Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen : Technologien, Produkte und Dienstleistungen voranbringen [1. Aufl.] 9783658286422, 9783658286439

Im aktuellen Gesundheitsmarkt entstehen vielfältige innovative Produkte und Dienstleistungen, die dazu beitragen, die Qu

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Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen : Technologien, Produkte und Dienstleistungen voranbringen [1. Aufl.]
 9783658286422, 9783658286439

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Innovationsmanagement unter VUKA-Bedingungen: Gesundheit im Fokus von Digitalisierung, Datenanalytik, Diskontinuität und Disruption (Thorsten Knape, Peter Hufnagl, Christoph Rasche)....Pages 1-24
Innovation durch Digitalisierung – Eine Chance für die Restrukturierung von Prozessen im Gesundheitswesen (Andreas Gadatsch)....Pages 25-37
Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-Start-ups (Heiko Block, Mareike Heinzen, Nils von Dellingshausen)....Pages 39-57
Mit Low-End Innovationen die medizinische Versorgung verbessern – Potenziale und Herausforderungen (Ariane Segelitz-Karsten, Nadine Hietschold, Sebastian Gurtner, Ronny Reinhardt)....Pages 59-75
Wertschöpfende Innovationen als Ausweg aus der Kostenfalle im Gesundheitswesen (Waldemar Pelz)....Pages 77-92
Digitale Innovation – Trendwende im deutschen Gesundheitssystem (Kristin Kassel)....Pages 93-109
Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation (Franziska Wilhelm, Martin Kägi)....Pages 111-120
Innovationen im (öffentlichen) Gesundheitssystem: Eine Analyse aus strategischer Perspektive (Anne Maria Busch, Renate Kratochvil, Christina Schweiger)....Pages 121-138
Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche Innovationsentwicklung im Gesundheitswesen (Matthias L. Zuchowski, Frank Kohler)....Pages 139-162
Regulatory Sandboxes – Ein Instrument für digitale Innovationen im Gesundheitssektor (Julia Hagen)....Pages 163-179
Prozessinnovation in der Praxis (Alfred Angerer, Eva Hollenstein)....Pages 181-196
Vom Lean Management zur Reorganisation (Karin Messer-Misak)....Pages 197-211
TWI im Gesundheitswesen – Das System von innen heraus innovieren (Christian M. Thurnes, Patrick Graupp, Gerard Berendsen, Alexandra Thurnes, Dik Versteeg)....Pages 213-238
Das AGAPLESION-Konzept (Claudia Möller)....Pages 239-251
Digitale Transformation in Krankenhäusern: Potenziale und Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses (Eileen Doctor, Christoph Buck, Torsten Eymann)....Pages 253-272
Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung für innovative Organisationsprozesse in der ambulanten Pflege (Lena Marie Wirth, Sabine Daxberger, Miriam Peters, Manfred Hülsken-Giesler)....Pages 273-289
Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als innovativen Ansatz für kommunale psychiatrische Versorgung (Anne Berghöfer, Farideh Carolin Afraz, Carsten Dreher)....Pages 291-320
Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im Innovationsmanagement (Alma Dautovic, Mario A. Pfannstiel)....Pages 321-333
Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im ländlichen Raum (Guntram Fischer)....Pages 335-344
Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und mittelständischen Unternehmen bei Innovationen im Gesundheitssektor (Dagmar Krefting, Peter Hufnagl)....Pages 345-357
Konzepte und Faktoren für Innovation bei Pfizer (Ekaterina Alipiev, Peter Neske, Ralph Lägel)....Pages 359-371
Innovationen an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln: Herausforderungen für Firmen und Verbraucher (Stefanie Bröring, Sukhada Bidkar, Carolin Kamrath)....Pages 373-392
Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin der Zukunft (Martin Holderried, Ansgar Höper, Friederike Holderried)....Pages 393-415
Dynamische Innovationsnetzwerke als Erfolgsfaktor (Matthias Schier, Bianca Heinrich)....Pages 417-436
Zur Parallelität der Vernetzung und zur Nutzung des Innovationspotenzials verknüpfter Daten in Entscheidungsprozessen des Gesundheitswesens (Anisa Idris)....Pages 437-477
Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten innovativen Behandlung am Beispiel des Diabetes mellitus Typ 1 und 2 (Astrid Loßin, Birte Schöpke)....Pages 479-492
Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der Dienstleistungsgestaltung (Marco A. Gardini, Raija Seppälä-Esser)....Pages 493-517
Ein engagierter Begleiter – Potenziale mobiler Erreichbarkeit am Beispiel eines Reha-Klinikverbundes (Angela Bittner-Fesseler, Cindy Grant)....Pages 519-536
Innovationsmanagement für Medizintechnik-Unternehmen in einem VUCA-Umfeld: Innovationssystem & Fallbeispiel (Kurt Gaubinger, Michael Rabl, Susanna Sulzer)....Pages 537-567
Patentbasierte Exploration von Innovationen durch Digitalisierung in der Medizintechnik (Kathi Eilers)....Pages 569-596
Innovation und Imitation – zur Diskussion einer nachhaltigen Implementierung (Jürgen Zerth)....Pages 597-614
Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur anlassinduzierten Pflege (Michael Schneider, Jürgen Besser, Silke Geithner)....Pages 615-632
Eventisierte Zwischenzeiten (Thomas Beer, Julian Hirt, Helma M. Bleses)....Pages 633-651
Einführung humanoider Roboter in eine Demenz-WG – Herangehensweise an eine technische Innovation (Heiko Naß, Jens Lüssem, Hannes Eilers)....Pages 653-665
Digitalisierung im Krankenhaus: Nutzerakzeptanz als Voraussetzung für digitale Innovationen (Tobias Schmidt-Logenthiran, Michael Stephan)....Pages 667-681
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme: von der Datenrepräsentation zur künstlichen Intelligenz (Joachim Steinwendner)....Pages 683-699
Innovativer Einsatz künstlicher Intelligenz bei bildgebenden Verfahren im klinischen Alltag (Johannes Winter)....Pages 701-714
Vermeidung der medizinischen Unterversorgung ländlicher Strukturen durch innovative Ansätze der Telemedizin (Christoph Buck, Eileen Doctor, Torsten Eymann)....Pages 715-737

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Mario A. Pfannstiel Kristin Kassel Christoph Rasche Hrsg.

Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen Technologien, Produkte und Dienstleistungen voranbringen

Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen

Mario A. Pfannstiel  •  Kristin Kassel Christoph Rasche Hrsg.

Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen Technologien, Produkte und Dienstleistungen voranbringen

Hrsg. Mario A. Pfannstiel Neu-Ulm, Deutschland

Kristin Kassel München, Deutschland

Christoph Rasche Potsdam, Deutschland

ISBN 978-3-658-28642-2    ISBN 978-3-658-28643-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Innovationen begegnen uns in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft und gelten als zentraler Faktor und Indikator für Erfolg, Zukunftsfähigkeit und ökonomische Prosperität. Befeuert wird die stetige Entwicklung neuer Produkte, Dienstleistungen, Methoden und Modelle durch VUCA-Konstellationen in Gestalt volatiler, unsicherer, komplexer und ambiguitärer Planungsumwelten. Damit assoziiert sind der demografische Wandel, der zunehmende Fachkräftemangel, die Verknappung von Rohstoffen, gesellschaftliche und politische Unruhen, aber auch der Klimawandel. Innovationen kommen selten aus dem Nichts, sondern können mittels eines geeigneten Innovationsmanagements gezielt herbeigeführt und gesteuert werden. Dabei haben sich klassische, prozessorientierte Ansätze für die Entwicklung von Innovationen bereits bewährt. Jedoch finden auch neue, netzwerk- und kooperationsbasierte Ansätze zunehmend ihren Weg in Unternehmen, die durch neuartige Methoden ihre Innovationsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit ausbauen. Abgesehen von unternehmensinternen Maßnahmen kann die Entwicklung von Innovationen auch durch staatliche Eingriffe, wie politische Strategien, Fördermittel, aber auch durch die Gesetzgebung sowohl positiv als auch negativ beeinflusst werden. Hierbei handelt es sich um eine gelenkte Industrie- und Innovationspolitik, die auf der Makroebene die Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit zum Gegenstand hat. Zu denken ist hierbei insbesondere an den innovatorischen Aufstieg Chinas, der sich zum Teil durch langfristige Technologie-, Wissenschafts- und Forschungsagenden erklären lässt. Besonders im Gesundheitswesen treffen Innovationen und Innovationspotenziale auf einen hoch regulierten Markt, auf dem verhaltens- und bewertungsunsichere Vertrauensgüter angeboten und nachgefragt werden. Innovationen im Bereich des Gesundheitswesens sollen die Gesundheitsversorgung nachhaltig verbessern, aber gleichzeitig den Kostendruck innerhalb des häufig unterfinanzierten Systems senken. Neuentwicklungen, die dieses Spannungsverhältnis zu adressieren und aufzulösen versuchen, also eine bessere Gesundheitsversorgung mit geringeren Kosten garantieren, lassen sich auch als Geschäftsmodellinnovationen interpretieren. Die Verbesserung der medizinischen Versorgung in Form einer Outcome-Innovation mit einhergehender Kostensteigerung wird nur bei einem deutlichen Nutzenvorsprung toleriert. Eine Verschlechterung der Versorgung wird d­ agegen V

VI

Vorwort

trotz möglicher massiver Kosteneinsparungen durch kaum einen der zahlreichen Stakeholder des Gesundheitsmarktes akzeptiert. Jedoch darf für die Zukunft erwartet werden, dass sich im Gesundheitswesen kosteninduzierte No-Frills-Innovationen durchsetzen, die z. B. auf eine entschlackte Basisversorgung bei radikal niedrigen Kosten abzielen. Innovationen können auf medizinischen, strukturellen oder prozessbezogenen Ebenen der Gesundheitsversorgung wirken. Zwischen den einzelnen Ebenen bestehen direkte oder indirekte Wirkungsbeziehungen, wobei der Patient jedoch zu jeder Zeit im Zentrum des Handelns stehen muss. Medizinische Innovationen, wie beispielsweise neuartige Pharmazeutika oder Behandlungsmethoden, wirken unmittelbar auf den Patienten. Prozessbezogene oder strukturelle Innovationen stehen in unmittelbarer Verbindung mit der leistungsausführenden Organisation und wirken somit indirekt auf die Patientenversorgung. Dazu können unter anderem neue Organisationsformen, die Einführung intelligenter Informationssysteme oder Etablierung neuer standardisierter Prozessstrukturen gezählt werden. Viele Unternehmen im Gesundheitsmarkt sind dem Imperativ der Rationalisierung, der Rationierung und der Priorisierung bei der Ausschöpfung der Ressourcen und bei der medizinisch-pflegerischen Wertschöpfung unterworfen. Demzufolge spielt sich das Innovationsmanagement im Spannungsfeld dieser ökonomischen Sachzwänge ab, die gleichsam eine Leitplankenfunktion für die Leistungs- und Wertschöpfungsplanung ­haben. Zum Einsatz und zur Einbindung von Innovationen müssen Innovationshürden überwunden und bestehende Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen ein effektives Innovationsmanagement bestehen kann (siehe Abb. 1). Spannungsfelder im

