Digitalisierung demokratischer Prozesse: Gefahren und Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologie in der demokratischen Willensbildung der Informationsgesellschaft [1 ed.] 9783428524235, 9783428124237

Seit Ende des 20. Jahrhunderts haben digitale Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) die Art und Weise, wie M

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Digitalisierung demokratischer Prozesse: Gefahren und Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologie in der demokratischen Willensbildung der Informationsgesellschaft [1 ed.]
 9783428524235, 9783428124237

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 144

Digitalisierung demokratischer Prozesse Gefahren und Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologie in der demokratischen Willensbildung der Informationsgesellschaft

Von

Martin Hilbert

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN HILBERT

Digitalisierung demokratischer Prozesse

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 144

Digitalisierung demokratischer Prozesse Gefahren und Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologie in der demokratischen Willensbildung der Informationsgesellschaft

Von

Martin Hilbert

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

n2 Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12423-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

An meine Eltern, Waltraud und Franz, für all die Geduld, Fürsorge und Unterstützung

„Ihr jedoch, Schüler dieser Welt, vergesst niemals, dass hinter jeder Technik jemand steht, der sie einsetzt, und dieser jemand ist eine Gesellschaft . . . Und dass die Technik eine Waffe ist, und wer fühlt, dass die Welt nicht perfekt ist, wie sie sein sollte, soll kämpfen, damit die Waffe der Technik zum Wohle der Gesellschaft eingesetzt wird . . . die Technik soll der größtmöglichen Menge an Menschen dienen, damit wir die Gesellschaft der Zukunft konstruieren können, möge man ihr einen beliebigen Namen geben.“ Ernesto Guevara de la Serna (Che) 29. August 1963 Abschlussrede des internationalen Treffens der Architekturstudenten 1963

Vorwort Die vorliegende Arbeit habe ich in den Jahren 2004 – 2005 parallel zu meiner entwicklungspolitischen Arbeit bei der Regionalkommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und der Karibik (UN ECLAC) angefertigt. Die Begeisterung für Demokratie und die hervorragende Leitung und Betreuung verdanke ich Prof. Dr. K. A. Schachtschneider am Lehrstuhl für Öffentliches Recht der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Seit dem Jahr 2000 habe ich in neun Veröffentlichungen und zwei umfangreichen Büchern den Einfluss der Ausbreitung und Nutzung digitaler Informationsund Kommunikationstechnologie (IKT) auf verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens untersucht. Angefangen von betriebs- und volkswirtschaftlichen Auswirkungen, führte mich mein Forschungsweg zu sozialen Fragen der Informationsgesellschaft, über Aspekte der Wirtschaftspolitik, hin zu der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Während die mit der Ankunft der Informationsgesellschaft einhergehenden Erneuerungen vielfältig und umfangreich sind, habe ich mit der Zeit jedoch die Überzeugung gewonnen, dass die Art und Weise, wie die Gesellschaft ihren Gemeinwillen bildet, den tiefgreifendsten Veränderungen unterliegt. Ich denke, dass zukünftige Generationen die derzeitigen Anfänge der weltweiten Kommunikationsvernetzung eher mit dem Anbruch der digitalen Willensbildung im Volk in Verbindung bringen werden, als beispielsweise mit dem Übergang von der industriellen zur digitalen Wirtschaft. In diesem Sinne sehe ich die Untersuchung der Digitalisierung demokratischer Prozesse als Kernstück der wissenschaftlichen Untersuchung der Informationsgesellschaft, was meine Wahl dieses wichtigen Themas für meine Dissertation erklärt. Ich möchte mich zuallererst bei Herrn Prof. Schachtschneider und Frau Hirschmann ganz herzlich für die exzellente Betreuung bedanken, die wegen der 12.000 km Entfernung zwischen meinem Arbeitsort in Santiago de Chile und dem Lehrstuhl in Nürnberg bestimmt keine traditionelle Hilfestellung darstellte. Auch

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Vorwort

dem Zweitgutachter Prof. Dr. W. Reiß möchte ich für die Kommentare danken. Spezieller Dank geht an Jorge Katz, Ben Petrazzini und Joao Carlos Ferraz, die als meine Mentoren meine wissenschaftliche Formierung ausschlaggebend beeinflusst haben und ohne deren Unterstützung meine professionelle Laufbahn sicherlich anders verlaufen wäre. Den vielen interessanten Gesprächspartnern auf Workshops, Konferenzen, UN-Weltgipfeln, in Bürogängen und Kaffeepausen gilt meine Dankbarkeit genauso wie den zahlreichen online-Gruppen und Webseitenbetreibern, die das Thema Demokratie und IKT fördern. Frau Jentner danke ich wegen ihrer Bemühungen, mir die verlorene deutsche Grammatik wieder beizubringen. Nicht zuletzt möchte ich meinen Eltern Waltraud und Franz danken, die meine akademische Aus- und Weiterbildung immer voll unterstützt haben, sei dies finanziell, durch ihre richtungsweisende Erziehung und Beratung, sowie durch praktischen Beistand. Santiago de Chile, im Winter 2006

Martin Hilbert

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung, Definitionen und Modellierung

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II. Von demokratischen Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

III. Von der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Der informationsgesellschaftliche Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

3. Besonderheiten digitaler Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

4. Die Übergangsphase in die Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

IV. Drei Grundachsen zur theoretischen Demokratieanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

1. Wer beteiligt sich an der Wahrheitsfindung und Rechtserkenntnis? . . . . . . . . . . . .

49

2. Wie gestaltet sich die Regierungsform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

3. Was für eine Art von Bürgerlichkeit bringt der zugrunde liegende Gesellschaftsvertrag hervor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Kapitel 2 Acht Entwicklungsszenarien der Demokratie in der Informationsgesellschaft

74

I. Von der Polis-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

1. Theoretische Grundlagen der Polis-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

2. Entwicklung der Polis-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . .

83

a) Digitale Deliberation in virtuellen Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

b) Wo der Gleichgesinnte nur einen „Klick“ entfernt ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

3. Folgen der Entwicklung der Polis-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

II. Von der Cyber-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Theoretische Grundlagen der Cyber-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Entwicklung der Cyber-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . 110 3. Folgen der Entwicklung der Cyber-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

10

Inhaltsverzeichnis

III. Von der plebiszitären Führerdemokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . 115 1. Theoretische Grundlagen der plebiszitären Führerdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Entwicklung der plebiszitären Führerdemokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Folgen der Entwicklung der plebiszitären Führerdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 IV. Von der Big-Brother-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Theoretische Grundlagen der Big-Brother-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Entwicklung der Big-Brother-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . 129 3. Folgen der Entwicklung der Big-Brother-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V. Von der ökonomischen Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Theoretische Grundlagen der ökonomischen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Entwicklung der ökonomischen Demokratie in der Informationsgesellschaft . . 141 a) Die digitale Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Digitale Marktmechanismen in der ökonomischen Demokratie . . . . . . . . . . . . . 145 3. Folgen der Entwicklung der ökonomischen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Zersplitterung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Infotainment und kommerzielle Skaleneffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 VI. Von der Knopfdruck-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Theoretische Grundlagen der Knopfdruck-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Entwicklung der Knopfdruck-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . 165 a) Verzerrungen im Spiegelbild durch ungleichen Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) IKT sind rasend schnell, demokratische Willensbildung extrem langsam . . . 168 3. Folgen der Entwicklung der Knopfdruck-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 VII. Von der römischen Republik in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Theoretische Grundlagen der römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Rom und das Prinzip der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Wie Publizität und Öffentlichkeit die Sittlichkeit fördert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Wie Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse die Verwirklichung der Publizität einschränken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Entwicklung der römischen Republik in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . 184 3. Folgen der Entwicklung der römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 VIII. Von der Matrix-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Theoretische Grundlagen der Matrix-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis

11

2. Entwicklung der Matrix-Demokratie in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . 195 a) Informationsstrukturierung als Feineinstellung zwischen Prosa und Ja / Nein 196 b) Künstliche Intelligenz, um die Wertneutralität des Systems sicherzustellen 206 c) Konkordanzdemokratische Methoden für die Intermediation des Gemeinwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Folgen der Entwicklung der Matrix-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Kapitel 3 Schlussfolgerungen und Ausblick

226

I. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Renovierung des Parteiensystems und Rolle der Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Entwicklung von demokratiefördernden IKT-Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3. Revision der Grenzen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie . . . . . . 252 4. Die digitale Spaltung während und nach dem Übergang in die Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5. Sicherheitsgesetzgebung und Privatsphärenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:

IKT-Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Abbildung 2:

Long Waves: Technologische und gesellschaftliche Paradigmen prägen das Weltgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Abbildung 3:

Kommunikationsvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Abbildung 4:

Korrelation zwischen Rang im Human Development Index (x-Achse) und Internet-Nutzer pro 1.000 Einwohner (y-Achse), 2002, N = 174 Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Physischer und ökonomischer Zugang zu IKT: Geographie und Einkommen als Dimensionen der digitalen Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Demographischer und soziokultureller Zugang zu IKT: Bildung, Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit als Dimensionen der digitalen Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Dreidimensionales Modell zur Demokratieanalyse in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Abbildung 5: Abbildung 6:

Abbildung 7: Abbildung 8:

Verfälschte Spiegelung im demokratischen Spiegelmodell der Knopfdruck-Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Abbildung 9:

Argumentationsnetzwerk aus der Vogelperspektive (oben) und Heranzoomen von Argumentationsaustausch über Solar- versus Wasserenergie (unten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Abbildung 10: Argumentationsvisualisierungen bieten Möglichkeiten zur Darstellung von komplexen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Abbildung 11: Verfügbares Einkommen für IKT in Chile und Brasilen im Jahr 2001 . . . 260 Abbildung 12: IKT-Penetration in Lateinamerika und der Karibik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Kapitel 1

Einleitung, Definitionen und Modellierung I. Einleitung Seit der Kalte Krieg mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 vorüber ist, scheint der Siegeszug der Demokratie nicht mehr aufzuhalten zu sein. Im folgenden Jahrzehnt bis zur Jahrtausendwende sollte die Demokratie das weltweit meist angewandte Regierungsmodell für den Nationalstaat werden. Sogar die 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, zu welchen auch mehrere ,mehr oder weniger‘ demokratische Mitgliedsländer gehören, verkünden in der Millenniumserklärung im Jahr 2000 einstimmig, „We will spare no effort to promote democracy . . . To strengthen the capacity of all our countries to implement the principles and practices of democracy and respect for human rights, including minority rights“1. Ein Jahr später verabschiedeten die Mitgliedsländer der UN Generalversammlung das Dokument „Promoting and consolidating democracy“. Darin wird Demokratie, Entwicklung und Respekt der Menschenrechte als fundamentale Freiheiten anerkannt, die voneinander abhängig sind und sich gegenseitig stärken2. In der selben Resolution wird aber auch bestätigt, dass „while all democracies share common features, there is no one universal model of democracy“. Das geeignete und implementierte Demokratiemodell wird zum einen durch seine institutionellen Rahmenbedingungen definiert, und zum anderen durch das Entwicklungsumfeld, in der Demokratie verwirklicht wird. Im Bezug auf die verschiedenen institutionellen Rahmenbedingungen, muss die mehr als 2.500-jährige Geschichte der Demokratie berücksichtigt werden. Die längste Zeit herrschte ein „distanziert-kritisches Verständnis“ des demokratischen Prinzips3. In dem kühnen Versuch, die lange Geschichte der Demokratie knapp zusammenzufassen, kann festgehalten werden, dass dem antiken Athen (etwa 500 – 323 v. Chr.) oft der Ursprung der Demokratie zugeschrieben wird. In der athenischen Form wurde Demo1 United Nations General Assembly, Resolution adopted by the General Assembly 55 / 2, United Nations Millennium Declaration, A / RES / 55 / 2, 2000, http: // www.un.org / millennium / declaration / ares552e.pdf (eingesehen Januar 2005). 2 United Nations General Assembly, Resolution adopted by the General Assembly: 55 / 96. Promoting and consolidating democracy, fifty-fifth session of the general Assembly, A / RES / 55 / 96. 2001, http: // ods-dds-ny.un.org / doc / UNDOC / GEN / N00 / 565 / 15 / PDF / N0056515.pdf?OpenElement (eingesehen Januar 2005). 3 Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien, Leske + Budrich, Opladen, 3. Aufl. 2000, S. 24 f.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

