Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI: Impulse für die Forschung [1. Aufl. 2019] 978-3-658-25460-5, 978-3-658-25461-2

Die digitale Transformation schreitet voran - Patienten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Gesundheitseinrichtungen sind g

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Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI: Impulse für die Forschung [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-25460-5, 978-3-658-25461-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Front Matter ....Pages 1-1
Digital Health Maturity Index (Anja Burmann, Wolfgang Deiters, Sven Meister)....Pages 3-18
Gesundheitsdaten und Digitalisierung – Neue Anforderungen an den Umgang mit Daten im Gesundheitswesen (Kim Veit, Michael Wessels, Wolfgang Deiters)....Pages 19-33
Digital Health Literacy – Thesen zu Konzept und Förderungsmöglichkeiten (Silja Samerski, Hardy Müller)....Pages 35-50
Bewertungsportale im Internet (Ulrich Franz)....Pages 51-66
Digitalisierung, Big Data und Big To-dos aus Sicht der Rechtswissenschaft (Heinrich Hanika)....Pages 67-87
Front Matter ....Pages 89-89
Vom Projekt in die Versorgung – Wie gelangen telemedizinische Anwendungen (nicht) in den Versorgungsalltag? (Bianca Lehmann, Eva-Maria Bitzer)....Pages 91-116
Präferenzanalytische Untersuchung von Chancen durch Digitalisierung für eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung mittels elektronischer Patientenakte (Matthias J. Kaiser, Jennifer Fränken)....Pages 117-137
Medizinischer Unterversorgung im Vogtland mittels Telemedizin aktiv begegnen (Linda Weichenhain, Daniel Schiffer, Maximilian T. Schwiercz, Anke Häber)....Pages 139-156
Multimodale Schmerztherapie mit E-Health (Janosch A. Priebe, Katharina K. Haas, Linda L. Kerkemeyer, Christine Schiessl, Thomas R. Tölle)....Pages 157-168
E-Health-Lösungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Afrika – Machbarkeitsstudie einer M-Health-Lösung für Diabetespatienten in Kamerun (Felix Holl)....Pages 169-181
Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung – Eine Schweizer Fallstudie zur Einbeziehung von Stakeholderpräferenzen (Alexander Mertes, Lyn E. Pleger, Gabriel Trinkler)....Pages 183-201
Front Matter ....Pages 203-203
Die digitale Pille für chronische Krankheiten (Tobias Kowatsch, Doris Fischer-Taeschler, Fabian Putzing, Pius Bürki, Christoph Stettler, Gabriella Chiesa-Tanner et al.)....Pages 205-231
Intelligentes Diagnose- und Therapiemanagementkonzept mit einem digitalen Avatar durch Integration von Vitalparametern und genomischen Daten am Beispiel des Diabetes mellitus (Kurt Becker)....Pages 233-257
Elisabeth Brönnimann und ihr Weg durch das Gesundheitssystem – Digitale Transformation aus Patientensicht (Kerstin Denecke, Serge Bignens, Thomas Bürkle, Sang-Il Kim, Michael Lehmann, Stephan Nüssli et al.)....Pages 259-280
Die Pflegebrille – Möglichkeiten und Barrieren der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie in der ambulanten Intensivpflege (Michael Prilla, Heinrich Recken, Marc Janßen)....Pages 281-309
Wearables – Zukunftstechnologie für die geriatrische Pflege? (Bastian Bräunel, Anke Häber)....Pages 311-332
Auf dem Weg zu intelligenten Assistenzsystemen am Beispiel eines Manipulatorarms (Alfred Schöttl)....Pages 333-350
Front Matter ....Pages 351-351
Sektorkopplung von Gesundheit und Wohnen im intelligenten Quartier (Tobias Teich, Daniel Kretz, Tim Neumann, Sven Leonhardt)....Pages 353-374
PiQ – eine Pflegeplattform zur Vernetzung quartiersbezogener Versorgungsstrukturen (Matthias Becker, Britta Böckmann)....Pages 375-388
Smarte Objekte – Wie Smart Speaker und Smarthome die medizinische und pflegerische Versorgung zu Hause unterstützen werden (Klemens Waldhör)....Pages 389-406
Neuartige Kommunikationswege und Strukturen zur Optimierung der häuslichen Versorgung am Beispiel von nierentransplantierten Patienten (Wiebke Düttmann-Rehnolt, Danilo Schmidt, Fabian Halleck, Oliver Staeck, Roland Roller, Martin Högl et al.)....Pages 407-421
Front Matter ....Pages 423-423
Präventionsallianzen in einer digitalisierten Industrie (Jörg von Garrel, Simone Thomas)....Pages 425-445
Digitale Gestaltung innovativer Gesundheitsnetzwerke – Erfolgreiches Netzwerkmanagement im Gesundheits- und Dienstleistungssektor (Christoph Buck, Simone Burster, Serkan Sarikaya, Julia Thimmel, Torsten Eymann)....Pages 447-473
Prävention via Lifelogging – Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Selbstvermessung (Viviane Scherenberg)....Pages 475-486
Einsatz von Gesundheits-Apps und Sensormonitoring zur automatisierten Anfallsdetektion und -dokumentation (Salima Houta, Johannes Kreuzer, Sarah von Spiczak, Ulrich Stephani, Rainer Surges, Robert D. Nass)....Pages 487-498
Back Matter ....Pages 499-508

Citation preview

Mario A. Pfannstiel Patrick Da-Cruz Harald Mehlich Hrsg.

Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI Impulse für die Forschung

Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI

Mario A. Pfannstiel · Patrick Da-Cruz · Harald Mehlich (Hrsg.)

Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI Impulse für die Forschung

Hrsg. Mario A. Pfannstiel Fakultät Gesundheitsmanagement Hochschule Neu-Ulm Neu-Ulm, Deutschland

Patrick Da-Cruz Fakultät Gesundheitsmanagement Hochschule Neu-Ulm Neu-Ulm, Deutschland

Harald Mehlich Fakultät Gesundheitsmanagement Hochschule Neu-Ulm Neu-Ulm, Deutschland

ISBN 978-3-658-25460-5 ISBN 978-3-658-25461-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Band VI der Buchreihe geht auf spezielle Handlungsbereiche bei der Digitalisierung und Transformation von Produkten und Dienstleistungen ein. Der Bedarf an Forschung und Entwicklung nimmt im Gesundheitswesen einen hohen Stellenwert ein. Die Beziehungen zwischen Abnehmern, Anbietern und Abnehmern und Anbietern von gesundheitsbezogenen Leistungen müssen in Verbindung mit Produkten und Dienstleistungen erfasst, untersucht, analysiert und bewertet werden. Neue Lösungsansätze können einen Beitrag leisten, um die Behandlungsqualität zu steigern, den Zugang zu medizinischen Leistungen zu ermöglichen und die Kosten für Behandlungen zu reduzieren. Nachfolgend wird der Inhalt des Buches in fünf Beitragsblöcken zusammengefasst, um dem Leser eine Orientierung durch das Buch zu ermöglichen. Der erste Beitragsblock geht auf das Thema „Digitalisierung und Datensicherheit“ ein. Der Beitrag von Burmann, Deiters und Meister befasst sich mit der Analyse des Digitalisierungsgrades im Krankenhaus. Veit, Wessels und Deiters beschreiben in ihrem Beitrag neue Anforderungen an den Umgang mit Dateien im Gesundheitswesen. Sie heben hervor, dass sich die Digitalisierung als Megatrend erweist und zu Rollenveränderungen bei Patienten und Ärzten führt. Digitale Produkte und digitale Dienstleistungen basieren auf Daten, die aufgrund ihrer Eigenschaften schützenswert und wertvoll sind. Der Umgang mit Daten erfordert besondere Kompetenzen von Anwendern und neue Ausbildungskonzepte für Bürger und Professionelle. Samerski und Müller stellen in ihrem Beitrag Thesen und Fördermöglichkeiten zum Konzept Digital Health Literacy auf. Gemäß ihnen darf Digital Health Literacy nicht nur als Eigenschaft von Individuen gesehen werden, sondern muss auch als soziotechnisches System verstanden werden. Sie plädieren beim Wandel und der Transformation im digitalen Bereich für ein umsichtiges und partizipatives Changemanagement. Dabei beruht Digital Health Literacy auf dem Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten, sozialen Praktiken und dem technischen Design. V

VI

Vorwort

Im vierten Beitrag präsentiert Franz Bewertungsportale aus dem Internet. Er hebt hervor, dass Personen grundsätzlich keinen Anspruch auf Nichtbewertung oder die Löschung ihrer sämtlichen Daten haben. Jedoch sind Fake-Bewertungen unzulässig und es kommen auch Ansprüche auf Unterlassung von konkreten Äußerungen in Betracht. Es zeigt sich, dass das Hauptproblem im uneingeschränkten Schutz der anonymen Meinung besteht und sich die Rechtsprechung mit dem Thema weiter befassen muss. Beitrag fünf von Hanika richtet den Blick auf das Thema Digitalisierung und Big Data aus der Perspektive der Rechtswissenschaft. Es wird aufgezeigt, dass sich Akteure und Verantwortliche unverzüglich und kritisch mit rechtlichen Aspekten auseinandersetzen müssen, um sich rechtsstaatlich, grundrechtskonform sowie europarechtlich regelgerecht zu verhalten. Es wird darauf verwiesen, dass der bestehende ordnungsrechtliche Rahmen dynamisch weiterentwickelt werden kann. Dabei ist es wichtig, die Akzeptanz von betroffenen Zielgruppen zu gewinnen. Im zweiten Beitragsblock wird die Aufmerksamkeit auf das Thema „Telemedizin und E-Health“ gelenkt. Lehmann und Bitzer widmen ihren Beitrag telemedizinischen Anwendungen. Sie gehen der Frage nach, wie telemedizinische Anwendungen (nicht) in den Versorgungsalltag gelangen. Sie geben einen Überblick über den aktuellen Stand der Telemedizin in der Versorgung und stellen Handlungsempfehlungen auf. Als ein Ergebnis halten sie fest, dass vielfältige Projekte bestehen, die auch im Versorgungsalltag ankommen, jedoch keine telemedizinische Leistung flächendeckend und bundesweit angeboten wird. Es besteht vor allem Handlungsbedarf bei der Implementierung von Innovationen. Kaiser und Fränken weisen in ihrem Beitrag auf die Bedeutung von Patientenpräferenzen hin. Mit der Implementierung von patientenpräferierten Instrumenten kann eine Erhöhung des Patienten-Empowerment erreicht werden. Zur Implementierung ist es notwendig, die Präferenzen von Patienten zu identifizieren. Zielgerichtete Maßnahmen und Angebote könnten den Nutzen für Patienten erhöhen. Der Einsatz von Instrumenten trägt zur Verbesserung der Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung bei. In Beitrag acht wird der interaktive Gedanke der Telemedizin weitergeführt. Weichenhain, Schiffer, Schwiercz und Häber befassen sich mit der medizinischen Versorgung im Vogtland. Sie beschreiben ein Projekt, das die Hausärzte entlasten und Zeitressourcen optimal ausnutzen soll. Ziel des Projektes ist die Errichtung von Servicezentren, dabei erweisen sich vor allem rechtliche, standesrechtliche und abrechnungstechnische Fragen als nicht simpel. Sie verweisen auf bestehende Lösungsansätze bei telemedizinischen Versorgungsstrukturen in anderen Ländern. Beitrag neun befasst sich mit einem neuen Versorgungskonzept zur Prävention der Chronifizierung von Rückenschmerzen. Gemäß Priebe, Haas, Kerkemeyer, Schiessl und Tölle erfolgt die Schmerzbehandlung von Patienten bisher weitgehend unstrukturiert. Bei der multimodalen Schmerztherapie mit E-Health soll die Rückenschmerzbehandlung hausarztzentriert durch Beratung von Hausärzten erfolgen, die Schmerzspezialisten haben dabei Zugriff auf die gemeinsame elektronische Fallakte. Das Konzept wird mit den bestehenden Herausforderungen vorgestellt.

Vorwort

VII

Holl stellt in seinem Beitrag eine E-Health-Lösung zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Afrika vor. In vorgestellten Fallbeispiel wird auf die Möglichkeit einer Fernüberwachung von Diabetespatienten eingegangen. Durch eine Machbarkeitsstudie wurde das hohe Potenzial von M-Health überprüft. Es wurde nachgewiesen, dass die technische Machbarkeit einer derartigen Anwendung und die erforderliche Behandlungsqualität gegeben sind. Schwierig erweisen sich bei der Umsetzung der Lösung die Rahmenbedingungen und die Kosten für Verbrauchsmaterialien und den mobilen Internetzugang. Beitrag elf untersucht die Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung in der Schweiz. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Einbeziehung von Stakeholderpräferenzen. Mertes, Pleger, Trinkler diskutieren und analysieren den Einfluss anhand des elektronischen Patientendossiers. Im Ergebnis der Untersuchung zeigt sich, dass verschiedene Stakeholdergruppen den legislativen Prozess unterschiedlich stark beeinflussen. Sie heben hervor, dass die Gefahr besteht, dass die Interessen anderer Gruppen dadurch in den Hintergrund rücken können. Der dritte Beitragsblock widmet sich dem Thema „chronische Erkrankungen und Pflege“. Kowatsch, Fischer-Taeschler, Putzing, Bürki, Stettler, Chiesa-Tanner und Fleisch beschreiben in ihrem Beitrag verfügbare und skalierbare Informations- und Kommunikationstechnologien (z. B. Smartphones) als „digitale Pillen“. Mithilfe von diesen können Gesundheitszustände von Patienten mit chronischen Krankheiten bequem und zweckdienlich erhoben werden. Als ein Ergebnis der vorgestellten Beispiele wird festgehalten, dass digitale Pillen von Patienten nur angenommen werden, wenn sie von vertrauensvollen Leistungsanbietern ausgegeben werden. Beitrag dreizehn von Becker skizziert ein intelligentes Diagnose- und Therapiemanagementkonzept mit einem digitalen Avatar durch Integration von Vitalparametern und genomischen Daten am Beispiel des Diabetes mellitus. Die Erkenntnisse zeigen einerseits, dass dabei sinnvolle Therapiekonzepte entstehen und die Beratung und Betreuung kostengünstig erbracht werden kann, anderseits aber auch noch erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht, um Wissen zu präsentieren und um Datenschutz- und Datensicherheitsaspekte zu lösen. Denecke, Bignens, Bürkle, Kim, Lehmann, Nüssli, Sariyar und Holm beschreiben den Weg einer fiktiven Patientin durch das Gesundheitssystem. Im Mittelpunkt steht die digitale Transformation und deren Auswirkung auf die Navigation des Patienten. Dargestellt werden drei Anwendungsfälle, dabei werden soziale und ethische Herausforderungen betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass für den Patienten ein Nutzen durch mehr Informationen, gezieltere Behandlungen und ein besseres Monitoring entsteht und dieser mehr in den Behandlungsprozess eingebunden ist. Beitrag fünfzehn von Prilla, Recken und Janßen analysiert die Möglichkeiten und Barrieren der Nutzung der Augmented-Reality-Technologie in der ambulanten Intensivpflege. Im Vordergrund des Beitrags stehen der Entwurf, die Gestaltung und Evaluation

VIII

Vorwort

einer Pflegebrille. Es wird deutlich, dass in diesem Forschungsbereich aufgrund der Komplexität noch ein hoher Forschungsbedarf besteht. Neue Technologien werden in der Pflege durch frühzeitige Integration und Einbindung von Mitarbeitern akzeptiert und unterstützt. Der Beitrag von Bräunel und Häber geht der Frage nach, ob Wearables eine Zukunftstechnologie für die geriatrische Pflege darstellen. Es wird skizziert, dass technische Lösungen notwendig sind, um Pflegekräfte durch verfügbare Informationen zum Patienten zu unterstützen. Der Beitrag zeigt Lösungsmöglichkeiten auf und verweist darauf, dass zwingend ein einheitliches Datenformat zur Verarbeitung der Daten und eine neue Systemarchitektur zur Integration der Wearable-Daten in die pflegerische Versorgung erforderlich sind. Gemäß Schöttl birgt der technologische Fortschritt großes Potenzial für robotische Assistenzsysteme. Der größte Nutzen besteht bei Systemen, die mit autonomen Funktionalitäten ausgestattet sind. Am Beispiel eines Manipulatorarms für den Bereich des autonomen „Löffelns“ werden die wichtigsten Komponenten vorgestellt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass relativ kostengünstige Hardwarekomponenten zur Manipulation von Gegenständen zur Verfügung stehen und bestehende Systeme eine niedrige Autonomiestufe besitzen. Im vierten Beitragsblock wird die Brücke zum Thema „häusliche Versorgung“ geschlagen. Teich, Kretz, Neumann und Leonhardt richten das Augenmerk auf die Sektorkopplung von Gesundheit und Wohnen im intelligenten Quartier. Neue Technologien und Dienstleistungen sind ein wichtiges Bindeglied zwischen Angebot und Nachfrage. Smarte Quartiere bieten den Vorteil, dass Technologien beständig weiterentwickelt, optimiert und quartiersbezogene Dienstleistungen für Kunden angepasst werden können. Bei der Umsetzung und Implementierung müssen alle Ebenen berücksichtigt werden, um allen Anforderungen gerecht zu werden. In Beitrag neunzehn von Becker und Böckmann wird der Frage nachgegangen, wie eine Pflegeplattform zur Vernetzung von quartiersbezogenen Versorgungsstrukturen gestaltet sein sollte. Reale und digitale Strukturen werden aufgebaut und vernetzt. Anforderungen werden definiert und überprüft, um einsehen zu können, wie eine bedarfsgerechte Versorgung gestaltete sein sollte. Die Pflegeplattform wurde als Baukastensystem entwickelt, um Schnittstellen zwischen ambulanten und stationären Bereichen überbrücken und die Versorgungsqualität steigern zu können. Waldhör konzentriert sich in seinem Beitrag auf smarte Objekte. Es wird verdeutlicht, wie Smart Speaker und Smarthome die medizinische und pflegerische Versorgung zu Hause unterstützen können. Aus ihnen ergeben sich neue Geschäftsmodelle und neue Anwendungsmöglichkeiten im Gesundheitsbereich. Sprachbasierte Anwendungen mit intelligenten Dienstleistungen können individuell ausgerichtet, erweitert und kombiniert werden. Beim Einsatz sind datenschutz- und haftungsrechtliche Fragen zu klären.

Vorwort

IX

Beitrag einundzwanzig von Düttmann-Rehnolt, Schmidt, Halleck, Staeck, Roller, Högl, Lurz, Legge, Schaaf, Löser und Budde geht auf neuartige Kommunikationswege und Strukturen zur Optimierung der häuslichen Versorgung ein. Am Beispiel von nierentransplantierten Patienten werden die Erkenntnisse ihrer Arbeit vorgestellt. Zu den neuen Kommunikationswegen zählen beispielsweise ein Medical Allround Care Service System und ein Digital Allround Care Ecosystem, die von Experten durchgeführt werden, um die Versorgung und Lebensqualität von chronisch kranken Menschen zu steigern. Der letzte Beitragsblock thematisiert das Thema „Prävention“ und nimmt Bezug auf aktuelle Veränderungen. Beitrag zweiundzwanzig von Garrel und Thomas betrachtet Präventionsallianzen in einer digitalisierten Industrie. Sie heben hervor, dass Menschen zunehmend befähigt und unterstützt und das Arbeitsfeld so gestaltet werden muss, dass die Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft einer Belegschaft langfristig gesichert ist. Notwendige Empfehlungen müssen gemäß ihnen aus einem möglichst breit gefächerten Maßnahmenkatalog von Best Practices aufgebaut sein. Organisationale, personelle und soziale Ressourcen zum Aufbau müssen bereitgestellt werden. Buck, Burster, Sarikaya, Thimmel und Eymann widmen ihren Beitrag der digitalen Gestaltung innovativer Gesundheitsnetzwerke. Sie zeigen, wie durch nachhaltige Etablierung und effiziente Gestaltung ein wirkungsvolles Netzwerkmanagement betrieben werden kann. Sie halten fest, dass bei der strategischen Ausrichtung der Grad der Digitalisierung zu berücksichtigen und der Austausch zwischen Akteuren unerlässlich ist. Zu viele unterschiedliche Systeme können kontraproduktiv sein, daher müssen Patienten eingebunden und informiert werden. Der Beitrag von Scherenberg gibt einen Überblick über die Prävention via Lifelogging. Es werden Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Selbstvermessung aufgezeigt. Es kann festgehalten werden, dass z. B. Tracking-Apps sowohl unterstützend als auch kontrollierend von Nutzergruppen wahrgenommen werden können. Die zukünftige Forschung sollte dort ansetzen, wo sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten bestehen und sozial erwünschtes Verhalten durch die Kopplung mit bspw. Bonusprogrammen eingefordert wird. In Beitrag fünfundzwanzig von Houta, Kreuzer, von Spiczak, Stephani, Surges und Nass wird der Einsatz von Gesundheits-Apps und Sensormonitoring zur automatisierten Anfallsdetektion und -dokumentation bei Epilepsien untersucht. Im Rahmen des vorgestellten Projekts werden technische Innovationen für die Unterstützung epilepsieerkrankter Menschen entwickelt. Die Bedeutung von Gesundheitsinfrastrukturen, Gesundheits-Apps sowie die Sensorik bei der Identifikation von Biomarkern zur Anfallsdetektion werden aufgezeigt. In diesem Sammelband wird die digitale Transformation von Dienstleistungen aus fünf verschiedenen Themenperspektiven betrachtet. Die fünf Themenperspektiven gliedern sich in Digitalisierung und Datensicherheit, Telemedizin und E-Health, chronische

X Tab. 1  Zuordnung der Buchbeiträge zu Themenperspektiven. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

Vorwort Themenperspektive

Beitrag

Digitalisierung und Datensicherheit

1, 2, 3, 4, 5

Telemedizin und E-Health

6, 7, 8, 9, 10, 11

Chronische Erkrankungen und Pflege

12, 13, 14, 15, 16, 17

Häusliche Versorgung

18, 19, 20, 21

Prävention

22, 23, 24, 25

Erkrankungen und Pflege, häusliche Versorgung und Prävention. Die nachfolgende Übersicht zeigt exemplarisch und zur leichteren Einordnung für den Leser eine Zuordnung der Beiträge zu den fünf Themenperspektiven auf. Zu berücksichtigen ist, dass die Inhalte der Beiträge sich häufig nicht eindeutig auf eine Themenperspektive beschränken lassen, sondern auch eine Überlappung zu einer oder mehreren anderen Themenperspektiven vorliegen kann (Tab. 1). Die Beiträge der einzelnen Autoren in diesem Sammelband sind wie folgt zusammengestellt: Zusammenfassung, Gliederung, Anschrift, Einleitung, Hauptteil, Schluss, Literaturverzeichnis und Autorenbiografie. Die Ausführungen und Erkenntnisse der Beiträge werden von jedem Autor in einer Schlussbetrachtung am Beitragsende zusammengefasst. Im Anhang wird ein Stichwortverzeichnis bereitgestellt, das zum besseren Verständnis des Sammelbandes dienen und die gezielte Themensuche beschleunigen soll. Wir möchten uns bei den zahlreichen Autoren des Bandes bedanken, die viele aktuelle und spannende Themen aus Praxis und Wissenschaft in den Band eingebracht haben. Weiterhin möchten wir uns ganz herzlich an dieser Stelle bei Frau Kammann und Frau Schlomski bedanken, die uns bei der Erstellung des Sammelbandes sehr mit ihren Ideen und Ratschlägen unterstützt haben. Neu-Ulm im September 2018

Mario A. Pfannstiel Patrick Da-Cruz Harald Mehlich

Herausgeberverzeichnis

Mario A. Pfannstiel  ist Professor für Betriebswirtschaftslehre im Gesundheitswesen – insbesondere innovative Dienstleistungen und Services an der Hochschule Neu-Ulm. Er besitzt ein Diplom der Fachhochschule Nordhausen im Bereich „Sozialmanagement“ mit dem Vertiefungsfach „Finanzmanagement“, einen M.-Sc.-Abschluss der Dresden International University in Patientenmanagement und einen M.-A.-Abschluss der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität Witten/Herdecke im Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Die Promotion erfolgte an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und dem Lehrstuhl für Management, Professional Services und Sportökonomie der Universität Potsdam. An der Universität Bayreuth war er beschäftigt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strategisches Management und Organisation im Drittmittelprojekt „Service4Health“. Im Herzzentrum Leipzig arbeitete er als Referent des Ärztlichen Direktors. Seine Forschungsarbeit umfasst zahlreiche Beiträge, Zeitschriften und Bücher zum Management in der Gesundheitswirtschaft. Patrick Da-Cruz  ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen der HNU. Studium und Promotion erfolgten an den Universitäten Duisburg-Essen, Bayreuth und der Smurfit Graduate School of Business, Dublin. Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma/ Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig. Er ist regelmäßiger Referent auf Fachtagungen, Autor diverser Veröffentlichungen und engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Fachgesellschaften des Gesundheitswesens.

XI

XII

Herausgeberverzeichnis

Prof. Dr. Harald Mehlich  ist Dekan der Fakultät Gesundheitsmanagement an der Hochschule Neu-Ulm und Mitglied im Kompetenzzentrum „Vernetzte Gesundheit“. An der Universität Bamberg übernahm er die Leitung des BMBF-Forschungsprojekts „Virtuelle Unternehmens- und Arbeitsstrukturen im Kommunalbereich“. Er leitete zahlreiche Beratungs- und Evaluationsprojekte mit Schwerpunkt Computereinsatz in Produktion und Verwaltung. Beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), Stuttgart, arbeitete er an Projekten zur Einführung von Computern in Verwaltung und Produktion. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich IT-Vernetzung und Datenverarbeitung im Gesundheitswesen und Informations- und betriebliches Gesundheitsmanagement.

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Digitalisierung und Datensicherheit 1

Digital Health Maturity Index. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anja Burmann, Wolfgang Deiters und Sven Meister

2

Gesundheitsdaten und Digitalisierung – Neue Anforderungen an den Umgang mit Daten im Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kim Veit, Michael Wessels und Wolfgang Deiters

3

Digital Health Literacy – Thesen zu Konzept und Förderungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Silja Samerski und Hardy Müller

4

Bewertungsportale im Internet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ulrich Franz

5

Digitalisierung, Big Data und Big To-dos aus Sicht der Rechtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Heinrich Hanika

Teil II  Telemedizin und E-Health 6

Vom Projekt in die Versorgung – Wie gelangen telemedizinische Anwendungen (nicht) in den Versorgungsalltag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Bianca Lehmann und Eva-Maria Bitzer

7

Präferenzanalytische Untersuchung von Chancen durch Digitalisierung für eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung mittels elektronischer Patientenakte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Matthias J. Kaiser und Jennifer Fränken

XIII

XIV

Inhaltsverzeichnis

8

Medizinischer Unterversorgung im Vogtland mittels Telemedizin aktiv begegnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Linda Weichenhain, Daniel Schiffer, Maximilian T. Schwiercz und Anke Häber

9

Multimodale Schmerztherapie mit E-Health. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Janosch A. Priebe, Katharina K. Haas, Linda L. Kerkemeyer, Christine Schiessl und Thomas R. Tölle

10 E-Health-Lösungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Afrika – Machbarkeitsstudie einer M-Health-Lösung für Diabetespatienten in Kamerun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Felix Holl 11 Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung – Eine Schweizer Fallstudie zur Einbeziehung von Stakeholderpräferenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Alexander Mertes, Lyn E. Pleger und Gabriel Trinkler Teil III  Chronische Erkrankungen und Pflege 12 Die digitale Pille für chronische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Tobias Kowatsch, Doris Fischer-Taeschler, Fabian Putzing, Pius Bürki, Christoph Stettler, Gabriella Chiesa-Tanner und Elgar Fleisch 13 Intelligentes Diagnose- und Therapiemanagementkonzept mit einem digitalen Avatar durch Integration von Vitalparametern und genomischen Daten am Beispiel des Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . 233 Kurt Becker 14 Elisabeth Brönnimann und ihr Weg durch das Gesundheitssystem – Digitale Transformation aus Patientensicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Kerstin Denecke, Serge Bignens, Thomas Bürkle, Sang-Il Kim, Michael Lehmann, Stephan Nüssli, Murat Sariyar und Jürgen Holm 15 Die Pflegebrille – Möglichkeiten und Barrieren der Nutzung von Augmented-Reality-Technologie in der ambulanten Intensivpflege. . . . . . . . 281 Michael Prilla, Heinrich Recken und Marc Janßen 16 Wearables – Zukunftstechnologie für die geriatrische Pflege?. . . . . . . . . . . . 311 Bastian Bräunel und Anke Häber 17 Auf dem Weg zu intelligenten Assistenzsystemen am Beispiel eines Manipulatorarms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Alfred Schöttl

Inhaltsverzeichnis

XV

Teil IV  Häusliche Versorgung 18 Sektorkopplung von Gesundheit und Wohnen im intelligenten Quartier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Tobias Teich, Daniel Kretz, Tim Neumann und Sven Leonhardt 19 PiQ – eine Pflegeplattform zur Vernetzung quartiersbezogener Versorgungsstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Matthias Becker und Britta Böckmann 20 Smarte Objekte – Wie Smart Speaker und Smarthome die medizinische und pflegerische Versorgung zu Hause unterstützen werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Klemens Waldhör 21 Neuartige Kommunikationswege und Strukturen zur Optimierung der häuslichen Versorgung am Beispiel von nierentransplantierten Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Wiebke Düttmann-Rehnolt, Danilo Schmidt, Fabian Halleck, Oliver Staeck, Roland Roller, Martin Högl, Gero Lurz, Philipp Legge, Thorsten Schaaf, Alexander Löser und Klemens Budde Teil V  Prävention 22 Präventionsallianzen in einer digitalisierten Industrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Jörg von Garrel und Simone Thomas 23 Digitale Gestaltung innovativer Gesundheitsnetzwerke – Erfolgreiches Netzwerkmanagement im Gesundheits- und Dienstleistungssektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Christoph Buck, Simone Burster, Serkan Sarikaya, Julia Thimmel und Torsten Eymann 24 Prävention via Lifelogging – Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Selbstvermessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Viviane Scherenberg 25 Einsatz von Gesundheits-Apps und Sensormonitoring zur automatisierten Anfallsdetektion und -dokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Salima Houta, Johannes Kreuzer, Sarah von Spiczak, Ulrich Stephani, Rainer Surges und Robert D. Nass Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

Teil I Digitalisierung und Datensicherheit

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Digital Health Maturity Index Analyse des Digitalisierungsgrades im Krankenhaus Anja Burmann, Wolfgang Deiters und Sven Meister

Inhaltsverzeichnis 1.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Related Work. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2.1 Referenzmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.2.2 Reifegradmodellierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2.3 Reifegradmodelle im Krankenhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3 Digitale Reife im Krankenhaus 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3.1 Strategische Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3.2 Changemanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.3.3 Digitalisierungsdimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3.4 Zusammenführung der Teilmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3.5 Chancen der multiperspektivischen Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

A. Burmann (*) · S. Meister  Fraunhofer-Institut für Software und Systemtechnik, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Meister E-Mail: [email protected] W. Deiters  Hochschule für Gesundheit, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_1

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A. Burmann et al. Zusammenfassung

Krankenhäuser innerhalb des Megatrends „Digitalisierung“ zukunftsfähig aufzustellen und dem wachsenden Kostendruck zu begegnen, ist aktuell die Herausforderung des deutschen Gesundheitswesens. Ansätze der Prozessdigitalisierung, -automatisierung und -dezentralisierung produzierender Unternehmen auf dem Weg zur Industrie 4.0 bieten Chancen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Um ein Haus oder einen Verbund erfolgreich in ein digitales Krankenhaus zu transformieren, ist es essenziell, Transparenz über den Ausgangszustand herzustellen sowie die für diesen Prozess relevanten Organisations- und Betrachtungsebenen und deren Entwicklungsstände zu kennen. Das Fraunhofer ISST nimmt verschiedene Perspektiven ein und führt diese innerhalb des Digital Health Maturity Index zu einem Status quo bezüglich der aktuellen Digitalisierung eines Krankenhauses zusammen und gibt gleichzeitig Aufschluss über die Fähigkeit zur zukünftigen Erschließung der Potenziale digitaler Prozessunterstützung.

1.1 Einleitung Während die vorangegangenen industriellen Revolutionen erst in der historischen Betrachtung als solche benannt wurden, prägt die Bundesregierung mit verschiedenen Programmen, Untersuchungen und Empfehlungen seit 2011 prospektiv eine Vision der vierten Evolutionsstufe produzierender Prozesse (Bundesministerium für Bildung und Forschung – BMBF 2018; Bauernhansl 2014, S. 5–35). Nach der Massenproduktion durch mechanische Produktionsanlagen, der arbeitsteiligen Produktion an Fließbändern sowie der Nutzung von speicherprogrammierbarer Elektronik als zentrale Steuerungskomponente von Produktionsprozessen (Bauernhansl et al. 2014) soll durch die Integration maschineller Intelligenz in Produkte, Maschinen und Anlagen ein sich automatisch rekonfigurierender und selbst optimierender Produktionsfluss erzielt werden. Durch die Vernetzung und autonome, dezentrale Organisation cyberphysischer Systeme (CPS) untereinander soll eine automatische Anpassung an wechselnde Auftrags- und Betriebsbedingungen und somit eine Massenindividualisierung ermöglicht werden. Schlüsselelemente für diesen Paradigmenwechsel sind eine dezentrale Steuerung, die Ausstattung aller beteiligten Systeme mit einer gewissen Form der Intelligenz und der Fähigkeit, innerhalb eines definierten Geltungsbereiches eigenständig Entscheidungen zu treffen, sowie eine durchgängige und ganzheitliche Digitalisierung von Kommunikations- und Produktionsprozessen. Die an die Leistungserbringung im Gesundheitswesen angelegten Anforderungen sind mit denen der industriellen Produktion nur bedingt vergleichbar: Die Ökosysteme unterscheiden sich fundamental in ihren Rahmenbedingungen. Trotzdem können die aktuellen Bestrebungen der Industrie und der angestrebte Zustand innerhalb einer „Industrie 4.0“ wertvolle Erkenntnisse und Optionen auch für den Bereich Krankenhaus und d­ essen

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spezifische Herausforderungen liefern (vgl. Bredehorn et al. 2017). Um den steigenden Anforderungen an die Kostentransparenz und Effizienz von Versorgung im Sektor Krankenhaus zu begegnen, wurde lange auf die Standardisierung variantenarmer, hochvolumiger Behandlungsschemata gesetzt (Pham 2009). Diese Bestrebung vernachlässigt nicht nur die Individualität von Patienten und die sich dadurch ergebende Notwendigkeit der Dynamik in der Aneinanderreihung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, die sich angesichts des demografischen Wandels und der vermehrten Häufigkeit von Multimorbiditäten im Alter weiterhin steigern wird (Scheidt-Nave et al. 2010). Sie stellt einerseits eine Lücke zwischen angestrebter und kommunizierter Arbeitsorganisation zu der tatsächlichen Ausführungsebene dar und trägt andererseits sogar zusätzlich zur Entfernung der Prozessorganisation im Ökosystem Krankenhaus von der gelebten Realität bei. Diese Diskrepanz zwischen managementseitig auferlegten Standardisierungsbestrebungen und den Anforderungen, die der Krankenhausalltag an die Mitarbeiter stellt, führt zu Vermeidungs- und Umgehungsstrategien des ausführenden Personals bezüglich definierter Verfahrensanweisungen. Zur Unterstützung der operativen Ebene bedarf es vielmehr einer Organisationsform von Krankenhausprozessen, die Individualität als inhärentes Merkmal der Leistungserbringung anerkennt und sowohl Dynamik als auch Reaktionsgeschwindigkeit bei der Auswahl geeigneter, fallspezifischer Maßnahmen unterstützt. Es ist also nicht erheblich, auf welcher Evolutionsstufe die Art der Erbringung von Leistungen im Gesundheitswesen sich derzeit analog zu den industriellen Revolutionen befindet, sondern wie und was das Ökosystem Krankenhaus, unter Anerkennung entscheidender Unterschiede zwischen den Domänen, von den Ansätzen der Prozessdigitalisierung mit dem Ziel der Individualisierung produzierender Prozesse im Bereich Industrie 4.0 lernen kann. Zentrale Erkenntnis aus den Forschungsansätzen im Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Bundesministerium für Bildung und Forschung – BMBF 2014) ist, und das ist für die Anwendungsdomäne Gesundheit wahrscheinlich noch zutreffender als im industriellen Kontext, dass die Reduktion auf eine technologische Aufrüstung dem Ausmaß des Wandels nicht gerecht wird. Dieser betrifft vielmehr eine ganzheitliche Restrukturierung der verschiedenen Ebenen eines Unternehmens: Geschäftsmodell, Strategie, Organisation, Steuerung, Prozesse, aber auch Kultur, Mitarbeiter sowie die Kollaboration und Interaktion zwischen Mensch und Technik. Auch den Wandel als Transformation, also als zeitlich bestimmten Übergangsprozess mit einem definierten Ziel, zu beschreiben, trifft nicht ausreichend die Agilität des angestrebten Zielzustandes. Entwicklungszyklen werden kürzer, digitale Kommunikationsformen und die Möglichkeiten zur „Vermessung“ des Lebens verändern und erweitern sich und finden vor allem im privaten Bereich schnell Anwendung. Auch die Art der Erbringung von Dienstleistungen, digitale und hybride Angebote, ganze Geschäftsmodelle, wie auch die Erbringung von Leistungen im Gesundheitssektor unterliegen diesem ständigen Wandel. Folglich ist das „digitale Krankenhaus“ ähnlich wie das „digitale Unternehmen“ kein statischer Zustand auf Basis des aktuellen Stands der Technik, sondern die Fähigkeit, sich

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immer schneller wandelnden Umgebungsbedingungen (Meister et al. 2017) zu begegnen und sich innerhalb dieser immer wieder neu aufzustellen und etablierte Arbeitsweisen dafür ggf. neu zu strukturieren. Ähnlich wie im Bereich der Industrie 4.0 ist es für das Krankenhaus 4.0 für die digitale Unterstützung von Prozessen essenziell, Arbeitsprozesse und Patientenflüsse neu zu gestalten. Um diese Umstrukturierung aus dem laufenden Betrieb heraus realisieren zu können, muss Transparenz über die bestehenden Abläufe, Abhängigkeiten, Verantwortlichkeiten, Kapazitäten, Ressourcen und Engpässe entweder bereits bestehen oder geschaffen werden.

1.2 Related Work Referenz- und deren Subgruppe „Reifegradmodelle“ beschäftigen sich mit der Erhebung, Darstellung und Abstraktion von Istzuständen innerhalb verschiedener Betrachtungsdomänen unter Berücksichtigung damit einhergehender spezifischer Zusammenhänge und können somit zu der Schaffung von Transparenz über den Ausgangszustand eines Unternehmens oder Krankenhauses mit dem Ziel der digitalen Transformation beitragen. Im Folgenden werden diese Formen der Modellierung und deren Nutzen für Organisationen im Wirtschaftsraum sowie im Gesundheitswesen beschrieben.

1.2.1 Referenzmodelle Bei der Gestaltung und Organisation von Unternehmen steigt mit wachsender Größe auch die Komplexität. Modelle können als formale Basis Sachverhalte abstrahieren, zielgerichtetes Gestalten beschreiben und damit unterstützen, dieser Komplexität zu begegnen. Dabei dienen Modellierungen innerhalb der Wirtschaftsinformatik überwiegend der Unterstützung von Gestaltung, haben einen starken Praxisbezug und sind, im Gegensatz zu beschreibenden Modellen beispielsweise im Bereich der Naturwissenschaften, nicht wertfrei (Rosemann 1996). Noch einen Schritt weiter als die bloße Abstraktion von allgemeinen aus speziellen Zusammenhängen in Form einer Modellierung geht das „Referenzmodell“. Dieses stellt, wie der Begriff „Referenz“ bereits suggeriert, ein Bezugssystem mit definierten Eigenschaften als Vergleich und damit formalisiert eine Best Practice dar (Scheer 1992). Allgemein wird dieser Bezug, oder die namensgebende „Referenz“, vielmehr als Handlungs- oder Designempfehlung wahrgenommen und zur Gestaltung von Organisationen oder Szenarien in vergleichbaren Umgebungsbedingungen herangezogen. Die Gültigkeit von Referenzmodellen kann jedoch nicht als gänzlich unabhängig von der modellgebenden Domäne bezeichnet werden, weshalb eine Adaption und Anwendbarkeit auf ein nicht an der Modellerstellung beteiligtes Szenario im Einzelfall kritisch geprüft werden müssen (Mettler 2010).

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1.2.2 Reifegradmodellierung Innerhalb der Gruppe der Referenzmodelle stellen Reifegradmodelle eine Subgruppe dar, die sich der Beschreibung, Erfassung und Einordnung von verschiedenen Entwicklungsstufen von Organisationen oder Prozessen widmen (vgl. Gibson und Nolan 1974). Breitere Bekanntheit erlangte das als Ursprungswerk geltende Capability Maturity Model (CMM) von Watts Humphrey, das ein Framework zur Einordnung der Reife von Softwareentwicklungsprozessen und -organisationen bereitstellt und Bereiche zur Optimierung identifiziert und priorisiert (Humphrey 1988). Es wurde später vielfach auch zur Modellierung von Geschäftsprozessen und als Basis der Reifegradmodellierung in anderen Branchen verwendet. Dieses, wie auch viele der darauf aufbauenden Reifegradmodelle, definiert den Begriff „Reife“ als das Ausmaß, in dem ein Prozess explizit definiert, gemanagt, gemessen, kontrolliert und effektiv ist. Damit muss der Gegenstand einer Reifegraderhebung innerhalb dieses Konzeptes stets Bezug auf einen oder mehrere Prozesse nehmen. Ausprägungsstufen können nach Humphrey ad hoc ausgeführte Prozesse sein, Prozesse die wiederholbar, definiert, gemanagt oder optimiert sind. Die genannten Reifegradstufen sind in Abb. 1.1 exemplarisch dargestellt. „Reife“ betrifft in einer ganzheitlichen Betrachtung darüber hinaus jedoch auch technologische, kulturelle und verhaltensbezogene Aspekte. Einige Modelle berücksichtigen diesen Umstand, wie zum Beispiel Klimko, der in seinem Ansatz Reife als Ausprägungsgrad der menschlichen Fähigkeit, Wissen zu generieren und zu managen, auslegt

Abb. 1.1   Prozessreifegrade nach Humphrey. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

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(Klimko 2001). Er beschreibt darin fünf aufeinander aufbauende Ausprägungsstufen, die von Level 1 „Initial“ über Level 2 „Wissensentdecker“, Level 3 „Wissenserschaffer“, Level 4 „Wissensmanager“ bis zu Level 5 „Wissenserneuerer“ reichen. Diese Reifegradstufen sind eng angelehnt an die Prozessreifegrade von Humphrey, beziehen sich aber konkret auf kulturelle und verhaltensbezogene Faktoren. Sie formalisieren den Umgang mit einem Mangel an Wissen, dem Umgang mit Wissensquellen sowie die Verbreitung und Bereitstellung innerhalb einer gesamten Organisation. Einige der seit der Postulierung der Vision „Industrie 4.0“ entwickelten Reifegradmodelle nehmen sich nun dieser konkreten Thematik an und erfassen und bewerten die Reife von Organisationen und Unternehmen speziell hinsichtlich der Fähigkeit, Industrie-4.0-Prozesse abzubilden. Eine Gruppe um Bischoff hat 2015 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie die Potenziale von Industrie 4.0 für den Mittelstand untersucht und im Rahmen dessen die technischen Reifegrade von Einzeltechnologien in zehn „Technology Readiness Level“ eingeordnet (Bischoff et al. 2015). Bei den betrachteten Einzeltechnologien handelt es sich um die Felder Kommunikation, Sensorik, Mensch-MaschineSchnittstelle, Software- und Systemtechnik, eingebettete Systeme, Standard und Normung sowie Aktorik. Für die Fähigkeit zur Realisierung einer Gesamtanwendung sollten sich die Technologielevel der einzelnen Felder den Autoren nach auf einem annähernd gleichen Niveau befinden. Der Ansatz von Schuh et al. im „Industrie 4.0 Maturity Index“ (Schuh et al. 2017) wiederum betrachtet die vier Strukturbereiche eines Unternehmens Ressourcen, Informationssysteme, Kultur und Organisationsstruktur, benennt spezifische Fähigkeiten oder Voraussetzungen, die für eine agile Produktion notwendig sind, und kombiniert diese Reifegradstufen mit denen der Funktionsbereiche Entwicklung, Produktion, Logistik, Service, Marketing und Sales. Zusammengeführt wird diese Kombination in einem von sechs Reifegradstufen, welche von Computerisierung über Konnektivität, Sichtbarkeit, Transparenz und Prognosefähigkeit in der höchsten Stufe Adaptierbarkeit münden. Das erklärte Ziel ist dabei, aus Daten zur Entscheidungsunterstützung heranziehbare Informationen zu generieren, um dadurch agile Anpassungen von Prozessen in den genannten Unternehmensbereichen zu ermöglichen. Diese Ansätze bieten eine Orientierung zur Erhebung von Reifegraden im industriellen Bereich, teilweise mit speziellem Fokus auf der Evolutionsstufe und Entwicklungsfähigkeit in Bezug auf die Industrie 4.0. Wie jedoch bereits in Abschn. 1.2.1 angedeutet ist die Domänenunabhängigkeit von Referenz- und Reifegradmodellen kritisch zu betrachten beziehungsweise eine Adaptierbarkeit auf ein nicht innerhalb der Reifegraderstellung betrachtetes Anwendungsfeld oder Szenario im Einzelfall zu prüfen. Aktuell existieren daher verschiedene Vorhaben und auch etablierte Ansätze, Reife, insbesondere im Sinne des digitalen Krankenhauses oder analog zur Industrie 4.0 des Krankenhauses 4.0, erfassbar zu machen.

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1.2.3 Reifegradmodelle im Krankenhaus Die Healthcare Information and Management Systems Society (HIMSS) hat mit dem „Electronic Medical Report Adoption Model“ (EMRAM) im Krankenhaussektor ein Benchmarkingmodell etabliert, das weltweit Anwendung findet (HIMSS Analytics 2017). Dieses stellt den Fortschritt der Integration einer elektronischen Patientenakte in den Krankenhausbetrieb anhand eines achtstufigen Modells dar. Für das Erreichen einer Stufe muss das entsprechende Niveau dabei über verschiedene Kriterien hinweg erfüllt sein. Die das Modell in Europa betreibende GmbH HIMSS Analytics sieht darin neben einem globalen Standard, der Variationen nach Region oder Kontinent nicht berücksichtigt, auch eine „strategische Roadmap zur effektiven Einführung und Nutzung einer elektronischen Patientenakte“ (Studzinski 2017). Der Fokus auf dem Thema der papierlosen Dokumentation sowie der Integration der Daten über die verschiedenen Funktionsbereiche eines Krankenhauses hinweg ist im Hinblick auf eine internationale Vergleichbarkeit nachvollziehbar. Dies vernachlässigt aber neben innerhalb der im industriellen Kontext angewandten Reifegradmodelle aufgegriffenen Aspekten wie Strategie, Kultur, Mitarbeiter oder Organisation ebensolche regionalen Besonderheiten, welche Auswirkungen auf die Ziele eines einzelnen Hauses und damit auch auf die Implementierung und den Durchdringungsgrad der abgefragten Kategorien haben können. Die Untersuchung von Bräutigam et al. (Bräutigam et al. 2017) greift diese Kritikpunkte auf und untersucht einmal die Hintergründe der Motivation für eine Digitalisierung im Krankenhaus, die dadurch betroffenen Organisationsbereiche sowie die Art des Einflusses auf diese. Durch eine quantitative Befragung innerhalb von zwei Betriebsrecherchen werden der Einsatz digitaler Technologien in Krankenhäusern, die Bedingungen der Implementierung, die Auswirkung auf die Arbeit der Beschäftigten sowie begleitende strategische Überlegungen aus der Perspektive des Managements mit Fokus auf dem deutschen Gesundheitswesen erhoben. Beide Fallstudien kommen zu dem Ergebnis, dass die strategische Entscheidung zur Implementierung einer Digitalisierungsinitiative mit den Zielen Qualitätsverbesserung, Kostensenkung, Vernetzung und mittelfristig der Kompensation des Fachkräftemangels begründet wird, die in den meisten Fällen vom Management, in Einzelfällen aber auch von einzelnen Beschäftigtengruppen ausgeht. Die Einführung findet in der Regel top-down statt, wobei vermutet wird, dass damit einhergehende Veränderungen von der Mitarbeiterschaft abgelehnt werden. Generell wird angemerkt, dass eine Implementierung langwierig und schwierig ist. Eine Einbindung der Beschäftigten durch geeignete Schulungsmaßnahmen ist unerlässlich. Eine Ableitung von Reifegradstufen findet innerhalb der Untersuchung nicht in expliziter Form statt, zumindest die Notwendigkeit zur aktiven Einbindung betroffener Gruppen von Mitarbeitern, Professionen sowie Interessensgruppen und deren Vertreter wird als solche aber formuliert. Die Datenbasis des EMRAM-Modells zeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich in der Einführung einer digitalen Akte zurückliegt. Hieran offenbart sich ein massiver Nachholbedarf. Die Digitalisierung von Krankenhausprozessen wird, wie im

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HIMSS-Modell beschrieben, vielfach auf die digitale Abbildung medizinischer Dokumentation reduziert, was mit der Integration einer elektronischen Aktenform gleichgesetzt wird. Dies wird der Komplexität und der Bandbreite an Auswirkungen der Digitalisierung auf das Ökosystem Krankenhaus jedoch nicht vollends gerecht. Durch eine erhöhte Datenverfügbarkeit ergeben sich neue Steuerungsoptionen von sowohl primär als auch sekundär an der Leistungserbringung beteiligten Prozessen. Um dieses Potenzial zu erschließen, Arbeit und Gesundheit digital zu unterstützen sowie Ressourcen bedarfsgerecht bereitzustellen, bedarf es eingangs einer strategischen Auseinandersetzung mit den Potenzialen der Digitalisierung, einer durch alle Ausführungsebenen getragenen Vision sowie einer Strategie zu deren kontinuierlichen Weiterentwicklung.

1.3 Digitale Reife im Krankenhaus 4.0 Um eine solche Vision und Weiterentwicklungsstrategie zu entwickeln, aber auch technische Potenziale aufzudecken, muss Transparenz über den Ausgangszustand hergestellt werden. Hieraus sowie aus der Zielsetzung eines einzelnen Hauses lassen sich operative und strategische Handlungsfelder ableiten und priorisieren. Um den Ausgangsstand, den digitalen Reifegrad eines Krankenhauses, über mehr Kategorien als die reine Datenintegration und -verfügbarkeit zu erfassen und innerhalb der Untersuchung von Bräutigam et al. identifizierte sowie in Abschn. 1.2.3 genannte Aspekte zu konzeptualisieren, betrachtet das Fraunhofer ISST dafür innerhalb verschiedener Teilmodelle unterschiedliche, relevante Blickwinkel. Diese bieten einzeln, innerhalb des jeweiligen Geltungsbereiches, eine Erhebung des Istzustandes in einem Krankenhaus sowie die Möglichkeit, Entwicklungspotenzial zu identifizieren. In ihrer Kombination und aus einer Gegenüberstellung heraus wiederum kann eine Roadmap zur Digitalisierung eines Hauses oder eines Verbundes abgeleitet werden, die zu konkreten Ansatzpunkten, kommenden Schritten sowie einer zeitlichen Dimensionierung einzelner Maßnahmen, aber auch der gesamtheitlichen Transformation zu einem agilen Krankenhaus/-verbund führen kann. Die einzelnen Teilmodelle lassen sich in drei Betrachtungsblickwinkeln zusammenfassen und werden in den nachfolgenden Abschnitten dezidiert aufgeschlüsselt: • Strategische Zielsetzung: aktuelle und zukünftige Strategien und konkrete Maßnahmen eines Krankenhauses oder eines Zusammenschlusses zur eigenen Positionierung innerhalb eines spezifischen Umfeldes und der damit einhergehenden Umgebungsund Wettbewerbsbedingungen • Changemanagement: Konzepte und Maßnahmen zur Beobachtung, Evaluation und Implementierung neuer digitaler Technologien sowie zur Beteiligung betroffener Personengruppen von ggf. Veränderungen ausgesetzten Arbeitsprozessen und deren Einflussnahme auf die Integration neuer Technologien und auf notwendige Prozessneugestaltungen

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• Digitalisierungsdimensionen: aktueller, innerhalb eines Hauses oder Verbundes vorhandener Technikstandard zur digitalen Prozessunterstützung der Krankenhausbereiche medizinische Prozesse, logistische oder zuliefernde Prozesse, betriebswirtschaftliche Betrachtung und Steuerung sowie um den Menschen, d. h. um die Mitarbeiter und die Patienten, gelagerte Qualifizierungs- und Befähigungsprozesse

1.3.1 Strategische Zielsetzung Im Rahmen der strategischen Zielsetzung wird einerseits die Einbettung in das regionale wie auch überregionale Umfeld und den bestehenden Wettbewerb betrachtet. Unterschiedliche Rahmen- und Wettbewerbsbedingungen führen unter Umständen zu verschiedenen Prioritäten in der Zielsetzung. So muss ein Haus im Ballungsraum Nordrhein-Westfalen gegebenenfalls andere Maßnahmen in der Zuweiserbindung oder dem Direktmarketing ergreifen als ein Haus im ländlichen Bereich mit keinem vergleichbaren Konkurrenten im näheren Umkreis. Ähnliches kann sich zum Beispiel im Vergleich eines Maximalversorgers mit einer hoch spezialisierten Fachklinik oder bei der Betrachtung zweier Fachkliniken mit einem unterschiedlichen fachlichen Fokus ergeben. Weiterhin stehen konkrete Strategien des Krankenhauses zur mittel- bis langfristigen Entwicklung und Positionierung im Fokus der Analyse.

1.3.2 Changemanagement Die Betrachtungsebene Changemanagement beschäftigt sich mit der Fähigkeit eines Hauses, sich auf wandelnde Umgebungsbedingungen einzustellen. Der Teilbereich umfasst die systematische Aufstellung, Optionen eines sich immer schneller weiterentwickelnden Standes der Technik hinsichtlich der Potenziale für die eigenen Arbeitsprozesse zu beobachten, zu bewerten und ggf. für sich zu nutzen. Die Einstufung dieser Fähigkeit geht auf die bereits in Abschn. 1.2.2 dargestellte Modellierung von Humphrey mit ihrem speziellen Bezug zur „Reife“ von Softwareentwicklungsprozessen, die sich ebenso gut auf Organisationen anwenden lässt, zurück. Sein Reifegradmodell lässt sich herunterbrechen auf die Art, Wiederholbarkeit und Steuerung der Ausführung von Arbeitsprozessen. Die durch Humphrey definierten Reifegradstufen (siehe auch Abb. 1.1) reichen über fünf Stufen und sind im Folgenden einzelnen dargestellt. • Stufe 1: „Ad hoc“ bedeutet einzelne Personen führen ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen durch. • Stufe 2: „repeatable“, d. h., es existiert ein impliziter Konsens zwischen den Ausführenden und Arbeitsschritte sowie Prozesse sind wiederholbar. • Stufe 3: „defined“, d. h., der Konsens über Arbeitsschrittausführungen und Prozesse ist nicht implizit, sondern schriftlich festgehalten, was ein strukturiertes Anlernen neuer Arbeitskräfte oder die organisationsweite Veränderung von Prozessen erlaubt.

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• Stufe 4: „managed“, d. h., über die schriftliche Fixierung hinaus existiert ein organisationsweit verankertes Vorgehen zur Beobachtung und Verbesserung von Prozessen. • Stufe 5: „optimized“, d. h., die Beobachtung und Verbesserung von Prozessen wird durch ein definiertes Überwachungs- oder Kennzahlensystem ergänzt, um Prozesse und deren Änderungen transparent bewerten und kontrollieren zu können. Neben der Prozessreife nach Humphrey sind innerhalb dieses Teilmodells weiterhin die Art und Ausprägung der Beteiligung relevanter Interessens- und betroffener Beschäftigungsgruppen an eingangs genannten Screening-, Evaluations- und Implementierungsprozessen sowohl des eigenen Technikstandards als auch von Neuentwicklungen am Markt von zentraler Bedeutung. Die Identifikation mit dem Arbeitsprozess im Krankenhaus und damit einhergehend der Einsatz dafür ist, wie auch in vielen anderen Tätigkeits- und Lebensbereichen, abhängig vom Gefühl des Empowerment der darin beschäftigten Personen. Eine hohe Durchdringungsrate neuer Technologien und die erfolgreiche Umgestaltung von etablierten Arbeitsabläufen scheitern häufig an übergangenen Personengruppen und einer daraus resultierenden natürlichen Abwehrhaltung. Um Vermeidungs- und Umgehungsstrategien auf der Seite der Prozessausführenden vorzubeugen, ist es daher essenziell, betroffenen Anwendern ein Gefühl der Selbstbestimmung und Mitgestaltung neuer Abläufe und Strukturen zu vermitteln. Dieses kann nur gelingen, wenn alle beteiligten Personengruppen hinreichende Kompetenzen besitzen, um die Technologien wie auch deren Implikation auf ihre Arbeitsprozesse zu verstehen und zu bewerten. Somit ist die Schaffung einer digitalen Gesundheitskompetenz, die über die durch Kickbusch beschriebene Fähigkeit zur Verarbeitung von Gesundheitsinformationen, die „Digital Health Literacy“ (Kickbusch 2001), hinausgeht, eine zentrale Managementaufgabe für eine aktive Partizipation von Mitarbeitern am digitalen Transformationsprozess wie auch für eine souveräne Nutzung digitaler Produkte in einer umgestalteten, effektiven Arbeitswelt.

1.3.3 Digitalisierungsdimensionen Innerhalb der dritten Betrachtungsebene „Digitalisierungsdimensionen“ wird auf technologischer Ebene der Status quo innerhalb verschiedener Prozessbereiche eines Krankenhauses erfasst. Die betrachteten Dimensionen sind unter medizinischen Prozessen, Logistikprozessen, der Dimension Mensch sowie dessen Fähigkeiten und Maßnahmen zur Weiterentwicklung und Befähigung zum Umgang mit einer Digitalisierung seiner Arbeitswelt sowie der betriebswirtschaftlichen Betrachtungsebene eines Krankenhauses zusammengefasst. Die erfassten Dimensionen sind, in Kombination mit zwei exemplarischen Ergebnissen für betrachtete Häuser, in Abb. 1.2 dargestellt. Ebenso wie innerhalb des in Abschn. 1.3.2 beschriebenen Changemanagements ist der Einbezug der Dimension Mensch in den Umfang einer Reifegraderhebung im Bereich der konkreten

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Abb. 1.2   Verbundvergleich innerhalb der betrachteten Digitalisierungsdimensionen. (Quelle: Deiters et al. 2018)

Prozessausführung und deren technischer Unterstützung essenziell. Die Befähigung von Mitarbeitern und Patienten, digitale Prozesse auszugestalten, kann und sollte wiederum digital unterstützt werden. Das Vorhandensein dahin gehend unterstützender Systeme wird innerhalb der Betrachtungsebene Digitalisierungsdimensionen erhoben. Die Erhebung dieses Teilmodells geht also auf die tatsächliche Implementierung technischer Assets nach aktuellem Stand der Technik und Wissenschaft zur digitalen Prozessunterstützung innerhalb der genannten Dimensionen ein. Damit unterliegt dieses Teilmodell unter den genannten drei der höchsten Vulnerabilität gegenüber der Zeit. Ebenso wie an ein Krankenhaus innerhalb des Teilmodells Changemanagement der Anspruch der Agilität gegenüber einem sich wandelnden Umfeld angelegt wird, verändert sich der innerhalb der Digitalisierungsdimensionen zugrunde gelegte Stand der Technik, sodass eine Anpassung der erhobenen Parameter in regelmäßigen Abständen geprüft werden muss.

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1.3.4 Zusammenführung der Teilmodelle Eine Erhebung des vorhandenen Technikstandards im Bereich der Digitalisierungsdimensionen, worin konkret Bezug genommen wird auf die digitale Prozessunterstützung und -steuerung, kann für ein einzelnes Krankenhaus bereits den Vorteil bieten, dass die innerhalb von Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit internationalen Leuchtturmprojekten und in Zusammenarbeit mit maßgebenden Vorreitern im deutschen Gesundheitswesen gesammelten Erfahrungen von Fraunhofer im Bereich der Krankenhausdigitalisierung konzentriert aufbereitet einen Aufschluss über die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der aktuellen technischen Marktsituation bieten. Dies erlaubt einen Einblick in die innerhalb dieser Projekte als relevant für eine erfolgreiche Transformation von Arbeits- und Behandlungsprozessen identifizierten aktuellen technischen Systeme zur digitalen Prozessunterstützung. Darüber hinaus kann der genannte Punkt für einen Krankenhausverbund den zusätzlichen Mehrwert bieten, dass innerhalb eines Vergleichs der erfassten Häuser Potenziale zwischen den Teilnehmern aufgedeckt werden und durch eine Diffusion der bereits vorhandenen Kompetenzen durch den Verbund häuserübergreifend relativ aufwandsarm erschlossen und genutzt werden können. In Abb. 1.2 sind die Ausprägungen der innerhalb der vier Digitalisierungsdimensionen erhobenen Parameter zweier verschiedener Häuser dargestellt. Die dazwischen bestehenden Potenziale auszugleichen, kann ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg von dezentraler, punktueller Digitalisierung zu einem gesamtheitlichen Ansatz sein. Dieses Szenario ist vor allem für Verbünde ohne starre Vorgaben und Richtlinien mit Entscheidungs- und Gestaltungsfreiräumen der Mitgliedshäuser von gewinnbringendem Vorteil. Für ein einzelnes Krankenhaus wie auch für einen Verbund mehrerer Häuser ergibt sich das größte Erkenntnispotenzial durch die Zusammenführung der einzelnen Teilmodelle. Hierdurch eröffnet sich nicht nur ein Aufschluss über die, wie oben bereits genannt, in Beteiligungen von Fraunhofer in internationalen Entwicklungsprojekten als relevant für ein digitales Krankenhaus identifizierten Schlüsseltechnologien, sondern auch über damit einhergehend notwendige ergänzende Schlüsselkompetenzen im Bereich der Organisation, Kultur und Mentalität. Durch die Ergebnisse der strategischen Zielsetzung lassen sich die innerhalb der Digitalisierungsdimensionen betrachteten Aspekte und Prozesse priorisieren und gewichten, im Zweifel aber auch aus der Betrachtung ausschließen, wenn diese keine Relevanz auf dem Entwicklungspfad eines spezifischen Hauses haben sollten. Weiterhin lässt die Zusammenführung der Isterhebung der Digitalisierungsdimensionen sowie der Solldefinition innerhalb der strategischen Zielsetzung eine Identifikation von Ist-SollAbweichungen zu. Diese kann anschließend durch eine Priorisierung der identifizierten Entwicklungs- und Handlungsfelder in eine Roadmap entlang einer Zeitachse sowie eine Benennung zu erreichender Zwischenziele und Abhängigkeiten untereinander überführt werden. Hieraus wiederum lassen sich konkrete Entwicklungsprojekte zur Erreichung der identifizierten Zwischen- und Gesamtziele, dafür benötigte Ressourcen und Fähigkeiten zur Umsetzung sowie ein für eine Implementierung benötigter zeitlicher Rahmen ableiten.

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1.3.5 Chancen der multiperspektivischen Betrachtung Die Digitalisierung auf Prozessebene bietet eine immer größere Verfügbarkeit von Daten- und Informationsströmen. Diese innerhalb des jeweiligen Prozessgeltungsbereiches bietet einerseits große Chancen in der Optimierung von Sekundärprozessen, beispielsweise der bedarfsgerechten Bereitstellung von Ressourcen, andererseits aber auch im Bereich primärer Prozesse, z. B. in der Unterstützung von medizinischen Entscheidungen auf Basis automatischer Analysen großer, heterogener Datenmengen. Diese punktuelle Prozessunterstützung bietet aber folglich auch nur punktuell Potenzial zur Optimierung oder automatischen Entscheidungsunterstützung. Im Sinne des Krankenhauses 4.0 geht es aber gerade darum, Schnittstellen zu überwinden, Prozesse ganzheitlich zu denken und um den Patienten, nicht um einzelne Abteilungen und Funktionsbereiche herum zu orchestrieren. Diese Schnittstellen bestehen einerseits zwischen technischen Informationssystemen, diesen und dem Anwender sowie unter Menschen verschiedener Berufs- und Interessensgruppen innerhalb des Krankenhauses. Den derzeit höchsten Entwicklungsstand nach dem Modell „Digitale Reife Krankenhaus 4.0“ erreicht daher, wer in der Lage ist, Daten und Informationen über einzelne Systeme hinweg Ende zu Ende um den Patienten herum zu aggregieren, was auch die Schnittstelle in die vor- und nachgelagerten Versorgungseinrichtungen umfasst. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass die beteiligten Mitarbeiter und Patienten befähigt sind und werden, um den Patienten aggregierte Prozesse mit Leben zu füllen. Zusätzlich sollten relevante Personengruppen beteiligt werden, zukünftigen Änderungsbedarf entsprechend sich wandelnder Umgebungsbedingungen zu identifizieren und Anpassungen entsprechend umzusetzen. Die multiperspektivische Betrachtung innerhalb des vorgeschlagenen Reifegradmodells bietet also den Vorteil, dass über die Betrachtung, ob die richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, hinaus erfasst wird, ob und wie Strategie und Beteiligung der aktuellen und zukünftigen Process Owner zu einem innerhalb der Digitalisierung erfolgreich agierenden Krankenhaus 4.0 zusammengeführt werden.