Gesundheitsmarkt

Mehrdeutigkeit

Menschen

Unbeständigkeit

Dienstleistungen

Produkte

Innovationen und Innovationsmanagement Prozesse

Technologien

Komplexität

Unsicherheit Rationalisierung

Rationierung

Priorisierung

Abb. 1  Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

Vorwort

VII

Innovationsmanagement bergen die Gefahr, dass festgelegte Unternehmensziele nicht erreicht werden, daher sind Spannungsfelder auszuschalten. Zu berücksichtigen ist, dass die Inhalte der Beiträge in diesem Buch sich häufig nicht eindeutig auf einen Themenbereich beschränken lassen, sondern auch Überlappungen zu einem oder zu mehreren anderen Themenbereichen vorliegen können. Zu den vier Themenbereichen des Buches zählen folgende Themen: Thema 1: Ansätze und Methoden im Innovationsmanagement; Thema 2: Netzwerke und Systeme im Innovationsmanagement; Thema 3: Prozesse und Vorgehensweisen im Innovationsmanagement; Thema 4: Beispiele und Lösungen im Innovationsmanagement. In den nachfolgenden Textabschnitten wird auf die einzelnen Themen Bezug genommen. Die Beiträge dieses Buches, die sich mit dem jeweiligen Themenbereich beschäftigen, werden in der Kuppel des Heißluftballons mit der Beitragsnummer zusammentragen (siehe Abb. 2, 3, 4 und 5). Stichpunktartig wird das inhaltliche Spektrum der Beiträge aufgezeigt. In diesem Buch ist jedem Beitrag eine Zusammenfassung vorangestellt, um detailliert Bezug zum Beitragsinhalt zu nehmen. Thema 1: Ansätze und Methoden im Innovationsmanagement Von der Idee bis zur Umsetzung einer Innovation am Markt ist ein langer Weg zu beschreiten, der von vielfältigen Innovationsbarrieren gekennzeichnet ist. Damit der komplexe Innovationsprozess erfolgreich durchlaufen wird, müssen etablierte Ansätze, aber auch neue Methoden des Innovationsmanagements zum Einsatz kommen. Die Innovationsfähigkeit muss durch Individuen gegeben sein, damit Innovationen ausgelöst werden können. Führungskräfte, die Ansätze und Methoden einsetzen und anwenden möchten, müssen über das notwendige Wissen und Innovationsverständnis verfügen. Zur Erfassung der Innovationsmaturität können Reifegradmodelle dienen, mit denen sich die Qualität

Themenbereich: Ansätze/Methoden im IM B16

• Besonderheiten und Herausforderungen von Innovationen • Innovationsansätze und Innovationsverständnis

B11

B3

B26

• Klassifikation von Innovationen, Innovationsfähigkeit • Schlüsselkompetenzen innovativer Führungskräfte

B24

B10

B8

B7

B9 B30

• Methoden der Generierung und Analyse von Innovationen • Reifegradmodell, Innovationsmaturität und -entwicklung • Notwendigkeit, Umsetzung und Wirkungen von Innovationen

Abb. 2  Themenbereich 1. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

B14

B27

B5

B33

B13

Beiträge

B1

B4

B12

B19

VIII

Vorwort

Themenbereich: Netzwerke/Systeme im IM • Bedingungen für Innovationen, Innovationsoptionen • Innovationen und -management von Systemen • Innovative Unternehmen, Digitalisierung und Disruption • Innovationsdiffusion, Innovationsdruck und Barrieren

B32 B29

B19

B1

B38

B8

B14

B20 B25

B33

B18

B22 B27

B24

B2

B17

B21

B30 B23

B37

• Geschäftsmodellinnovationen und Innovation Hub • Innovative Versorgungszentren, -verbünde und Netzwerke • Innovative Konzepte der Versorgung, Vernetzung

Beiträge

Abb. 3  Themenbereich 2. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

von Innovationsprozessen beurteilen lässt. Mit der Erhöhung des Reifegrades wird eine Verbesserung der Innovation angestrebt. Jede höhere Reifegradstufe setzt die Anforderungen der vorhergehenden Stufe voraus. Abb. 2 gibt einen Überblick zum Inhaltsspektrum der Beiträge zum Thema 1. Thema 2: Netzwerke und Systeme im Innovationsmanagement Innovationen entstehen durch die Menschen, die in Systemen, Netzwerken und Unternehmen interagieren. Menschen bringen nicht nur Innovationen hervor, sie können ganze Systeme, Netzwerke und Unternehmen beeinflussen, nachhaltig verändern und durch neuartige Innovationen voranbringen. Die schnelle Umsetzung einer Innovation hängt von den Innovationsvorgaben und den zur Verfügung stehenden finanziellen, organisatorischen, räumlichen und personellen Ressourcen und der Machbarkeit ab, die oft zu erfolgskritischen Flaschenhälsen avancieren. In Innovationslaboren können z. B. digitale Lösungen von Mixed Teams getestet und ausprobiert werden. Auswirkungen und Wechselwirkungen können erfasst und Innovationsoptionen können aufgezeigt werden. Die Politik kann hier einen Beitrag leisten, indem eine Anschubfinanzierung ermöglicht wird, Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und Experten eingebunden werden. Abb. 3 gibt einen Überblick zum Inhaltsspektrum der Beiträge zum Thema 2. Thema 3: Prozesse und Vorgehensweisen im Innovationsmanagement Das Innovationsmanagement in der Gesundheitswirtschaft erfolgt nach logischen und systematischen Denkansätzen, die sich in Form eines Prozessablaufs darstellen lassen. Mit den Ablaufschritten im Prozess können unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Zu den Schritten im Innovationsprozess gehören z. B. die Definition der Innovationsziele im Rahmen einer Innovationsstrategie, die Problemanalyse, die Ideensammlung und -bewertung,