kratie jedoch sehr kritisiert, so dass diese erst nach der Verbindung mit dem auf Rechtssicherheit bedachten römischen Republikanismus als gute Staatsform anerkannt wurde. Bis es aber zu dieser Mischform des modernen Staatswesens durch die Repräsentativdemokratie kam, vergingen fast zwei Jahrtausende. Erst mit den Unabhängigkeitskämpfen der englischen Kolonien in Nordamerika und der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Demokratie rehabilitiert und realpolitisch gestärkt. Während dieser 2.500 Jahre, wurde die Demokratie durch verschiedene institutionelle Implementierungsmodelle in unterschiedlichen Kulturen und von zahlreichen Gesellschaften immer wieder neu erfunden und weiterentwickelt. „. . . it would be a mistake to assume that democracy was just invented once and for all, as, for example, the steam engine was invented . . . Like fire, painting or writing, democracy seems to have been invented more than once, and in more than one place“4. Und so wird sich dieser Prozess der Demokratieentwicklung weiter fortsetzen und sich ständig neu erfinden, abhängig vom spezifischen Zeitpunkt in der Geschichte und dessen Gegebenheiten. „Demokratie . . . ist so jung, dass sie bis heute nicht als etwas Fertiges gelten kann. Sie ist . . . bis heute noch immer in einem mühsamen Suchprozess begriffen!“5 Dieser Suchprozess wird durch neue Errungenschaften der Menschheitsentwicklung beeinflusst. Ein komplexes System von verschiedenen Entwicklungsfaktoren stellt das Umfeld dar, in der Demokratie immer wieder neu erfunden und weiterentwickelt wird. Demokratie ist ein Mechanismus, der ausschließlich auf Informations- und Kommunikationsprozessen basiert. Deswegen haben vor allem Entwicklungen im Umfeld der Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und Kommunikationserleichterung bedeutenden Einfluss auf das implementierte Demokratiemodell. Die Auffassung Aristoteles zum Beispiel, dass das Einflussgebiet der Demokratie auf maximal 70 Kilometer beschränkt werden müsse, da ein Mensch an einem Tag nicht weiter gehen könne, wurde durch technologische Entwicklungen und Möglichkeiten im Verlauf der letzten 2.500 Jahre obsolet. Auch die ursprüngliche Vorschrift in der Konstitution der Vereinigten Staaten von Amerika (USA), dass zwischen den Wahlen in den so genannten Electoral Colleges in den Einzelstaaten und der eigentlichen nationalen Präsidentenkür, angesichts der gegebenen Verkehrsmöglichkeiten, mehrere Wochen zu liegen haben6, ist heute nicht mehr Bestandteil des demokratischen Prozesses in den USA. Der Einsatz von IKT in demokratischen Prozessen bringen schrittweise neue Veränderungen hinzu. So fand die Präsidentschaftswahl im fünftgrößten Land der Erde, Brasilien mit 172 Millionen Einwohnern, im Jahre 2002 nicht auf Papier, sondern durch öffentliche Wahlcomputer statt. Das komplette Resultat der Wahl stand zwölf Stunden nach Dahl, Robert, On Democracy, Yale University Press, London, 1998, S. 8 f. Heinrichs, Johannes, Revolution der Demokratie: Eine Realutopie, Berlin, 2003, S. 46. 6 Dazu Scheuch, Michael, Neue Informationstechnologien und ihre Auswirkung auf die Demokratietheorie, Technische Hochschule Darmstadt, Institut für Politikwissenschaften, Magisterarbeit, 1996, S. 21, http: // members.aol.com / Edemokrat / magister.htm (eingesehen Januar 2005). 4 5

I. Einleitung

15

Schließung der Wahllokale fest7. Im Gegensatz dazu fand im Jahr 2000 im drittgrößten Land der Erde, den Vereinigten Staaten von Amerika, die Präsidentschaftswahl auf „analog-industrieller“ Weise, durch das Stanzen von Wahlzetteln statt. Selbst fünf Wochen nach Schließen der Wahllokale war der Sieger, wegen einem Informationschaos, noch nicht feststellbar. Verändern sich also die Rahmenbedingungen im Umfeld durch die fortschreitende Entwicklung der Menschheit, unter anderem durch technologische Fortschritte, ändert sich auch die Demokratie mit ihren Institutionen und Funktionsweisen. Die jahrtausendalte Evolution von technologischen Lösungen zur Informations- und Kommunikationsverarbeitung hat also seit Anbeginn der Entwicklung der Demokratie das angewendete Modell geprägt und die Evolution des demokratischen Prinzips bedeutend beeinflusst. Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, die aktuellen Entwicklungen von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und der damit verbundenen Digitalisierung der Informations- und Kommunikationsflüsse in einer demokratischen Gesellschaft genauer zu untersuchen. Der Einsatz von IKT und die Digitalisierung von Informations- und Kommunikationsprozessen in verschiedenen Einsatzgebieten führen zu einem neuen gesellschaftlichen Paradigma, welches oft unter der Bezeichnung Informationsgesellschaft angeführt wird. Auf dem Weltgipfel der Informationsgesellschaft im Dezember 2003 erkannten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen offiziell an, dass „Information and Communication Technologies (ICTs) have an immense impact on virtually all aspects of our lives. The rapid progress of these technologies opens completely new opportunities to attain higher levels of development. The capacity of these technologies to reduce many traditional obstacles, especially those of time and distance, for the first time in history makes it possible to use the potential of these technologies for the benefit of millions of people in all corners of the world“8. Das Verständnis von Zeit und Raum in Informations- und Kommunikationsprozessen werden also in den verschiedensten Anwendungsgebieten von IKT verändert. Nach Auffassung der politischen Elite der Weltgemeinschaft bietet dies „komplett neue Möglichkeiten“ größere Entwicklungsziele zu erreichen. Dies beeinflusst die Entwicklung in Wirtschaft und Handel, der Arbeitswelt, den Bildungs- und Gesundheitssystemen, der Unterhaltungsbranche und verändert somit die allgemeine Lebensqualität der Menschen. Auch die Art und Weise, wie die Gesellschaft ihren gemeinsamen Willen formt und somit den Grundkonsens ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens schafft, wird durch IKT Einsatz stark beeinflusst. Demokratische Willensbildung 7 Almeida de, Marco, Logros y Retos del Programa e-Brasil, Asesor de la Secretaría de Logística y Tecnología de Información, Ministerio de Planificación, Presupuesto y Gestión Brasil, präsentiert im Foro Internacional e-Panama, 6 – 7 Abril, 2004. 8 WSIS (World Summit on the Information Society), Declaration of Principles, Building the Information Society: a global challenge in the new Millennium, Document WSIS-03 / GENEVA / DOC / 4-E, 12. Dezember 2003, S. 2, HYPERLINK „http: // www.itu.int / wsis“ (eingesehen Januar 2005).

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

basiert ausschließlich auf Informations- und Kommunikationsprozessen und ist somit hundertprozentig digitalisierbar. Durch die weitgehende Digitalisierung von Informations- und Kommunikationsflüssen werden demokratische Prozesse in den kommenden Jahrzehnten bedeutende und richtungsweisende Veränderungen durchlaufen. Dies kann zu Resultaten führen, welche bis heute unvorhersehbar sind. In diesem Sinne ist die beste Möglichkeit, die Zukunft einzuschätzen die, aktiv daran mitzuwirken, sie in ihrer Entwicklung zu beeinflussen. „Was ist und was sein sollte bewegt sich nicht auf zwei parallelen Gleisen, die nie zusammentreffen. Vielmehr beeinflussen sie einander stets und stoßen zusammen“9. Die vorliegende Arbeit soll dazu einen Beitrag leisten. Beide Faktoren, die verschiedenen institutionellen Möglichkeiten das demokratische Prinzip umzusetzen, und die Entwicklung und damit verbundenen Möglichkeiten im technologischen Umfeld, sind bei einer Untersuchung des aktuellen Evolutionsstadiums der Demokratie zu berücksichtigen. Die unterschiedlichen institutionellen Umsetzungsmodelle der Dumokratie dürfen deswegen nicht vernachlässigt werden, da sonst die heutigen Entwicklungen aus ihrem historischen Zusammenhang genommen werden. Über die letzten 2.500 Jahre wurden so viepe verschiedenen Varianten der Demokratie ausprobiert, dass es unumgänglich ist, verschiedenen Erfahrungen und Demokratietheorien in die Untersuchung einzubeziehen. Durch eine starke Einbnziehung von traditioneller demokratietheoretischer Literatur soll in dieser Arbeit vermieden werden, sich von den ,Wundern des technologischen Fortschritts‘ überwältigen zu lassen und kurzatmigen Trends und Moden anzuschließen und somit in einem „hype“ der „e-democracy“ zu enden, ähnlich des „hypes“ und des Höhenflugs der „New Economy“ vor ihrer dramatischen Korrektur im Frühjahr 2000. Nachdem die Zeit der überhöhten Erwartungen und der Glorifizierung der neuen Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien wie dem Internet, dem Hightech Börsencrash im Jahr 2000 und der Ernüchterung der Verfechter der „New Economy“ zu ihrem Ende gekommen scheint, ist es an der Zeit, nüchtern und sachlich die Diskussion über die Einwirkungen, Möglichkeiten und Limitierungen der neuen technologischen Werkzeuge aufzunehmen. Tatsache ist, dass die neuen Technologien nicht mehr wegzudenken sind. Sie werden sich zweifellos weiterentwickeln. Bereits in einigen Jahren werden uns die heutigen informations- und kommunikationstechnologischen Lösungen primitiv und veraltet erscheinen. Nichtsdestotrotz oder gerade wegen den rasend schnellen Veränderungen im technologischen Umfeld wird es absolut notwendig über die aktuellen Entwicklungstendenzen des demokratischen Prinzips zu reflektieren. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da die Veränderungen, die durch den Einsatz von IKT in demokratischen Prozessen hervorgerufen werden, nicht durchweg und vor allem nicht automatisch demokratieförderlich sind. Sie sind allerdings unaus9 Sartori, Giovanni, Demokratietheorie, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, S. 23.

