Anforderungen der „Laufbahngestaltung“ benannt werden, welche insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung als eigenständiger Schwerpunkt identifiziert werden kann. Aufgaben- und Kompetenzprofile werden sich in Zukunft weiter verändern. Dies fordert entsprechende Qualifizierungsstrategien zur Entwicklung von „Kompetenzen“ (auch benannt als beispielsweise „Personalentwicklung“ oder „Qualifikation“) und „lernförderlicher Arbeitsorganisationen“, die ein lebenslanges Lernen fördern18. In welchem Umfang sich Mitarbeiter für arbeitsbezogene Lernund Trainingsmaßnahmen interessieren und diese tatsächlich nutzen, hängt entscheidend von der Motivation des Mitarbeiters ab19. Soziale Ressourcen Der Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit, Mitarbeiterzufriedenheit, sozialer Vernetzung und dem Einfluss sozialer Faktoren (beispielsweise der sozialen Unterstützung) wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen20. So können für die Bildung und Stärkung sozialer Ressourcen Anforderungen zur Verbesserung des „Betriebs-/Teamklimas“ (beispielsweise durch Begriffe wie „Gerechtigkeit“ oder „soziale Integration“) und der „Gruppenarbeit“ angeführt werden. Organisationale Ressourcen Der Aufbau organisationaler Ressourcen ist durch Begrifflichkeiten wie „Handlungs- und Entscheidungsspielräume“, „Ganzheitlichkeit“ oder „Anforderungsvielfalt“ geprägt und kann als die Bedeutung der „Aufgabengestaltung“ subsummiert werden. Zur Umsetzung von Gesundheitsförderung und Prävention in Unternehmen ist eine entsprechende „Unternehmenskultur“ zwingend notwendig21. Diese wird laut Faller (2012) auch durch die Personalpolitik und Badura et al. (2015) durch die Führungskultur gebildet und repräsentiert. Eine gute Unternehmenskultur fördert nicht nur gute Arbeitsbedingungen und mehr Lebensqualität, was eine höhere Gesundheit und Motivation von Arbeitnehmern bedingt, sondern auch deren Arbeitsleistung, Kreativität und Innovationsfähigkeit22. Die Strukturierung der extrahierten Anforderungen zu den Anwendungsfeldern ergibt Abbildung 2: 18 19 20 21 22

Vgl. Kagermann et al. 2013, S. 6 f. und Späth et al. 2013, S. 86 Vgl. Galuska 2011, S. 18 und S. 205 Vgl. Kaminski 2013, S. 14, Badura et al. 2010, S. 45 und Siegrist 2015, S. 79 Vgl. Badura et al. 2010, S. 105 Vgl. Hahnzog 2014, S. 4

232

Abbildung 2

Jörg von Garrel und Simone Thomas

Betriebliche Anwendungsfelder und Anforderungen

Maßnahmen in Form von „Best-Practices“ und innovativen Ansätzen zur Gesundheitsförderung zu den jeweiligen Anforderungen dienen folglich dem Aufbau der entsprechenden Ressourcen des jeweiligen Anwendungsfeldes .

Präventionsallianzen …

5

233

Allianzen – Kooperationen gestalten

Besonders Unternehmen ohne oder mit nur begrenzten Ressourcen, und Kapazitäten zur Umsetzung von digitalisierten Maßnahmen zur BGF, benötigen Unterstützung durch Allianzen als Impulsgeber und Plattformen23. Auch Betriebe, welche nicht direkt den Allianzen angehören, sollten diese nutzen können, um Hilfe bei ihrer Planung, Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen zu erhalten. Mit vorausschauendem zukünftigem Blick können Evaluierungen hier einen bisher noch fehlenden Pool an Qualitätskriterien für Prozesse und deren Ergebnisse aufbauen, von welchem wiederum alle Akteure und Betriebe profitieren würden. Allianzen haben gegenüber speziell gegründeten Organisationen den Vorteil schnellerer Zugangschancen sowie einer höheren Flexibilität gegenüber geänderten Bedingungen und halten zusätzlich den Koordinationsaufwand in relativ engen Grenzen24. Dabei sind Allianzen zwischen internen und externen Stakeholdern möglich. Zu den internen Stakeholdern gehören Betriebsärzte, Sicherheitsbeauftragte, Gleichstellungsbeauftragte etc.25; zu den externen Stakeholdern gehören externe institutionelle Akteure und Netzwerke zur Prävention und betrieblichen Gesundheitsförderung auf nationaler Ebene, sowie externe privatwirtschaftliche Akteure26. Werden die externen Akteure bezüglich ihres Bezuges zur BGF analysiert, ergibt sich im Gesamten die Beziehungsstruktur in Abbildung 3:

23 24 25 26

Vgl. Stahl et al. 2018, S. 4 Vgl. Siegrist 2015, S. 141 f. Vgl. z. B.: Uhle und Treier 2015, S. 48, Faller 2012, S. 352 Vgl. Uhle und Treier 2015, S. 48 f.

234

Abbildung 3

Jörg von Garrel und Simone Thomas

Mögliche Präventionspartner im Umfeld

Für die Bildung von Allianzen kommen alle Akteure in Betracht, welche in der direkten Verbindung zum KMU stehen . Dies betrifft: • im externen privaten Bereich: die Großunternehmen und privaten Anbieter; • im externen institutionellen Sektor verweist Abbildung 3 auf mögliche Allianzpartner durch: - die Deutsche Rentenversicherung (DRV), - die Industrie- und Handelskammer (IHK), - die Handwerkskammer, - die Bundesagentur für Arbeit (BA) und - den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB); • im Bereich des Arbeitsschutzes: - die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) und • im Bereich der Gesundheitsförderung: - die Initiative Neue Qualität für Arbeit (INQA), - das Deutsche Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (DNBGF), - die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) und - die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKVen) . Folglich wäre eine Bildung von Allianzen in zwei Stufen bzw. parallelen Sequenzen denkbar:

Präventionsallianzen …

235

Sequenz 1: Das Vernetzen von Dienstleistern als Spezialisten für die Maßnahmen. Sequenz 2: Die Koordination institutioneller Akteure als ergänzendes Angebot, bzw. zur Steuerung von Fördermöglichkeiten. Für die Bildung von Allianzen sollten des Weiteren folgende Punkte berücksichtigt werden: • Die Möglichkeit zur zeitlich unbefristeten Teilnahme (ähnlich dem zuvor angesprochenen Kreissystem, nach dem neben festen Partnern ein zweiter Kreis von zeitlich befristeten Partnern gebildet wird); • die Vernetzung staatlicher (und damit), stützender institutioneller Maßnahmen, beispielsweise Maßnahmen von Krankenkassen; • die Vorhaltung von zusätzlichen privaten Partnern zur Übernahme von Leistungen über den gesetzlichen Standard hinaus, wie beispielsweise zur Entwicklung von Strukturmodellen für spezielle Arbeitszeitmodelle; Galuska (2011) führt hierzu aus, dass betriebliche Gesundheitsförderung alle Leistungen rund um das Thema Gesundheit, Prävention, Salutogenese und Lebensvitalität abdecken sollte; • die Beteiligung von Großunternehmen zur Bereitstellung von Strukturen an örtliche oder vertraglich gebundene kleinere Unternehmen, z. B. die Möglichkeit, die Großkantine für ansässige kleinere Unternehmen zu öffnen; • die Notwendigkeit zur Bildung dieser Vernetzung in einer koordinativen zeitlichen und auch für Laien überschaubaren Strukturierung; • die Transparenz für Kosten und Aufwand; • die datenschutzrechtlichen Bestimmungen zur Wahrung von Wettbewerbsinteressen; • ein schneller unbürokratischer Zugriff vor Ort mittels technologischer Plattformen; • die Hilfsparameter bei der Implementierung, z. B. in Form von Ablaufschritten, hinterlegten Anträgen oder Verträgen.