Vorwort

IX

Themenbereich: Prozesse/Vorgehensweisen im IM • Initiierung von Innovationsprojekten, Kommunikation • Innovative Organisationsprozesse, Implementierung • Innovationspotenziale, Einfluss- und Erfolgsfaktoren • Geschäfts-, Versorgungs- und Behandlungsprozesse

B24 B12 B26 B14 B19 B2

B22

B15

B11 B35

B17

B32

B16

B9

B10 B13

B33

B27

B30 B23

• Prozessinnovationen und Lean Management • Restrukturierung und -organisation von Prozessen • Bewertung von Innovationen, Datenschutz und -sicherheit

Beiträge

Abb. 4  Themenbereich 3. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

Themenbereich: Beispiele/Lösungen im IM • Digitale und technologische Innovationen im Markt • Beispiele für innovative Produkte und Dienstleistungen • Low-End- und High-End-Innovationen, Patente • Adoption, Akzeptanz und Nutzen von Innovationen

B10 B20 B19 B34 B4 B9 B37 B29 B36 B26 B15 B13 B22 B32 B8 B2 B6 B27 B11 B35 B24 B21 B30 B38 B18 B23 B5 B31 B7 B33 B3

• Förderung und Unterstützung von Innovationen • Innovative Digital-Health-Start-ups und Erlösmodelle • Erfolge von Innovationen und Handlungsempfehlungen

Beiträge

Abb. 5  Themenbereich 4. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

die Konzepterstellung und die Umsetzung. Es gibt keine allgemeingültige Vorgehensweise im Sinne eines Blueprint der Innovation im Gesundheitswesen, weil dieses extrem komplex und facettenreich ist. Je nach Anwendungsbereich und Einsatzgebiet müssen eine zielführende Planung, Ausrichtung, Realisation und Überwachung im Projektmanagement erfolgen. Das Innovationsmanagement trägt zur Erfolgssicherung und zur stetigen Verbesserung bei. Abb. 4 gibt einen Überblick zum Inhaltsspektrum der Beiträge zum Thema 3. Thema 4: Beispiele und Lösungen im Innovationsmanagement Die Digitalisierung im Gesundheitsmarkt verändert das Innovationsmanagement bisweilen radikal und disruptiv, wenn z.  B. mit neuen Innovationsparadigmen wie SCRUM,

X

Vorwort

a­ giler Planung oder dem Design Thinking experimentiert wird. Die Digitalisierung steigert die Innovationsbereitschaft und beschleunigt den Markteintritt von Produkten und Dienstleistungen. Es werden Risiken z. B. durch schnellere Sicherheitsroutinen minimiert. Durch die veränderten Bedingungen im Rahmen der Organisation werden neuartige HighEnd-­Innovationen hervorgebracht. Low-End-Innovationen fokussieren bestimmte Zielgruppen und beinhalten ein maßgeschneidertes Leistungsportfolio. Genau wie mit HighEnd-­ Innovationen können auch mit Low-End-Innovationen neue Märkte besetzt und eingenommen werden. Durch innovative digitale Geschäftsmodelle wird ein Mehrwert für Kunden kreiert und die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens gesteigert. Abb. 5 gibt einen Überblick zum Inhaltsspektrum der Beiträge zum Thema 4. Die Beiträge der einzelnen Autoren in diesem Buch sind wie folgt zusammengestellt: Zusammenfassung, Gliederung, Anschrift, Einleitung, Hauptteil, Schluss, Literaturverzeichnis und Autorenbiografie. Die Ausführungen und Erkenntnisse der Beiträge werden von jedem Autor in einer Schlussbetrachtung am Beitragsende zusammengefasst. Wir möchten uns bei den zahlreichen Autorinnen und Autoren bedanken, die viele aktuelle und spannende Themen aus Praxis und Wissenschaft in den Band eingebracht haben. Weiterhin möchten wir uns ganz herzlich an dieser Stelle bei Frau Sowndarya Sriraman bedanken, die uns bei der Erstellung des Buches sehr mit ihren Ideen zum Layout unterstützt hat. Neu-UlmMario A. Pfannstiel  2019 Kristin Kassel Juli  Christoph Rasche

Inhaltsverzeichnis

1 Innovationsmanagement unter VUKA-­Bedingungen: Gesundheit im Fokus von Digitalisierung, Datenanalytik, Diskontinuität und Disruption ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������  1 Thorsten Knape, Peter Hufnagl und Christoph Rasche 2 Innovation durch Digitalisierung – Eine Chance für die Restrukturierung von Prozessen im Gesundheitswesen������������������������������������ 25 Andreas Gadatsch 3 Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative DigitalHealth-­Start-ups���������������������������������������������������������������������������������������������������� 39 Heiko Block, Mareike Heinzen und Nils von Dellingshausen 4 Mit Low-End Innovationen die medizinische Versorgung verbessern – Potenziale und Herausforderungen������������������������������������������������������������������ 59 Ariane Segelitz-Karsten, Nadine Hietschold, Sebastian Gurtner und Ronny Reinhardt 5 Wertschöpfende Innovationen als Ausweg aus der Kostenfalle im Gesundheitswesen�������������������������������������������������������������������������������������������������� 77 Waldemar Pelz 6 Digitale Innovation – Trendwende im deutschen Gesundheitssystem�������������� 93 Kristin Kassel 7 Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation���������������������������������� 111 Franziska Wilhelm und Martin Kägi 8 Innovationen im (öffentlichen) Gesundheitssystem: Eine Analyse aus strategischer Perspektive������������������������������������������������������������������������������������ 121 Anne Maria Busch, Renate Kratochvil und Christina Schweiger 9 Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche Innovationsentwicklung im Gesundheitswesen������������������������������������������������ 139 Matthias L. Zuchowski und Frank Kohler XI