I. Einleitung

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weichlich. Das Netzwerk der Netzwerke und andere technologische Informationsverarbeitungsmöglichkeiten werden nicht durch irgendeine mysteriöse Weise wieder verschwinden. Auch nicht wenn man ihnen gegenwärtig keine Bedeutung zumisst. Diese Unausweichlichkeit und die Zügigkeit, mit welcher der wachsende Einsatz von IKT die Entwicklung der Informationsgesellschaft vorantreibt und die Demokratie in seiner Funktionsweise beeinflusst, fügt dem Ganzen eine gewisse Dringlichkeit hinzu. Der vermeintlich anhaltende Siegeszug der Demokratie nach dem Fall der Berliner Mauer, scheint keinen offensichtlichen Grund dafür zu liefern, gegenwärtige Demokratiemodelle zu reformieren: „. . . to keep what we have, however incomplete it is, than to gamble it away for what we might have, however attractive“10. Jedoch bringt der rasend schnelle technologische Fortschritt immer mehr Anzeichen dafür, dass die alten demokratischen Institutionen und Modelle unter den neuen technologischen Grundvoraussetzungen eben nicht mehr die gewünschten demokratischen Eigenschaften mit sich bringen. Die Veränderungen der Informationsgesellschaft bezüglich der Funktionsweise der Demokratie können für das System demokratiefördernde oder -schwächende Auswirkungen haben. Die wohl älteste Vision der Informationsgesellschaft und einer informationsgesellschaftlichen Demokratie stammt aus dem Jahre 1948 und wurde von George Orwell in seinem Roman über den perfektionierten Überwachungsstaat in „1984“ beschrieben11. IKT können Hilfsmittel für das demokratische Prinzip sein, sind allerdings kein Garant dafür12. Um den Einfluss von IKT-Einsätzen auf demokratische Prozesse untersuchen zu können, muss die technologische Anwendung immer im Zusammenhang mit ihrem institutionellen Umfeld betrachtet werden. Mit anderen Worten, der Einfluss von 10 Barber, Benjamin, Strong Democracy, Participatory Politics for a New Age, 1984, S. 308. 11 Orwell, George, 1984, Part 1, Chapter 3, The Literature Network, Jalic LLC, Erstausgabe 1948, Part 1, Chapter 1, http: // www.online-literature.com / orwell / 1984 (eingesehen Januar 2005). 12 Berthold Brecht schrieb im Jahre 1932: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Er wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern in Beziehung zu setzen“. IKT scheinen diesen alten Traum letztendlich zu Gunsten der Demokratie zu erfüllen. War aber der Rundfunk am Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen unzähligen Hobbyfunkern und Radiogemeinschaften nicht auch ein bidirektionaler Kommunikationsapparat? In jener Zeit, als jeder beliebige Hobbyfunker gleich professionell, beziehungsweise unprofessionell war, wurden Radiofrequenzen zum Großteil für den Informationsaustausch zwischen Funkern verwendet, nicht zur unidirektionalen Informationsdiffusion. Kurz darauf wurden jedoch diese bidirektionalen Partizipationsmöglichkeiten nicht mehr verwendet, und die Funkerkommunikation wurde zur Funkbasierten Informationsdiffusion im Radio. Ist von modernen IKT, wie dem Internet, eine ähnliche Entwicklung zu erwarten? Ist das demokratische Potenzial von IKT daher überschätzt? Siehe: Brecht, Berthold, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks, Erstausgabe 1932, in: Schriften zu Literatur und Kunst I, 1967, S. 134.

2 Hilbert

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

IKT auf das demokratische Prinzip ist von den institutionellen Rahmenbedingungen des gewählten Demokratiemodells abhängig. Darauf aufbauend werden in der vorliegenden Arbeit verschiedene Entwicklungstendenzen in unterschiedlichen Demokratiemodellen herausgearbeitet. Dadurch sollen jene Gebiete demokratischer Prozesse identifiziert werden, welche von den Veränderungen der Informationsgesellschaft besonders stark beeinflusst werden. Diese Teilgebiete werden dann in Zukunft mehr Aufmerksamkeit benötigen, um die Evolution der Demokratie auch in der Informationsgesellschaft zugunsten des demokratischen Prinzips voranzutreiben. Die vorliegende Arbeit setzt dazu auf der rechts-philosophischen Untersuchungsebene an, einer verhältnismäßig hohen Abstraktionsstufe. Dies soll ermöglichen, die Entwicklung der Demokratie auf der normativen und theoretischen Ebene zu erfassen und die Untersuchung nicht von Anfang an durch eine zu eng gefasste Demokratiedefinition zu beschränken. Auf dieser Abstraktionsebene soll nun untersucht werden, ob, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen digitale Informations- und Kommunikationsprozesse demokratisch oder undemokratisch sind. Dabei soll eher zweitrangig sein ob diese demokratischen oder undemokratischen Kommunikationsprozesse für das gesellschaftliche Zusammenleben positive oder negative Folgen haben. Dies würde eine tiefgründige Diskussion über den Sinn und Zweck der Demokratie für das Wohle der Menschen benötigen, die bis auf Aristoteles und dessen Unterscheidung zwischen „guten und schlechten Regierungsformen“ zurückgeht13. Jedoch ist das ein Aspekt der über die Reichweite des hier gewählten Forschungsansatzes hinausgeht. Die vorliegende Arbeit zielt also nicht darauf ab, verschiedene Demokratiemodelle gegeneinander abzuwägen um das eine Modell als ,gut‘ und das andere als ,schlecht‘ zu entlarven. Sie zielt darauf ab, die Entwicklung der verschiedenen Varianten der Demokratie an sich unter dem Aspekt der Digitalisierung zu untersuchen, eine nach der anderen, um zu dem Schluss zu kommen, ob die eine oder andere institutionelle Rahmenbedingung das Prinzip der Demokratie durch den Einsatz von IKT eher gefährdet oder fördert. Wenn nun also Demokratie unter dem Gesichtspunkt eines repräsentativ- oder direktdemokratischen Systems, durch liberalistischen oder republikanischen Gesellschaftsvertrag, oder durch Gesetzesherrschaft oder plebiszitärer Führung untersucht wird, soll zweitrangig bleiben ob die gewählten Kombinationen gut oder schlecht für die Menschen sind, sondern vielmehr ob sie gut oder schlecht für die Verwirklichung der Demokratie an sich sind. Ob Demokratie nun wiederum gut oder schlecht für die Menschen ist, soll wie gesagt in dieser Arbeit nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Entscheidend ist also, welche institutionellen Rahmenbedingungen durch die Digitalisierung zu undemokratischen Verhältnissen in der Informationsgesellschaft 13 Aristoteles, Politik III, 1278b –1279, 6. Unterschiede der Staatsverfassungen, 7. Verfassungsformen, übersetzt von Franz Susemihl, in: Massing, Peter und Gotthard Breit, Demokratietheorien, Von der Antike bis zur Gegenwart, Texte und Interpretationshilfen, Wochenschauverlag, Schwalback, 2002, S. 37 ff.

II. Von demokratischen Prozessen

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führen. Um dies untersuchen zu können, ist als Erstes eine genauere Definition des demokratischen Prinzips nötig, womit sich das folgende Kapitel beschäftigt.

II. Von demokratischen Prozessen Demokratie basiert auf der politisch-philosophischen Grundüberzeugung der menschlichen Selbstbestimmung. Diese geht davon aus, dass der Einzelne am Besten dazu geeignet ist, über seine Geschicke zu bestimmen, was in Artikel 1 der universellen Menschenrechtserklärung festgeschrieben ist. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“. Diese Gewissheit ist dem demokratischen Prinzip a priori vorausgesetzt und besagt, dass der freie Mensch das natürliche Recht besitzt, sein politisches, ökonomisches, soziales und kulturelles Umfeld nach seinen Vorstellungen mitzugestalten. Nach dieser Überzeugung hat der freie Mensch also ein natürliches Recht, auf alle Aspekte seines individuellen und gemeinschaftlichen Lebens einen mehr oder weniger großen, direkten oder indirekten Einfluss auszuüben. Lebt der Einzelne in einer Gesellschaft, muss das Prinzip der Selbstbestimmung des Einzelnen auf die Selbstbestimmung der Gruppe ausgeweitet werden. Die Rolle des Einflusses des Einzelnen findet seine Bedeutung in der Suche nach den gemeinschaftlichen Grundsätzen für das gute Leben aller Gesellschaftsmitglieder. Die charakterisierende Eigenschaft dieser gemeinschaftlichen Suche ist die Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen und die Uneinigkeit im Bezug auf die verschiedenen Wertvorstellungen der Gemeinschaftsmitglieder. Die Ungewissheit bezüglich der besten Übereinkünfte für das gute Leben aller entsteht aus der Unkenntnis der Wahrheit. Das Fehlen der Übereinstimmung der Ideenwelt mit der jetzigen oder zukünftigen Wirklichkeit (veritas est adaequatio intellectus ad rem) ist also der Auslöser dieser Ungewissheit14. Diese wiederum 14 So genannte Wahrheitstheorien und die Suche nach der Wahrheit sind unter den ältesten philosophischen Problemen und führen von Platons Ideenwelt über Descartes und Kierkegaard zu Kants Formen der Anschauung bis hin zu Popper und tief in die Theologie. Es würde mit Sicherheit weit über Sinn und Zweck dieser Begriffabgrenzung in der vorliegenden Arbeit hinausführen, tiefer auf dieses komplexe Thema einzugehen. Es sei lediglich daran erinnert, dass sich eine Tatsache niemals eindeutig als „die Wahrheit“ darstellen lässt. Während es nur eine Wirklichkeit gibt, gibt es so viele Wahrheiten wie es Lebewesen gibt. Zwar kann es sein, dass wir zufällig oder durch systematische Erkenntnisfindungsmethoden über einen Teilbereich der Wirklichkeit die Wahrheit erfasst haben. Aufgrund der Einsicht in die Mängel unseres Erkenntnisapparates können wir dessen aber letztendlich nie sicher sein. Hinzu kommt, dass die Wahrheit einer Tatsache nicht ein für allemal empirisch bewiesen werden kann. Es kann lediglich durch einen auf Popper basierenden Prozess der Falsifizierung von Hypothesen eine negative Auslese stattfinden und dadurch der Wahrheitsgehalt der positiven Aussage gestärkt werden. Somit kann man den Wahrheitsbeweis einer Theorie letztlich nicht erbringen, sehr wohl aber den Beweis ihrer Falschheit.

2*

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

ist Anlass für die Notwendigkeit zum Informations- und Kommunikationsaustausch zwischen den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft. Durch den gegenseitigen Austausch von Informationen kommt ein gemeinschaftlicher Überlegungsprozess in Gang, der nach Hobbes als Deliberation bezeichnet wird15. Die einzelnen, zur Selbstbestimmung berechtigten Mitglieder der Gesellschaft, suchen durch gemeinschaftliche Überlegungen, also Deliberationen, nach der besten gesellschaftlichen Übereinkunft um einen gemeinsamen Weg in die gemeinsam konfrontierte Ungewissheit zu finden. Würde eine ,richtige‘ und ,wahre‘ Antwort auf diese Ungewissheit existieren, würde eine solche Notwendigkeit gemeinschaftlicher Überlegungen nicht entstehen. Denn existiert ein Konsens darüber, dass die Wahrheit mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sodass also die Erkenntnisse den Tatsachen entsprechen, würde es keine Ungewissheit geben. In diesem Sinne, macht es auch keinen Sinn, demokratische Deliberationen über die Lösung eines Mathematikproblems abzuhalten oder über die Wirksamkeit eines Medikaments. „Politics concerns itself only with those realms where truth is not – or is not yet – known. We do not vote for the best polio vaccines or conduct surveys on the ideal space shuttle, not has Boolean algebra been subject to electoral testing. But Laetrile and genetic engineering, while they belong formally to the domain of science, have aroused sufficient conflict among scientists to throw them into the political domain – and rightly so. Where consensus stops, politics start“16. 15 Hobbes, Thomas, Leviathan, oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Erstausgabe 1651, Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, in der Übersetzung von Dorothee Tidow, Hrsg. Ernesto Grassi und Walter Hess, München, 1965, S. 45 ff. Die hier verwendete Definition von Deliberation geht auf Hobbes zurück und wird im Deutschen auch mit „Überlegung“ übersetzt. Da jedoch der Begriff Überlegung eher auf individuelle und weniger auf gesellschaftliche Prozesse abzielt, wird in dieser Arbeit der Begriff Deliberation vorgezogen. „When in the mind of man appetites and aversions, hopes and fears, concerning one and the same thing, arise alternately; and diverse good and evil consequences of the doing or omitting the thing propounded come successively into our thoughts; so that sometimes we have an appetite to it, sometimes an aversion from it; sometimes hope to be able to do it, sometimes despair, or fear to attempt it; the whole sum of desires, aversions, hopes and fears, continued till the thing be either done, or thought impossible, is that we call deliberation [in deutscher Übersetzung „Überlegung“, Anm. d. Verf.]. Therefore of things past there is no deliberation, because manifestly impossible to be changed; Every deliberation is then said to end when that whereof they deliberate is either done or thought impossible; because till then we retain the liberty of doing, or omitting, according to our appetite, or aversion. In deliberation, the last appetite, or aversion, immediately adhering to the action, or to the omission thereof, is that we call the will; the act, not the faculty, of willing. [ . . . ] And because in deliberation the appetites and aversions are raised by foresight of the good and evil consequences, and sequels of the action whereof we deliberate, the good or evil effect thereof dependeth on the foresight of a long chain of consequences, of which very seldom any man is able to see to the end. [ . . . ] Again, in all deliberations, and in all pleadings, the faculty of solid reasoning is necessary: for without it, the resolutions of men are rash, and their sentences unjust: and yet if there be not powerful eloquence, which procureth attention and consent, the effect of reason will be little“. 16 Barber, Benjamin, Strong Democracy, S. 129.