6

Digitalisierung – Präventionsallianzen umsetzen

Badura et al. (2017) verweisen auf die durch die Digitalisierung erweiterten Instrumente, Analysemethoden und Möglichkeiten, welche digital und mobil für das BGF zur Verfügung stehen. Gleichzeitig heben sie den Vorteil hervor, dass durch neue digitale Methoden das persönliche Gesundheitsbewusstsein gestärkt und Arbeitsbedingungen und -verhältnisse optimiert werden können. Cernavin et al.

236

Jörg von Garrel und Simone Thomas

(2018) führen jedoch auch aus, dass es besonders durch den Datenschutz gerade in KMU zur Skepsis kommt . Viele Unternehmen schätzen jedoch diesen Stellenwert im Bereich der Mitarbeiterentwicklung für die nächsten Jahre noch zu gering ein . Gründe hierfür könnten Zugangsbarrieren wie beispielsweise fehlende technische Ausstattungen oder auch persönliche Blockaden sein . Hierfür müssen digitale Lösungen herkömmliche Methoden im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung berücksichtigen und auf diese zukunftsführend aufbauen, damit es gelingt, die Zielgruppen individuell zu beraten und zu betreuen . Es muss gelingen, Hemmnisse abzubauen, um Betriebe auf ihrem Weg vom aktuellen Ist-Stand zur gelebten Vision zu unterstützen . Als Endgeräte kommen alle mobilen und digitalen Geräte zum Einsatz . Ziel ist eine hohe Flexibilität, welche sich am Kundenbedürfnis orientiert . Endverbraucher sind dabei Firmen mit ihren Arbeitnehmern während ihrer Arbeitszeit, wie auch außerhalb der Arbeit (Außendienst, Work-Life-Balance etc .), ebenso Einzelpersonen mit Einzelunternehmen oder auch in der Unternehmensgründung .

Abbildung 4

Modell einer digitalen Präventionsallianz

Präventionsallianzen …

7

237

Digitale Präventionsallianzen – eine Einordnung in den partizipativen Ansatz

Zur Bewältigung der Anforderungen einer digitalisierten Industrie muss der klassisch normative Arbeitsschutz mit der betrieblichen Gesundheitsförderung zwingend zusammenarbeiten (Abb. 4). Besonders die zunehmenden psychischen Anforderungen bedingen, Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung immer gezielter in den Arbeits- und Gesundheitsschutz auch gesetzlich zu verankern. Hierzu erfolgten erste Schritte in der Erweiterung des Arbeitsschutzgesetzes um den Aspekt, dass Arbeitgeber auch eine Sorgfaltspflicht gegenüber den psychischen Belastungen ihrer Beschäftigten besitzen, und auch im Präventionsgesetz, welches die Zusammenarbeit der Gesundheitsförderung und des Arbeitsschutzes stärken soll, und damit der „Luxemburger Deklaration“ Rechnung trägt. Die betriebliche Gesundheitsförderung, welche hierzu Maßnahmen der Gesundheitsförderung und des Arbeitsschutzes vereint, muss unter Betrachtung des Unternehmens als soziotechnisches System, eine immer bessere und stabilere Balance zwischen den Arbeitsanforderungen und dem Beschäftigen herstellen. Hierzu sind verhältnispräventive Maßnahmen zu initiieren, welche um verhaltenspräventive Aktionen erweitert werden. Betriebliche Gesundheitsförderung muss daher als primäres Ziel den Aufbau von organisationalen, personalen und sozialen Ressourcen im Unternehmen verfolgen, um die Arbeitsfähigkeit ihrer Beschäftigten langfristig zu erhalten. Digitale Präventionsallianzen bieten die Möglichkeit, umfangreiche, individuelle, orts- und zeitunabhängige Angebote zur Verfügung zu stellen, welche sich am jeweiligen unternehmerischen Bedarf orientieren, und gleichzeitig deren Wirksamkeit zu überprüfen und zu dokumentieren. Hiermit sind sie in der Lage, einen großen Beitrag zur Entwicklung und Erhaltung von Mitarbeitergesundheit, verbunden mit unternehmerischem Erfolg zu leisten und Unternehmen auf ihrem Weg zur fortschreitenden Digitalisierung zu begleiten und zu unterstützen.