XII

Inhaltsverzeichnis

10 Regulatory Sandboxes – Ein Instrument für digitale Innovationen im Gesundheitssektor������������������������������������������������������������������������������������������������ 163 Julia Hagen 11 Prozessinnovation in der Praxis�������������������������������������������������������������������������� 181 Alfred Angerer und Eva Hollenstein 12 Vom Lean Management zur Reorganisation���������������������������������������������������� 197 Karin Messer-Misak 13 TWI im Gesundheitswesen – Das System von innen heraus innovieren�������� 213 Christian M. Thurnes, Patrick Graupp, Gerard Berendsen, Alexandra Thurnes und Dik Versteeg 14 Das AGAPLESION-Konzept������������������������������������������������������������������������������ 239 Claudia Möller 15 Digitale Transformation in Krankenhäusern: Potenziale und Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses ������������������������������ 253 Eileen Doctor, Christoph Buck und Torsten Eymann 16 Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung für innovative Organisationsprozesse in der ambulanten Pflege������������������������������������������������������������������������������������������������ 273 Lena Marie Wirth, Sabine Daxberger, Miriam Peters und Manfred Hülsken-Giesler 17 Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als innovativen Ansatz für kommunale psychiatrische Versorgung������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 291 Anne Berghöfer, Farideh Carolin Afraz und Carsten Dreher 18 Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im Innovationsmanagement ������������������������������������������������������������������������������������ 321 Alma Dautovic und Mario A. Pfannstiel 19 Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im ländlichen Raum�������������������������������������������������������������� 335 Guntram Fischer 20 Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und mittelständischen Unternehmen bei Innovationen im Gesundheitssektor������� 345 Dagmar Krefting und Peter Hufnagl 21 Konzepte und Faktoren für Innovation bei Pfizer�������������������������������������������� 359 Ekaterina Alipiev, Peter Neske und Ralph Lägel

Inhaltsverzeichnis

XIII

22 Innovationen an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln: Herausforderungen für Firmen und Verbraucher�������������������������������������������� 373 Stefanie Bröring, Sukhada Bidkar und Carolin Kamrath 23 Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifendpersonalisierte Medizin der Zukunft ���������������������������������������������������������������� 393 Martin Holderried, Ansgar Höper und Friederike Holderried 24 Dynamische Innovationsnetzwerke als Erfolgsfaktor�������������������������������������� 417 Matthias Schier und Bianca Heinrich 25 Zur Parallelität der Vernetzung und zur Nutzung des Innovationspotenzials verknüpfter Daten in Entscheidungsprozessen des Gesundheitswesens���������������������������������������������������������������������������������������� 437 Anisa Idris 26 Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten innovativen Behandlung am Beispiel des Diabetes mellitus Typ 1 und 2 ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 479 Astrid Loßin und Birte Schöpke 27 Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der Dienstleistungsgestaltung ������������������������������������������������������������ 493 Marco A. Gardini und Raija Seppälä-Esser 28 Ein engagierter Begleiter – Potenziale mobiler Erreichbarkeit am Beispiel eines Reha-Klinikverbundes ���������������������������������������������������������������� 519 Angela Bittner-Fesseler und Cindy Grant 29 Innovationsmanagement für Medizintechnik-Unternehmen in einem VUCA-Umfeld: Innovationssystem & Fallbeispiel�������������������������������������������� 537 Kurt Gaubinger, Michael Rabl und Susanna Sulzer 30 Patentbasierte Exploration von Innovationen durch Digitalisierung in der Medizintechnik���������������������������������������������������������������������������������������������� 569 Kathi Eilers 31 Innovation und Imitation – zur Diskussion einer nachhaltigen Implementierung�������������������������������������������������������������������������������������������������� 597 Jürgen Zerth 32 Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur anlassinduzierten Pflege ������������������������������������������������������������������������������ 615 Michael Schneider, Jürgen Besser und Silke Geithner 33 Eventisierte Zwischenzeiten�������������������������������������������������������������������������������� 633 Thomas Beer, Julian Hirt und Helma M. Bleses

XIV

Inhaltsverzeichnis

34 Einführung humanoider Roboter in eine Demenz-WG – Herangehensweise an eine technische Innovation�������������������������������������������� 653 Heiko Naß, Jens Lüssem und Hannes Eilers 35 Digitalisierung im Krankenhaus: Nutzerakzeptanz als Voraussetzung für digitale Innovationen ������������������������������������������������������������������������������������ 667 Tobias Schmidt-Logenthiran und Michael Stephan 36 Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme: von der Datenrepräsentation zur künstlichen Intelligenz���������������������������������������������� 683 Joachim Steinwendner 37 Innovativer Einsatz künstlicher Intelligenz bei bildgebenden Verfahren im klinischen Alltag��������������������������������������������������������������������������������������������� 701 Johannes Winter 38 Vermeidung der medizinischen Unterversorgung ländlicher Strukturen durch innovative Ansätze der Telemedizin�������������������������������������������������������� 715 Christoph Buck, Eileen Doctor und Torsten Eymann