II. Von demokratischen Prozessen

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Die Wahrheit kann aber auch unkenntlich sein, wenn Uneinigkeit aufgrund von verschiedenen Wertvorstellungen besteht. Auf die Frage, welches sozioökonomische System gewählt werden soll, etwa ein sozial-marktwirtschaftliches mit größerer sozialer Gerechtigkeit oder ein neoklassisches Wachstumsmodell, gibt es keine wahre oder falsche Antwort. Hier bringt selbst die wissenschaftlich beste Arbeit unter bestmöglicher Annäherung der Theorie an die Wirklichkeit kein korrektes oder inkorrektes Ergebnis. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten würde, dass sich die Wissenschaft über die Effekte und Auswirkungen des einen oder des anderen Wirtschaftssystems einig wäre, gäbe es keine eindeutige Wahrheit darüber, welches Wirtschaftssystem für die Gesellschaft am geeignetsten ist17. Wahrheit kann hier nicht gefunden werden, da es nur alternative Visionen, basierend auf unterschiedlichen Wertvorstellungen gibt, welche um gesellschaftliche Akzeptanz konkurrieren. Wenn nun also die Wahrheit nicht erkenntlich ist und davon ausgegangen wird, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren und mit Vernunft und Gewissen begabt sind, dann sollten im Idealfall Mechanismen entworfen werden, die diese Unwissenheit in gleichen Maßen auf alle zur Selbstbestimmung berechtigten Mitglieder der Gesellschaft übertragen. Informations- und Kommunikationsmechanismen, welche die gemeinschaftliche Deliberation in der Wahrheitsfindung unterstützen, sind die Grundlage dafür. Natürlich kann das Ergebnis dieser Mechanismen keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. „. . .politics seeks choices that are something less than arbitrary even though they cannot be perfectly Right or True Scientific“18. Allerdings kann die Verantwortung für die Konfrontation mit der Ungewissheit gerecht verteilt werden. In diesem Sinne zielen die angestrebten informations- und kommunikationsintensiven Erkenntnisprozesse also nicht auf die korrekten Resultate, sondern eher auf gerechte Prozeduren ab. Im Sinne John Rawls’ geht es also nicht in erster Linie um das utilitaristischen Bestreben „to achieve the greatest net balance of satisfaction summed over all the individuals“19, 17 Normalerweise werden die Ergebnisse dieser Studien verschieden sein. Der auf Falsifizierungsbeweisen beruhende wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist nämlich an den gewählten Erkenntnismechanismus gebunden, also an das Entscheidungsverfahren, welches die wissenschaftliche Arbeit zu ihrem Ergebnis führt. Würden jedoch alle Studien zum selben Ergebnis kommen, zum Beispiel, dass eine Steuersenkung um x Prozent genau y Prozent mehr Wirtschaftswachstum schafft und w Prozent in Sozialleistungen abbauen muss, eine Genauigkeit, die natürlich sehr unwahrscheinlich ist, muss immer noch berücksichtigt werden, dass der wissenschaftliche Erkenntnisprozess wegen der Möglichkeit der Entdeckung neuer empirischer Erkenntnisse (die Daten ändern sich) und neuen Beobachtungsmöglichkeiten und Entwicklungsveränderungen im untersuchten Umfeld (zum Beispiel technische Veränderungen) limitiert ist. Deswegen geht der deliberative Wahrheitsbegriff davon aus, am besten die Gesellschaft als Ganzes, nicht einige wenige Ökonomen, drüber entscheiden zu lassen, ob sie denn Steuersenkungen, Steuererhöhungen oder lieber den Status Quo bevorzugt, um das gute Leben aller zu ermöglichen. 18 Barber, Benjamin, Strong Democracy, S. 127. 19 Rawls, John, A Theory of Justice, Harvard College, Harvard University Press, 1973, Revised Edition, Fifth Printing, 2003, S. 20.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

sondern eher um „procedural justice“, in diesem Fall die Gerechtigkeit der Verantwortung für das gemeinsame Handeln unter Unwissenden. Diese Untersuchung auf den demokratischen Gehalt des Prozesses ist unabhängig davon, ob sich die getroffene Entscheidung am Ende als „gut“ oder „schlecht“ für die Gesellschaft herausstellt. Solange alle Beteiligten Verantwortung tragen, hat die Prozedur demokratischen Gehalt. Die Verantwortung für das gemeinsame Schicksal und das gute Zusammenleben der Gesellschaft soll also gleich verteilt werden. Gleichheit unter allen ist dann gegeben, wenn in keine Herrschaftsverhältnisse zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft bestehen. Robert Dahl verdeutlicht diese Idee mit einer Anekdote über dänische Wikinger. Diese organisierten sich in so genannten Tings, in denen sie unter freien und gleichen Wikingern Streitigkeiten beilegten und Regelungen des gemeinsamen Zusammenlebens bestimmten oder ablehnten. „That the idea of equality was alive and well among Viking freeman in the tenth century is attested to by the answer given by some Danish Vikings when, while traveling up a river in France, they were asked by a messenger calling out from the riverbank, ,What is the name of your master?‘ ,None‘, they replied, ,we are equals‘“20. Unter Gleichen gibt es keinen Meister und Herrscher, sondern Gleiche, eine Idee für die das mittelalterliche Festlandeuropa um die erste Jahrtausendwende wenig Verständnis hatte. Für den Wikinger hingegen waren Gleichheit und Herrschaft klare Gegensätze. Wenn das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit unter Gleichen geregelt werden soll, darf es keine Herrschaft geben. Dadurch wird der Prozess demokratisch. Demokratie kann demnach keine Herrschaft sein21. „Das demokratische Prinzip deklariert . . . vielmehr die Verfassung der Herrschaftslosigkeit . . . Das demokratische Prinzip entscheidet in einer Verfassung der Freiheit vielmehr negativ gegen jede Art der Herrschaft“22. Nach dieser Minimaldefinition ist Demokratie das Gegenteil von Herrschaft23. Demokratie ist also nicht, wie trügerischer Weise aus dem Griechischen übersetzt, die „Herrschaft des Volkes“ (von „demos“ – dem Dahl, Robert, On Democracy, S. 19. Schachtschneider, Karl Albrecht, Res publica res populi, Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre“, Berlin 1994, XXXIII, 1994, S. 14 f., 18 ff., 25 f., 93 f., 139 ff., 145 ff.; ders., Die Freiheit in der Republik, 2003, 3. Kapitel, 5. Kapitel, III., 6. Kapitel, I. i. d. S. schon Rousseau, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Erstausgabe, 1762, übersetzt und hrsg. Hans Bockard, Stuttgart, Reclam jun., 1977, II. Buch, Kapitel 1, 2, 4. 22 Schachtschneider, Karl Albrecht, Res publica res populi, 1994, S. 4. 23 Das Einzige, was in demokratischer Weise „herrschen“ kann, sind demokratisch zustande gekommene Gesetze. „Die so genannte ,Herrschaft des Gesetzes‘ ist keine Herrschaft im skizzierten Sinne der Über- und Unterordnung, der nötigenden Willkür, wenn das Gesetz der Wille aller, wenn das Gesetz autonom ist“. Schachtschneider, Karl Albrecht, Res publica res populi, 2. Teil, 10. Kapitel, S. 145. Jedoch ist die Gesetzesherrschaft bereits eine institutionelle Unterform des demokratischen Prinzips. Es gibt durchaus Demokratiemodelle, die nicht auf Gesetzesherrschaft im legislativen Sinne beruhen, sondern zum Beispiel die Sittlichkeit, also die Bindung an das innere Gesetz des kategorischen Imperativs in den Vordergrund stellen. Siehe Fußnote 185. 20 21

II. Von demokratischen Prozessen

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griechischen Wort für Volk, Volksmasse oder Vollbürgerschaft – und „kratein“, „Kraft haben“ oder „Macht ausüben“), sondern sie ist die Selbstbestimmung einer Gesellschaft in Abwesendheit von Herrschaft. „Volk“ soll dabei politisch und nicht ethnisch definiert werden. Nach Cicero ist „. . . ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist“24. Im Sinne Kants wird das Volk hier also als „Staatsvolk“ (,civitas‘) definiert, welches die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ ist25. Die grundlegenden Rechtsgesetze etablieren den gesellschaftlichen Erkenntnisprozess, der zur bestmöglichen Annäherung an die Wahrheit angewendet wird. Die Reichweite des demokratischen Prinzips muss nicht unbedingt mit dem künstlich erstellten Konstrukt des Nationalstaates übereinstimmen und ist generell auf die Ausdehnung der Entscheidungsgewalt der sich demokratisch organisierenden Gruppe definiert. Das demokratische Prinzip kann somit lokale, regionale, nationale oder internationale Reichweite besitzen. „Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören“26. Die Gesellschaft entscheidet auf demokratische Weise und unter Anerkennung der Würde und Rechte aller Gesellschaftsmitglieder über ihr gemeinsames Schicksal. Diese Entscheidungsgewalt geht von der Gesellschaft aus, wird durch sie ausgeübt und im eigenen Interesse, also dem der Gesellschaft, eingesetzt. Diese knappe und sprachlich prägnante Definition des demokratischen Prinzips wird dem Revolutionär Thomas Paine (1737 – 1809) zugeschrieben und wurde ein Jahrhundert später von Abraham Lincoln in der bekannten Form „government of the people, by the people and for the people“ wieder aufgenommen und popularisiert27. Obwohl nicht explizit in dieser Formel erwähnt, ist dennoch herauszustel24 Cicero, De re publica, Vom Gemeinwesen, übersetzt und hrsg. von Karl Büchner, Stuttgart 1979, Abs. I, 39. „. . . populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus“. 25 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, Ed. Weischedel, Erstausgabe 1797, Bd. 7, S. 431. 26 Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, Ein philosophischer Entwurf, Erstausgabe 1795, herausgegeben von Rudolf Malter, Philip Reclam Jun. Stuttgard, 1984, Zweiter Abschnitt, S. 11. 27 Lincoln, Abraham, Gettysburg Adress, 19. November 1863, in Peter Massing und Gotthard Breit, Demokratietheorien, Von der Antike bis zur Gegenwart, Texte und Interpretationshilfen, Wochenschauverlag, Schwalbach, 2. Aufl. 2002, S. 165. Kompleter Kontext: „Es ist vielmehr an uns, dass wir uns der großen Aufgabe, die noch vor uns liegt, hier weihen – dass wir die Toten [des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865, Anm. d. Verf.] ehren durch noch mehr Hingabe an die Sache, für die sie das höchste Maß an Hingabe aufbrachten – dass wir feierlich erklären, diese Toten sollen nicht umsonst gestorben sein, dass die Nation, mit Gottes Beistand, eine Neugeburt der Freiheit erlebe und dass das Regieren des Volkes, durch das Volk und für das Volk von dieser Erde nicht wieder vergehen soll.“ Aus dem Englischen von Ekkehart Krippendorff.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

len, dass das Prinzip der Gleichheit der Mitglieder und die damit verbundene Herrschaftslosigkeit unabdingbare Voraussetzungen sind, um das demokratische Prinzip unter Berücksichtigung der Menschenwürde durchzusetzen. In diesem Sinn ist das demokratische Prinzip nicht einzig und allein ein Mittel zum Zweck, sprich zur Entscheidungsfindung, sondern ein Ziel und Zweck an sich, da sich durch Herrschaftslosigkeit die Lebensqualität des Einzelnen ändert28. Das demokratische Prinzip soll also für diese Arbeit als ein gesellschaftlicher und herrschaftsfreier, auf Information und Kommunikation basierender Willensbildungsprozess unter Gleichen definiert sein, welcher dort ansetzt, wo die erkannte Wahrheit aufhört.