1.4 Schlussbetrachtung Die Ansätze der Prozessdigitalisierung und -automatisierung der produzierenden Industrie auf dem Weg zur Industrie 4.0 bieten, unter Berücksichtigung entscheidender Unterschiede der betrachteten Domänen, auch für den Bereich Krankenhaus Optionen und Chancen, den spezifischen Anforderungen des Gesundheitswesens besser begegnen zu können. Diese Chancen zu identifizieren und erfolgreich zu nutzen, ist die Herausforderung eines einem wachsenden Kostendruck unterliegenden Sektors. Modelle können komplexe Wirkzusammenhänge abstrahieren, Referenzmodelle Orientierung in der Organisationsgestaltung innerhalb dieser Zusammenhänge geben, während Reifegradmodelle Aufschluss über den Entwicklungsstand einer Organisation oder eines ­Prozesses

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geben können. Einige Ansätze beschäftigen sich dabei mit Industrie-4.0-Szenarien und der Ableitung und Entwicklung von allgemeingültigen Handlungsempfehlungen. Da das Krankenhaus vielmehr von kulturellen und organisationalen Faktoren abhängt als ein produzierendes Unternehmen, bedarf es hierfür einer domänenspezifischen Modellierung. Ein punktuelles Benchmarking auf Basis der Datenintegration eines Krankenhauses vernachlässigt ebenfalls den Einfluss menschlicher und strategischer Dimensionen in Bezug auf die Fähigkeit zur Gestaltung der Digitalisierung eines Hauses. Das Fraunhofer ISST hat daher zur Erfassung der digitalen Reife von Krankenhäusern drei Kernbereiche identifiziert, die im Zusammenspiel Aufschluss über den Status quo geben. Dies umfasst die spezifischen Rahmenbedingungen und daraus resultierende Zielsetzungen eines Hauses, die Digitalisierungsdimensionen mit konkretem Prozessbezug und der Erhebung des implementierten Stands der Technik sowie das Changemanagement und damit die Fähigkeit eines Hauses, die Notwendigkeit für zukünftige (Prozess-)Änderungen zu erkennen und diese auch herbeizuführen. Der Ansatz, strategische, kulturelle und organisatorische Faktoren sowie spezifische Ziele und Umgebungsbedingungen bei der Erfassung von digitaler Reife zu berücksichtigen, schränkt natürlich die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Häuser und damit den Nutzen für Vermarktungszwecke ein, steigert dafür aber umso mehr die Aussagekraft für die Gestaltung des eigenen Entwicklungspfades und dient somit den Interessen der Patienten, der Mitarbeiter, den betriebswirtschaftlichen Zielen und der Zukunftsfähigkeit eines Krankenhauses.

Literatur Bauernhansl T (2014) Die Vierte Industrielle Revolution – der Weg in ein wertschaffendes Produktionsparadigma. In: Bauernhansl T, ten Hompel M, Vogel-Heuser B (Hrsg) Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik. Springer Vieweg, Wiesbaden, S 5–35. https://doi. org/10.1007/978-3-658-04682-8_1 Bauernhansl T, ten Hompel M, Vogel-Heuser B (2014) Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik. Springer Vieweg, Wiesbaden Bischoff J, Taphorn C, Wolter D, Braun N, Fellbaum M, Goloverov A, Ludwig S, Hegmanns T, Prasse C, Henke M, ten Hompel M, Döbbeler F, Fuss E, Kirsch C, Mättig B, Braun S, Guth M, Kaspers M, Scheffler D, (2015) Erschließen der Potenziale der Anwendung von ‚Industrie 4.0‘ im Mittelstand. Bischoff J, agiplan GmbH, Mühlheim an der Ruhr BMBF (2014) Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). https://www.bmbf.de/de/innovationen-­fuer-dieproduktion-dienstleistung-und-arbeit-von-morgen-599.html. Zugegriffen: 22. Mai 2018 BMBF (2018) Digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html. Zugegriffen: 22. Mai 2018 Bräutigam C, Enste P, Evans M, Hilbert J, Merkel S, Öz F (2017) Digitalisierung im Krankenhaus. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

1  Digital Health Maturity Index

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Anja Burmann ist Wissenschaftlerin in der Abteilung „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ am Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik. Während ihrer akademischen Ausbildung sammelte sie Erfahrungen bei Dräger Medical, Siemens Healthcare und dem Department „Medical Technology“ der Forschungsorganisation SINTEF. Bei Fraunhofer arbeitet sie an Forschungsthemen rund um die Digitalisierung von Krankenhausprozessen sowie die Erhebung digitaler Reife. Prof. Dr. Wolfgang Deiters  studierte Informatik an der Universität Dortmund und promovierte zum Thema Management von Geschäftsprozessen an der Technischen Universität Berlin. Im Anschluss daran wechselte er an das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST

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und war dort in verschiedenen Funktionen beschäftigt, u. a. entwickelte und leitete er die Arbeiten des Institutes im Geschäftsfeld eHealthcare. Seit 2017 ist er Professor für Gesundheitstechnologien an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen zur Digitalisierung in der gesundheitlichen Versorgung und digitaler Kompetenz. Dr. rer. nat. Sven Meister ist Abteilungsleiter am Fraunhofer ISST und verantwortet den Geschäftsbereich „Digitalisierung im Gesundheitswesen“. Er bearbeitet seit mehr als zehn Jahren Fragestellungen zur Konzeption, Realisierung sowie Verbreitung intelligenter Digital-HealthAnwendungen. Nach seinem Studium der Naturwissenschaftlichen Informatik an der Universität Bielefeld promovierter er an der Technischen Universität Dortmund. Neben der Auseinandersetzung mit datenverarbeitenden Systemen stellt der Methodenkasten „Digital Health Innovation Engineering“ ein Portfolio zur strategischen Digitalisierung im Gesundheitswesen dar. Beispiele sind die Reifegradbestimmung für Krankenhäuser oder auch das Human Innovation Interaction. Herr Meister ist (Co-)Autor von mehr als 50 Veröffentlichungen und Fachbeiträgen im DigitalHealth-Umfeld.

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Gesundheitsdaten und Digitalisierung – Neue Anforderungen an den Umgang mit Daten im Gesundheitswesen Kim Veit, Michael Wessels und Wolfgang Deiters

Inhaltsverzeichnis 2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2 Gesundheitswesen im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3 Auswirkungen der Digitalisierung auf die verschiedenen Stakeholder. . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.4 Anforderungen an einen Umgang mit Daten im Gesundheitswesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.5 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Zusammenfassung

Im Zuge aktueller Digitalisierungsprozesse des Gesundheitswesens erweitern sich die Möglichkeiten der Datenbereitstellung, -erhebung und -auswertung enorm. In einer individualisierten Gesellschaft entstehen so neue Potenziale, um den plurali­ sierten gesundheitlichen Bedarfen von Individuen, Communities und Organisationen nachzukommen. Gleichzeitig erfordern Gesundheitsdaten einen sensiblen Umgang, um konsequent den Sicherheits- und Datenschutzbedürfnissen der Nutzer Rechnung zu tragen. Vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Gesundheitswesens wird aufgezeigt, welche Auswirkungen Digitalisierungsprozesse auf verschiedene Stakeholder im Gesundheitswesen haben. Deutlich wird dabei, dass für alle Akteure die Existenz K. Veit (*) · M. Wessels · W. Deiters  Department of Community Health, Hochschule für Gesundheit, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Wessels E-Mail: [email protected] W. Deiters E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_2

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von und ein adäquater Umgang mit (digitalen) Gesundheitsdaten unerlässlich sind. Der Beitrag leitet daraus neue Anforderungen an dem Umgang mit Gesundheitsdaten ab und resümiert, dass neue Ausbildungsangebote im Bereich Gesundheitsdatenmanagement geschaffen werden müssen.

2.1 Einleitung Gesellschaftliche Megatrends wie Individualisierung (Beck 1986), Multioptionalisierung (Gross 1994), (reflexive) Modernisierungsprozesse (Beck et al. 1996) und der demografische Wandel führen zu pluralisierten und differenzierten Lebenswelten. Damit einhergehend differenzieren sich auch die gesundheitlichen Bedarfe von Gesellschaften, ihren Individuen, Communities und Organisationen. Die gesundheitliche Versorgung steht angesichts dieser gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse vor neuen Herausforderungen. Um sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit entgegenzuwirken und um die physische und psychische Gesundheit aller Bevölkerungsgruppen zu erhalten und Krankheiten zu behandeln oder zu verhindern, ist das Wissen um die vielfältigen Bedarfe der einzelnen Akteure und Akteursgruppen erforderlich. Das Vorliegen subgruppenspezifischer Gesundheitsdaten ist hierfür eine essenzielle Voraussetzung, da Gesundheitsdaten Prozesse und Strukturen im Kontext von Gesundheit nachvollziehbar machen, Diversity und soziale Ungleichheit besser erforschbar machen und die Grundlagen bilden, um Maßnahmen zielgruppenorientiert konzipieren, umsetzen und evaluieren zu können. Im Zuge aktueller Digitalisierungsprozesse des Gesundheitswesens erweitern sich die Möglichkeiten der Datenbereitstellung, -erhebung und -auswertung enorm. Gesundheitsdaten fallen zunehmend und in steigendem Umfang auch digital und in Form von Routinedaten an. Das Gesundheitswesen wird sich durch Digitalisierungsprozesse radikal verändern und nicht nur neue Produkte, sondern auch neue kulturelle Praktiken, Arbeitsprozesse, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle hervorbringen und dabei herkömmliche Strukturen ablösen. Der Umgang mit Gesundheitsdaten birgt vor diesem Hintergrund ein großes Potenzial. Gesundheitliche Ungleichheit kann durch die adäquate Berücksichtigung der Bedarfe diverser und heterogener Bevölkerungsgruppen verringert, die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung verbessert und Empowerment und Edukation der Patienten können gestärkt werden. Dieses Potenzial kann sich allerdings nur aus einer sorgsamen und zielgerichteten Herangehensweise heraus entfalten, denn auf der Hand liegen auch Gefahren: Datenmissbrauch, inkompetenter oder nicht vertrauenswürdiger Umgang mit Daten(-quellen) und als Konsequenz auch die Begünstigung gesundheitlicher Ungleichheit. Aus diesen vielfältigen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, dem gesteigerten Anfallen von (digitalen) Gesundheitsdaten und den sich daraus ergebenden Chancen

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und Risiken resultieren neue Anforderungen an den Umgang mit Gesundheitsdaten im Gesundheitswesen. Es stellt sich die Frage, welche konkreten Kompetenzen an welchen Stellen und von welchen Akteuren im Gesundheitswesen benötigt werden und wie diese in das Gesundheitswesen eingespeist werden können, damit Digitalisierungsprozesse für alle Bevölkerungsgruppen einen positiven Nutzen haben.

2.2 Gesundheitswesen im Wandel Aus einer Systemperspektive wird das Gesundheitswesen in den nächsten Jahren und Jahrzenten insbesondere mit den Auswirkungen des demografischen Wandels konfrontiert werden. Das Statistische Bundesamt geht in seiner aktualisierten 13. Bevölkerungsvorausberechnung davon aus, dass die Bevölkerung in Deutschland von 80,8 Mio. Einwohnern (im Jahr 2013) auf – je nach zugrunde gelegten Annahmen über die Größe von Migrationsbewegungen – auf 73,1 Mio. oder bei geringer Migration auf 67,6 Mio. Einwohner im Jahr 2060 zurückgehen wird (Destatis 2017). Einerseits wird davon ausgegangen werden müssen, dass eine sinkende Bevölkerung ceteris paribus auch zu einer sinkenden Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen und damit zu einer sinkenden Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führen wird. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass wir von einer alternden Bevölkerung ausgehen müssen, weil zum einen die Lebenserwartung seit Jahren kontinuierlich steigt und zum anderen aufgrund der geringen Geburtenzahl auch der Anteil der alten und hochaltrigen Bevölkerung steigen wird. Welche Auswirkungen dieser doppelte Alterungsprozess auf die Inanspruchnahme des Systems haben wird, ist unter Gesundheitsökonomen umstritten (Zweifel et al. 1999; SVR 2009). Während auf der einen Seite durch die steigende Lebenserwartung von einer Multimorbidität und damit steigendem Behandlungsbedarf ausgegangen wird, der sogenannten Medikalisierungs- oder auch Morbiditäts-Expansions-These (Gruenberg 1977; SVR 2009), wird auf der anderen Seite auch die Erwartung formuliert, dass die Menschen zwar älter werden, aber die hinzugewonnenen Lebensjahre überwiegend in guter Gesundheit verbringen und insofern nicht von einer Ausweitung des Behandlungsbedarfs und damit einer Kostensteigerung ausgegangen werden muss, die sog. Morbiditäts-Kompressions-These (Fries 1980, 1985, 2000; SVR 2009). Auch wenn noch nicht abschließend empirisch belegt ist, welche dieser Thesen nun zutreffend ist, wird die Gesundheitspolitik Antworten auf die Herausforderungen des demografischen Wandels bieten müssen. Denn neben diesen eher die Morbidität der Bevölkerung und damit die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen betreffenden Auswirkungen müssen auch die zur Verfügung gestellten und damit schließlich zu finanzierenden Angebotskapazitäten zur Versorgung beachtet werden. Verschärfend kommt hinzu, dass aufgrund der geringen Geburtenrate auch die Sicherstellung der solidarischen Umlagefinanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung vor erhebliche Herausforderungen gestellt wird. Denn selbst wenn die Gesundheitsausgaben wider Erwarten nicht steigen würden, müsste vor dem

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Hintergrund der Umlagefinanzierung bei gleichbleibend niedrigen Geburtenraten der einzelne Beitragszahler zukünftig stärker belastet werden. Die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung steht aber nicht nur aus der Perspektive der Finanzierung vor erheblichen Herausforderungen, sondern insbesondere auch vor dem Hintergrund der zur Versorgung vorhandenen Angebotsstrukturen. Denn schließlich betrifft der demografische Wandel die Bevölkerung nicht nur auf der Nachfrageseite, sondern mindestens im gleichen Maße auch auf der Angebotsseite. Auch die im Gesundheitswesen tätigen Personen sind vom demografischen Wandel betroffen und „altern“. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass für die aus Altersgründen aus dem Berufsleben ausscheidenden Berufstätigen, z. B. Ärzte, Pflegende und Therapeuten, ausreichend Nachwuchs qualifiziert werden muss. Hier stehen wir vor großen Herausforderungen, wenn die Generation der Babyboomer in das Renteneintrittsalter kommen wird und damit ein erheblicher Ersatzbedarf von Fachkräften im Gesundheitswesen zu erwarten ist. Seit Jahren wird über die Existenz eines Ärztemangels (nicht nur in der Fachliteratur) kontrovers diskutiert. Es scheint aber zumindest Konsens dahin gehend zu bestehen, dass zwar kein genereller Ärztemangel, wohl aber eine sehr ungleiche Verteilung der Ärzte besteht. Demnach liegt kein Mengenproblem, sondern vielmehr ein Verteilungsproblem und damit ein Allokationsproblem vor (Mühlbacher und Wessels 2011). Während die urbanen/städtischen Regionen in der Regel überdurchschnittlich gut versorgt sind, liegen in den peripheren/ländlichen Regionen zum Teil bereits Versorgungsengpässe vor, die auch in Stadtrandlagen mit geringer Anbindung des öffentlichen Personennahverkehrs auftreten (Zentralinstitut 2013). Und auch bei anderen Gesundheitsberufen, insbesondere in der Pflege und bei Hebammen und Geburtshelfern, muss bereits ein Mangel an Fachkräften und damit an Versorgungskapazitäten konstatiert werden. Nicht nur vor dem Hintergrund des Mangels und der teilweise als mangelhaft empfundenen Attraktivität von Gesundheitsberufen, sondern vorrangig vor dem Hintergrund der Debatte um eine Neuabgrenzung der Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche der Gesundheitsberufe, die insbesondere der Sachverständigenrat in seinen Gutachten (SVRKAiG 2001; SVR 2007, 2009, 2012, 2014) anstieß und wiederholt anmahnt, hat ein tief greifender Wandel durch den Prozess der Professionalisierung und Akademisierung von Gesundheitsberufen begonnen (WR 2012). Dabei soll die neue Arbeitsteilung nicht nur die Effizienz der Versorgung optimieren, sondern auch Versorgungsengpässe minimieren (Rothgang et al. 2012; Simon 2012; PwC und WifOR 2010). Im Fokus multiprofessioneller Teams und berufsgruppenübergreifender Versorgungskonzepte müsse die Synergie der verschiedenen Kompetenzen stehen (BÄK 2015). In diesem Kontext spielen auch zunehmend telemedizinisch gestützte Versorgungsformen eine zentrale Rolle (Hartweg et al. 2017). Durch die Zunahme der Komplexität in der Versorgung wird zukünftig eine stärker kooperativ organisierte Gesundheitsversorgung erforderlich. Angehörige der verschiedenen Gesundheitsberufe werden nicht nur zunehmend komplexere Aufgaben zu erfüllen haben, sondern auch Aufgaben übernehmen, die zuvor von Ärzten wahrgenommen wurden (WR 2012).

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Zwar wird die Digitalisierung nicht unmittelbar eine Lösung der Finanzierungsprobleme liefern können, gleichwohl wird durch die Digitalisierung ein nicht unerheblicher Beitrag zur bedarfsgerechteren Planung und Bereitstellung von Versorgungskapazitäten sowie zur Verbesserung von Versorgungsprozessen und damit zu einer Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems geleistet. Zur Bergung dieser Effizienzreserven wird es keine allgemeingültigen geschweige denn einheitlichen Lösungsansätze geben (können). Vielmehr wird es regionale, auf die individuellen Versorgungsbedarfe verschiedener Populationen (Communities) zugeschnittene Lösungsansätze geben müssen. Hierzu hat der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten geschaffen, innovative und sektorenübergreifende, integrierende Versorgungsansätze zu implementieren (insbesondere auf die Besondere Versorgung in § 140a SGB V und Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Versorgung in den §§ 63–68 SGB V sei an dieser Stelle verwiesen). Um diese heterogenen bzw. diversen Versorgungsbedarfe regional mit spezifischen Versorgungsansätzen adressieren zu können, werden die Analyse und Evaluation von Daten unerlässlich sein. Hierzu wird die Digitalisierung einen erheblichen Beitrag leisten. Auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf die verschiedenen Stakeholder wird im folgenden Abschnitt vertiefend eingegangen werden.

2.3 Auswirkungen der Digitalisierung auf die verschiedenen Stakeholder Die oben beschriebenen Optionen, die sich durch eine zunehmende Digitalisierung im Gesundheitswesen ergeben, erstrecken sich auf verschiedene Akteursgruppen. Für jede dieser Gruppen ergeben sich spezifische Potenziale, damit verbunden aber auch Herausforderungen, die häufig mit spezifischen Kompetenzen und damit mit speziellen Ausbildungs- bzw. Schulungsbedarfen verbunden sind. Digitalisierung aus der Sicht von Bürgern und Patienten Aus der Sicht der Patienten ergeben sich mannigfaltige Potenziale, vielfach werden sie durch die neuen Technologien häufig erst in die Lage versetzt, sich sachgerecht in ihre eigene gesundheitliche Versorgung (Prävention, Diagnose, Therapie) einzubringen: • Informationsströme im Gesundheitswesen laufen heute in der Regel komplett an den eigentlichen beteiligten Personen, den Patienten, vorbei. Informationen werden bei behandelnden Ärzten, Pflegenden oder Therapeuten in den Informationssystemen der jeweiligen Organisationen (z. B. Krankenhausinformationssysteme (KIS), Praxenverwaltungssysteme (PVS)) gespeichert, in intersektoralen Behandlungsstrukturen werden sie zwischen den beteiligten Einrichtungen – oft unter Medienbrüchen (z. B. Fax) – ausgetauscht. Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung erhalten hierüber keinerlei Informationen. Auch die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz eingeführte Patientenquittung ändert hier nicht Wesentliches, da die Quittung nur

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ä­rztliche Leistungen ausweist. Patienten der privaten Krankenversicherung erhalten zwar Informationen über die ihnen zugestellten Rechnungen, diese umfassen aber nur die Leistungsbezeichnungen (z. B. Blutabnahme) und nicht die eigentlichen Gesundheitsinformationen (z. B. Laborwerte zu der Blutabnahme). Sie entsprechen daher im Informationsgehalt den Patientenquittungen. • Über eine Digitalisierung von Informationen in einer elektronischen Patientenakte bekommen Bürger zum ersten Mal die Chance, Informationen nicht nur gefiltert über einen Health Professional vermittelt zu bekommen, sondern diese in ihrer „Rohform“ verfügbar zu haben (Haas 2017). Hiermit wird es möglich, diese Daten auch anderen Personen z. B. zur Einholung einer Zweitmeinung zugänglich zu machen, da über die Datenhoheit eine Unabhängigkeit des Bürgers von dem datenerstellenden Health Professional entsteht. In Verbindung mit qualitätsgesicherten Informationen über Krankheiten tragen digitale Gesundheitsdaten zu einem Wissensmanagement von Patienten bei. Sie können damit zu Managern ihrer eigenen Krankheit werden und ihren Ärzten auf Augenhöhe begegnen (Ammenwert 2018). • Mit dem ungefilterten Zugang der Patienten auf ihre Daten sind allerdings nicht nur Vorteile verbunden. Patientendaten sind hochsensible und oft interpretierungsbedürftige Daten, die in ihrer Komplexität oft nur mit einer bestimmten Expertise zu verstehen sind. Patienten, die in der Regel in medizinischen Fragen einen Laienstatus einnehmen und darüber hinaus über die eigene Betroffenheit höchst vulnerabel sind, können möglicherweise falsche Schlüsse aus den eigenen Daten ziehen. Hier besteht die Aufgabe zwischen einer größeren Selbstbestimmung der Patienten durch die Verfügbarkeit ihrer Daten und dem Schutz der Patienten abzuwägen. • Digitalisierung ermöglicht eine sehr engmaschige und individualisierte Unterstützung und Betreuung. Fitnesstracker können sportliche Aktivitäten unterstützen und in Präventionsprogramme eingebaut werden, telemedizinische Dienste können Therapien unterstützen, auch wenn Patienten physisch nicht in der Praxis oder im Krankenhaus sind, Telerehaangebote können zur Wiederherstellung körperlicher und kognitiver Beeinträchtigungen genutzt werden. Das Anwendungsspektrum digitaler Technologien ist sehr groß und umfasst alle gesundheitlichen Bereiche: Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation. Dabei können die Angebote auf verschiedene Zielgruppen hin ausgerichtet werden und damit Diversity in der gesundheitlichen Versorgung unterstützen. Digitalisierung aus der Sicht der gesundheitlichen Versorgung • Digitale Technologien ermöglichen neue Formen der medizinisch-pflegerischen Betreuung von Patienten. Telemedizinische Lösungen erlauben die Auflösung von Zeit und Raum, d. h., eine Diagnose oder Beurteilung einer Therapie kann erfolgen, ohne dass Health Professional und Patienten zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Raum sein müssen. Zwar ist der direkte menschliche Patientenkontakt in der Betreuung unbestritten besonders wichtig, eine begleitende telemedizinische Versorgung kann aber Behandlungen ergänzen und Patienten von möglicherweise

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beschwerlichen Wegen oder Wartezeiten entlasten. Aus medizinisch-pflegerischer Sicht können solche telemedizinischen Behandlungsformen die Qualität der Versorgung sogar steigern, da eine viel engmaschigere Betreuung (z. B. durch eine Überwachung von Vitalparametern) aufgebaut werden kann, als eine auf rein persönlichem Kontakt beruhende Behandlung. Auch die Ärzteschaft hat das Potenzial der Telemedizin erkannt und auf dem 121. Deutschen Ärztetag in Erfurt das strikte Fernbehandlungsverbot zumindest in Teilen aufgehoben (BÄK 2018). • Medizinische Behandlungen werden arbeitsteilig in intersektoralen Strukturen erbracht. Diagnoseinformationen, Behandlungsergebnisse etc. fallen dabei an verschiedenen Stellen an und werden nur partiell und in der Regel unter Medienbrüchen weitergeleitet. So kommt es, dass häufig Mehrfachuntersuchungen durchgeführt werden, weil die Ergebnisse einer schon durchgeführten Untersuchung (z. B. Blut- oder Röntgenbild) bei nachfolgenden Stellen nicht oder nicht zum benötigten Zeitpunkt verfügbar sind. Dies kann auch zum „Blindflug“ führen, wenn etwa nach einer Entlassung die nachfolgende Stelle nicht über die Entlassmedikation informiert ist. Digitalisierung kann zu einem Zusammentragen aller Informationen an einer (logischen) Stelle führen, wenn alle relevanten Behandlungsinformationen in einer Patientenresp. Fallakte gespeichert werden (Deiters und Houta 2015). • Liegen erst einmal Behandlungsinformationen vor, können über intelligente Algorithmen Ärzten oder Pflegenden Entscheidungsgrundlagen für die Behandlung an die Hand gegeben werden (Rüping 2018). Computer sind in der Lage, sehr große Datenmengen (Big Data) in großer Geschwindigkeit zu verarbeiten, z. B. um vergleichbare Fälle in einer Behandlung zu finden (Stiftung Datenschutz 2017). Damit können Analysen auf einem Datenvolumen durchgeführt werden, die der Mensch weder in Quantität noch Zeit jemals händisch durchführen könnte. So können z. B. radiologische Systeme die elektronischen Bilder (Röntgen, CT, MRT) nicht nur dokumentierend abspeichern, sondern auch mit vielen Tausend anderen Bildern vergleichen und Ärzte auf Auffälligkeiten oder vergleichbare Fälle und deren Behandlungsgeschichte hinweisen. Digitalisierung aus der Sicht von Kostenträgern Für die Kostenträger liegt ein großes Potenzial von Big Data in den erweiterten Möglichkeiten der Fallsteuerung von Versicherten. So können sich aus Routinedaten und aus der Existenz großer Datenmengen Erkenntnisse zur Morbidität von Einzelfällen ableiten lassen, die beispielsweise für die Krankenkassen bei der Steuerung von Krankengeldfällen bis hin zu Rentenübergängen relevant sein können. Dass die Krankenkassen zunehmend das Potenzial von Routinedaten erkannt haben, macht die Vielzahl von Reporten aus Abrechnungs- und Routinedaten deutlich, die inzwischen von einzelnen Krankenkassen erstellt werden. Darüber hinaus werden (digitale) Gesundheitsdaten zunehmend eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern sowohl im

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ambulanten wie auch im stationären Bereich spielen. So können bei den Verhandlungen zur Vergütung und Sicherstellung der Versorgung Morbiditätsdaten individueller und präziser herangezogen werden. Nicht zuletzt ist die umfangreiche Risikoadjustierung bzw. Umverteilung der Beitragseinnahmen zwischen den Krankenkassen durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich erst auf der Grundlage umfangreicher Daten zur Morbidität der gesetzlich Versicherten möglich geworden. Ein weiteres großes Potenzial ist bei der sektorenübergreifenden bzw. integrierten Versorgung zu sehen, die nicht erst mit der Einführung der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung in den §§ 116b SGB V vom Gesetzgeber gewollt ist. In unserem sektoral getrennten Gesundheitssystem liegen auch die Abrechnungs- und Morbiditätsdaten in der Regel nur sektoral getrennt vor. Eine patientenbezogene sektorübergreifende Zusammenführung von Abrechnungs- und Morbiditätsdaten könnte erhebliches Potenzial für innovative, patientenzentrierte und an den Bedarfen der Versicherten orientierte Versorgungskonzepte befördern. Allerdings muss hier konstatiert werden, dass die sektorübergreifende Zusammenführung von Daten vermutlich weniger ein technisches Problem sein wird, als vielmehr eine Frage von Informationsvorteilen und damit von Macht und Einfluss der zentralen Akteure im Gesundheitswesen. Digitalisierung aus der Sicht der Forschung Verbesserungen in der gesundheitlichen Forschung ergeben sich sowohl durch den Fortschritt medizinischen Wissens (medizinische Forschung) als auch durch eine Verbesserung von Versorgungsstrukturen (Versorgungsforschung). • Die medizinische Forschung entwickelt sich immer weiter in Richtung einer personalisierten Medizin. Dazu ist es nötig, immer mehr Informationen über die Lebensspanne einer Person verfügbar zu haben. Longitudinalanalysen können bei Früherkennungen von Krankheiten helfen. Immer mehr und immer spezifischere Informationen (z. B. Genanalysen) ergeben ein immer detaillierteres Bild über Menschen und ihre Dispositionen für Entwicklungen. Darüber hinaus werden genauere Behandlungen möglich durch Stratifizierung von Menschen mit gleichen Krankheitsbildern (Kohortenanalysen). So werden etwa im Rahmen des Projektes Nationale Kohorte (NAKO Gesundheitsstudie) über einen Zeitraum von 20–30 Jahren Gesundheitsdaten von einer repräsentativen Gruppe der deutschen Bevölkerung gesammelt (Müters und Lampert 2017). Je detaillierter und feingranularer die Kohorten für eine personalisierte Medizin gewählt werden (aber nicht nur bei der Betrachtung seltener Krankheiten), desto verstreuter ist die der Kohorte zugehörige Population. Klinische Studien werden nur verteilt durch die Beteiligung von medizinischen Forschern von verschiedenen nationalen und internationalen Stellen möglich. Eine exzellente Vernetzung der Forscher und eine Datenschutz und Datensicherheit berücksichtigende elektronische Dokumentation medizinischer Daten sind hierzu eine unumgängliche Voraussetzung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung trägt dieser

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Situation mit einem Projekt Rechnung, das den Aufbau sogenannter Datenintegrati­ onszentren fördert (BMBF 2015). • Neben der medizinischen Forschung spielt die Versorgungsforschung eine bedeutende Rolle zur Etablierung einer qualitativ hochwertigen und alle Bevölkerungsgruppen erreichenden gesundheitlichen Versorgung. Für alle Fragestellungen, von der Identifikation des Nutzens medizinischer Methoden über die Bewertung medizinischer Hilfsmittel, die Bewertung ökonomischer Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungsformen bis hin zur zielgruppenorientierten Betrachtung der Bevölkerung verbunden mit der Frage nach einer gleichberechtigten Versorgung, spielt die Digitalisierung eine große Rolle. Viele der angesprochenen Fragestellungen lassen sich nur auf einer soliden Datengrundlage beantworten. Datenanalytische Berechnungen erlauben Auswertungen und eine digitale Darstellung von Zusammenhängen (Icks und Köberlein-Neu 2017; Pfaff et al. 2017). Digitalisierung aus planerischer Sicht Dokumentation und Planung stellen die Grundlagen für eine Verbesserung von Versorgungsstrukturen dar. Digitalisierung bietet hier neue Möglichkeiten für eine Aufbereitung und Auswertung von Materialien und kann Planungsprozesse in einer völlig neuen Dimension unterstützen. • Für eine kommunale oder regionale Planung spielt Wissen über den Zusammenhang von Gesundheit und Raum eine immer bedeutendere Rolle. Faktoren wie Umweltverschmutzung oder Lärm, der Zugang zu Erholungs- und Grünflächen oder auch die Möglichkeit von Bewegungsangeboten sind nur einige Beispiele dafür, wie der Sozialraum Einfluss auf die Gesundheit der in diesem Raum lebenden Personen haben kann. Mit neuen digitalen Möglichkeiten, etwa einem Map Table, wird es möglich, geografische Daten mit weiteren Daten, z. B. über die Lärmbelastung in einer Stadt, zu verschneiden. Planungsoptionen wie etwa Überlegungen zu Ansiedelungen von Industrieanlagen oder die Anlegung von Umgehungsstraßen können interaktiv mit ihren Auswirkungen direkt auf einer digitalen Karte dargestellt werden. Auf diese Art können „Was-wäre-wenn“-Planspiele angestellt und Entscheidungsalternativen direkt nebeneinander dargestellt und in ihren Auswirkungen berechnet werden (Shresta et al. 2017). • Für viele Fragestellungen einer Gesundheitsberichterstattung werden heute noch Statistiken geführt, die ausgewählte Sachverhalte zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitintervall darstellen. Diese Form der Darstellung stellt einen statischen Blick auf einen Sachverhalt, hier die gesundheitliche Situation (z. B. Anzahl der Lungenkrebserkrankungen in einem bestimmten Landkreis), dar. Digitalisierung erlaubt die Ablage der Basisdaten in Datenbanken. Dabei können strukturierte und unstrukturierte Daten erfasst und mit geeigneten Methoden abgelegt werden. Über geeignete Datenbankabfragen wird es möglich, nicht nur die Abfragen, die der Gesundheitsberichterstatter zuvor statisch ausgewählt und durchgeführt hat,

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sondern dynamische Abfragen zu stellen. Dies erweitert das Spektrum einer Gesundheitsberichterstattung enorm, da hierdurch Auswertungen bezogen auf ganz spezifische Fragestellungen möglich werden (etwa über spezielle Zeiträume oder über Bevölkerungsgruppen mit besonderen Merkmalen). Deren Ergebnisse können dann dargestellt und dokumentiert werden. Alle hier angeführten exemplarischen Optionen für die verschiedenen Stakeholder zei­ gen eine Gemeinsamkeit auf – die Bedeutung von Gesundheitsdaten. Daten stellen die Grundlage dar für neue Versorgungsangebote, die Verbesserung von Prozessen, neue medizinische oder pflegerische Produkte, neues Wissen für Forschung, Versorgung oder Planung. Von der Güte der Daten hängt in besonderem Maße die Qualität jedweder digitalen Innovation ab. Insofern sind eine qualitativ hochwertige Erhebung, Zusammenstellung und Analyse der Daten auf Vollständigkeit, Vergleichbarkeit, Berücksichtigung aller relevanten Aspekte (wie z. B. Diversity-Aspekte), der Interpretation und Aufbereitung maßgeblich für alle hier aufgezeigten Optionen. Für diese Tätigkeiten werden besondere Anforderungen notwendig.

2.4 Anforderungen an einen Umgang mit Daten im Gesundheitswesen Datenkompetenz in einem digitalisierten Gesundheitswesen (Digital Health Data Literacy) umfasst Kompetenzen zur Erhebung, Planung, Bearbeitung, Auswertung und Aufbereitung von fachlichen Aufgaben- und Problemstellungen im Kontext von Gesundheitsdaten sowie zur eigenverantwortlichen Steuerung von Prozessen in Teilbereichen der Gesundheitsdaten. Benötigt werden interprofessionelle Akteure im Schnittstellenbereich „Gesundheit – Datenmanagement – Diversity und Empowerment“, deren Arbeit sich darauf richtet, dass Digitalisierungsprozesse für alle Bevölkerungsgruppen gut gestaltet werden. Den systematischen Umgang mit Daten in diesem Schnittstellenbereich, d. h. die zielgruppenspezifische Erhebung, Planung, Bearbeitung, Auswertung und Aufbereitung, bezeichnen wir als Gesundheitsdatenmanagement. Gesundheitsdatenmanager werden zukünftig eine Scharnierfunktion zwischen Technikern, Nutzern und Leistungserbringern im Kontext von Gesundheitsdaten einnehmen und über eine umfassende (digitale) Datenkompetenz verfügen. Sie können Gesundheitsdaten vor dem Hintergrund ihres Wissens um Datenschutz, Datensicherheit, Ethik, Technikfolgenabschätzung und Gesundheit zielgruppenspezifisch managen. Die Anforderungsstruktur ist vor dem Hintergrund zahlreicher Reformprozesse im Gesundheitswesen und der zunehmenden Digitalisierung durch Komplexität und häufige Veränderungen gekennzeichnet. Dazu müssen Gesundheitsdatenmanager ausgehend von einer ihnen bekannten Status-quo-Welt des Gesundheitswesens in der Lage sein, verteilte Datenbestände mit Bezug zu verschiedenen Personen- und Akteursgruppen (z. B. Migranten ohne Staatsbürgerrechte, Geflüchtete, gleichgeschlechtliche Paare, Menschen mit Behinderung)

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zu erheben, zusammenzuführen, auszuwerten und zu interpretieren. Sie müssen in der Lage sein, die Daten zunächst im Kontext ihrer Anwendungen bei Leistungserbringern, Kostenträgern, Nutzern, anderen Einrichtungen sowie in Entscheidungsprozessen inhaltlich zu verstehen (Semantik, Klassifikationen etc.). Sie müssen Datenbestände auch dahin gehend bewerten können, dass sie gegebenenfalls Informationslücken erkennen und diese durch geeignete Erhebungen oder Analysen komplettieren können. Sie müssen in der Lage sein, Daten in Bezug zu anderen Daten setzen zu können, etwa für sozialräumliche Analysen oder Untersuchungen auf andere Merkmalsausprägungen. Nicht zuletzt brauchen Gesundheitsdatenmanager dafür technische Kompetenzen, also Kenntnisse im Umgang mit Datenerhebungsinstrumenten und datenverarbeitenden bzw. -analysierenden IT-Systemen, um die häufig großen, verteilten Datenbestände beherrschen und in Wert setzen zu können. Gesundheitsdatenmanager müssen also über ein sehr breites Spektrum an Methoden zur Bearbeitung komplexer Probleme im Kontext von Gesundheitsdaten und angrenzenden Fachdisziplinen verfügen. Insbesondere sollten sie • qualitative und quantitative Methoden der Gesundheits- und Sozialforschung anwenden und auf Fragestellungen im Feld einer gesundheitsdatenorientierten Versorgung unter Diversity-Aspekten übertragen können; • (fehlende) Daten eigenständig erheben, vorhandene Daten auf ihre Güte abschätzen und ggf. eine Qualitätssicherung vornehmen können; • Daten erheben, aufbereiten, analysieren und interpretieren, Ergebnisse adressatengerecht aufbereiten und geeignete Interventionsstrategien aus Daten ableiten und entwickeln können; • ihre methodischen Kompetenzen auf konkrete Problemstellungen der Praxis übertragen und unter Beteiligung von Fachleuten und Betroffenen weiterentwickeln können; • Effekte der Digitalisierung auf die vielfältigen gesundheitlichen Belange unterschiedlicher Zielgruppen antizipieren und geeignete Lösungsansätze entwickeln können. Zudem brauchen Gesundheitsdatenmanager auch kritische Fähigkeiten. Das Sammeln, Zusammenführen, Auswerten und Interpretieren von zum Teil hochsensiblen Daten wird zwangsläufig schnell auch mit datenschutzrechtlichen und ethischen Fragestellungen einhergehen sowie grundsätzlich im Sinne der Wahrung von Persönlichkeitsrechten sensibel zu behandeln sein. Systeme müssen daher auf einen sparsamen Umgang mit Daten und deren zielorientierte Verwendung ausgelegt sein. Ethik, Datenschutz und Datensicherheit müssen folglich treibende Prinzipien von Gesundheitsdatenmanagern sein. Digitale Gesundheitsdatenkompetenz setzt ein kritisches Verständnis der wichtigsten Theorien und Methoden voraus, insbesondere hinsichtlich • Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens, insbesondere in Bezug auf politische, rechtliche, soziologische, ethische, ökonomische und individuelle verhaltensbezogene Einflüsse;

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• Zusammenhänge von Medizin, Gesundheit und Diversity, insbesondere im Hinblick auf (vulnerable) Zielgruppen; • Verfahren zur systematischen und kritischen Bewertung von Werkzeugen des Datenmanagements, insbesondere im Hinblick auf Datenschutz, Datensicherheit und Ethik; • Verfahren zur systematischen und kritischen Bewertung von Interventionen zugunsten der Gesundheit von Nutzern; • Innovationen und Technikfolgenabschätzung von digitalen Diensten, wie beispielsweise Telemedizin, E-Health, E-PA, E-GK, Apps. Gesundheitsdatenmanager sollen eine Scharnierfunktion zwischen Technikern, Leistungserbringern und Nutzern im Kontext von Gesundheitsdaten einnehmen. Dazu müssen sie in der Lage sein, Daten so zu erheben, zu übersetzen und aufzubereiten, dass sie und deren Implikationen von allen drei genannten Parteien nachvollzogen werden können. Die aufbereiteten Daten können dann z. B. als Entscheidungsgrundlage für die Politik genutzt werden (z. B. für Gesundheitsberichterstattung, Qualitätssicherung, Input für Maßnahmenprogramme). Auch hier müssen sie dies im Sinne der Nutzer tun, deren Bedarfe erkennen und die diversen Nutzer bei der Interpretation der Daten beteiligen. Komplexe, datengetriebene Systeme sind häufig für die Nutzer in ihrer Gesamtheit und ihren Auswirkungen nicht oder kaum mehr überschaubar und verständlich. Deshalben sollen Gesundheitsdatenmanager im Sinne „eines Anwalts für Betroffene“ bei der nutzerorientierten Gestaltung von Nutzerangeboten agieren oder diese zu Anwälten ihrer selbst befähigen. Nur so wird eine Datenselbstbestimmung der Nutzer in komplexen Systemstrukturen zu ermöglichen sein. Hierfür benötigen Gesundheitsdatenmanager daher auch kommunikative und gesundheitsdidaktische Kompetenzen. Die spezifische Kommunikationskompetenz liegt darin, angesichts der divergierenden Interessenlagen von Nutzergruppen, unterschiedlichen Fachleuten und Entscheidungsträgern • vermittelnd und moderierend zu wirken, die verschiedenen Sichtweisen auf Basis durchdachter Konzepte und Strategien konstruktiv einzubinden; • Sprach- und Verständnisunterschiede zwischen verschiedenen Akteuren (insb. Nutzern, Leistungserbringern, Technikern) moderierend zu überbrücken; • Problemlösungsvorschläge bzw. Handlungsempfehlungen zu entwickeln und zielgruppenorientiert zu kommunizieren; • sich im Team selbstbewusst einzubringen und andere Teammitglieder von Inhalten und Ergebnissen zu überzeugen.

2.5 Schlussbetrachtung Digitalisierung erweist sich als ein Megatrend unserer Gesellschaft, der das alltägliche Leben in der Form, wie wir einkaufen, Geldgeschäfte erledigen, untereinander kommunizieren etc., wie auch die Berufswelt grundlegend verändert hat. Auch das

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Gesundheitswesen verändert sich – zwar mit einiger Verzögerung – inzwischen rasant. Demografische Faktoren, Kosten- und Qualitätssteigerung verlangen nach neuen Konzepten. Digitalisierung kann hier wesentliche Beiträge liefern. Sie kann auch zu grundsätzlichen Rollenveränderungen beitragen, etwa durch empowerte Patienten, die Ärzten auf Augenhöhe begegnen und die mehr und mehr zu eigenen Gesundheitsmanagern werden, mit Ärzten und Gesundheitsberufen als Dienstleistern an ihrer Seite. Mit diesen Optionen hat Digitalisierung Effekte auf verschiedene Stakeholder – von Patienten über die Vertreter von Medizin und Gesundheitsberufen, Forschern, Planern und Vertretern der Selbstverwaltung. Grundlage der Digitalisierung sind Daten, die sowohl durch die Nutzung digitaler Produkte entstehen als auch Grundlage digitaler Dienste darstellen. „Daten sind das neue Öl“ einer digitalen Gesellschaft, insbesondere auch eines digital gestützten Gesundheitswesens. Für Gesundheitsdaten gelten aber besondere Regeln. Sie sind aufgrund der Vulnerabilität der betroffenen Personen besonders schützenswert wie auch ethisch besonders wertvoll. Basieren Entscheidungen (seien sie therapeutischer oder planerischer Natur) auf Daten, so ist die Qualität der Daten – und dazu zählt auch die Berücksichtigung von Diversität der Gesellschaft in der Datengrundlage – besonders wichtig. Der Aufbau einer Digital Health Literacy bei den verschiedenen Stakeholdern ist also eine grundlegende Aufgabe, will man Digitalisierung im Gesundheitswesen patientenorientiert, qualitativ hochwertig und effizient etablieren. Gesundheitsdatenmanager, also Personen, die sich professionell mit der Erhebung, Analyse und Aufbereitung von Gesundheitsdaten beschäftigen, brauchen hierzu eine besondere Kompetenz. Dies alles erfordert neue Ausbildungskonzepte sowohl um mündige, gesundheitskompetente Bürger als auch adäquat agierende Professionelle zu entwickeln. Danksagung  Dieser Artikel basiert auf einem Diskussionsprozess zum Thema Gesundheitsdaten und Digitalisierung im Department of Community Health an der Hochschule für Gesundheit. Wir danken den Kollegen für zahlreiche konstruktive Anregungen.

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Kim Veit M.A, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of Community Health der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Sie studierte Sozialwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und Sozialwissenschaftliche Innovationsforschung an der TU Dortmund. Am Fachgebiet Techniksoziologie der TU Dortmund forschte sie zum Thema Privatheit und Vertrauen in virtuellen Räumen. Prof. Dr. Michael Wessels  Dipl. Gesundheitsökonom (univ.), ist seit 2016 Professor für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik im Department of Community Health an der Hochschule für Gesundheit in Bochum, von 2012 bis 2015 war er Professor für Gesundheitsmanagement und Gesundheitsökonomie an der Mathias Hochschule Rheine. Zuvor war er für die Verbände der Ersatzkassen (Berlin/Siegburg) tätig und in verschiedenen Gremien der Selbstverwaltung der GKV vertreten, beispielsweise dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Bundesschiedsamt Zahntechnik. Er promovierte am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln und studierte an der Universität Bayreuth Gesundheitsökonomie. Prof. Dr. Wolfgang Deiters  studierte Informatik an der Universität Dortmund und promovierte zum Thema Management von Geschäftsprozessen an der Technischen Universität Berlin. Im Anschluss daran wechselte er an das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST und war dort in verschiedenen Funktionen beschäftigt, u. a. entwickelte und leitete er die Arbeiten des Institutes im Geschäftsfeld eHealthcare. Seit 2017 ist er Professor für Gesundheitstechnologien an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen zur Digitalisierung in der gesundheitlichen Versorgung und digitaler Kompetenz.

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Digital Health Literacy – Thesen zu Konzept und Förderungsmöglichkeiten Silja Samerski und Hardy Müller

Inhaltsverzeichnis 3.1 Einleitung: Digital Health Literacy als Voraussetzung für Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . 36 3.2 Eine multimethodische Erforschung von Digital Health Literacy: Das Projekt TK-DiSK. 38 3.3 Thesen zur Digital Health Literacy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Zusammenfassung

Digital Health Literacy wird von vielen Stakeholdern im Gesundheitswesen als Grundbedingung für eine gelingende digitale Transformation eingefordert; welche Kompetenzen jedoch damit gemeint sind und wie diese gefördert werden können, das bleibt meistens im Dunkeln. Das Projekt „TK-DiSK“ hat das Ziel, das Konzept Digital Health Literacy wissenschaftlich zu begründen und weiterzuentwickeln. Kompetenz, Wissen und Fähigkeiten werden hier nicht ausschließlich in den Köpfen von Patienten und Versicherten verortet, sondern als soziale Praktiken verstanden, die von

S. Samerski ()  Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule Emden/Leer, Emden, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Müller  Techniker Krankenkasse, Unternehmenszentrale, Fachbereich Versorgungsmanagement, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_3

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Erfahrungen, materiellen Realitäten und sozialem Kontext mitbestimmt werden. Digital Health Literacy muss daher nicht nur als Eigenschaft von Individuen, sondern auch von soziotechnischen Systemen verstanden werden. Den Organisationen und Institutionen im Gesundheitswesen kommt damit bei der Realisierung von Digital Health Literacy eine zentrale Rolle zu.

3.1 Einleitung: Digital Health Literacy als Voraussetzung für Digitalisierung Informationstechnologie im Gesundheitsbereich soll dazu dienen, Abläufe effizienter zu machen, die Patientensicherheit zu erhöhen, neue Versorgungsformen zu schaffen und die Gesundheit zu verbessern (u. a. Blachetta et al. 2016; Celi et al. 2015; Jadad 2016 und Roland Berger 2018). Es kommt jedoch oftmals vor, dass die Einführung von neuen IT-Systemen oder IT-Elementen nicht die erwarteten und intendierten Effekte hat: In Estland geben trotz gesetzlicher Verpflichtung nur 30–40 % aller Hausärzte die Behandlungsberichte in das „Health Information System“ ein, weil ihnen die Eingabe zu aufwendig ist. Die ersten CPOE-Systeme (Computerized Physician Order Entry) in Krankenhäusern wurden nach ihrer Einführung entweder nicht richtig genutzt oder ließen die Behandlungsfehler- und Schadensrate mancherorts sogar ansteigen, statt sie – wie erhofft – zu senken (IOM Institute of Medicine 2012, S. 31 ff.). CPOE-­Systeme sind elektronische Verschreibungssysteme, die Fehler und ­Arzneimittelwechselwirkung aufspüren. Um tatsächlich die beabsichtigten Wirkungen zu haben, muss der Implemen­ tierung solcher Systeme ein umfassendes Changemanagement vorausgehen: Die Realisierung von Vorteilen bedarf eines Wandels der Klinikkultur und der Alltagspraktiken (Uppermann et al. 2005 und Schrappe 2018). Die Beispiele zeigen, dass Informationstechnologie keine „Plug-in-Technologie“ ist, die ohne Vorbereitung an bestehende Abläufe und Alltagspraktiken „angeschlossen“ werden kann. In der öffentlichen Debatte steht oftmals die technische Aufrüstung im Mittelpunkt – nicht aber die oftmals komplexe und unvorhersehbare Interaktion zwischen Menschen und Maschinen. Die gängigen Kürzel „Medizin 4.0“ oder „Gesundheit 2.0“ bezeichnen den Stand der Digitalisierung gesellschaftlicher Bereiche analog zu Softwareversionen und setzen Digitalisierung dadurch mit einem technischen Update gleich. Digitalisierung ist jedoch ein komplexes gesellschaftliches Phänomen, bei dem technische und soziale Veränderungen Hand in Hand gehen. Aus diesem Grund wird oftmals auch von „digitaler Revolution“ gesprochen, in Analogie zur industriellen Revolution, die im 19. Jahrhundert mit dramatischen sozialen und kulturellen Umbrüchen einherging. Auch die Digitalisierung transformiert nicht nur technische Abläufe, sondern auch grundlegende gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, angefangen von unseren täglichen Kommunikationsgewohnheiten bis hin zu unserer sozialen Ordnung. Im Gesundheitsbereich sind diese Veränderungen besonders sensibel: Da hier existenzielle

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Fragen wie Gesundheit und Krankheit, ja sogar Leben und Tod verhandelt werden, hat die Digitalisierung hier besonders gravierende Auswirkungen: Sie verändert unser Verhältnis zu uns selbst und zu anderen, unser Vertrauen in die menschliche Urteilsfähigkeit sowie unser Verständnis von Körper, Krankheit, Heilung und Gesundheit. Um diese soziale Dimension der Digitalisierung auch begrifflich einzuschließen, wird im Folgenden von „digitaler Transformation“ gesprochen. Damit die digitale Transformation uns nicht überrollt, sondern demokratisch gestaltet werden kann und tatsächlich Nutzen stiftet, müssen sowohl die technischen als auch soziale Veränderungen vorbereitet und gesteuert werden. Wie das Beispiel der gescheiterten Einführung von CPOE-­Systemen zeigt, braucht Digitalisierung ein umfassendes und langfristiges Changemanagement auf verschiedenen Ebenen; das medizinische Personal in Krankenhäusern muss u. a. erst darin geschult werden, die maschinelle Hilfe sowie ihre Grenzen richtig einzuschätzen und das neue System in den klinischen Workflow zu integrieren. Gleichzeitig muss auch das IT-System an die organisatorischen, materiellen und sozialen Bedingungen vor Ort angepasst werden. Bevor digitale Anwendungen also tatsächlich Abläufe erleichtern und die Sicherheit erhöhen können, muss einerseits die Technologie an die Nutzer und ihre Umwelt angepasst werden und andererseits müssen die Nutzer sich auf die neue Technologie einstellen. Sie brauchen ein Grundverständnis der Funktionsweisen und der Grenzen der neuen Technologie und müssen eine Organisationskultur sowie Alltagspraktiken entwickeln, die diese reflektieren (Uppermann et al. 2005 und Peute et al. 2010). Das neue Wissen und die neuen Fähigkeiten, die die Digitalisierung im Gesundheitswesen erfordert, werden Digital Health Literacy genannt (Müller und Samerski 2018). In vielen Auseinandersetzungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen taucht die „digitale Gesundheitskompetenz“ bzw. Digital Health Literacy als eine Conditio sine qua non für eine Erfolg versprechende Digitalisierung auf (Albrecht 2016 und Deutscher Ethikrat 2017); sowohl der Politik als auch der Ärzteschaft, den Krankenkassen, der Industrie und den Patienten ist bewusst, dass die Digitalisierung von allen Beteiligten neue Fähigkeiten und Wissensformen fordert. Studien, wie beispielsweise diejenige von Blachetta (2016) zur „Weiterentwicklung der eHealth-Strategie“, betonen u. a. die zentrale Rolle von Digital Health Literacy bei der Schaffung von Akzeptanz und Vertrauen in der Bevölkerung. Digital Health Literacy ist also der Treibstoff für ein gelingendes Changemanagement und die Voraussetzung für eine demokratische, zielführende und humane digitale Transformation. Auch der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen betont daher die Notwendigkeit, die digitale Gesundheitskompetenz der Verbraucher zu verbessern: Die Chancen der Digitalisierung werden vergeben, wenn man nicht zugleich die digitale Gesundheits-Kompetenz der Verbraucher stärkt. eHealth braucht mehr denn je das Verständnis der Nutzenden im Hinblick auf die Einschätzung von Risiken und Chancen wie der Wirksamkeit von Medikamenten und Therapien. … Ohne deutliche Steigerung ihrer Kompetenz sind viele Verbraucherinnen und Verbraucher nicht in der Lage, nutzlose oder gar gesundheitsschädliche Produkte von qualitätsgeprüften Angeboten zu unterscheiden, insbesondere im zweiten Gesundheitsmarkt. Kompetenz ist der Schlüssel zur Selbstbestimmung anstelle von Überwachung und Kontrolle (Gigerenzer et al. 2016, S. 39).

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Trotz des unstrittigen hohen Stellenwertes bleibt in den meisten programmatischen Texten jedoch offen, was Digital Health Literacy genau bedeuten soll und wie sie gefördert werden kann. In der Regel wird digitale Gesundheitskompetenz als ein Soll angeführt, aber nicht weiter ausformuliert. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es zwar Studien zur Erhebung von Digital Health Literacy in der Bevölkerung sowie zur Nutzung digitaler Medien im Gesundheitswesen, aber selten eine Diskussion über das Konzept, die Ziele bzw. über konkrete Anforderungen. Die bestehenden Definitionen von Digital Health Literacy gehen kaum über das Konzept der Health Literacy hinaus; „Gesundheitskompetenz“ wird hier lediglich um die Fähigkeit ergänzt, auch online Gesundheitsinformationen zu suchen und zu verwerten, also neue Informationsformate zu nutzen. Angesichts des tief greifenden gesellschaftlichen Wandels, der mit der Digitalisierung einhergeht, muss u. E. Digital Health Literacy jedoch als eine eigenständige neue Kompetenz ausformuliert und gefördert werden. Daher wird dieses Kapitel die Inhalte und Dimensionen von Digital Health Literacy näher bestimmen und in Thesen zur Diskussion stellen. Ziel dieses Beitrages ist es, 1. die Bedeutung der Digital Health Literacy als eine neue Kompetenz im Gesundheitswesen zu umreißen, 2. ein Verständnis von Wissen und Fähigkeiten als soziale Praxis zum Anschlag zu bringen, 3. Vorschläge zur Förderung der Digital Health Literacy zu machen. Grundlage der Ausführungen sind die konzeptionellen Arbeiten und ersten Ergebnisse der Studie „TK-DiSK“ („Digital. Selbstbestimmt. Kompetent. Ein Projekt zur Stärkung der Digitalen Gesundheitskompetenz bei Patient*innen und Organisationen“), die im Folgenden kurz vorgestellt wird.

3.2 Eine multimethodische Erforschung von Digital Health Literacy: Das Projekt TK-DiSK Die wissenschaftliche Studie „TK-DiSK: Digital. Selbstbestimmt. Kompetent. Ein Projekt zur Stärkung der Digitalen Gesundheitskompetenz bei Patient*innen und Organisationen“ (TK 2018) hat das Ziel, das Konzept Digital Health Literacy sowohl für Personen als auch für Organisationen wissenschaftlich zu begründen und weiterzuentwickeln. Das Design der Studie beruht auf einem innovativen Methodenmix: Kombiniert werden eine Dokumentenanalyse, eine Stakeholderumfrage, eine Miniethnografie, Experteninterviews und Fokusgruppen. Dokumentenanalyse Ziel der Dokumentenanalyse ist es, einen Überblick zu erhalten, ob und wie sich einzelne Akteure im Gesundheitswesen zur digitalen Gesundheitskompetenz bereits heute positionieren bzw. damit beschäftigen. Dazu wurden auf Grundlage eines

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­ rganigramms des Gesundheitswesens von Busse und Riesberg (2014) 44 Akteure O respektive deren Webseiten ausgewählt, die auf Suchbegriffe zur digitalen Gesundheitskompetenz im Februar 2018 systematisch untersucht wurden. Aus anfänglich 1306 Treffern konnten nach Prüfung von Ein- und Ausschlusskriterien insgesamt 18 Dokumente auf 21 Webseiten für die inhaltsanalytische Auswertung herausgefiltert werden. Eine erste Durchsicht zeigt, dass digitale Gesundheitskompetenz in vielen Dokumenten lediglich eine kurze Erwähnung findet. In den meisten Dokumenten wird digitale Kompetenz als ein dringender Bedarf formuliert, aber nicht weiter beschrieben. Miniethnografie in Estland Im März wurden mit insgesamt 19 relevanten Vertretern des Digital Health im Gesundheitssystem in „e-Estonia“ (Estland) leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Im Gegensatz zu anderen Befragungen oder Explorationen in Estland, die vornehmlich die Repräsentanten und Architekten des digitalen Gesundheitssystems befragten, interviewte das Projekt „TK-DiSK“ auch Hausärzte und Patientenvertreter, sodass auch die Nutzerperspektive eruiert werden konnte. Allgemeine digitale Kompetenz wird in Estland systematisch und ausführlich in der Schule unterrichtet, zudem machen estnische Bürger bereits seit Jahren gute Alltagserfahrungen mit dem „eEstonia“. Aufgrund von Konflikten zwischen den technischen Erfordernissen und den Alltagspraktiken von Ärzten und Patienten wächst jedoch auch in Estland das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer gezielten Förderung von Digital Health Literacy. Onlinebefragung Insgesamt wurden 1761 Personen aus dem Bereich des Gesundheitswesens, der Fachverbände, Wissenschaft sowie Presse per E-Mail kontaktiert und gebeten, einen Fragebogen anonym per Onlinelink auszufüllen. In diesem wurden sie in 20 zumeist geschlossenen Fragen mit Mehrfachauswahl nach ihren Erwartungen, Einschätzungen und Positionen zur digitalen Gesundheitskompetenz ihrer eigenen Organisation sowie ihrer Nutzer bzw. Patienten befragt. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Einschätzung zur Vorbereitung auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen oftmals als mäßig gut eingestuft und die digitale Gesundheitskompetenz mehrfach als verbesserungswürdig und förderfähig angesehen wird. Die Verantwortung für die Förderung von digitaler Gesundheitskompetenz wird vornehmlich bei der Politik und den Krankenkassen gesehen. Experteninterviews Mithilfe einer schriftlichen Expertenumfrage und telefonischer Experteninterviews wurde eine Stakeholderanalyse durchgeführt und die Anforderungen und Einschätzungen zentraler Akteure an Digital Health Literacy wurden eruiert. Für die postalische Fragebogenumfrage wurden 55 Experten in Leitungsfunktion ausgewählt und um ein Telefoninterview gebeten. Die postalische Befragung ist im Unterschied zur Onlinebefragung nicht anonym. Ziel ist es, Positionierungen der Organisationen zu eruieren. Auf Basis der Interviews wird spezifisches Insiderwissen erhoben und die Ziele, Erfahrungen, Konstellationen und Sichtweisen zentraler Akteure werden analysiert.

S. Samerski und H. Müller

Arbeitspakete/ Zugänge, Methoden

Analyse

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Sachstand, Positionen und Ziele von Stakeholdern und Versicherten, Handlungsvorschläge für die TK

Mode of Good Practice e-Estonia Entwickler, Nutzer, Kostenträger voMri ndieemth nKoogmramfiae

Stakeholderanalyse Ärzte, KHS, GKV Experteninterviews Onlinebefragung

Fokusgruppeninterviews mit Versicherten Einstellungen, Bedürfnisse

Stakeholder-Map/ Stand Digital Health Literacy in Organisationen Recherche/Dokumentenanalyse

Abb. 3.1   TK-DiSK: methodisches Vorgehen. (Quelle: Eigene Darstellung 2018)

Fokusgruppen Im letzten Schritt wurden auf der Grundlage von zwei exemplarischen Fokusgruppen aus dem Selbsthilfebereich die Bedürfnisse, Einstellungen und Ideen der Versicherten erforscht. Ziel ist es, schlaglichtartig Aufschluss zu erhalten über die Akzeptanz digitaler Technologien, bestehende und erwünschte digitale Gesundheitspraktiken sowie Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf Information, Transparenz, informationelle Selbstbestimmung, Vertraulichkeit, digitale Kommunikation, Datenmanagement etc. (siehe Abb. 3.1).

3.3 Thesen zur Digital Health Literacy Die Studie TK-DiSK läuft bis Ende 2018. Erste Ergebnisse werden in einem Artikel zur Digitalen Gesundheitskompetenz in Deutschland veröffentlicht (Samerski und ­Müller 2019). Im Folgenden werden die vorläufigen Ergebnisse und die bisherigen konzeptuellen Vorarbeiten herangezogen, um das Konzept der Digital Health Literacy weiterzuentwickeln.

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1. Digital Health Literacy braucht eine Neubestimmung Die erste Begriffsbestimmung von Digital Health Literacy stammt aus dem Jahr 2006. Sie ist also bereits älter als ein Jahrzehnt, aber dient noch heute den meisten Autoren als Referenz. Norman und Skinner definierten „eHealth-Literacy“ als „ability to seek, find, understand, and appraise health information from electronic sources and apply the knowledge gained to addressing or solving a health problem“ (Norman und Skinner 2006). Auch der entsprechende Survey, eHEALS, fragt vor allem nach Informationskompetenz in der digitalen Welt. Diese Definition überträgt das Konzept der Health Literacy in das Zeitalter digitaler Gesundheitsinformationen. Health Literacy wird gemeinhin als die Fähigkeit und Motivation verstanden, „Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, einzuschätzen und anzuwenden, um Urteile zu fällen und Entscheidungen im Alltag zu treffen“ (Sørensen et al. 2015). Diese Fähigkeit wird nun im Zeitalter von Digital Health um digitale Informationsquellen erweitert. Digital Health Literacy wird dadurch zu einer Form der Gesundheitskompetenz, die nicht nur mit gedruckten, sondern auch mit digitalen Informationen umgehen kann. Die konzeptuelle Ausformulierung von Griebel et al. (2017) versteht Digital Health Literacy beispielsweise auch in ihrer höchsten Form als „ability to choose and critically evaluate available information“. Digital Health Literacy wird also als eine Art digitale Informationskompetenz im Gesundheitswesen gefasst. Da hierfür mit der fortschreitenden digitalen Vernetzung auch neue Navigationsfähigkeiten erforderlich sind, haben Van der Vaart und Drossaert 2017 ein neues Instrument zur Messung von digitaler Gesundheitskompetenz vorgeschlagen, das neben den üblichen Selbsteinschätzungsfragen auch interaktive digitale Nutzungsfähigkeiten, wie z. B. Onlinenavigation und Datenschutz, misst. Die Erfordernisse eines umfassenden Changemanagements angesichts der digitalen Transformation sowie die bisherigen Studienergebnisse zeigen jedoch deutlich, dass die Erweiterung der Health Literacy um die Fähigkeit, mit digitalen Informationsquellen umzugehen, nicht ausreicht, um Nutzer auf ein digitalisiertes Gesundheitswesen vorzubereiten. Zweifellos sind Fähigkeiten zur gekonnten Nutzung digitaler Medien und zur Bewertung von digitalen Informationen grundlegend: Ebenso wichtig ist jedoch auch ein Grundverständnis von digitaler Technik sowie das Bewusstsein für gesellschaftliche Hintergründe und Folgen der Digitalisierung. Gesundheitsinformationen werden beispielsweise meist gegoogelt – aber kaum jemand kann erklären und kritisch begutachten, wie Google zu seinen Ergebnissen kommt. Ohne dieses Wissen ist es jedoch schwer, die Google-Ergebnisse zu interpretieren und selbstbestimmt für eigene Ziele zu nutzen. Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in den Experteninterviews von TK-DiSK wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die digitale Transformation mehr braucht als digitale Nutzungsfertigkeiten: Sie braucht einen Bewusstseinswandel sowie neue Organisationskulturen und neue Alltagspraktiken. TK-DiSK hat deshalb zu Projektbeginn eine Arbeitsdefinition von Digital Health Literacy entwickelt, die nicht nur digitale Informationskompetenz umfasst, sondern auch die Fähigkeit zur selbstbestimmten Techniknutzung sowie ein Bewusstsein über ethische, rechtliche und soziale Implikationen einschließt. Darin wird Digital Health Literacy verstanden als

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S. Samerski und H. Müller die Fähigkeit, digitale Technologien selbstbestimmt zu nutzen zum Zweck der Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der Gesundheit. Sie versetzt die Akteure im Gesundheitswesen in die Lage, Gesundheitsinformationen zu finden und zu bewerten, gesundheitsrelevante persönliche Daten bei Bedarf zu schützen, Funktionsweisen, Ergebnisse und Folgen von digitalen Gesundheitsanwendungen einzuschätzen, Vor- und Nachteile abzuwägen und entsprechend zu handeln. Sie schließt das Bewusstsein über die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen ein. Digital Health Literacy ist eine Eigenschaft von Personen, Gruppierungen und Organisationen und befähigt diese dazu, den digitalen Wandel gesundheitsförderlich zu gestalten (Müller und Samerski 2018).