Über die Herausgeber

Prof. Dr. Mario A. Pfannstiel  ist Professor für Betriebswirtschaftslehre im Gesundheitswesen – insbesondere innovative Dienstleistungen und Services an der Hochschule NeuUlm. Er besitzt ein Diplom der Fachhochschule Nordhausen im Bereich „Sozialmanagement“ mit dem Vertiefungsfach „Finanzmanagement“, einen M.Sc.-Abschluss der Dresden International University in Patientenmanagement und einen M.A.-Abschluss der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität Witten/Herdecke im Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Die Promotion erfolgte an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und dem Lehrstuhl für Management, Professional Services und Sportökonomie der Universität Potsdam. An der Universität Bayreuth war er beschäftigt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strategisches Management und Organisation im Drittmittelprojekt „Service4Health“. Im Herzzentrum Leipzig arbeitete er als Referent des Ärztlichen Direktors. Seine Forschungsarbeit umfasst zahlreiche Beiträge, Zeitschriften und Bücher zum Management in der Gesundheitswirtschaft. Kristin Kassel  studiert seit Oktober 2017 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Master Gesundheitsmanagement und Gesundheitsökonomie. Während ihres Bachelorstudiums war sie als studentische Hilfskraft am Kompetenzzentrum „Vernetzte Gesundheit“ und der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm tätig und kam initial mit gesundheitsökonomischen Fragestellungen und Themenbereichen in Kontakt. Seit dem Beginn ihres Masterstudiums liegen ihre Forschungsinteressen auf den Thematiken Value Based Healthcare und Marketing, der evidenzbasierten Analyse und Bewertung von Geschäfts- und Behandlungsprozessen sowie der Einwirkung von Digitalisierung und Innovation auf Unternehmen des Gesundheitsmarktes. Univ.-Prof. Dr. rer. pol. habil. (Bayreuth) Christoph Rasche,  Jahrgang 1965 in Münster ist Leiter der Sektion „Professional Services“ an der Universität Potsdam. Zugleich war er mehrere Jahre geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sportwissenschaft und fungiert als Professor für Sport- und Gesundheitsmanagement. Professor Rasche besitzt eine Doppelmitgliedschaft in der Humanwissenschaftlichen und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Von 1995–1998 war Prof. Rasche Top-Management-Berater bei der Unternehmerberatung DROEGE & Comp. XV

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Über die Herausgeber

AG.  Er übt(e) u.  a. Gastprofessuren an die Universitäten Innsbruck, Acalá de Henares (Madrid), Jena sowie der Hochschule Osnabrück im Rahmen der MBA-Ausbildung aus. Prof. Rasche wirkt als Unternehmensberater und Executive Trainer zur Stimulierung des Diskurses zwischen Wissenschaft und Praxis. Seine Forschungs- und Beratungsschwerpunkte beinhalten folgende Themenfelder: Multifokales Management, Corporate Restructuring, Professional Services sowie Sport- und Gesundheitsmanagement. Die Dissertation erfolgte zum Thema „Wettbewerbsvorteile durch Kernkompetenzen“; der Titel Habilitationsschrift lautet „Multifokales Management“. Schwerpunktmäßig beschäftigt sich Professor Rasche in der Forschung und Beratung mit dem Wertsteigerungs- und Produktivitätsmanagement in der Gesundheitswirtschaft. Seit 2017 ist Professor Rasche Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Instituts für Beratungswissenschaften.

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Innovationsmanagement unter VUKA-­ Bedingungen: Gesundheit im Fokus von Digitalisierung, Datenanalytik, Diskontinuität und Disruption Thorsten Knape, Peter Hufnagl und Christoph Rasche

Inhaltsverzeichnis 1.1  V  UKA-Bedingungen im Gesundheitswesen  1.2  Innovationsoptionen im Gesundheitswesen  1.3  4-D-Management der Innovation  1.3.1  Digitalisierung im Gesundheitswesen  1.3.2  Datenanalytik im Gesundheitswesen  1.3.3  Diskontinuitäten im Gesundheitswesen  1.3.4  Disruption im Gesundheitswesen  1.3.5  Funktionen von Geschäftsmodellinnovationen im Gesundheitswesen  1.4  Innovationsmorphologie der Gesundheitsgeschäftsmodelle  1.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf den Erkenntnissen des Forschungsprojektes „AID: MenschTechnik-Inter-Aktion zur Individualisierten Depressionsbehandlung und -verhinderung“, das im Verbund von Charité, Universität Potsdam und Industrie-Partnern (u. a. metaSysX, Aurora Health/Moodpath) mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ge­fördert wurde (Förderkennzeichen 16 SV 7879, https://www.technik-zum-menschen-bringen.de/projekte/aid).

T. Knape (*) · C. Rasche Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] P. Hufnagl Charité – Universitätsmedizin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_1

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T. Knape et al. Zusammenfassung

Das Gesundheitswesen steht vermutlich vor tektonischen Verschiebungen aufgrund sich abzeichnender VUKA-Bedingungen, die für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität stehen. Viele Gesundheitsinstitutionen unterliegen erheblichen ­Pfadabhängigkeiten, wodurch Transformationsprozesse erschwert werden. Die vier D Digitalisierung, Datenanalytik, Disruption und Diskontinuität sollten als Weckruf verstanden werden, um durch ein strategisches Innovationsmanagement substanzielle Wettbewerbsvorteile aufzubauen. In kaum einer anderen Branche ist der technisch-­ naturwissenschaftliche Fortschritt derart rasant wie im Gesundheitswesen, das nicht nur von einer enormen Informations- und Wissensdichte gekennzeichnet ist, sondern auch zunehmend in das Visier aggressiver Neueinsteiger rückt. Diese versuchen – vergleichbar mit den FinTechs im Bankensektor – über Geschäftsmodellinnovationen die Grundlogik und Identität des Gesundheitswesens auf den Prüfstand zu stellen. Für die arrivierten Anbieter impliziert dies Transformation durch Innovation, um nicht lediglich die Erfolgsrezepte der Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Entsprechendes kann im Anwendungsbereich „Digital Mental Health“ beobachtet werden, in dem vor allem Start-ups mit mobilen Applikationen als digitale Begleiter für Patienten und Therapeuten auf den Gesundheitsmarkt drängen.