III. Von der Informationsgesellschaft Technologie im Dienste von Information und Kommunikation ist seit jeher ein fester Bestandteil menschlicher Entwicklung. Eine lange Tradition von Sprachwissenschaftlern (u. a. Wilhelm von Humboldt, 182029) behauptet, dass es der gezielte Einsatz von Information und Kommunikation ist, welcher den Evolutionspfad des Menschen und des Tieres so entscheidend getrennt hat. Bereits im Johannesevangelium heißt es: „Am Anfang war das Wort . . . alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts . . .“30. Es war und ist also die Fähigkeit, zu kommunizieren, d. h. Gedanken zu formulieren und auszutauschen, durch die sich die menschliche Intelligenz weiterentwickelt31. Seit seinen ersten Tagen hat sich der Mensch für die Kommunikation bestimmter Instrumente bedient. Der Homo sapiens (der weise Mensch) unterschied sich von den anderen Spezies dadurch, dass er der Erste war, der symbolische Zeichen an Felswände malte, um Nachrichten zu übermitteln. Der Einsatz von „Technik“, um sich seiner Umwelt mitzuteilen und Gedanken auszutauschen, wurde über Jahrtausende ständig weiterentwickelt. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die gezielte Entwicklung dieser Technologien im Zentrum von Forschung. Vor dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich Forschungen noch auf die Vermehrung der physischen Kraft des Menschen durch Maschinen und nicht so sehr auf die gezielte Stärkung seiner mentalen Kraft. Geschockt von den Ausmaßen und der brutalen Siehe Sen, Amartya, Development as Freedom, Anchorbooks, New York, 1999. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber Sprache zu erfinden, musste er schon Mensch sein“, beschrieb Wilhelm von Humboldt 1820 das Dilemma der Sprachforscher, den Ursprung der Sprache zu finden, in: Hartmann, Frank, Medienphilosophie, Institut für Publizistik Universität Wien, Kapitel 1.5 Sprachabhängigkeitsthese, 2004, „http: // www.medienphilosophie.net“ (eingesehen Januar 2005). 30 Johannesevangelium 1,1 – 1,3. 31 Zum Zusammenhang zwischen Sprachforschung und menschlicher Evolution siehe Bickerton, Derek, Language and Human Behavior, Jessie and John Danz Lectures, UCL Press, 1995; und Jablonski, Nina und Leslie Aiello, The Origin and Diversification of Language, California Academy of Sciences, San Francisco, CA, 1998. 28 29

III. Von der Informationsgesellschaft

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Gewalt des Zweiten Weltkrieges, nahm sich die Forschung und Entwicklung der Aufgabe an, den „bewildering store of knowledge“32 für die Menschheit sehr viel effektiver zugänglich zu machen.

1. Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) Zur Übermittlung von Wissen braucht es mehr als Informationsspeicher und Informationskanäle. Wissen ist mehr als Information. Wissen ist nicht nur statisch, sondern dynamisch. Wissen baut auf statischen Informationspaketen auf, ist aber mehr als die Summe von verschiedenen Informationen. Wegen seiner Komplexität ist es sehr schwierig, Wissen von einer Person an eine weitere zu übertragen. Um Wissen übermitteln zu können, muss es in einer gewissen Weise ,statisiert‘ werden. Dies ist ein Prozess der Reduktion und Abstraktion, durch welchen das „implizite Wissen“, welches wir in uns tragen, kodifiziert und explizit festgehalten wird. Damit kann man zwischen implizitem (tacit knowledge) und explizitem Wissen (codified knowledge) unterscheiden33. Wissen im eigentlichen Naturzustand (tacit knowledge) kann nicht übermittelt werden, da es technisch auf absehbare Zeit nicht machbar ist, den Austausch von Gedanken zwischen zwei Gehirnen direkt zu vernetzen. Es wird daher mit immer feineren Methoden versucht, Wissen deutlicher zu kodifizieren und durch komplexe Transmissionskanäle über große Entfernungen zu übertragen. So kann möglichst viel Wissen möglichst vielen Menschen zuteil werden. Durch diesen Austausch von statischem Wissen mittels einer schnellen, vielseitigen und potenten Vernetzung soll eine Annäherung an die Dynamik hergestellt werden, die dem Wissen in seiner ganzen Komplexität immanent ist. Das ständige Ziel ist es also, die Kapazität des menschlichen Gehirns mit anderen Gehirnen zu vernetzen, um die Wissensdynamik, die aus der Interaktion zwischen tacit und codified knowledge entsteht, voranzutreiben. Dafür bedient man sich heute wie damals der so genannten informationsverarbeitenden Technologien. Bisher lassen sich drei verschiedene Arten von Technologien unterscheiden (siehe Abbildung 1: IKT-Konvergenz)34. Die erste, für uns noch sehr geläufige Art zur Speicherung und Verarbeitung von Information sind Bücher. Die Erfindung des Papiers in China um 100 v. Chr. und die Entwicklung des Buchdruckes durch 32 Bush, Vannevar, As We may think, The Atlantic Monthly, July, 1945, Volume 176, No. 1, pages 101 ff., http: // www.theatlantic.com / unbound / flashbks / computer / bushf.htm) (eingesehen 08.2003). 33 Grundlegende Arbeit dazu Polanyi, Michael, Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy, Chicago: University of Chicago Press, Erstauflage 1962. Zur Bedeutung mit Bezug auf IKT siehe Hilbert, Martin, Theory and Strategy: Towards a theory on the information society, Strategies for an information society, in: Hilbert, Martin und Jorge Katz, Building an Information Society: A Latin American and Caribbean Perspective, Economic Commission for Latin America and the Caribbean, United Nations, Santiago de Chile, LC / L.1845, 2003, S. 22 ff. www.eclac.cl / id.asp?id=11672 (eingesehen Januar 2005). 34 Dazu und zum Folgenden: Hilbert, Martin, Theory and Strategy, S. 25 ff.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

Gutenberg35 etwa 1450 n. Chr. sind zweifellos Meilensteine dieses Evolutionspfades. Die zweite Art versucht echte Kommunikationsprozesse zu unterstützen. Im Unterschied zur ersten Technologie geht es hier nicht darum, möglichst viel Information vielen Menschen zugänglich zu machen, sondern eher darum, kleine Informationspakete schnell über weite Entfernungen auszutauschen. Rauchzeichen, Trommeln und Telegraphen gehören dazu. Dafür war es oft nötig, die Information in kleine Pakete zu kodifizieren. Diese Reduktion führte unweigerlich zu einem Informationsverlust. Im Gegensatz zum Buchdruck war es beim Telegraphen nicht möglich, komplette Bilder zu übermitteln. Jedoch haben die kleineren Informationspakete, die der Telegraph übermittelt, den Vorteil, eine wirkliche Kommunikation nachzuahmen, sprich nahezu in Echtzeit Information zumindest bidirektional auszutauschen. Es existierte also ein trade-off zwischen großen und genauen Informationspaketen, welche nur unidirektional sehr langsam verbreitet werden können, und kleinen, aber ungenauen Informationspaketen, welche bidirektional und in Echtzeit kommuniziert werden können. Die dritte technologische Evolutionsart ist die jüngste. Sie versucht, implizites Wissen (tacit knowledge) nachzustellen. Durch gezielte Verarbeitung und Manipulation der Information werden Gedankengänge nachgestellt und programmatisch verschlüsselt. Ein einfacher Taschenrechner verdeutlicht diese Art von Informationsverarbeitung. Jahrtausendelang wurde der Gedankengang „Rechnen“ als implizites Wissen angesehen, welches technisch nicht so einfach von einem Menschen auf einen anderen übertragen werden konnte. Das Wissen des Rechnens musste erst durch einen Prozess der wiederholten Interaktion methodisch erlernt werden36. Mittlerweile kann auch ein Grundschüler die Quadratwurzel einer beliebigen Zahl mit Hilfe eines Taschenrechners innerhalb von wenigen Sekunden ,ausrechnen‘. Die implizite Kenntnis des Rechnens wurde schließlich durch die Verarbeitung der Information verschlüsselt und zu explizitem, allgemein verfügbarem Wissen umgewandelt. Es ist nach der Verarbeitung leicht vermittelbar, ohne einen vergleichsweise komplizierten Lernprozess zu durchlaufen, um über das bisher erforderliche, implizite Wissen zu verfügen. Dieser dritte, den IKT zugrunde liegende, technologische Evolutionsweg der Informationsverarbeitung beschleunigte somit tatsächlich die Verfügbarkeit von implizitem Wissen. Die Konvergenz dieser drei Evolutionspfade wird Informations- und Kommunikationstechnologie genannt – nach Tapscott geläufig auch als „3 C“ zusammengefasst: „Computers, Content and Communications“37. Durch die Fusion von informationsverarbeitender Software mit informationsverteilenden Broadcasting35 Für viele die „wichtigste Erfindung des letzten Millenniums“. Siehe Stadt Mainz, Amt für Öffentlichkeitsarbeit und Gutenberg-Museum, Gutenberg.de, Man of the Millenium, 2003, http: // www.gutenberg.de (eingesehen Januar 2005). 36 Dazu siehe die grundlegende Arbeit von Arrow, Kenneth, The economic implications of learning by doing, Review of Economic Studies, N 29, 1962. 37 Tapscott, Don, The Digital Economy: Promise and Peril in the Age of Networked Intelligence, McGraw-Hill, New York, 1996, S. 58 f.

III. Von der Informationsgesellschaft

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Medien und informationsaustauschender Telekommunikation werden IKT geschaffen, die jahrhundertelang getrennte technologischen Evolutionspfade vereinigt. Mit den gegenwärtigen Innovationen am Anfang des dritten Millenniums ist die IKTKonvergenz jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Die sich abzeichnende Fusion des digitalen Fernsehens mit Dienstleistungen über Mobiltelefone der dritten Generation (IMT-2000) und dem bisherigen Internet ist ein Beispiel für die voranschreitende Konvergenz der IKT. Während heute bei der IKT oft noch deutlich die zugrunde liegende technologische Herkunft erkennbar ist (Radio, TV, Telefon, Prozessrechner etc.), kann zunehmend zwischen einem Taschenrechner und einem Mobiltelefon, oder einem Radio und einem Fernseher nicht mehr unterschieden werden. In naher Zukunft wird man lediglich nach Attributen wie mobil, fest, individuell oder kollektiv unterscheiden, wobei die technisch machbare Auflösungs-, Speicher- und Verarbeitungskapazität eine wesentliche Rolle spielen dürfte, jedoch nicht, ob die jeweilige IKT nun eher informativ, kommunikativ oder informationsverarbeitend ist. Die verschiedenen Informations- und Kommunikationstechnologien fusionieren im „Netzwerk der Netzwerke“, dem „Internet“ (siehe Kasten „Das Netzwerk der Netzwerke“).