Diese Definition beinhaltet auch Überlegungen, die nun in weiteren Thesen vorgestellt werden. Sie macht v. a. deutlich, dass das Ziel von Digital Health Literacy nicht nur die Förderung der Gesundheit ist, sondern auch die Fähigkeit, den digitalen Wandel aktiv mitzugestalten. Außerdem wird Digital Health Literacy nicht nur als neue Kompetenz von Patienten verstanden, sondern ebenfalls als Fähigkeit von Experten und Professionellen sowie als Eigenschaft von Organisationen und Institutionen. 2. Das Ziel von Digital Health Literacy ist das Empowerment der Nutzer Digital Health Literacy ist die Voraussetzung sowie der Treibstoff für eine gelingende digitale Transformation. Ohne Vertrauen in neue Verfahren und ohne konkrete Kenntnisse der Anwendungen werden diese auch nicht eingesetzt werden (können). Um die viel beklagten Hürden der Digitalisierung zu verringern und die digitale Transformation erfolgreich zu gestalten, braucht es eine gezielte Förderung und den Einsatz der Digital Health Literacy. Primäres Ziel der Digital Health Literacy ist dabei jedoch nicht die Verbreitung, sondern der informierte und ggf. nutzbringende Umgang mit digitalen Verfahren, kurz: das Empowerment der Nutzer. Diese Zielbestimmung lässt sich aus den Debatten um das Konzept der Health Literacy entnehmen, das in seinen Ursprungszeiten ganz im Dienst des Medizinsystems stand und das Funktionieren der Patienten sicherstellen sollte: Alarmiert durch die Befunde, dass ein Fünftel der Amerikaner nicht ausreichend alphabetisiert war, begannen Wissenschaftler in den 1980er- und 1990er-Jahren, über die Folgen dieser „Illiteracy“ für die Compliance nachzudenken. Das ursprüngliche Verständnis von Health Literacy hatte also Compliance als oberstes Ziel. Heute dagegen, nach dem Ende des Primats des ärztlichen Paternalismus, wird von Patienten nicht mehr erwartet, dass sie fügsam sind, sondern dass sie medizinische Dienstleistungen informiert, selbstbestimmt und eigenverantwortlich nutzen (Samerski 2010). Neuere Definitionen spiegeln diesen Umbruch wider und verstehen Health Literacy daher vor allem als Fähigkeit, informierte Entscheidungen zu treffen. Don Nutbeam, der maßgeblich zur WHO-Definition von Health Literacy beigetragen hat, betont daher, dass Gesundheitskompetenz letztlich zur Ermächtigung dient: „Health literacy means more than being able to read pamphlets and successfully make appointments. By improving people’s access to health information and their capacity to use it effectively, health literacy is critical to empowerment“

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(Nutbeam 1998). Auch die WHO nennt es als ein Ziel der Förderung von Health Literacy, die Kommunikation im Gesundheitsbereich zu verbessern und sich mit dem Machtgleichgewicht zwischen Dienstleistungsnutzern und -anbietern, zwischen Laien und Experten zu befassen (WHO 2013, S. 26). Dieser Zielbestimmung sollte sich auch die Förderung der Digital Health Literacy anschließen. Es kann nicht in erster Linie darum gehen, Nutzer an die Erfordernisse eines digitalisierten Gesundheitssystems anzupassen, sie also zum Funktionieren zu bringen. Diese Zielbestimmung, die in manchen programmatischen Publikationen durchaus anklingt (Bennat 2016 und Albrecht 2016) droht das Vertrauen der Nutzer zu erodieren. Digital Health Literacy kann nicht das Mittel zum Zweck der Digitalisierung werden, sondern ihr oberstes Ziel muss das Empowerment sein, also die Befähigung zum selbstbestimmten und gesundheitsförderlichen Handeln. Für die Fähigkeit, digitale Technik souverän zu nutzen, haben Mertz et al. (2016) den Begriff der digitalen Selbstbestimmung geprägt und ausformuliert. Digitale Selbstbestimmung bedeutet die konkrete Entfaltung einer menschlichen Persönlichkeit bzw. die Möglichkeit der Realisierung von je eigenen Handlungsentwürfen und Handlungsentscheidungen, soweit dies eine bewusste Verwendung digitaler Medien betrifft oder dies von der Existenz oder Funktionsweise digitaler Medien (mit-)abhängig ist. Dabei wurden sieben Begriffskomponenten "digitaler Selbstbestimmung" identifiziert (Kompetenz, Informiertheit, Werte, Wahlmöglichkeit, Freiwilligkeit, Willensbildung und Handlung) … (Mertz et al. 2016, S. 48).

Es wird deutlich, dass digitale Selbstbestimmung sowohl individuelle Kompetenzen erfordert als auch entsprechende technische und regulatorische Rahmenbedingungen. Sie hängt nicht nur von den Fähigkeiten und dem Wissen der Einzelnen ab, sondern auch von der Gestaltung ihrer technischen und sozialen Umwelt. Wahlmöglichkeiten und Freiwilligkeit müssen beispielsweise durch entsprechende Regulierungen garantiert und darüber hinaus auch technisch realisiert werden. Solange eine App keine Option für den Schutz persönlicher Daten vorsieht, können Nutzer ihre Selbstbestimmung nicht realisieren – auch wenn sie informiert sind und die entsprechenden Kompetenzen besitzen. Digital Health Literacy sollte sich daher nicht nur als eine Eigenschaft von Personen verstanden wissen, sondern als eine Fähigkeit, die sich auch in der Interaktion zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und technischen Systemen realisiert. Zunächst wird nun die These aufgestellt, dass das bisher dominante Verständnis von Digital Health Literacy im Gesundheitswesen die sozialen Dimensionen von Wissen und Fähigkeiten vernachlässigt. Anschließend wird ein relationales und von sozialen Praktiken ausgehendes Verständnis von Digital Health Literacy vorgeschlagen. 3. Digital Health Literacy ist eine soziale Praxis – nicht nur eine kognitive Kompetenz Die bestehenden Definitionen von Health Literacy, auf denen auch das bisherige Verständnis von Digital Health Literacy aufbaut, entwerfen den gesundheitskompetenten Patienten als rationales Individuum, das informationsgesteuerte Entscheidungen trifft.

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Wie die oben zitierte Definition von Sørensen et al. (2015) deutlich gemacht hat, fokussiert Health Literacy auf die Fähigkeit, informierte Entscheidungen zu treffen. Auch Illona Kickbusch definiert Gesundheitskompetenz als „die Fähigkeit des Einzelnen …, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken – zu Hause, am Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem und in der Gesellschaft allgemein“ (Kickbusch und Maag 2008). Health Literacy wird also kognitive Fähigkeit von Einzelnen verstanden, die sich darin manifestiert, dass sie auf externen Informationen begründet gesundheitsförderliche Entscheidungen treffen. (Wissenschaftliche Studien, die diese Kompetenz abfragen, bescheinigen der Hälfte der europäischen Bevölkerung jedoch einen beunruhigenden Mangel: „nearly half of all adults in eight European countries tested have inadequate or problematic health literacy skills that adversely affect their health literacy“, WHO 2013.) Maßnahmen und Programme, die Gesundheitskompetenz verbessern sollen, zielen daher fast ausschließlich auf die Köpfe der Patienten und Versicherten: Durch Schulungen und Aufklärung werden sie instruiert, wie sie Informationen finden und verarbeiten sowie gesundheitsförderliche Entscheidungen treffen sollen (Schaeffer et al. 2018). Dabei wird oftmals davon ausgegangen, dass Informationen quasi eindeutig sind und daher bei „richtigem“ Verständnis zum „richtigen“ Verhalten und damit zur Gesundheit führen würden. „There appears to be an assumption that the underlying messages of biomedical research are basically neutral and benevolent, though they may offer a bewildering array of choices that are not easily judged by the naïve and unsophisticated“ (Chinn 2011, S. 62). Die Geschichte der Gesundheitsförderung zeigt allerdings, dass Interventionen, die auf den Kopf zielen, bisher wenig Erfolg hatten. Maßnahmen, die vor allem auf Kommunikation und Erziehung bauen, „have mostly failed to achieve substantial and sustainable results in terms of behaviour change, and have made little impact in terms of closing the gap in health status between different social and economic groups in society“ (Nutbeam 2000). Das Projekt TK-DiSK soll ein Verständnis von Digital Health Literacy entwickeln, das im Unterschied zu den rationalistischen Grundannahmen der bestehenden Definitionen das Wissen und die Fähigkeiten, die ein digitalisiertes Gesundheitssystem fordert, nicht allein als individuell und kognitiv begreift. Die Sozial- und Kulturwissenschaften kritisieren die Grundannahme, menschliches Handeln und Wissen hätten ihren Ursprung in rationalen, autonomen Subjekten, bereits seit Jahrzehnten. Sie machen deutlich, dass die „Logik der Entscheidung“ („logic of choice“, Mol 2008) weder eine angemessene Beschreibung menschlichen Handelns noch ein erstrebenswertes Ideal ist, das zur Selbstermächtigung bzw. zum Empowerment führen würde (Mol 2008). Wie die praxistheoretische Forschung zeigt, sind Wissen und Fähigkeiten nicht in erster Linie Eigenschaften autonomer, mehr oder weniger rationaler Akteure, sondern entspringen sozialen Beziehungen, Interaktionen, Routinen und materiellen Realitäten. Diese soziale und kulturelle Dimension des Wissens wird in den herkömmlichen Ansätzen zur Bestimmung und Förderung sowohl von Health Literacy als auch von Digital Health Literacy meist vernachlässigt. Literacy wird hier als Informations- und Entscheidungskompetenz isolierter Einzelwesen verstanden – und das, obwohl die New

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Literacy Studies das Verständnis von Literacy bereits vor über zwei Jahrzehnten weiterentwickelt haben und als soziale Praxis analysieren. Vertreter der New Literacy Studies machen deutlich, dass Wissen und Fähigkeiten nicht an einer eindimensionalen Skala gemessen werden können, sondern immer im Kontext sozialer Realitäten untersucht und verstanden werden müssen, „as always embedded in and defined by institutional circumstances and cultural practices“ (Collins 1995, S. 80). Sowohl Gesundheitsinformationen als auch „Gesundheit“ selbst erhalten ihre Bedeutung erst in sozialen Praktiken, in denen sie verhandelt, interpretiert und realisiert werden: Wie die Kommission „Lancet and University College London Commission on Culture and Health“ (Napier et al. 2014) festhält, sind das Erleben und das Verständnis von Gesundheit so vielfältig wie Menschen selbst: Gesundheitsvorstellungen „vary widely across societies and should not merely be defined by measures of clinical care and disease. Health can be defined in worldwide terms or quite local and familiar ones“ (Napier et al. 2014). Die Vernachlässigung dieser Tatsache hält sie für die größte Barriere auf dem Weg zur Erreichung weltweit hoher Gesundheitsstandards. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher, sozial geprägter Gesundheitsbegriffe wird deutlich, dass auch Gesundheitsinformationen nicht universell gültig und eindeutig sein können: Wie Informationen interpretiert werden, welchen Sinn sie machen, ob sie vertrauenswürdig erscheinen und ob und wie sie umgesetzt werden können – alles das hängt auch vom sozialen und kulturellen Kontext ab, in dem sie produziert, vermittelt, gesucht, gedeutet und genutzt werden. Viele Menschen suchen in Gesundheitsfragen beispielsweise zuallererst Rat bei Verwandten, Freunden oder in sozialen Netzwerken, weil sie hier Erfahrungswissen erhalten sowie Trost und emotionale Unterstützung. Erfahrungswissen, wie Borkman im Kontext von Selbsthilfe definiert, ist „truth learned from personal experience with a phenomenon“ (Borkman 1976, S. 446). Wie Studien zur Ratsuche im Gesundheitsbereich zeigen, halten viele Menschen nicht in erster Linie objektive Information, sondern einen Mix aus Meinungen, konkreten Informationen und Erfahrungswissen für am hilfreichsten (a. o. Nettleton et al. 2005; Suzuki und Calzo 2004 und Samerski 2018). Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, Digital Health Literacy als soziale Praxis zu verstehen. Das bedeutet vor allem, die konkreten Erfahrungen, die kulturell geprägte Sinngebung, den sozialen Kontext und die materiellen Realitäten einzubeziehen, die das Wissen und Handeln verschiedener Akteure im Gesundheitswesen bestimmen. Insbesondere für Patienten ist Erfahrungswissen bzw. „Bauchgefühl“ (Gigerenzer 2008) im Gesundheitswesen bedeutsam und handlungsleitend, wird aber in den Diskussionen um Kompetenzen kaum als bedeutsames Wissen anerkannt (Samerski 2019). Wie bedeutsam Erfahrungswissen und sozialer Kontext bei der Einschätzung und Handhabung digitaler Technologien ist, zeigt beispielsweise die Geschichte der Digitalisierung in Estland. Bevor Estland sein Gesundheitswesen digitalisierte, hatten die estnischen Bürger bereits jahrelang positive Erfahrungen mit e-Estonia gesammelt. 2001 hatte der Staat die sogenannte X-Road eingerichtet, eine sichere digitale Infrastruktur für das estnische E-Governance und zahlreiche andere digitale Dienste. Auch private Anbieter,

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wie z. B. Banken, sind an die X-Road angeschlossen. Bevor 2008 schließlich das „Health Information System“ lanciert wurde, waren die Esten digitale Dienste bereits gewohnt und hatten sie in ihrem Alltag zu schätzen gelernt. Diese positive Erfahrung ist im Hinblick auf die Akzeptanz und das Vertrauen der Esten in Digital Health nicht zu unterschätzen. Digital Health Literacy muss daher als soziale Praxis verstanden werden, die Erfahrungswissen und soziale Realitäten mit einschließt. Das bedeutet, dass Digital Health Literacy nicht nur kognitive Fähigkeiten messen sollte, sondern auch positive wie negative Erfahrungen, Haltungen und Erwartungen mit technischen Angeboten, Institutionen und Stakeholdern von Digital Health als bedeutsames Wissen berücksichtigt. Dieses Wissen sollte möglichst früh in die Entwicklung und das Design von IT-Systemen und Anwendungen einbezogen werden (Co-Creation, Partizipation). 4. Digital Health Literacy ist relational und braucht digital gesundheitskompetente Organisationen Eine Digital Health Literacy, die vornehmlich in den Köpfen der Nutzer verortet wird, geht von autonomen Akteuren aus, die digitale Technik selbstgesteuert und frei nutzen können. Diese Sicht verkennt die interaktive Bedingtheit von Wissen und Handeln auf der einen Seite und sozialer und materieller Realität auf der anderen Seite. Digitale Interventionen sind daher von doppelter Komplexität: Sie sind selbst komplex und finden in komplexen Umwelten statt. Wie die techniksoziologische Forschung zeigt, determiniert weder die Technik das menschliche Handeln noch können Menschen Technik – und noch weniger Großtechnologien wie IT – einfach frei in ihrem Sinne nutzen. Die neuere Technikforschung versteht Technik daher nicht als Werkzeug, das autonomen Handelnden quasi gegenüber und zur freien Verfügung steht, sondern analysiert die Interaktion zwischen Mensch und Technik als soziotechnisches System. So wie Menschen technische Instrumente auf eigene, manchmal sogar überraschende Weise nutzen und prägen, so beeinflussen und bestimmen auch die materiellen Umwelten die Nutzer und ihre Praktiken, also die technischen Instrumente, ihr Design sowie ihr sozialer und materieller Kontext (z. B. die Architektur und die Prozesse in einem Krankenhaus). Digital Health Literacy ist daher ein relationales Konzept; digitale Kompetenzen entstehen in der Interaktion zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Technik innerhalb soziotechnischer Systeme. Auch die WHO hat bereits erkannt, dass Kompetenzen im Gesundheitswesen nicht nur Fähigkeiten von einzelnen Patienten sind, sondern als Beziehung zwischen Patienten und ihrer Umgebung verstanden werden müssen, als Interaktion zwischen individuellen Fähigkeiten und Lebenswelten (Münch und Dierks 2017). Individuum und Organisation bestimmen sich gegenseitig. Innerhalb der Debatten um die Gesundheitskompetenz hat sich diese Einsicht in die Wechselwirkung zwischen individuellem Wissen und Umwelt bereits im Konzept der Health Literate Organizations (Brach et al. 2012) niedergeschlagen. Health Literate Organizations verankern Gesundheitskompetenz als ein zentrales Ziel, stellen verständliche Gesundheitsinformationen bereit, schulen ihre Mitarbeiter in der Gesundheitskommunikation und richten sich nach den Bedürfnissen der Nutzer.

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Im digitalisierten Gesundheitswesen braucht es analog dazu Digital Health Literate Organizations, die Digital Health Literacy als ein zentrales Ziel ihrer Organisation verankern und fördern. Digitale Gesundheitskompetenz realisiert sich hier in einer entsprechenden Organisationskultur, in Alltagspraktiken sowie in entsprechendem technischen Design. Anders formuliert: Digital Health Literacy in Organisationen verwirklicht sich als Eigenschaft von soziotechnischen Systemen. Das bedeutet, dass alle Elemente, soziale wie technische, so organisiert und aufeinander abgestimmt werden müssen, dass sie im Zusammenwirken digitale Gesundheitskompetenzen fördern und digitale Selbstbestimmung ermöglichen. Um dieses Thema zu schärfen und Eigenschaften von Unternehmen besser einschätzen zu können, schlägt das Projekt TK-DiSK die Entwicklung und Diskussion von Kriterien zur Einschätzung der Digital Health Literacy von Organisationen vor: Digital gesundheitskompetente Organisationen … • formulieren eine verbindliche Digital Policy für ihre Kunden und Mitarbeiter über den Umgang mit Daten und digitalen Tools innerhalb der eigenen Organisation (Datenethik, Regelungen zur digitalen Selbstbestimmung der Nutzer), • verfügen über (personelle) Strukturen zur aktiven Begleitung der digitalen Transformation, • stellen Transparenz her im Hinblick auf Datenspeicherung, Datenflüsse und Algorithmen, • entwickeln neue IT-Lösungen partizipativ unter Berücksichtigung der Alltagspraktiken und des Erfahrungswissens der zukünftigen Nutzer (Stichworte Co-Creation, User Driven Design). Diese Kriterien und die Entsprechungen in den Organisationen könnten im Rahmen eines Public-Reportings veröffentlicht werden und so einen wichtigen Beitrag zur Orientierung in der digitalen Transformation leisten.

3.4 Schlussbetrachtung Die digitale Transformation aller Lebensbereiche erfordert neben performanten technischen Angeboten (Breitband, App etc.) vor allem ein umsichtiges und partizipatives Changemanagement auf verschiedenen Ebenen. Digitalisierte Angebote im Sinne einer technologischen Plug-in-Anwendung ohne Berücksichtigung sozialer Entitäten und der bisherigen Versorgungskomplexität sind, wie die Erfahrung zeigt, zum Scheitern verurteilt. Trotz dieser Tatsache ist die Diskussion um die Digitalisierung im Gesundheitswesen weitgehend von technischen Fragestellungen beherrscht. Folglich werden technologische Innovationen gefordert und gefördert. Für die Gestaltung des digitalen Wandels sind aber soziale Innovationen ebenso notwendig; und diese sozialen Innovationen setzen Digital Health Literacy voraus, also die Fähigkeit zum selbstbestimmten und gesundheitsförderlichen Umgang mit digitaler Technik. Digital Health Literacy ist dabei jedoch nicht

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einfach das Produkt von Aufklärung und Information, die sich an die Köpfe einzelner Menschen richtet: Es handelt sich um eine Kompetenz, die das Empowerment der Nutzer zum Ziel hat und in soziotechnischen Systemen realisiert wird. Digital Health Literacy beruht also auf dem Zusammenspiel von individuellen Fähigkeiten, sozialen Praktiken und technischem Design. Daher ist es unerlässlich, Digital Health Literacy interaktiv zu verstehen und nicht nur im Individuum, sondern auch in seiner technischen und sozialen Umgebung zu verorten. Den Organisationen und Institutionen im Gesundheitswesen kommt damit bei der Realisierung von Digital Health Literacy eine zentrale Rolle zu. Sie bestimmen die Handlungsmöglichkeiten und soziale Praxis ihrer Mitglieder sowie durch indirekte Einflussnahme und direkte Interaktion auch diejenigen von Patienten bzw. Versicherten. Auch Organisationen und Institutionen können digital kompetent – oder eben inkompetent sein. Die digitale Transformation ist in vollem Gange. Zur Gestaltung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist Digital Health Literacy eine noch wenig genutzte Ressource. Zur nutzbringenden Steuerung des digitalen Wandels ist sie unverzichtbar.

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Silja Samerski  forscht als Humangenetikerin und promovierte Sozialwissenschaftlerin zu Transformationen des Gesundheitswesens durch Wissenschaft und Technik. Sie untersucht u. a. die Auswirkungen von statistischer Prädiktion und „Datafizierung“ auf das Arzt-Patienten-Verhältnis, auf Gesundheitspraktiken und auf das Körpererleben. Ihr Fokus liegt dabei auf der Frage, was (Patienten-)Selbstbestimmung in einem hoch technisierten und zunehmend edukativen Gesundheitswesen bedeutet. Bis 2018 arbeitete sie an der Universität Bremen in einem internationalen Forschungsprojekt zu Gesundheitspraktiken in superdiversen Stadtvierteln und leitet zusammen mit Hardy Müller das TK-Projekt „TK-DiSK“ zu Digital Health Literacy. Seit Oktober 2018 ist sie Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer. Hardy Müller (M. A.)  arbeitet als Referent im Fachbereich Versorgungsmanagement der Techniker Krankenkasse. Er hat Anthropologie, Soziologie und Psychologie studiert. Seit 1993 ist er in der Gesetzlichen Krankenversicherung in verschiedenen Positionen tätig. Bei einer Ersatzkasse etablierte er eine Gesundheitsberichterstattung mit Routinedaten („GEK Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse“) und leitete den Bereich „Gesundheitsmanagement“. Bei der TK übernahm er Aufgaben im Bereich Unternehmensentwicklung, Versorgungsmanagement und im Wissenschaftlichen Institut der TK. Von 2009 bis 2011 war er Sprecher des Fachbereichs Patienteninformation und -beteiligung im Deutschen Netzwerk für evidenzbasierte Medizin e. V., seit 2011 ist er Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V. (APS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Patientensicherheit, personalisierte Medizin und digitale Selbstbestimmung.

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Bewertungsportale im Internet Ulrich Franz

Inhaltsverzeichnis 4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.2 Folgen für den Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.3 Rechtliche Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.4 Anspruch auf Löschung sämtlicher Bewertungen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.5 Anspruch auf Unterlassung konkreter Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.6 Problem der Anonymität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4.7 Anspruch auf Auskunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4.8 Inanspruchnahme des Portalbetreibers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4.9 Haftung für die Verbreitung fremder Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4.10 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Zusammenfassung

Ärzte und Kliniken müssen Bewertungen durch Patienten in Bewertungsportalen auch ohne ihre Einwilligung oder sogar gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen hinnehmen. Sie haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Nichtbewertung oder auf Löschung sämtlicher Bewertungen. Ansprüche auf Unterlassung konkreter Äußerungen kommen aber in Betracht, wenn diese als unwahre Tatsachenbehauptung oder als Formalbeleidigung oder Schmähkritik unzulässig sind. Fake-Bewertungen sind immer unzulässig. Hat der Betroffene Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Rechtsverletzung, sollte er dies gegenüber dem Portalbetreiber unverzüglich beanstanden, damit das vom Bundesgerichtshof entwickelte Beanstandungs- und Nachweisverfahren U. Franz (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_4

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(„notice and action“) eingeleitet wird. Über diesen Weg kann man schnell und ohne gerichtliche Inanspruchnahme zum gewünschten Ziel kommen. Das Grundproblem bleibt der uneingeschränkte Schutz der anonymen Meinung, der dazu führt, dass der betroffene Arzt regelmäßig nicht seinen Kritiker, sondern nur den Portalbetreiber als Intermediär dieses asymmetrischen Kommunikationsprozesses in Anspruch nehmen kann. Die Rechtsprechung wird sich auch in der Zukunft mit diesem Thema befassen.

4.1 Einleitung Die Digitalisierung ist seit vielen Jahren auch im Gesundheitswesen auf dem Vormarsch. War der Patient auf der Suche nach einem geeigneten Arzt oder einer geeigneten Klinik im analogen Zeitalter auf Empfehlungen im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis oder auf einen Blick in die „Gelben Seiten“ angewiesen, hat das digitale Zeitalter ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, positive oder negative Kritik an ärztlichen Leistungen einer grundsätzlich unbeschränkten Öffentlichkeit mitzuteilen und Kritik anderer Patienten in Erfahrung zu bringen. In diesem Kommunikationsprozess treten als Intermediäre immer mehr Betreiber von Bewertungsportalen in Erscheinung. Das gilt insbesondere für das Gesundheitswesen, wie es die seit einigen Jahren existierenden Portalbetriebe www. jameda.de, www.sanego.de, www.docinsider.de und www.klinikbewertungen.de als Pars pro Toto zeigen. Der unmittelbare Vorteil dieser Informationsquelle liegt zunächst in ihrer jederzeitigen und weltweiten Abrufbarkeit, ihrer Aktualität und ihrer Kostenlosigkeit. Aus Sicht des Nutzers liegt der besondere Wert eines Portals darin, dass er Bewertungen von anderen Nutzern erhält, die eine ärztliche oder klinische Leistung bereits in Anspruch genommen haben. Diesen wird ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit beigemessen. Der Nutzer wähnt sich mit dem Kritiker „in einem Boot“ und unterstellt keine finanziellen Eigeninteressen, sondern erwartet ehrliche Bewertungen. Zudem neigt er instinktiv zu der Annahme, dass eine Vielzahl subjektiver Einzelbewertungen irgendwie ein objektives Gesamtbild abgibt. Werden die Bewertungen statistisch aufbereitet und aus ihnen eine abschließende Durchschnittsnote gebildet, kommt eine unterschwellig vorhandene Zahlengläubigkeit („trust in numbers“) hinzu: Im Gegensatz zu einer subjektiven Meinung („der Arzt ist gut“) erscheint dem Nutzer eine Gesamtnote („1,1”) immer objektiv. Dabei wird häufig übersehen, dass Patienten in der Regel überhaupt nicht sachkundig sind, ärztliche oder klinische Leistungen in ihrer fachlichen Qualität bewerten zu können. Insoweit bestehen zwischen einem Ärzte- und einem Hotelbewertungsportal durchaus Unterschiede: Zur Bewertung der Sauberkeit eines Hotelzimmers oder der Lage oder der Ausstattung eines Hotels ist eine besondere Sachkunde nicht erforderlich. Am Ende ist auch ein massenpsychologisch nachweisbarer Herdentrieb zu berücksichtigen: Menschen neigen dazu, Anführern und Meinungsmachern hinterherzulaufen und orientieren sich an bereits vorhandenen Bewertungen (Boehme-Neßler 2016, S. 642). Gleichwohl können Bewertungsportale in der Gesamtschau einen Beitrag für den Verbraucherschutz durch Information leisten und infolgedessen die Markttransparenz erhöhen. Es überrascht daher

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nicht, dass der Bundesgerichtshof (BGH) den Betrieb eines Bewertungsportals mit seiner Grundsatzentscheidung vom 23.06.2009 für grundsätzlich zulässig erklärt hat (BGHZ 181, 328 – www.spickmich.de für ein mittlerweile nicht mehr aktives Lehrerbewertungsportal). Anders ist die Rechtslage lediglich bei Denunziantenportalen, wie z. B. www. dontdatehimgirl.com, deren Problematik hier nicht weiter dargestellt werden soll (hierzu Franz 2018, S. 7 f.).

4.2 Folgen für den Betroffenen Für den bewerteten Arzt oder die bewertete Klinik sind die Folgen der Bewertungen zweischneidig. Wer stets positiv bewertet wird, kann sich einer unerwarteten Gratiswerbung und eines Zulaufs von Neupatienten erfreuen. Das gilt insbesondere dann, wenn der bewertete Arzt in seiner Stadt bzw. in seinem Stadtviertel in seinem Fachbereich am besten abgeschnitten hat. Der Betroffene kann die Bewertungen auch für den eigenen Internetauftritt nutzen oder auf das Portal und die konkrete Bewertungsseite unter Angabe der positiven Gesamtnote verlinken. Auch Kliniken können sich bei guten Bewertungen dieser Gratiswerbung erfreuen und mit Neupatienten rechnen, wenn für diese Wahlfreiheit besteht. Für den schlecht bewerteten Arzt und die schlecht bewertete Klinik stellt sich die Lage naturgemäß anders dar. Der nach einem geeigneten Arzt suchende Patient trifft seine Auswahlentscheidung nach der einfachen Regel: Wenn es diverse Ärzte in seiner Stadt mit ausschließlich positiven Bewertungen gibt, wird er einen Arzt, der eine oder gar mehrere schlechte Bewertungen erhalten hat, gar nicht erst in Betracht ziehen. Der Nutzer scrollt in der Bewertungsliste nicht weiter nach unten, sondern bleibt bei den besten Bewertungen hängen und trifft unter diesen seine Auswahlentscheidung. Wie rufschädigend Kritik in Bewertungsportalen sein kann, zeigt der Sachverhalt im Urteil des BGH vom 01.07.2014 (GRUR 2014, 902 – Ärztebewertung). Dort wurde über den klagenden Arzt behauptet, bei ihm würden Patientenakten in den Behandlungsräumen in Wäschekörben gelagert, es gebe unverhältnismäßig lange Wartezeiten, Folgetermine seien nicht zeitnah möglich und eine Schilddrüsenüberfunktion sei von ihm nicht erkannt und kontraindiziert behandelt worden. Solche Fundamentalkritik kann unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen haben durch weniger Neupatienten und Verlust von Bestandspatienten. Auch können diese Bewertungen über Suchmaschinen jederzeit von Personen ermittelt werden, die kein unmittelbares Sachinteresse an der Bewertung haben, sondern sich aus reiner Neugier darüber informieren wollen, wie ihr Bekannter, Arbeitskollege, Konkurrent, Nachbar oder gar Feind in seinem beruflichen Wirkungskreis bewertet wird. Wie die Bewertungen zustande gekommen sind und ob sie auch inhaltlich richtig sind und auf wahren Tatsachen beruhen, kann und wird der Nutzer eines Bewertungsportals nicht hinterfragen. Besonders perfide ist die Situation, wenn die Bewertungen – bei positiver Kritik – vom Bewerteten selbst oder von seinem Strohmann oder – bei negativer Kritik – von einem Wettbewerber in Schädigungsabsicht frei

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erfunden worden sind. Bei Hotelbewertungsportalen geht man davon aus, dass etwa ein Viertel aller eingestellten Bewertungen fingiert sind (Ahrens und Richter 2011, S. 815). Auch eine verschmähte Liebhaberin, ein genervter Nachbar, ein eifersüchtiger Arbeitskollege oder eine (aus ihrer Sicht zu Unrecht) entlassene Arzthelferin kann über eine selbst generierte Alias-E-Mail-Identität unterhalb der Schwelle eindeutig rechtsverletzender Kritik dauerhaft „sticheln“ und einem Freiberufler das Leben schwer machen (Kühling 2015, S. 449). In Zeiten demografisch bedingter wachsender Personalknappheit können auch rufschädigende Äußerungen ehemaliger Angestellter in Arbeitgeberbewertungsportalen (z. B. www.kununu.com oder www.meinchef.de) zunehmend problematisch werden. Hier besteht ein erhebliches Risiko, dass das alleinige Motiv für die rufschädigende Kritik Rache am (ehemaligen) Arbeitgeber wegen einer als ungerechtfertigt empfundenen Kündigung oder eines nicht akzeptierten schlechten Zeugnisses darstellt. Subjektiven Bewertungen ist immanent, dass allein der Kritiker seine Meinung äußert und der Nutzer nie „die ganze Geschichte“ erfährt. Bewertungsportale eröffnen daher keinen „Markt der Meinungen“, sondern nur ein Forum für einseitige Produkt- und Leistungskritik. Der Kommunikationsprozess selbst ist durch seine Asymmetrie gekennzeichnet: Während der Kritiker im Schutze der Anonymität jede noch so unsinnige, unfaire und unsubstanziierte Äußerung tätigen darf, die ohne Eingangskontrolle vom Portalbetreiber sofort veröffentlicht wird, steht der Betroffene mit vollem Namen und Anschrift im grellen Licht der Öffentlichkeit und kann sich gegen diese Äußerungen erst einmal nicht wehren (Kühling 2015, S. 448). Eine besondere Gefahr geht auch von dem Medium aus: Während die im analogen Zeitalter gepflegte Mund-zu-Mund-Propaganda durch ihre Flüchtigkeit und ihren äußerst eingeschränkten Wirkungskreis mit der „Gnade des Vergessens“ geprägt war, werden Bewertungen in Portalen einem weltweiten Nutzerkreis dauerhaft zugänglich gemacht. Das Internet vergisst grundsätzlich nichts. Da Bewertungen jederzeit abgegeben und veröffentlicht werden, sind Arzt und Krankenhaus im Prinzip zu einer permanenten Kontrolle ihrer digitalen Repräsentation gezwungen (Kühling 2015, S. 449).

4.3 Rechtliche Ausgangslage Wegen dieser gravierenden Folgen stellt sich für den Betroffenen unweigerlich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen er gegen die Bewertungen vorgehen kann. Hier ist zunächst die Ausgangslage des multipolaren Grundrechtsverhältnisses zu betrachten, wie sie in Abb. 4.1 dargestellt wird. Dem durch eine negative Kritik betroffenen Arzt steht unzweifelhaft sein allgemeines Persönlichkeitsrecht zur Seite, das auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz – GG) und die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gestützt wird. Dieses zentrale Grundrecht schützt die Persönlichkeitssphäre und die Rahmenbedingungen, die für ihre Erhaltung notwendig sind. Im Bereich der negativen Kritik in Bewertungsportalen werden unterschiedliche Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

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Nutzer/ Öffentlichkeit Informationsfreiheit

(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG)

Betroffener Allg. Persönlichkeitsrecht

(Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) ■ ■ ■



Recht der persönlichen Ehre Anspruch auf soziale Achtung und Geltung Recht auf Darstellung der eigenen Person in der Öffentlichkeit Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Berufsfreiheit

(Art. 12 Abs. 1 GG)

Portalbetreiber Konflikt

Berufsfreiheit

(Art. 12 Abs. 1 GG)

Kommunikationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG)

Kritiker

Meinungsfreiheit

(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG)

Meinungsfreiheit

(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) auch anonym/pseudonym

Abb. 4.1   Multipolares Grundrechtsverhältnis. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

berührt sein: Das Recht der persönlichen Ehre, der Anspruch auf soziale Achtung und Geltung, das Recht auf Darstellung der eigenen Person in der Öffentlichkeit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BGHZ 181, 328 Rn. 27 f. – www.spickmich.de und BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 26 – Ärztebewertung II). Auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht können sich über Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen berufen, soweit sie aus ihrem Wesen als Zweckschöpfung des Rechts und ihren Funktionen eines Rechtsschutzes bedürfen, was insbesondere dann in Betracht kommt, wenn sie in ihrem sozialen Geltungsanspruch in ihrem Aufgabenbereich betroffen sind. Das hat der Bundesgerichtshof bei der negativen Bewertung einer Klinik in seinem Urteil vom 04.04.2017 bejaht (GRUR 2017, 844 Rn. 16 – klinikbewertungen.de). Da in den einschlägigen Portalen berufliche Leistungen bewertet werden, ist auch das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 27 – Ärztebewertung II). Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs zwinge die Aufnahme in ein Bewertungsportal den aufgenommenen Arzt dazu, sich in dem vom Portalbetreiber vorgegebenen (engen) Rahmen einer breiten Öffentlichkeit präsentieren zu lassen sowie sich – unter Einbeziehung von Bewertungen medizinisch unkundiger Laien – einem Vergleich mit anderen im Portal aufgeführten Ärzten zu stellen. Das könne erhebliche Auswirkungen auf seine beruflichen Chancen und seine wirtschaftliche Existenz haben. Auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG kann sich der Betroffene dagegen nicht berufen, weil die Reputation eines Freiberuflers oder Unternehmens nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vom Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst ist (Beschluss vom 26.06.2002, NJW 2002, 2621, 2625 – Glykolwein).

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Auf der anderen Seite sind die Grundrechte der anderen Beteiligten des Kommunikationsprozesses zu berücksichtigen: Der Portalbetreiber kann sich zunächst auf seine Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG berufen, die auch die Tätigkeit als Unternehmer schützt und nicht nur natürlichen Personen, sondern über Art. 19 Abs. 3 GG auch juristischen Personen des Inlands zugutekommt (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 29 – Ärztebewertung II). Daneben steht dem Portalbetreiber das aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Recht auf Kommunikationsfreiheit zu (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 28 – Ärztebewertung II). Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs wird schon der Kommunikationsprozess als solcher und damit der Betrieb des Bewertungsportals vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst. Der Portalbetreiber als „unverzichtbare Mittlerperson“ mache den Austausch über Behandlungserfahrungen bei konkreten Ärzten/Kliniken unter nicht persönlich miteinander bekannten Personen erst möglich und das Portal erhebe aus Sicht des Nutzers den Anspruch, ein vollständiges Bild über die abgegebenen und vorgegebenen Richtlinien entsprechenden Nutzerbewertungen zu zeichnen (BGH GRUR 2017, 844 Rn. 24 – klinikbewertungen.de). Wenn der Portalbetreiber Meinungen der Kritiker nicht nur sammelt, sondern statistisch auswertet und visuell darstellt oder sogar sich zu eigen macht, kann er sich auch auf den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG berufen (BGH GRUR 2017, 844 Rn. 24 – klinikbewertungen.de). Dieses Grundrecht steht naturgemäß vor allem dem Kritiker zu, was der Portalbetreiber nach Ansicht des Bundesgerichtshofs als Intermediär zu beachten hat (BGH GRUR 2016, 855 Rn. 31 – www.jameda.de). Bewertungen sind regelmäßig Meinungsäußerungen bzw. Werturteile, die unmittelbar unter dieses Grundrecht fallen. Vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG werden aber auch wahre Tatsachenbehauptungen erfasst, die Voraussetzung für die Meinungsbildung sind und auf die sich die Meinungsäußerung stützt. Schließlich ist auch das den Nutzern zustehende Grundrecht der Informationsfreiheit zu beachten (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 28 – Ärztebewertung II). Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert die Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten zu können. Das bedeutet, dass Urteile staatlicher Gerichte, die sich auf Bewertungsportale auswirken, Eingriffe in die dem Portalbetreiber, dem Kritiker und den Portalnutzern zustehenden Grundrechte darstellen und den strengen Schrankenregelungen von Art. 5 und Art. 12 GG standhalten müssen. Die im Konflikt stehenden unterschiedlichen Grundrechte unterschiedlicher Grundrechtsträger (Betroffener, Portalbetreiber, Kritiker und Nutzer) müssen im Wege der sog. praktischen Konkordanz auf der Grundlage einer umfassenden Güter- und Pflichtenabwägung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls miteinander und gegeneinander abgewogen werden, um im konkreten Fall zu einer (richtigen) Entscheidung zu kommen. Das ist nichts Besonderes, sondern seit Jahrzehnten praktizierte Rechtsanwendung im Medienrecht. Bei Bewertungsportalen müssen lediglich die Besonderheiten des digitalen Mediums beachtet werden, anderenfalls problematische Ergebnisse erzielt werden (Boehme-Neßler 2016, S. 641).

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4.4 Anspruch auf Löschung sämtlicher Bewertungen? Der Bundesgerichtshof folgert aus der grundsätzlichen Zulässigkeit des Betriebs eines Bewertungsportals, dass der Betroffene keinen Anspruch auf Nichtbewertung oder auf vollständige Löschung sämtlicher Bewertungen hat (BGHZ 181, 328 – www.spickmich. de und BGH GRUR 2014, 1228 – Ärztebewertung II). Ein dahin gehender Anspruch würde auf ein allgemeines Bewertungsverbot hinauslaufen, was der Meinungs-, Kommunikations- und Informationsfreiheit zuwiderlaufen würde. Zudem gilt im Medienrecht seit jeher der Grundsatz, dass derjenige, der seine Leistungen öffentlich anbietet, sich der Kritik seiner Leistungen stellen muss (BGH GRUR 1976, 260, 270 – Warentest II). Er hat keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte (BVerfG NJW 1999, 1322 Rn. 42 – Helnwein). Zudem berühren die in Portalen veröffentlichten Bewertungen nach Ansicht des Bundesgerichtshofs „nur“ die berufliche Tätigkeit des Betroffenen und damit die nach der Intim-, Geheim- und Privatsphäre am wenigsten geschützte Sozialsphäre (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 35 – Ärztebewertung II). Im Bereich der Sozialsphäre müsse sich der Einzelne wegen der Wirkungen, die seine Tätigkeit hier für andere hat, von vornherein auf die Beobachtung seines Verhaltens durch eine breitere Öffentlichkeit und auf Kritik an seinen Leistungen einstellen. Das gelte insbesondere auch bei freiberuflich tätigen Ärzten, die ihre Leistungen in Konkurrenz zu anderen Ärzten anbieten. Äußerungen im Rahmen der Sozialsphäre dürften nur im Fall schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen verknüpft werden, so etwa dann, wenn eine Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder Prangerwirkung zu besorgen seien, so der Bundesgerichtshof. Damit ist die „Zwangsmitgliedschaft“ in einem Bewertungsportal ohne Einwilligung oder sogar gegen den ausdrücklich erklärten Willen des betroffenen Arztes rechtlich zulässig. Hiervon abweichend hat der Bundesgerichtshof im jüngsten Urteil vom 20.02.2018 (GRUR 2018, 636 – Ärztebewertung III mit Anm. Franz) einer klagenden Hautärztin einen Anspruch auf vollständige Löschung ihrer Bewertungen zugesprochen. In dieser Entscheidung ging es um das Ärztebewertungsportal www.jameda.de, das interessierten Ärzten gegen Entgelt "Premium-Pakete" anbot. Damit konnte deren Profil mit einem Foto und zusätzlichen Informationen versehen werden. Darüber hinaus wurden im Profil anderer, nicht zahlender Ärzte die Profilbilder unmittelbarer (zahlender) Konkurrenten gleicher Fachrichtung im örtlichen Umfeld mit Entfernungsangaben und Noten – als Anzeige gekennzeichnet – eingeblendet. Demgegenüber blendete das Portal bei Ärzten, die sich bei ihm kostenpflichtig registriert und ein „Premium-Paket“ gebucht hatten, keine Konkurrenten ein. Das Gericht entschied, dass diese „Premium-Pakete“ mit der erforderlichen Neutralität eines Portalbetreibers nicht in Einklang zu bringen seien. Der Portalbetreiber habe in diesem Fall seine Stellung als „neutraler Informationsmittler“ verlassen, sodass er sein Grundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit gegenüber dem Recht der betroffenen Hautärztin auf informationelle Selbstbestimmung nur

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mit ­geringerem Gewicht geltend machen könne. Unmittelbar nach dieser höchstrichterlichen Entscheidung hat www.jameda.de das Einblenden der werblichen Anzeigen der zahlenden Ärzte auf den Seiten der Basisprofile der nichtzahlenden Ärzte abgeschaltet und damit dem Löschungsanspruch die Grundlage entzogen.

4.5 Anspruch auf Unterlassung konkreter Äußerungen Kommt im Regelfall ein Anspruch auf Löschung sämtlicher Bewertungen nicht in Betracht, hat der betroffene Arzt grundsätzlich nur einen Anspruch auf Unterlassung konkreter Äußerungen, wenn diese unwahre Tatsachen beinhalten oder eine unzulässige Meinungsäußerung darstellen. Bei der unwahren Tatsachenbehauptung ist die Kreditgefährdung gemäß § 824 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) als Anspruchsgrundlage einschlägig, bei der unzulässigen Meinungsäußerung die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. die Verletzung des Rechts am Unternehmen als sonstige Rechte i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB. Erfüllt der Kritiker mit seiner Kritik auch äußerungsrechtliche Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch (StGB), die üble Nachrede gemäß § 186 StGB oder die Verleumdung gemäß § 187 StGB, kommt als Anspruchsgrundlage die Verletzung eines Schutzgesetzes gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Betracht. Tatsachenbehauptungen sind durch die objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit charakterisiert. Sie lassen sich grundsätzlich mit Mitteln des Beweises (Zeugen, Urkunden, Augenschein, Sachverständige, Parteivernehmung) auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit überprüfen. Zu unterlassen wäre z. B. die Äußerung, eine Arztpraxis würde nie vor 10 Uhr morgens öffnen, verfüge über keine E-Mail-Adresse oder die Wartezeiten würden mindestens 60 min betragen, wenn alle diese Behauptungen nicht zutreffen und die Unwahrheit auch gerichtlich (z. B. über die Vernehmung von Zeugen) bewiesen werden kann. Die Beispiele verdeutlichen bereits, dass die meisten Bewertungen keine Tatsachenbehauptungen, sondern regelmäßig Meinungsäußerungen darstellen. Meinungsäußerungen sind durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Weil sie durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sind, können sie nicht mit Mitteln des Beweises auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit überprüft werden. Meinungsäußerungen sind insbesondere Schulnoten für vorformulierte Bewertungskriterien wie „Behandlung“, „Aufklärung“, „Vertrauensverhältnis“, „genommene Zeit“ und „Freundlichkeit“ (BGH GRUR 2016, 855 – www.jameda.de). Sie dürfen grundsätzlich frei geäußert werden, auch wenn die Kritik den bewerteten Arzt hart trifft. Die Grenze zur Unzulässigkeit überschreitet der Kritiker erst dann, wenn er den Kritisierten beleidigt oder Schmähkritik übt. Schmähkritik liegt vor, wenn bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung des Betroffenen im Vordergrund steht und dieser jenseits polemischer und überspitzter Kritik herabgesetzt werden soll. Das wäre z. B. bei der Bezeichnung eines Arztes mit Tiernamen („Affe“, „Schwein“) oder als „blutsaugender Knochenbrecher“

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oder „gieriger Halsabschneider“ anzunehmen. Meinungsäußerungen sind aber auch dann unzulässig, wenn sie auf einer unwahren Tatsachengrundlage basieren. So hat der Bundesgerichtshof die Meinungsäußerungen in einem Klinikbewertungsportal: „auf Notfälle nicht vorbereitet“ und „das Klinikpersonal war mit der lebensbedrohlichen Notfallsituation überfordert; dies hat beinahe zu meinem Tod geführt“, als unzulässig untersagt, weil sie auf einer von den Instanzen festgestellten unwahren Tatsachenbehauptung: „bei einem Standardeingriff kam es wegen meiner besonderen Konstitution zu einer septischen Komplikation, die zu einem Multiorganversagen und einer mehrmonatigen Erblindung führten“, beruhten (BGH GRUR 2017, 844 – klinikbewertungen.de). In der Rechtsprechung noch nicht entschieden ist, ob der nichtsachkundige Patient im Rahmen seiner Kritik eine Fehldiagnose oder gar einen ärztlichen Behandlungsfehler behaupten darf. Nach Ansicht des Verfassers dürfen derart existenzgefährdende Äußerungen erst dann aufgestellt werden, wenn der Patient selbst über Sachkunde verfügt oder nach Einholung einer zweiten Meinung eines anderen Arztes von einem Behandlungsfehler ausgehen durfte (Franz 2018, S. 16). Ansonsten dürfen solche Äußerungen in Bewertungsportalen weder behauptet noch verbreitet werden. Kompromisslos ist die Rechtsprechung bei sog. Fake-Bewertungen: Hat der Kritiker die kritisierten Leistungen des Arztes nie in Anspruch genommen, ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs jede Meinungsäußerung als fingierte Bewertung unzulässig (BGH GRUR 2016, 855 Rn. 36 – www.jameda.de). Ein berechtigtes Interesse, eine tatsächlich nicht stattgefundene Behandlung zu bewerten, sei nach Ansicht des Gerichts nicht ersichtlich, und auch für den Portalbetreiber bestehe kein rechtliches Interesse, eine Bewertung über eine nicht stattgefundene Behandlung zu kommunizieren. Es gelten die gleichen Grundsätze wie für erfundene Interviews, die stets eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des vermeintlichen Interviewpartners darstellen (BGH NJW 1965, 685 – Exklusiv-Interview).

4.6 Problem der Anonymität Steht dem betroffenen Arzt oder der betroffenen Klinik ein Anspruch auf Unterlassung bestimmter Äußerungen zu, liegt das Hauptproblem in der Anspruchsdurchsetzung. Patienten äußern ihre Kritik regelmäßig im Schutz der Anonymität, und ohne Name und (zustellungs- und ladungsfähige) Adresse ist eine gerichtliche Anspruchsdurchsetzung nicht möglich. Der Bundesgerichtshof schützt auch die anonym oder unter einem Pseudonym abgegebene Meinung ohne jede Einschränkung (BGHZ 181, 328 Rn. 38 – www. spickmich.de). Zur Begründung führte er zunächst für ein Lehrerbewertungsportal aus, dass eine Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung zu bekennen, die Gefahr begründen würde, dass der Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen negativen Auswirkungen sich dahin gehend entscheide, seine Meinung nicht zu äußern. In einer späteren Entscheidung ergänzte er, dass die Möglichkeit zur Abgabe anonymer Bewertungen gerade bei Ärztebewertungsportalen besonderes Gewicht erlange, weil dort

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die Bewertungen häufig mit der Mitteilung sensibler Gesundheitsinformationen – etwa über den Grund der Behandlung oder die Art der Therapie – verbunden seien (BGH GRUR 2014, 1228 Rn. 41 – Ärztebewertung II). Wäre die Abgabe einer Bewertung nur unter Offenlegung der Identität möglich, bestünde ganz besonders die Gefahr, dass eigentlich bewertungswillige Patienten von der Abgabe einer Bewertung absähen. Das überzeugt nicht. Nach Auffassung des Verfassers übersieht der Bundesgerichtshof, dass der Kritiker mit Repressalien oder sonstigen Nachteilen durch den Bewerteten regelmäßig nicht rechnen muss, weil er nach Veröffentlichung seiner Kritik zu einem anderen Arzt gewechselt sein dürfte. Insofern passte dieses Argument ausschließlich für das in Rede stehende Lehrerbewertungsportal. Auch übersieht der Bundesgerichtshof, dass bei einem großen Teil insbesondere der jüngeren Bevölkerung eine hohe Bereitschaft zur Selbstpreisgabe von Daten, Fotos und Informationen über die eigene Persönlichkeit einschließlich der Gesundheit besteht, worauf auch der Erfolg der sozialen Netzwerke beruht (Franz 2018, S. 29). Das Argument, Kritiker würden sensible Gesundheitsinformationen bei fehlendem Schutz der Anonymität nicht mitteilen, mag bei älteren und schwer kranken Menschen gelten, gilt aber nicht für den Regelfall eines Arztbesuches mit nachfolgender Bewertung. Vor allem übersieht der Bundesgerichtshof bis heute die dunkle Seite der Anonymität (Boehme-Neßler 2016, S. 642): Wenn der Kritiker in ihrem Schutze keine rechtliche und soziale Verantwortung für den eigenen Beitrag übernehmen muss, wie bei der offenen Kommunikation unter vier Augen, kann das zu einem drastischen Absinken sämtlicher psychologischen und sozialen ­Hemmschwellen bis zu einer vollständigen Enthemmung führen. Insofern sollte der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung überdenken. Nach Auffassung des Verfassers sollte Kritik in Bewertungsportalen nur unter dem Klarnamen mit einer rückverfolgbaren E-Mail-Adresse zulässig sein (Franz 2018, S. 28). Denn anders als bei Meinungsforen und Blogs, bei denen unverändert die Anonymität geschützt werden sollte, sind bei leistungsbezogener Kritik in Bewertungsportalen erhebliche Auswirkungen auf das berufliche Fortkommen zu besorgen; in Einzelfällen kann sogar die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen auf dem Spiel stehen. Die Aufgabe des Schutzes der Anonymität würde auch dazu führen, dass die Auseinandersetzung dort geführt wird, wo der Rechtsstreit hingehört: Zwischen dem Kritisierten (Betroffenen) und seinem Kritiker. Es ist bezeichnend, dass alle sieben Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu Bewertungsportalen in dem Rechtsverhältnis zwischen dem Betroffenen und dem Portalbetreiber ergangen sind.

4.7 Anspruch auf Auskunft? Kennt der betroffene Arzt seinen Kritiker nicht, liegt nahe, dass er zunächst versucht, vom Portalbetreiber im Wege der Auskunft die personenbezogenen Daten des Kritikers (Name, Anschrift etc.) zu erhalten, um anschließend gegen diesen vorgehen zu können.

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Auskunftspflichten kommen nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bei jedem Rechtsverhältnis in Betracht, dessen Wesen es mit sich bringt, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen oder Umfang seines Rechts im Ungewissen und der Verpflichtete in der Lage ist, unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Der Berechtigte kann auch die Nennung der Namen Dritter zur Ermittlung der Quelle der Rechtsbeeinträchtigung verlangen, um künftige Beeinträchtigungen zu vermeiden. Gleichwohl lehnt der Bundesgerichtshof eine entsprechende Auskunftsverpflichtung des Portalbetreibers unter Hinweis auf § 12 Abs. 2 Telemediengesetz ab (BGH GRUR 2014, 902 Rn. 9 ff. – Ärztebewertung). Danach ist der Portalbetreiber zur Herausgabe der Anmeldedaten ohne Einwilligung des Nutzers nicht befugt, sodass ihm die geschuldete Auskunft rechtlich unmöglich ist (§ 275 Abs. 1 BGB). Natürlich könnte der Portalbetreiber nunmehr an den Kritiker herantreten und ihn um Einwilligung in die Herausgabe seiner personenbezogenen Daten bitten. Aber welcher Kritiker wird diese Einwilligung in Kenntnis des Umstandes, dass der von ihm Kritisierte eine Abmahnung und ein gerichtliches Verfahren vorbereitet, erteilen? Ebenso aussichtslos ist es, die Daten des Kritikers über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch Stellung einer Strafanzeige gegen unbekannt zu erlangen. Versteckt sich der Kritiker hinter einer anonymisierten und nicht rückverfolgbaren E-Mail-Adresse, kann er von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht ermittelt werden. Ist er ermittelbar, besteht bei den (personell unterbesetzten) Strafverfolgungsbehörden wenig Neigung, Äußerungsdelikte auszuermitteln; vielmehr verweisen diese regelmäßig auf den Privatklageweg (Höch 2016, S. 1475 Fn. 26).

4.8 Inanspruchnahme des Portalbetreibers Im Ergebnis bleibt dem betroffenen Arzt nur der Weg übrig, den Portalbetreiber auf Unterlassung rufschädigender Äußerungen in Anspruch zu nehmen. In diesem Verhältnis ist zunächst festzustellen, dass der Portalbetreiber grundsätzlich keine eigenen Behauptungen aufstellt, sondern nur fremde Behauptungen eines Kritikers verbreitet (BGH GRUR 2015, 1129 Rn. 24 ff. – Hotelbewertungsportal). Deshalb kommt seine äußerungsrechtliche Haftung nur dann in Betracht, wenn er sich die fremde Kritik zu eigen gemacht hat, indem er nach außen erkennbar die inhaltliche Verantwortung für die auf seiner Internetseite veröffentlichten Inhalte übernommen oder den zurechenbaren Anschein erweckt hat, er identifiziere sich mit diesen. Das ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs bei Bewertungsportalen nur dann der Fall, wenn der Portalbetreiber eine inhaltlich-redaktionelle Überprüfung der in seinem Portal eingestellten Nutzerbewertungen auf Vollständigkeit und Richtigkeit vornimmt (BGH GRUR 2015, 1129 Rn. 28 – Hotelbewertungsportal). Dafür genügt eine statistische Auswertung zu bestimmten Durchschnittswerten und einer Weiterempfehlungsrate nicht, weil der Portalbetreiber dadurch keinen Einfluss auf den Inhalt der Bewertungen nehme.

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Auch eine a­utomatische Überprüfung der Bewertungen durch eine Wortfiltersoftware, die nach Formalbeleidigungen oder unzulässigen Eigenbewertungen sucht, oder eine anschließende manuelle Durchsicht sei keine inhaltlich-redaktionelle Überprüfung der Bewertungen auf Richtigkeit, so der Bundesgerichtshof. Diese Maßnahmen erfolgten lediglich, um die Einhaltung der Nutzungsbedingungen und etwaiger eigener Rechtspflichten des Portalbetreibers zu überprüfen. Ein Zu-eigen-Machen hat der Bundesgerichtshof aber für den Fall angenommen, dass der Portalbetreiber die Kritik eigenmächtig und ohne Rücksprache mit dem Kritiker ändert und damit seine Rolle als neutraler Vermittler verlässt und eine aktive Rolle übernimmt (BGH GRUR 2017, 844 – klinikbewertungen.de). In dem dortigen Fall betrieb die Klägerin eine Klinik für HNO- und Laserchirurgie. Ein Patient wurde dort an der Nasenscheidewand operiert. Bei ihm trat 36 h später und nach Verlegung in zwei weitere Krankenhäuser eine lebensbedrohliche Sepsis mit Leber- und Nierenversagen ein. Der Patient veröffentlichte seinen Erfahrungsbericht im Portal des Beklagten unter dem Pseudonym „X“. Er behauptete, dass die Klinik auf Notfälle nicht vorbereitet ist, es bei diesem Standardeingriff zu einer septischen Komplikation kam und das Klinikpersonal mit der lebensbedrohlichen Notfallsituation überfordert war, was beinahe zu seinem Tod geführt hätte. Nachdem die Klägerin den Portalbetreiber zur Entfernung des Beitrags aufgefordert hatte, nahm dieser ohne Rücksprache mit dem Patienten eigenmächtig Änderungen vor, indem er zur Abmilderung der Kritik einen Textteil einfügte und einen Textteil strich. Bei der Äußerung: „bei einem Standardeingriff kam es zu einer septischen Komplikation“, fügte der Portalbetreiber eigenmächtig die Worte: „wegen meiner besonderen Konstitution“, ein; bei dem Satz: „Polizei und Staatsanwaltschaft haben die Praxis durchsucht und Akten sichergestellt“, strich der Portalbetreiber eigenmächtig die Worte: „und Akten sichergestellt“. Wegen dieser mit dem Patienten nicht abgestimmten Änderungen bejahte der Bundesgerichtshof nunmehr ein Zu-eigen-Machen der fremden Kritik und konnte den Portalbetreiber zur Unterlassung verurteilen, auch wenn er die Änderungen zugunsten der bewerteten Klinik vorgenommen hatte. Die Vorinstanzen hatten durch Beweisaufnahme festgestellt, dass die Klinik der Klägerin ein organisatorisch einwandfreies Notfallsystem installiert hatte und Klinik und Personal auf operationstypische Notfallsituationen vorbereitet und entsprechend geschult waren. Ferner konnte festgestellt werden, dass die lebensbedrohliche Sepsis erst 36 h nach der Operation und nicht „bei“ dieser eingetreten war. Nach diesem Urteil ist kaum noch damit zu rechnen, dass Portalbetreiber fremde Kritiken zugunsten der Betroffenen abschwächen und damit eigenmächtig ändern (Franz 2017, S. 322). Vielmehr bleibt es dabei, dass Portalbetreiber weder eigene Behauptungen aufstellen noch sich fremde Behauptungen zu eigen machen. Eine unmittelbare äußerungsrechtliche Haftung scheidet damit aus.

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4.9 Haftung für die Verbreitung fremder Äußerungen Daher kann der Portalbetreiber nur wegen rechtswidriger Verbreitung fremder Äußerungen als sog. mittelbarer Störer in Anspruch genommen werden. Denn er stellt durch den Betrieb des Portals die technischen Möglichkeiten für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte zur Verfügung und leistet damit einen adäquat kausalen Beitrag für die Rechtsverletzung. Bei dieser Verbreiterhaftung ist allerdings zu beachten, dass der Gesetzgeber in §§ 7, 10 Telemediengesetz zugunsten der sog. Hostprovider ein Haftungsprivileg geschaffen hat, das Ausstrahlungswirkung auch auf die Haftung von Portalbetreibern hat. Danach sind Hostprovider für fremde Inhalte nicht verantwortlich, wenn sie keine Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Informationen haben, die Informationen auch nicht offensichtlich rechtswidrig sind oder wenn sie diese unverzüglich sperren, sobald sie Kenntnis von deren Rechtswidrigkeit erlangen. Aus diesem Haftungsprivileg leitet der Bundesgerichtshof ab, dass eine Haftung eines Hostproviders als mittelbarer Störer nur bei der Verletzung zumutbarer Verhaltenspflichten, insbesondere zumutbarer Prüfungspflichten, in Betracht kommt (BGH GRUR 2012, 311 Rn. 22 – Blog-Eintrag). Unter Berücksichtigung der Funktion und Aufgabenstellung eines Hostproviders sowie mit Blick auf die Eigenverantwortung des unmittelbaren Täters sei ein Hostprovider nicht verpflichtet, die von den Nutzern in das Netz gestellten Beiträge vor der Veröffentlichung auf eventuelle Rechtsverletzungen zu überprüfen. Seine Verantwortlichkeit beginne erst in dem Moment, in welchem er Kenntnis von der Rechtsverletzung erlange (BGH GRUR 2012, 311 Rn. 24 – Blog-Eintrag). Das Problem ist, dass der Hostprovider nur den von ihm veröffentlichten Beitrag, nicht aber die diesem Beitrag zugrunde liegenden Tatsachen und sämtliche Einzelheiten kennt. Das gilt für den Portalbetreiber ebenso: Er kennt regelmäßig nur die veröffentlichte Kritik, nicht aber die der Kritik zugrunde liegenden Tatsachen und sämtliche Einzelheiten. Wie die Behandlung durch einen Arzt oder der Aufenthalt in einer Klinik ablief, weiß der Portalbetreiber nicht. Persönlichkeitsrechtsverletzungen sind wegen ihrer Kontextabhängigkeit für Außenstehende ohne nähere Kenntnis des zugrunde liegenden konkreten Sachverhalts schwer bzw. überhaupt nicht zu beurteilen. Und selbst wenn der Portalbetreiber sämtliche Einzelheiten kennen sollte, würde ihn das nicht entbinden, eine Abwägung zwischen den Rechten auf Meinungs- und Kommunikationsfreiheit und dem Recht des Betroffenen auf Schutz seiner Persönlichkeit vorzunehmen. Um aus diesem Dilemma einen gangbaren Weg zu finden, hat der Bundesgerichtshof für die Haftung des Hostproviders für fremde Inhalte im Internet ein gestuftes Beanstandungs- und Nachweisverfahren entwickelt (BGH GRUR 2012, 311 Rn. 26 f. – Blog-Eintrag), das er mittlerweile auch für die Haftung des Portalbetreibers für fremde Inhalte anwendet (BGH GRUR 2016, 855 Rn. 21 ff. – www.jameda.de) und in Abb. 4.2 dargestellt wird. Ausgangspunkt dieses Verfahrens ist, dass ein Portalbetreiber nicht verpflichtet ist, die von den Nutzern eingestellten Beiträge vor Veröffentlichung auf eventuelle Rechtsverletzungen zu überprüfen. Alles andere würde den Betrieb des Portals in seiner ­Existenz

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$QRQ\PHU .ULWLNHU Abb. 4.2   Beanstandungs- und Nachweisverfahren des Bundesgerichtshofs. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

gefährden oder erheblich erschweren. Tätig werden muss der Portalbetreiber erst dann, wenn er vom Betroffenen über eine Verletzung dessen Persönlichkeitsrechte informiert wird, wobei die Beanstandung so konkret gefasst sein muss, dass der Rechtsverstoß auf der Grundlage der Behauptungen des Betroffenen ohne eingehende rechtliche und tatsächliche Überprüfung bejaht werden kann. In diesem Fall ist der Portalbetreiber verpflichtet, die Beanstandung an den Kritiker weiterzuleiten und diesen zu einer Stellungnahme innerhalb angemessener Frist aufzufordern. Bleibt diese Stellungnahme aus, ist der beanstandete Eintrag umgehend zu löschen. Bestreitet der Kritiker substanziiert die Berechtigung der Beanstandung und ergeben sich hierdurch berechtigte Zweifel, ist der Portalbetreiber grundsätzlich gehalten, dem Betroffenen dies – anonym – mitzuteilen und ggf. Nachweise zu verlangen, aus denen sich die von ihm behauptete Rechtsverletzung ergibt. Nunmehr ist wieder der Betroffene gefordert: Bleibt seine Stellungnahme aus oder legt er die vom Portalbetreiber geforderten Nachweise nicht vor, ist eine weitere Prüfung durch den Portalbetreiber nicht veranlasst; der Eintrag bleibt bestehen. Ergibt sich dagegen aus der Stellungnahme des Betroffenen oder den vorgelegten Nachweisen auch unter Berücksichtigung einer etwaigen nochmaligen Äußerung des Kritikers eine Rechtsverletzung, ist der beanstandete Eintrag zu löschen. Der Portalbetreiber agiert insoweit als eine Art neutraler Schiedsrichter zwischen den widerstreitenden Positionen (Höch 2016, S. 1478). Es handelt sich um ein qualifiziertes Notice-and-Action-Verfahren (Lauber-Rönsberg 2014, S. 12): Der Portalbetreiber muss zunächst in Kenntnis gesetzt werden („notice“) und dann handeln („action“). Es ist kein Notice-and-take-down-Verfahren, d. h. kein Verfahren zur

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s­ofortigen Löschung nach Inkenntnissetzung, wie es der Bundesgerichtshof für ­eindeutige Verletzungen gewerblicher Schutzrechte im Internet (BGH GRUR 2011, 1038 – Stiftparfüm) oder für eindeutige Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht im Internet (BGH GRUR 2015, 1129 – Hotelbewertungsportal) fordert. In einer weiteren Entscheidung hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass die vom Portalbetreiber durchzuführende Überprüfung erkennbar zum Ziel haben müsse, die Berechtigung der Beanstandung zu klären (BGH GRUR 2016, 855 Rn. 42 – www. jameda.de). Er müsse ernsthaft versuchen, sich hierzu die notwendige Tatsachengrundlage zu verschaffen und dürfe sich nicht auf eine rein formale Prüfung zurückziehen. Bestreitet der bewertete Arzt einen Behandlungskontakt, müsse der Kritiker diesen möglichst genau unter Angabe des Behandlungszeitraums beschreiben und möglichst umfassend belegende Unterlagen (Rechnungen, Terminkarten, Rezepte o. Ä.) übermitteln. Zumindest sei dem bewerteten Arzt der vom Patient bekannt gegebene Behandlungszeitraum mitzuteilen, damit dieser den Behandlungszeitraum überprüfen könne. Der Arzt könne dann zumindest ausschließen, dass die Behandlung zu einem Zeitpunkt stattfand, als die Praxis aus urlaubs- oder krankheitsbedingten Gründen geschlossen war. Verletzt der Portalbetreiber an dieser Stelle seine Nachforschungsobliegenheit, ist die Behauptung des betroffenen Arztes, der Bewertung läge kein Behandlungskontakt zugrunde, als zugestanden anzusehen, sodass die in Rede stehende Bewertung gelöscht werden muss.