Literatur Badura, B.; Ducki, A.; Meyer, M.; Klose, J.; Schröder, H. (Hg.) (2017): Krise und Gesundheit – Ursachen, Prävention, Bewältigung. Zahlen, Daten, Analysen aus allen Branchen der Wirtschaft: mit 121 Abbildungen und 240 Tabellen. Berlin: Springer (Fehlzeiten-Report, 2017). Badura, B.; Litsch, M.; Vetter, C. (2001): Zukünftige Arbeitswelten: Gesundheitsschutz und Gesundheitsmanagement. Unter Mitarbeit von B. Badura, M. Litsch und et al. Berlin [u.a.]: Springer (Fehlzeiten-Report, 2000).

238

Jörg von Garrel und Simone Thomas

Badura, B.; Schröder, H.; Vetter, C. (2009): Betriebliches Gesundheitsmanagement: Kosten und Nutzen. Zahlen, Daten, Analysen aus allen Branchen der Wirtschaft. Heidelberg: Springer (Fehlzeiten-Report, 10.2008). Badura, B.; Walter, U.; Hehlmann, T. (2010): Betriebliche Gesundheitspolitik. Der Weg zur gesunden Organisation. 2., vollständig überarb. Aufl. Heidelberg: Springer, zuletzt geprüft am 21.08.2016. Badura, B., Ducki, A.; Schröder, H.; Klose, J.; Meyer, M. (2015): Fehlzeiten-Report 2015. Neue Wege für mehr Gesundheit -- Qualitätsstandards für ein zielgruppenspezifisches Gesundheitsmanagement: Zahlen, Daten, Analysen aus allen Branchen der Wirtschaft. Unter Mitarbeit von B. Badura, A. Ducki und et al. Berlin: Springer (Fehlzeiten-Report, 2015). Bamberg, E.; Ducki, A.; Metz, A.-M. (2011): Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement in der Arbeitswelt. Ein Handbuch. Unter Mitarbeit von E. Bamberg, A. Ducki und et al. Göttingen: Hogrefe (Innovatives Management). Barić, L.; Conrad, G.: Gesundheitsförderung in Settings. Konzept, Methodik und Rechenschaftspflichtigkeit zur praktischen Anwendung des Settingsansatzes der Gesundheitsförderung. Verl. für Gesundheitsförderung, Conrad. Gamburg. (1999) Baur, X.; St. Letzel; Nowak, D. (2009): Ethik in der Arbeitsmedizin. Orientierungshilfe in ethischen Spannungsfeldern; Schwerpunktthema Jahrestagung DGAUM 2008. Landsberg: ecomed Medizin (Schwerpunktthema, 2008). Bertelsmann Stiftung; Hans-Böckler-Stiftung: Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik. Vorschläge der Expertenkommission. 2. Aufl. Verl. Bertelsmann-Stiftung. Gütersloh. (2004). Cernavin, O.; Schröter, W.; Stowasser, S. (Hg.) (2018): Prävention 4.0. Analysen und Handlungsempfehlungen für eine produktive und gesunde Arbeit 4.0 Oleg Cernavin, Welf Schröter, Sascha Stowasser (Hrsg.). Wiesbaden: Springer. Europäisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung (2014): Luxemburger Deklaration. Zur Betrieblichen Gesundheitsförderung. 4. Auflage. Hg. v. BKK Dachverband. Berlin. Online verfügbar unter http://www.bkk-dachverband.de/gesundheit/ luxemburger-deklaration/, zuletzt geprüft am 14.11.2016. Faller, G. (2012): Lehrbuch Betriebliche Gesundheitsförderung. 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Huber (Programmbereich Gesundheit). Galuska, J. (2011): Vitale Unternehmen in Balance. Ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement. Hg. v. S. Freutsmiedl und M. Weidauer. Leipzig: Metabalance-Verl. Hahnzog, S. (2014): Betriebliche Gesundheitsförderung. Das Praxishandbuch für den Mittelstand. Wiesbaden: Springer Gabler, zuletzt geprüft am 21.08.2016. Janneck, M.; Hoppe, A. (Hg.) (2018): Gestaltungskompetenzen für gesundes Arbeiten. Arbeitsgestaltung im Zeitalter der Digitalisierung. Berlin, [Heidelberg]: Springer (Kompetenzmanagement in Organisationen). Kagermann, H.; Helbig, J.; Wahlster, W. (2013): Umsetzungsempfehlungen für das Zukunfstprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0. Deutschland Zukunft als Produktionsstandort sichern. Hg. v. Promotirengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft. acatech. Online verfügbar unter http:// www.forschungsunion.de/pdf/industrie_4_0_abschlussbericht.pdf, zuletzt geprüft am 18.08.2016.