Abacus Rechner Mechanischer 3000 B.C. Rechner Pascal Electro1500 A.D. RechenSprach Electromasch. 1579 synthesizer mechan. 1937 computer Transistor Mikro1947 1940 processor 1971 PC 1981 Nachrichten BuchHöhlen- -brief druck malerei J.Caesar 1445 etc. 59 B.C.

Fanfaren, Trompeten Rauch100 B.C. zeichen, Trommeln, etc.

Zeitung 1502

Fotografie 1826

Radio broadcast 1918

TV Farb ÜberTV tragung 1960 1927

Transatlantisches Electro Kabel magnetischer 1856 Chappe Telegraph Telegraph 1837 1794

Telefon 1876

Stereo TV 1984 Handy 1984

Quelle: Martin Hilbert, Theory and Strategy: Towards a theory on the information society, Strategies for an information society, ECLAC United Nations 2003a, S. 27.

Abbildung 1: IKT-Konvergenz

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung Das Netzwerk der Netzwerke Bereits in den frühen 60er Jahren wurde überzeugend bewiesen, dass es sehr viel effektiver ist, Daten digital durch ein packet switched system zu schicken, als sie durch traditionelle Systeme, wie end-to-end circuts38 zu leiten. Als Anfang der 80er Jahre die Mikroprozessorentechnologie reifte, wurde es offensichtlich, dass das Digitalisieren von Daten und deren digitale Speicherung eine sehr effektive Lösung darstellte, um Informationen zu sammeln und zu verarbeiten. Verschiedene Gruppen begannen daran zu arbeiten, ob und wie große Mengen von Informationen durch digitale Kodifizierung verwaltet werden können. Einmal verschlüsselt, können Informationen gespeichert, übertragen und getauscht werden. Dies schafft eine positive Dynamik, die der Wissensentwicklung dienlich ist. Es wurde also daran gearbeitet, Informationen möglichst effizient und umfangreich auszutauschen. Das DARPA-Projekt des US-Verteidigungsministeriums (Defense Department Advanced Research Projects Agency) unterstützte eine Technologie, die als das „Arpanet“ bekannt wurde. Als grundlegende Idee galt der Fakt, einen dezentralisierten Mechanismus bereitzustellen, um vielen Teilnehmern möglichst viel Information zugänglich zu machen. Die Interkonnexion von verschiedenen Datenbanken und Computern sollte zudem keinen zentralen Steuerungspunkt besitzen, damit das System, auch dann noch funktionsfähig ist, wenn ein Teil des Netzwerkes, zum Beispiel durch Feindeinwirkung, zerstört wird. DARPA war der Ausgangspunkt für das Wachstum des Netzwerkes in jener Zeit. Diese Innovation nutzend39, wurde das Arpanet die erste Form dessen, was in den 80er Jahren gemeinhin als „Internetting“ bezeichnet wurde. Ein derartiges Netzwerk wurde zu dieser Zeit nur von der US-Regierung und einigen Universitäten benutzt. 1972 brachte eine sehr erfolgreiche öffentliche Demonstration dieses Systems die Idee eines „open-architecture network“ ins Bewusstsein der Öffentlichkeit40. In einer „internet-working architecture“ konnte jedes einzelne Netzwerk nach bestimmten Benutzerbedingungen und Umwelterfordernissen konfiguriert werden, während die verschiedenen Netzwerke durch ein meta-level miteinander kommunizieren. Es gab generell keine Restriktionen, welche die Anbindung eines weiteren Netzwerkes verbietet. Auch eine erste Form von E-Mail wurde damals bereits vorgestellt. Zu dieser Zeit vernetzte Arpanet.40 geographisch verteilte Computer. Die Entwicklung einer neuen offenen Netzwerkarchitektur, die letztendlich Transmission Control Protocol / Internet Protocol = TCP / IP getauft wurde, war von der Idee geleitet, keine globale Kontrolle auf der Operationsebene zu besitzen41. Bereits um 1990 hatte TCP / IP die meisten anderen Computernetzwerke entweder vereinnahmt oder so weit

38 Grundlegende Arbeiten dazu Baran, Paul, Briefing B-265 and Paper P-2626, Research And Development (RAND), 1961; ders., On distributed Communications, RAND, 1964, http: // www.rand.org / publications / RM / baran.list.html (eingesehen Januar 2005); Kleinrock, Leonard, Information Flow in Large Communication Nets, RLE Quarterly Progress Report, 1961. 39 Dazu Roberts, Lawrence, Multiple Computer Networks and Intercomputer Communication, ACM Gatlinburg Conf., Oktober 1967. 40 Kahn, Robert, Communications Principles for Operating Systems, Internal BBN memorandum, Jan. 1972. 41 Cerf, Vint und Robert Kahn, A protocol for packet network interconnection, IEEE Trans. Comm. Tech., vol. COM-22, V 5, pp. 627 – 641, May 1974.

III. Von der Informationsgesellschaft

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marginalisiert, dass das Internet Protocol (IP) der generelle Standard für die globale Informationsinfrastruktur wurde. Somit war das Netzwerk der Netzwerke geschaffen. Dieses neue System aus Computern, Kabeln und schnurlosen Übertragungskanälen wurde von einem globalen Hypertextsystem angereichert. Um den „abstrakten Datenraum“ (cyberspace) zu strukturieren, wurde um 1990 von Tim Berners-Lee ein Browser mit dem Namen „World-Wide-Web“ entwickelt42. Er strukturiert den Datenraum durch Hypertextverknüpfungen. Obwohl es heute wie damals in IKT-Netzwerken sehr viel mehr technische Lösungen gibt als TCP / IP und www, sind die grundlegenden Ideen vergleichbar.

Die Kapazität von Informations- und Kommunikationssystemen wächst beständig. Die nach Schumpeter „schöpferische Zerstörung“43 ist außergewöhnlich stark und kurzzyklisch. Das oft zitierte „Moore’s law“, welches besagt, dass sich die Kapazität eines Mikroprozessors alle 18 Monate verdoppelt (wissenschaftlich nachgewiesen seit 1971) oder auch „Copper’s law“, nach dem sich die Nutzung der Radiofrequenzen alle 30 Monate verdoppelt (gültig seit 1895), verdeutlichen die Innovationsgeschwindigkeit im IKT-Sektor. Das Netzwerk wird nicht nur immer effizienter, sondern auch quantitativ größer. Im Jahr 2001 konnten in einer Sekunde mehr Daten durch ein einzelnes Kabel gesendet werden als 1997 in einem Monat über das gesamte Internet-Netzwerk44. Die Anzahl der weltweiten Internetbenutzer wuchs von 10 Millionen in 1993 auf 870 Millionen 2004 an (14 % der Weltbevölkerung). Die Anzahl von Mobiltelefonen wuchs im gleichen Zeitraum von 34 auf 1752 Millionen (27 % der Weltbevölkerung)45. Aber nicht nur die Effizienz und die Quantität nahm schnell zu, sondern auch die Qualität des Informationsaustausches wurde ständig verbessert. Dieser Trend wird häufig unter dem Stichwort „Multimedia“ zusammengefasst46. Wissen kann durch viele verschiedene Arten kodifiziert werden, um es anschließend auszutauschen oder zu speichern. Die Schrift ist mit ihrem hohen Abstraktionsgrad der Verschlüsselung letztlich als geschriebene Sprache nur ein sehr reduziertes Kommunikationswerkzeug. Durch wirkliche Sprache von Mund zu Ohr und noch besser von Angesicht zu Angesicht, also durch eine face to face-Kommunikation, können Gedanken sehr viel feiner kodifiziert werden. Die Nachricht wird durch die Sprechintonation, den Gesichtsausdruck und die Gesten sehr viel präziser über42 Berners-Lee, Tim, Information Management: A proposal, circulated for comments throughout 1990. 43 Schumpeter, Joseph Alois, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Erstausgabe 1942, 4. Auflage, München 1950, Kapitel 7. 44 Zur beständig anwachsenden Bandbreite und deren Implikationen Gilder, George, Telecosm: How Infinite Bandwidth Will Revolutionize Our World, Blackstone Audiobooks, New York, 2000. 45 ITU (International Telecommunications Union), Key Global Telecom Indicators for the World Telecommunication Service Sector, World Telecommunications Database, Genf, 2003, http: // www.itu.int / itu-d / ict (eingesehen Januar 2005). 46 Negroponte, Nicholas, Being Digital, Vintage Books, New York, 1995, S. 65 ff.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

mittelt. Das Auge unterstützt das Ohr und den Mund bei der Kommunikation. Im semiotischen Sinne hilft dies, die Nachricht nicht nur auf der syntaktischen, sondern auch auf der semantischen und pragmatischen Ebene zu entschlüsseln. Die heutigen zweidimensionalen Video- und dreidimensionalen Hologrammkonferenzen stellen bereits IKT-Entwicklungen dar, welche diese Kommunikationsebenen ansatzweise berücksichtigen. Entgegen der oft geäußerten Meinung, dass das ,Internet eine Angesicht-zu-Angesicht-Kommunikation nicht ersetzen kann‘, gibt es also sehr wohl Lösungsansätze Information und Kommunikation sehr genau virtuell nachzustellen. Internet und IKT-Netzwerke sollten also nicht generell auf geschriebene (E-Mail) oder gesprochene Sprache (traditionelles Telefon) reduziert werden. Hochentwickelte Computer sind bereits in der Lage, Sprachen zu verstehen, das heißt zu übersetzen, indem sie hören und sprechen und sogar darüber hinaus über Mustererkennung fähig sind, ihr menschliches Gegenüber zu ,betrachten‘ und zutreffende Schlussfolgerungen aus dessen Mimik zu ziehen. Neben Ton, Bild und Bewegungen können auch Gerüche Nachrichten übermitteln. Hier unterstützt die Nase, das Auge, das Ohr und den Mund, um aus aller verfügbaren Information eine Nachricht zu bilden. Es gibt bereits Lösungsansätze, um Gerüche über das Internet zu „verschicken“47. Somit verfügen wir offensichtlich heute über die technischen Möglichkeiten, tatsächlich alle Kommunikationskanäle – wohl bald auch unter Einbeziehung des noch verbliebenen Tastsinnes – zu digitalisieren und damit für eine weltweite, vergleichsweise günstige und schnelle digitale Interaktion einzusetzen. Zu den daraus resultierenden Besonderheiten und Randbedingungen siehe die folgenden Abschnitte. 2. Der informationsgesellschaftliche Paradigmenwechsel Paradigmen lassen sich vergleichen mit Brillengläsern, durch die wir die Welt betrachten. Sind die Brillengläser rot, nimmt der Brillenträger die ganze Welt in Rot getaucht wahr und nach einiger Zeit erscheint sie in Realität rot. Paradigmenwechsel sind wie ein Farbwechsel in den Brillengläsern der Anschauung. Die zuvor beschriebene technische Entwicklung bedingt eine derartige Veränderungen in den „Formen der Anschauung“, mit denen wir „das Ding an sich“ betrachten48. In seinen bekannten „Structure of Scientific Revolutions“, beschreibt Thomas Kuhn49 diesen Zusam47 Natürlich wird heute noch nicht der Geruch selbst in binäre Datenpakete zerlegt und packet-switched über das digitale Netzwerk verschickt. Einfacher ist es zunächst, die chemische Konsistenz des Geruches zu analysieren und diese Information nach Digitalisierung zu verschicken. Ein Chemiekasten, beziehungsweise ein vollautomatisches Labor, welches am empfangenden Computer angeschlossen ist, kann diese Information lesen und den Geruch rekonstruieren. 48 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Erstausgabe 1781, Transzendentale Elementarlehre, Erster Teil, Die transzendentale Ästhetik, Von dem Raume. 49 Kuhn, Thomas, The Structure of Scientific Revolutions, Erstausgabe 1962, Chicago, University of Chicago Press, 1996, S. 43.