4.10 Schlussbetrachtung Bewertungsportale sind grundsätzlich zulässig und können einen sinnvollen Beitrag für den Verbraucherschutz durch Information leisten. Das gilt aber nur dann, wenn die Kritik sachlich bleibt und auf wahren Tatsachen beruht. Weder gibt es ein „Grundrecht auf Spaß“ (Ladeur 2009, S. 968) noch ein Grundrecht, im Schutz der Anonymität im Internet über einen anderen ungehindert und ohne rechtliche Konsequenzen herziehen zu können. Immerhin hat der Bundesgerichtshof das von Bewertungsportalen ausgehende Gefährdungspotenzial mittlerweile erkannt und zum Schutze des Kritisierten ein gestuftes Beanstandungs- und Nachweisverfahren entwickelt, mit dem sich der Betroffene gegenüber dem Portalbetreiber gegen unwahre Tatsachenbehauptungen und unzulässige Meinungsäußerungen zur Wehr setzen kann. Der Betroffene kann auch bestreiten, dass der Kritiker die bewertete Leistung in Anspruch genommen hat. Beanstandungen gegenüber dem Portalbetreiber können sich auch dann lohnen, wenn die Kritik als berechtigt erscheint und einer gerichtlichen Überprüfung als zulässige Meinungsäußerung standhalten würde. Denn rechtstatsächlich ist zu beobachten, dass die meisten Kritiker nach Zuleitung der Beanstandung durch den Portalbetreiber mit der Aufforderung, hierzu innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen, nicht antworten (Franz 2018, S. 28, sog. Chilling Effect). Die (auch berechtigte) Kritik ist dann

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zu löschen. Hinzu kommt, dass das vom Bundesgerichtshof entwickelte Beanstandungsund Nachweisverfahren für den Portalbetreiber zeitaufwendig und (personal-) kostenintensiv ist. Das Hauptproblem stellt nach Ansicht des Verfassers der uneingeschränkte Schutz der anonymen Meinung dar. Wenn der Bundesgerichtshof diesen Schutz für den Bereich der Bewertungsportale aufgeben und bei der Veröffentlichung der Kritik die Angabe des Klarnamens verlangen würde, könnte der Betroffene (Arzt) seinen Kritiker (Patient) unmittelbar auf Unterlassung in Anspruch nehmen, wenn er die Kritik als Verletzung seines Persönlichkeitsrechts ansieht; den Umweg über den Stellvertreterkrieg gegen den Portalbetreiber mit dem dargestellten gestuften Beanstandungs- und Nachweisverfahren bräuchte es dann nicht.

Literatur Ahrens A, Richter H (2011) Fingierte Belobigungen im Internet, Eine lauterkeits- und vertragsrechtliche Analyse am Beispiel von Hotelbewertungsportalen. Wettbewerb in Recht und Praxis (WRP) 2011:814 Boehme-Neßler V (2016) Das Rating von Menschen – Onlinebewertungsportale und Grundrechte. Kommunikation & Recht (K&R) 2016:637 Franz U (2017) Anmerkung zum Urteil des BGH vom 4. April 2017, AfP – Zeitschrift für Medienund Kommunikationsrecht 2017, S 321 Franz U (2018) Der digitale Pranger – Bewertungsportale im Internet, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Bd 196. De Gruyter, Berlin Höch D (2016) Bewegung bei Bewertungsportalen – wie Unternehmen ihren Ruf im Netz besser schützen können, Betriebs-Berater (BB) 2016:1475 Kühling J (2015) Im Dauerlicht der Öffentlichkeit – Freifahrt für personenbezogene Bewertungsportale!? Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2015:447 Ladeur K-H (2009) Anmerkung zum Urteil des BGH vom 23. Juni 2009 www.spickmich.de, JuristenZeitung (JZ) 2009:966 Lauber-Rönsberg A (2014) Rechtsdurchsetzung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet – Verantwortlichkeit von Intermediären und Nutzern in Meinungsforen und Personenbewertungsportalen, MultiMedia und Recht (MMR) 2014:10

Ulrich Franz hat an den Universitäten Bonn und München Rechtswissenschaften studiert und 1989 das erste und 1992 das zweite Juristische Staatsexamen sowie 1995 an der LudwigMaximilians-Universität seine Promotion absolviert. Seit 1994 ist er als Rechtsanwalt freiberuflich tätig (München, Düsseldorf, Berlin). Er ist Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz und Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Technik und Wirtschaft/Berlin und Mitglied des Anwaltsgerichts Berlin. Schwerpunkte seiner anwaltlichen Tätigkeit sind das Wettbewerbs- und Markenrecht sowie das Urheber- und Medienrecht.

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Digitalisierung, Big Data und Big To-dos aus Sicht der Rechtswissenschaft Heinrich Hanika

Inhaltsverzeichnis 5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.2 Datenschutz- und Datensicherheitsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.3 Digitalisierung, Big Data, Analytics und Smart Data . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5.4 Recht und Eigentum an Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5.5 Datenmarktplätze, Social Media, soziale Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.6 Zertifizierte IT-Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.7 Kritik an der europäischen Datenschutz-Grundverordnung und Weiterentwicklungsbedarf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5.8 Die E-Privacy-Verordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5.9 Steuerrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.10 Mobile Health, Apps und Medizinprodukterecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5.11 Künstliche Intelligenz, Robotik und autonome Systeme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 5.12 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Zusammenfassung

Die komplexen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben der „Digitalisierung“ nahezu aller Lebens-, Gesellschafts- sowie Wirtschaftsbereiche fordern Akteure und Verantwortliche in Unternehmen (privat wie öffentlich) ganz außergewöhnlich. Alle Akteure und Verantwortliche von privaten wie öffentlichen Unternehmen müssen sich unverzüglich und kritisch mit den vielfältigen und komplexen To-dos, den rechtlichen Kenntnissen und

H. Hanika ()  Deidesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_5

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Grundlagen auseinandersetzen. Es geht darum, Konformität mit den vielschichtigen Rechts- und Themenfeldern der Digitalisierung mit ihren Ausformungen wie Big Data, Smart Data, Recht und Eigentum an Daten, Datenschutz- und Datensicherheitsrecht, Digitalisierung der Arbeitswelt, soziale Netzwerke, Cloud-Computing, P ­ rofiling, Scoring, Mobile Health, Apps und Medizinprodukterecht, künstliche Intelligenz, Robotik, Blockchain sowie den ethischen Fragestellungen zu erreichen. Zu dieser regelkonformen digitalen Ordnung will dieser Beitrag die Akteure und Verantwortlichen in der Gesundheitswirtschaft überblicksartig informieren und hierbei auf einschlägige Quellen Bezug nehmen.

5.1 Einleitung Für den Megatrend der Digitalisierung in der Arbeitswelt sowie in der Gesellschaft sind insbesondere folgende einschlägige Rechts- und Themengebiete zu beachten (weiterführend und umfassend hierzu Hanika 2018, S. 1 ff. m. w. N.): • Recht und Eigentum an Daten im geltenden Recht (de lege lata), • Entwicklung eines neuen Datengesetzes/sukzessive Vorgehensweise (de lege ferenda), • Datenschutz- und Datensicherheitsrecht, • europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und Compliance, • Datenmarktplätze, Social Media, soziale Netzwerke einschließlich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes – NetzDG, • Cloud-Computing, Profiling und Scoring, • Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft, • Big Data for Healthcare/Gesundheitsdaten und andere Kategorien von besonders ­sensitiven Daten, • Patientendatenschutz, • Haftung und Recht auf Schadensersatz, Rechtsbehelfe, Sanktionen, • Datenschutzaufsicht und deren Prüffragen, • zertifizierte IT-Sicherheit, • Kritik und Weiterentwicklungsbedarf der DSGVO, • E-Privacy-Verordnung, • Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU, • Whistleblowing in Deutschland und Europa, • Steuerrecht, • Mobile Health, Apps und Medizinprodukterecht, • künstliche Intelligenz, Robotik und autonome Systeme, • IT-Sicherheitsgesetz, • Blockchain-Anwendungen in der Gesundheitswirtschaft, • ethische Aspekte von Big Data und Datensouveränität • etc.

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Aus der Fülle dieser Rechts- und Themenfelder sollen auszugsweise (aus Hanika 2018, S. 2 ff. m. w. N.) die folgenden hervorgehoben werden.

5.2 Datenschutz- und Datensicherheitsrecht Akteure und Verantwortliche in Unternehmen (privat wie öffentlich) sind erheblich gefordert, um die Compliance (Hanika 2017a, S. 70 ff.) mit dem neuen Datenschutzrecht zu erreichen und sich rechtstreu zu verhalten. Hierbei handelt es sich um Technik und Organisation, um Dokumentation und unternehmensinterne Richtlinien, um Transparenz und um die grundlegenden Prinzipien des neuen Datenschutzrechts, denn: • seit dem 25.05.2018 gilt die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) unmittelbar in allen Mitgliedstaaten (Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG Datenschutz-Grundverordnung EU ABl. L 119 vom 04.05.2016: 1 ff.). • Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) enthält 99 Artikel (50 Artikel, die das materielle Datenschutzrecht regeln, und 49 Artikel, die mehrheitlich organisatorische Fragen der Datenschutzaufsicht, der Regelungskompetenzen und weitere formelle Themen regeln) sowie 173 Erwägungsgründe. • Die DSGVO hat das erklärte Ziel, dem Datenschutz in der Praxis deutlich mehr ­Geltung zu verschaffen: Datenschutzverstöße sind seit dem 25.05.2018 keine „Kavaliersdelikte“ mehr. Es drohen gemäß Art. 83 Abs. 4, 5 und 6 DSGVO sowie Art. 84 DSGVO Geldbußen bis zu 20 Mio. EUR bzw. 4 % des weltweiten Jahresumsatzes eines Unternehmens! Den Anwendungsvorrang des Europäischen Rechts gilt es zu beachten. Dieser drastisch erweiterte Bußgeldrahmen erhöht massiv den Compliancedruck. Der Datenschutz nimmt ab sofort den Spitzenplatz unter den Compliancethemen ein (Härting 2016, S. 1 ff.). • Der deutsche Gesetzgeber hat zudem zur teilweisen Umsetzung der DSGVO ein Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG) erlassen (BDSG n. F.). • Ziel der neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist laut dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU), BT-Drucksache 18/11.325 v. 24.02.2017) ein gleichwertiges Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen

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­ ersonen bei der Verarbeitung von Daten in allen Mitgliedstaaten (Erwägungsgrund P 10 DSGVO). Der Unionsgesetzgeber hat sich für die Handlungsform einer Verordnung entschieden, damit innerhalb der Union ein gleichmäßiges Datenschutzniveau für natürliche Personen gewährleistet ist (Erwägungsgrund 13 DSGVO). • Das Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG (BDSG n. F.) reguliert spezifische Vorgaben, wie Notwendigkeit und wesentlicher Inhalt, maßgebliche Regelungen für Unternehmen einschl. Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume, Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses, Schutz des Wirtschaftsverkehrs bei Scoring und Bonitätsauskünften, Datenschutzbeauftragte nichtöffentlicher Stellen, Akkreditierung, Aufsichtsbehörden der Länder, Einwilligungen, Auftragsverarbeitung, Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung sowie das Verzeichnis von Verarbeitungstätigkeiten (Hanika 2018, S. 218 ff. m. w. N.). • Weiterhin wird bis 2020 eine E-Privacy-Verordnung erlassen werden, die der DSGVO vorgehen wird (siehe unten). Zur Einhaltung der Konformität mit dem neuen Datenschutzrecht sind folgende Thematiken zu betrachten: • Die eigene Datenwelt verstehen Das Unternehmen sollte Maßnahmen ergreifen, um sich ein klares Verständnis hinsichtlich seiner eigenen Datenwelt zu verschaffen. Es ist beispielsweise wichtig zu wissen, welche Arten von personenbezogenen Daten erfasst werden, wie und von wem diese gesammelt werden, wo die Daten gespeichert werden, was damit gemacht wird, wer damit interagiert, die Gründe für die Verarbeitung, die Speicherungsdauer sowie die Gründe für die Speicherung oder Löschung von Daten und inwiefern diese Praktiken die bevorstehenden regulatorischen Verpflichtungen nach der EU-DSGVO und anderen gesetzlichen Anforderungen erfüllen. • Planung und Kommunikation Planung und Kommunikation sind wesentlicher Teil einer erfolgreichen GovernanceStrategie. Die Schlüsselpersonen (typischerweise IT-, Datenschutz-, Rechts-, Complianceexperten, Geschäfts- sowie Personalabteilungen, die sich mit personenbezogenen Daten befassen) werden zu gemeinsamen Gesprächen eingeladen, um ein Datenmapping (Beschreibung der einrichtungsspezifischen Datentypen, der technischen Infrastruktur und der Speicherlösungen etc.) zu erstellen. • Beständige und nachhaltige Beobachtung Eine nur unregelmäßige Überwachung der personenbezogenen Daten genügt nicht mehr den neuen Anforderungen. Kontinuierlich verschiebt sich das Mapping der personenbezogenen Datenlandschaft. Daher muss ein proaktiver und fortlaufender Ansatz für das Gebiet der Information Governance sicherstellen, dass das Unternehmen bereit ist, mit zukünftigen Entwicklungen und Verschiebungen umzugehen (siehe Bonney 2017, S. 69 f.).

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Datenschutz ist aus rechtlicher Sicht originäre Aufgabe des Vorstandes/der Geschäftsführung (Art. 5 Abs. 2 DSGVO). Das Unternehmen ist verantwortlich für die Einhaltung der Datenschutzgrundsätze. Zwölf Schritte, mit denen sich der Vorstand/die Geschäftsführung beschäftigen muss, sind: • • • • •

• •

• • • •



„Compliance mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung ist ‚Chefsache‘ interdisziplinäres Team zusammenstellen das Unternehmen muss sich mit der Datenschutz-Grundverordnung vertraut machen Bestandsaufnahme der Dokumente, Prozesse, Organisationsstrukturen Überarbeitung des Verzeichnisses der Verarbeitungstätigkeiten Das Verzeichnis ist der Aufsichtsbehörde auf Nachfrage vorzulegen und kann als Anknüpfungspunkt für weitere aufsichtsbehördliche Untersuchungen dienen. Das Verzeichnis enthält wesentliche für die Steuerung der Datenverarbeitung notwendige Angaben (u. a. welche Daten von wem zu welchem Zweck wie und durch wen verarbeitet werden und an wen und wohin weitergeleitet werden). Überprüfung der Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung Überprüfung der Informations- und Mitteilungspflichten Unternehmen, die personenbezogene Daten verarbeiten, müssen zum einen die betroffenen Personen umfassend informieren, u. a. warum sie Daten erheben und welche Rechte die betroffenen Personen haben. Zum anderen müssen die Unternehmen den betroffenen Personen die Ausübung ihrer Rechte ermöglichen (z. B. Rechte auf Auskunft, Löschung und Berichtigung etc.) Überprüfung der technischen und organisatorischen Maßnahmen Überprüfung der Auftragsdatenverarbeitung Überprüfung der Übermittlung in Drittländer Datenschutz prozessorientiert und risikoorientiert betrachten Die Anforderungen der DSGVO an Unternehmen, insbesondere die Rechenschaftspflicht, erfordern es, dass Datenschutz als dauerhafter Managementprozess verstanden wird (Planung, Durchführung, Bewertung, kontinuierliche Verbesserung). Außerdem verfolgt die Datenschutz-Grundverordnung insofern einen risikobasierten Ansatz, als die erforderlichen Maßnahmen, die ein Unternehmen ergreifen muss, von der Einstufung des Risikos für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen abhängen. Die Einstufung erfolgt dabei in die drei Kategorien: kein Risiko, Risiko oder hohes Risiko. Die zuständige Aufsichtsbehörde konsultieren Hilfreich ist ein offener Dialog zwischen Unternehmen und zuständiger Aufsichtsbehörde. Die Unternehmen sollten deshalb den Austausch und die proaktive Problemlösung mit der Aufsichtsbehörde nicht scheuen. Schließlich haben Aufsichtsbehörden auch eine beratende Funktion“ (Kranig et al. 2017 S. 207 ff.).

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Die nachfolgenden Prüffragen geben eine erste Orientierung dazu, welche Fragen eine Aufsichtsbehörde zur Überprüfung der Einhaltung der DSGVO (anlasslos!) stellen und worauf Verantwortliche den Prüffokus konzentrieren könnten (nach Kranig et al. 2017, S. 192 ff.; Bayerisches Landesamt für Datenschutzaufsicht (BayLDA) 2018, S. 1 ff.): „Maßnahmen zur Datenschutzstruktur (Corporate Governance) • Gibt es im Unternehmen ein nachvollziehbares Bewusstsein bezüglich der datenschutzrechtlichen Anforderungen? • Sind die notwendigen strukturellen Rahmenbedingungen zur Beachtung des Datenschutzes geschaffen? • Gibt es im Unternehmen einen Prozess, im Rahmen dessen auf die Nachhaltigkeit der Datenschutzstruktur im Unternehmen geschaut wird? • Wird sichergestellt, dass die im Rahmen der Strukturbewertung erkannten Mängel auch tatsächlich behoben werden? Maßnahmen zur Datenverarbeitung • Wurden vor Durchführung der Datenverarbeitung die Vorschriften der DSGVO berücksichtigt, die geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen geplant und angemessen dokumentiert? • Wurde die Datenverarbeitung gem. der Planung implementiert (einschl. Mitarbeiterschulung und Zuweisung von Verantwortlichkeiten)? • Wie stellt das Unternehmen die Wirksamkeit der geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen sicher? • Wurden festgestellte Missstände oder Schwachstellen zur Sicherstellung behoben und deren Behebung auf ihre Wirksamkeit hin überprüft? Maßnahmen zur Sicherstellung der Betroffenenrechte • Sind Prozesse für die Sicherstellung von Betroffenenrechten geplant? • Wurden die Prozesse zum Umgang mit Betroffenenrechten gemäß der Planung implementiert (einschl. Mitarbeiterschulung und Zuweisung von Verantwortlichkeiten)? • Wird die Umsetzung der Betroffenenrechte eingehalten (insb. zeitlich, inhaltlich, formal)? • Werden Missstände und Schwachstellen von Prozessen im Umgang mit Betroffenenrechten verbessert? Maßnahmen zur Handhabung von Datenschutzverletzungen • Wurden alle geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen geplant und angemessen dokumentiert, um sofort feststellen zu können, ob eine Datenschutzverletzung aufgetreten ist, und um die Aufsichtsbehörde und die Betroffenen umgehend zu unterrichten?

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• Wie kann das Unternehmen nachweisen, dass es in der Lage ist, eine Datenschutzverletzung sofort festzustellen und angemessen darauf zu reagieren? • Wie stellt das Unternehmen die Wirksamkeit der geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Identifikation und zur angemessenen Handhabung von Datenschutzverletzungen sicher? • Wurden festgestellte Missstände oder Schwachstellen zur Vermeidung von Datenschutzverletzungen behoben und deren Behebung auf ihre Wirksamkeit hin überprüft? Beratung durch Aufsichtsbehörden  Neben den Kernaufgaben der Aufsichtsbehörden, wie der Überwachung und Durchsetzung der Anwendung dieser Verordnung einschl. spezifischer Untersuchungs- und Prüfungsaktivitäten, stellt eine weitere wichtige Aufgabe die Beratung (Art. 57 Abs. 1 lit. b-e und l DSGVO) von • Betroffenen • Verantwortlichen und • Auftragsverarbeitern dar.“ Diese Beratungspflichten sollten aktiv und konstruktiv in Anspruch genommen werden. In der Regel sind die Behörden sehr offen für entsprechend qualifizierte Anfragen und eine notwendige konstruktive Zusammenarbeit. Neben der Akkreditierung gehört auch die Erteilung von Zertifizierungen und die Billigung der Kriterien für die Zertifizierung gem. Art. 58 Abs. 3 lit. F. DSGVO zu den Genehmigungsbefugnissen der Aufsichtsbehörden. Die Anforderungen und Verfahren müssen derart ausgestaltet sein, dass Zertifizierungen ebenso von kleinen und mittleren Unternehmen in der Praxis genutzt werden können (weiterführend Hanika 2018, S. 8, 190 ff. m. w. N.). Mit der Datenschutz-Grundverordnung (EU) 2016/679 steigt die Selbstverantwortung der Unternehmen im Datenschutz erheblich (weiterführend Hanika 2018, S. 192 ff. m. w. N.). Die Erfüllung der vielfältigen Rechenschaftspflichten ist gem. Art. 24 Abs. 3 DSGVO durch den Verantwortlichen nachzuweisen, insbesondere durch genehmigte Verhaltensregeln (Art. 40 DSGVO) oder Zertifizierungsverfahren sowie Datenschutzsiegel und -prüfzeichen (Art. 42 DSGVO). Falls die Rechenschafts- und Nachweispflichten nicht erbracht werden können, droht das hohe Haftungs- und Sanktionsregime der DSGVO. Jedoch kann die Einhaltung genehmigter Verhaltensregeln oder von Zertifizierungsverfahren gem. Art. 83 Abs. 2 DSGVO bei der etwaigen Verhängung von Geldbußen und deren Höhe gebührend berücksichtigt werden, sodass Datenschutzaudit(s) gem. Art. 40 und 42 DSGVO Haftungsrisiken deutlich minimieren können (Karper 2018, S. 201).

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Audits lassen sich in zwei Kategorien einteilen: • Interne Audits werden i. d. R. von den eigenen Mitarbeitern eines Unternehmens, wie z. B. dem Datenschutzbeauftragten, durchgeführt. Hierbei ist es auch möglich, externe Berater für diese Aufgabe zusätzlich heranzuziehen, wenn entweder der spezifische Sachverstand bei einem konkreten Prüfszenario nicht ausreichend ist oder die Personalkapazitäten erweitert werden sollen. • Externe Audits werden im Auftrag der Geschäftsführung eines Unternehmens vergeben und von Personen außerhalb der Organisation durchgeführt. Je nach dem Ziel der Auditierung sind unterschiedliche Audittypen vorhanden, die auch bei der Auditierung des Datenschutzes angewandt werden können: Prozessaudit/­ Verfahrensaudit/Produktaudit/Systemaudit (Kranig et al. 2017, S. 146 ff.). Durch sachkundige Personen durchgeführte Datenschutzaudits können einen Nachweis für die Einhaltung der Anforderungen aus der DSGVO geben.

5.3 Digitalisierung, Big Data, Analytics und Smart Data Digitalisierung, Big Data, Analytics und Smart Data sind auch in der Gesundheitswirtschaft angekommen. Die Gesundheitsbranche wird zunehmend und rasant von den Bereichen Datafizierung unseres Lebens, Digitalisierung, Definition und Entwicklung, Big Data for Healthcare einschließlich Handlungsfelder in Medizin und Pflege sowie Smartphones – der Weg zur Selbstvermarktung, Anforderungen an die Unternehmensführung, Analytics und Analytics-Varianten mit Big Data, Smart Data, Big-Data-­ Strategien aus Sicht einer Kranken- und Pflegekasse mit Anwendungsbeispielen, Big Data, Gesundheit sowie Pflege und Datenschutz sowie Digitalisierung der Arbeitswelt erfasst (Hanika 2017b, S. 414–420 (1. Teil) und 487–495 (2. Teil)). An dieser Stelle kann bereits konstatiert werden, dass viele Akteure auch den dringlichen Handlungsbedarf sehen, der mit der fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitswesens verbunden ist, sie bewegen sich aber nicht und sind verunsichert. Es bedarf vielmehr unverzüglich entsprechender Strategien und eines professionellen Gestaltungswillens. Die zunehmende Digitalisierung der Unternehmenswelt führt zu einem rasanten Wachstum von Datenbeständen und verändert die wirtschaftliche Wertschöpfungskette entscheidend. Gerade auch in den Bereichen der Gesundheitswirtschaft wird eine große Anzahl neuer und komplexer Daten generiert, die aufgrund ihrer Größe, Verschiedenartigkeit oder der enormen Geschwindigkeit und Dynamik die Möglichkeiten zur Erfassung, Speicherung und Analyse durch herkömmliche Datenbanksoftwareprodukte übersteigt.

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Dieses Phänomen, das als Big Data bezeichnet wird, stellt eine äußert facettenreiche Erscheinung im technologischen, juristischen und wirtschaftlichen Kontext und für private wie öffentliche Unternehmen sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance in der Entwicklung und beim Einsatz von Big-Data-Lösungen dar. Das volle Potenzial dieser Datenrevolution lässt sich jedoch nur dann realisieren, wenn Big Data zu Smart Data wird und durch den Einsatz von Predictive Analytics aus dem Datenmeer spezifische Handlungsempfehlungen und Big-Data-Strategien abgeleitet werden können. Denn nur Unternehmen, die die Daten verstehen und komplexe ökonomische Zusammenhänge antizipieren, sind in der Lage, bessere Entscheidungen in Echtzeit zu treffen und einen Mehrwert zu generieren (Agir 2016, S. IX).

5.4 Recht und Eigentum an Daten Das Recht und Eigentum an Daten im geltenden Recht (de lege lata) stellt aus rechtswissenschaftlicher Sicht eines der schwierigsten Rechtsgebiete dar. Hierzu sind insbesondere der verfassungsrechtliche Schutz von Daten und bereichsspezifische Zuordnung von Daten im (einfachen) geltenden Recht wie Datenschutzrecht, Urheberrecht, Strafrecht, Lauterkeitsrecht (Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen) sowie allgemeines Zivilrecht mit Eigentumsrecht an Daten zu subsumieren. Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass sich aus dem allgemeinen Zivilrecht keine umfassende Zuordnung der immateriellen Daten zu einem Berechtigten ergibt. Deliktischer Schutz existiert ausschließlich in Form von Integritätsschutz als Reflex des Eigentums am Datenträger. Weitergehender Schutz ist bei Verletzung bereichsspezifischer Regelungen nur über § 823 Abs. 2 BGB gegeben (Bundesverkehrsministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (MMVI) 2017, S. 60). Daher ist leider zu beklagen, dass De-lege-lata-Daten zwar durch verschiedene Regelungsregime geschützt werden. Diese haben allerdings eigene unterschiedliche Voraussetzungen, Schutzumfänge und Verfügungsberechtigte, die gemäß ihren jeweiligen Zielen gegenläufige Zuordnungen vorsehen, für die keine Kollisionsregeln bestehen und diese daher leider zu oft im Widerspruch zueinander stehen können (Bundesverkehrsministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2017, S. 60). Somit besteht im geltenden Recht (de lege lata) kein homogenes „Dateneigentum“ (Dorner 2014, S. 626), sondern ein „Flickenteppich“ (Heymann 2016, S. 650 ff.) unterschiedlicher und sich z. T. widersprechender Schutzrechte. Es werden zwei Vorgehensweisen dargestellt, um die rechtlichen Voraussetzungen für die Etablierung von Daten als Wirtschaftsgut voranzubringen (Bundesverkehrsministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2017, S. 60): Erstens wird ein neues Datengesetz benötigt, welches die soeben beschriebenen Fragen umfassend behandelt und löst. Die Wissenschaft kann hierzu sicherlich einen erheblichen Teil an Fach- und Lösungskompetenzen einbringen.

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Alternativ wäre die zweite Option eine sukzessive Vorgehensweise, die aus einer Vielzahl verschiedener Maßnahmen besteht, an deren Ende dann ein Datengesetz stehen könnte. Mit den Maßnahmen würden Schritt für Schritt die Erschließung weitergehender ökonomischer Potenziale und die Konsolidierung des Rechtsrahmens, z. B. auf Basis einer Zuordnung zum wirtschaftlich Berechtigten, verfolgt. Empfohlen werden hierzu bestimmte Maßnahmen, zudem ist auf die persönlichen Gesundheitsdaten einzugehen, die in der Regel als personenbezogene Daten einen hohen Grad an Schutz erfordern, jedoch für verschiedene Marktakteure, z. B. aus der Gesundheitswirtschaft, einen hohen Wert beinhalten (Bundesverkehrsministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur BMVI 2017, S. 60; Hanika 2018, S. 52 ff. m. w. N.).

5.5 Datenmarktplätze, Social Media, soziale Netzwerke Mit den Einzelheiten zu Datenmarktplätzen, Social Media, sozialen Netzwerken im Lichte von Big Data einschl. des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) sowie mit internationalen Regelungen für besseren Datenschutz müssen sich alle Akteure und Verantwortlichen i. S. der DSGVO befassen. Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass Social Media Realität und integrierter Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Die sich in diesem Feld ergebenden Chancen sind enorm, die Risiken nicht zu übersehen, aber lösbar. Rechtsverstöße, Abmahnungen sowie gerichtliche Auseinandersetzungen sind kostenund zeitraubende Angelegenheiten, die in den meisten Fällen mit fachkundiger Hilfestellung vermieden werden könnten. Es ist den Akteuren daher dringend zu empfehlen, informierte Rücksprache z. B. mit Fachanwälten zu nehmen und die konkrete Gestaltung eines Social-Media-Engagements mit seinen Optionen abzuklären (weiterführend Hanika 2018, S. 126 ff. m. w. N.).

5.6 Zertifizierte IT-Sicherheit Zur zertifizierten IT-Sicherheit sind einschlägige Bereiche zu bearbeiten, wie Datenschutzaudits, Verhaltensregeln und Zertifizierungen, Prüffragen und Maßnahmen der Aufsichtsbehörden zur Umsetzung der DSGVO einschließlich Prüffragen der Aufsichtsbehörde und Maßnahmen zur Datenschutzstruktur (Corporate Governance), zur Datenverarbeitung, zur Sicherstellung der Betroffenenrechte sowie zur Handhabung von Datenschutzverletzungen (weiterführend Hanika 2018, S. 190 ff. m. w. N.). Die neue EU-DSGVO stellt mit Wirkung ab 25.05.2018 sowohl für die Unternehmen als auch für die Aufsichtsbehörden einen Paradigmenwechsel dar.

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Datenschutz ist aus rechtlicher Sicht gem. Art 5 Abs. 2 DSGVO eine originäre Aufgabe des Vorstandes/der Geschäftsführung. Das Unternehmen/die Geschäftsführung/der Verantwortliche ist verantwortlich für die Einhaltung der Datenschutzgrundsätze. Die allgemeinen Grundsätze des Art. 5 Abs. 1 DSGVO werden in zahlreichen Vorschriften der DSGVO aufgegriffen und konkretisiert. Artikel 5 Abs. 2 DSGVO weist die Verantwortung für die Einhaltung dieser Grundsätze dem Verantwortlichen zu und verpflichtet ihn, die Einhaltung dieser Grundsätze nachweisen zu können. Artikel 5 Abs. 1 und 2 DSGVO lauten wie folgt: (1) Personenbezogene Daten müssen 1. auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden („Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz“); 2. für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden; eine Weiterverarbeitung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gilt gemäß Artikel 89 Absatz 1 nicht als unvereinbar mit den ursprünglichen Zwecken („Zweckbindung“); 3. dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein („Datenminimierung“); 4. sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden („Richtigkeit“); 5. in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen nur so lange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist; personenbezogene Daten dürfen länger gespeichert werden, soweit die personenbezogenen Daten vorbehaltlich der Durchführung geeigneter technischer und organisatorischer Maßnahmen, die von dieser Verordnung zum Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person gefordert werden, ausschließlich für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke oder für wissenschaftliche und historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gemäß Artikel 89 Absatz 1 verarbeitet werden („Speicherbegrenzung“); 6. in einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen („Integrität und Vertraulichkeit“); (2) Der Verantwortliche ist für die Einhaltung des Absatzes 1 verantwortlich und muss dessen Einhaltung nachweisen können („Rechenschaftspflicht“).

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Die Verantwortung, dass das Unternehmen (privat wie öffentlich) die Vorschriften der DSGVO einhält und dies den Aufsichtsbehörden nachweisen kann, trägt die Geschäftsführung/Behördenleitung als Verantwortliche. Erforderlich sind die Einführung und Aufrechterhaltung von datenschutzbezogenen Compliancestrukturen und -prozessen. Hierzu muss ein interdisziplinäres Team, bestehend z. B. aus Data Scientists, Controller, IT-Spezialisten, Mathematikern, Compliancebeauftragten, Fachanwälten, Gesundheitsökonomen, betrieblichen Datenschutzbeauftragten, Datenschutzaufsichtsbehörden, zusammengestellt werden. Um Datenschutz wirksam und effizient umzusetzen, sind ein vielschichtiges rechtliches, informationstechnisches und betriebswirtschaftliches Verständnis und Fachwissen erforderlich. Das Unternehmen muss mit der Datenschutz-Grundverordnung vertraut sein. Hierbei ist auch zu klären, was für das eigene Unternehmen wichtig ist und wie dies am besten umgesetzt wird. Gleichzeitig schaffen die Akteure mit der Einhaltung der datenschutzrechtlichen Vorgaben für das Unternehmen ein sehr positives Aushängeschild. Das aufzubauende Audit stellt eine ordnungskonforme Vorgehensweise dar und kann als bemerkenswertes Qualitätsmerkmal für das Unternehmen promotet werden. Im Übrigen lassen sich damit auch hohe Bußgelder vermeiden!

5.7 Kritik an der europäischen DatenschutzGrundverordnung und Weiterentwicklungsbedarf Wie ausgeführt, gilt ab dem 25.05.2018 die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) unmittelbar in allen Mitgliedstaaten. Die DSGVO enthält 99 Artikel (50 Artikel, die das materielle Datenschutzrecht regeln, und 49 Artikel, die mehrheitlich organisatorische Fragen der Datenschutzaufsicht, der Regelungskompetenzen und weitere formelle Themen regeln) sowie 173 Erwägungsgründe (weiterführend Roßnagel et al. 2016, S. 1 ff.). Die juristische Situation wird zusätzlich dadurch hochkomplex, dass die DSGVO mehr als 70 Öffnungsklauseln enthält, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, bestehende Datenschutzregelungen beizubehalten oder neue zu verfassen. Der deutsche Gesetzgeber hat demzufolge zur teilweisen Umsetzung der DSGVO ein Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG) erlassen (BDSG n. F.). Die weitere Anpassung des deutschen Datenschutzrechts wird in Anbetracht seines beachtlichen Umfangs einen längerfristigen und vielstufigen Überarbeitungsprozess benötigen. Dieses Nebeneinander von DSGVO und deutschem Datenschutzrecht (DSAnpUG) führt zu einer Co-Regulierung des Datenschutzes durch die Gesetzgeber der EU, des Bundes und der Länder. Dies alles führt insgesamt zu einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus EU-Recht, weiter geltendem deutschen Datenschutzrecht und neu

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erlassenen bzw. noch zu erlassenden Datenschutzvorschriften. In vielen Fällen wird unklar und strittig sein, ob im Einzelfall deutsches oder europäisches Datenschutzrecht zur Anwendung kommt (Roßnagel 2017, S. 5). Weiterhin wird bis 2020 eine E-Privacy-Verordnung erlassen werden, die der DSGVO vorgehen wird (siehe hierzu nachfolgend). Die Mitgliedstaaten befinden sich in einer komplexen rechtspolitischen Situation. Aus dem Nebeneinander der Rechtsbereiche muss sich ein Miteinander entwickeln, das Datenschutzrecht muss sich zu einem modernen, den künftigen Risiken der Verarbeitung personenbezogener Daten gewachsenen europäischen Datenschutzrecht wandeln. Die ersten Anpassungen im neuen Bundesdatenschutz, in der Abgabenordnung sowie im Sozialgesetzbuch haben dies bisher noch nicht geschafft. Deutschland kann jedoch an vielen Stellen sein weiter anwendbares allgemeines und besonderes Datenschutzrecht an die DSGVO anpassen und weiterentwickeln. Hierbei ist darauf zu achten, dass für die Verwaltung, Wirtschaft und Bürger möglichst wenig Anpassungs- und Umstellungskosten entstehen. Nicht zuletzt ist die Diskussion intensiv in Politik, Unternehmen sowie Wissenschaft fortzuführen, wie das europäische Datenschutzrecht zu einem modernen und zukunftsfähigen Grundrechtsschutz beitragen kann (Roßnagel 2017, S. 431).

5.8 Die E-Privacy-Verordnung Die E-Privacy-Verordnung betrifft eigentlich die private Kommunikation der Bürger. Doch spätestens seit 2009 beinhaltet die Kommunikation konkret auch alle anderen Dienste – vom Surfen über das Shoppen bis hin zum Spielen – und hat das Potenzial, die digitale Werbewelt radikal zu disruptiven Prozessen zu führen. 2009 erfolgte eine Novelle, die sogenannte Cookie-Richtlinie. Sie legt insbesondere fest, dass Websiteanbieter ihre Nutzer nur mit deren Einwilligung verfolgen dürfen. Hierfür ist eine ausdrückliche Zustimmung nötig, etwa per Klick auf den Button „Cookies akzeptieren“. In Deutschland wurde diese Richtlinie jedoch nie in nationales Recht überführt, hier liegt der Stand auf der Umsetzung der E-Privacy-Richtlinie von 2002. Daher sind die Hinweise zu Cookies auf deutschen Websites im Gegensatz etwa zu britischen Sites kein Standard (Pellikan 2017, S. 1 f.). Damit sind Plattformen wie WhatsApp und Facebook genauso betroffen wie redaktionelle Seiten, E-Commerce-Anbieter, die Informationsangebote von Vereinen oder Onlinespiele. Bitkom äußert sich hierzu wie folgt (Bitkom 2018, S. 1 ff.): Für bestehende und zukünftige Geschäftsmodelle im klassischen Internet ebenso wie im Internet of Things wird dies erhebliche Auswirkungen haben. Die vorliegende E-PrivacyVerordnung torpediert die Bemühungen der EU-Kommission und der Mitgliedstaaten, die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Europa voranzutreiben und zudem drohe

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H. Hanika die E-Privacy-Verordnung den gerade erst von der neuen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gesetzten ausbalancierten Rahmen durch neue und teilweise für einzelne Branchen spezifische Regelungen zu verzerren. Die heute abgestimmten Vorschriften sind selbst für Fachjuristen schwer verständlich und in der Praxis nicht handhabbar. Um zu einem umsetzbaren und sowohl grundrechtlich als auch wirtschaftlich sinnvollen Ergebnis zu kommen, sollten die Verhandlungsparteien sich wieder an den Verhandlungstisch begeben und weiter am Text arbeiten.

Die E-Privacy-Verordnung ist noch nicht verabschiedet. Der früheste denkbare Zeitpunkt für eine verbindliche Gültigkeit wäre Ende Mai 2019, möglicherweise tritt sie erst 2020 in Kraft. Die möglichen Geldbußen für Verstöße sollen wie bei der DSGVO drastisch erhöht werden. Sie können sich auf bis zu 4 % des weltweiten Umsatzes pro Verstoß belaufen (Hanika 2018, S. 212 ff. m. w. N.).

5.9 Steuerrecht Brüssel hat hierzu einen Vorschlag für eine Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte vorgelegt (Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, Brüssel, den 09.12.2015, COM (2015) 634 final 2015/0287 COD). Die EU-Kommission hat hiermit personenbezogene Daten erstmals ausdrücklich als alternative Form des Entgelts anerkannt und vorgeschlagen, den Austausch digitaler Dienste „gegen Daten“ dem Angebot von Diensten gegen ein (monetäres) Entgelt vertragsrechtlich weitgehend gleichzustellen. Die Bereitstellung digitaler Inhalte soll zukünftig als eigener Vertragstyp anerkannt werden. Ein Nacherfüllungsanspruch, ein Recht auf Vertragsbeendigung bei Nichtbereitstellung der Leistung oder bei Vertragswidrigkeit wesentlicher Leistungsmerkmale sowie ein Recht auf Datenportabilität sollen die Rechtspositionen der User sicherstellen (Schweitzer 2017, S. 18). Weiterhin sollten Waren mit integrierten digitalen Inhalten („smarte“ Produkte) im Gegensatz zum ablehnenden Kommissionsvorschlag durchaus ebenfalls erfasst sein, da ansonsten die Abgrenzung zum Anwendungsbereich der Richtlinie über vertragliche Aspekte des Onlinewarenhandels und andere Formen des Fernabsatzes von Waren verwischt werde, zumal dies bei vielen Produkten nicht einfach sei (z. B. Smartphones mit vorinstallierten Apps vs. Apps, die der Verbraucher selbst installiert) und somit bei Verbrauchern und Unternehmen zu Rechtsunsicherheit führen könnte (Mohnert 2018, S. 1 f.). Die Bemühungen der EU, Internetriesen wie Apple, Google und Facebook wirksamer zu besteuern, stoßen auf deutlichen Widerstand der USA (Wettach 2017). Das Geschäftsmodell „Dienste gegen Daten“ hat für die Nutzer einen beachtlichen Wert und kann aus juristischer Sicht den Charakter eines besonders gelagerten Austauschvertrages

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haben. „Datensouveränität“ und das damit verbundene Einwilligungsmodell sind jedoch kein taugliches Mittel für die Findung eines korrekten Preises. Daher wird möglicherweise eine vernünftige „Datenpreisregulierung“ erforderlich sein, um einen möglichst starken Qualitäts- und Innovationswettbewerb zwischen digitalen Diensten zu schaffen (Schweitzer 2017, S. 18).

5.10 Mobile Health, Apps und Medizinprodukterecht Die Digitalisierung hat gerade auch für die Gesundheitswirtschaft verschiedenste technische Innovationen und moderne Ansätze hervorgebracht, wie z. B. Mobile Health (M-Health). In diesem Zusammenhang sind insbesondere folgende Sachverhalte, Rechtsgrundlagen und Rechtsprechung hierzu zu beachten: Anbieter auf dem M-Health-Markt, Medizinprodukte und Medizinprodukterecht, Änderungsverordnung zur Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) und Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) einschl. Definition des Betreibers, Betreiberpflichten für „patienteneigene“ Medizinprodukte, Einweisungspflicht für alle Medizinprodukte sowie für aktive Medizinprodukte, Beauftragter für Medizinproduktesicherheit, Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV), Klassifizierung von Software sowie M-Health-Apps sowie als Medizinprodukt, CE-Kennzeichnung, Konformitätsverfahren und „Benannte Stelle“ sowie das Anbringen der CE-Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung sind zu betrachten (weiterführend Hanika 2018, S. 248 ff. m. w. N.). In Anbetracht der aktuellen Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urt. v. 05.03.2015, C-503/13 und C-504/13; EuGH, Urt. v. 16.02.2017, C 219/15) und BGH (BGH, Urt. v. 09.06.2015, VII ZR 284/12; BGH, Vorlagebeschluss v. 09.04.2015, VII, ZR 36/14) zur Herstellerhaftung bei fehlerhaften Medizinprodukten und Haftung der Benannten Stellen bei der Zertifizierung ist es dringend anzuraten, das Bewusstsein aller am Markt Beteiligten zu befördern und sich der Verantwortung und Auswirkung der in Verkehr gebrachten Apps bewusst zu sein. Durchgängig sollte man sich als Hersteller von Wellness- oder Gesundheits-Apps bereits bei der Entwicklung, spätestens allerdings vor der Vermarktung, intensiv Gedanken darüber machen, ob eine Zertifizierung als Medizinprodukt der Klasse I, die noch in alleiniger Verantwortung des Herstellers liegt, Sinn macht oder als Medizinprodukt der Klassen IIa oder IIb, unter Umständen sogar der Klasse III mit dem Erfordernis der Einschaltung einer Benannten Stelle (Meier et al. 2014, S. 206 ff.; von Czettritz und Strelow 2017, S. 435). Hierbei sind zusammenfassend insbesondere die aktuell geltenden sowie neuen Rechtsgrundlagen zu berücksichtigen: Die Rechtsgrundlagen umfassen Gesetze (MPG neu, HWG), Verordnungen (MPV neu, MPBetreibV neu, MPKPV, MPSV neu, DIMDIV, MPAV, BKostV-MPG, MPGVwV),

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EU-Richtlinien (AIMDD, MDD, IVDD, BID, JRD), EU-Verordnungen (VO 765/2008, VO 207/2012 (Verordnung (EU) Nr. 207/2012 der Kommission über elektronische Gebrauchsanweisungen für Medizinprodukte vom 09.03.2012, in: Amtsblatt der Europäischen Union, Jg. 55, L 72/2012, S. 28 ff.), VO 722/2012, VO 920/2013), EU-Richtlinien (93/42 EWG, 2007/47/EG (RICHTLINIE 93/42/EWG DES RATES über Medizinprodukte vom 14.06.1993, zuletzt geändert durch Art. 2 der Richtlinie 2007/47/EG, ABl. L 247 vom 21.09.2007, S. 21, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 36. Jahrgang, L 169/1993, S. 1–43)), EU-Beschlüsse und EU-Empfehlungen (2010/227/EU, 2013/473/ EU) einschließlich der legislativen Entschließung des Europäischen ­ Parlaments vom 02.04.2014 zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 (COM(2012)0542 – C7-0318/2012 – 2012/0266(COD)) sowie aktuell die neue Medical Device Regulation (MDR, Medizinprodukte-Verordnung), welche am 25.05.2017 in Kraft getreten ist und gem. Art. 97 Abs. 2 MDR nach einer Übergangsfrist von drei Jahren ab 26.05.2020 gilt. Die MDR führt eine neue Klassifizierungsregel für Software ein.

5.11 Künstliche Intelligenz, Robotik und autonome Systeme Akteure und Verantwortliche müssen sich mit Begriffen wie künstliche Intelligenz (KI), Robotik, autonome Systeme sowie Pflegeroboter, rechtliche Einordnungen, Haftungsrecht einschl. Haftungszuweisung an Betreiber, Hersteller und Roboter sowie neue Haftungskonzepte, elektronische Personen, Staatsbürger, menschenähnlicher Status sowie Risikofolgenabschätzung auseinandersetzen (weiterführend Hanika 2018, S. 268 ff. m. w. N.). Die Definition von Grundbegriffen wie künstliche Intelligenz, Roboter oder Autonomie (Fioranelli 2017, S. 5 ff.; Wallmen 2007, S. 1 ff.) ist nicht einfach und eindeutig zu treffen. Zum einen deshalb, weil es sich gerade bei der Robotik um einen Bereich der interdisziplinären Forschung handelt, zum anderen, weil die hier verwendeten Begriffe einem permanenten und beschleunigten Wandel unterliegen. Von allen Seiten anerkannte Definitionen zu finden, gestaltet sich kompliziert, ist beinahe sogar unmöglich (Müller 2014, S. 596; Günther 2016, S. 17; Günther in: Gruber et al. 2014, S. 155 ff.). Neue Technologien führen dazu, dass die aktuellen Regelungssysteme neu überdacht werden müssen (Fioranelli 2017, S. 50). Künstliche Intelligenz, Roboter, autonome Systeme und Software entkoppeln Kausalitäts- und Entscheidungszusammenhänge von menschlichen Handlungen und stellen somit auch das Recht vor neue Herausforderungen (Haustein 2013, S. 93). Aktuelle Entwicklungen werfen neue grundlegende Fragen für die Rechtswissenschaft auf, vor allem, wie auf diese Fortschritte reagiert werden kann, da das Recht sich seit jeher auf willentlich gesteuertes, menschliches Verhalten bezieht. Es kristallisiert sich zunehmend ein neues Gebiet heraus, nämlich das des Roboterrechts (Hanisch in Hilgendorf 2014, S. 61).

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Dies scheint angesichts der dynamischen Entwicklung in der Robotik auch dringend erforderlich zu sein, da die aktuelle Gesetzeslage keine konkreten Hinweise gibt, wie Fälle mit Robotern gelöst werden sollen (Hanisch in Hilgendorf und Günther 2013, S. 120). Die Europäische Union plant bereits ein Roboterrecht (Nördinger 2017, S. 1 ff.). Die EU will einen neuen Rechtsrahmen betreffend Haftung, Datenschutz und Roboterregister sowie für intelligente Robotik. Maschinen könnten schon in naher Zukunft selbstständige Entscheidungen treffen. Der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments bearbeitet „zivilrechtliche Regelungen im Bereich Robotik“ und hat einen entsprechenden Berichtsentwurf vorgelegt. Das Europäische Parlament hat dem Berichtsentwurf am 16.02.2017 zugestimmt. In dem Berichtsentwurf werden Haftungsfragen, Datenschutz sowie soziale und ethische Aspekte der Anwendung intelligenter Robotik behandelt (Europäisches Parlament 2017, S. 1 ff., 2018, Rn. 59 f.). Auch die Gesundheitswirtschaft ist hiervon betroffen (Deutsches Ärzteblatt 2017). Im Ergebnis wird deutlich, dass gerade die Haftungszuweisung primär zwischen Betreiber und Hersteller im Vordergrund steht. Jedoch muss beachtet werden, dass auch die Haftungsfragen von weiteren Beteiligten, wie z. B. Wartungsfirmen oder auch des Roboters selbst, zu beantworten sind (Fioranelli 2017, S. 54). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass dem Betreiber eine wesentliche Rolle in der Haftungsfrage zukommt. Jedoch lassen gerade die Pflichten und Verantwortlichkeiten des Herstellers auch auf eine wesentliche Verantwortung für den Roboter schließen (Hanisch in Hilgendorf 2014, S. 32): • Der Hersteller kennt die Konstruktion des Roboters genau. • Der Hersteller gibt den Roboter für einen bestimmten Verwendungszweck frei. • Der Hersteller instruiert den Roboterbetreiber zum Einsatz des Roboters. Der Hersteller kann im Rahmen seiner Produktbeobachtung Fehler erkennen und so seine Kunden über solche Fehler rechtzeitig unterrichten. Nach den Vorgaben insbesondere aus dem ProdHG kann somit die Verletzung von Schutzgesetzen eine Haftung zulasten des Herstellers auslösen. Zu prüfen ist auch die Fragestellung, ob der Roboter selbst als Haftender gesehen werden kann, da dieser den Schaden verursacht. Zusammenfassend lässt sich derzeit feststellen, dass der Roboter als Haftender vorerst nicht in Betracht gezogen werden kann. Bei der Entwicklung von neuen Haftungskonzepten für Roboter wird auch bereits die Haftung von Robotern, im Rahmen der Zuschreibung als „elektronische Person“ angelehnt an die juristische Person, diskutiert (Beck in Hilgendorf und Günther 2013, S. 255 ff.; Günther 2016, S. 237).

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In der Literatur gibt es eine bereits lange Diskussion über Roboterrechte, die auch in der Politik zunehmend beachtet wird. Daher hat der Rechtsausschuss des EU-Parlaments folgerichtig eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik vorgelegt, in der erwogen wird, Roboter als „elektronische Personen“ einzustufen und ihnen Rechte und Pflichten zuzuweisen sind (Entwurf einer Schließung des Europäischen Parlaments 2018, S. 59 f.). Roboter – von autonomen Fahrzeugen über Drohnen bis hin zu Medizin- und Pflegerobotern – stellen die Rechtsordnung vor eine Herausforderung. Vor allem der Begriff „elektronische Person“ (engl. „e-person“) gewinnt zunehmend an Bedeutung (Fioranelli 2017, S. 68 m. w. N.). Robotern würde hierbei der Status einer „Person“ verliehen werden und dadurch würden sie als rechtlich relevante Entität eingestuft werden. Zugleich würde der Zusatz „elektronisch“ verdeutlichen, dass es sich um eine eigenständige Konzeption handelt, welche sich von natürlichen Personen im Ausmaß sowohl ihrer Rechte als auch ihrer Pflichten eindeutig unterscheidet. Deshalb wird auch diskutiert, dieser Entität ein eigenes Vermögen (von den Beteiligten sowie Haftenden eingezahlt) mit den entsprechenden Rechten und Pflichten auszustatten und dies als auch die Fähigkeit und Eigenschaft der Maschine in einer Art „Roboterregister“ zu erfassen. Durch die Etablierung einer elektronischen Person können nicht nur Nachweisprobleme bei Haftungsfragen bei Schädigungen durch Maschinen gelöst werden, es würde auch ein selbstständiges Auftreten dieser Entitäten im Rechtsverkehr ermöglicht (Beck in Hilgendorf und Günther 2013, S. 257 f.). Es wird spannend sein, zu beobachten, wie exponentiell die technische Entwicklung voranschreitet, eine Risikofolgenabschätzung installiert wird und vor allem auch die Gesellschaft auf das Konzept der „elektronischen Person“ reagiert. Generell könnten dadurch viele Unklarheiten bei Haftungsfragen beseitigt werden (Fioranelli 2017, S. 68).

5.12 Schlussbetrachtung Die vielschichtigen Rechts- und Themenfelder wie Digitalisierung, Big Data, Smart Data, Recht und Eigentum an Daten, Datenschutz- und Datensicherheitsrecht, Digitalisierung der Arbeitswelt, soziale Netzwerke, Cloud-Computing, Profiling, Scoring, Patientendatenschutz, Mobile Health, Apps und Medizinprodukterecht, künstliche Intelligenz, Robotik, Blockchain sowie Ethik (vertiefend Hanika 2018, S. 1 ff.) bedürfen eines zukunftssichernden Engagements aller Beteiligten in der Gesundheitswirtschaft, um die zahlreichen To-dos zu erkennen und zu bearbeiten. Einerseits sind die Chancen und Optionen der neuen Technologien faszinierend, andererseits lassen die vielfältigen Risiken kritisch zweifeln. Doch hat bereits Victor-Marie Hugo erkannt: „On résiste à l’invasion des armées; on ne résiste pas à l’invasion des idées.“ Man kann der Invasion von Armeen Widerstand leisten, nicht aber einer Invasion von Ideen (Hugo 1877, S. 600).

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Nicht zuletzt ermöglichen die zahlreichen Rechtsgrundlagen, sich mit den unterschiedlichsten Projekten rechtsstaatlich, grundrechtskonform sowie europarechtlich regelgerecht zu verhalten. Zudem können nach dem Datenschutzrecht z. B. Entwürfe für Verhaltensregeln zur Förderung der Durchführung von datenschutzrechtlichen Regelungen der zuständigen Aufsichtsbehörde unterbreitet werden. Ebenso ist z. B. bei Erforschung und Entwicklung von Standard Operating Procedures, von Best Practices sowie Audits vieles erreich- und umsetzbar. Auch werden sich die Rechtspolitik sowie der nunmehr bestehende ordnungsrechtliche Rahmen dynamisch weiterentwickeln. Dies wird sukzessive z. B. durch Novellierungen der DSGVO, der deutschen und länderspezifischen Datenschutzgesetze wie auch die Entwicklung eines neuen Datengesetzes (s. o. Abschn. 5.4) geschehen. Jedoch muss in jedem Fall die Akzeptanz der Bevölkerung, der Verbraucher, der Kunden sowie der Patienten etc. für den Megatrend der Digitalisierung gewonnen werden. Den Akteuren und Verantwortlichen im Gesundheitswesen wird angeraten, sich intensiv, ziel-, zukunfts- sowie lösungsorientiert und kritisch mit den einschlägigen Rechtsgebieten und innovativen Themenfeldern der Digitalisierung und Big Data zu befassen.

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H. Hanika

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Prof. Dr. iur. Heinrich Hanika  forscht und lehrt an Hochschulen in Berlin, Ludwigshafen am Rhein, Stuttgart sowie an der Semmelweis Universität Budapest. Er ist Professor, Visiting Professor und Dozent auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sowie zahlreiche Publikationen und Vorträge befassen sich insbesondere mit folgenden Themenfeldern: Digitalisierung, Big Data, Analytics und Recht, Datenschutz- und Datensicherheitsrecht, Internetrecht, IuK-Recht, Internationales Recht, Europa- und Wirtschaftsrecht. Prof. Hanika verfügt über eine breite Projekt- und Gutachtenserfahrung sowie über ein umfangreiches internationales und nationales Netzwerk im Hochschulbereich und in der (Gesundheits-)Wirtschaft.

Teil II Telemedizin und E-Health

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Vom Projekt in die Versorgung – Wie gelangen telemedizinische Anwendungen (nicht) in den Versorgungsalltag? Bianca Lehmann und Eva-Maria Bitzer

Inhaltsverzeichnis 6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.2 Die Landschaft der Telemedizinprojekte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.2.1 Methodisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.2.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6.3 Auf dem Weg in die Versorgung – theoretischer Bezugsrahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.3.1 Telemedizin als komplexe Intervention bzw. Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 6.3.2 Das Nose to Tail Tool. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 6.3.3 Das NASSS-Rahmenkonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 6.3.4 Bewertungsmatrix zu Einflussfaktoren auf die Implementierung. . . . . . . . . . . . . . 99 6.4 Auf dem Weg in den Versorgungsalltag – Analyse der verstetigten Projekte und der Projekte mit Potenzial für die Implementierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.4.1 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.4.2 Die Entscheidung zur Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.4.3 Was beeinflusst den Prozess der Implementierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 6.4.4 Welche Strategien fördern eine erfolgreiche Implementierung?. . . . . . . . . . . . . . . 104 6.5 Expertendiskussion: Wege für Telemedizinprojekte in die Versorgung. . . . . . . . . . . . . . . . 107 6.6 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 6.7 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

B. Lehmann (*)  AGENON Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen mbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] E.-M. Bitzer  Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_6

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B. Lehmann und E.-M. Bitzer Zusammenfassung

Der Stand der Telemedizin in Deutschland wird vielfach als ungenügend, unzureichend und nicht den technischen Möglichkeiten entsprechend eingeschätzt. In einer vom BMBF beauftragten Studie haben wir eine umfassende Bestandsaufnahme und Systematisierung der aktuell in Deutschland existierenden telemedizinischen Projekte bzw. Anwendungen vorgenommen, theoriebasiert den Stand und das Potenzial telemedizinischer Anwendungen hinsichtlich ihrer Überführung in die sog. Regelversorgung bewertet und Hemmnisse, aber auch Gelingensfaktoren und erfolgreiche Strategien im Prozess vom Projektstatus in den Versorgungsalltag analysiert. Zusammen mit den Ergebnissen einer Diskussion mit hochrangigen Akteuren aus dem Bereich Telemedizin bilden sie die Basis für eine Einschätzung des aktuellen Standes der Telemedizin in der Versorgung und zentrale Handlungsempfehlungen.

6.1 Einleitung Der Stand der Telemedizin in Deutschland wird vielfach als ungenügend, unzureichend und nicht den technischen Möglichkeiten entsprechend eingeschätzt (z. B. van den Berg et al. 2015; Apolinário-Hagen und Tasseit 2015; Nolting und Zich 2017). Angesichts des hohen Potenzials der Telemedizin, zur Lösung vielfältiger Probleme der gesundheitlichen Versorgung beizutragen (u. a. SVR 2014; Gigerenzer et al. 2016; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2017), und der hohen Priorität, die beispielsweise die Bundesregierung der Digitalisierung auch im Gesundheitswesen einräumt, der zahlreichen Aktivitäten auf Bundes- und Landesebene sowie auf den verschiedenen Ebenen der gesundheitlichen Versorgung erscheint eine differenzierte Betrachtung allerdings wichtiger denn je. Welche telemedizinischen Lösungen sind tatsächlich schon reif für die flächendeckende Implementierung? Wer profitiert von telemedizinischen Lösungen und wer nicht? Wie wichtig sind Spezifika der Telemedizin für ihre (mangelnde) Verbreitung im Versorgungsalltag? Die vorliegende Untersuchung erlaubt zu einigen der genannten Aspekte neue Einsichten, bestätigt in mancherlei Hinsicht bereits vorliegende Befunde und erlaubt auf der Basis eines theoriebasierten, systematischen Vorgehens eine realistischere Einschätzung des Potenzials telemedizinischer Anwendungen sowie die Ableitung gezielter Handlungsempfehlungen. In der vom BMBF beauftragten Studie (Lehmann et al. 2018) haben wir zunächst eine umfassende Bestandsaufnahme und Systematisierung der aktuell in Deutschland existierenden telemedizinischen Projekte bzw. Anwendungen vorgenommen (Abschn. 6.2). Auf der Grundlage theoretischer Rahmenkonzepte aus der Implementierungs- und Technikakzeptanzforschung (Abschn. 6.3) haben wir den Stand und das Potenzial telemedizinischer Anwendungen hinsichtlich ihrer Überführung in die sog. Regelversorgung bewertet und Hemmnisse, aber auch Gelingensfaktoren und erfolgreiche Strategien im

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Prozess vom Projektstatus in die Routineversorgung analysiert (Abschn. 6.4). Auf der Grundlage dieser Analysen und der Ergebnisse eines abschließenden Workshops mit hochrangigen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen im Kontext Telemedizin haben wir zentrale Einschätzungen und Handlungsempfehlungen abgeleitet (Abschn. 6.5).

6.2 Die Landschaft der Telemedizinprojekte in Deutschland Der folgende Abschnitt beschreibt das methodische Vorgehen bei und die Ergebnisse der Bestandsaufnahme der Telemedizinprojekte in Deutschland.

6.2.1 Methodisches Vorgehen Unter Telemedizin haben wir im Rahmen dieser Studie die Erbringung medizinischer Leistungen über räumliche Entfernungen zwischen Gesundheitsfachkräften (ärztliches, psychotherapeutisches und ggf. anderes gesundheitliches Fachpersonal) und Patienten bzw. zwischen Gesundheitsfachkräften untereinander verstanden. Reine Telematikanwendungen oder reine an Endverbraucher gerichtete Gesundheits-Apps ohne Einbindung von bzw. Anbindung an (ärztliche) Gesundheitsfachkräfte haben wir nicht betrachtet. Um zunächst so viele aktuelle telemedizinische Projekte wie möglich zu identifizieren, haben wir zwischen April und August 2017 ausgehend von der Datenbank der gematik (2017) ca. 30 weitere Datenbanken (u. a. Projektdatenbanken verschiedener Fördermittelgeber, Studiendatenbanken) systematisch durchsucht und eine ergänzende digitale Freihandrecherche durchgeführt. Um zu vermeiden, dass ältere Projekte einfach deswegen nicht im Versorgungsalltag auftauchen, weil sie sich technisch überlebt haben, wurden nur Projekte eingeschlossen, die erst in den letzten drei Jahren beendet wurden, sowie aktuell im Zeitraum der Recherche noch laufende Projekte. Die Projekte wurden nach festgelegten Kriterien für die weitere Analyse ein- bzw. ausgeschlossen. Lag das Projektende vor dem 31.12.2014, wurden weitere Ausschlussgründe nicht zusätzlich geprüft. Die so identifizierten Projekte haben wir entlang vorab festgelegter Kriterien systematisiert: Informationen zu formalen Aspekten (z. B. Projektträger, Fördermittelgeber), zu Versorgungsinhalten (z. B. Indikation, beteiligte Leistungserbringer), zur telemedizinischen Anwendung (z. B. Art der Anwendung, Vorhandensein eines Datenschutzkonzepts) und zu Auswahlkriterien für Projekte, die einer Bewertung ihres Potenzials für die Überführung in die Regelversorgung unterzogen werden sollten. Im Zuge der Systematisierung der eingeschlossenen telemedizinischen Projekte zeigte sich, dass die Verfügbarkeit, die Tiefe sowie die Aktualität der zugänglichen Informationen sehr unterschiedlich sind. Aus diesem Grund erfolgte eine standardisierte Nacherhebung mittels eines individualisierten, bereits mit den recherchierten Daten versehenen Fragebogens bei den Projektverantwortlichen.