1.1

VUKA-Bedingungen im Gesundheitswesen

Lange Zeit stand das Gesundheitswesen unter dem Diktat eines rigiden Ordnungsrahmens, der im ambulanten und stationären Sektor auf Preise, Mengen, Qualitäten oder die Distributionsdichte Einfluss nimmt. Zu denken ist nur an planwirtschaftliche Steuerungsmechanismen wie den Krankenhausbettenplan oder die Allokationsfunktion der Kassenärztlichen Vereinigung. Steht Unternehmen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen das Toolarsenal des Marketingmix nahezu unbegrenzt zur Verfügung, so unterliegt der Gesundheitsmarkt einem vergleichsweise regulativen Rahmenwerk, das von Macht, Politik und Institutionenreziprozitäten geprägt ist (Rasche et al. 2019). Einhergehend mit der Digitalisierung entstehen aber auch im Gesundheitswesen zunehmend VUKA-­Bedingungen, wie sie sonst in hyperkompetitiven Branchen existieren (Rasche et  al. 2018). Das viel zitierte Akronym VUKA steht dabei für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität sowie Ambiguität (vgl. Bennett und Lemoine 2014; Mack und Khare 2016) und soll nachfolgend auf das Gesundheitswesen projiziert werden (Rasche 2017; Rasche et al. 2017). (a) Volatilität: Hiermit ist das Spektrum diskontinuierlicher Ereignisse gemeint, die bis hin zur Emergenz disruptiver Geschäftsmodelle und einer pfadbrechenden Zerstörung des Status quo im Gesundheitswesen reichen können. Vergleichbar mit den FinTechs und LegalTechs im Finanz- und Rechtssektor entstehen zunehmend HealthTechs

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(Tiberius und Rasche 2017), die aus der Synthese von Großdatenmanagement und patientenzentrierten Therapieformen Kapital zu schlagen versuchen. Für die arrivierten Spieler bedeutet dies, dass ihre etablierten Geschäftsmodelle potenziell entwertet oder doch zumindest um Leistungsfelder arrondiert werden, die sich bisher außerhalb ihres strategischen Radars bewegten. Neben der Digitalisierung entsteht Volatilität durch Marktliberalisierung, Globalisierung und den technisch-therapeutischen Fortschritt, der große und unstete Ereignisamplituden zur Planungskonstante werden lässt. Für flexible Anbieter jedoch bieten volatile Bedingungen die Chance zur Profilierung, weil die Wettbewerbsspielregeln neu definiert werden. Nicht umsonst schätzen risikofreudige Investoren volatile Umweltbedingungen  – bieten diese doch eher die Chance zum Aufbau substanzieller Wettbewerbsvorteile als Zustände relativer Stasis und Planungssicherheit (Rasche 2002). (b) Unsicherheit: Viele der bekannten Gesundheitsanbieter werden ihre Planungen und Prognosen trotz verbesserter Datenzugänge unter großer Unsicherheit durchführen können, weil in vielen Bereichen die Volatilität stark zugenommen hat. So wird künftig eine Kernkompetenz darin bestehen, unter Unsicherheit zu managen, anstatt diese vollständig zu beseitigen. Die PESTEL-Analyse (PESTEL: Political, Economic, Social, Technological, Ecological, Legal; vgl. Schallmo 2013, S. 35) im Gesundheitssektor zeigt, dass entlang von Politik, Ökonomie, Sozialsystemen, Technologie, Ökologie und Recht die Unsicherheit im Gesundheitswesen eher zu- als abnehmen wird (Rasche 2014). Zu denken ist hierbei nur an den demografischen Wandel oder eine Verschiebung innerhalb der Werteinventare, wie sich am Beispiel der Generationen Y und Z zeigt. Auch stellt sich die Frage, ob sich künstlich-intelligente Medbots von rudimentären Assistenzsystemen zu autark urteilsfähigen Diagnose- und Therapiesystemen entwickeln werden. Zudem bleibt abzuwarten, inwiefern einhergehend mit der Akademisierung nichtmedizinischer Professionen ärztliche Tätigkeiten an andere hinreichend qualifizierte Berufsgruppen delegiert werden können. Insbesondere Innovationen erzeugen Unsicherheit, wenn durch diese Substitutions- und Verdrängungseffekte entstehen. Wenn im Kontext medizinischer Leistungen oft von Vertrauensgütern gesprochen wird, dann implizieren diese immer auch eine hohe Verhaltens- und Bewertungsunsicherheit. Diese Form der objektiven oder gefühlten Unsicherheit verlangt nach geeigneten Instrumenten zur Reduktion transaktionshemmender Informationsasymmetrien, damit sich funktionierende Gesundheitsmärkte entfalten. (c) Komplexität: Komplexität entsteht im Gesundheitswesen durch Spezialisierung, Aufgabenvielfalt, Arbeitsverdichtung und die große Vielfalt der unter hohem Zeitdruck zu harmonisierenden Zielfunktionen. Der rasante technisch-medizinische Fortschritt korrespondiert mit Digitalisierungs- und Globalisierungsimperativen sowie der Notwendigkeit, das arrivierte Kerngeschäft um neue Geschäftsmodelle, Zielgruppen und Problemlösungen zu arrondieren. Die Variantenvielfalt in der Güterproduktion entspricht im Gesundheitswesen der Technologie-, Therapie- und Themenhypertrophie, die bisweilen ein Höchstmaß an Komplexität erzeugt. Als Maßnahmen der Komplexitätsreduktion dienen deshalb in der Medizingeräteindustrie technische Plattform- und