III. Von der Informationsgesellschaft

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menhang: „Close historical investigation of a given specialty at a given time discloses a set of recurrent and quasi-standard illustrations of various theories in their conceptual, observational, and instrumental applications. These are the community’s paradigms, revealed in its textbooks, lectures, and laboratory exercise.“ Mit dem Übergang zur Informationsgesellschaft verändert sich die Wahrnehmung von Raum und Zeit durch polydirektionale Echtzeitkommunikation über weltweite, multimediale Netzwerke. Eine Bestätigung für Paradigmenwechsels ist die Tatsache, dass die ältere Generation eine Wahrnehmungsveränderungen bewusst durchlebt und sich an neue Gegebenheiten sinnvollerweise anpasst, während derartige neue Formen für die Jüngeren naturgemäß keine Veränderungen darstellen, sondern die normale Basis ihrer Formen der Anschauung sind50. So wächst zum Beispiel ein Sechsjähriger im Jahr 2005 in einer Umwelt auf, in der es für ihn ganz normal ist, morgens vor dem Frühstück eine Videokonferenz mit seinem Vater zu führen, der sich auf einem anderen Kontinent befindet. Der Vater hingegen mag insgeheim über dieses „Wunder der Technik“ staunen, welches die Bedeutung von Entfernungen und die Qualität der bisher möglichen Kommunikation verändert. Die Formen der Anschauung, mit denen das Kind das „Ding der digitalen Kommunikation an sich“ betrachtet, unterscheidet sich von der des Vaters. Paradigmenwechsel können sich unter anderen aus politischen, sozialen oder ökonomischen Veränderungen ergeben. Auch kann eine Kombination verschiedener Wechselfaktoren, so genannte Meta-Paradigmen, hervorbringen, welche die Gesellschaft in vielen verschiedenen Aspekten grundlegend verändert, wie zum Beispiel die Französische Revolution. Paradigmenwechsel können auch einen wissenschaftlichen und technischen Ursprung haben. Beispiele dafür sind die „kopernikanische Wende“ und die Landung auf dem Mond. Derart einschneidende Ereignisse verändern immer das Bewusstsein der Zeitgenossen. Das heißt, dass die Menschen zunächst ihre Wahrnehmung und dann ihr Verhalten anpassen. Der Übergang zur Informationsgesellschaft kann als Meta-Paradigma eingeordnet werden: eine technisch-wissenschaftliche Ursache, die einen direktem Einfluss auf die gesellschaftliche Kommunikation hat und somit auf die verschiedensten Aspekte des gemeinsamen Lebens. Die Informationsgesellschaft ist nicht das erste technologisch inspirierte Meta-Paradigma (siehe Abbildung 2: Long waves: Technologische und gesellschaftliche Paradigmen prägen das Weltgeschehen). In der Wirtschaftswissenschaft ist man zu der Auffassung gelangt, dass sich derart drastische, technologisch inspirierte Gesellschaftsveränderungen zyklisch verhalten und sich in nahezu vorhersehbaren Zeiträumen, in einem Prozess der schöpferischen Zerstörung ablösen. Vor hundert Jahren etablierte Kondratieff dafür die Theorie der „Langen Wellen“: Basisinnovationen lösen regelmäßig Entwicklungsphasen von mehreren Jahrzehnten aus und prägen damit ganze Zeitalter 51. 50 Dazu Tapscott, Don, The Rise of the Net Generation: growing up digital, McGraw-Hill, New York, 1999.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung Digitalisierung von Information und Kommunikation in Wirtschaft und Gesellschaft

TECHNOLOGISCHE INNOVATION

Motorisierung der Wirtschaft und des Transportwesens

BESCHREIBUNG des GESELLSCHAFTLICHEN PARADIGMAS

Elektrifikation der Industrie, Transport und Heim Mechanisierung von Industrie + Transportwesen

Mechanisierung von Industrie Wasser getrieben

Baumwollspinnerei, Eisenprodukte, Wasserräder

1770’s

1840’s

Automobil,

Dampfmaschine, Eisenbahn, mechanische Werkzeuge

1890’s

Informationsund Kommunikations Technologien

Diesel Maschinen, Flugzeuge

Elektronisches Ingeneurwesen, Licht, Tiefbau, Synthetik

Dampf getrieben

Bio/ Gentechnologie?

1940’s

TRÄGER SEKTOR des TECHNOLOGISCHEN PARADIGMAS

1990’s

ZEIT

Quelle: Martin Hilbert, Theory and Strategy: Towards a theory on the information society, Strategies for an information society, ECLAC United Nations 2003, S. 45, basierend auf Freeman, Christopher, As time goes by: From the Industrial Revolutions to the Information Revolution, Oxford University Press, 2001.

Abbildung 2: Long waves: Technologische und gesellschaftliche Paradigmen prägen das Weltgeschehen

Der Prozess der Digitalisierung von Informationsflüssen und Kommunikationsprozessen ist die jüngste solcher Basisinnovationen. Auch wenn das neue Phänomen sich erst in den 1990ern etablieren konnte, wurde bereits in den 1960er und 1970er Jahren davon gesprochen, dass die vorangegangene „Agrikulturelle Revolution“ und die „Industriellen Revolutionen“ bald von einer „Post-industriellen Revolution“ abgelöst werden würden. Was damals als das „Comming of PostIndustrial Society“52 oder als die „Third Wave“53 bekannt wurde, wird heute all51 Werden diese langen Wellen nicht nach technologisch-struktureller Weise beurteilt, sondern nach Marktpreisen berechnet, werden sie in der Wirtschaftswissenschaft auch „Kondratieffs“ genannt. Nikolai Dimitrijewitsch Kondratieff (1892 – 1938) hat die Theorie der „long waves“ etabliert und daraus ein zyklisches Verhalten von langer Auswirkung geschlussfolgert. Kondratieff hat seine Observationen auf Untersuchungen von Fluktuationen verschiedener Wirtschaftsindikatoren gestützt (unter anderem Preise). Er war überzeugt, dass seine Untersuchungen von wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklungen es ihm erlauben würden, zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen zu antizipieren. 52 Bell, Daniel, Coming of Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting, New York, Basic Books, Inc., 1973.

III. Von der Informationsgesellschaft

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gemein „Informationsgesellschaft“ genannt. Der Ursprung des Terminus „Informationsgesellschaft“ ist strittig. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass der Terminus aus Japan stammt. Dort hatte Tadao Umesao bereits 1963 verschiedene Modelle über die Evolutionsschritte sozialer Entwicklung und Zivilisation aufgestellt. In seinem Aufsatz „Joho Sangyo Ron“ (Von den Informationsindustrien) spricht er von der „Joho Shakai“, der „Informations-Gesellschaft“. Auch in den Jahren 2003 und 200554 wurden und werden genau die Charakteristika dieses Terminus während des „World Summit on the Information Society“ in ihrer Bedeutung für das Weltgeschehens durch die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen diskutiert. In der Informationsgesellschaft ist es also die Informationsverarbeitung, welche durch das kollektive „brain-storming“ einer vernetzten Gesellschaft die ewige Wissensspirale weiter vorantreibt. Mit den visionären Worten Nathaniel Hawthornes aus dem Jahre 185155 lässt sich fragen, ob „the world of matter has become a great nerve, vibrating thousands of miles in a breathless point of time? Rather, the round globe is a vast head, a brain, instinct with intelligence!“ Die neuen technologischen Lösungen werden zu „amplifiers and extensions of the human mind“56. Dies hat auch Auswirkungen auf die Geschwindigkeit und Funktionalität, mit der sich Wissen weiterentwickelt. Der Prozess der Wissensdynamik, das Spiel zwischen explizitem und implizitem Wissen, wird durch die Vernetzung einer zunehmenden Anzahl von Menschen als Folge hoch entwickelter Informations- und Kommunikationstechnologien beschleunigt. Vereinfacht dargestellt „dreht sich die Welt schneller“ durch das sie umspannende „digitale Nervensystem“57. Demgegenüber hat es vor der Ankunft der Informationsgesellschaft meist Jahre gedauert, bis sich ein kluger Mensch aus Asien mit einem anderen Hochbegabten aus Lateinamerika in Verbindung setzen konnte, um über traditionelle Kommunikationskanäle Informationen auszutauschen. Dieser Prozess des Schaffens von neuem Wissen wird nun extrem verkürzt. Aber die Informationsrevolution macht nicht nur viele Aspekte des Lebens schneller und rückt viele Angelegenheiten 53 Die „dritte Welle“ setzt an der etablierten agrikulturellen (first Wave) und industriellen Gesellschaft (second Wave) an und steht für die Informationsrevolution. Toffler, Alvin, The Third Wave, Bantam Books, New York, 1980. 54 Der Weltgipfel über die Informationsgesellschaft wird in zwei Etappen, im Dezember 2003 in Genf / Schweiz und im November 2005 in Tunis / Tunesien abgehalten. Dazu WSIS (World Summit on the Information Society), About the World Summit, 2003, Online Version: http: // www.itu.int / wsis (eingesehen Januar 2005). 55 Über die Zukunft des Telegraphen aus der Sicht des Jahres 1851 Hawthorne, Nathaniel, The house of the Seven Gables, Chapter 17, Eldritch Press, 1851, hrsg. Online-Literature, Jalic LLC, 2003, http: // www.online-literature.com / hawthorne / seven_gables / 17 / (eingesehen Januar 2005). 56 Castells, Manuel, The Rise of the Network Society, Volume 1 of the Information Age trilogy, Blackwell Publishers, Oxford and Malden, MA, 1996, S. 31. 57 Gates, Bill, Business at the Speed of Thought, New York, Warner Brothers Publications, 1999, S. 22 ff.

3 Hilbert

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

näher zusammen, sondern hat auch strukturelle und funktionelle Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. IKT verändern nicht nur die Art und Weise, wie wir lernen, studieren, arbeiten, konsumieren, produzieren und uns vergnügen, sondern auch die kulturellen, sozialen und politischen Strukturen unserer Gemeinschaft. Wie diese Arbeit analysiert, verändert sich auch in entscheidender Weise die Demokratie; das heißt die Art, wie sich der jeweilige öffentliche Wille bildet.