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6.2.2 Ergebnisse Erwartet haben wir – u. a. ausgehend von der o. g. gematik-Datenbank – insgesamt ca. 300 Projekte; angenommen haben wir weiterhin, dass ca. ein Drittel davon die Einschlusskriterien für die weitere Systematisierung erfüllt. Initial konnten wir 1151 aktuelle telemedizinische Projekte identifizieren, davon erwiesen sich 367 Projekte als Dubletten. Nach Anwenden der Ein- und Ausschlusskriterien (u. a. Projektende, Beteiligung von Gesundheitsfachkräften, konkrete patientenbezogene Versorgungsinhalte) verblieben 306 telemedizinische Projekte zur Systematisierung. Die Leitung der Projekte liegt in fast der Hälfte der Projekte bei Hochschulen und Universitätsklinika, zu jeweils ca. 15 % bei Unternehmen und Leistungserbringern. Kostenträger sind zu weniger als 10 % Projektleitung. Die Mehrzahl der Projekte war bzw. ist öffentlich gefördert. Im gesamten Bundesgebiet existieren telemedizinische Projekte, ca. die Hälfte der Projekte erstreckt sich dabei über mehr als ein Bundesland (wobei damit noch nichts über die tatsächliche Reichweite des Angebots, also z. B. Anzahl der nutzenden Patienten und Leistungserbringer gesagt werden kann). Die Vielfalt der telemedizinischen Anwendungen ist groß und reicht von vergleichsweise kleinen Lösungen zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Kommunikation bis zu großen, sektorenübergreifenden Netzwerken. Die Verteilung zwischen Telemonitoring anwendungen, Anwendungen zur Telediagnostik/Befundung und zur Teletherapie fällt relativ gleichmäßig aus: Jeweils ca. zwei Fünftel der Anwendungen entfallen auf Telemonitoring, auf Telediagnostik/Befundung und auf Teletherapie, Anwendungen im Bereich Telekooperation sind von etwas geringerer Bedeutung. Der Übergang zwischen den Bereichen ist fließend. Die deutliche Mehrheit der Projekte bezieht sich auf spezifische Krankheitsbilder oder -gruppen, hier zuallererst für Krankheiten des Kreislaufsystems (ICD-Kapitel IX), aber auch für psychische Erkrankungen (ICD-Kapitel V). Indikationsoffene bzw. -übergreifende Projekte sind seltener. Telemedizinische Anwendungen werden häufiger in der stationären Krankenhausversorgung als im ambulanten Sektor genutzt, ein nicht unerheblicher Teil der Projekte ist sektorenübergreifend, selten dagegen versorgungsbereichsübergreifend ausgelegt. Potenziell für die Implementierung geeignete Projekte Um zu bewerten, in welchem Stadium sich die telemedizinischen Anwendungen befinden, wurden die Projekte in Anlehnung an Campbell (2000), Craig et al. (2008) und Moore et al. (2015) den folgenden Reifegraden zugeordnet. Prototyp: Beschreibung, Entwicklung und Testung der telemedizinischen Anwendung auf Funktionsfähigkeit, Fehlerfreiheit, Gebrauchstauglichkeit, Usability. Machbarkeit: Studie zu Zufriedenheit, Akzeptanz unter „Laborbedingungen“ (z. B. eine Klinik), i. d. R. kleinere Studie.

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Wirksamkeit: Studie zu klinischen, patientenrelevanten Parametern (Outcome, Effektstärken), oft als RCT, i. d. R. größere Studie mit n ≥ 26 pro Gruppe (Interventions- und Kontrollgruppe). Implementierung: Evaluation der Übertragbarkeit in andere Settings, in die Fläche, in die Versorgungsroutine, Qualitätssicherung. Als potenziell für die Implementierung geeignete Projekte haben wir die Projekte definiert, die mindestens den Reifegrad 3 aufweisen, für die also eine Untersuchung an größeren Studienpopulationen zur Wirksamkeit der telemedizinischen Anwendung durchgeführt worden ist (oder durchgeführt wird). Von den 306 in die Bewertung eingeschlossenen Projekten wurde in etwa ein Drittel dieser auf der Basis der vorliegenden Informationen dem Reifegrad 3 zugeordnet. Etwa 10 % der Projekte wurden mit Reifegrad 4 eingestuft, d. h., die vorliegenden Informationen deuteten darauf hin, dass die telemedizinische Anwendung in (durchaus unterschiedlicher Breite und Tiefe) in einen Versorgungskontext implementiert wurde und dort evaluiert wird. Nur wenige Projekte befassen sich mit reinen Prototypen von telemedizinischen Anwendungen, in denen es v. a. um die Funktionsfähigkeit geht (Reifegrad 1), bei etwa einem Viertel der telemedizinischen Anwendungen handelt es sich um Machbarkeitsstudien (Reifegrad 2). Aber: Verstetigung geht auch unabhängig vom Reifegrad Die Systematisierung der Projekte ergab, dass die Überführung in den Versorgungsalltag nicht allein am Reifegrad des Projektes festgemacht werden kann. Es gibt 127 (ehemalige) Projekte, die in irgendeiner Form verstetigt sind, denen also die Überführung in den Versorgungsalltag – mehr oder weniger erfolgreich – gelungen ist. Zu den in der Systematisierung aufgetretenen Formen der Verstetigung gehören u. a. die Weiternutzung der telemedizinischen Anwendung nach Ende der Projektlaufzeit im institutionellen Kontext der ursprünglichen Entwickler (also beispielsweise an der universitären Abteilung der Projektleitung), die Überführung in einen Selektivvertrag oder auch die dauerhafte Verankerung inkl. Vergütungsvereinbarungen in einer Region. Bemerkenswert ist, dass ein nicht unerheblicher Anteil der so verstetigten Projekte einen geringeren Reifegrad als Reifegrad 3 aufwies bzw. keine ausreichenden Informationen zur Einschätzung des Reifegrads vorlagen. Für die Beantwortung der Frage, welche Faktoren eine entsprechende Verstetigung erleichtern oder behindern, ist eine vertiefte Betrachtung auch dieser telemedizinischen Anwendungen sinnvoll. Von allen Projekten mit Reifegrad 3 oder 4 sind • 76 Projekte verstetigt/werden über das Ende der Projektlaufzeit hinaus genutzt, • 23 Projekte abgeschlossen und nicht verstetigt, • 62 Projekte laufend.

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Von allen verstetigten Projekten haben • 76 Projekte den Reifegrad 3 oder 4, • 51 Projekte den Reifegrad 1 oder 2 oder es wurde kein Reifegrad vergeben. Für die vertiefte Analyse von Umsetzungshindernissen und Förderfaktoren haben wir insgesamt 183 Projekte einbezogen (Abschn. 6.4).

6.3 Auf dem Weg in die Versorgung – theoretischer Bezugsrahmen Zur vertieften Analyse der Umsetzungshindernisse und Förderfaktoren telemedizinischer Interventionen in den Versorgungsalltag liegt aus der Forschung und Praxis zu Innovationen, Implementierung und Technikakzeptanz eine Fülle von Vorarbeiten vor, u. a. theoretische Modelle und Konzepte, systematische Übersichtsarbeiten und konkrete Handlungsempfehlungen. Im folgenden Abschnitt berichten wir das Ergebnis einer zusammenfassenden Betrachtung verschiedener Publikationen aus den o. g. Bereichen und stellen zwei in jüngster Zeit publizierte Konzepte vor, die wir für besonders geeignet halten, die o. g. Aufgabe zu unterstützen.

6.3.1 Telemedizin als komplexe Intervention bzw. Innovation Wir haben verschiedene Dokumente zur Implementierung telemedizinischer Anwendungen ausgewertet (Nohl-Deryk et al. 2018; Nolting und Zich 2017; Greenhalgh et al. 2017; Merkel 2017; ACI NSW Agency for Clinical Innovation 2015; Schartinger et al. 2015; Ministry of Health Singapore 2015; van Dyk 2014; Krupinski und Bernard 2014; Georgi und Steinmann 2014; Momentum Advancing Telemedicine Adopting in Europe 2012; Duftschmid et al. 2005). Da telemedizinische Anwendungen von ihrer Definition her komplexe Interventionen sind (Craig et al. 2008), bei denen Implementationsbarrieren ebenfalls hinlänglich bekannt und beforscht sind (Datta und Petticrew 2013), haben wir den fachlichen Bezugsrahmen erweitert und Anleihen aus der Implementationsforschung zu komplexen Interventionen gemacht (Wensing 2015; Gupta et al. 2016; Heikkilä et al. 2015). Und weil die meisten Kriterienkataloge zur erfolgreichen Entwicklung und Erprobung (telemedizinischer) Interventionen mit Nachdruck empfehlen, dass während der Erprobung belastbares, verzerrungsfreies Wissen zur Wirksamkeit der Intervention im Vergleich zur Regelversorgung mit hoher externer Validität generiert und publiziert wird, haben wir sowohl Empfehlungen zur Evaluation komplexer Interventionen (Craig et al. 2008; Campbell 2000) als auch zur Evaluation telemedizinischer Interventionen gesichtet (Arnold et al. 2016; BMG 2012; Hammerschmidt und Jones 2012; Davies und Newman 2011).

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Die insgesamt 20 nationalen und internationalen einbezogenen Dokumente sind von deutlich unterschiedlichem Umfang, mit verschiedenen Methoden und aus sehr verschiedenen Zusammenhängen heraus erstellt und weisen trotzdem erstaunlich viele Gemeinsamkeiten auf: • Anlass für ihre Erstellung ist vielfach die als enttäuschend gering befundene Quote an Weiterführung/Verstetigung/Verbreitung von als sinnvoll und wirksam erachteten Innovationen nach Abschluss der Forschungs- bzw. Projektförderung. • Nahezu übereinstimmend werden allein auf die Technologie bezogene Ansätze zur Vorbereitung, Planung und Umsetzung von Implementierungsaktivitäten als nicht zielführend erachtet. • Durchgehend empfehlen die Autoren eine mehrperspektivische Betrachtung, die relevante Akteure, in der Regel Patienten, Gesundheitsfachpersonal, Entscheidungsund Kostenträger, einbezieht und sich frühzeitig und genau mit den institutionellen, organisationalen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen auseinandersetzt. • Der Rolle einer qualitativ hochwertigen, belastbaren Evaluation der Wirksamkeit (telemedizinischer) Innovationen wird vielfach Rechnung getragen, wobei aus vielen Dokumenten deutlich wird, dass nachgewiesene Wirksamkeit nur eine (und i. d. R. nicht die entscheidende) Komponente für eine erfolgreiche Implementierung ist. • Fast alle Dokumente richten sich an Innovatoren bzw. Entwickler von Innovationen. Für die Aufgabe, Barrieren, Umsetzungshindernisse, aber auch Gelingensfaktoren für die Umsetzung telemedizinischer Applikationen in die Regelversorgung zu eruieren, erscheinen uns zwei der vorgestellten Dokumente von besonderer Relevanz: das Nose to Tail Tool von Gupta et al. (2016) und das NASSS-Konzept (Nonadoption, Abandonment, and Challenges to the Scale-up, Spread, and Sustainability of Health and Care Technologies) von Greenhalgh et al. (2017).

6.3.2 Das Nose to Tail Tool Das Nose to Tail Tool (NTT) ist für die vorliegende Studie von Bedeutung, weil es eines der ausführlichsten, umfassendsten und gleichzeitig auch detailliertesten derzeit verfügbaren Konzepte zum Implementierungsprozess ist. Es bezieht sich nicht auf die Implementierung von Telemedizin im Speziellen, sondern fragt allgemein danach, wie Innovationen erfolgreich in den Versorgungsalltag überführt werden. Es bildet den kompletten Entwicklungsprozess einer Innovation von der ersten Idee bis zur flächendeckenden Implementierung in die Routineversorgung ab (inkl. Vergütung, Qualitätsanforderungen und Qualifikationsvorgaben). Auf der Grundlage der Sichtung von mehr als 60 Rahmenkonzepten zur Implementierung haben die Wissenschaftler entlang von 16 Stufen von der „Identifizierung des

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­ roblems“ bis zur „Institutionalisierung“ über 400 Fragen erarbeitet, die sich an InnoP vatoren, Endnutzer und Entscheidungsträger richten und die als Kontexte die sozialphysische Umwelt, die organisationale Ebene des Gesundheitssystems sowie die regulatorischen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Das NTT nimmt keine Gewichtung einzelner Faktoren vor, es unterscheidet auch nicht zwischen verpflichtenden und fakultativen Kriterien, da jeder einzelne Faktor bei Nichtbeachtung ausschlaggebend für das Scheitern von Innovationsprozessen sein kann und kein einzelner Faktor eine Garantie für die erfolgreiche Implementierung einer Innovation ist.

6.3.3 Das NASSS-Rahmenkonzept Das von Greenhalgh et al. (2017) publizierte NASSS-Rahmenkonzept (Nichtakzeptieren, Verlassen und Herausforderungen bei der Skalierung, Verbreitung und nachhaltige Implementierung gesundheitlicher Technologien) halten wir deshalb für eine wichtige Grundlage, weil es • explizit prospektive Erklärungsansätze für das Scheitern bzw. Gelingen von Innovationsprozessen anbieten möchte, • den Innovationsprozess nicht nur als lineare Abfolge, sondern auch als das Ergebnis von Interaktion und Rückkopplung verschiedener Akteure und Ebenen betrachtet und • die Komplexität nicht nur der Technologie, d. h. der telemedizinischen Anwendung, sondern auch weiterer, nicht nur kontextueller Faktoren adressiert. Das NASSS befasst sich mit technologieunterstützten Innovationen, basiert auf einer systematischen Sichtung bestehender wissenschaftlicher Literatur und wurde auf Anwendbarkeit, Plausibilität und inhaltliche Aussagekraft geprüft, indem die Implementierungsprozesse sechs unterschiedlicher telemedizinischer Anwendungen damit charakterisiert wurden. Die Autoren unterscheiden einfache Innovationen (geradeheraus, vorhersehbar, wenige Komponenten), komplizierte Innovationen (mehrere interagierende Komponenten) und komplexe Innovationen (dynamisch, unvorhersehbar, nicht einfach in konstituierende Einzelteile zu zerlegen). Komplexität kann sich beziehen auf 1) die Erkrankung bzw. das gesundheitliche Problem, das mit der telemedizinischen Anwendung adressiert werden soll, 2) die Technologie selbst, 3) das Werteversprechen, 4) das System, in das die telemedizinische Anwendung implementiert werden soll, 5) die Organisationen, 6) den weiteren (institutionellen und gesellschaftlichen) Kontext und 7) die Interaktion und wechselseitige Beeinflussung dieser sieben Dimensionen untereinander im zeitlichen Verlauf. Der Grundtenor des NASSS lautet: Komplexität erschwert Implementation. Einfache Innovationen haben die größte Chance, implementiert zu werden. Komplizierte ­Innovationen

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sind schwierig, aber nicht unmöglich zu implementieren. Programme, die in mehreren der sieben Dimensionen Komplexität aufweisen, werden fast nie implementiert (Greenhalgh et al. 2017).

6.3.4 Bewertungsmatrix zu Einflussfaktoren auf die Implementierung Die beiden Rahmenkonzepte – das NTT-Tool von Gupta et al. (2016) und das NASSS-Rahmenkonzept von Greenhalgh et al. (2017) – haben wir zu einer Matrix zusammengeführt (Tab. 6.1), die die Grundlage für die Analyse der Befragung der Projektverantwortlichen bildete (Abschn. 6.4.4).

6.4 Auf dem Weg in den Versorgungsalltag – Analyse der verstetigten Projekte und der Projekte mit Potenzial für die Implementierung Die hier auszugsweise vorgestellten Ergebnisse der vertieften Analyse von Umsetzungshemmnissen und Förderfaktoren beziehen sich auf folgende Fragen: • Wie kommt es zur Entscheidung, sich über den Projektkontext hinaus für die Implementierung der telemedizinischen Anwendung einsetzen zu wollen? • Wenn die Entscheidung für eine Implementierung getroffen wurde: Welche Faktoren sind für das Gelingen der Implementierung wichtig, welche erschweren die Implementierung? • Welche Strategien haben sich (nicht) bewährt im Prozess der Implementierung der telemedizinischen Anwendung?

6.4.1 Methodik Für die vertiefte Analyse von Umsetzungshindernissen und Förderfaktoren haben wir insgesamt 183 Projekte einbezogen (Abschn. 6.2). Grundlage war eine teilstandardisierte telefonische Befragung der Projektverantwortlichen. Von 125 Projektverantwortlichen, die diese 183 Projekte repräsentierten, konnten 69 Ansprechpartner, die 112 der insgesamt 183 Projekte repräsentieren, für ein Interview gewonnen werden. Auf der Basis des Nose to Tail Tools(NTT) haben wir einen teilstandardisierten Fragebogen entwickelt. Hierzu wurden in einem ersten Schritt alle relevanten Fragen entlang der 16 Stufen dieses Tools vom Englischen ins Deutsche übersetzt und die 16 Stufen des Tools in die vier Reifegrade dieser Studie eingepasst. Anschließend wurden die Fragen in einem iterativen Verfahren in mehreren Durchgängen reduziert und

Angebotssituation

Mehrwert für Innovationsteam Mehrwert für Kooperationspartner

Implementierungsarbeit (was, von wem, wie viel)

Politischer, ökonomischer, regulativer Rahmen

Sozialphysische Umwelt

Werteversprechen

Organisation (des Gesundheitssystems)

Rahmen

Innovatorgruppe/ Kooperationspartner

Politischer, ökonomischer, regulativer Rahmen

Politischer, ökonomischer, regulativer Rahmen

Zugang/Verfügbarkeit der TMA („supply model“)

Wissen und notwendige Unterstützung für die Nutzung der TMA Bereitschaft für technologischen Wandel

Hauptmerkmale der TMA („key features“) Welches Wissen bringt die TMA ein?

Mehrwert für Stakeholder (z. B. Kosteneffektivität)

Mehrwert für Patienten Mehrwert für Leistungserbringer Strukturänderungen Änderungen in Ablauf und Interaktion Änderungen in Rollen, Praktiken u. Ä. Einfachheit der Entscheidung und Umsetzung

Welches Problem löst die Telemedizinische Anwendung

Technologie

Akzeptanz

Stakeholder

Versorgungssituation Akzeptanz

Endnutzer

Tab. 6.1  Synthese des NTT-Tools und des NASSS-Rahmenkonzepts zu einer Matrix. (Quelle: Gupta et al. 2016; Greenhalgh et al. 2017)

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k­ omprimiert. Vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellungen der Befragung wurde der so entstandene Fragenkatalog mit den Kriterien der „eHealth-Initiative“ (BMG 2012) abgeglichen.

6.4.2 Die Entscheidung zur Implementierung Welche Faktoren sind nun aus Sicht der Befragten bei der grundsätzlichen Entscheidung „Implementierung Ja/Nein“ von Bedeutung? Welche Faktoren haben einen Einfluss darauf, dass es überhaupt zum Start des Prozesses der Überführung einer telemedizinischen Anwendung aus einem befristeten Projektkontext in den Versorgungsalltag kam? Die Faktoren lassen sich folgenden drei Bereichen zuordnen: • gesicherte Finanzierung: – … der Investition, – … der Vergütung, – Vorhandensein eines Geschäftsmodells, • Passung in bestehende Rahmenbedingungen: – rechtlich, – technisch, – Behandlungsabläufe, • Akzeptanz und Unterstützung: – Akzeptanz der Endnutzer, – allgemeiner Konsens, – Unterstützer. Bei der Entscheidung, sich für eine Implementierung der telemedizinischen Anwendung zu engagieren, ist es aus Sicht der Befragten sehr wichtig, dass die Finanzierung der Investition und der laufenden Kosten geklärt ist (80 % bzw. 75 % Zustimmung). Auch ein eigenes Geschäftsmodell wird von der überwiegenden Mehrheit der Befragten als wichtig angesehen. Hinsichtlich der Faktoren, die wir unter der Überschrift „Passung in bestehende Rahmenbedingungen“ zusammengefasst haben, geben drei Viertel der Befragten an, dass es in erster Linie der rechtliche Rahmen ist, der für die Entscheidung zur Implementierung relevant ist. Für drei Fünftel der Befragten ist es von zentraler Bedeutung, dass die telemedizinische Anwendung in die bestehenden Behandlungsabläufe passt. Für die anderen Projekte ist dies weniger relevant, da z. B. Veränderungen der Prozessabläufe als Ziel der telemedizinischen Anwendung betrachtet werden oder aber die Anwendung selbst so flexibel ist, dass sie sich an verschiedene Abläufe anpassen kann. Die Passung der telemedizinischen Anwendung in die technischen Rahmenbedingungen ist dagegen vergleichsweise wenig relevant für die Entscheidung zur Implementierung. Über alle Faktoren der drei Bereiche ist dieser Faktor derjenige, der die geringste Zustimmung

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erhält, und der einzige, den die Mehrheit der Befragten als nicht relevant für das „Ob“ einer Implementierung ansieht. Hinsichtlich der „Bedeutung von Akzeptanz und Unterstützung“ zeigt sich, dass eine Implementierung vor allem ohne die Bereitschaft der Ärzte, die Anwendung nutzen zu wollen, nicht sinnvoll ist. Das Vorhandensein relevanter Unterstützer, wie z. B. Kostenträger oder Industriepartner, ist für drei Fünftel der Befragten Voraussetzung dafür, sich für eine Implementierung zu entscheiden. Der im Nose to Tail Tool zentrale Punkt eines gemeinsamen Konsenses aller Beteiligten wird dagegen nur von gut der Hälfte der Befragten als wichtig für die Entscheidung zur Implementierung angesehen. Es wird unter anderem argumentiert, dass zwar der Konsens zwischen einzelnen Beteiligten bedeutsam sei, aber nicht erwartet werden könne, dass es einen Konsens unter allen gäbe. Auch könnten im Prozess der Implementierung die Beteiligten überzeugt werden.

6.4.3 Was beeinflusst den Prozess der Implementierung? Ist nun die Entscheidung zur Implementierung der telemedizinischen Anwendung getroffen, beeinflussen zahlreiche interne und externe Faktoren den weiteren Verlauf des Prozesses der Überführung in den Versorgungsalltag. Die Befragten wurden gebeten, die vorgegebenen Faktoren bzgl. ihres Einflusses auf die konkrete Implementierung der telemedizinischen Anwendung (retro- bzw. prospektiv) einzuschätzen. Folgende Faktoren wurden thematisiert: • Interne Faktoren: – sozial (interne): z. B. „Teamgeist“, Aushandlung unterschiedlicher Interessen, Konflikte, – personell-formell: z. B. Zusammensetzung des Umsetzungsteams, Qualifikation und Fluktuation der Mitarbeiter, – strukturell-organisatorisch: z. B. Laufzeit der Umsetzung, Ressourcenausstattung, Verantwortlichkeiten, – inhaltlich-technisch: z. B. Adaptation des Behandlungsablaufs, technische Umsetzbarkeit, Funktionsfähigkeit der TMA, – Umsetzungsplan: z. B. Zeit- und Arbeitsplanung, operative Umsetzung, • Externe Faktoren: – sozial (externe): z. B. Akzeptanz, Einstellungen, Verhaltensweisen der Endnutzer, Entscheidungsträger, – ökonomisch: z. B. Investitionskosten für Implementierung und Nutzung, Vergütung, – politisch-rechtlich: z. B. Haftungsfragen, Datenschutz, – technisch: z. B. bestehende technische Systeme/Standards, Netzabdeckung, – Spezifika des Gesundheitssystems: z. B. Sektorenbezug, organisatorische Abläufe, Behandlungspfade.

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Es ging also nicht darum, allgemein die Bedeutsamkeit eines Faktors zu bewerten, sondern dessen Relevanz für die konkrete Implementierung der eigenen telemedizinischen Anwendung. So kann z. B. die Regelung der Vergütung grundsätzlich als zentraler Faktor bewertet werden, hat aber bei der konkreten Implementierung wenig Relevanz, da ein Kostenträger proaktiv mit einem Vergütungsvorschlag auf das Projekt zukommt. Grundsätzlich wird von den Befragten sowohl den internen als auch den externen Faktoren eine hohe Bedeutung für den Implementierungsprozess beigemessen. Als insgesamt am bedeutendsten werden externe soziale Faktoren eingeschätzt, die geringste Relevanz haben dagegen interne soziale Faktoren. Der im Durchschnitt bedeutendste interne Faktor ist der Bereich personell-formaler Fragen, also der fachlichen Zusammensetzung, aber auch der Befristung und Fluktuation der Mitarbeiter, gefolgt vom eigenen Umsetzungsplan und den inhaltlich-technischen Faktoren, wie z. B. der Funktionsfähigkeit der telemedizinischen Anwendung. Die geringste Bedeutung bei den internen Faktoren – und insgesamt über alle Faktoren – haben soziale Aspekte, wie z. B. das Engagement der Mitarbeiter, die Arbeitsatmosphäre im Team. Dagegen haben soziale Faktoren (z. B. Akzeptanz der Endnutzer) im Bereich der externen Faktoren die höchste Bedeutung – und dies auch insgesamt über alle Faktoren. Dagegen kommt dem politischen bzw. rechtlichen Rahmen die geringste Relevanz zu. Dies passt zu den vorigen Ergebnissen (Abschn. 6.4.2): Da die Passung in den bestehenden rechtlichen Rahmen für den weit überwiegenden Teil der Befragten entscheidungsrelevant für den Beginn der Implementierung ist, hat dieser dann im Prozess der Implementierung selbst offenbar keinen großen Einfluss mehr. Auch gesundheitssystembezogene Faktoren und Fragen der Technik sind weniger bedeutsam. Ökonomische Themen spielen dagegen im Prozess der Implementierung immer wieder eine Rolle und stehen an zweiter Stelle der Relevanz externer Faktoren. Hinderliche und förderliche Faktoren im Implementierungsprozess Interessant ist, dass keiner der in den offenen Antworten thematisierten Faktoren von der Mehrheit der Befragten als eindeutig negativ wahrgenommen wird. Am ehesten werden externe technikbezogene Faktoren als Problem betrachtet. Dies ist auch deshalb interessant, als dass technische Rahmenbedingungen bei der Entscheidung zur Implementierung nur eine untergeordnete Rolle spielten (Abschn. 6.4.2). Hier werden unter anderem Schwierigkeiten mit der Netzabdeckung oder die Problematik unterschiedlicher Krankenhausinformations- und Praxisverwaltungssysteme von den Projektverantwortlichen genannt. Spezifika des Gesundheitssystems werden an zweiter Stelle als hinderlicher Faktor genannt: Vor allem Probleme im Kontext der Sektorenbezogenheit spielen eine Rolle, welche den oft sektorenübergreifend angelegten telemedizinischen Anwendungen entgegensteht. Interne Faktoren werden von den Befragten deutlich seltener als hinderliche Faktoren wahrgenommen. Am ehesten sind hier inhaltlich-technische Fragen ein Thema, also z. B. die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der telemedizinischen Anwendung im konkreten Setting.

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Bezüglich der als förderlich bzw. unterstützend wahrgenommenen Faktoren zeigt sich ein deutliches Bild. So werden von jeweils ca. drei Viertel der Befragten strukturell-organisatorische Faktoren und der eigene Umsetzungsplan positiv eingeschätzt. Eine grundsätzlich positive Einschätzung des Faktors schließt allerdings nicht per se aus, dass dieser auch als schwierig wahrgenommen wird. So wird z. B. die Festsetzung von Verantwortlichkeiten, das verbindliche Festlegen von Abläufen oder das Erstellen eines eigenen Prozesshandbuchs als Herausforderung wahrgenommen, aber in letzter Konsequenz als hilfreich für den Prozess der Implementierung gesehen. Auch Fragen der Zusammensetzung und Qualifikation der Mitarbeiter werden von einer deutlichen Mehrheit als förderlich wahrgenommen. Bei den externen sozialen Faktoren ist interessanterweise nur die Akzeptanz der Endnutzer ein Faktor, der von mehr als der Hälfte der Befragten als förderlich betrachtet wird. Gleichzeitig ist dies der Faktor, dem von allen Faktoren im Durchschnitt der höchste Einflussgrad attestiert wurde (Abschn. 6.4.3).

6.4.4 Welche Strategien fördern eine erfolgreiche Implementierung? Die bisher betrachteten internen und externen Faktoren können nicht bzw. nur eingeschränkt aktiv von den Projektbeteiligten beeinflusst werden. Deshalb ist es interessant, sich neben den beeinflussenden Faktoren auch die eigenen Strategien anzuschauen, die sich im Prozess der Implementierung der telemedizinischen Anwendung (nicht) bewährt haben. Die Befragten wurden gebeten, sowohl über Strategien zu berichten, die sich im Prozess der Implementierung bewährt haben, als auch über solche Dinge, die sie beim nächsten Mal anders machen würden. Die offenen Antworten wurden den jeweiligen Dimensionen der zuvor entwickelten Matrix (Tab. 6.1) zugeordnet. Danach wurden induktiv innerhalb der Dimensionen ggf. weitere Unterkategorien gebildet. Im Kontext der sozialphysischen Umwelt spielen für die Befragten zum einen die individuellen Eigenschaften und Kompetenzen der Projektverantwortlichen eine Rolle. Flexibilität und Durchhaltevermögen werden von den Befragten als zentrale Strategien im Implementierungsprozess genannt. Dabei sei es wichtig, vor dem Hintergrund eines übergeordneten Ziels iterativ vorzugehen, um flexibel auf Anforderungen reagieren zu können. Eine grundlegende Marktkenntnis wird ebenfalls als notwendig erachtet. Das Vorhandensein eigener Expertise im Feld telemedizinischer Anwendungen reiche allein nicht aus, um sich erfolgreich zu etablieren. Ein zentraler Punkt sei vielmehr die frühzeitige und kontinuierliche zielgruppenbezogene Öffentlichkeitsarbeit: Es genüge nicht, ein Projekt nur am Beginn der Laufzeit vorzustellen, es muss vor allem kontinuierlich über den Verlauf, Erfolge, Forschungsergebnisse etc. berichtet werden. Hier können z. B. auch Berichte aus der Praxis von Early Adoptern hilfreich sein.

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In Bezug auf die Stakeholder ist ein sehr zentraler Punkt deren frühzeitige Einbindung. Nicht die fehlende oder nichtausreichende Berücksichtigung von Stakeholdern und deren Interessen scheint ein Problem im Prozess der Implementierung zu sein, sondern dass diese zu spät einbezogen werden, um z. B. Anpassungen vornehmen zu können. Dies gilt gerade für die Gewinnung von Kostenträgern als potenzielle Finanzierer einer zu implementierenden telemedizinischen Anwendung. Aus technologischer Sicht geht es vor allem darum, dass man die telemedizinische Anwendung entsprechend dem tatsächlichen Bedarf ausrichtet und die Anwendung auf die Lösung eines konkreten Problems bzw. für eine bestimmte Patientenklientel abstimmt. Das Werteversprechen bezieht sich auf die Frage, welchen Mehrwert die telemedizinische Anwendung für einzelne Gruppen generiert. Aus Sicht der Innovatoren wird in diesem Kontext als erfolgreiche Strategie genannt, Kosten, Nutzen und Risiken der Entwicklung und Implementierung einer telemedizinischen Anwendung genau abzuwägen. Hilfreich in diesem Zusammenhang ist es, ein eigenes Geschäftsmodell zu entwickeln und sich Klarheit über die konkreten Verwertungsmöglichkeiten zu verschaffen. Zentrales Thema mit Blick auf die Endnutzer ist die Frage, ob und welchen Nutzen die telemedizinische Anwendung für sie hat: Im Fokus der Tätigkeit müsse immer stehen, Nutzen und Bedarf der Endnutzer im Blick zu haben, auch um eine größtmögliche Akzeptanz sicherzustellen. Hierzu passt auch, dass die Relevanz gut ausgearbeiteter, konkreter Use Cases betont wird im Sinne eines „nutzergetriebenen Vorgehens“. Eine erfolgreiche Strategie in diesem Kontext ist es, an bestehende Vorarbeiten bzw. bereits existierende klinische Studien anzuknüpfen: So könne man Wirksamkeit und Nutzen vergleichbarer Anwendungen darlegen und in Bezug zur eigenen telemedizinischen Anwendung setzen. Auch wenn es wichtig sei, die Stakeholder vom eigenen Vorhaben (und dessen Mehrwert) zu überzeugen, da so die Chance der Überführung in den Versorgungsalltag steige, sollte dies nicht der zentrale Aspekt sein. Gegebenenfalls sei zu prüfen, welche anderen Finanzierungsmöglichkeiten bestehen. Zentrales Leitthema aus Sicht der Technologie ist ein „keep it simple“ der telemedizinischen Anwendung. Als erfolgreich hat sich in den Projekten erwiesen, die Technik möglichst einfach (und bedienfreundlich) zu halten, etablierte Technik zu nutzen und auch die Implementierung technisch gesehen so einfach wie möglich zu halten. Zu den die Organisation betreffenden zentralen Erfolgsstrategien im Implementierungsprozess gehört, die Mitarbeiter und Projektpartner bewusst auszuwählen. Es sollten verschiedene Fachdisziplinen einbezogen werden und die Kompetenzen konkretisiert werden. Ein immer wieder von den Projektverantwortlichen genannter Punkt in diesem Kontext ist, dass man auch den Mut haben muss, bei Problemen früh (oder aber überhaupt) den Projektpartner zu wechseln, wenn sich die Zusammenarbeit als zu schwierig gestaltet. Auch dem sozialen Aspekt des Miteinanders im Projektteam und mit den Projektpartnern wird eine wichtige Bedeutung beigemessen. Bewusst sollte das Verbindende, das

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gemeinsame Ziel immer wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Die unterschiedlichen Sichtweisen sind dabei angemessen zu berücksichtigen. Ein gutes Projektmanagement – eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten, eine verbindliche Verteilung der Aufgaben und das Festlegen eines Ablaufplans – erweist sich im Prozess der Implementierung ebenfalls als förderliche Strategie. Der Einbezug der Anwender, v. a. der Leistungserbringer (und hier insbesondere der niedergelassenen Ärzte), ist ebenfalls eine erfolgreiche Strategie: Immer wieder wird betont, dass die Ärzte (v. a. die niedergelassenen Ärzte), aber auch die Patienten von Beginn an bzw. sehr frühzeitig mit in den Projekt- bzw. Implementierungsprozess aktiv und kontinuierlich eingebunden werden sollten, um deren Akzeptanz und Unterstützung zu gewinnen. Die bestehenden Prozesse in der Patientenversorgung (Behandlungspfade) müssen berücksichtigt und an die telemedizinische Anwendung angepasst werden. Hier geht es z. B. um die (Neu-)Definition von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, aber auch die Gestaltung der Zusammenarbeit aller an der Versorgung Beteiligten generell. In diesem Kontext spielt die intersektorale Orientierung – je nach konkreter telemedizinischer Anwendung – eine wichtige Rolle. Insgesamt haben sich Strategien bewährt oder werden als notwendig erachtet, die die Qualitätssicherung neben der Ergebnisorientierung auch aus Prozess- und Strukturperspektive betrachten (z. B. Nutzung eigener Qualitätsmanagementsysteme). Es ist notwendig und sinnvoll, die relevanten Entscheidungswege z. B. bei der Überführung einer Innovation in den Versorgungsalltag zu kennen. Die wichtigen Stakeholder, deren konkrete Interessen, aber auch der Ablauf und die Dauer von Entscheidungsprozessen sollten bekannt sein. Konkret mit Bezug auf die Kostenträger wird die Aushandlung klarer Rahmenbedingungen, z. B. hinsichtlich der Voraussetzungen für die selektivvertragliche Nutzung der telemedizinischen Anwendung, betont. Aus technologischer Sicht geht es darum, dass die Qualität der telemedizinischen Anwendung von Beginn an sichergestellt wird. Genügend zeitliche Ressourcen für die Entwicklung, das Bemühen um eine Zertifizierung der Anwendung sowie die Orientierung an einheitlichen Standards und Schnittstellen sind konkrete Handlungsmöglichkeiten, um Insellösungen zu vermeiden. Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Auswahl und Zusammenarbeit mit dem Industriepartner bzw. Anbieter der Technologie: Vor der Entscheidung für einen konkreten Anbieter sollte eine Pilotierung erfolgen, die Rolle des Anbieters im späteren Nutzungsalltag ist im Vorfeld möglichst konkret zu klären, bei Problemen, die sich als nichtlösbar erweisen, sollte ein (frühzeitiger) Anbieterwechsel als Option genutzt werden. Auf der Ebene der regulativen Rahmenbedingungen spielt zum einen die Frage der konkreten Vertragsgestaltung eine Rolle: Mit „wem“ unter „welchen Bedingungen“ werden „wann“ entsprechende Verträge geschlossen? Eine erfolgreiche Strategie ist es, eine selektivvertragliche Nutzung auf der Grundlage der Abrechnungswege der Regelversorgung zu planen, da so die Voraussetzungen der Ausweitung der Nutzung der telemedizinischen Anwendung erleichtert werden. Stärkere Verbindlichkeiten, sowohl die

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Prüfung der Qualität betreffend als auch hinsichtlich der Übernahme einer Anwendung in die Versorgung bei positiver Evaluation, werden hier genannt. Insellösungen sind zu vermeiden – allerdings wird hier offensichtlich, dass für einige telemedizinische Anwendungen, die im Versorgungsalltag genutzt werden, aufgrund der geltenden Rahmenbedingungen die Schaffung einer Insellösung eine erfolgreiche Strategie darstellte, um überhaupt in der Praxis genutzt werden zu können. Auch das Suchen und Finden alternativer Wege der Nutzung der telemedizinischen Anwendung kann eine erfolgreiche Strategie darstellen. Mehrere Projektverantwortliche berichten, dass eine (Ausweitung der) Implementierung ihrer telemedizinischen Anwendung nicht mehr in Deutschland, sondern im Ausland angestrebt wird oder bereits umgesetzt wurde, da dort die Rahmenbedingungen förderlicher sind.

6.5 Expertendiskussion: Wege für Telemedizinprojekte in die Versorgung Die Ergebnisse der Studie (Abschn. 6.2 bis 6.4) wurden im Rahmen eines Expertengesprächs mit relevanten Akteuren des Gesundheitswesens – Leistungserbringer, Kostenträger, Anbieter telemedizinischer Anwendungen, Patientenvertreter, Vertreter aus Politik und Wissenschaft etc. – diskutiert. Einig waren sich die Teilnehmer, dass es für Telemedizinprojekte keine typischen Wege in die Versorgung gäbe. Die Zugänge seien sehr unterschiedlich, u. a. in Abhängigkeit vom Anwendungsbereich und davon, in welchem Sektor die telemedizinische Anwendung verortet sei. Gerade die an sich ja besonders wünschenswerten, intersektoral angelegten telemedizinischen Anwendungen seien zudem häufig mit unklaren Vergütungsstrukturen konfrontiert. Dennoch gäbe es bestimmte Erfolgsfaktoren, die für die Überführung von Telemedizinprojekten in die Versorgung benannt werden könnten. Hier wurden v. a. ein möglichst frühes Einbinden der gesetzlichen Krankenkassen oder anderer Kostenträger und die Unterstützung wichtiger Entscheidungsträger auf Bundesebene, aber auch konkret vor Ort (regionale Akteure) genannt. Ein wesentliches Hindernis für die Überführung von telemedizinischen Anwendungen in den Versorgungsalltag ist nach Ansicht der Teilnehmer das Fehlen klarer Entscheidungsstrukturen für die Einführung telemedizinischer Anwendungen. Sowohl die auf Länder- und Bundesebene verteilten Entscheidungsstrukturen, die zu unklaren Kompetenzen in den Verhandlungen über die Einführung einer telemedizinischen Anwendung führen, als auch die langsamen und aus Sicht der Projektverantwortlichen intransparenten Entscheidungsprozesse im G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) wurden kritisiert. Aber auch redundante Förderprogramme, z. B. aus der Länderförderung, den verschiedenen Bundesministerien und dem Innovationsfond, verhinderten, dass telemedizinische Anwendungen in die Regelversorgung überführt würden. Einig waren die Teilnehmer sich darin, dass telemedizinische Anwendungen zu einem veränderten Rollenverständnis und einer veränderten Arzt-Patienten-Beziehung führen.

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Indem Ärzte die Verantwortung über telemedizinische Behandlungsformen übernehmen, könnten sie zu einer nachhaltigen Nutzung von Telemedizinanwendungen beitragen. Hindernisse für die Einführung telemedizinischer Anwendungen seien die hohe Arbeitsbelastung und Vorbehalte sowohl der niedergelassenen wie auch Klinikärzte, aber auch seitens der Gesundheitsfachkräfte. Implementierungshilfen bei der Einführung einer neuen telemedizinischen Anwendung könnten die Bedenken und den anfänglich höheren Arbeitsaufwand reduzieren. Die Angst vor Substitution durch Technik sei (v. a. bei niedergelassenen) Ärzten durchaus real, verbunden mit der Befürchtung des Wegfalls oder der Reduktion von Vergütungsoptionen und resultierender Verdienstausfälle. Bezogen auf Probleme der Vergütung und Finanzierung wurde zu Bedenken gegeben, dass vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Ressourcen und einer sektorenbezogenen budgetierten Versorgung durch telemedizinische Anwendungen bedingte Umverteilungen der Mittel zwangsläufig dazu führten, dass an anderer Stelle weniger Finanzmittel zur Verfügung stehen (Win-lose-Situation). In der Diskussion um zu erbringende Nachweise wurde kritisiert, dass Qualitätsnachweise Kostenargumenten oft untergeordnet seien. Selbst eine positive Evaluation aus einer qualitativ hochwertigen Studie sei kein Garant, dass die telemedizinische Anwendung in die Versorgung und Vergütung einbezogen würde. In Kosten-Nutzen-Analysen würden zudem Aspekte, wie z. B. Prozessoptimierungen und Kostenersparnisse, die oftmals Bestandteil von telemedizinischen Anwendungen seien, nicht ausreichend berücksichtigt. Bei der Diskussion um die Evaluation telemedizinischer Anwendungen müsse stärker berücksichtigt werden, dass es sich in der Regel um komplexe Interventionen handele, welche alternativer Evaluationssettings bedürfen. Auch müsse unterschieden werden zwischen sog. Prozessinnovationen, zu denen ca. 70–80 % der telemedizinischen Anwendungen zählten, und Produktinnovationen. Für Letztere müssten die geltenden Standards für eine Zulassung als neue Behandlungsmethode eingehalten werden. Konsens herrschte unter den Teilnehmern darüber, dass die technischen Aspekte nicht diejenigen Faktoren sind, an denen die Überführung in den Versorgungsalltag scheitert. Vielmehr wären der politisch-rechtliche Rahmen und die Spezifika des deutschen Gesundheitssystems von Bedeutung. Die kurz- bis mittelfristig angelegten Businesspläne seien nur schwer in Einklang zu bringen mit den langwierigen Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen. Es fehle eine große (politische) Vision, Deutschland drohe in der Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter abgehängt zu werden. Anbieter telemedizinischer Anwendungen orientierten sich zunehmend auf den ausländischen Markt, der einen leichteren Zugang zur Versorgung ermögliche.

6.6 Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen Die Landschaft telemedizinischer Projekte in Deutschland ist vielfältiger und Telemedizin ist stärker „im Versorgungsalltag angekommen“ als erwartet. Allerdings steht keine Anwendung flächendeckend und bundesweit allen Versicherten zur Verfügung.

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Die Bestandsaufnahme erbrachte zunächst zwei überraschende Ergebnisse: 1. Die Anzahl, Vielgestaltigkeit und Komplexität der mittels der systematischen Recherche identifizierten telemedizinischen Projekte sind mehr als dreimal so hoch wie zu Projektbeginn erwartet, ebenso die Zahl der potenziell für eine Verstetigung geeigneten Projekte. 2. Sehr viel mehr telemedizinische Anwendungen als erwartet werden über den zeitlich begrenzten Projektkontext hinaus im Versorgungsalltag fortgeführt. Die Verstetigung über die Projektlaufzeit hinaus betrifft sowohl Prozess- als auch Produktinnovationen. Verstetigte Projekte sind dabei von unterschiedlicher Komplexität, d. h., wir finden sowohl im Sinne der Definition von Greenhalgh et al. (2017) „einfache“ telemedizinische Anwendungen als auch sehr komplexe, über mehrere Versorgungsbereiche vernetzte Anwendungen in der kontinuierlichen Nutzung. Der Grad der Verstetigung ist dabei sehr unterschiedlich und reicht von der einfachen, fortgesetzten Nutzung der im Projekt entwickelten telemedizinischen Anwendung in der eigenen Einrichtung bis hin zu in langjährige Selektivverträge überführte und in mehr als einer Region etablierten telemedizinischen Anwendungen. Allerdings: Keines der Projekte ist flächendeckend in Deutschland für alle Versicherten erreichbar. Telemedizin ist also noch keine Selbstverständlichkeit und in der Gesellschaft „noch nicht angekommen“. Grundsätzlich fehlt es an nachhaltigen Geschäftsmodellen (Kerkhoff et al. 2015). Auch wenn das Ziel, eine möglichst vollständige Bestandaufnahme telemedizinischer Projekte in Deutschland vorzunehmen, im Wesentlichen erreicht werden konnte: Die informationellen Voraussetzungen sollten deutlich verbessert werden: Es gibt zwar mehrere Datenbanken, in denen telemedizinische Projekte aufgeführt werden; keine davon ist jedoch so bekannt, unter allen Akteuren so akzeptiert und/oder so gut gepflegt, dass sie als bundesweit verlässliche und aktuelle Quelle dienen könnte. 

Information über telemedizinische Anwendungen verbessern.

Wünschenswert ist deshalb die verpflichtende Aufnahme bzw. Registrierung zumindest von öffentlich geförderten Projekten zu telemedizinischen Anwendungen • in einer zentralen Datenbank, • die kontinuierlich auf Aktualität geprüft wird, • mit einem Fokus auf Vollständigkeit (d. h. auf die Erfassung möglichst vieler Projekte), • einer sinnvollen Taxonomie telemedizinischer Anwendungen und • evtl. auch der Einführung einer eindeutigen „Produktkennzeichnung“ telemedizinischer Anwendungen. Die flächendeckende, bundesweite Implementierung von Innovationen in die gesundheitliche Versorgung ist ein länger währender Prozess, der von Beginn an mitgedacht werden muss.

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Gupta et al. (2016) und Greenhalgh et al. (2017) integrieren in ihre Rahmenkonzepte sowohl theoriebasierte als auch empirisch begründete Dimensionen und Faktoren und stellen anschaulich dar, welche Entwicklungsschritte zu gehen sind und wie viele Perspektiven bei fast jedem dieser Schritte berücksichtigt werden können, sollten und müssten. Von der Idee über die Machbarkeit zur Wirksamkeit bis zur flächendeckenden Implementierung braucht es Zeit, allein um störungsfreien Betrieb, Wirksamkeit, Patientensicherheit und Datenschutz unter Alltagsbedingungen zu gewährleisten (vgl. dazu auch anschaulich aus der Praxis: Herberz et al. 2018). Auf dem Weg von der Idee zu einer telemedizinischen Anwendung bis in den flächendeckenden Versorgungsalltag erfordern die verschiedenen Entwicklungsstufen unterschiedliche Kompetenzen und Ressourcen. Forschungs- und Entwicklungsprojekte fokussieren dabei in der Regel die frühen Stadien. Überlegungen zu einer späteren Implementierung, das Entwickeln einer Verwertungskette, das frühzeitige Planen von Möglichkeiten und Risiken einer Überführung in die sog. Regelversorgung werden häufig weder mitgedacht noch werden sie mitgefördert. Hochschulen und Universitätsklinika, die häufig als Projektleitungen fungieren, verfügen in der Regel nicht über die zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen (z. B. aufgrund sachgrundbezogen befristeter Arbeitsverträge), um Projektentwicklungen in den Versorgungsalltag zu implementieren. 

Vollständigen Implementierungsprozess von Beginn an mitdenken und Ressourcen hierfür bereitstellen.

Notwendig ist daher, dass Förderprogramme bereits bei der Antragsstellung stärker als bisher Überlegungen zu einer schrittweisen Implementierung einfordern, z. B. in den Förderrichtlinien verankern (vgl. dazu die Vorgaben im Innovationsfonds). Dies erfordert aber auch, dass entsprechende Ressourcen im Rahmen der Förderungen zur Verfügung gestellt werden (z. B. Einrichtung eines Transferfonds). Die z. T. strikte phasenspezifische Trennung der Förderungen (Grundlagenforschung, Erprobungsstudien etc.) sollte zugunsten einer ganzheitlichen Prozessorientierung gelockert werden. Auf der anderen Seite müssen auch die Entwickler und Innovatoren selbst sich frühzeitig und systematisch mit dem Thema „Implementierung“ beschäftigen, d. h. Ressourcen dafür bereitstellen, um Wege in die Versorgung auszuloten, mögliche Hindernisse und Gelingensfaktoren zu identifizieren und Kriterien für die Entscheidung „Implementierung Ja/Nein“ vorzubereiten. Das Kriterium „belastbare Evaluationsstudien zur Wirksamkeit“ ist wichtig, wird jedoch in Verhandlungsgesprächen nicht immer entsprechend gewürdigt. Qualitativ belastbare Studien zur Wirksamkeit bei telemedizinischen Produktinnovationen sind unabdingbar, auch wenn ein deutlicher Wunsch nach einfacheren, weniger aufwendigen Studiendesigns bzw. Studiendesigns, welche die Spezifika einer komplexen Intervention berücksichtigen, ausgesprochen wurde. Projektverantwortliche und Experten sind sich einig, dass bei telemedizinischen Neuentwicklungen qualitativ hochwertige Studien zum Nachweis der Wirksamkeit von hoher Relevanz sind,

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nicht zuletzt deshalb, da sie eine wichtige Argumentationsgrundlage für die späteren Verhandlungen mit Kostenträgern und die Weiterentwicklung der Innovation selbst darstellen. Problematisch ist allerdings, dass selbst qualitativ hochwertige Studienergebnisse kein Garant für gelingende Verhandlungsgespräche und somit für die Überführung der telemedizinischen Anwendung in die Versorgung sind. 

Die Rolle der belastbaren Evaluation in Entscheidungen über die Implementierung konkretisieren.

Es bedarf deshalb der Formulierung klarer Kriterien, bei welchen telemedizinischen Anwendungen eine substanzielle Evaluation der Strukturen, Prozesse und Ergebnisse notwendig ist (Produkt- vs. Prozessinnovation). Darüber hinaus sind verbindliche Anforderungen an die Evaluation (Design, Methodik etc.) zu formulieren. Sichergestellt werden muss zudem die Transparenz über die genutzten Evaluationsdesigns und die erzielten Evaluationsergebnisse von telemedizinischen Anwendungen. Zwischen den Beteiligten sollten zudem verbindliche Kriterien erarbeitet werden, wie mit den Evaluationsergebnissen im Verlauf der Implementierung umzugehen ist, beispielsweise in Verhandlungen mit Entscheidungsträgern. Erfolgsfaktoren und Erfolgsstrategien liegen auf mehreren Ebenen, technische Aspekte spielen dabei keine zentrale Rolle. Es fehlen Transparenz, Orientierung und Verbindlichkeit. Die von uns aus den Rahmenkonzepten von Gupta et al. (2016) und Greenhalgh et al. (2017) entwickelte Matrix (Tab. 6.1) spannt einen großen Dimensionsraum an Umsetzungshemmnissen, Gelingensfaktoren und erfolgreichen Strategien auf, den die von uns befragten telemedizinischen Projekte vollständig ausnutzen. Zu den häufig genannten gesundheitssystembezogenen Hemmnissen gehört die Fragmentierung des deutschen Gesundheitswesens mit seinen Klein- und Kleinstunternehmen, vielfältigen Entscheidungsstrukturen und wenig transparenten Entscheidungskriterien. Als förderlicher Faktor für die erfolgreiche Implementierung telemedizinischer Anwendungen gilt der Problemdruck: Je gravierender das zu lösende Versorgungsproblem ist und je weniger traditionelle Lösungen Erfolg versprechend sind, desto eher sind die beteiligten Akteure bereit, neue, telemedizinisch unterstützte Wege zu gehen. Für die Implementierung besser geeignet sind zudem telemedizinische Anwendungen, die auf breite Akzeptanz bei den Akteuren stoßen, aus denen keine substanziellen wirtschaftlichen Nachteile für einzelne Akteure resultieren und die nicht im Verdacht stehen, mit Qualitätseinbußen einherzugehen. Telemedizinische Spezifika spielen zwar grundsätzlich eine Rolle für und im Implementierungsprozess, aber es zeigen sich keine substanziellen Unterschiede zwischen der Implementierung telemedizinischer Anwendungen und der nichttelemedizinischer Innovationen. Vielmehr spielen allgemeine bzw. übergeordnete Faktoren und Strategien, die für die Implementierung jedweder Innovation in den Versorgungsalltag relevant sind, eine viel größere Bedeutung.

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B. Lehmann und E.-M. Bitzer

Orientierungshilfen für den Implementierungsprozess zur Verfügung stellen.

Wünschenswert ist daher eine Checkliste für telemedizinische Projekte, die mögliche Schritte und häufige Fehler auf dem Weg von der Erprobung bzw. Forschung in die Versorgung beschreibt. Diese könnte in Verbindung mit einem praktikablen mehrdimensionalen Selbsteinschätzungstool (vgl.  Gupta et  al. 2016) den Projektverantwortlichen bzw. Anbietern durch den gesamten Prozess von der Entwicklung in die Versorgung Orientierung bieten zum aktuellen Stand, zu anstehenden Aufgaben, möglichen Problemen, alternativen Wegen. Es sollten klare Ansprechpartner bei allen relevanten Entscheidungsträgern auf den verschiedenen Ebenen (u. a. Bundes- und Landesebene, Krankenkassen) benannt werden, um verbindliche Informationen und Beratung im Kontext der Planung und Umsetzung der Implementierung einer telemedizinischen Anwendung bereitzustellen. 

Verbindliche Anforderungskriterien schaffen.

Verbindliche Kriterien zur Überführung telemedizinischer Anwendungen aus befristet geförderten Projekten in die Regelversorgung, z. B. in Anlehnung an den Innovationsfonds des G-BA, könnten den Entscheidungs- und Durchführungsprozess der Implementierung erleichtern. Wünschenswert wäre die Definition von Produktgruppen für telemedizinische Anwendungen, um je nach Reichweite und Komplexität (ähnlich den Medizinproduktklassen) die Anforderungen festzulegen, die erfüllt sein müssen, um die Überführung in die Regelversorgung zu gewährleisten. In klaren Anforderungslisten sollten die verbindlichen Schritte sowohl für Anbieter als auch für die Verhandler aufseiten der Krankenkassen operationalisiert werden, die nötig sind, um eine Telemedizinanwendung in den Versorgungsalltag zu überführen. Ein Benchmarking mit öffentlich zugänglichen Kosten-Nutzen-Analysen könnte den Vergleich der entsprechenden telemedizinischen Anwendungen gegen andere Systeme oder konventionelle Anwendungen erleichtern. Als übergeordnete Institution zur Bündelung und Koordinierung der Aktivitäten im regulativen Bereich könnte ein Telemedizinausschuss institutionalisiert werden, der gesetzliche Änderungen vorbereitet und begleitet, die Vergütungsstrukturen festlegt und einen Masterplan zur Überführung telemedizinischer Anwendungen in den Versorgungsalltag erarbeitet.

6.7 Schlussbetrachtung Die Landschaft telemedizinischer Projekte ist sehr viel vielfältiger als gemeinhin vermutet. Eine große Heterogenität in der Zugänglichkeit, der Tiefe und der Breite der Informationen erschwert allerdings eine umfassende Sicht auf diese Vielfalt.

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Es ist mehr Telemedizin im Versorgungsalltag angekommen als erwartet, allerdings gibt es keine telemedizinische Leistung, die flächendeckend und bundesweit allen Versicherten zur Verfügung steht und genutzt wird. Es gibt bislang keine typischen Wege für Telemedizinprojekte in die Versorgung. Die Projekte finden und nutzen ganz unterschiedliche Strategien, um einen Weg in den Versorgungsalltag zu finden. Diese Strategien, aber auch die Faktoren, die die Entscheidung für oder gegen eine Implementierung und den Implementierungsprozess selbst beeinflussen, sind selten technischer Natur. Vielmehr finden sich hier überwiegend Aspekte, die für die Implementierung jedweder Innovation in die Versorgung eine Rolle spielen. Zur Erleichterung der Implementierung telemedizinischer Anwendungen bedarf es transparenter verbindlicher Strukturen (z. B. in Bezug auf Ansprechpartner bei Kosten- und Entscheidungsträgern) und klar formulierter Kriterien, was bei der Planung und Umsetzung der Implementierung einer telemedizinischen Anwendung zu berücksichtigen ist (z. B. bei welchen telemedizinischen Anwendungen eine substanzielle Evaluation der Strukturen, Prozesse und Ergebnisse notwendig ist, welche Anforderungen an die Evaluation gestellt werden). Einige der aktuellen Entwicklungen der ersten Jahreshälfte 2018 nehmen die hier formulierten Handlungsempfehlungen auf, indem sie rechtliche Rahmenbedingungen vereinfachen (z. B. Beschluss des Deutschen Ärztetags zur Lockerung des Fernbehandlungsverbotes vom Mai 2018) oder Forderungen zur aktiven Auseinandersetzung mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen aufstellen (z. B. jüngst der vdek im Juni 2018). Ob und in welchem Tempo Telemedizin tatsächlich flächendeckend „in der Gesellschaft“ ankommt, bleibt abzuwarten.

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B. Lehmann und E.-M. Bitzer

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Dr. Bianca Lehmann  ist Senior Scientist & Senior Consultant bei der AGENON Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen mbH in Berlin. Ihre Schwerpunkte sind u. a. die Digitalisierung des Gesundheitswesens, neue Versorgungsformen, gesundes Altern sowie Versorgungs- und Sozialforschung sowie die Evaluation von Versorgung. Seit 2008 ist sie außerdem freiberuflich in der soziologischen Forschung und Beratung tätig und Lehrbeauftragte am ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale der KIT. Dr. Bianca Lehmann studierte Pädagogik, Soziologie und Psychologie an der Universität Göttingen und promovierte in Soziologie an der Universität Karlsruhe/KIT. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Karlsruhe/KIT, an der Universität Magdeburg, dem Universitätsklinikum Magdeburg und der Fachhochschule Bielefeld. An der Universität Koblenz-Landau hatte sie eine Vertretungsprofessur inne.

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B. Lehmann und E.-M. Bitzer

Prof. Dr. Eva-Maria Bitzer  ist promovierte Ärztin, habilitiert für Versorgungsforschung und Public Health und seit 2009 Professorin für Medizin in der Gesundheitspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Geschäftsführerin des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung e. V. Sie beschäftigt sich seit Mitte der 1990er-Jahre mit Health Technology Assessment, der Evaluation gesundheitlicher Technologien unter Routinebedingungen und aus Perspektive der Patienten. In den letzten Jahren legt sie verstärkt auch den Fokus auf Implementierungs- und Qualitätsforschung. Sie ist Verfasserin von mehr als 120 wissenschaftlichen Publikationen.

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Präferenzanalytische Untersuchung von Chancen durch Digitalisierung für eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung mittels elektronischer Patientenakte Matthias J. Kaiser und Jennifer Fränken

Inhaltsverzeichnis 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7.2 Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7.3 Stakeholderstandpunkte zur Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7.4 State of the Art der patientengesteuerten Gesundheitsversorgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 7.5 Elektronische Patientenakte zur Unterstützung einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 7.6 Empirische Überprüfung von Patientenpräferenzen zur elektronischen Patientenakte. . . . 128 7.6.1 Relevante Merkmale und Ausprägungen einer elektronischen Patientenakte. . . . . 129 7.6.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 7.7 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Zusammenfassung

Die Erhebung von Patientenpräferenzen hinsichtlich digitaler Gesundheitstechnologien ist im Rahmen einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung von hoher Bedeutung. Die Implementierung von patientenpräferierten Instrumenten kann zu einer Erhöhung des Patienten-Empowerment und damit zu einer Verbesserung der Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung führen. In der vorliegenden Studie wurde der aktuelle State of the Art der wissenschaftlichen Forschung aufgearbeitet und unter Anwendung der Choice-based-Conjoint-Analyse wurden Patientenpräferenzen in Bezug auf die Ausgestaltung einer elektronischen Patientenakte empirisch erhoben. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Patienten den Merkmalen M. J. Kaiser (*) · J. Fränken  Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_7

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M. J. Kaiser und J. Fränken

Anbieter der Datenspeicherung und Vernetzungsgrad eine hohe Wichtigkeit zuordnen. Insbesondere die Speicherung bei einem Leistungserbringer und die Realisierung eines hohen Vernetzungsgrades können die Nutzungswahrscheinlichkeit einer elektronischen Patientenakte beeinflussen.

7.1 Einleitung Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und einer anhaltenden Kostenzunahme ist das deutsche Gesundheitswesen dazu angehalten, Strukturen und Prozesse zu digitalisieren. In diesem Zusammenhang gilt die Digitalisierung als Erfolgsfaktor für eine Verbesserung der Versorgungsqualität, der Wirtschaftlichkeit sowie der Transparenz (Elmer und Noelle 2017, S. 1). Das deutsche Gesundheitswesen zählt jedoch bislang zu den am wenigsten digitalisierten Branchen und kann im Vergleich zu anderen Ländern nur einen geringen Digitalisierungsgrad verzeichnen (Lux und Breil 2017, S. 687). Dieser Rückstand kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Erstens besteht eine anhaltende Diskussion um Datenschutzbedenken aufseiten der Patienten, die zu einer mangelnden Akzeptanz führt und damit eine flächendeckende Etablierung innovativer Gesundheitstechnologien verhindert. Zweitens ist die starke Fragmentierung des deutschen Gesundheitswesens ein Grund für die Verzögerung, da die bestehende Interessensheterogenität der Stakeholder keine einheitliche Lösung ermöglicht (Dörries et al. 2017, S. 694 f.). Drittens fehlt von politischer Seite ein klarer Fahrplan für die Umsetzung von digitalen Projekten (Rühle 2017, S. 153). Eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung spielt im Kontext der Digitalisierung eine bedeutende Rolle, denn erst durch die Verwendung von digitalen Gesundheitstechnologien kann dieses Versorgungsmodell realisiert werden. Der vorliegende Beitrag diskutiert daher die Aspekte einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung sowie den Status quo der elektronischen Patientenakte (ePA) in Deutschland. In diesem Rahmen wird analysiert, welche Eigenschaften der ePA aus Patientenperspektive den höchsten Nutzen bieten.

7.2 Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen Die Digitalisierung des Gesundheitswesens begann Ende der 1960er-Jahre mit der Geburtsstunde der Telemedizin. Darunter wird die Bereitstellung von Gesundheitsversorgungsleistungen verstanden, bei der die räumliche Distanz einen kritischen Faktor darstellt. Gesundheitsakteure greifen dabei auf Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zurück, um einen Austausch von validen Informationen für die Diagnose, Behandlung und Prävention zu ermöglichen (WHO 1997, o. S.). Dabei dienten die telemedizinischen Anwendungen wesentlich der Dokumentation, Bereitstellung und Verarbeitung von medizinischen Daten und wurden ­maßgeblich

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von professionellen Akteuren des Gesundheitswesens genutzt, wie beispielsweise durch Ärzte (Leistungserbringer). Seit den 1990er-Jahren existieren erste Beiträge zu E-Health (Eysenbach 2001; Ferguson 1995, o. S.). Mit dem Terminus E-Health wird die Bedeutung von Telemedizin erweitert und umfasst zusätzlich administrative Prozesse sowie die Wissensvermittlung (Dietzel 1999, S. 14). E-Health kann demnach als die „… kosteneffiziente und sichere Nutzung von IKT zur Unterstützung der Gesundheit und gesundheitsnaher Bereiche …“ (WHO 2005, o. S.) definiert werden. E-Health umfasst den gesamten Einsatz von elektronischen Geräten bei der Versorgung (Albrecht und von Jan 2016, S. 51). Die Entwicklung des Internets erleichterte den Umgang mit den Technologien, weshalb IKT im Rahmen von E-Health zur Überbrückung einer Kommunikationsstrecke genutzt wurden (Meister et al. 2017, S. 190). Mit einem zunehmenden Digitalisierungsgrad veränderte sich der Fokus vom professionellen Akteur hin zur Arzt-Patienten-Beziehung (Albrecht und von Jan 2016, S. 50). Ab 2010 wurden der Begriff und die Anwendung M-Health in der Literatur diskutiert. M-Health gilt als die Weiterentwicklung von E-Health. M-Health dient zur Unterstützung von Medizin und der öffentlichen Gesundheitsversorgung durch den Einsatz von mobilen Endgeräten, wie beispielsweise Smartphones und Wearables (WHO 2011, S. 6). Nicht nur in Bezug auf die Technologien, sondern auch durch den stärkeren Patientenfokus gilt M-Health als die Weiterentwicklung von E-Health. M-Health ermöglicht dem Patienten, aktiv an der eigenen Gesundheitsversorgung teilzunehmen, indem er sich nunmehr selbstständiger über relevante Themen informieren kann und insgesamt über einen erweiterten Zugriff auf die Gesundheitsdaten verfügt. Beiträge zu Digital Health sind vermehrt seit 2015 in der Literatur zu finden. Digital Health umfasst die Bereiche E-Health und M-Health. Digital Health befähigt Personen, die eigene Gesundheit zu überwachen, zu managen und zu verbessern. Dadurch kann das Leben besser und produktiver gestaltet werden, was auch zur Förderung des Gemeinwohls beitragen kann. Es hilft außerdem dabei, Ineffizienzen in der Gesundheitsversorgung und Kosten zu reduzieren, erleichtert den Zugang zu medizinischen Leistungen, steigert die Behandlungsqualität und fördert eine personalisierte Medizin (Sonnier 2017, S. 9 ff.). Der Begriff spiegelt das gegenwärtige Bild der Versorgung und digitalen Transformation des Gesundheitswesens wider.