Präventionsallianzen …

239

Kaminski, M. (2013): Betriebliches Gesundheitsmanagement für die Praxis. Ein Leitfaden zur systematischen Umsetzung der DIN SPEC 91020. Wiesbaden: Imprint: Springer Gabler (SpringerLink : Bücher). Klaffke, M. (2016): Arbeitsplatz der Zukunft. Gestaltungsansätze und Good-Practice-Beispiele. Wiesbaden: Springer Gabler, zuletzt geprüft am 16.09.2016. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Anpassung an den Wandel von Arbeitswelt und Gesellschaft:. eine neue Gmeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2002–2006. In: Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.). Brüssel. 2002. URL: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/committees/ empl/20020422/02–0118_de.pdf. Download vom 18.08.2016 Richter, P. G.; Rau, R.; Mühlpfordt, S. (2007): Arbeit und Gesundheit. Zum aktuellen Stand in einem Forschungs- und Praxisfeld. Unter Mitarbeit von P. G. Richter, R. Rau und et al. Lengerich: Pabst Science Publishers. Schlicht, W.; Zinsmeister, M.: Gesundheitsförderung systematisch planen und effektiv intervenieren. Springer. Berlin [u.a.]. 2015. Schwartz, F. W. : Public health. Gesundheit und Gesundheitswesen. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Urban & Fischer. München. 2012. Siegrist, J. (2015): Arbeitswelt und stressbedingte Erkrankungen. Forschungsevidenz und Prävention stressbedingter Erkrankungen. München: Urban & Fischer in Elsevier. Späth, D.; Ganschar, O.; Gerlach, St.; Hämmerle, M.; Krause, T.; Schlund, S. (2013): Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0. Hg. v. Fraunhofer Verlag. Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Stuttgart. Online verfügbar unter http://www.produktionsarbeit.de/content/dam/produktionsarbeit/de/documents/Fraunhofer-IAO-Studie_Produktionsarbeit_der_Zukunft-Industrie_4_0.pdf, zuletzt geprüft am 18.08.2016. Stahl, S.; Mörsch, T.; Reuß, K.; Dobischat, R.; Düsseldorff, K.; Schäfer, A. (2018): Digitalisierung weiterdenken. Qualifizierungsbedarfe von KMU erkennen und im Netzwerk Fachkräfte für die Region sichern. Kurzfassung. Hg. v. DIHK Service GmbH. Innovationsbüro Fachkräfte für die Region. Berlin. Online verfügbar unter https:// www.fachkraeftebuero.de/fileadmin/user_upload/Wissensdatenbank/IB_2._Themenstudie_2017_Kurzfassung_ES_final.pdf, zuletzt geprüft am 07.05.2018. Stoffel, S.; Amstad, F.; Steinmann, R. M. (2001): Baukasten für Betriebliche Gesundheitsförderung. Module für Gesundheit und Leistungsfähigkeit im (Berufs)-Leben. 1. Aufl. Aachen: Meyer & Meyer. Uhle, Th.; Treier, M. (2015): Betriebliches Gesundheitsmanagement. Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt – Mitarbeiter einbinden, Prozesse gestalten, Erfolge messen. 3., überarb. und erw. Aufl. Berlin: Springer. Weltgesundheitsorganisation (WHO): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Ottawa. 1986. URL: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf?ua=1. Download vom 21.08.2016