3. Besonderheiten digitaler Interaktionen Der Austausch, die Speicherung und Verarbeitung von Information durch digitale Systeme weisen bestimmte Charakteristika auf. Es ist wichtig, diese Besonderheiten digitaler Interaktion zu beachten, wenn man Schlussfolgerungen über die Auswirkungen von IKT für ein spezielles Gebiet, hier auf die Demokratie, zieht. Die Veränderungen von räumlichen und zeitlichen Vorraussetzungen für zwischenmenschliche Kommunikation haben eine große Bedeutung für die Verwirklichung des demokratischen Prinzips. Üblicherweise werden die zugrunde liegenden Informations- und Kommunikationsstrukturen auf Basis der bestehenden Technologien als a priori gegeben vorausgesetzt58. Der Zusammenhang zwischen den Kommunikationsstrukturen einer Gesellschaft und der Art und Weise, wie über Demokratie nachgedacht wird, wird als nicht erwähnenswert empfunden. Eine Folgerung dieses fehlenden Verständnisses ist die Auffassung, dass verschiedene realweltliche Gegebenheiten unlösbare Restriktionen und Limitierungen der praktischen Implementierung eines Demokratiemodells darstellen59. Beispielhaft für eine generell akzeptierte, praktische Restriktion der Demokratie ist die Fläche eines Territorialstaates und die damit zusammenhängende geografische Distanz zwischen den Bürgern. Aristoteles wird der Satz zugeschrieben, dass Demokratie so weit reicht, wie ein Mensch an einem Tag gehen kann. Das Demokratiemodell resultiert somit aus den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen. Eine ähnlich restriktive Rahmenbedingung ist das so genannte „Prinzip der kleinen Einheit“60, welche für einen sinnvollen Kommunikationsaustausch zwischen Menschen nötig sei. Es war bisher praktisch und technisch nicht möglich, 58 Dazu Scheuch, Michael, Neue Informationstechnologien und ihre Auswirkung auf die Demokratietheorie, S. 11 – 24. 59 Für eine Diskussion solcher realweltlichen Restriktionen der Demokratie siehe Dahl, Robert A., On Democracy, S. 83 ff., 105 ff. Vorländer, Hans, Demokratie, Geschichte, Formen, Theorien, Verlag C.H. Beck, München, 2003, S. 51 ff., 94 ff. Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien, S. 91 – 158, 175 ff. 60 Schachtschneider, Karl Albrecht, Die Freiheit in der Republik, 5. Kapitel, I, 3.; ders, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 53 ff.; ders, Rechtsstaatlichkeit als Grundlage des inneren und äusseren Friedens, in: Mut zur Ethik. Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht versus Krieg, 2002, S. 6 – 94, S. 70 ff.; http: // www.oer.wiso.uni-erlangen.de / Schriften / Dokumente_zum_Herunterladen / Rechtsstaatlichkeit_ als_Grundlage_des_inneren_und_ aeusseren_Friedens.pdf (eingesehen Januar 2005).

III. Von der Informationsgesellschaft

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sich mit einer großen Anzahl von Mitbürgern gleichzeitig und effektiv auszutauschen. Setzt man traditionelle Informations- und Kommunikationsprozesse voraus, so würde es pausenlose 208 Tage in Anspruch nehmen, wenn jeder einzelne von 10.000 Bürgern in Summe nur zehn Minuten in einer gemeinsamen Diskussion zu Wort käme61. Nun werden jedoch Raum und Zeit von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien beeinflusst. Da demokratische Prozesse ausschließlich aus Informationsflüssen und Kommunikationsmechanismen bestehen, sind deren Veränderungen natürlich richtungweisend für das zu implementierende Demokratiemodell. Die funktionellen Veränderungen der technischen Strukturen sind der Ausgangspunkt, für die Entwicklung einer informationsgesellschaftlichen Demokratietheorie. Durch die Digitalisierung von Informationsflüssen und Kommunikationsprozessen verändern sich die Spielregeln, die für eine analoge Informationsverarbeitung gültig waren. Digitale Daten basieren auf Bits, welche die kleinste unteilbare Einheit digitaler Information darstellen – entweder eine Eins oder eine Null. Jegliche Art von Information, seien es Zahlen oder Buchstaben, Geräusche oder bewegte Bilder, lassen sich durch Bits kodifizieren. „A bit has no color, size, or weight, and it can travel at the speed of light. It is the smallest atomic element in the DNA of information. It is a state of being: on or off, true or false, up or down, in or out . . .“62. Der generelle Trend geht „from atoms to bits“63; also dahin, möglichst viele Eigenschaften in digitalen Bits darzustellen. So ist Ende des 20. Jahrhunderts eine starke Tendenz zur Digitalisierung von Produkten und von Dienstleistungen zu beobachten. Zeitungen, Bücher, Musik, Filme, Fernsehen, Flugtickets, Geld und Wertpapiere sind bereits digitalisiert (digital goods) und werden weitgehend elektronisch übertragen und gehandelt. Sogar eine so alte und vertraute Sache wie ,Geld‘ wird bereits seit langem digitalisiert, zum Beispiel durch elektronische Wertpapiertransaktionen oder Geldkarten. Diese Entwicklung wird fortgesetzt werden, bis jede Münze durch digitale Daten ersetzt wird, die (durch etwa schnurlose und mobile) elektronische Geldbörsen in Echtzeit den Besitzer wechseln. In anderen Worten, alles was sich digitalisieren lässt, wird digitalisiert. Dieser Trend liegt vor allem an zahlreichen Vorteilen die digitale Information mit sich bringt. Da Bits mit Lichtgeschwindigkeit die Welt umkreisen können und nur durch das Verarbeitungsmedium beschränkt sind (Leistungsfähigkeit und Ausbreitung des Netzes), wird digitale Information nicht durch wesentliche Transportverzögerungen limitiert. Kombiniert mit der Möglichkeit zur nahezu unbegrenzten digitalen Datenspeicherung auf Computerservern, führt dies zu einem neuen Zeitmanagement des Informationsflusses. Zum einen kann Information in Echtzeit übertragen werden, was den Austausch immens beschleunigt, und zum anderen kann aber auch asynchroner Informationsaustausch stattfinden. Die gespeicherte Information kann be61 62 63

3*

Dahl, Robert A., On Democracy, S. 106 f. Negroponte, Nicholas, Being Digital, S. 14. Negroponte, Nicholas, Being Digital, S. 11 – 89.

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Kap. 1: Einleitung, Definitionen und Modellierung

liebig zeitversetzt übermittelt, ver- oder bearbeitet werden. Die Kapazität zur Speicherung von Daten wächst ständig (Moore’s law). Dies verbindet die Vorteile der traditionellen Telekommunikation (Evolution der Kommunikationstechnologien) mit den informationsspeichernden und verbreitenden Vorteilen des Buchdrucks und der klassischen Bibliothek (Evolution der informationsverbreitenden Technologien). Durch die informationsverarbeitenden Technologien (den dritten Evolutionspfad der IKT-Konvergenz) werden sowohl neue Wege des Zugangs und als auch der Auswahl möglich. So ermöglichen es informationsspeichernde Instrumente, eine große Menge von Informationen anzuhäufen und selektiv zu verarbeiten. Dies ermöglicht es zum Beispiel, die oft kritisierte Informationsvorselektion der Presse und der Medien besser zu umgehen (gate-keeper-function)64 und selber eine große Menge von Informationen zu verarbeiten. Die Macht des übergeordneten Programmdirektors sinkt, während der Informationskonsument eigene Informationsabläufe zusammenstellen kann. Durch kommunikationstechnologische Instrumente kann der digitalisierte Inhalt jeweils in Echtzeit zum Benutzer übertragen werden. Im Gegensatz zu einem für die Industriegesellschaft typischen Szenario, in dem der Informationskonsument nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, auf einem bestimmten Kanal eine Selektion von Informationen angeboten bekam, kann er in der Informationsgesellschaft das gewünschte Paket selbst zusammenstellen und zu einem beliebigen Zeitpunkt konsumieren. Zusätzlich zu diesem neuen Zeitmanagement erlaubt die neue Technik auch ein neues Raummanagement des Informationsflusses. Es kommt zum „death of distance“65 für digitale Güter. Nicht-digitale Güter (non-digital goods) hingegen unterliegen weiterhin den Naturgesetzen des physischen Transports66. Diese Tren64 Dazu Wagner, Ralf, Demokratie und Internet, Einfluss des neuen Mediums auf die demokratische Staatsform, Books on demand GmbH, S. 117 ff. Siehe auch Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Erstauflage 1962, Suhrkamp Wissenschaft, Frankfurt am Main, 17. Auflage 1990, S. 306. „Sieht man den Sinn der Übertragung aus dem Bundestag darin, dem Hörer (und Zuschauer) am Empfangsgerät die Möglichkeit zu geben, an der Arbeit der von ihm gewählten Volksvertreter teilzuhaben, dann müsste man zu dem Schluss kommen, dass Fernsehen und Rundfunk diesem Zweck nicht gerecht zu werden vermögen, dass sie vielmehr durch Entstellung und Verzerrung der Debatten eine Störung der Parlamentsarbeit darstellen“. 65 In Jahr 1995 hat The Economist einen einflussreichen und provozierenden Artikel mit dem Titel „The Death of Distance“ von Francis Cairncross publiziert. Der Artikel handelt von den Auswirkungen, die die Telekommunikation und das Internet auf die geographische Distanz haben werden: „The cost of communications will probably be the single most important economic force shaping society in the first half of the next century . . .“. Cairncross, Francis, The Death of Distance: How the Communications Revolution Will Change Our Lives, Cambridge, Massachusetts, Harvard Business School Press, 1997, S. 1. 66 Zu einer Einführung und generellen Behandlung zu den Konzepten der digitalen Güter und nicht-digitalen Güter USDOC (U.S. Department of Commerce), The emerging digital economy, 1998, http: // ecomerce.gov (eingesehen Januar 2005). Ders., The emerging digital economy 2, 1999, http: // ecommerce.gov (eingesehen Januar 2005). Ders., Digital Economy 2000, 2000, http: // ecommerce.gov (eingesehen Januar 2005).

III. Von der Informationsgesellschaft

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nung in der Verarbeitungscharakteristik von Gütern zeigt bereits Wirkungen auf den internationalen Handel, die zum Beispiel für Entwicklungsländer nicht durchweg positiv sind67. Wählen, Stimmensammlung, Stimmauszählung und Ergebnisübermittlung sind alles digitalisierbare Prozesse und unterliegen somit auch dem „death of distance“. Ein weiterer Vorteil des digitalen Austausches ist es, dass Bits nicht rivalisierend sind, sprich man kann sie nicht auf- oder verbrauchen. Digitale Daten können immer wieder neu eingesehen werden, sie mögen geteilt, verteilt, gekreuzt und umverteilt werden, aber wir brauchen sie nicht auf. Dies führt zu beinahe endlosen Skaleneffekten. Es mag Millionen EURO kosten, ein digitales Gut zu produzieren (zum Beispiel eine Software oder einen Spielfilm), jedoch genügen dann einfache Befehle, wie ,Kopieren‘ und ,Einfügen‘, um es zu duplizieren. Die Kostenstruktur von digitaler Information beinhaltet beinahe 100 % Fixkosten für die Schaffung, während die variablen Kosten verschwindend gering sind. Dies hat einen großen Effekt im Bezug auf die Transparenz öffentlichen Handelns. Es fallen kaum Extrakosten an, um ein öffentliches Dokument oder einen Report entweder einem oder vielen Bürgern zur Einsicht bereitzustellen, zum Beispiel durch Veröffentlichung auf einer Website. Digitale Information kann praktisch beliebig lange zur Verfügung stehen. Nach der Einführung moderner IKT in den Staatsapparat (Stichwort e-government oder elektronische Verwaltung) geht der Trend dahin, öffentliche Dokumente so schnell wie möglich auf der Webseite der jeweiligen Organisation der Allgemeinheit zugänglich zu machen68. Ein weiteres Charakteristikum für digitale Interaktion liegt in der Natur von polydirektionalen Netzwerken69. Im Unterschied zu traditioneller uni- oder bidirektionaler Kommunikation (one-to-many) kann in polydirektionalen Kommunikationsstrukturen der Informationsfluss sowohl als umfassende Individualkommuni67 Zum Beispiel werden zwei Drittel des Online-Konsums Lateinamerikas außerhalb des Landes der Online-Konsumenten getätigt (es wird vor allem auf den Webseiten der Vereinigten Staaten von Amerika eingekauft). Aus dieser Sicht sind die globalen digitalen Netzwerke eher schädlich für die heimische Wirtschaft von Entwicklungsländern. Dazu Hilbert, Martin, Latin America on Its Path into the Digital Age: Where Are We?, Desarrollo productivo series, Ns