7.3 Stakeholderstandpunkte zur Digitalisierung An der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens partizipieren verschiedene Gesundheitsakteure. Das Akteursnetzwerk umfasst dabei schwerpunktmäßig Leistungserbringer, Kostenträger, Pharmaindustrie, Patienten sowie Politikakteure (Schachinger 2014, S. 75). Das traditionelle Bild der Pharmaindustrie als Lieferant von Medikamenten wurde im Rahmen der Digitalisierung längst überholt und zeichnet sich heute vielmehr durch die Bereitstellung ganzheitlicher Therapiekonzepte aus. Des Weiteren erfordert das veränderte Werteverständnis von B2B zu B2C die Berücksichtigung von

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Patientenerfahrungen und deren aktives Mitwirken bei der Entwicklung innovativer Therapielösungen. Ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Pharmaunternehmen ist daher einerseits die Vernetzung mit den Patienten und andererseits die Kooperation mit Anbietern aus dem Elektroniksektor, um die Entwicklung komplexer Therapielösungen zu fördern (Champagne et al. 2015, o. S.). Dafür bedarf es einer Plattform, die den Datenzugang sowohl für die Patienten als auch für andere Stakeholder ermöglicht (Dillmann und Kahl 2017, o. S.). Um zukünftig wertvolle Informationen aus Patientendaten abzuleiten, muss den Patienten stets Transparenz bezüglich des Verwendungszwecks gewährleistet werden (Huber et al. 2017, S. 252). Digitalisierung aus Sicht von Pharmaunternehmen besteht daher in Zukunft aus dem Austausch von Daten und der Konnektivität zum Endverbraucher (Champagne et al. 2015, o. S.). Neue Kommunikationstechnologien, ein verändertes Kommunikationsverhalten und eine zunehmende Erwartungshaltung der Versicherten erhöhen im Rahmen der Digitalisierung die Komplexität der Wertschöpfungskette einer Krankenkasse. Zudem nehmen die Leistungsfähigkeit von Technologien und die Datenvielfalt mit hoher Geschwindigkeit zu – diese Trends stellen somit die Krankenkassen vor eine große Herausforderung (Mainzer 2014, S. 29 ff.; Peters 2017, S. 24). Die Digitalisierung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zeichnet sich vor allem durch eine intelligente IT-Vernetzung aus, die eine digitale Kommunikation und Vernetzung ermöglicht. Dadurch sollen einerseits administrative Aufgaben vereinfacht werden, wie zum Beispiel das beschleunigte Bearbeiten von Bescheiden. Andererseits soll die Versorgung optimiert werden, indem die gesammelten Gesundheitsdaten zu Versorgungszwecken zielführend eingesetzt werden (Demmler 2017, o. S.). Aus Sicht der Krankenkassen steigen daher die Relevanz von interorganisationaler Zusammenarbeit (Peters 2017, S. 24) und die Notwendigkeit, ein Instrument zur Speicherung aller gesundheitsrelevanten Daten von Patienten zu etablieren. Mit der Verabschiedung des Gesetzes für sichere digitale Kommunikationen und Anwendungen im Gesundheitswesen (E-Health-Gesetz) im Dezember 2015 wurde ein wichtiger Meilenstein für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gelegt. Das Ziel des Gesetzes ist es, einen Fahrplan für die Einführung der digitalen Infrastruktur und die nutzbringenden Anwendungen auf der elektronischen Gesundheitskarte zu schaffen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für einen Fortschritt in der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind mit dem E-Health-Gesetz zwar gelegt (Elmer 2017b, S. 24), die bislang sehr schleppende Entwicklung zeigt jedoch, dass die Strukturen verändert werden müssen. Die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH konzentriert sich daher auf die Erneuerung der veralteten Infrastrukturen, die längst vom internationalen Markt überholt wurden (Elmer 2017b, S. 28). Es ist die Aufgabe der Regierung, einheitliche Lösungsansätze für eine Digitalisierung des Gesundheitswesens in Richtung patientengesteuerter Versorgung zu schaffen, da ansonsten die Gefahr besteht, dass sich weitere Insellösungen bilden. Dabei sollte mehr in innovative Ansätze investiert werden, wie beispielsweise in eine offene Plattform und eine digitale Patientenakte (Elmer 2017b, S. 25).

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Ärzte nehmen bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen ebenfalls eine Schlüsselrolle ein. Ihre Bereitschaft ist die Voraussetzung dafür, dass die Anwendungen erfolgreich funktionieren. Die Einstellung gegenüber der Digitalisierung ist innerhalb dieser Gruppe sehr ambivalent. Einerseits eröffnet sich eine große Chance durch die Verbesserung der Kommunikation mit anderen Leistungserbringern (57 %), da sich durch die schnelle Verfügbarkeit von Informationen enorme Einsparpotenziale bezüglich der Zeit ergeben. Weiterhin erachten 32,2 % der Ärzte die Kommunikation mit dem Patienten als eine Verbesserung im Rahmen der Digitalisierung. Sie erhoffen sich durch die Bereitstellung von Informationen, dass der Patient mehr Verantwortung für die eigene Gesundheitsversorgung übernimmt (Denneson et al. 2017, S. 3; Khan et al. 2012, S. 7; Obermann et al. 2017, S. 15). Anderseits wird eine Verbesserung der Versorgungsqualität und der Patientensicherheit kritisch gesehen. Bei einer ePA befürchten die Ärzte beispielsweise Inkonsistenzen bei der Dokumentation von Informationen. Wenn Patienten die Hoheit über die Daten besitzen, kann sich ein Arzt nicht auf die Informationen verlassen, da er keine Gewissheit über deren Vollständigkeit hat. Die Gefahr einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung entsteht. Zudem ist bislang die Haftungsfrage der Ärzte für fehlerhafte Informationen ungeklärt (Böckmann 2017, S. 187). Außerdem bewerten die Ärzte kritisch, ob es durch die Digitalisierung von Prozessen tatsächlich zu einer Verbesserung ihres Arbeitsalltags kommt. Aus der Implementierung von digitalen Anwendungen folgt ein hoher verwaltungstechnischer Aufwand, der die Ärzte viel Zeit und Geld kostet (Obermann et al. 2017, S. 16). Der Patient von heute wird in jüngster Literatur als E-Patient bezeichnet. Darunter wird ein sehr informierter Patient verstanden, der sich auf Plattformen mit anderen austauscht, aktiv an Entscheidungen teilnimmt und weitere Anwendungen zur Partizipation an der eigenen Gesundheitsversorgung erwartet (Schachinger 2014, S. 30). Patienten verfolgen das Ziel, eine verbesserte Aufklärung und Informationen zu erlangen, um dadurch ein gestärktes Selbstbewusstsein und eine erhöhte Entscheidungskompetenz zu erreichen (Ball und Lillis 2001, S. 1; Schachinger 2014, S. 37). Somit ist die Quelle von gesundheitsbezogenen Informationen nicht mehr alleine der Arzt, sondern zunehmend das Internet. Der Patient ist zu einem informierten, selbstbestimmten und gleichgestellten Partner der Gesundheitsversorgung geworden (Schachinger 2014, S. 12). Die digitale Vernetzung bietet eine neue Dimension in Bezug auf die Verfügbarkeit von Informationen und eröffnet Patienten dadurch die Möglichkeit, ihr Wissen unabhängig zu erweitern (De Rosis und Barsanti 2016, S. 1279). Um als aktiver Partner der Gesundheitsversorgung agieren zu können, wird eine innovative Plattform benötigt, durch welche die Patienten verlässliche Informationen erhalten können. Zentrale Forderungen der Patienten sind die Verbesserung der Rahmenbedingungen, der Ausbau der Infrastruktur auf technischer und gesetzlicher Ebene, Informations- und Wissenslücken zu schließen, Datensicherheit zu gewährleisten und Aufklärung zu fördern (Verbraucherzentrale Bundesverband 2016, o. S.). Patienten sind somit auch Impulsgeber für die Digitalisierung im Gesundheitswesen, weshalb schnellstmöglich an entsprechenden Lösungsansätzen für die Patientenbedürfnisse gearbeitet werden muss (Knöppler et al. 2016, S. 6).

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7.4 State of the Art der patientengesteuerten Gesundheitsversorgung Forschung zur patientengesteuerten Gesundheitsversorgung befindet sich derzeit in einem Frühstadium und wird seit 2009 bislang nur vereinzelt thematisiert. Im ursprünglichen Bild der Arzt-Patienten-Beziehung nahm der Patient vor allem eine passive Rolle ein. Mit der zunehmenden Digitalisierung hat sich seine Rolle jedoch zu einem autonomen und informierten Patienten gewandelt, womit die Strukturen des Gesundheitswesens zunehmend an den Präferenzen der Patienten angepasst werden müssen. Dieses Feld der Patientenorientierung bindet den Patienten aktiv in Entscheidungsprozesse ein und stellt diese Gruppe in den Mittelpunkt der Versorgung (Ozegowski und Amelung 2015, S. 4). Aus der Entwicklung zur Patientenorientierung entstand das neue Forschungsgebiet einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung. Dabei werden die Patientendaten nicht nur einrichtungsübergreifend, sondern selbst durch den Zugang der Patienten auch patientengesteuert erfasst (Elmer 2017a, S. 13). Weiterhin werden die Patienten konsequent zur Selbstbestimmung befähigt (Elmer und Noelle 2017, S. 123). Die Publikation von Swan (2009) zählt zur Grundlagenliteratur in diesem Themengebiet. Swan beschäftigt sich mit einer neuen Art von patientengesteuerten Gesundheitsdienstleistungen, die das traditionelle Versorgungsmodell ergänzt und das Patienten-Empowerment fördert. Swan versteht unter einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung ein erhöhtes Maß an Informationsfluss, Transparenz, Kundenorientierung und Kollaboration sowie eine gestärkte Position des Patienten, der mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit übernimmt und dadurch die Qualität seiner Gesundheitsversorgung beeinflussen kann (Swan 2009, S. 492). Diese Kernelemente führen zu neuen Gesundheitsversorgungsmodellen, die im Rahmen von sozialen Netzwerken, der Quantified-Self-Bewegung und der personalisierten Medizin realisiert werden (Swan 2009, S. 495). Es gibt verschiedene Instrumente, wie Patienten im Rahmen einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung an der eigenen Versorgung mitwirken können. In Anlehnung an die Studie von Knöppler et al. (2016) kann zwischen verschiedenen Anwendungstypen von Gesundheitsanwendungen differenziert werden. Durch die Möglichkeit, sich zu informieren, etwas zu dokumentieren und zu organisieren sowie Daten selbstständig zu analysieren und Unterstützung zu erhalten, kann das Ziel einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung erreicht werden. Durch Informationen soll die Wissensgrundlage des Patienten erweitert werden, um zukünftig an Entscheidungen zu partizipieren oder Entscheidungen autonomer treffen zu können (Loh et al. 2007, S. 1483). Neben den professionellen Akteuren, wie dem Arzt, soll auch der Patient die Möglichkeit erhalten, gesundheits- und krankheitsbezogene Daten zu dokumentieren und zu verwalten. Die erhobenen Daten soll er im Anschluss durch entsprechende Anwendungen auch für Analysezwecke verwenden können, um Einschätzungen, Bewertungen und Diagnosen zu erhalten, welche die Patienten als Entscheidungsgrundlage nutzen können. Weiterhin sollen die Instrumente der patientengesteuerten Gesundheitsversorgung den Patienten im Rahmen von organisatorischen Angelegenheiten, wie beispielsweise der Onlineterminvereinbarung unterstützen

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(Knöppler et al. 2016, S. 14 f.). Auch die emotionale und medizinische Unterstützung wird einem Anwendungstyp zugeordnet. Patienten erhalten zum Beispiel auf Austauschplattformen die Möglichkeit, mit anderen Personen in Kontakt zu treten, die in einer ähnlichen Lebenslage sind, und erhalten dort Hilfestellungen und Zuspruch. Weiterhin stehen ihnen spezifische Anwendungen zur Verfügung, die helfen körperliche Fähigkeiten zu verbessern oder eine Verhaltensänderung zu bewirken (Knöppler et al. 2016, S. 14; Swan 2009, S. 495 f.). Durch die Digitalisierung ergeben sich verschiedene Chancen und Herausforderungen für eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung. Ein zentraler positiver Effekt besteht darin, dass die Förderung des Patienten-Empowerment unterstützt wird (Dörries et al. 2017, S. 692). Die Verfügbarkeit von medizinischen und patientenbezogenen Informationen durch Digital-Health-Anwendungen eröffnet dem Patienten die Möglichkeit, selbstständig personenbezogene Daten einzusehen und dadurch eine bessere Kontrolle über die Gesundheitsversorgung zu erlangen. Auf Basis dieser Informationen ergibt sich für den Patienten außerdem ein Lerneffekt, da ein Verständnis für Gesundheitsprobleme entwickelt werden kann und Wissen über Erkrankungen und Therapien aufgebaut wird. Damit können Patienten aktiver an der Gesundheitsversorgung teilnehmen und an Entscheidungen mitwirken (Caldwell et al. 2017, S. 66; Woods et al. 2013, S. 7). Neben der erhöhten Transparenz kann der Patient durch die Inanspruchnahme von technologischen Anwendungen zusätzliche Informationen für die Versorgung bereitstellen, wodurch die Datengrundlage verbessert wird (Denneson et al. 2017, S. 1). Dies kann unterstützend wirken, da komplementäre Daten, insbesondere sozioökonomische und verhaltensspezifische Informationen, in den Versorgungsprozess einfließen, die normalerweise verborgen bleiben (Kukafka und Yasnoff 2007, S. 367). Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass die Digitalisierung potenziell zu einem Anstieg der Patientensicherheit führen kann. Dadurch, dass die Patientendaten umfassend in strukturierter Weise, zur richtigen Zeit und am richtigen Ort den Leistungserbringern vorliegen, können Behandlungsfehler vermieden werden. Vor allem in Notfallsituationen, in denen der Patient beispielsweise nicht ansprechbar ist, können essenzielle Informationen aus einem verfügbaren Notfalldatensatz gewonnen werden. Zudem gibt es eine positive Korrelation zwischen der elektronischen Erfassung der Medikation und der Patientenadhärenz (Caldwell et al. 2017, S. 66). Eine Qualitätsverbesserung wird durch die Verfügbarkeit von Daten erreicht, da hierdurch eine bessere Entscheidungsgrundlage ermöglicht wird, wodurch präzisere Entscheidungen über die Versorgung schneller und effektiver getroffen werden (Schneider 2016, S. 30). Eine weitere Chance stellen Kostenreduktionen dar, die sich über Effizienzgewinne sowohl für Patienten als auch für Staat und Kostenträger ergeben. Einerseits wird eine Kostenreduktion dadurch begünstigt, dass unnötige Doppeluntersuchungen vermieden werden und eine bessere Prävention mithilfe von Ferndiagnosen und optimierter Informationsverarbeitung realisiert wird (Vukovic et al. 2018, S. 90). Andererseits zeigen sich Einsparpotenziale bei Wartezeiten durch die Bereitstellung elektronischer Rezepte und die Wahrnehmung von Konsultationsterminen via Telemedizin (Gigerenzer et al. 2016, S. 21). Weitere Effizienzgewinne ergeben sich für die Forschung, da durch

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den Informationsmehrwert aus den Patientendaten die Wirksamkeit von Therapien und Nebenwirkungen besser untersucht werden können und zusätzliche Erkenntnisse für die Versorgungsforschung gewonnen werden (Gigerenzer et al. 2016, S. 24). Nachdem die grundlegenden positiven Aspekte der Digitalisierung für eine patientengesteuerte Gesundheitsversorgung dargelegt wurden, werden nun die Herausforderungen und negativen Implikationen aufgezeigt. Im Fokus der Diskussion rund um die Digitalisierung des Gesundheitswesens steht der Datenschutz. Bei der elektronischen Erfassung von hochsensiblen Daten befürchten die Betroffenen eine Zweckentfremdung durch unbefugte Dritte, die sich in der Angst vor einer potenziellen Diskriminierung als auch der Gefahr eines gläsernen Patienten konkretisieren (Amelung et al. 2017, S. 5). Vor allem auf Krankenkassenseite befürchtet der Patient, dass die erhobenen Daten zu risikoadjustierten Krankenkassenbeiträgen führen (Pfeiffer 2017, S. 699). Weiterhin besteht die Möglichkeit einer Ungleichbehandlung verschiedener Patientengruppen, da technikaffine Personen früher von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren könnten (Dörries et al. 2017, S. 696). Ein weiterer problembehafteter Aspekt ist, dass derzeit in der Öffentlichkeit die negative Wahrnehmung in Bezug auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen dominiert. Es herrscht eine geringe Akzeptanz gegenüber technologischen Anwendungen. Dies erschwert das Innovieren in der patientengesteuerten Gesundheitsversorgung (Bittner 2017, o. S.). Problematisch ist zudem, dass Anfangsinvestitionen für digitale Gesundheitsanwendungen hoch ausfallen (Boonstra und Broekhuis 2010, S. 4). Obwohl die daraus resultierenden Effizienzgewinne wahrscheinlich höher als die getätigten Investitionskosten sind, führt dies zu einer ökonomischen Herausforderung (Amelung et al. 2017, S. 5). Aufseiten der Patienten besteht allgemein eine geringere Zahlungsbereitschaft (Baierlein 2017, S. 6), da normalerweise die Krankenkassen die Kosten tragen, sodass die Investitionskosten perspektivisch bei den Krankenkassen, Leistungserbringern und Softwareanbietern anfallen (Schneider 2016, S. 41). Die Erstattbarkeit von solchen Anwendungen ist hingegen unzureichend geklärt, wodurch aus Angst vor einer ausbleibenden finanziellen Amortisation eine geringe Investitionsbereitschaft bei diesen Akteuren besteht (Boonstra und Broekhuis 2010, S. 4). Ein weiteres Augenmerk sollte auf die Interoperabilitätsproblematik gelegt werden, die zum Hindernis für digitale Gesundheitsanwendungen wird. Es haben sich bis dato zahlreiche Insellösungen gebildet, deren Kompatibilität häufig nicht gegeben ist (Leppert et al. 2017, o. S.). Hier ist auch die Telematikinfrastruktur zu nennen, deren Ausbau sich seit Jahren verzögert. Solange nicht sämtliche Akteure daran angeschlossen sind, gestaltet sich die Implementierung sektorenübergreifender Anwendungen problematisch (Nohl-Deryk et al. 2018, o. S.).

7.5 Elektronische Patientenakte zur Unterstützung einer patientengesteuerten Gesundheitsversorgung Die elektronische Patientenakte (ePA) stellt ein geeignetes Instrument der patientengesteuerten Gesundheitsversorgung dar, da sie die dargestellten Anwendungstypen (Information, Dokumentation, Organisation, Analyse und Unterstützung) weitgehend

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erfasst. Für elektronische Akten in der Gesundheitsversorgung gibt es zahlreiche Bezeichnungen, die teilweise synonym und teilweise divergent verwendet werden. Im deutschsprachigen Raum existieren die Begriffe elektronische Fallakte, ePA und elektronische Gesundheitsakte. Bei der Fallakte werden lediglich alle Informationen zu einem Behandlungsfall gespeichert und sind innerhalb einer behandelnden Einrichtung verfügbar. Die ePA wird je nach Ausgestaltung einrichtungsintern bzw. auch -übergreifend durch den Arzt bzw. Patienten geführt und enthält alle patientenbezogenen Daten. Die elektronische Gesundheitsakte liegt in der Hoheit des Patienten. Dieser kann sämtliche medizinische und nichtmedizinische Daten speichern und verwalten (Hochschule Flensburg 2014, o. S.). Insgesamt liegt also eine gewisse Heterogenität bezüglich der Definitionen der ePA vor. Im vorliegenden Beitrag wird darunter eine digitale Anwendung verstanden, die es ermöglicht, gesundheitsbezogene Informationen zu sammeln, zu organisieren und mit anderen Personen zu teilen (beispielsweise Informationen über Diagnosen, Behandlungen und Überweisungen). Diese Informationen können von einem Gesundheitsdienstleister (Arzt, Physiotherapeut etc.) oder von der Person selbst gewonnen werden. Weiterhin werden zusätzliche Funktionen wie die Onlineterminvereinbarung mit einem Arzt, elektronische Rezeptbestellungen, Erinnerungsfunktionen an Medikamente oder Hinweise und Informationen über die Gesundheit und Krankheit im Rahmen dieses Beitrages unter dem Begriff der ePA subsumiert. Mit der ePA können die Patienten ihre Daten kontrollieren. Sie entscheiden darüber, welche Leistungserbringer Zugriff auf die eigenen Daten erhalten. Unberechtigte Personen haben somit keine Einsicht in die Akte (Determann et al. 2017, S. 530). Die Hoheit der Daten liegt aufseiten des Patienten. Sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene haben sich unterschiedliche ePA etabliert, die sich jedoch hinsichtlich der Ausgestaltung unterscheiden. Es soll daher ein Überblick über die möglichen Funktionen der ePA dargestellt werden. Dazu wurde eine Unterteilung in verschiedene Ober- und Unterkategorien vorgenommen. Zu den Oberkategorien zählen die Funktion, der Patientennutzen, die Authentifizierungsmöglichkeiten und das Medium, auf dem die ePA zur Verfügung gestellt wird. Unter die Oberkategorie „Funktion“ einer ePA können verschiedene Unterkategorien subsumiert werden. Die Dokumentationsfunktion umfasst Basisinformationen, wie zum Beispiel soziodemografische Angaben und medizinische Dokumente sowie Diagnosen. Es können allerdings auch patientenindividuelle Informationen zum Beispiel Patientenverfügungen und Daten aus Wearables erfasst werden (Amelung et al. 2017, S. 7; Haas 2017, S. 164; Jha et al. 2009, S. 1632). Es besteht weiterhin die Möglichkeit, die ePA als sichere Kommunikationsplattform zu nutzen, um mit den verschiedenen an der Behandlung beteiligten Akteuren in Kontakt zu treten. Beispielsweise kann der Leistungserbringer Arztbriefe direkt in die Akte laden. Außerdem besitzt der Patient die Möglichkeit, bei einer Apotheke online Rezepte einzureichen, wodurch räumliche Distanzen überwunden werden können (Ströher und Honekamp 2011, S. 343). Patienten haben die Möglichkeit, durch die ePA organisatorische Aufgaben (z. B. Terminvereinbarung) zu erledigen und Selbstmanagementfunktionen wahrzunehmen. Beispiele dafür stellen Erinnerungseinstellungen für Termine und Medikamenteneinnahme oder

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­ agebücher dar (Haas 2017, S. 164). Vor allem haben die Patienten EinsichtsmöglichT keiten in die über sie erhobenen Daten, wodurch die Transparenz der Gesundheitsversorgung erhöht wird (Nørgaard 2013, S. 1121). Der „Patientennutzen“ bei der Verwendung einer ePA ist vielfältig und eignet sich daher als eine weitere Oberkategorie. Die ePA trägt dazu bei, dass das Patienten-Empowerment gestärkt wird. Der Patient wird beim Selbstmanagement unterstützt und kann an seiner Gesundheitsversorgung partizipieren (Nørgaard 2013, S. 1121). Des Weiteren ergeben sich für den Patienten umfassende Kontrollmöglichkeiten. Er kann individuell Zugriffsrechte vergeben und selber bestimmen, welcher Leistungserbringer Zugriff auf die Daten hat. Dabei können Anbieter zwei unterschiedliche Formen verankern. Entweder wird eine Opt-out-Strategie verfolgt (dabei muss der Patient aktiv dem Zugriff und der Nutzung widersprechen) oder es wird eine Opt-in-Strategie verwendet (dabei muss der Patient den Zugriff aktiv erteilen). Darüber hinaus werden die Zugriffe im Rahmen der Protokollierungsfunktion aufgezeichnet, sodass der Patient nachvollziehen kann, wer seine Daten einsieht (Kukafka et al. 2007, S. 401). Ein weiterer Nutzen resultiert aus der Weitergabe der erhobenen Daten in Form von Sekundärdaten (pseudonymisierte Daten) an die Forschung, da hieraus neue Erkenntnisse über Krankheitsbilder und die Wirksamkeit von Therapien abgeleitet werden können (Amelung et al. 2017, S. 41; Europäische Kommission 2014a, S. 38). Schließlich kann die ePA den Patienten entlasten, da Informationen in Echtzeit verfügbar sind und räumliche Distanzen überwunden werden können (Herbek et al. 2012, S. 155). Zur „Authentifizierung“ für den Zugriff auf die Akte können unterschiedliche Verfahren angewendet werden, die eine weitere Oberkategorie darstellen. Ein geeignetes Medium ist die Versichertenkarte, die mithilfe eines Kartenlesegerätes eingesetzt werden kann (Suelmann 2013, S. 9). Denkbar ist auch, den Patienten den Zugriff durch ein einfaches Log-in-System zu ermöglichen. Dazu benötigen die Patienten eine Zugangskennung, zum Beispiel eine ID-Nummer und ein Passwort (Amelung et al. 2017, S. 42; Europäische Kommission 2014a, S. 18). Die zunehmende Nutzung mobiler Endgeräte eröffnet auch die Möglichkeit für ein Authentifizierungsverfahren, welches durch eine TAN-Nummer vergleichbar mit dem Onlinebanking umgesetzt werden kann. Außerdem wären neuartige biometrische Mechanismen beispielsweise mittels Fingerabdruck denkbar (Win et al. 2006, S. 312). Die ePA kann über verschiedene Medien zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Oberkategorie stellt somit das „Medium“ dar. Die Akte kann über eine Onlineplattform zugänglich sein oder in Form einer Smartphone-App zur Verfügung gestellt werden. Bei der ersten Variante ist die ePA Bestandteil einer großen innovativen Plattform mit weiteren Funktionen, beispielsweise einem Ärzteportal. Die meisten Anbieter ermöglichen den Patienten jedoch multiple Zugriffsmöglichkeiten, sodass die ePA sowohl als Onlineplattform als auch als Smartphone-App verfügbar ist (Amelung et al. 2017, S. 37, 53). Derzeit gelingt Deutschland die Umsetzung einer ePA im europäischen Vergleich nur schleppend. In einer Studie der Stiftung Münch wurde eine European Scorecard entwickelt, anhand derer der aktuelle Stand und die Umsetzung einer ePA im europäischen

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Vergleich bewertet wurde. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Deutschland aktuell im Mittelfeld befindet. An der Spitze sind vor allem die skandinavischen Länder (Amelung et al. 2017, S. 98). Aufgrund des gegenwärtigen Rückstands bei der Implementierung einer ePA sind einzelne Akteure in Deutschland aktiv geworden und haben ihre eigenen Lösungen etabliert (Krüger-Brand und Osterloh 2017, S. 1964). Ein Beispiel für eine solche Initiative sind die Krankenkassen AOK und die Techniker (TK; Krüger-Brand und Osterloh 2017, S. 1964). Das Pilotprojekt AOK-Gesundheitsnetzwerk zeigt, dass die AOK die Entwicklung eines sektorenübergreifenden Austausches vorantreibt. Das Projekt zielt darauf ab, eine digitale Gesundheitsplattform für alle 25 Mio. Versicherten zu schaffen. Die Plattform soll den Austausch zwischen Leistungserbringern für eine optimale Behandlung unterstützen und somit zu einer Erhöhung der Patientensicherheit führen. Ein zentraler Bestandteil des Netzwerkes ist eine digitale Akte. Dem medizinischen Personal werden sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt, sodass die Kommunikation und Koordination zwischen den Einrichtungen erleichtert werden und damit positive Synergieeffekte bei der Behandlung entstehen. Für den Patienten wird ins Netzwerk ein digitales Portal integriert, sodass eine bessere Einbindung des Patienten in den Behandlungsprozess sichergestellt wird. Das AOK-Gesundheitsnetzwerk umfasst vielfältige Funktionen: elektronischer Impfpass, elektronischer Medikationsplan, elektronische Verfügungen, elektronische Entlassungsbriefe, medizinische Tagebücher, die Onlineterminverwaltung und die selbstständige Datenerhebung mithilfe von Wearables (Blutdruck, Puls; AOK-Bundesverband 2018, o. S.). Die Speicherung der Daten erfolgt dezentral. Die einzelnen Leistungserbringer sind somit immer noch Eigentümer der Daten und können diese dem Netzwerk zur Verfügung stellen. Der Patient besitzt letztendlich aber die Datenhoheit, das heißt, er entscheidet, wem er seine Daten freigibt. Dies wurde durch die Implementierung eines Zugriffsberechtigungstools gewährleistet. Die AOK selbst hat keinen Zugriff auf die Behandlungsdaten, sondern besitzt nur die Versichertendaten, die auch zuvor verfügbar waren. Der Patient kann via Webbrowser, Smartphone oder Tablet auf die Plattform zugreifen (AOK-Bundesverband 2018, o. S.). Das Projekt der AOK steht in keiner Konkurrenz zur Telematikinfrastruktur, sondern kann jederzeit an zukünftige Lösungen angebunden werden. Das Netzwerk wurde nach der IHE-Methodik (Integrating the Healthcare Enterprise) entworfen und ist daher herstellerneutral. Ebenso können zukünftig auch andere GKV-Versicherte dem Netzwerk beitreten (AOK-Bundesverband 2018, o. S.). Eine weitere Initiative wurde durch die TK in Kooperation mit IBM Deutschland gegründet, die ihren zehn Millionen Versicherten ebenfalls eine ePA zur Verfügung stellt. Mit der Implementierung dieser patientengesteuerten Datenplattform soll eine Verbesserung der Versorgungsqualität und Patientensicherheit erreicht werden. Die TK wird mit mehreren Klinikketten zusammenarbeiten. Im Gegensatz zum AOK-Gesundheitsnetzwerk werden die Daten zentral beim IT-Dienstleister gespeichert. In einem ersten Schritt sollen die bereits vorhandenen Versicherungsdaten von Patienten, wie beispielsweise Daten über stationäre Aufenthalte, Verordnungsdaten und ambulante Diagnosen, überführt werden. In einem weiteren Schritt sollen dann auch Patienten selbst die

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Möglichkeit haben, eigenständig Daten in die Akte hochzuladen. Weitere Anwendungen, wie zum Beispiel der Datenaustausch zwischen Leistungserbringern, sind bislang nicht vorgesehen (Krüger-Brand und Osterloh 2017, S. 1965).

7.6 Empirische Überprüfung von Patientenpräferenzen zur elektronischen Patientenakte Die Conjoint-Analyse ist eine statistische Methode, welche untersucht, wie Personen verschiedene Eigenschaften eines Produkts oder einer Dienstleistung gewichten und beurteilen. Der Präferenzmessung liegt dabei die Annahme zugrunde, dass jedes Produkt oder jede Dienstleistung durch eine oder mehrere Eigenschaften beschrieben werden kann (Mühlbacher et al. 2015, S. 616). Zur Messung der Patientenpräferenzen hinsichtlich der ePA wurde die Choice-based-Conjoint-Analyse (CBC) eingesetzt. Die CBC beruht auf der Discrete-Choice-Analyse von McFadden und wurde durch Louviere und Woodworth (1983) sowie McFadden (1974) in das Marketing eingeführt. Der Proband bekommt während der Befragungssituation eine Reihe von Auswahlalternativen (Choice Sets) vorgelegt, die aus unterschiedlichen hypothetischen Produkten bestehen. Bei der Methode wird zum einem die Annahme getroffen, dass die Konsumenten aus den einzelnen Eigenschaften eines Produktes einen Nutzen ziehen und nicht aus dem Produkt per se (Lancaster 1971, o. S.). Zum anderen stützt sich das Modell auf die Annahme, dass Konsumenten die verfügbaren Produktalternativen vergleichen und sich für die Alternative entscheiden, die den höchsten Nutzen hat (Telser 2002, S. 36). Die CBC ist heutzutage das populärste und am häufigsten verwendete Verfahren (Sawtooth Software Inc. 2013, S. 2). Ein wichtiger Aspekt ist der große Realitätsbezug bei der CBC, welcher einerseits durch die Abfrage von Wahlalternativen und andererseits durch die Möglichkeit einer None-Option im Vergleich zu Ranking/Rating-Verfahren gesichert wird (Eggers und Sattler 2011, S. 41; Elrod et al. 1992, S. 368). Weiterhin ist die CBC den anderen Verfahren in Bezug auf die Validität überlegen. Dabei erreicht das Verfahren vor allem hinsichtlich der Schätzung der Werte mittels Hierarchical Bayes überlegene Ergebnisse (Heidbrink 2006, S. 97). Im Bereich der Gesundheitsökonomik werden wahlbasierte Conjoint-Analysen vielfältig zur Bewertung von Gesundheitszuständen, Versorgungsprogrammen und Gesundheitstechnologien eingesetzt (Mühlbacher et al. 2013, S. 160). Ein wichtiger Aspekt ist, dass das Discrete-Choice-Experiment (DCE) dabei oftmals synonym mit der CBC verstanden wird, wenn die Untersuchung mehrere Merkmale und Ausprägungen betrachtet. In diesem Fall wird das DCE auf ein Conjoint-Design angewendet (Cohen 1997, S. 12 ff.). Wird hingegen nur ein einziges Merkmal in die Untersuchung einbezogen, muss das DCE als Maximum Difference Scaling bezeichnet werden (Chrzan 2014, o. S.). Während sich im Marketingbereich der Begriff CBC durchgesetzt hat, wird in der Gesundheitsökonomie hauptsächlich der Begriff DCE verwendet. Im vorliegenden Beitrag werden die Begriffe synonym verstanden, da die empirische Untersuchung mehrere Merkmale und Ausprägungen umfasst. Die Untersuchung wurde

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mittels der Software Sawtooth durchgeführt und mit dem Hierarchical-Bayes-Verfahren ausgewertet.

7.6.1 Relevante Merkmale und Ausprägungen einer elektronischen Patientenakte Für die empirische Untersuchung müssen zunächst die relevanten Merkmale und Ausprägungen für die ePA definiert werden. Dafür können direkte, projektive und vergleichende Verfahren eingesetzt werden. Im Rahmen des vorliegenden Beitrages wurde das direkte Verfahren genutzt, bei dem die Merkmale aus der aktuellen wissenschaftlichen Literatur abgeleitet werden (Weiber und Mühlhaus 2009, S. 49). Aus den theoretischen Vorüberlegungen konnte vorab eine Vielzahl an relevanten Merkmalen identifiziert werden. Diese Merkmale waren jedoch sehr umfangreich und hätten zum Teil zu Verständnisschwierigkeiten bei Probanden geführt. Daher wurden in einem zweiten Schritt die identifizierten Merkmale unter Oberkategorien subsumiert und mithilfe einer Vergleichsstudie auf insgesamt sechs Merkmale reduziert. Die ausgewählten Merkmale und Ausprägungen können der Abb. 7.1 entnommen werden. Als Referenzliteratur wurde eine niederländische Studie aus dem Jahr 2017 gewählt, die Patienten zu präferierten Eigenschaften einer ePA befragte. Die ersten vier Merkmale „Anbieter der Datenspeicherung“, „Vernetzungsgrad“, „Datenverwendung durch Dritte“ und „Option, eigene Informationen in die Akte einzustellen“, wurden aus der niederländischen Studie übernommen (vgl. Determann et al. 2017, o. S.), wobei das Merkmal „Anbieter der Datenspeicherung“ durch die Ausprägung „Krankenkassen“ erweitert wurde. Die Pilotprojekte der AOK und TK zeigen, dass Krankenkassen durchaus als Anbieter einer ePA in Betracht gezogen werden können. Außerdem übernimmt die Krankenkasse bislang als Versichertensteuerer auch die Speicherung von Abrechnungsdaten (Krüger-Brand und Osterloh 2017, S. 1965). Die Ausprägungen des Merkmals „Vernetzungsgrad“ wurden außerdem in ihrer Beschreibung angepasst, sodass sie für den Probanden verständlicher sind. Die Merkmale „Authentifizierung“ und „Medium“ wurden zusätzlich aufgenommen, da sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene unterschiedliche Möglichkeiten existieren, die auch einen Einfluss auf die Präferenz der Patienten haben können. Beispielsweise bietet Estland den Nutzern eine Authentifizierung über ein mobiles Verfahren sowie eine ID-Karte an (E-Estonia 2018, o. S.). Weiterhin zeigt das Pilotprojekt der AOK, dass die Patienten sowohl über eine App als auch über ein Onlineportal auf die Akte zugreifen können. In den Referenzstudien wurde der „Preis“ als weiteres Merkmal berücksichtigt, worauf allerdings im Rahmen dieser Untersuchung verzichtet wurde. Eine Vielzahl der Pilotprojekte in Deutschland steht dem Patienten kostenlos zur Verfügung, weiterhin ist im E-Health-Gesetz keine direkte Kostenübernahme durch den Patienten vorgesehen.

Abb. 7.1   Morphologischer Kasten. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

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7.6.2 Ergebnisse Die Untersuchung wurde innerhalb eines vierwöchigen Zeitraums über die Kanäle der sozialen Netzwerke verbreitet. Insgesamt konnten dabei 214 Patienten erreicht werden. Die Analyse ergab, dass die Patienten den Merkmalen Anbieter der Datenspeicherung und Vernetzungsgrad die höchste Wichtigkeit zuordnen. Bei der Implementierung einer elektronischen Patientenakte sollten die Entscheidungsträger daher insbesondere darauf achten, dass ein Leistungserbringer oder eine medizinische Einrichtung die Datenspeicherung übernimmt. Die Patienten befürchten einen Missbrauch ihrer Daten, sodass vor allem der Anbieter und die damit verbundene Vertrauensbasis einen entscheidenden Erfolgsfaktor für die Implementierung einer elektronischen Patientenakte darstellen. Mit der Wahl des richtigen Anbieters kann folglich die Nutzungswahrscheinlichkeit einer ePA maximiert werden. Weiterhin bevorzugen Patienten einen hohen Vernetzungsgrad bei der ePA. Durch die Bereitstellung von Informationen für sämtliche an der Behandlung beteiligten Akteure kann in Zukunft eine sektorenübergreifende Versorgung sichergestellt werden. Eine solche Vernetzung könnte positiv auf die Behandlungsqualität wirken und zudem eine Reduzierung von Behandlungsfehlern herbeiführen. Zudem beeinflusst die Authentifizierungsmöglichkeit bei der elektronischen Patientenakte, ob die Patienten eine entsprechende Akte verwenden. Hierbei wünschen sich die Patienten mehrheitlich die Versichertenkarte als Identitätsnachweis. Bereits das E-Health-Gesetz sieht vor, zukünftige Anwendungen, wie beispielsweise den Notfalldatensatz, auf der elektronischen Gesundheitskarte zu speichern. Für die Authentifizierung der ePA stellt die elektronische Gesundheitskarte somit ein geeignetes Instrument dar. Ob sich Patienten für eine ePA entscheiden, wird auch dadurch beeinflusst, ob die ePA eine Funktion besitzt, eigene Dokumente in die Akte einzustellen. Die Analyse hat verdeutlicht, dass diese Funktion von den potenziellen Nutzern erwünscht ist. Indes ist zu konstatieren, dass Patienten diese Option derzeit nicht als ausschlaggebend für die Nutzung einer ePA einstufen. In Anbetracht des Trends zu einer zunehmenden patientengesteuerten Gesundheitsversorgung sollten Entscheidungsträger jedoch entsprechende partizipative Elemente wie die Einstelloption einbauen, um den nachhaltigen Erfolg der ePA zu sichern. Darüber hinaus besteht durch die patientengesteuerte Bereitstellung ergänzender Informationen ein großes Potenzial, durch die zusätzlichen Erkenntnisse über Erkrankungen oder Medikamentenwirkung auch neue Therapieansätze zu generieren. Damit kann insgesamt die Versorgungsqualität gesteigert werden. Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist, dass die Patienten eine selbstbestimmte Weitergabe ihrer Daten an Dritte wünschen. Daraus resultieren analog zum vorherigen Punkt vor allem Potenziale für die Pharmaindustrie und die Krankenkassen, da durch die erhobenen Daten zusätzliche Informationen für die Versorgungsforschung gewonnen werden können. Ebenso impliziert die Analyse, dass Patienten eine Onlineplattform als Medium für die Verwendung einer ePA präferieren. Aufgrund der Zunahme an mobilen Endgeräten ist eine multiple Auswahl an Medien für den Zugriff auf die ePA zu empfehlen.

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Letztendlich resultiert aus dem vorliegenden Beitrag, dass insbesondere die anhaltende und überwiegend einseitig geführte Datenschutzdebatte ein Hindernis für die Einführung und Akzeptanz von gesundheitsbezogenen Technologien darstellt. Daher sollten umfassende Informationskampagnen etabliert werden, welche die Patienten über die bestehenden Vorteile dieser Technologien in Kenntnis setzen. Statt weiterhin eindimensional über die Entwicklung der Telematikinfrastruktur zu diskutieren, sollte von politischer Seite die Einführung von innovativen Gesundheitstechnologien gefördert werden. Die Arbeit hat verdeutlicht, dass sowohl im Ausland als auch im Inland bereits erfolgreiche Ansätze hinsichtlich einer ePA gegeben sind. Entscheidungsträger können somit auf die bestehende Expertise zurückgreifen.

7.7 Schlussbetrachtung Obgleich die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens bisher auf einem niedrigen Niveau stattfindet, kann festgestellt werden, dass die Digitalisierung schrittweise Einzug in das deutsche Gesundheitssystem findet. Diese Tendenz bietet wichtige Chancen für die Erreichung neuer Qualitäts- und Effizienzziele und damit die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Es wurde ersichtlich, dass die patientengesteuerte Gesundheitsversorgung, und damit die aktive Berücksichtigung von Patientenwünschen hinsichtlich digitaler Gesundheitstechnologien, bislang unzureichend stattfindet. Für eine erfolgreiche Implementierung von innovativen Instrumenten im Gesundheitswesen ist es unerlässlich, dass die Entscheidungsträger die Präferenzen von Patienten identifizieren. Nur so können entsprechende Maßnahmen und Angebote einen wirklichen Nutzen für die Patienten entfalten. Im Rahmen des Beitrages wurde untersucht, welche Eigenschaften der elektronischen Patientenakte dem Patienten den höchsten Nutzen bringen. Um einen Beitrag zur Überprüfung der bisherigen, literaturbasierten Erkenntnisse zu leisten, wurde eine Choiced-based-Conjoint-Analyse verwendet. Sie stellt für die Fragestellung die geeignete Methode dar, da sie realitätsnahe Entscheidungssituationen abbilden kann und konkrete Erkenntnisse über die Gestaltung, Evaluation, die Prognose der Nachfrage und die Akzeptanz von Gesundheitsprodukten oder Dienstleistungen gewonnen werden können. Die Umsetzung der Patientenpräferenzen bei der Realisierung einer elektronischen Patientenakte ist von enormer Bedeutung, da die Nutzung auf freiwilliger Basis beruhen wird. Durch die präferierte Gestaltung der elektronischen Patientenakte mit dem Leistungserbringer als Anbieter der Datenspeicherung und der Umsetzung eines hohen Vernetzungsgrades können die Nutzungswahrscheinlichkeit und die damit erreichbaren Potenziale erhöht werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sowohl die Literatur als auch der vorliegende empirische Beitrag die Vorteile einer elektronischen Patientenakte aufzeigen. Es konnten spezifische Handlungsempfehlungen für die Ausgestaltung einer elektronischen Patientenakte gemäß der Patientenpräferenzen abgeleitet werden. Aktuell testen die

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Krankenkassen AOK und TK ein umfassendes System der elektronischen Patientenakte, welches – bei Erfolg – durchaus auf andere Krankenkassen übertragbar ist. Nun bleibt die Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, die erfolgreiche Einführung der elektronischen Patientenakte zu fördern. Dabei sollten Entscheidungsträger die Anwendungsmöglichkeiten der elektronischen Patientenakte im Rahmen des E-Health-Gesetzes konkretisieren, um eine effiziente Implementierung zu gewährleisten.

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Dr. Matthias J. Kaiser  ist seit November 2017 Geschäftsführer für die neu zu errichtende Fakultät 7: Food, Nutrition and Health am Standort Kulmbach (Campus Kulmbach der Universität Bayreuth). Seit Dezember 2014 war er zunächst als akademischer Rat am Lehrstuhl für Innovations- und Dialogmarketing der Universität Bayreuth tätig und beschäftigt sich seitdem im Rahmen seiner Habilitation mit innovativen Ansätzen und erfolgsbeitragenden Faktoren im Kontext des Pharma-Krankenkassen-Dialogs. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich insbesondere auf Dialogtreiber im Market Access des Gesundheitswesens. Zuvor war er dreieinhalb Jahre als Research-Manager bei einer international tätigen Managementberatung für Marktforschungs- und Beratungsprojekte im Bereich Marketing & Vertrieb im Kompetenzzentrum Healthcare/Pharma mitverantwortlich. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Brandenburgischen TU Cottbus und promovierte im Anschluss in den Bereichen Zukunftsforschung und Neue Medien. Jennifer Fränken  ist als Referentin für IT-Integration bei der Sana Kliniken AG tätig. In ihrer Rolle beschäftigt sie sich mit der Bewertung von IT-Aspekten bei Akquisitionsverfahren und begleitet die strukturierte und zielgerichtete IT-Integration neuer Gesellschaften. Während des Masterstudiums in Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth befasste sie sich vertiefend mit den Themen des Market Access, Key-Account Managements und arbeitete erfolgreich in der Forschungsgruppe rund um die Habilitation von Herrn Dr. Kaiser mit. Durch Praktika in den Bereichen Marketing und Gesundheitsökonomie konnte sie ihr wissenschaftliches Arbeiten mit praktischen Erfahrungen erweitern.

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Medizinischer Unterversorgung im Vogtland mittels Telemedizin aktiv begegnen Linda Weichenhain, Daniel Schiffer, Maximilian T. Schwiercz und Anke Häber

Inhaltsverzeichnis 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 8.2 Beschreibung des Projektes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 8.3 Etablierung der Servicezentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 8.4 Delegation von Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 8.5 Onlineterminmanagementsystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 8.6 Einbindung des häuslichen Umfelds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8.7 Hausarzt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 8.8 Videosprechstunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 8.9 Patientenzentrierte Akte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 8.10 Graphical User Interface (GUI). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 8.11 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

L. Weichenhain · D. Schiffer · M. T. Schwiercz · A. Häber (*)  Fakultät Physikalische Technik/Informatik, Westsächsische Hochschule Zwickau, Zwickau, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Weichenhain E-Mail: [email protected] D. Schiffer E-Mail: [email protected] M. T. Schwiercz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_8

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L. Weichenhain et al.

Zusammenfassung

Das Vogtland steht aufgrund des Hausärztemangels vor großen gesundheitspolitischen Herausforderungen. Insbesondere für die zunehmend ältere Bevölkerung, häufig ohne familiäre Unterstützung vor Ort, wird die ärztliche Betreuung schwierig. Zur Unterstützung der Hausärzte, Entlastung der Rettungsstellen sowie zur Vermeidung von langen Wegstrecken der Patienten zu den ambulanten Praxen soll das Projekt „Telematikunterstützung für die Impulsregion Vogtland 2020“ umgesetzt werden. Hierzu sollen im Projekt zwei ambulante Servicezentren in verschiedenen Orten errichtet und zur ersten Anlaufstelle für Patienten werden. Mögliche Voruntersuchungen durch das ansässige mittlere medizinische Personal und der virtuelle Arztbesuch mittels Videosprechstunde sollen Hausärzte entlasten und Zeitressourcen optimal ausnutzen. In einer patientenzentrierten Akte werden Informationen zum Patienten vom Arzt, Pflegedienst und von im häuslichen Umfeld angebundenen medizinischen Kleingeräten zusammengetragen. Ergebnis soll ein Konzept mit nachgewiesenem Nutzen sein, welches nach der Projektlaufzeit auf andere Regionen ausgerollt werden kann.

8.1 Einleitung Das Vogtland gehört zu den infrastrukturell schwachen Regionen in Sachsen, welches aufgrund des Ärztemangels vor großen gesundheitspolitischen Herausforderungen steht. Derzeit (Stand: 2017) sind 106 Hausärzte im Vogtland tätig, jedoch ist die Anzahl ansässiger Hausärzte rückläufig, da einige dieser vor ihrer Pensionierung stehen und sich keine neuen Hausärzte im ländlichen Bereich ansiedeln (Riechert A. 2018). Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung liegt das Durchschnittsalter der Hausärzte in Deutschland bei 54,1 Jahren (Stand: 2017). Der prozentuale Anteil der über 65-jährigen Hausärzte beträgt 14,4 %, der gesamte Anteil der über 60-Jährigen liegt bei 34,1 % und macht den Nachbesetzungsbedarf und den damit zu erwartenden Hausärztemangel deutlich (KBV o. J. a). Hausärzte sind im Vogtland nicht ausreichend vorhanden. Aktuell definiert die KV einen Versorgungsgrad im hausärztlichen Bereich von durchschnittlich 92,13 % (Plauen 99,7 %, Oelsnitz 97,6 %, Auerbach 88,6 %, Reichenbach 82,6 %; KBV 2017). Der Versorgungsgrad berücksichtigt einen allgemeinen Demografiefaktor. Berücksichtigt man das Alter der Hausärzte, so stellt sich die Situation sogar noch dramatischer dar. Heute sind schon 14,4 % der praktizierenden Hausärzte über 65 Jahre alt, 34,1 % über 60 (KBV o. J. a). Würden alle über 65 Jahre alten Hausärzte ihren wohlverdienten Ruhestand antreten, läge der Versorgungsgrad nach Angabe des Landratsamtes schlagartig bei knapp über 80,68 %. Die Gewinnung neuer Hausärzte ist eher schwierig, womit die Ressource Arzt optimal gemanagt und genutzt werden muss, um die Patientenversorgung sicherzustellen. Fahrten zu Hausbesuchen oder Pflegeheimen sind in einer ländlichen Region ungeliebt und binden viel wertvolle Arbeitszeit des Arztes. Aus diesem Grund muss eine Lösung gefunden werden, wie der Arzt zum Patienten kommt und der Patient zum Arzt, ohne dass Wege und Zeit unnötig verschwendet werden.

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Mit Blick auf die Gesamtbevölkerung betrug der Altersdurchschnitt im Vogtland im Jahr 2014 49,1 Jahre (Hofmeier C.). Aktuell verzeichnet das Vogtland einen prozentualen Anteil in den Altersgruppen der unter 20-Jährigen 16 %, der 20- bis 50-Jährigen 55 % und bei den über 65-Jährigen 29 % der Gesamtbevölkerung im Vogtland (Statistisches Landesamt Sachsen 2016). Typische chronische Erkrankungen im Alter wie Demenz, Inkontinenz, Rheuma, Hypertonie, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, Arthrose und Parkinson haben häufige Hausarztbesuche zur Folge (web care LBJ GmbH o. J.). Es ist zu beobachten, dass vor allem Patienten im Alter ab 65 häufiger eine Hausarztpraxis aufsuchen als die Patienten im Alter von 25 bis 29 Jahren. Laut Arztreport der Barmer konsultierten 2015 91 % Frauen und 84 % Männer altersbedingt einen Hausarzt, weshalb davon auszugehen ist, dass vor allem multimorbide und chronisch erkrankte Patienten aufgrund ihrer komplexen medizinischen Versorgung vom Ärztemangel betroffen sind (Grobe et al. 2017). Auch anlässlich des schlecht ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs in ländlichen Strukturen wird die Versorgung der Patienten erschwert, da diese zur Überwachung von Vitalparametern und zum Abholen neuer Folgeverordnungen o. Ä. weite Wege und hohe Zusatzkosten auf sich nehmen müssen. Auch unter Berücksichtigung des Rückganges der Mobilität und der familiären Infrastruktur der Patienten ist die Neugestaltung der zukünftigen Sicherstellung der Basisversorgung unumgänglich. Vor allem das familiäre Umfeld der Patienten ist durch die erhöhte Abwanderung in der Altersgruppe zwischen 20–30 Jahre geprägt (Bertelsmann Stiftung o. J.). Im Durchschnitt wanderten von 2009– 2011 etwa 238,1 Personen aus dem Vogtland weg, wobei nur etwa 170,6 Personenzuzüge zu verzeichnen sind.

8.2 Beschreibung des Projektes Mit dem Projekt soll ein Versorgungsmodell entstehen, welches zukünftig auch in weiteren Regionen etabliert werden kann. Hierbei sollen während der Projektlaufzeit im Vogtland ambulante Servicezentren in besonders strukturschwachen Gebieten errichtet werden. Diese Servicezentren werden mit mittlerem medizinischen Personal besetzt, das im Rahmen der Leistungsdelegation medizinische Grundleistungen durchführt. Die Servicezentren sollen zugleich zur ersten Anlaufstelle für Patienten werden. Bei Bedarf werden durch das mittlere medizinische Personal Termine für eine Videosprechstunde mit einem Hausarzt vereinbart und durchgeführt. Weiterhin soll zur Erhebung von dauerhaften Daten (wie Blutdruckmessungen) Medizintechnik im häuslichen Bereich integriert werden. Die Patientendaten werden in eine patientenzentrierte Akte aufgenommen, auf die das Personal in den Servicezentren, behandelnde Ärzte, der Patient selbst und ein eventuell vorhandener Pflegedienst zugreifen können. Die Vernetzung der involvierten Institutionen und Personen erfolgt durch ein übergeordnetes Terminmanagement und die patientenzentrierte Akte zur zentralen Ablage patientenrelevanter Dokumente (Abb. 8.1).

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Abb. 8.1   Schema zu den inhaltlichen Projektzielen. (Quelle: eigene Darstellung 2017)

8.3 Etablierung der Servicezentren Die Errichtung der Servicezentren garantiert die perspektivische Versorgung der Patienten bei Zentralisierung der hausärztlichen Leistung in den Ballungsgebieten und Rückgang der Zahl der Hausärzte. Das ansässige mittlere medizinische Personal soll hierbei zur ersten Anlaufstelle für Patienten werden und in diesem Kontext delegierbare Leistungen durchführen und das Terminmanagement für den Patienten übernehmen. Zu den Aufgaben des Personals gehört im Allgemeinen die Führung des Servicezentrums und dabei insbesondere die Koordination der Patientenströme, Sicherung des Sprechstundenverlaufs, Führung von Telefonaten, Umsetzung des Qualitätsmanagements, Einhaltung von gesetzlichen Vorgaben, Rechtsbestimmungen und der Hygienerichtlinien. Außerdem ist das Personal verantwortlich für Managementaufgaben wie Datenerfassung, Führung der patientenzentrierten Akte, Investitionsplanung, Leistungsdokumentation zur Unterstützung der Leistungsabrechnung sowie der Initiierung von ärztlichen Terminen zur Durchführung der Videosprechstunde (Abb. 8.2). Ebenso kontrolliert und überprüft das Servicezentrum die häuslich erzeugten Daten des Patienten in der patientenzentrierten Akte (Abschn. 8.9). Neben den allgemeinen Managementaufgaben steht das Servicezentrum den Patienten als Erstkontakt zur Verfügung. Hierbei übernimmt das ansässige Personal die Aufgaben Patientenaufnahme, Einwilligungserklärungen und Terminvergabe sowie die Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit des Patienten (Triage). Zur Unterstützung des

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Abb. 8.2   Aufgaben und Ablauf in einer Servicestelle. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

Patienten gibt das Personal die ärztlichen Anweisungen weiter und erläutert diese. Bei Bedarf werden ebenfalls Hausbesuche durchgeführt, Wunden versorgt und Erst- und Weiterversorgungen sichergestellt. Zur Unterstützung des Arztes werden delegierbare Leistungen, wie z. B. Blutentnahmen, Injektionen, EKG-Messungen und Spirometrie, durchgeführt. Hierbei soll gewährleistet werden, dass die ärztlichen Anweisungen ordnungsgemäß ausgeführt werden (Abschn. 8.4). Aufgrund der Altersstruktur wird das Leistungsspektrum vor allem im Bereich typischer geriatrischer Erkrankungen liegen. Für das Projekt insbesondere in den Fokus genommen wurden im Rahmen der Pilotierung das geriatrische Basis-Assessment, Patienten mit Hypertonie und Diabetes mellitus. Bei Bedarf soll durch das ansässige

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­ ersonal ein Videosprechstundentermin ausgemacht und mit einem Arzt durchgeführt P werden (Abschn. 8.8). Sofern ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt zur Diagnostik oder Therapie notwendig erscheint, wird der Patient an den entsprechenden Hausarzt weitergeleitet. Die Etablierung des Servicezentrums setzt geschultes Personal, Räumlichkeiten, Informations- und Medizintechnik sowie ein Videosprechstundensystem voraus. Ebenfalls ist die Nutzung der patientenzentrierten Akte notwendig. Das ansässige Personal muss bestimmten Anforderungen genügen, um delegierbare Leistungen ausführen zu können. Geregelt wird die Delegation ärztlicher Leistungen im Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä). Das Servicezentrum arbeitet zunächst unabhängig vom einzelnen Arzt, muss aber aus haftungsrechtlichen und abrechnungstechnischen Gründen an eine Praxis bzw. ein MVZ angebunden werden. Die Fallzahl ist nicht abzuschätzen, auch das ist eine Schwierigkeit mehr, ein selbstständiges, den Ärzten zuarbeitendes Servicezentrum zu etablieren.

8.4 Delegation von Leistungen Das mittlere medizinische Personal ist in der Regel an einen Arzt gebunden, der in einem gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen der „Vereinbarung über die Delegation Ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Personal in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 28 Abs. 1 S. 3 SGB V“ Leistungen an seine qualifizierten Mitarbeiter delegieren kann (KBV 2015). Die Mitarbeiter der aufzubauenden Servicezentren sollen delegierbare medizinische Leistungen bereits im Vorfeld durchführen können. Um dies zu ermöglichen, das Personal in den Servicezentren rechtlich abzusichern und die Leistungen in den Servicezentren abrechnen zu können, werden die Servicezentren organisatorisch an ein vorhandenes medizinisches Versorgungszentrum mit hausärztlicher Praxis angebunden. Freiberuflich tätige Ärzte sollen im Projektverlauf nach noch festzulegenden Zulassungsformen/Möglichkeiten eingebunden werden. In Verhandlungen mit Kassenärztlicher Vereinigung, Landesärztekammer und Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen wird angestrebt, in der Pilotierung zu testen und die Potenziale des Projektes vollständig zu entfalten. Parallel hierzu werden die rechtlichen, standesrechtlichen und abrechnungstechnischen Lösungen für ein nachhaltiges Rollout geklärt, welches auf weitere infrastrukturell schwache Regionen übertragen werden kann.

8.5 Onlineterminmanagementsystem Um Termine für die Videosprechstunde vereinbaren zu können, wird ein Onlineterminmanagementsystem (OTMS) benötigt. Der Hausarzt kann im Videosprechstundensystem seine für die Videosprechstunde verfügbaren Zeiten eintragen. Das Personal der Servicezentren kann in diesen Zeiträumen dann Termine für einen oder mehrere konkrete

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Patienten buchen. Zur Auswahl des Onlineterminmanagementsystems wurde zunächst ein Anforderungskatalog in Anlehnung an das Volere-Template zur Erarbeitung der Ausschreibung erstellt (Robertson J. 2018). Dabei wurden alle grundlegenden Eigenschaften, welche das künftige System erfüllen soll, erfasst sowie Use Cases beschrieben und die Prozesse identifiziert. Resultierend werden im nächsten Schritt die Kriterien für das Onlineterminmanagement abgeleitet und mittels der Ausschreibung wird ein geeignetes System ausgewählt. Um den Austausch vereinbarter Termine automatisch vom Onlineterminmanagementsystem in das Videosprechstundensystem zu übertragen, müssen entsprechende Schnittstellen bereits vorhanden sein oder im Nachgang entwickelt werden.

8.6 Einbindung des häuslichen Umfelds Zur Vernetzung der einzelnen Akteure im Projekt ist es sinnvoll, dass Ambient-assisted-Living-Technologie im häuslichen Umfeld des Patienten eingesetzt wird. Die erhobenen Daten werden in der patientenzentrierten Akte abgespeichert, damit assoziierte Professionals wie Personal der Servicezentren, Arzt oder Pflegedienst Einblick in die Daten erhalten und den Gesundheitszustand des Patienten bewerten können. Das Telemonitoring hilft, Zeit und Weg zu sparen, da Therapiemaßnahmen und Behandlungsdringlichkeiten abgeschätzt und eine zeitnahe Terminierung einer notwendigen Videosprechstunde durchgeführt werden können. Im häuslichen Umfeld des Patienten sollen zur Vitalparametererfassung und Überwachung der Medikamenteneinnahme geeignete Ambient-assisted-Living-(AAL-)Technologien und Sensoren ausgewählt werden. Zur Auswahl geeigneter AAL-Technologien ist es notwendig, eine ausführliche Analyse der Continua Health Alliance (CHA) Guidelines durchzuführen und auf deren Grundlage eine kategorisierte Liste mit AAL-Technologien zusammenzustellen (PCHAlliance 2017). Die CHA Guidelines ermöglichen es, über Kommunikationsstandards (z. B. IEEE) die Integration der AAL-Technologien und Systeme zu gewährleisten. Mittels vorangegangener Analysen und definierter patientenbezogener Use Cases sowie der Definition typischer Personas ist es anschließend möglich, patientenspezifische Technologien festzulegen (BMBF-VDE-Innovationspartnerschaft AAL 2011). Die mittels der AAL-Technologie erhobenen Daten, wie z. B. Blutdruckmesswerte, Blutzuckermesswerte, Körpertemperatur und Gewicht, sollen in die patientenzentrierte Akte eingebunden werden. Bei einem Diabetespatienten könnten somit z. B. Blutzuckermessgerät, Thermometer oder Blutdruckmessgerät als AAL-Technologien anhand der Erkrankung sowie der Erfordernisse des Arztes festgelegt und an die patientenzentrierte Akte gekoppelt werden (Abb. 8.3). Für die Datenübertragung in die PZA ist es notwendig, die AAL-Technologien an eine Middleware zu koppeln, welche die unterschiedlichen Datenformate in einen einheitlichen Kommunikationsstandard transformiert. Beispielsweise überträgt die AAL-Technologie via Bluetooth die gemessenen Vitalwerte an einen im häuslichen Umfeld stehenden Server zur Datenspeicherung. Anschließend werden die Daten von

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Abb. 8.3   Schema – Anbindung AAL-Daten an die patientenzentrierte Akte und die Akteure im Gesundheitswesen. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

der Middleware in ein geeignetes standardisiertes, im Gesundheitswesen wohletabliertes Datenformat umgewandelt und an die patientenzentrierte Akte weitergeleitet. Die erhobenen Daten werden in der PZA abgespeichert und können durch angebundene Systeme aufgerufen werden. Um eine Übertragung der Parameter und Daten aus dem Arztpraxisinformationssystem des angebundenen Hausarztes in die patientenzentrierte Akte und umgekehrt zu ermöglichen, sind Architektur- und Schnittstellenkonzepte notwendig. Zur Erstellung der Architektur- und Schnittstellenkonzepte wird geprüft, ob die üblichen Standards (z. B. IHE, HL7 und FHIRE) anwendbar sind oder noch benötigt werden, um die syntaktische und semantische Interoperabilität zu gewährleisten.

8.7 Hausarzt Neben dem Servicezentrum spielt der Hausarzt eine primäre Rolle im Versorgungsbereich des Patienten. Geplant ist, dass der Hausarzt Aufgaben zur Diagnostik und Therapie eines Patienten an das Personal im Servicezentrum delegiert und zur Terminvereinbarung über das Onlineterminmanagementsystem Videosprechstundentermine zur Verfügung stellt. Um den persönlichen Kontakt mit dem Patienten zu gewährleisten, führt der Arzt mit dem Patienten bei Bedarf eine Videosprechstunde durch (Abschn. 8.8), wenn eine entsprechende Diagnose oder Leistung vorliegt, die nicht unbedingt das physische Zusammentreffen von Arzt und Patient erfordert. Der Hausarzt wird durch ein Videosprechstundensystem mit dem Patienten verbunden. So können z. B. Medikamentenänderungen anhand der häuslich erhobenen Daten oder Auswertungen von Laborbefunden oder Ergebnisse des geriatrischen Basis-Assessments besprochen werden. Bei Bedarf ordert er den Patienten zur erweiterten Therapie und Diagnostik in die Praxis.

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Da der Patient aus zeitlichen Gründen nicht notwendigerweise immer mit dem gleichen Arzt Videosprechstunden hat, sondern unter Umständen mit seinem Einverständnis auch von unterschiedlichen Ärzten betreut wird, ist es wichtig, dass der Arzt Einblick in die Krankengeschichte des Patienten bekommt. Hierzu ist der Zugriff auf die bereits zum Patienten dokumentierten und versorgungsrelevanten Daten notwendig. Diese können mit Nutzung der patientenzentrierten Akte eingesehen werden, in der über Schnittstellen Daten aus den unterschiedlichen Arztpraxisinformationssystemen zusammengetragen und dort als Kopien vorgehalten werden. Somit werden Doppeldokumentationen vermieden und ein optimaler Informationsfluss ist gewährleistet.

8.8 Videosprechstunde Rechtliche Grundlagen Grundidee des Projektes ist es, Patienten mit weiter entfernten Ärzten zu verbinden. Zwangsläufige Konsequenz daraus ist der Einsatz von Telemedizin zur Überwindung dieser Distanz. Dadurch müssen Patienten nicht zwangsläufig für einen Termin in die Praxis, Videosprechstunden sollen als ein Mittel der Arzt-Patient-Kommunikation Verwendung finden. Die KBV und der GKV-Spitzenverband haben sich auf technische und fachliche Anforderungen als Grundlage für die Videosprechstunde geeinigt, um die Sicherheit und den Datenschutz bei Videosprechstunden zu gewährleisten (KBV o. J. b). Diese sind: • schriftliche Einwilligung des Patienten liegt vor, • Datensicherheit und Privatsphäre ist gewährleistet, • „Die Videosprechstunde muss vertraulich und störungsfrei verlaufen“ (Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen o. J.), • Klarnamen vom Arzt und Patienten müssen sichtbar sein, • Werbefreiheit, • Anbieter der Software muss zertifiziert sein. Die Zertifizierung erfolgt auf Antrag des Anbieters bei der KBV. Diese prüft die Erfüllung der grundlegenden Anforderungen und veröffentlicht eine Liste zertifizierter Anbieter. Die technischen Voraussetzungen für die Durchführung der Videosprechstunde sind eine Kamera, ein Bildschirm mit einer Mindestdiagonale von 3 Zoll und einer Auflösung von mindestens 640×480 px, eine Bandbreite von 2000 kbit/s im Download sowie Mikrofon und Lautsprecher/Kopfhörer zur Aufnahme und zum Abspielen von Tönen in Echtzeit (Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen o. J.). Um als Arzt eine Videosprechstunde in Sachsen durchführen und abrechnen zu können, muss der Arzt bei der KV Sachsen die Leistung Videosprechstunde beantragen.

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Neben den technischen und administrativen Beschränkungen regelt auch §7 Abs. 4 der MBO-Ä die Anwendung der Videosprechstunde. Auf dem 121. Deutschen Ärztetag im Mai 2018 wurde eben dieser Paragraf diskutiert und neu verfasst (Bundesärztekammer und Ärztetag 2018). Dieser lautet nun: Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt … gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.

Ablauf Typischerweise kommt der Patient in das Servicezentrum heimisch erfasste Vitaldaten sind in der PZA und liegen damit dem Personal im Servicezentrum vor. Im Servicezentrum kann das Personal delegierbare Leistungen durchführen. Das Personal kann über die Arztvorstellung mitentscheiden. Wenn Dringlichkeit besteht, kann direkt eine Videosprechstunde durchgeführt werden mit dem gerade zur Verfügung stehenden Arzt, sonst mit Termin im Falle von Bestandspatienten. Der Ablauf im Fall einer Videosprechstunde (Abb. 8.4) sieht die Verifizierung des Patienten anhand einer TAN und des Klarnamens vor. Die TAN kann dabei spezifisch vom Arzt für den einen Patienten oder für das Servicezentrum vergeben werden. Durch die PZA liegen dem Arzt die Messwerte (die im häuslichen Bereich erfassten und die im Servicezentrum aufgenommenen) vor. Das Personal begleitet den Patienten durch die Videosprechstunde und kann im Bedarfsfall weitere delegierbare Leistungen ­durchführen.

8.9 Patientenzentrierte Akte Die Erstellung einer patientenzentrierten Akte bildet die Grundlage für die zentrale Ablage aller für die Behandlung eines Patienten benötigten Daten und Dokumente. Voraussetzung für die Speicherung und Einsicht in die Daten ist das erteilte Einverständnis des Patienten, welches nach den aktuell geltenden Bestimmungen des Datenschutzes (DSGVO) immer schriftlich einzuholen ist. Zu den beteiligten Akteuren zählen neben dem Patienten selbst Arzt, Pflegedienst, Angehörige und das im Projekt aufzubauende Servicezentrum. Der Vorteil einer solchen Akte besteht darin, dass vor allem neu in die Versorgung und Behandlung involvierte Akteure einen sofortigen Einblick in alle relevanten Patienten- und Behandlungsdaten erhalten (Abb. 8.5). Vor allem die nicht vor Ort anwesenden Hausärzte können sich vor, während und nach der Videosprechstunde über einen evtl. persönlich nicht bekannten Patienten informieren, Therapiemaßnahmen optimal anpassen und Diagnosen korrekt stellen.

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Abb. 8.4   Ablauf einer Videosprechstunde. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

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Abb. 8.5   Informationstransferarchitektur zur patientenzentrierten Akte. (Quelle: eigene Darstellung 2017)

Im Rahmen der Markt- und Literaturanalyse zu bereits vorhandenen Konzepten von elektronischen Patientenakten konnten unter anderem die elektronische Fallakte (eFA) 2.0, HealthShare, die PEPA der Universität Heidelberg und das ICW-System identifiziert werden. Die Systeme wurden hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit für das geplante Szenario überprüft. Zur Analyse des Konzepts der elektronischen Fallakte nach Spezifikation 2.0 (eFA 2.0) wurde die von der DKG und Fraunhofer veröffentlichte Open-Source-Implementierung als Testumgebung verwendet. Diese basiert auf der Installation einer virtuellen eFA-Umgebung via Docker und kann prinzipiell unter Windows, Linux und Mac erzeugt werden. Das Erstellen und Befüllen der Fallakte erfolgt mithilfe eines REST-Clients bzw. von HTTP-Methoden (z. B. Get, Put, Post). Das Konzept der eFA 2.0 bezieht sich auf den einzelnen medizinischen Fall, der seine Gültigkeit verliert, sobald der Fall abgeschlossen ist. Aufgrund dessen ist die eFA 2.0 im Projektkontext (hausärztliche Versorgung) nicht anwendbar, da die Daten, wie im hausärztlichen Umfeld üblich, dauerhaft zur Verfügung gestellt werden sollen. Die persönliche, einrichtungsübergreifende Gesundheits- und Patientenakte (PEPA) ermöglicht den einrichtungsübergreifenden, elektronischen Datenaustausch des Univer­ sitätsklinikums Heidelberg mit seinen Partnerkrankenhäusern und zukünftig auch mit niedergelassenen Ärzten in der Region. Für teilnehmende Patienten wird hierbei eine PEPA angelegt. Aktuell ist diese eine arztgeführte Patientenakte und ermöglicht den behandelnden Ärzten den Zugriff auf Dokumente und Bilddaten gemeinsamer Patienten über Einrichtungsgrenzen hinweg. Perspektivisch wird diese zu einer persönlichen einrichtungsübergreifenden Gesundheits- und Patientenakte ausgebaut, die der Patient selbst verwalten kann.

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Die ICW eHealth Suite bietet leistungsstarke, aufeinander abgestimmte Module, aus denen sich komplexe E-Health-Lösungen aufbauen lassen. Neben Modulen zur eindeutigen Identifikation von Patienten und Leistungserbringern stellt die ICW eHealth Suite eine vollständige elektronische Patientenakte für die Aggregation von Dokumenten, Bilddaten und strukturierten medizinischen Daten bereit. Über Webportale haben Leistungserbringer und Patienten Zugang zur Patientenakte. HealthShare ist eine von der Firma InterSystems entwickelte Plattform zum Zweck des Austauschs von medizinischen Daten und der Vernetzung aller an der Behandlung des Patienten involvierten Gruppen. Für HealthShare existieren fünf Teilmodule, welche analysiert wurden. HealthShare Health Connect ist ein speziell für das Gesundheitswesen entwickelter Enterprise Service Bus (ESB). Er ermöglicht Integration und Interoperabilität auf Basis weltweit genutzter Datenprotokolle und Messaging-Formate für das Gesundheitswesen. So werden alle gängigen Kommunikationsstandards und die IHE-Profile (Integrating the Healthcare Enterprise) unterstützt. HealthShare Information Exchange ist eine Vernetzungslösung, die es Gesundheitsdienstleistern ermöglicht, Gesundheitsinformationen aus vielen Systemen und Einrichtungen zusammenzuführen und eine umfassende Patientenakte (Composite Health Record) anzulegen. In HealthShare existieren für diese Patientenakte unterschiedliche Sichten in Form einer GUI. Der HealthShare Patient Index bietet eine Patientenidentitäts- bzw. Enterprise-­ Master-Patient-Index-(EMPI-)Lösung für die Erzeugung und Verwaltung eines um demografische Daten ergänzten Master Patient Index. Die Lösung dient innerhalb eines Krankenhauses oder eines regionalen Gesundheitsnetzwerkes zur eindeutigen Identifikation eines Patienten durch Mapping auf einen sogenannten Referenzpatienten. HealthShare Health Insight ist eine robuste und performante Analyseplattform, die die Daten aus dem HealthShare Information Exchange nutzt. Unter anderem können damit Predictive-Modelling-Analysen durchgeführt werden. HealthShare Personal Community ist eine konfigurierbare Patientenportallösung. Sie ermöglicht eine verständliche Ansicht der Gesundheitsdaten für den Patienten und unterstützt die Terminvereinbarung, Rezeptverlängerungen, Kommunikation und Patientenaufklärung. Aufgrund der umfangreichen Funktionalitäten und der Ergebnisse aus durchgeführten Testläufen, die das Einpflegen von Testdatensätzen und das Einspeisen von externen Daten per IHE, HL7 und FHIR ermöglichen, ist eine Software wie HealthShare für die Anwendung im Projektszenario geeignet. Mehrfachdokumentationen werden vermieden, da die Daten über Kommunikationsschnittstellen in die PZA gelangen. Die IT-Systeme der Anwender werden zur gewohnten Dokumentation und Abrechnung verwendet, in der PZA liegen Kopien, die durch automatisierten Push von den Anwendersystemen befüllt werden, damit die anderen Versorger Zugriff auf diese Daten bekommen. Bei Aufbau und langfristigem Betrieb dieser PZA soll ein externer Betreiber (Provider) unterstützen. Die daraus resultierende Patientenakte soll sich ohne Weiteres in die Informationssysteme

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der jeweiligen Nutzer integrieren lassen. Die Software und der Betrieb der PZA sind im Projekt auszuschreiben. Während sämtlicher Arbeitsschritte ist der Fokus vor allem auf das Thema Datenschutz zu legen: Es muss zu jeder Zeit gewährleistet sein, dass nur die beteiligten Akteure auf die Daten ihres Patienten zugreifen können und die Integrität der Daten erhalten bleibt. Im Bereich des Datenschutzes wurden bisher verschiedene Aspekte analysiert, welche mit der neuen Datenschutz-Grundverordnung am 25.05.2018 in Kraft getreten sind. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf der neu eingeführten Datenschutz-Folgenabschätzung (DSFA), die für verschiedene Bereiche des Projektes wie der patientenzentrierten Akte und der Videosprechstunde durchzuführen ist und die mögliche Folgen bzw. Risiken für die Patienten und ihre erhobenen Daten einschätzen bzw. eindämmen soll. Diese ist in den relevanten Bereichen des Projektes durchzuführen.

8.10 Graphical User Interface (GUI) Damit eine zeitnahe und korrekte Behandlung des Patienten gewährleistet werden kann, sind Informationen in kompakter und verständlicher Form erforderlich, um relevante Zusammenhänge auf einen Blick aufzuzeigen. Für deren Darstellung wird eine akteurspezifische Lösung benötigt, die eine Visualisierung der Informationen zum Patienten realisiert. Alle Daten sollen innerhalb der patientenzentrierten Akte abgelegt und von dem jeweiligen Akteur abrufbar sein. Dabei werden die Informationen für die verschiedenen Anwendergruppen elektronisch aufgearbeitet. Hierbei ist es notwendig, die Informationsbedürfnisse der unterschiedlichen Anwender zu berücksichtigen, da jeder Akteur einen anderen Informationsbedarf besitzt bzw. nur in die für ihn relevanten Daten Einsicht nehmen darf. Deshalb ist es von primärer Bedeutung, dass die Benutzeroberfläche des jeweiligen Anwenders keine überflüssigen oder unbefugten Bereiche aufweist. Die Datenaufbereitung erfolgt in zwei Schritten: Neben der Zusammenführung der medizinischen Informationen aus den verschiedenen Systemen in der Datenbank der PZA werden die Daten nach den Prinzipien der Mensch-Computer-Interaktion präsentiert. Dies führt zu einem besseren Verständnis des Patienten und einem geringeren Zeiteinsatz für die virtuelle Sprechstunde. In den Bereichen Arztkontakt, Diagnosestellung, Medikationsverordnung und Datenzusammenführung wird eine Aufarbeitung vorgenommen. Die grafische Navigationsoberfläche soll durch die Umsetzung eines interaktiven GUI für die Ärzte der virtuellen Sprechstunde und des Servicezentrums realisiert werden. Diese Variante soll mit einer Webprogrammierung erfolgen. Im Rahmen eines studentischen Semesterprojekts wurde ausführlich betrachtet, welchen Informationsbedarf die an der Behandlung eines Patienten beteiligten Akteure haben. Neben dem Patienten selbst bzw. seinen Angehörigen wurden vor allem die Gruppen Arzt, ambulanter Pflegedienst und geriatrischer Case-Manager näher untersucht. Die hierbei ermittelten Informationen wurden in einem Entity-Relationship-Modell modelliert

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und in eine relationale Cachedatenbank überführt, welche die Grundlage für die daraus resultierende GUI darstellt. Außerdem entstanden erste Konzepte für grafische Benutzeroberflächen, welche auf die einzelnen Akteure abgestimmt sind.

8.11 Schlussbetrachtung Als nicht trivial im Projekt erweisen sich vor allem rechtliche, standesrechtliche und abrechnungstechnische Rahmenbedingungen, die nur gemeinsam mit den dafür zuständigen Organen geklärt werden können. So sind die Verhandlungen mit der Sächsischen Landesärztekammer hinsichtlich der delegierbaren Leistungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Als problematisch erweist sich der Aspekt, dass die Rahmenverordnung (LIT) wenig Spielraum lässt. So kann eine Videosprechstunde zwar nach überarbeiteter ärztlicher Berufsordnung auch als Erstkontakt stattfinden, jedoch nur bei einem Bestandspatienten des Arztes. Dies ist aufgrund eingeschränkter Verfügbarkeiten der Ärzte nur schwierig zu leisten. Weiterhin ist die Zulassungsform des Servicezentrums ungeklärt. Als Teil einer Vertragsarztpraxis ist es prinzipiell möglich, den Rahmen der delegierbaren Leistung voll auszuschöpfen, wobei ein sich „in unmittelbarer Nähe“ befindlicher Arzt kaum realisierbar ist. Dies widerspricht der Grundidee des Projektes, Servicezentren dort aufzubauen, wo bereits keine Hausärzte mehr angesiedelt sind. Auch das Abrechnen bestimmter Leistungen nur nach vorherigem Arzt-Patienten-Kontakt ist nicht im Sinne des Projektes und bedarf einer ausführlichen Diskussion mit KV und Kassen. Dass sich das Servicezentrum einmal über die Zahl der Patienten selber trägt, ist eher unwahrscheinlich, widerspricht die Patientendeckelung beim Arzt doch einer Umorganisation des Versorgungsmanagements. Bislang existieren in Deutschland verschiedene Konzepte und Projekte zur Entwicklung einer patientenzentrierten Akte. Die Einführung der verpflichtenden Patientenakte wird seit Langem angestrebt, jedoch gestaltet sich die Umsetzung aufgrund der datenschutzrechtlichen Bestimmungen als sehr schwierig. Hierzu zählen vor allem die Vertraulichkeit der Daten (bei der Erhebung, Speicherung, Nutzung, Übermittlung), Verfügbarkeit, Integrität und die Gewährleistung des Schutzes der betroffenen Personen. Die Gesamtheit der zu beachtenden Aspekte ist in der aktuellen deutschen Datenschutz-Grundverordnung festgelegt. In Österreich existiert mit der elektronischen Gesundheitsakte „ELGA“ bereits seit 2015 eine Lösungsform der patientenzentrierten Akte (Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz 2018). Diese wurde ab 2015 schrittweise regional in medizinischen Einrichtungen eingeführt. Der Wirkungsbereich sowie die Art der Anbieter wurden und werden seitdem weiter ausgebaut. Damit können Ärzte, Zahnärzte Kliniken, Apotheken, Pflegeeinrichtungen sowie Patienten jederzeit auf relevante Gesundheitsdaten zugreifen.

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Die telemedizinischen Versorgungsstrukturen in weiteren europäischen Ländern zeigen auf, was bereits möglich ist. Vorreiter dabei sind die skandinavischen Länder wie Dänemark, Schweden, Finnland und auch Estland (Asser 2017). In Deutschland ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die medizinische Versorgung an den Arzt gebunden und damit auch an seinen Standort (Brauns 2017). In den skandinavischen Ländern ist die ärztliche Versorgung hingegen standortungebunden. Ein Grund dafür sind der ausgeprägte hierarchische Aufbau und die starke Statusdifferenz der Gesundheitsberufe in Deutschland. In den skandinavischen Ländern hat das medizinische Personal einen höheren Stellenwert. Im finnischen Gesundheitssystem wird die Primärversorgung in Gesundheitszentren von Public Health Nurses durchgeführt, um die Ärzte zu entlasten (Heintze o. J.). Nicht mehr wegzudenken ist die digitale Praxis auch in der Schweiz. Im Gegensatz zu Deutschland, wo fernmündliche Patientenkontakte untersagt sind, sind telemedizinische Erstkontakte in der Schweiz erlaubt. Die Einbindung von Telemedizinzentren in der ambulanten Versorgung stellt somit keine Hürde dar.

Literatur Asser M (2017) Estlands einzigartiges E-Health-System: Tausende Datenfelder, eine persönliche Gesundheitsakte, eu2017.ee (Hrsg) https://www.eu2017.ee/de/neues/pressemitteilungen/estlands-einzigartiges-e-health-system-tausende-datenfelder-eine. Zugegriffen: 17. Jan. 2018 Bertelsmann Stiftung (o. J.) Frauen & Männer – Wegweiser Kommune. Bertelsmann Stiftung (Hrsg). http://www.wegweiser-kommune.de/statistik/frauen-maenner. Zugegriffen: 31. Mai 2018 BMBF-VDE-Innovationspartnerschaft AAL (2011) Qualitätskriterien im Umfeld von AAL. Produkte, Dienstleistungen, Systeme, 6. Aufl. VDE, Berlin Brauns H-J (2017) Telemedizin-Herausforderungen und Chancen für die Gesundheitsversorgung, Deutsche Gesellschaft für Telemedizin e. V. (Hrsg). Berlin. https://www.spd.berlin/w/files/ asg/2017-11-13-brauns_telemedizin-herausforderungen.pdf. Zugegriffen: 29. Jan. 2018 Bundesärztekammer; Ärztetag, Deutscher (2018) Beschlussprotokoll des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt vom 08. bis 11.05.2018, S 286, Bundesärztekammer; Ärztetag, Deutscher (Hrsg). http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/121. DAET/121_Beschlussprotokoll.pdf. Zugegriffen: 31. Mai 2018 Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (2018) FAQ Wissenswertens zu ELGA (Hrsg). https://www.gesundheit.gv.at/elga/faq/wissenswertes. Zugegriffen: 17. Jan. 2018 Grobe TG, Steinmann S, Szecsenyi J (2017) Arztreport 2017. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse. BARMER (Hrsg), Bd 1. https://www.barmer.de/blob/99196/40985c83a99926e5c12eecae­ 0a50e0ee/data/dl-barmer-arztreport-2017.pdf. Zugegriffen: 31. Mai 2018 Heintze C (o. J.) Effektiv und effizient: Das finnische Gesundheitssystem, mabuse-Verlag (Hrsg). Leipzig. https://www.mabuse-verlag.de/Downloads/1456/165_Heintze_Das-finnische-Gesundheitssystem.pdf. Zugegriffen: 17. Jan. 2017 Hofmeier C, Sander R Präsentation Demografie. https://www.vogtlandkreis.de/media/custom/ 2752_668_1.PDF?1480495440. Zugegriffen: 29. Mai 2018

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Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (o. J.) Genehmigungspflichtige Leistungen – Qualität – Mitglieder – Kassenärztliche Vereinigung Sachsen, Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (Hrsg). https://www.kvs-sachsen.de/mitglieder/qualitaet/genehmigungspflichtige-leistungen/videosprechstunde/. Zugegriffen: 31. Mai 2018 KBV (o. J. a) Alter. http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16397.php. Zugegriffen: 29. Mai 2018 KBV (o. J. b) Videosprechstunde. http://www.kbv.de/html/videosprechstunde.php. Zugegriffen: 31. Mai 2018 KBV (2015) Vereinbarung über die Delegation ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Personal in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 28 Abs. 1 S. 3 SGB V. http://www.kbv. de/media/sp/24_Delegation.pdf. Zugegriffen: 17. Mai 2018 KBV (2017) Versorgungsgrade. http://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17016.php. Zugegriffen: 29. Mai 2018 PCHAlliance (2017) CONTINUA DESIGN GUIDELINES (Hrsg). http://www.pchalliance.org/ continua-design-guidelines. Zugegriffen: 31. Mai 2018 Riechert A (2018) Vogtland Aerzte Portal| Aerzte-Vogtland.de. Web design Angelika Riechert. https://aerzte-vogtland.de/index.php?nav=list. Zugegriffen: 18. Okt. 2017 Robertson J, Robertson S (2018) Requirements specification template. extracts and samples from the template, Atlantic systems guild (Hrsg). http://www.volere.co.uk/template.htm. Zugegriffen: 31. Mai 2018 Statistisches Landesamt Sachsen (2016) 6. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung. Statistisches Landesamt Sachsen (Hrsg). https://www.statistik.sachsen.de/Pyramide/kslksa.html. zuletzt aktualisiert am 12.04.2016. Zugegriffen: 29. Mai 2018 web care LBJ GmbH (o. J.) Krankheiten im Alter – Übersicht typischer Alterskrankheiten, web care LBJ GmbH (Hrsg). https://www.pflege.de/leben-im-alter/krankheiten/. Zugegriffen: 31. Mai 2018

Linda Weichenhain  B. Eng., hat ihr Bachelorstudium der Biomedizinischen Technik mit praktischer Erfahrung im Bereich Research & Development an der Westsächsischen Hochschule Zwickau abgeschlossen. Nach einer beruflichen Auslandserfahrung ist sie nun Masterandin im Bereich „Medizin und Gesundheitstechnologie“. Neben dem Studium arbeitet sie im Drittmittelforschungsprojekt „Telematikunterstützung für die Impulsregion Vogtland 2020“. Daniel Schiffer  B. Sc., ist zurzeit an der Westsächsischen Hochschule Zwickau im Rahmen des Forschungsprojekts „Telematikunterstützung für die Impulsregion Vogtland 2020“ beschäftigt. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt hierbei auf dem Aufbau einer patientenzentrierten Akte und dem damit verbundenen Datenschutz. Neben seiner Arbeit an der Hochschule studiert er den interdisziplinären Masterstudiengang „Medizin- und Gesundheitstechnologie“. Im Vorfeld hat er einen Bachelorabschluss auf dem Gebiet der Gesundheitsinformatik an der Hochschule Zwickau erworben. Maximilian T. Schwiercz Dipl. Ing. (BA), hat an der Berufsakademie Bautzen sein Diplomstudium (BA) für Medizintechnik abgeschlossen. Aktuell arbeitet er im Forschungsprojekt der Westsächsischen Hochschule „Telematikunterstützung für die Impulsregion Vogtland 2020“. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist dabei die Videosprechstunde. Neben der Tätigkeit im Forschungsprojekt studiert er im Masterstudiengang „Medizin und Gesundheitstechnologie“.

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Prof. Dr. sc. hum. Anke Häber  studierte Medizinische Informatik an der Universität Heidelberg/ Fachhochschule Heilbronn und promovierte in Heidelberg zum Dr. sc. hum. Nach mehrjährigen Tätigkeiten in der Medizinischen Informatik in den Universitätsklinika Heidelberg und Leipzig wurde sie 2004 als Professorin für Medizinische Informatik/Informationsmanagement an die Westsächsische Hochschule Zwickau berufen. Prof. Häber ist aktives Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds) und im Berufsverband Medizinischer Informatiker (BVMI).

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Multimodale Schmerztherapie mit E-Health Rise-uP als neues Versorgungskonzept zur Prävention der Chronifizierung von Rückenschmerzen – Chancen und Herausforderungen Janosch A. Priebe, Katharina K. Haas, Linda L. Kerkemeyer, Christine Schiessl und Thomas R. Tölle Inhaltsverzeichnis 9.1 Hintergrund und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 9.2 Rise-uP als neue Versorgungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.2.1 Zielsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.2.2 Beschreibung von Rise-uP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.2.3 Evaluation des Behandlungskonzepts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 9.3 Herausforderung: Akzeptanz von Rise-uP durch Arzt und Patient. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 9.3.1 TAM und E-Health. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 9.3.2 Verlust von Autonomie für den Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 9.3.3 Patientenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 9.4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

J. A. Priebe () · K. K. Haas · T. R. Tölle  Zentrum für Interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS), Rise-uP Headoffice,Klinikum rechts der Isar (MRI), Technische Universität München (TUM), München, Deutschland E-Mail: [email protected] K. K. Haas E-Mail: [email protected] T. R. Tölle E-Mail: [email protected] L. L. Kerkemeyer  inav – privates Institut für angewandte Versorgungsforschung GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Schiessl  Tagesklinik für Schmerzmedizin, Algesiologikum GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_9

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Zusammenfassung

Rückenschmerzen haben eine hohe Prävalenz und sind ein bedeutsames gesundheitsökonomisches Problem in Deutschland. Die Behandlung der Patienten erfolgt bisher allerdings weitgehend unstrukturiert: Bei vielen Patienten wird eine unnötige und teure Bildgebung durchgeführt oder ohne Indikation operiert, obgleich die Nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz (NVL) diese Praxis explizit missbilligen. Das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt Rise-uP möchte hier ansetzen und die NVL über E-Health-Technologie und eine mobile Anwendung (Kaia Rückenapp) realisieren. Die Rückenschmerzbehandlung erfolgt gemäß Rise-uP hausarztzentriert. Über eine gemeinsame elektronische Fallakte haben Schmerzspezialisten Zugriff auf die Patientendaten und können den Hausarzt bei Bedarf telemedizinisch beraten. Der Patient wird über die Kaia Rückenapp u. a. zu Eigenaktivität und Entspannungsübungen angeregt. Das Konzept wird in der Evaluation der Regelversorgung gegenübergestellt. Das Buchkapitel stellt das RiseuP-Konzept ausführlich vor und diskutiert beispielhaft die Herausforderungen bei der Einführung von E-Health im Gesundheitssystem mit Fokus auf die Akzeptanz der Ärzte.

9.1 Hintergrund und Motivation Rückenschmerzen gehören zu den Volkskrankheiten in Deutschland. Fast jeder zweite Patient in orthopädischen Praxen konsultiert den Arzt wegen Rückenschmerzen. In Hausarztpraxen sind es immerhin 15 % (Wenig et al. 2009; Schmidt et al. 2011). Hinzu kommt, dass die Versorgung von Rückenschmerzpatienten in Deutschland gekennzeichnet ist von Fehl-, Über- und Unterversorgung. So wird immer noch zu häufig ohne eigentliche Indikation operativ behandelt und unnötige kostenintensive Bildgebung vorgenommen. Hingegen gibt es ein Mangelangebot an multimodalen Schmerztherapieplätzen, sodass eine optimale, leitliniengerechte Therapie einem Gros der Rückenschmerzpatienten verwehrt bleibt. Schließlich wird in der Akutphase des Rückenschmerzes – also in den ersten sechs Wochen nach Schmerz-Onset – das Risiko der Chronifizierung oft nicht erkannt, geschweige denn adäquat reagiert. Psychoedukation des Patienten und das Anregen zu Eigenaktivität werden ebenso vernachlässigt wie die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Rückenschmerzes. Dies verzögert nicht nur die Heilung, sondern erhöht auch die Gefahr der Chronifizierung (Schmerz dauert mehr als drei Monate an) bei Risikopatienten, was wiederum zu langfristigen Einbußen der Lebensqualität aufseiten der Patienten und erheblichen volkswirtschaftlichen und gesundheitsökonomischen Folgekosten durch Arbeitsunfähigkeit oder langwierige Behandlungen führt (Wenig et al. 2009).

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9.2 Rise-uP als neue Versorgungsform Rise-uP verfolgt als Versorgungsform einen innovativen Ansatz. Dieser soll im Folgenden erläutert werden.

9.2.1 Zielsetzung Die Kerncharakteristika des Rise-uP-Versorgungskonzeptes sind: • straffe, leitliniengerechte Behandlungsabläufe, • Hausarztzentrierung, • frühe Bestimmung des Chronifizierungsrisikos und Einleiten entsprechender Behandlung, • telemedizinischer Austausch (Videokonferenz) zwischen Hausarzt und Schmerzspezialist über eine gemeinsame elektronische Patientenakte, • Förderung des Patienten-Empowerments mittels digitaler multimodaler Therapieangebote für den Patienten durch die Kaia Rückenapp. Durch dieses innovative Konzept soll neben der Linderung der akuten Beschwerden vor allem der Chronifizierung des Rückenschmerzes vorgebeugt werden.

9.2.2 Beschreibung von Rise-uP Rise-uP ist zunächst gedacht für Patienten, die unter unspezifischen akuten (Schmerzdauer bis 6 Wochen) oder subakuten (Schmerzdauer 6–12 Wochen), ggf. rezidivierenden Rückenschmerzen leiden. Patienten mit Rückenschmerzen aufgrund von spezifischen Ursachen, wie etwa Frakturen oder Tumorerkrankungen, sog. Red Flags, sind keine Zielgruppe des Rise-uP-Konzepts.

9.2.2.1 Eckpunkte des Behandlungspfads Bei Patienten, die beim Hausarzt wegen Rückenschmerzen vorstellig werden, erfolgt zunächst ein Screening auf spezifische Ursachen des Rückenschmerzes (Red Flags, s. oben). Patienten mit positivem Befund oder Verdacht auf eine Red Flag sollten konsiliarisch beim Facharzt, etwa Orthopäde oder Neurologe, vorstellig werden. Sollte sich der Befund bestätigen, bleiben die Patienten in fachärztlicher Behandlung. Bei Patienten mit Rückenschmerzen ohne spezifische Ursache wird als erste zentrale Maßnahme in der Hausarztpraxis das Chronifizierungsrisiko bestimmt. Hierfür wird mit dem StartBack-G ein Fragebogen eingesetzt, der mittels neun Fragen eine Einteilung in hohes, mittleres oder niedriges Chronifizierungsrisiko vornimmt (Aebischer et al. 2015). Das Chronifizierungsrisiko des Patienten determiniert anschließend maßgeblich den weiteren Behandlungsverlauf, der in jedem Fall einem festgelegten ­Therapiealgorithmus, orientiert an den NVL, folgt. Für Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko wird

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innerhalb der ersten Woche nach Erstvorstellung ein Telekonsil abgehalten, in dem der Hausarzt mit einem Schmerzspezialisten den Fall bespricht. Durch diesen frühen Austausch mit der Ebene der Schmerzmedizin soll der Chronifizierung des hoch gefährdeten Patienten maximal vorgebeugt werden. Entsprechend dem Ergebnis des Telekonsils werden geeignete Behandlungsschritte eingeleitet. Hierfür sind ggf. Wiedervorstellungstermine innerhalb der ersten Woche nach Behandlungsbeginn notwendig. Die Hochrisikopatienten werden folglich ab Behandlungsbeginn engmaschig überwacht. Unabhängig von ihrem Chronifizierungsrisiko sollen sich alle Patienten vier Wochen nach der Erstvorstellung nochmals beim Hausarzt vorstellen. Der Rise-uP-Behandlungspfad geht dabei davon aus, dass symptomfreie Patienten möglicherweise den Termin nicht mehr wahrnehmen. Für diejenigen Patienten, die nach vier Wochen noch Beschwerden aufweisen, erfolgt die Weiterbehandlung wieder abhängig vom bei der Erstvorstellung bestimmten Chronifizierungsrisiko. Patienten mit hohem und nun auch mit mittlerem Chronifizierungsrisiko werden in einem Telekonsil mit dem Schmerzmediziner (erneut) besprochen. Diejenigen Patienten, bei denen nach sechs Wochen (hohes/mittleres Chronifizierungsrisiko) bzw. zwölf Wochen (niedriges Chronifizierungsrisiko) immer noch Beschwerden vorliegen, werden einem multiprofessionellen Schmerz-Assessment zugeführt. Alle Patienten erhalten außerdem bei der Erstvorstellung Zugang zur Kaia Rückenapp, die Komponenten der multimodalen Schmerztherapie digital realisiert (s. Abschn. 9.2.2.2). Abb. 9.1 illustriert den Behandlungspfad.

Abb. 9.1   Überblick über den Rise-uP-Behandlungspfad. Ziel dieses Behandlungspfades ist es, jedem Patienten zu jeder Zeit die für ihn nötige, optimale Behandlung zukommen zu lassen. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

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9.2.2.2 Die Kaia Rückenapp Die innovativste Intervention, die Rise-uP bereithält, ist die Kaia Rückenapp, die die Patienten in jeder Behandlungsphase – im besten Falle darüber hinaus – nutzen sollen. Die Kaia-App ist ein zugelassenes Medizinprodukt der Klasse 1 und enthält Elemente der multimodalen Schmerztherapie: Der Patient kann unter Instruktion der App körperliche Übungen und Entspannungsübungen, beispielsweise Achtsamkeit oder progressive Muskelrelaxation, durchführen. Außerdem enthält die App psychoedukative Module. Die Schwierigkeit der körperlichen Übungen steigt über die Programmdauer stetig an ebenso wie der Anspruch der Entspannungseinheiten. Die Wirksamkeit der App wurde in einer ersten retrospektiven Studie unserer Arbeitsgruppe bereits gezeigt (Huber et al. 2017). Die neueste Version der App enthält darüber hinaus einen Movement-Tracker der die Bewegungen der Patienten bei den körperlichen Übungen über die Smartphoneoder Tablet-Kamera aufzeichnet. So bekommt der Patient Feedback, wann die korrekte Start- und Endposition erreicht ist. Damit wird sichergestellt, dass keine unergonomischen oder schädlichen Bewegungen ausgeführt werden. Durch die Kombination aus physiotherapeutischen und psychologischen Inhalten ist es über die App möglich, den Patienten orts- und zeitunabhängig ohne Wartezeiten eine Vielzahl an Therapieangeboten zum eigenen Empowerment zur Verfügung zu stellen, die günstiger und umfassender sind als im Regelversorgungssetting. Für die Patientenversorgung eröffnet die Kaia-App auch dahin gehend Chancen, als dass sie eine Fülle an Daten generiert. Zum einen schätzen die Patienten bei jeder Einheit Schlafqualität und Schmerzintensität ein. Zum anderen werden die Nutzerdaten sicher gespeichert. So kann das Übungsverhalten des Patienten nachvollzogen werden. Auch in die Evaluation von Rise-uP soll die App einbezogen werden (s. Abschn. 9.2.3). Abb. 9.2 illustriert einige Komponenten der Kaia-App. Movement-Tracker

Anamnese

Körperliche Übungen

Entspannungsübungen

Abb. 9.2   Beispiele für Elemente der Kaia Rückenapp. (Quelle: eigene Darstellung)

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9.2.2.3 Therapienavigator und gemeinsame elektronische Fallakte Die enge Vernetzung von Hausärzten und Schmerzmedizinern über Telekonsile sowie anderen Fachärzten im Falle von neurologischen oder orthopädischen Konsilen kann nur durch eine gemeinsame elektronische Fallakte komfortabel realisiert werden. In Rise-uP kommt eine solche zum Einsatz, über die alle an der Versorgung beteiligten Behandler Zugriff auf die Patientendaten haben. Ruft der Hausarzt ein Telekonsil ein, so gibt er die Daten seines Patienten automatisch für den Telekonsilarzt frei. So wird sichergestellt, dass die jeweiligen Konsilärzte nur Zugriff auf die Daten der Patienten haben, an deren Behandlung sie beteiligt sind. Über die elektronische Fallakte dokumentieren alle Behandlungsbeteiligten ihre Befunde und Empfehlungen. Zugleich fungiert die elektronische Fallakte als Therapienavigator. Wird ein Patient in die Rise-uP-Behandlung aufgenommen, so füllt er über ein Tablet einen Fragebogen zur Stratifizierung des Chronifizierungsrisikos (StartBack-G) und einen zur Prüfung einer neuropathischen Schmerzkomponente (PD-Q) aus. (Hinweis: Weitere Fragebögen werden für die Evaluation erhoben. Da diese aber kein Element der Rise-uP-Behandlung im engeren Sinne sind, wird auf diese erst in Abschn. 9.2.3 eingegangen.) Nach dem Ausfüllen der Fragebögen wird das Tablet mit dem Rechner des Arztes verbunden, auf dem der Therapienavigator installiert ist. Die Daten werden aus dem Tablet ausgelesen und ausgewertet. Dem Arzt werden anschließend das Chronifizierungsrisiko gemäß StartBack-G sowie die Wahrscheinlichkeit einer neuropathischen Schmerzkomponente gemäß PD-Q angezeigt. Ferner illustriert der Therapienavigator übersichtlich die Schritte, die gemäß Behandlungspfad vorgesehen sind. Der Arzt sieht also prominent dargestellt, ob ein Telekonsil angezeigt ist (hohes Chronifizierungsrisiko, neuropathische Schmerzkomponenten wahrscheinlich). In diesem Fall wird die Anfrage an die Telekonsilärzte automatisch versendet, die dann proaktiv einen Termin vereinbaren. Der Hausarzt soll also bei der Organisation maximal unterstützt und vollumfänglich entlastet werden. Außerdem erinnert der Therapienavigator den Hausarzt daran, dem Patienten die Nutzung der Kaia-App nahezulegen, und zeigt entsprechend Wiedervorstellungstermine an. Durch das Anlegen des Patienten im Therapienavigator wird dieser wiederum automatisch für die Kaia-App freigeschaltet. Bei den Folgeterminen öffnet der Arzt die Akte des Patienten im Therapienavigator, der ihm stets die jeweiligen Behandlungsschritte anzeigt und so zu jeder Zeit durch den komplexen Behandlungspfad führt. Diese Kombination aus gemeinsamer elektronischer Patientenakte, in die alle beteiligten Ärzte Einsicht haben und dokumentieren können, sowie der digitalen Realisierung des Behandlungspfades im Therapienavigator ist in der deutschen Versorgungslandschaft unseres Wissens bis dato beispiellos.

9.2.3 Evaluation des Behandlungskonzepts Ziel von Rise-uP ist es, 1) im Vergleich zur Regelversorgung bessere Outcomes bei den Patienten zu erzielen und 2) das Gesundheitssystem kostentechnisch zu entlasten. Um

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die Überlegenheit von Rise-uP gegenüber der Regelversorgung empirisch zu belegen, wird eine clusterrandomisierte Versorgungsforschungsstudie durchgeführt, die beide Versorgungsformen – Rise-uP vs. Regelversorgung – miteinander vergleicht. In die Evaluation werden zunächst nur Patienten mit akutem (Schmerzdauer maximal 6 Wochen) und subakutem (Schmerzdauer 6–12 Wochen) unspezifischen lumbalen Rückenschmerschmerz eingeschlossen. Rezidivierende Patienten können ebenfalls eingeschlossen werden, so lange sie maximal sechs Schmerzepisoden in der Krankheitsgeschichte haben und längere schmerzfreie Intervalle zwischen den Episoden liegen. Patienten, die an Rückenschmerzen mit dringend behandlungsbedürftiger spezifischer Ursache (Frakturen, Tumore, andere Red Flags) leiden, können nicht teilnehmen. Rückenoperationen in der Krankheitsgeschichte sind ebenso ein Ausschlusskriterium. Um die Kaia-App nutzen zu können, benötigen die Patienten außerdem ein Smartphone und eine E-Mail-Adresse. Chronische Schmerzpatienten sind in der Studie nicht zugelassen. Dies hat den Grund, dass das Rise-uP-Konzept die Verhinderung von Chronifizierung als Ziel ins Zentrum rückt. Durch die frühe Determinierung des Chronifizierungsrisikos soll einer solchen ab Behandlungsbeginn entgegengewirkt werden. Im Rahmen einer gesundheitsökonomischen Analyse werden primäre und sekundäre Daten erhoben. Bei den Primärdaten handelt es sich um Fragebögen, die die Patienten in Rise-uP und diejenigen in der Regelversorgung zu verschiedenen Zeitpunkten ausfüllen. Für die Evaluation sind der Schmerzindex aus dem deutschen Schmerzfragebogen, die Beeinträchtigung nach von Korff, das psychische Befinden (Depressivität, Angst und Stress) nach der DASS-Skala, die Funktionskapazität nach dem FFBH-r und die physiologische und mentale Gesundheit nach dem VR-12 relevant. Alle Patienten füllen zu Behandlungsbeginn (T0), nach drei Monaten (T1), nach sechs Monaten (T2) und nach zwölf Monaten (T3) das Fragebogenset aus. Während die Erstbefragung in der Arztpraxis stattfindet, werden die Follow-up-Daten per E-Mail erhoben. Primärer Endpunkt der Versorgungsstudie ist dabei der Schmerzindex, also die Schmerzintensität, nach einem Jahr (T3). Die anderen Variablen – Beeinträchtigung, psychisches Befinden, Funktionalität sowie physiologische und mentale Gesundheit – sind hierbei jedoch nahezu gleichgestellt. Bei der Behandlung von Schmerzpatienten sollte ja nicht nur die Reduktion der Intensität des Schmerzes fokussiert werden, sondern auch die schmerzbezogenen Beeinträchtigungen. In mehreren bayerischen Regionen werden Hausarztpraxen rekrutiert, die entweder gemäß Rise-uP oder gemäß Regelversorgung behandeln. Insgesamt sollen maximal 2000 Patienten in Rise-uP und maximal 1000 Patienten in die Kontrollgruppe (Regelversorgung) eingeschlossen werden. Ziel der Studie ist es, die Überlegenheit des Rise-uP-Behandlungskonzepts in möglichst allen oben genannten Variablen zu zeigen: Rise-uP-Patienten sollten also nach einem Jahr weniger Schmerzen, weniger schmerzbezogene Beeinträchtigungen, ein besseres psychisches Befinden, bessere Funktionalität und einen besseren körperlichen und mentalen Gesundheitszustand haben.

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Darüber hinaus werden als Sekundärdaten 1) die Routinedaten der Krankenkassen (u. a. verschriebene Medikamente, Arztbesuche, Klinikaufenthalte) und 2) die Kaia-Nutzerdaten in die Evaluation mit einbezogen. Hierdurch soll 1) die gesundheitsökonomische Überlegenheit von Rise-uP gegenüber der Regelversorgung und 2) der Einfluss der Häufigkeit und Intensität der Nutzung der Kaia-App auf das Behandlungsergebnis gezeigt werden. Es sind außerdem explorative Subgruppenanalysen geplant. Hier sind besonders die Unterschiede zwischen den Chronifizierungsrisiken von Interesse – denn eine Verhinderung der Chronifizierung ist ja eines der zentralen Behandlungsziele von Rise-uP.

9.3 Herausforderung: Akzeptanz von Rise-uP durch Arzt und Patient Der Fortgang des Projektes zeigt, dass die Implementierung von E-Health in den Praxisalltag eine Herausforderung für das Gesundheitssystem darstellt und dass die Akzeptanz solcher Konzepte zwischen den Ärzten variiert. Hierzu wurde bereits in einigen Studien das Technology Acceptance Model (TAM; Davis 1989; Davis et al. 1989) auf die E-Health-Akzeptanz – sowohl aufseiten der Ärzte als auch aufseiten der Patienten – angewendet. Das TAM wurde ursprünglich dafür entwickelt, generell die Akzeptanz und darauf aufbauend die Nutzung von Informationstechnologie vorherzusagen.

9.3.1 TAM und E-Health Laut TAM werden Technologien besonders dann genutzt, wenn die potenziellen User die Nützlichkeit der Technologie als hoch wahrnehmen („perceived usefulness“) und die Technologie einfach zu bedienen ist („perceived ease of use“). Diese beiden Variablen werden wiederum von „externen Variablen“ (Persönlichkeitsfaktoren des Nutzers, Merkmale der Technologie etc.) beeinflusst. In einer Studie haben sich Dünnebeil et al. (2012) mit diesen externen Variablen im Bereich der E-Health und Telemedizin beschäftigt. Die Autoren konnten zeigen, dass Ärzte, die 1) IT-Systeme generell nutzen, 2) denen Datensicherheit wichtig ist und 3) die Wert auf eine ausführliche Dokumentation in der Behandlung legen, digitale Technologien als nützlich empfinden („perceived usefulness“). Die wahrgenommene Einfachheit der Nutzung („perceived ease of use“) wurde besonders dadurch determiniert, 1) wie viel Wissen über E-Health der Arzt hat, 2) wie wichtig ihm standardisierte Terminologien sind und 3) wie stark er sich grundsätzlich an Leitlinien orientiert. Ärzte, die hohe Ausprägungen auf diesen Variablen haben, waren eher bereit, E-Health zu nutzen. In einer Übersichtsarbeit führen Li et al. (2013) eine Fülle von Faktoren sowohl aufseiten der Technologie als auch in der Person des Arztes an, die die Akzeptanz und Anwendung von E-Health beeinflussen. Tab. 9.1 stellt einige dieser Variablen dar.

9  Multimodale Schmerztherapie mit E-Health

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Tab. 9.1  Welche Faktoren fördern oder hemmen die Anwendung von E-Health? Auswahl von Variablen, die die Akzeptanz und Anwendung von E-Health beeinflussen (nach Li et al. 2013) (Quelle: eigene Darstellung 2018) Variable

Beschreibung

Soziale Norm („social norm“)

Wenn das soziale Umfeld vom Arzt erwartet, E-Health zu nutzen, so fördert dies die Akzeptanz und Anwendung

„Computerängstlichkeit“ („computer anxiety“)

Wenn Ärzte sich Sorgen machen, dass eine Technologie überflüssig werden und damit keinen Nutzen mehr haben könnte, sind sie weniger bereit, E-Health zu nutzen

IT-Support

Ärzte, die sich hinsichtlich der Nutzung des Systems und bei etwaigen Problemen gut betreut fühlen (etwa Supporthotline) nutzen E-Health eher

Praxisgröße

Ärzte, die in größeren Praxen arbeiten, sind eher bereit, E-Health anzuwenden

Wettbewerb

Wenn Ärzte das Gefühl haben, dass E-Health ihnen einen Wettbewerbsvorteil bringt, fördert dies die E-Health-Nutzung

Zeitaufwand

Wenn der Zeitaufwand für die Installation und Einführung des Systems in der Wahrnehmung der Ärzte zu groß ist, sind sie weniger bereit, E-Health zu nutzen

Die (unvollständige) Darstellung zeigt, dass sowohl formal-strukturelle Aspekte (Praxisgröße, IT-Support) als auch persönliche Faktoren des Arztes (soziale Norm, Computer Anxiety) die Anwendung von E-Health determinieren. Es gilt zu beachten, dass die Studien sich oftmals mit eher einfachen E-Health-Anwendungen beschäftigen, beispielsweise der Einführung der elektronischen Gesundheitsakte („electronic health record-system“) in Deutschland, also ein reines Dokumentationssystem (Dünnebeil et al. 2012), das hinsichtlich der Komplexität und des umfassenden Einsatzes von E-Health bei Rise-uP (Therapienavigator, elektronische Patientenakte, Kaia-App) nur wenig vergleichbar ist. Es kann aber zumindest angenommen werden, dass die oben genannten Faktoren bei Konzepten wie Rise-uP eine noch viel bedeutsamere Rolle spielen und es diese folglich bei der Implementierung zu beachten gilt. Eine Studie hierzu ist in unserer Arbeitsgruppe geplant.

9.3.2 Verlust von Autonomie für den Arzt Eine interessante Perspektive liefern Walter und Lopez (2008) mit dem Konzept der wahrgenommenen Bedrohung der Autonomie des Arztes („perceived threat of autonomy“). Sie zeigen, dass sowohl elektronische Dokumentationssysteme als auch Systeme, die bei klinischen Entscheidungen helfen („clinical decision support“), als weniger nützlich wahrgenommen und auch weniger genutzt werden (vgl. TAM), wenn der Arzt fürchtet, dadurch Autonomie zu verlieren.

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Diese Sorge seitens der Ärzte ist auch bei Rise-uP zumindest denkbar: Die relativ strikte Realisierung der NVL im Behandlungspfad und die Führung durch selbigen mittels Therapienavigator könnte von den Ärzten durchaus als Verlust der Autonomie empfunden werden. Wenn der Arzt nun Wert auf leitliniengerechte Behandlung legt, sollte dies unproblematisch sein; bei Skeptikern gegenüber strengen Behandlungspfaden ist dies sicherlich kritischer zu sehen (Dünnebeil et al. 2012). Ferner sei darauf hingewiesen, dass Rise-uP die Rückenschmerzbehandlung ausdrücklich hausarztzentriert konzipiert und dies möglicherweise einen wahrgenommenen Autonomieverlust kompensieren kann.

9.3.3 Patientenperspektive Natürlich richtet sich jede Behandlungsform zunächst an die Patienten, sodass es primär deren Akzeptanz zu gewinnen gilt. Diese scheinen aber durchaus offen für E-Health zu sein: In einer Studie haben Hassol et al. (2004) untersucht, wie sich die Einstellung von Ärzten und Patienten hinsichtlich digitaler Elemente in der Behandlung unterscheidet. Es zeigte sich zunächst, dass sich ein beträchtlicher Anteil der Patienten eine Kommunikation über E-Mail/Onlinetools und Telefon nicht nur vorstellen kann, sondern diese gegenüber dem Präsenztermin sogar präferieren würde, wenn es um allgemeine medizinische Fragen, Untersuchungsergebnisse, Rezeptanforderungen und kleinere Followup-Termine geht. Hier zeigte sich eine deutliche Diskrepanz zu den Ärzten, die diesen Kommunikationskanälen kritischer gegenüberstehen. Da die Daten aus dem vergangenen Jahrzehnt stammen, kann man über den heutigen Stand nur spekulieren. Es ist aber anzunehmen, dass beide Gruppen durch die stetig zunehmende Digitalisierung eher offener denn widerständiger gegenüber einfacher Onlinetechnologie, wie E-Mails oder elektronische Akten, geworden sind. Wie es sich mit komplexeren Systemen wie einem Therapienavigator oder Gesundheits-Apps verhält, gilt es noch zu zeigen. Hindernisse für die Nutzung von Gesundheits-Apps stellen laut einer Studie von Dockweiler et al. (2016) u. a. die Sorge um die Datensicherheit, mangelnde unabhängige Qualitätskontrolle und nicht nachgewiesener Nutzen der App dar. Diese können jedoch kompensiert werden, indem der Arzt die App verordnet oder zumindest empfiehlt.

9.4 Schlussbetrachtung E-Health-Konzepte wie Rise-uP bieten zukunftsweisende Perspektiven, fragmentierte Behandlungskonzepte abzulösen und durch leitliniengerechte Therapie zu ersetzen oder zumindest zu ordnen (Therapienavigator). Weiterhin können die Versorgungsebenen – Hausarzt, Schmerzspezialist, weitere Fachärzte – komfortabel vernetzt und auch so die Hausarztzentrierung realisiert werden (elektronische Patientenakte, Telemedizin). Die Kaia Rückenapp kann das Patienten-Empowerment fördern und Elemente der multimodalen Schmerztherapie kostengünstig zum Patienten bringen.

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Es ist jedoch auch klar, dass die Einführung von E-Health-Technologien in die Regelversorgung seitens Behandler und Patienten nicht als starre Aufoktroyierung wahrgenommen werden darf. Auf einfache Nutzbarkeit („ease of use“) und hohe wahrgenommene Nützlichkeit („usefulness“) sowie auf eine nur mäßig eingeschränkte Autonomie des Arztes sind zu achten. Anmerkung Das Projekt Rise-uP wird vom Innovationsfond des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert (Förderkennzeichen: 01NFV16014).

Literatur Aebischer B, Hill JC, Hilfiker R, Karstens S (2015) German translation and cross-cultural adaptation of the STarT back screening tool. PLoS One 10(7):e0132068 Davis FD (1989) Perceived usefulness, perceived ease of use, and user acceptance of information technology. MIS q 13(3):319–340 Davis FD, Bagozzi RP, Warshaw PR (1989) User acceptance of computer technology: a comparison of two theoretical models. Manag sci 35(8):982–1003 Dockweiler C, Kupitz A (2018) Innovation in der Versorgungspraxis-Was erwarten die Nutzer von neuen Versorgungstechnologien? In: Pfannstiel MA, Da-Cruz P, Rasche C (Hrsg) Entrepreneurship im Gesundheitswesen III, Digitalisierung, Innovation, Gesundheitsversorgung. Springer Gabler, Wiesbaden Dünnebeil S, Sunyaev A, Blohm I, Leimeister JM, Krcmar H (2012) Determinants of physicians’ technology acceptance for e-health in ambulatory care. Int J Med Inform 81(11):746–760 Hassol A, Walker JM, Kidder D, Rokita K, Young D, Pierdon S, Deitz D, Kuck S, Ortiz E (2004) Patient experiences and attitudes about access to a patient electronic health care record and linked web messaging. J Am Med Inform Assoc 11(6):505–513 Huber S, Priebe JA, Baumann KM, Plidschun A, Schiessl C, Tölle TR (2017) Treatment of low back pain with a digital multidisciplinary pain treatment app: short-term results. JMIR rehabil assistive technol 4(2):e11 Li J, Talaei-Khoei A, Seale H, Ray P, MacIntyre CR (2013) Health care provider adoption of ­eHealth: systematic literature review. Interact J Med Res 2(1):1–19 Schmidt CO, Fahland RA, Kohlmann T (2011) Epidemiologie und gesundheitsökonomische Aspekte des chronischen Schmerzes. Schmerzpsychotherapie. Springer, Berlin Walter Z, Lopez MS (2008) Physician acceptance of information technologies: role of perceived threat to professional autonomy. Decis Support Syst 46(1):206–215 Wenig CM, Schmidt CO, Kohlmann T, Schweikert B (2009) Costs of back pain in Germany. Eur J Pain 13(3):280–286

Dr. Janosch A. Priebe  ist Psychologe und Neurowissenschaftler und hat an der Universität Bamberg zum Thema „Schmerzverarbeitung bei Morbus Parkinson“ promoviert. Seit 2017 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rise-uP-Projekt. Außerdem forscht er zum Thema Akzeptanz und Wirksamkeit von Mobile und Electronic Health.

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Katharina K. Haas absolvierte das Bachelorstudium Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Medizinischen Universität Graz. Im Anschluss daran studierte sie Gesundheitsmanagement im Master. Seit Februar 2018 ist sie als Projektmitarbeiterin bei Rise-uP tätig. Dr. rer. pol. Linda L. Kerkemeyer studierte Health Communication (BSc) und Medizinmanagement (MA). Danach promovierte sie an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen zu dem Thema „An economic evaluation of integrated care in patients with schizophrenia“. Seit 2017 arbeitet sie als Senior Gesundheitsökonomin am privaten Institut für angewandte Versorgungsforschung GmbH (inav) in Berlin. Prof. Dr. med. Christine Schiessl (MME) ist Fachärztin für Anästhesiologie und Spezielle Schmertherapie. Als Chefärztin der Algesiologikum-Tagesklinik für Schmerzmedizin gilt ihr besonderes klinisches Interesse der multimodalen Behandlung frühchronifizierter Rückenschmerzpatienten und effektiver Arzt-Patienten-Kommunikation. Im Rise-uP-Projekt repräsentiert das Algesiologikum im Rahmen der Telekonsile die Ebene der spezialisierten Schmerzmedizin. Univ.-Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle  ist Neurologe und Psychologe. Er führt die Geschäftsstelle des Deutschen Forschungsverbundes Neuropathischer Schmerz und ist Konsortialführer des Projekts Rise-uP. Er leitet das Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS) des Klinikums rechts der Isar (MRI) der Technischen Universität München (TUM).

E-Health-Lösungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Afrika – Machbarkeitsstudie einer M-Health-Lösung für Diabetespatienten in Kamerun

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Felix Holl

Inhaltsverzeichnis 10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 10.1.1 Begriffserklärung „Telemedizin“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 10.1.2 Begriffserklärung „M-Health“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 10.1.3 Chronische Krankheiten – Ein wachsendes Problem in Afrika. . . . . . . . . . . . . . 173 10.1.4 Gesundheitliche Versorgung im ländlichen Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 10.1.5 Grundlagen der Diabetesbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 10.1.6 Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Kamerun. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 10.2 Feldstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 10.2.1 Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 10.2.2 Studienteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 10.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 10.2.4 Wirtschaftliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 10.3 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Zusammenfassung

Neue Entwicklungen und dramatisch gefallene Preise bei Smartphonetechnologien sowie die weitgehende Verfügbarkeit von Mobilfunk und mobilem Internet haben die Verbreitung der mobiltelefonbasierten Telemedizin, kurz M-Health, vorangetrieben. Jedoch waren die Länder der niedrigen und mittleren Einkommen von diesem Trend wegen der mangelnden Infrastruktur und knappen Verfügbarkeit von Endge­ räten b­ isher abgeschnitten. Dies ändert sich derzeit schnell und die Aussichten für F. Holl (*)  Fakultät für Gesundheitsmanagement, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_10

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F. Holl

M-Health stehen gut. M-Health-Lösungen bieten große Chancen für die Verbesse­ rung der Gesundheitsversorgung im ländlichen Gebiet. Vor allem der massive Anstieg der Prävalenz von chronischen Krankheiten stellt die Gesundheitswesen vor enorme Herausforderungen. Während die Behandlung von Patienten mit Infektionskrankheiten kurzweilig ist und durch die Behandlung eine Heilung herbeigeführt wird, ist die Behandlung von chronischen Krankheiten langwierig. Durch die Behandlung werden die Krankheitssymptome nur verringert und kontrolliert. Deswegen muss der Behandlungserfolg auch regelmäßig überwacht werden. Am Beispiel der Fernüberwachung von Diabetespatienten im ländlichen Kamerun wurde das Potenzial von M-Health durch eine Machbarkeitsstudie überprüft. Die technische Machbarkeit der Anwendung eines solchen Systems konnte nachgewiesen werden. Auch medizinisch entsprach die Behandlungsqualität mithilfe des Systems mindestens der Qualität der Standardbehandlung. Jedoch sind die Kosten zu hoch, um das System in den bestehenden Rahmenbedingungen des kamerunischen Gesundheitswesens zu implementieren. Die Kosten für die Verbrauchsmaterialen sind deutlich zu hoch für die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Aber auch die Kosten für den mobilen Internetzugang waren zum Zeitpunkt der Studie zu hoch. Jedoch ist zu hoffen, dass die Kosten für mobilen Internetzugang zeitnah dramatisch fallen werden. Um die Kosten für die Verbrauchsmaterialien zu reduzieren, sind die Verwendung regulärer Blutzuckermessgeräte und die manuelle Eingabe der Messwerte denkbar. Durch die Studie konnte das große Potenzial vom M-Health-Anwendungen zur Verbesserung des Zugangs zur gesundheitlichen Versorgung in ländlichen Gebieten von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen aufgezeigt werden. Jedoch müssen die Lösungen noch kostengünstiger sein, um dort sinnvoll einsetzbar zu sein. Die Ergebnisse der Studie sind beispielhaft für das Potenzial, aber auch die Herausforderung für E-Health- und im Speziellen M-Health-Anwendungen in Ländern mit geringen Ressourcen. Sie haben das Potenzial, den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung zu verbessern und deren Qualität zu steigern. Jedoch müssen diese Lösungen in den bestehenden Rahmenbedingungen des jeweiligen Gesundheitssystems finanzierbar sein. Dies liegt primär daran, dass in vielen Ländern ein großer Teil der Gesundheitsausgaben derzeit noch direkt von den Patienten als private Ausgaben bezahlt werden müssen.

10.1 Einleitung In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMIC) ist Zugang zu Leistungen der gesundheitlichen Versorgung begrenzt. Dies lieg vor allem an einer Knappheit von medizinischem Personal und medizinischen Geräten. In ländlichen Gebieten wird der Zugang durch weite Entfernungen und lange Fahrt- bzw. Laufwege weiter einge­ schränkt. Telemedizin im Allgemeinen und mobiltelefonbasierte Telemedizin, als M-Health bezeichnet, im Speziellen können helfen diese Lücke zu schließen. Zusätzlich zu den bestehenden Zugangsbeschränkungen zur Gesundheitsversorgung ist in LMICs,

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inklusive Subsahara-Afrika (SSA), ein dramatischer Anstieg in der Prävalenz chronischer Krankheiten, wie koronarer Herzkrankheit und Diabetes mellitus, zu beobachten. Patienten, die an diesen chronischen Krankheiten leiden, bedürfen einer regelmäßigen, langfristigen Behandlung. Die Vorteile der Telemedizin kommen besonders in ländlichen und unterversorgten Gebieten von LMICs zum Tragen, da sie helfen kann geografische Schrank zu überwinden und den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu verbessern (WHO 2010). Deshalb kann die Telemedizin als Mittel zur Steigerung der Behandlungsqualität für Patienten in ländlichen und unterversorgten Gebieten angesehen werden. Die World Health Organization (WHO) kam 2010 zu der Schlussfolgerung: Während in den entwickelten Ländern vor allem rechtliche Bedenken in Bezug auf Datenschutz und Vertraulichkeit der medizinischen Daten die Verbreitung der Telemedizin hemmen, sind es in LMICs primär unterentwickelte Infrastruktur sowie Mangel an technischer Erfahrung. Dies ändert sich jedoch stetig, vor allem für M-Health durch die flächendeckende Verfügbarkeit von Mobilfunknetzen und mobilem Internet. Zusätzlich fallen die Preise für Smartphones stetig. Auch die technische Expertise wächst in den Ländern der unteren und mittleren Einkommen kontinuierlich (WHO 2010). Dadurch ergibt sich hier ein großes Potenzial, um E-Health-Anwendungen im großen Stil in der gesundheitlichen Versorgung einzusetzen. Um zu untersuchen, ob M-Health-Anwendungen im ländlichen Afrika ein probates Mittel sein können, den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung zu verbessern, wurde ein smartphonebasiertes Überwachungssystem für Diabetespatienten in einem Kran­ kenhaus mit angeschlossener Diabetesklinik im ländlichen Kamerun getestet. Zuerst wurde die organisatorische und technische Machbarkeit mit einer Feldstudie untersucht. Des Weiteren wurden die Erfahrungen der Patienten sowie des behandelnden Personals begutachtet. Zusätzlich wurde die Machbarkeit aus der Perspektive des Gesundheitswesens untersucht.

10.1.1 Begriffserklärung „Telemedizin“ Die WHO (1998) definiert Telemedizin als die Erbringung von Leistungen der gesundheitlichen Versorgung, wo Entfernung ein entscheidender Faktor ist, durch medizinisches Fachpersonal unter Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien zum Austausch von validierten Informationen über Diagnosen, Behandlungen und Prävention von Krankheiten und Verletzungen mit dem Ziel, die Gesundheit des Individuums zu verbessern. Telemedizin ist eine Kombination aus den Gebieten Informatik, Medizin, Telekom­ munikation und Telematik, dargestellt in Abb. 10.1. Abhängig vom Anwendungsfeld können auch weitere Gebiete, wie Medizintechnik oder Sensorik, eine Rolle spielen.

172 Abb. 10.1   Gebiete der Telemedizin. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

F. Holl Computerbasierte Medizin

Bioinformatik

Telemedizin

Informatik

Telekommunikation

Medizin

Telematik

Ambient Assisted Living

Sensorik

Medizintechnik

10.1.2 Begriffserklärung „M-Health“ Der Begriff M-Health, die abgekürzte Form von Mobile Health, bezeichnet telemedizi­ nische Anwendungen, bei denen Mobiltelefone, heute primär Smartphones, verwendet werden. Im Jahr 2011 kam die WHO zu der Schlussfolgerung, dass noch keine standardisierte Definition von M-Health etabliert wurde. Es ist eine Teilkomponente von E-Health und folgende Arbeitsdefinition hat sich etabliert: „medizinische und öffentliche Gesundheitstätigkeiten, die durch mobile Endgeräte, wie Mobiltelefonie, Patientenüberwachungseinheiten und andere kabellose Geräte unterstützt werden“ (World Health Organization 2011). Anhand dieser Definition ist das große Potenzial von M-Health für die Anwendung in LMICs sichtbar. Denn Millionen von Menschen, die nie einen Festnetzanschluss hatten, sind nun durch Mobilfunknetze verbunden. Des Weiteren gab es bei den notwendigen Endgeräten rapide Weiterentwicklungen und die Preise sind stark gesunken. Oft ist der Weg in eine Versorgungseinrichtung beschwerlich und lang. Patienten müssen oft laufen oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Die Fernüberwachung von Patienten ist ein wichtiges Teilgebiet von M-Health. Es ist besonders sinnvoll in Gebieten mit sehr begrenztem Zugang zu gesundheitlicher Versorgung in Krankenhäusern oder Kliniken (Vital Wave Consulting 2009). Laut Bai (2012) hat die Fernüberwachung von Patienten mithilfe von Mobiltelefonen die folgenden Vorteile: Die Überwachung ist in Echtzeit, zeitsparend und hat das Potenzial, die Zahl der Krankenhausbesuche zu reduzieren, und kann das Behandlungsergebnis verbessern, wenn das System richtig implementiert ist.

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10.1.3 Chronische Krankheiten – Ein wachsendes Problem in Afrika Nichtansteckende Krankheiten, abgekürzt NCDs und im Weiteren auch als chronische Krankheiten bezeichnet, sind die weltweite Hauptursache aller Todesfälle. 2008 waren 63 % der weltweit 57 Mio. Todesfälle durch chronische Krankheiten verursacht (WHO 2014). Der Großteil davon, 36 Mio., wurde durch die chronischen Schlüsselkrankheiten koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus, chronische Atemwegserkrankungen und Krebs verursacht. Auch in den LMICs, inklusive Subsahara-Afrika, steigt die Zahl der durch NCDs verursachten Todesfälle rapide an. Während heute NCDs für etwa die Hälfte der Todesfälle ursächlich ist, werden 2030 bereits sechs von zehn Todesfällen in LMICs durch NCDs verursacht sein (WHO 2013). Für Diabetes mellitus Typ II, als eine der chronischen Schlüsselkrankheiten, ist der gleiche Trend zu beobachten. Einst eine seltene Krankheit in SSA, steigt ihre Prävalenz und damit verbunden die Last der Krankheit schnell an (Mbanya et al. 2010). Laut Peer et al. (2014) wird die Zahl der in SSA an Diabetes leidenden Patienten um 110 % von 19,8 Mio. im Jahr 2013 auf 41,5 Mio. in 2035 ansteigen. Eine Reihe von Faktoren sind für den Anstiege der NCDs in LMICs ursächlich. Hauptgründe sind die gestiegenen Lebenserwartungen und die damit verbundenen alternden Gesellschaften. Hinzu kommen die Wahl von ungesunden Nahrungsmitteln sowie Mangel an körperlicher Aktivität kombiniert mit gestiegenem Tabak- und Alkoholkonsum. Bewegungsarme Lebensweisen werden durch Wandel in der Gesellschaft und zunehmende Urbanisierung gestärkt. Zusätzlich verstärkt schlechtes Bewusstsein über die Erkrankung die Folgen (Merten 2014). In der Behandlung und Betreuung von Patienten mit NCDs gibt es in LMICs Schwierigkeiten, die in dieser Form in der entwickelten Welt nicht existieren. Die Behandlung von Infektionskrankheiten beschränkt sich im Regelfall auf die Diagnose und Behandlung in der Akutphase. Die Patienten sind in der Regel durch die Behandlung geheilt und bedürfen keiner weiteren Behandlung. Die Behandlung von NCDs ist anders. Hier besteht meist keine Möglichkeit, die Patienten zu heilen. Es findet ausschließlich eine Reduzierung und im Idealfall eine Kontrolle der Symptome statt durch die Behandlung. Die Behandlung muss deswegen normalerweise bis zum Ende des Lebens fortgesetzt werden. Der Behandlungserfolg muss regelmäßig kontrolliert werden und die Behandlung gegebenenfalls angepasst werden. Eine Ausnahme in der Gruppe der Infektionskrankheiten ist HIV/Aids. Da es für HIV/Aids keine Heilung gibt, ist der Krankheitsverlauf chronisch. Durch moderne Medikamente lassen sich die Symptome kontrollieren und gering halten. Jedoch ist auch hier, analog zu den NCDs, eine regelmäßige Überprüfung der Behandlung notwendig. Die Zahl der Patienten ohne oder mit nur unzureichendem Krankenversicherungsschutz ist hoch in vielen afrikanischen Ländern. Dies hat oft zur Folge, dass es zu einer Verzögerung in der dringend notwendigen Behandlung kommt und mit einem hohen

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Armutsrisiko durch die Krankheit verbunden ist. Präventionsprogramme sind selten. Ein weiteres Problem sind die Verfügbarkeit und die Qualität der zur Verfügung stehenden Behandlung. Es gibt oft nicht genug gut ausgestattete Krankenhäuser oder Gesundheitszentren und einen Mangel an gut ausgebildetem medizinischen Fachpersonal, vor allem in ländlichen Gebieten.

10.1.4 Gesundheitliche Versorgung im ländlichen Afrika Weltweit sind die Ressourcen eines Gesundheitswesens auf urbane Gebiete konzentriert. Auch auf dem afrikanischen Kontinent ist dies zu beobachten. Selbst in Ländern, in denen der Großteil der Bevölkerung auf dem Land lebt, ist dies der Fall. Dies hat zur Folge, dass der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung auf dem Land schlechter ist als in Städten. Diese Problematik wird durch die Herausforderungen der weiten Entfernun­ gen und langen Fahrwege weiter verschlimmert. In SSA wird diese Problematik durch schlechte Straßenbedingungen noch zugespitzt. Eine Auswirkung hat auch die akute Knappheit an qualifiziertem Personal in vielen afrikanischen Ländern.

10.1.5 Grundlagen der Diabetesbehandlung Diabetes ist eine Krankheit mit chronischem Verlauf und erfordert eine langfristige und regelmäßige Behandlung. Abb. 10.2 zeigt die Hauptmerkmale der Diabetesbehandlung (basierend auf Spekowius und Wendler 2006). Die zwei wichtigsten Merkmale sind die regelmäßige Blutzuckerkontrolle und die Rückmeldung durch medizinisches Personal. Die Qualität dieser Merkmale wird stark durch die Rahmenbedingungen des jeweiligen Gesundheitswesens bestimmt. Die regelmäßige Blutzuckerkontrolle ist abhängig von der Verfügbarkeit von Blutzuckermessgeräten und deren Verbrauchsmaterialien sowie deren Kosten und ob die Kosten durch den Patienten zu tragen sind oder vom Gesundheitswesen getragen werden. Die Qualität und Frequenz der Rückmeldung durch medizinisches Personal werden von den Versorgungsstrukturen des jeweiligen Gesundheitswesens

Abb. 10.2   Hauptmerkmale der Diabetesbehandlung. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

Blutzuckerkontrolle

Medizinische Rückmeldung

Lebenssl Physische Akvität

Gesunde Ernährung

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bestimmt. Wichtige Faktoren sind die Anzahl medizinischer Fachkräfte sowie deren geografische Verteilung sowie der Zugang und die Kosten für gesundheitliche Versorgung. Zusätzlich sind körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung wichtig. Die Blutzuckerkontrolle muss regelmäßig erfolgen und basierend auf diesen Messwerten muss die medizinische Rückmeldung und ggf. eine Anpassung der Behandlung erfolgen. Vor allem in ländlichen Gebieten findet diese Rückmeldung jedoch zu selten statt. Hier können M-Health-Systeme mit einer Fernüberwachungskomponente für Diabetespatienten die Behandlung unterstützen und dadurch kann die Behandlungsqualität gesteigert werden.

10.1.6 Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Kamerun Laut dem Global Health Expenditure Database der WHO (2018) betrugen die Gesamtausgaben für Gesundheit in Kamerun pro Person und Jahr im Jahr 2015 US$ 64. Von den Gesamtausgaben waren 70 % direkte private Ausgaben („out of pocket“). Das entspricht US$ 44. Der hohe Anteil von privaten Ausgaben für Gesundheit ist eine große Hürde für die Einführung von neuen Behandlungsmethoden, aber auch neuen Technologien, da die Patienten den Großteil der Kosten selber bezahlen müssen. Dies muss immer mitbedacht werden, wenn neue Technologien eingeführt werden sollen. Die Auswahl einer kostengünstigen Lösung ist anzustreben, um eine Annahme durch die Patientenpopulation zu gewährleisten.

10.2 Feldstudie Zur Untersuchung der Hypothese, dass die gesundheitliche Versorgung im ländlichen Afrika durch den Einsatz von Telemedizin verbessert werden kann, wurde in einer Feldstudie ein M-Health-Fernüberwachungssystem für Diabetespatienten im ländlichen Kamerun getestet. Zusätzlich wurden die Kosten für die Anwendung des Systems in Kamerun betrachtet und mit den verfügbaren Ressourcen des lokalen Gesundheitswesens verglichen. Für die Feldstudie wurde ein kommerzielles Produkt einer Firma aus Deutschland verwendet. Die Testgeräte wurden freundlicherweise von der Firma BodyTel Europe GmbH kostenlos zur Verfügung gestellt. Abb. 10.3 zeigt die schematische Darstellung des Aufbaus des M-Health-Systems. Herzstück ist das Smartphone des Patienten, auf dem eine App installiert ist. Das Blutzuckermessgerät, mit welchem die eigentlichen Messungen durchgeführt werden, besitzt ein Bluetoothmodul. Das Blutzuckermessgerät ist mit dem Smartphone gepairt. Sobald eine Messung durchgeführt wird, wird der Messwert automatisch an die App auf dem Smartphone geschickt und erscheint dort im Patiententagebuch. Der Patient kann die übertragenen Messwerte dort einsehen und manuell Werte eintragen.

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Abb. 10.3   Schematische Darstellung des M-Health-Systems. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

Bei bestehender Internetverbindung wird der Inhalt des Patiententagebuchs mit dem Webserver von BodyTel synchronisiert. Das medizinische Personal kann eine Kopie des Patiententagebuchs über ein Webinterface einsehen. Dort können Anmerkungen gemacht werden, wie z. B. die Anpassung der Medikation. Dies wird dann auf das Smartphone des Patienten geschickt und diesem als Hinweis ausgegeben. Die Annahme für die Studie war, dass die Patienten durch das System mindestens so engmaschig überwacht werden wie in der regulären Behandlung (nur während der monatlichen Diabetesklinik).

10.2.1 Instrumente Für die Untersuchung des M-Health-Systems wurde in der Studie ein Mixed Methods Approach gewählt. Dieser war von qualitativen Elementen dominiert, welche mit quantitativen Aspekten kombiniert wurden. Vor allem zur Betrachtung von Usability-Aspekten wurde eine quantitative Betrachtungsweise herangezogen. Vor dem Beginn der Studienphase wurden Interviews mit den Teilnehmern geführt, um einen Nullwert in Bezug auf die Erfahrung im Umgang mit Mobiltelefonen, Smartphones und Computern zu erheben. Zusätzlich wurden die Erwartungen der Teilnehmer an das M-Health-System erhoben. Anschließend wurden die Teilnehmer und das medizinische Personal ausführlich in der Nutzung des Systems geschult. Hier wurde die allgemeine Funktionsweise des Systems, wie in Abb. 10.3 dargestellt, erklärt. Danach wurden die Erhebung und Übertragung demonstriert (siehe Abb. 10.4). Um sicherzustellen, dass jeder Teilnehmer sicher war im Umgang mit dem System, wurden mit jedem Teilnehmer drei Testmessungen durchgeführt. Dabei haben die Durchführer der Studie die Teilnehmer bei der Handhabung der Geräte unterstützt und auf mögliche Handhabungsfehler geachtet. Sollte dies der Fall gewesen sein, wurden die Teilnehmer entsprechend nachgeschult, um deren erneutes Auftreten zu verhindern. Die Studienphase betrug 25 Tage. Danach wurden Abschlussinterviews mit den Teilnehmern und dem medizinischen Personal geführt. Die Interviews wurden als semistrukturierte Interviews geführt. Auch die quantitative Datenerhebung fand in Interviewform statt, um sprachliche Schwierigkeiten durch Erklären aufklären zu können. Als Teil der Abschlussinterviews wurde die Systems Usability Scale verwendet, um ein qualitatives Maß für die Usability des Systems zu erheben. Diese wurde von zehn auf sieben Indikatoren reduziert, um der speziellen Studienpopulation gerecht zu werden. Während

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Abb. 10.4   Demonstration des M-Health-Systems während der Schulung der Teilnehmer. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

des Trainings und bei Besuchen der Studienteilnehmer wurden Feldnotizen bezüglich Usability und möglicherweise auftretender Probleme angefertigt und später analysiert. Die Feldnotizen wurden auf wiederauftretende Muster untersucht und diese notiert und nach der Häufigkeit des Auftretens sortiert. Aufgetretene Probleme und ­Usability-Aspekte wurden mit den Antworten der Interviews verglichen. Die Interviews wurden transkribiert und die Antworten in Muster gruppiert. Die quantitativen Parameter wurden mit deskriptiven Statistiken analysiert.

10.2.2 Studienteilnehmer Die Studienteilnehmer wurden aus der Patientenpopulation der Diabetesklinik des Kran­ kenhauses rekrutiert. Alle Patienten mit Diabetes mellitus Typ I der Diabetesklinik nahmen zum Zeitpunkt der Studie in einem durch eine Pharmafirma finanzierten Programm mit kostenlosen Medikamenten und Blutzuckermessgeräten teil und standen als Probanden nicht zur Verfügung. Aus einem Pool von 25 möglichen Teilnehmern wurden zehn Teilnehmer ausgewählt. Zusätzlich wurde die leitende Krankenschwester und der ärztliche Leiter der Diabetesklinik befragt, um auch die Erwartungen und subjektive Bewertung des Studienverlaufs aus Sicht der Behandler zu inkludieren.

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10.2.3 Ergebnisse Die zehn Teilnehmer hatten ein Durchschnittsalter von 56,1 Jahren. Der jüngste Teilneh­ mer war 29 Jahre alt und der älteste 73. Neun von den zehn Teilnehmern waren über 50 Jahre alt und zwei älter als 70 Jahre. 40 % der Teilnehmer waren Frauen und 60 % Männer. Die Demografie der Studienpopulation ist der Demografie der allgemeinen Population von Patienten mit chronischen Krankheiten ähnlich. Alle Teilnehmer waren zum Zeitpunkt der Studie im Besitz eines Mobiltelefons und nutzen dieses regelmäßig, durchschnittlich seit 6,5 Jahren. Jedoch besaß keiner der Teilnehmer ein Smartphone, sondern ausschließlich sog. Feature-Phones. Keiner der Teilnehmer hatte mobilen Internetzugriff mit dessen Mobiltelefon. Und nur drei der Teilnehmer besaßen oder hatten regelmäßigen Zugang zu einem Computer. Der Studienverlauf insgesamt war positiv, jedoch traten vor allem in den ersten Tagen technische Probleme auf. Diese konnten jedoch durch die Patienten selbst, deren Angehörige oder die Studienbetreuer gelöst werden und durch Nachschulen der Teilnehmer verhindert werden. Die häufigsten Probleme waren: 1. Das Smartphone wurde durch den Teilnehmer versehentlich in den Flugmodus geschaltet. 2. Die App stürzte ab. 3. Das Bluetoothpairing ging verloren. Drei Teilnehmer stellten das Smartphone versehentlich in den Flugmodus. Dies lag an deren Unerfahrenheit im Umgang mit Touchscreens und Smartphones. Nachdem ihnen der Umgang noch einmal gezeigt wurde, trat das Problem nicht mehr auf. Die Bewertung nach der Studie durch die Teilnehmer war sehr positiv. Die Teilneh­ mer waren insgesamt sehr zufrieden (9,5 auf einer Likert-Skala von 1 bis 10 zur allge­ meinen Zufriedenheit mit dem System; vgl. Abb. 10.5). Da von den 10 Teilnehmern jedoch nur ein Teilnehmer ein Blutzuckermessgerät besaß, muss angenommen werden, dass die positive Bewertung dadurch verfälscht wurde, dass die Teilnehmer ein Blutzuckermessgerät zur Verfügung hatten und nicht zwangsläufig das Gesamtsystem bewertet haben. Aus diesem Grund ist die Bewertung des ärztlichen Leiters der Diabetesklinik als differenzierter anzuschauen. Auch dessen Gesamteindruck war sehr positiv und er sieht großes Potenzial für das System, um den Zugang zur Diabetesversorgung für die Patienten im ländlichen Gebiet zu verbessern. Jedoch betrachtete er auch die hohen Kosten des Systems sehr kritisch.

10.2.4 Wirtschaftliche Betrachtung Zum Zeitpunkt der Studie betrugen die Kosten für ein 30 Tage gültiges Datenpaket für mobiles Internet 10,000 CFA, was US$ 20,64 entsprach. Und die verfügbare Bandbreite

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Abb. 10.5   Allgemeine Zufriedenheit der Studienteilnehmer nach der Studie. (Quelle: eigene Darstellung 2018)

betrug nur GSM. Wenn man diese Kosten in Relation zu den durchschnittlichen Gesamtausgaben für Gesundheit pro Jahr von US 64 stellt, wird schnell klar, dass so ein System nur sinnvoll betrieben werden kann, wenn die Patienten bereits über eine mobile Datenoption verfügen und die Preise dafür dramatisch fallen. Jedoch existiert ein weltweiter Trend von fallenden Preisen für mobilen Internetzugang und der damit verbundenen Steigerung des Anteils der Menschen mit mobilem Internetzugang. Zum Zeitpunkt der Studie gab es auf dem Mobilfunkmarkt in Kamerun nur zwei Anbieter und wenig Wettbewerb. Jedoch hat sich der Wettbewerb seither verstärkt. Die Kosten für Blutzuckermessgeräte und die Verbrauchsmaterialien sind sehr hoch in Kamerun. Die Kosten für die in der Klinik verwendeten Blutzuckermessgeräte lagen mit knapp US$ 50 um ein Vielfaches über dem Preis in Deutschland (US15). Auch die ­Teststreifen waren in Kamerun fast doppelt so teuer wie in Deutschland (US$ 30 im Ver­ gleich zu US$ 21,50 für jeweils 50 Teststreifen). Die Kosten für die Verbrauchsmateria­ lien der Blutzuckermessgeräte mit Bluetoothmodul zur automatischen Übertragung der Messwerte an die Applikation auf dem Smartphone sind nur unwesentlich höher als die für reguläre Messgeräte. Jedoch sind die Kosten für die Verbrauchsmaterialien im Allge­ meinen zu hoch für die Patienten wegen des hohen Anteils an "out of pocket payments". Aber auch wenn ein Gesundheitswesen nur die Kosten für Messgeräte und das Zubehör für Geräte ohne Bluetoothmodul übernehmen würde, wäre ein solches System nutzbar, da die ­Messwerte auch manuell in die Applikation eingetragen werden können.

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10.3 Schlussbetrachtung Die Feldstudie hat gezeigt, dass ein M-Health-System, wie es in der Feldstudie getestet wurde, im ländlichen Afrika technisch funktioniert und eine vergleichbare Behandlungsqualität liefert. Des Weiteren waren die teilnehmenden Patienten und das medizinische Personal mit dem System sehr zufrieden. Technische Komplikationen waren selten. M-Health-Systeme können ein Mittel sein, den Zugang zur Gesundheitsversorgung in ländlichen Gebieten von LMICs zu verbessern. Vor allem bei Krankheiten mit chronischem Verlauf können sie hilfreich sein. LMICs sind durch den epidemiologischen Wandel zunehmend mit Patienten mit chronischen Krankheiten konfrontiert, durch welche die verfügbaren Ressourcen schnell an ihre Grenzen kommen. Hier können M-Health-Systeme helfen auch bei knappen Ressourcen den Zugang zu Gesundheitsleistungen zu gewährleisten. Jedoch ist ein solches System, wie es in der Feldstudie getestet wurde, in den derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens von Kamerun finanziell nicht tragbar. Obwohl es medizinisch und aus Patientensicht sinnvoll ist, stehen die Kosten im Vergleich zu den Gesamtausgaben für Gesundheit in keinem Verhältnis, vor allem wegen des sehr hohen Anteils an direkten Ausgaben durch die Patienten („out of pocket“). Zum Studienzeitpunkt waren auch die Kosten für mobile Datenpakete unverhältnismäßig hoch. Dies ändert sich in vielen afrikanischen Ländern derzeit jedoch rapide, weshalb heute immer mehr Patienten ein Smartphone mit mobilem Internetzu­ gang besitzen. Dadurch lassen sich M-Health-Anwendungen mit deutlich geringeren Zusatzkosten implementieren, was deren Effizienz deutlich steigert.

Literatur Bai C (2012) Cell phone based telemedicine – brief introduction. J Transl Med 10(Suppl 2):A47. https://doi.org/10.1186/1479-5876-10-s2-a47 Mbanya JC, Motala AA, Sobngwi E, Assah FK, Enoru ST (2010) Diabetes in sub-Saharan Africa. Lancet 375(9733):2254–2266. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(10)60550-8 Merten M (2014) International healthcare systems: globalization of healthcare. Neu-Ulm University of Applied Sciences, Neu-Ulm Peer N, Kengne AP, Motala AA, Mbanya JC (2014) Diabetes in the Africa region: an update. Diabetes Research and Clinical Practice 103(2):197–205. https://doi.org/10.1016/j.diabres.2013.11.006 Spekowius G, Wendler T (2006) Advances in healthcare technology: shaping the future of medical care. Springer, Eindhoven Vital Wave Consulting (2009) mHealth for development: the opportunity of mobile technology for healthcare in the developing world, technology. UN Foundation-Vodafone Foundation Partnership (Facts from SCC), Washington D.C. WHO (1998) A health telematics policy in support of WHO’s health-for-all strategy for global health development. In: WHO (Hrsg) WHO Group Consultation on Health Telematics. World Health Organization, Geneva.

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WHO (2010) Telemedicine: opportunities and developments in member states. In: WHO (Hrsg) Global observatory for eHealth series, Bd 2. World Health Organization, Geneva WHO (2011) mHealth: New horizons for health through mobile technologies. In: WHO (Hrsg) Global observatory for eHealth series, Bd 3. World Health Organization, Geneva WHO (2013) Global burden of disease. Projections of mortality and burden of disease, 2002– 2030. World Health Organization (WHO, Hrsg). http://www.who.int/topics/global_burden_of_ disease/en/. 16. Juli 2014 WHO (2014) Deaths from NCDs. World Health Organization (WHO, Hrsg). http://www.who.int/ gho/ncd/mortality_morbidity/ncd_total_text/en/. Zugegriffen: 10. Juli 2014 WHO (2018) Global health expenditure database. World Health Organization (WHO, Hrsg). http:// apps.who.int/nha/database/ViewData/Indicators/en. Zugegriffen: 19. Mai 2018

Felix Holl, M. Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Digitalisierung Healthcare in der Fakultät Gesundheitsmanagement an der Hochschule Neu-Ulm und Doktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat einen B. Sc. in Informationsmanagement im Gesundheitswesen der Hochschulen Ulm und Neu-Ulm. Als Fulbright-Stipendiat hat er einen M. Sc. in Global Health Sciences an der University of California, San Francisco, erworben. An der University of California, San Francisco, war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für medizinische Informatik in der Entwicklungshilfe am Institute for Global Health Sciences tätig. Seine Forschungsarbeit umfasst Beiträge zum Einsatz von E-Health in der gesundheitlichen Versorgung, primär in LMICs und die Entwicklung von Evaluationsmethoden für M-Health-Anwendungen.

Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung – Eine Schweizer Fallstudie zur Einbeziehung von Stakeholderpräferenzen

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Alexander Mertes, Lyn E. Pleger und Gabriel Trinkler

Inhaltsverzeichnis 11.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 11.2 Theorie und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 11.2.1 Die Implementation von privaten Interessen in öffentlichen Debatten: Das Advocacy Coalition Framework. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 11.2.2 Das Vernehmlassungsverfahren in der Schweiz: Der Fall des elektronischen Patientendossiers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 11.2.3 E-Health als Policy-Subsystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 11.2.4 Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 11.3 Datensatz und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 11.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 11.4.1 Übereinstimmung zwischen Vorschlägen und Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 192 11.4.2 Koalitionen und Änderungen im Gesetzestext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 11.5 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

A. Mertes (*) · L. E. Pleger · G. Trinkler  Institut für Verwaltungs-Management, ZHAW School of Management and Law, Winterthur, Schweiz E-Mail: [email protected] L. E. Pleger E-Mail: [email protected] G. Trinkler E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen VI, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25461-2_11

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A. Mertes et al.

Zusammenfassung

Die Schweizer Politik zeichnet sich unter anderem durch einen starken Einbezug der Gesellschaft in ihre legislativen Prozesse aus. Zusätzlich zu den gewählten legislativen und exekutiven Behörden besteht auch für Parteien, Verbände und Zusammenschlüsse von Bürgern die Möglichkeit, ihre Anliegen und Bedenken in die Gesetzgebungsprozesse einzubringen, die dann in unterschiedlichem Maße Eingang in Gesetze und Verordnungen finden. Die vorliegende Fallstudie diskutiert den Einfluss von Stakeholdern auf den legislativen Prozess anhand des elektronischen Patientendossiers und analysiert den Einfluss von verschiedenen Stakeholdergruppen mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse. Hierfür wurden Kommentare von 137 Interessengruppen zur Verordnung über das elektronische Patientendossier während des politischen Vernehmlassungsverfahrens im Jahr 2016 zusammengetragen und untersucht. Den theoretischen Rahmen dieses Beitrags stellt das Advocacy Coalition Framework dar. Die Hypothesen wurden von diesem Ansatz abgeleitet (Gruppenunterschiede, Einfluss). Die Befunde zeigen, dass verschiedene Stakeholdergruppen den legislativen Prozess in der Schweiz unterschiedlich stark beeinflussen. Weiter deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Akteure auf Kantonsebene tendenziell einen höheren Einfluss auf die Ausgestaltung der E-Health-Gesetzgebung haben als andere Gruppen (Gesundheits-/Sozialverbände, IT).

11.1 Einführung Der Einfluss verschiedener Stakeholder auf politische Entscheidungen und Politikwandel wurde breit erforscht (siehe Baumgartner et al. 2009; Bennett und Howlett 1992; Ingold und Varone 2011 und Weible et al. 2011). Innerhalb repräsentativer Demokratien kann der Einfluss von Stakeholdergruppen auf Politikwandel lediglich indirekt gemessen werden. Ein direktdemokratisches System hingegen erlaubt eine unmittelbare Untersuchung des Einflusses von Interessengruppen auf die Gesetzgebungen. Die Schweiz bietet nicht nur aufgrund ihres direktdemokratischen Systems den idealen Rahmen, um die Einflüsse politischer Akteure auf die Gesetzgebungsresultate zu untersuchen. Die Schweizer Politik zeichnet sich durch eine starke Einbindung der Gesellschaft in ihre legislativen Prozesse aus. Zusätzlich zu den gewählten legislativen und exekutiven Behörden besteht auch für Parteien, Verbände und Zusammenschlüsse von Bürgern die Möglichkeit, ihre Anliegen und Bedenken in die Gesetzgebungsprozesse einzubringen, die dann in unterschiedlichem Maße Eingang in Gesetze und Verordnungen finden. Im Rahmen sogenannter Vernehmlassungsverfahren können öffentliche Akteure mittels Stellungnahmen ihre Anliegen hinsichtlich neuer Gesetze und Verordnungen einbringen. Dieser Beitrag diskutiert die Einflussnahme von Stakeholdern im legislativen Prozess anhand des Beispiels des elektronischen Patientendossiers (EPD) in der Schweiz und analysiert den Einfluss von Stakeholdergruppen mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse. Grundlage dafür stellt ein Datensatz dar, welcher auf Basis der

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­ tellungnahmen von 137 Vernehmlassungsteilnehmenden, die 2016 zum EPD-AusfühS rungsrecht (Verordnung über das elektronische Patientendossier (EPDV)) eingegangen sind, generiert wurde. Im Fokus steht die Beantwortung der folgenden Forschungsfragen: 1. Haben verschiedene Koalitionen von Interessengruppen einen unterschiedlichen Einfluss auf Gesetzgebungsresultate? 2. Wie lassen sich diese Koalitionen charakterisieren? 3. Welche Stakeholdergruppen haben den größten Einfluss auf die E-Health-Gesetzgebung in der Schweiz? Zur Beantwortung dieser Fragen werden theoretische Überlegungen, abgeleitet vom Advocacy Coalition Framework (ACF; Sabatier 1987 und 1988), auf die Vernehmlassung des Entwurfes der EPDV angewendet. Das Forschungsanliegen dieses Beitrags lässt sich in drei Aspekte gliedern: Erstens enthält die Analyse eine qualitative Beschreibung der verschiedenen Stakeholderrollen während des Vernehmlassungsverfahrens zum EPD. Zweitens liefert die Analyse mittels deskriptiver Statistik und inferenzstatistischer Analysen mit einem Fokus auf logistische Regressionsanalysen einen Vergleich und eine Quantifizierung zum unterschiedlichen Einfluss der Stakeholdergruppen bezüglich verschiedener Themen der E-Health-Gesetzgebung. Drittens werden zentrale Änderungen der Verordnung in Verbindung mit den Kommentaren der Stakeholder diskutiert. Dieser Beitrag beginnt mit Erläuterungen des verwendeten theoretischen Rahmens, woraufhin eine Darstellung des schweizerischen Vernehmlassungsverfahrens für Gesetzesentwürfe allgemein und zur Einführung des EPD in der Schweiz folgt. Nach der Ableitung von Hypothesen erfolgt die Vorstellung des Datensatzes und des empirischen Vorgehens. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse diskutiert und ein Fazit gezogen.

11.2 Theorie und Hypothesen In den folgenden Abschnitten werden die theoretischen Implikationen des ACF behandelt, das schweizerische Gesetzgebungsverfahren präsentiert und der spezifische Fall des EPD diskutiert.

11.2.1 Die Implementation von privaten Interessen in öffentlichen Debatten: Das Advocacy Coalition Framework Einer der berühmtesten Ansätze im Kontext von Politikwandel (Policy Change) ist das ACF von Sabatier (1987, 1988). Sabatier (1988, S. 132) schlägt ein allgemeines Modell für Politikwandel vor. Er argumentiert, dass eine zentrale Prämisse des Frameworks darin besteht, dass die sinnvollste Analyseeinheit zum Verstehen von P ­ olitikwandel nicht spezielle Institutionen sind, sondern vielmehr Policy-Subsysteme, bestehend aus Akteuren aus einer Vielzahl von öffentlichen und privaten O ­ rganisationen, die aktiv mit einem

186

A. Mertes et al.

Problem befasst sind (Sabatier 1988, S. 131). Sabatier (1988, S. 131–132) unterscheidet drei grundsätzliche Prämissen, wobei der Fokus hier auf der zweiten Prämisse, respektive den Policy-Subsystemen, liegt. Akteure bilden innerhalb der Subsysteme, basierend auf ihren Wertvorstellungen (Belief Systems), sogenannte Advocacy-Koalitionen. Sie versuchen diese Vorstellungen in politische Programme der öffentlichen Politik umzusetzen. Im Fall von Uneinigkeit agieren sogenannte Policy Broker als Mediatoren, um Kompromisse zwischen den gegensätzlichen Koalitionen zu finden (Sabatier 1988, S. 133, 142). Sabatier (1988, S. 145) unterscheidet drei verschiedene Belief-Systeme der Advocacy-Koalitionen: erstens den Hauptkern (Deep Core), zweitens den Policy-Kern (Policy Core) und drittens die sekundären Aspekte (Secondary Aspects). Der Hauptkern eines Belief-Systems enthält fundamentale normative und ontologische Axiome. Der Policy-Kern kann als fundamentale Position bezüglich Strategien zur Erreichung der normativen Axiome des Hauptkerns beschrieben werden. Sekundäre Aspekte beziehen sich auf instrumentelle Entscheidungen und Informationssuchen, welche zur Implementierung des Policy-Kerns nötig sind (Sabatier 1988, S. 145).

11.2.2 Das Vernehmlassungsverfahren in der Schweiz: Der Fall des elektronischen Patientendossiers Die Schweiz verfügt im Rahmen ihres Gesetzgebungsverfahrens mit dem Vernehmlassungsverfahren über ein einzigartiges Verfahren, um verschiedene Interessen in die Gesetzgebungen einzubeziehen. Im Rahmen einer Vernehmlassung werden verschiedene Stakeholdergruppen, wie beispielsweise Kantone, Organisationen, Verbände oder weitere Interessengruppen, betreffend Entwürfen von Rechtstexten konsultiert und um ihre Stellungnahmen gebeten. Konkret werden die Stakeholder eingeladen, die Entwürfe zu kommentieren, woraufhin die zuständige Behörde unter Berücksichtigung dieser Stellungnahmen eine überarbeitete Version des Gesetzesentwurfes erstellt (Blaser 2003, S. 13–14 und siehe auch Schweizerische Eidgenossenschaft 2017b). Das Schweizer Vernehmlassungsverfahren ist durch die Bundesverfassung und die Gesetze geregelt. Bis ein neues Gesetz und das dazugehörende Ausführungsrecht in Kraft treten, vergehen meist mehrere Jahre (Leuthold und Bornand 2014, S. 23). Im Falle des EPD vergingen von dem Gesetzgebungsauftrag bis zu dessen Inkrafttreten beinahe sieben Jahre (BAG 2017a). In Abb. 11.1 ist der institutionelle Ablauf eines Vernehmlassungsverfahrens veranschaulicht. Wesentlich verantwortlich für die lange Dauer dieses Prozesses ist der Staatsaufbau. Die Schweiz ist ein föderalistisch aufgebauter Staat mit halbdirekter Demokratie. Dies bedeutet unter anderem, dass der Einbezug von Anspruchsgruppen für den Gesetzgeber zur Konzipierung von mehrheitsfähigen Rechtstexten nicht nur empfehlenswert, sondern zu einem großen Teil auch rechtlich zwingend ist. Nachfolgend werden die in Abb. 11.1 dargestellten Prozessschritte eines Vernehmlassungsverfahrens, mit einem Fokus auf den Einbezug von Stakeholdern sowie dem konkreten Vorgehen bezüglich des EPD, erläutert.

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung … Auslösung und Auftrag

Vorentwurf & erläuternder Bericht

Vernehmlassung

187

Parlamentarische Beratung

Umsetzung

Volksabstimmung

Abb. 11.1   Institutioneller Ablauf des Vernehmlassungsverfahrens. (Quelle: eigene Darstellung (2018), in Anlehnung an Bundesamt für Justiz [BJ] 2018)

Auslösung und Auftrag Neben der gewählten Legislative (National- und Ständerat) und der Exekutiven (­ Bundesrat) können auch nicht staatliche Organisationen, Parteien oder Zusammenschlüsse aus Bürgern und Interessengruppen ihre Anliegen und Probleme als konkrete Aufträge für Rechtsetzungsarbeiten einbringen. Mit institutionalisierten Verfahren, wie beispielsweise der Volksinitiative, sollen Impulse von der gesamten Gesellschaft aufgenommen werden können (BJ 2018, S. 19). Im Falle des EPD beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) bis Ende 2006 ein Konzept für eine nationale E-Health-Strategie auszuarbeiten. Eines der darin beschriebenen Handlungsfelder war das EPD, womit der Grundstein für dessen Einführung in der Schweiz gelegt wurde (BAG 2017b, 2018a). Das zuständige Amt für das EPD ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG; BJ 2018, S. 21–22). Im Anschluss kommt es zum Mitberichtsverfahren, bei welchem die anderen Departemente ebenfalls Stellungnahmen abgeben können. Schlussendlich werden die Unterlagen dem Bundesrat vorgelegt, womit (bei Bewilligung) ein genehmigter Rechtsetzungsauftrag entsteht (BJ 2018, S. 21). Vorentwurf und erläuternder Bericht Der Rechtsetzungsauftrag legitimiert das zuständige Amt, mit der eigentlichen Konzeptphase zu beginnen. Aus dieser resultiert dann die Verfassung eines Vorentwurfes des Erlasses inklusive eines erläuternden Berichts. In der Regel wird dabei auf amts- oder verwaltungsexternen Sachverstand zurückgegriffen und eine Arbeitsgruppe oder Kommission geformt. Bei Gesetzestexten, die wesentliche Interessen der Kantone betreffen, namentlich bei deren Involvierung beim Vollzug, sind die Kantone über eine geeignete Vertretung einzubeziehen (BJ 2018, S. 29–30). Im Falle des EPD geschah dies primär durch den Einbezug der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren. Vernehmlassung Wie bereits erwähnt, stellt die Vernehmlassung das zentrale Verfahren dar, um die Beteiligung der Kantone, der politischen Parteien sowie der – in Abhängigkeit des Sachverhalts – zentralen Interessengruppen an der Meinungsbildung und an Entscheidungsfindungsprozessen des Bundes teilhaben zu lassen. Das Vernehmlassungsverfahren soll Aufschluss über die sachliche Richtigkeit, die Vollzugstauglichkeit und die Akzeptanz

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A. Mertes et al.

des Vorhabens geben. Die Vernehmlassungsunterlagen umfassen die Vernehmlassungsvorlage, den erläuternden Bericht, ein Orientierungsschreiben an die Adressaten sowie die Adressatenliste. Grundsätzlich kann jede Person respektive Organisation eine Stellungnahme einreichen. Aktiv zur Stellungnahme eingeladen werden jedoch die Kantonsregierungen, die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien, die gesamtschweizerischen Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, die gesamtschweizerischen Dachverbände der Wirtschaft sowie die im Einzelfall interessierten, außerparlamentarischen Kommissionen und weitere relevante Interessengruppen. Die erhaltenen Stellungnahmen werden von der zuständigen Behörde zur Kenntnis genommen, gewichtet, ausgewertet und in einem Bericht zusammengefasst. Die Vernehmlassungsunterlagen, die Stellungnahmen sowie der Vernehmlassungsbericht sind der Öffentlichkeit zugänglich. Das zuständige Amt zieht Schlussfolgerungen aus den Vernehmlassungsergebnissen und nimmt allenfalls Anpassungen vor (Schweizerische Eidgenossenschaft 2016a). Nach Verabschiedung der Vorlage durch den Bundesrat werden die Dokumente der Bundesversammlung (bestehend aus National- und Ständerat) zur Beratung zugestellt (BJ 2018, S. 58–59). Parlamentarische Beratung Die parlamentarische Beratung erfolgt in den parlamentarischen Kommissionen sowie in den beiden Kammern der Bundesversammlung, dem National- und Ständerat. Während dieser Beratungsphase hat die Legislative stets die Möglichkeit, Änderungen an den Gesetzestexten vorzunehmen. Das politische Geschäft wird jeweils separat in einer Kammer behandelt und nach Abschluss der anderen Kammer überwiesen (BJ 2018, S. 63). Als letzter Schritt im Gesetzgebungsverfahren und vor dem offiziellen Beginn der Erstellung des Ausführungsrechts, kann ein Erlass mit einem fakultativen Referendum zur Volksabstimmung gebracht werden (BJ 2018, S. 66). Umsetzung Der Umsetzungsprozess ähnelt stark dem generellen Gesetzgebungsverfahren. Er beginnt mit dem Auftrag zum Erlass einer Verordnung (BJ 2018, S. 81). Im Falle des EPD verlangt das Gesetz in verschiedenen Artikeln, dass der Bundesrat Konkretisierungen vornimmt (BJ 2018, S. 86; Schweizerische Eidgenossenschaft 2016a). Das elektronische Patientendossier in der Schweiz Im Jahr 2011 eröffnete der Bundesrat das Vernehmlassungsverfahren zum Entwurf des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG). Das EPDG enthält Bestimmungen zu den Anforderungen für eine sichere Bearbeitung von Daten im elektronischen Patientendossier. Diese umfassen sowohl die technischen (z. B. Infrastrukturkomponenten) als auch die organisatorischen Rahmenbedingungen (z. B. Identifikation der Patienten und der Gesundheitsfachpersonen oder Definition der Zugangsrechte; BAG 2018b). Zur Zielerreichung der gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates werden unter anderem die E-Health-Dienste weiterentwickelt (BAG 2013, S. 5322).

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung …

189

Unter E-Health wird der integrierte Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen verstanden (BAG 2013, S. 5327), welcher zu einer besseren Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen führen soll, was wiederum optimierte Behandlungsprozesse, eine höhere Patientensicherheit sowie Effizienzsteigerungen zur Folge hätte (BAG 2017b). Insbesondere das EPD spielt dabei eine zentrale Rolle. Das EPD bietet die Möglichkeit, behandlungsrelevante Informationen allen an einer Behandlung beteiligten Gesundheitsfachpersonen ort- und zeitunabhängig zugänglich zu machen. Die Patientinnen und Patienten können zudem selber auf ihre Daten zugreifen, Daten hochladen und die damit verbundenen Zugriffsrechte verwalten (BAG 2013, S. 5329). Um dem EPD einen rechtlichen Rahmen zu geben, beauftragte der Bundesrat das EDI im Dezember 2010 mit der Ausarbeitung eines Vorentwurfes des EPDG. Im Juni 2015 verabschiedete die Bundesversammlung die definitive Fassung des Bundesgesetzes (BAG 2017a). Die Referendumsfrist vom 08.10.2015 verstrich ungenutzt. Nach Ausarbeitung des Vorentwurfes zum Ausführungsrecht, welches die EPDV enthält, wurde das dazugehörige Vernehmlassungsverfahren gestartet, welches im Juni 2016 abgeschlossen wurde. Das Gesetz und die Umsetzungsbestimmungen traten schließlich im April 2017 in Kraft (BAG 2017a). Neben der EPDV als Hauptverordnung enthält das Ausführungsrecht zum EPDG zwei weitere Verordnungen, eine mit technischem sowie eine mit finanziellem Fokus. Für die Untersuchung des relativen Einflusses politischer Akteure auf den politischen Gesetzgebungsprozess im Gesundheitsbereich wurde das allgemeine ­Policy-Change-Modell von Sabatier (1988, S. 132) auf den Fall der EPDV angewendet. Das relevante Politikfeld (Policy) ist hierbei die öffentliche Gesundheit im Allgemeinen. Technische Innovationen initiieren die Veränderung (den Policy Change) und führen zur Einführung eines neuen Gesetzes, das durch Verordnungen konkretisiert wird. Die relevanten Akteure sind sämtliche Stakeholdergruppen, welche den Entwurf der Verordnung kommentierten, respektive eine Stellungnahme einreichten, und so einer Gruppe bzw. Koalition zugeteilt werden können. Das BAG fungiert als Policy Broker, welcher für die Kompromissfindung zwischen den verschiedenen Positionen und Anliegen der Koalitionen zuständig ist. Innerhalb des Modells von Sabatier (1988) liegt der Fokus auf den konkurrierenden Advocacy-Koalitionen innerhalb der Policy-Subsysteme. In den nachfolgenden Abschnitten wird E-Health als Policy-Subsystem inklusive der konkurrierenden Advocacy-Koalitionen genauer erklärt und dargestellt.

11.2.3 E-Health als Policy-Subsystem Abb. 11.2 zeigt den Teil des allgemeinen Modells für Policy Change mit Fokus auf konkurrierende Advocacy-Koalitionen, welchen wir auf das Subsystem E-Health anwenden. Die Anwendung des Modells übertragen auf die Fallstudie ist in kursiver Schrift in den Klammern dargestellt.

190

A. Mertes et al. POLICY-SUBSYSTEM [E-Health] Koalition B

Koalition A [Gruppe von Akteuren A, teilnehmend am Vernehmlassungsverfahren] a) Politisches Interesse [Kommentare zum Verordnungsentwurf]

Policy Broker [BAG]

[Gruppe von Akteuren B, teilnehmend am Vernehmlassungsverfahren] a) Politisches Interesse [Kommentare zum Verordnungsentwurf] b) Ressourcen [Einflussmöglichkeit der Koalition]

b) Ressourcen [Einflussmöglichkeit der Koalition]

Strategie A1 betreffend Lenkungsinstrumente

Strategie B1 betreffend Lenkungsinstrumente

[Empfehlung: Änderung/keine Änderung]

[Empfehlung: Änderung/keine Änderung]

Entscheidung durch Souverän [Bundesrat] Staatliche Programme [Entscheidung durch Parlament]

Policy-Output [EPDV ]

Policy-Wirkung [ Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen]

Abb. 11.2   Konkurrierende Advocacy-Koalitionen innerhalb eines Policy-Subsystems. (Quelle: eigene Darstellung von Sabatiers (1988, S. 132) Modell über konkurrierende Advocacy-Koalitionen als Teil des allgemeinen Modells für Policy Change, angewendet auf das Policy-Subsystem E-Health. Die kursiven Textteile in Klammern zeigen die Übertragung der Komponenten des EPD)

Innerhalb des Policy-Subsystems existieren verschiedene Koalitionen mit unterschiedlichen Ansichten und Ressourcen. Übertragen auf die Fallstudie setzten sich die Koalitionen aus sämtlichen Vernehmlassungsteilnehmenden zusammen. Im Gegensatz zu anderen Policy-Subsystemen erlaubt das Vernehmlassungsverfahren eine direkte Messung der verschiedenen Belief-Systeme bezüglich der Gesetzgebung, ausgedrückt durch die Stellungnahmen der verschiedenen Akteure zum Entwurf der EPDV. Den Vernehmlassungsteilnehmern stehen verschiedene Ressourcen zur Verfügung, um Einfluss

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung …

191

im politischen Prozess auszuüben. Im untersuchten Fall sind das die politische Macht der Verbandsvertretungen bzw. politischen Vertretungen oder auch das E ­ rfahrungswissen von Sachverständigen und Expertinnen und Experten. Im Modell von Sabatier (1988, S. 132) wird davon ausgegangen, dass jede Koalition eine Strategie verfolgt, welche – übertragen auf die Fallstudie – mittels der Vorschläge zum Gesetzesentwurf der teilnehmenden Akteure operationalisiert werden kann. Gemäß Sabatier (1988, S. 132) legen sowohl alle Koalitionen als auch der Policy Broker ihre Inputs einem Souverän vor, welcher die Entscheidung des betreffenden Sachverhalts auf Basis dieser Inputs trifft. Übertragen auf die Fallstudie verkörpert der Bundesrat diesen Souverän. Er entscheidet mit seiner Bewilligung zum finalen Gesetzestext, ob das BAG als Policy Broker die verschiedenen Inputs zum bestmöglichen Kompromiss gebündelt hat. Danach wird das überarbeitete Gesetz dem Parlament weitergeleitet, welches mit der Annahme oder Ablehnung des Textes die finale Entscheidung trifft. Das finale, durch das Parlament bewilligte Gesetz stellt schlussendlich den Policy-Output im Modell von Sabatier (1988, S. 132) dar. Der neue, in dieser Fallstudie behandelte Gesetzestext wurde mit dem Ziel erstellt, eine Effizienzsteigerung im gesundheitspolitischen Bereich zu erzielen, was in dem Modell von Sabatier (1988, S. 132) dem Policy Impact entspricht (Abb. 11.2).

11.2.4 Hypothesen Durch die Kombinierung des theoretischen Rahmens des ACF mit dem Fall des Vernehmlassungsverfahrens für die EPDV können folgende Hypothesen abgeleitet werden: H1:  D  ie in das Vernehmlassungsverfahren involvierten Koalitionen haben einen unterschiedlichen Einfluss auf die Gesetzgebung. H2:   Die Kantone und Stakeholder aus Gesundheits-/Sozialverbänden haben einen höheren Einfluss auf die E-Health-Gesetzgebung als andere Gruppen (IT, andere).

11.3 Datensatz und Vorgehensweise In diesem Beitrag wird ein Datensatz, bestehend aus einer quantitativen Codierung der Kommentare zum Entwurf der Einführung des EPD, analysiert. Der Datensatz umfasst insgesamt die Positionen der 137 Stakeholder, welche am Vernehmlassungsverfahren zum EPDV teilgenommen haben. Die Stakeholder weisen einen hohen Grad an Heterogenität auf: Einerseits nahmen mehrere fachbezogene Gruppierungen und Organisationen, wie etwa Organisationen und interessierte Kreise aus dem Gesundheitswesen, am Vernehmlassungsverfahren teil. Konkrete Beispiele hierfür sind Alters- und Pflegeheime, Ärztegesellschaften oder Krankenversicherungen. Andererseits bestehen auch Vernehmlassungsteilnehmende, welche nicht direkt in den Inhalt der Verordnung involviert sind,

192

A. Mertes et al.

aber indirekt Interessen bezüglich spezifischer Teilbereiche des Gesetzestextes verfolgen, wie beispielsweise Datenschützer, politische Parteien oder IT-Unternehmen. Um ein systematisches Vorgehen sicherzustellen, wurden fünf Artikel der Verordnung ausgewählt. Drei davon wurden im Zuge des Vernehmlassungsverfahrens revidiert, zwei blieben unverändert bestehen. Tab. 11.1 enthält die Formulierungen dieser Artikel vor und nach dem Vernehmlassungsverfahren. Die Fallauswahl dieser Artikel erfolgte nach der Anzahl Stakeholder, die sich aktiv am Vernehmlassungsverfahren beteiligt hatten. Da es den Vernehmlassungsteilnehmenden freistand, welche Artikel sie kommentierten, variiert die Anzahl der Kommentare zu den einzelnen Artikeln. Es handelt sich bei den fünf gewählten Artikeln um Inhalte, welche während Workshops und dem Vernehmlassungsverfahren besonders ausführlich diskutiert wurden. Für die Erstellung des Datensatzes wurden sämtliche Kommentare der 137 Vernehmlassungsteilnehmenden als dichotome Variable entweder als „0“ (bei Unterstützung/ Zustimmung mit/zu dem Gesetzestext) oder als „1“ (bei Kritik oder einem Änderungsvorschlag) codiert. Wenn die Formulierung eines Artikels unterstützt wurde und dieser unverändert blieb, wurde das als eine „Übereinstimmung“ gewertet. Analog dazu wurde ein Kommentar als „Übereinstimmung“ gewertet, wenn eine Kritik oder ein Änderungsvorschlag einging und infolgedessen eine Anpassung vorgenommen wurde. Mittels der Einteilung der Stakeholder in verschiedene Kategorien, „Interessengruppen“, wurde eine zusätzliche Variable erstellt: Diese erklärende Variable besteht aus der binären Variable „Anpassung“ und misst, ob Änderungen in der Artikelformulierung infolge des Vernehmlassungsverfahrens vorgenommen wurden oder nicht. Die Artikel 1, 2 und 9 wurden verändert, wohingegen die Artikel 15 und 34 unverändert blieben. Um den relativen Einfluss der Interessengruppen zu untersuchen, wurden logistische Regressionsanalysen berechnet.

11.4 Ergebnisse In den folgenden Abschnitten werden die Resultate der Analyse vorgestellt. Die Ergebnisdiskussion beginnt mit einer Übersicht über die Vorschläge und Änderungen in der Verordnung unter Berücksichtigung sämtlicher Koalitionen, bevor die einzelnen Koalitionen bzw. Gruppen separat analysiert werden.

11.4.1 Übereinstimmung zwischen Vorschlägen und Änderungen In einem ersten Schritt wurden die Vorschläge sämtlicher Koalitionen zu den einzelnen Artikeln den Änderungen separat gegenübergestellt. Durch dieses Vorgehen kann die allgemeine Auswirkung des Vernehmlassungsverfahrens auf Änderungen im Gesetzestext abgeschätzt werden. In Abb. 11.3 ist die prozentuale Übereinstimmung zwischen

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung …

193

Tab. 11.1  Wortlaut der Artikel des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier vor und nach dem Vernehmlassungsverfahren (Auszüge). (Quelle: eigene Darstellung 2018) Wortlaut vor dem Vernehmlassungsverfahren [2015]: Art. 1 Vertraulichkeitsstufen 1Die Patientin oder der Patient kann die Daten des elektronischen Patientendossiers einer der folgenden vier Vertraulichkeitsstufen zuordnen: a) Vertraulichkeitsstufe „nützliche Daten“; b) Vertraulichkeitsstufe „medizinische Daten“; c) Vertraulichkeitsstufe „sensible Daten“; d) Vertraulichkeitsstufe „geheime Daten“ Art. 2 Zugriffsrechte 1Die Patientin oder der Patient kann Gesundheitsfachpersonen und Gruppen von Gesundheitsfachpersonen folgende Zugriffsrechte zuweisen: a) „eingeschränkt“: Zugriff auf die Vertraulichkeitsstufe „nützliche Daten“; b) „normal“: Zugriff auf die Vertraulichkeitsstufen „nützliche Daten“ und „medizinische Daten“; c) „erweitert“: Zugriff auf die Vertraulichkeitsstufen „nützliche Daten“, „medizinische Daten“ und „sensible Daten“ Art. 9 Datenhaltung und Datenübertragung 1 Gemeinschaften müssen sicherstellen, dass: a) die von den Gesundheitsfachpersonen im elektronischen Patientendossier erfassten Daten nach 10 Jahren vernichtet werden

Wortlaut nach dem Vernehmlassungsverfahren [2017]: Art. 1 Vertraulichkeitsstufen Patientin oder der Patient kann die medizinischen Daten des elektronischen Patientendossiers einer der folgenden drei Vertraulichkeitsstufen zuordnen: a) normal zugänglich; b) eingeschränkt zugänglich; c) geheim

1Die

Art. 2 Zugriffsrechte Patientin oder der Patient kann Gesundheitsfachpersonen oder Gruppen von Gesundheitsfachpersonen entweder das Zugriffsrecht auf die Vertraulichkeitsstufe „normal zugänglich“ oder das Zugriffsrecht auf die Vertraulichkeitsstufen „normal zugänglich“ und „eingeschränkt zugänglich“ erteilen

1Die

Art. 10 Datenhaltung und Datenübertragung Gemeinschaften müssen sicherstellen, dass: d) die von den Gesundheitsfachpersonen im elektronischen Patientendossier erfassten medizinischen Daten nach 20 Jahren vernichtet werden

1

Art. 15 Einwilligung Die Stammgemeinschaft hat von der Patientin oder dem Patienten die Einwilligung zur Führung eines elektronischen Patientendossiers einzuholen. Diese muss von der Patientin oder vom Patienten unterzeichnet sein

Art. 16 Einwilligung Die Stammgemeinschaft hat von der Patientin oder dem Patienten die Einwilligung zur Führung eines elektronischen Patientendossiers einzuholen. Diese muss von der Patientin oder vom Patienten unterzeichnet sein

Art. 34 Geltungsdauer Das Zertifikat wird für jeweils drei Jahre ausgestellt

Art. 35 Geltungsdauer Das Zertifikat wird für jeweils drei Jahre ausgestellt

Hinweis: Kursivschreibung zeigt die Artikel, welche trotz des Vernehmlassungsverfahrens unverändert blieben. Die Artikel 9, 15 und 34 des Verordnungsentwurfes wurden nach der Vernehmlassung in 10, 16 und 35 neu nummeriert. Nachfolgend werden der Einfachheit halber stets die Artikelnummern vor dem Vernehmlassungsverfahren genannt

194

A. Mertes et al.

100% 34

25

51 80

72

50% 66

75

49 20 0%

Art. 2 Zugriffsrechte

28

Art. 1 Art. 9 Vertraulichkeitsstufen Datenhaltung und Datenübertragung Übereinstimmung

Art. 15 Einwilligung

Art. 34 Geltungsdauer

keine Übereinstimmung

Abb. 11.3   Prozentuale Übereinstimmung zwischen Vorschlägen und Änderungen der Artikel (EPDV). (Quelle: eigene Darstellung 2018)

Änderungsvorschlägen und tatsächlichen Änderungen in den Artikeln dargestellt, welche zwischen 20 % und 75 % variiert. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen den unveränderten Artikeln und dem hohen Zustimmungsgrad zur Beibehaltung dieser Artikel. Die große Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden befürwortete, dass die Stammgemeinschaft von den Patientinnen und Patienten die schriftliche Einwilligung zur Führung eines EPD einzuholen hat. Eine Stammgemeinschaft ermöglicht die Eröffnung des EPD für Nutzerinnen und Nutzer. Darüber hinaus werden verschiedene administrative Unterstützungsleistungen angeboten. Dies bedeutet auch, dass diese administrative Aufgabe nicht Teil des Aufgabengebietes der Hausärztinnen und Hausärzte ist (Artikel 15 – Einwilligung). Weiter müssen sich Stammgemeinschaften regelmäßig von einem externen Anbieter bezüglich ihres technischen Equipments zertifizieren lassen. Mit wiederkehrenden Zertifizierungen entstehen hohe Kosten. Die Mehrheit der Vernhemlassungsteilnehmenden befürwortete eine Geltungsdauer von drei Jahren für das Zertifikat, was gemäß den Kommentaren in der Vernehmlassung als eine vernünftige Balance zwischen Kosten und Schutz/ Sicherheit angesehen werden kann (Artikel 34 – Geltungsdauer). Die Diskussionen im Zuge der anderen drei Artikel wurden kontroverser geführt. Artikel 1 und 2 behandeln die Vertraulichkeitsstufen für persönliche Daten und die Zugriffsrechte auf diese. Eine Anpassung der Anzahl der Vertraulichkeitsstufen hat einen direkten Einfluss auf die Anzahl von Zugriffsrechten. Der Frage, wie viele Vertraulichkeitsstufen bestehen sollen, wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es herrschte in den Kommentaren Uneinigkeit, ob Patientinnen und Patienten mit den geplanten vier Vertraulichkeitsstufen nicht überfordert seien. Durch eine finale Reduktion auf drei Vertraulichkeitsstufen wurde

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung …

195

ein Kompromiss gefunden und implementiert. Ähnlich kontrovers fiel die Diskussion um die Datenspeicherung medizinischer Gesundheitsdaten aus. Im Entwurf der EPDV wurde eine Dauer der Datenspeicherung von zehn Jahren vorgeschlagen. Viele Stakeholder erachteten diese Dauer jedoch als zu kurz, was zur Verankerung einer doppelt so langen Aufbewahrungsdauer der Daten im finalen Gesetzestext führte. Verglichen mit üblichen Speicherfristen von Benutzerdaten bspw. im Dienstleistungssektor können die vorgeschriebenen 20 Jahre als lang interpretiert werden. Die übliche Aufbewahrungsfrist für Daten in der Schweiz liegt bei zehn Jahren (Schweizerische Eidgenossenschaft 2017a). Ein Beispiel für erhoffte Vorteile einer langen Datenspeicherungsdauer besteht etwa darin, dass nach dem Tod einer Patientin oder eines Patienten relevante medizinische Daten für rechtliche Zwecke ausgewertet werden könnten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die prozentuale Übereinstimmung zwischen Änderungsvorschlägen und tatsächlichen Änderungen stark zwischen den Artikeln variiert.

11.4.2 Koalitionen und Änderungen im Gesetzestext In einem nächsten Schritt wurden die an der Vernehmlassung teilnehmenden Interessengruppen in verschiedene Koalitionen eingeteilt. Folgende Kategorien (Koalitionen) entstanden: „Gesundheits-/Sozialverbände“, „IT“, „Kantone“ und „andere“. Spitäler, Ärztegesellschaften, Berufsverbände und Alten-/Pflegeheime wurden den „Gesundheits-/ Sozialverbänden“ zugeteilt. Unternehmen aus dem Informations- und Kommunikationstechnologiebereich sowie Datenschützer wurden in der Kategorie „IT“ zusammengefasst und sämtliche Schweizer Kantone bilden die Koalition „Kantone“. Die verbleibenden Vernehmlassungsteilnehmenden wurden der Kategorie „andere“ zugeteilt. Eine Voraussetzung für die Existenz von Koalitionen besteht gemäß des ACF darin, dass unterschiedliche Belief-Systeme der Advocacy-Koalitionen vorhanden sind. Tab. 11.2 zeigt die eingeteilten Gruppen bezüglich ihrer erfolgreichen Stellungnahmen im Vernehmlassungsverfahren. Unter „Übereinstimmungswert“ ist die Anzahl erfolgreicher Übereinstimmungen aufgeführt. Da die Artikel 1, 2 und 9 nach der Vernehmlassung abgeändert wurden, waren diejenigen Stakeholder erfolgreich, welche sich für eine Anpassung aussprachen respektive einen Änderungsvorschlag einreichten. Die Artikel 15 und 34 wurden unverändert vom Entwurf in die finale Fassung übernommen. Dementsprechend waren diejenigen Stakeholder erfolgreich, welche sich für eine Beibehaltung dieser Artikel aussprachen respektive keinen Änderungsvorschlag einreichten. Für Artikel 1 gingen insgesamt 38 Änderungsvorschläge ein. Bei Artikel 2 wurde trotz der vergleichsweise geringen Anzahl an Änderungsvorschlägen von 28 eine Anpassung des Artikels vorgenommen. Am meisten Änderungsvorschläge (N = 67) gingen für Artikel 9 ein. Weiter waren 90 Stellungnehmende dafür, Artikel 15 beizubehalten, und 103 Stellungnehmende wünschten bei Artikel 34 keine Veränderung. Tab. 11.2 zeigt die absoluten Übereinstimmungswerte pro Gruppe. Die hell- (für Art. 1, 2 und 9) und dunkelgrauen (für Art. 15 und 34) Zellen heben diejenigen Koalitionen hervor, welche

196

A. Mertes et al.

Tab. 11.2  Übereinstimmungswerte. (Quelle: Eigene Darstellung 2018)

Gruppen Kantone IT Gesundheits-/ Sozialverbände Andere Total

Artikel 1

Artikel 2

Artikel 9

Artikel 15

Artikel 34

Vertraulichkeitsstufen

Zugriffsrechte

Datenhaltung und Datenübertragung

Einwilligung

Geltungsdauer

(Änderung)

(Änderung)

(Änderung)

(keine Änderung)

(keine Änderung)

31.5%

60.7%

31.3%

25.6%

18.4%

(N=12)

(N=17)

(N=21)

(N=23)

(N=19)

31.5%

7.1%

10.4%

26.7%

27.2%

(N=12)

(N=2)

(N=7)

(N=24)

(N=28)

34.2%

28.6%

52.2%

34.4%

40.8%

(N=13)

(N=8)

(N=35)

(N=31)

(N=42)

2.6%

3.6%

6.0%

13.3%

13.6%

(N=1)

(N=1)

(N=4)

(N=12)

(N=14)

N=38

N=28

N=67

N=90

N=103

Hinweis: Fettgedruckte Zahlen zeigen die prozentuale Verteilung in den Spalten und die absoluten Zahlen sind in Klammern dargestellt. Die hell- (für Art. 1, 2 und 9) und dunkelgrauen (für Art. 15 und 34) Zellen heben diejenigen Koalitionen hervor, welche die höchsten Übereinstimmungswerte pro Artikel erzielten.

die höchsten Übereinstimmungswerte pro Artikel erzielten. Die „Gesundheits-/Sozialverbände“ weisen hierfür bei vier der fünf Artikel den höchsten Wert auf. Um ein verlässliches Fazit zum Einfluss der Gruppen des Vernehmlassungsverfahrens ziehen zu können, wurden auch die relativen Übereinstimmungswerte berechnet und in Tab. 11.3 dargestellt. Jede Gruppe wurde auf ihren eigenen Erfolg hin überprüft. Das Verhältnis zwischen allen und den erfolgreichen Kommentaren ist in Tab. 11.3 dargestellt. Die besonders erfolgreichen Gruppen wurden in Tab. 11.3 hell- und dunkelgrau, je nach Artikel, hervorgehoben. Logistische Regressionen wurden berechnet, womit die Gruppen bezüglich ihres Einflusses auf die zu erklärende Variable „Änderung“ (Anpassung des Artikels) getestet werden konnten. Die Gruppe der „Kantone“ sticht in dieser Hinsicht besonders hervor. In den angepassten Artikeln stellen die „Kantone“ durchgehend die erfolgreichste Gruppe dar und die logistische Regression zeigt, dass die „Kantone“ einen signifikanten positiven Einfluss auf die Umformulierung der Artikel 1, 2 und 9 haben. Ein Grund dafür könnte deren enges politisches Verhältnis mit dem BAG sein. Zudem wurden die Kantone frühzeitig über die Entwicklungen des EPD informiert. Eine weitere Erklärung besteht in der teilweise großen Erfahrung, welche die Kantone bezüglich des EPD mitbringen. In einigen Kantonen (z. B. Genf, St. Gallen) wurde das EPD vorgängig getestet, wodurch Praxiserfahrung gesammelt werden konnte.

11  Beteiligung von Stakeholdern in der E-Health-Gesetzgebung …

197

Tab. 11.3  Erfolgsquote. (Quelle: Eigene Darstellung 2018)

Gruppen Kantone IT Gesundheits-/ Sozialverbände Andere Total

Artikel 1

Artikel 2

Artikel 9

Artikel 15

Artikel 34

Vertraulichkeitsstufen

Zugriffsrechte

Datenhaltung und Datenübertragung

Einwilligung

Geltungsdauer

(Änderung)

(Änderung)

(Änderung)

(keine Änderung)

(keine Änderung)

46.2%**

65.4%**

80.8%**

88.5%

88.5%

(N=26)

(N=26)

(N=26)

(N=26)

(N=26)

40%**

6.7%

23.3%

80%

93.3%

(N=30)

(N=30)

(N=30)

(N=30)

(N=30)

19.7%

12.2%

53%

47%**

63.6%*

(N=66)

(N=66)

(N=66)*

(N=66)

(N=66)

6.7%

6.7%

26.7%

80%

93.3%

(N=15)

(N=15)

(N=15)

(N=15)

(N=15)

N=137

N=137

N=137

N=137

N=137

Hinweis: Logistische Regression, *p