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Modulstrategien oder definierte Standard Operating Procedures (kurz SOPs), die differenziert nach spezifischen Triggerkonstellationen zum Einsatz kommen. Zwar wird oftmals in der Komplexitätsreduktion eine Basiskompetenz gesehen, doch ergeben sich im Gesundheitswesen zahlreiche Konstellationen, in denen eher die Komplexitätsbeherrschung durch Agilität im Vordergrund steht. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann im Gesundheitswesen die Akkumulierung dynamischer Fähigkeiten diesbezüglich entscheidend beitragen. (d) Ambiguität: Das Gesundheitswesen ist teilweise von großer Mehrdeutigkeit gekennzeichnet, wenn eine hohe Interpretationsoffenheit unscharfer Informationen gegeben ist. Häufig liegen keine eindeutigen Kausalzusammenhänge vor, weshalb oft an den Symptomen kuriert wird, anstatt die Ursachen zu bekämpfen. Bisweilen lassen sich unscharfe Signale aus den relevanten Umweltbereichen nicht eindeutig als Chancen oder Bedrohungen klassifizieren. Deutlich wird die Ambiguität im Gesundheitswesen bei der Ableitung valider Zukunftsszenarien, die eine hohe Unschärfe bei einer gleichzeitig großen Ereignisvarianz aufweisen. Nicht zuletzt aus diesem Grund erweist sich die Definition konsistenter Projektionen und Szenarien als komplexe Aufgabe unter Unsicherheit. Dementsprechend weit aufgespannt ist der Szenariotrichter in Form möglicher Worst und Best Cases. Zudem ist empfundene Ambiguität immer auch eine Funktion des Professionalisierungsgrades und Kompetenzniveaus des Entscheiders. Während exzellent qualifizierte Experten selbst bei dünner Informationslage konsistente Entscheidungen treffen, sind hierzu unerfahrene Amateure nicht imstande. Beispielhaft zu nennen sind diagnose- und therapiesichere Notfallmediziner, die unter extremem Zeitdruck und bei teilweise kryptischem Informationsstand überlebenswichtige Entscheidungen treffen müssen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass deutliche Frühindikatoren und Prädiktoren auf eine steigende Markt-, Wettbewerbs- und Innovationsorientierung im Gesundheitswesen schließen lassen. Einhergehend mit Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Globalisierungstendenzen versuchen unternehmerische Gesundheitsanbieter die systemischen Leistungsreserven unter VUKA-Bedingungen zu erschließen.

1.2

Innovationsoptionen im Gesundheitswesen

Die Innovationsoptionen im Gesundheitswesen sind nicht eindimensionaler Natur. Vielmehr lassen sich diese anhand einer Reihe Ordnung schaffender Innovationsvektoren verdeutlichen, die nachfolgend diskutiert werden sollen. Auf diese Weise ergibt sich ein Innovationsdashboardsystem, das die heterogenen Entscheidungsfelder und Bezugspunkte des Innovationsmanagements im Gesundheitswesen kondensiert. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um folgende Innovationsachsen:

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(a) Bezugsobjekt der Innovation: Aufgrund der unscharfen Branchenabgrenzung des Gesundheitswesens und der vielschichtigen Marktkonstellationen spielen gleichermaßen Produkt-, Prozess-, Service-, Organisations- und Geschäftsmodellinnovationen eine wichtige Rolle. Typische Produktinnovationen sind Pharma- oder Geräteinnovationen bis hin zu Gimmicks and Gadgets im dritten Gesundheitsmarkt. Prozessinnovationen werden z. B. durch telemedizinische Versorgungsoptionen oder ein Case-­Management repräsentiert, während Serviceinnovationen in einem hotelähnlichen Komfortambiente im Krankenhaus bestehen können. Hier wird der Patient zum Dienstleistungskunden, der konsequent 24/7-Convenience einfordert (Rasche und Braun von Reinersdorff 2015 und 2016). Frugale Innovationen, die auf eine design- und ablauforientierte Kostenoptimierung abstellen, tendieren in eine ähnliche Richtung. Organisationsinnovationen verkörpern im hier verstandenen Sinne strukturrelevante Neuerungen im Arbeitsalltag bis hin zur Work-Life-Balance oder Delegation ärztlicher Leistungen an andere Berufsgruppen. Bei Geschäftsmodellinnovationen handelt es sich dagegen um mehr oder weniger große Quantensprünge hinsichtlich der Wertschöpfungsarchitektur eines Gesundheitsanbieters. Dies könnten z.  B.  Franchisinggeschäftsmodelle in der ambulanten Versorgung ebenso sein wie die Transformation einer bettenführenden interdisziplinären Notaufnahme in Richtung einer Customer Convenience Clinic mit integrierter Mega-MVZ-Funktion (Hogan und Rasche 2017). (b) Ausmaß und disruptives Potenzial der Innovation: Viele der Innovationen im Gesundheitswesen sind nicht radikaler oder pfadbrechend disruptiver Natur im Sinne von Christensen et al. (2016), sondern folgen einer eher inkrementellen Logik. Wesentliche Ursachen hierfür sind das Vermeiden eines potenziellen Nutzer-/Patientenrisikos durch Innovationen sowie unternehmenspolitische Entscheidungen zugunsten einer schnellen Markteinführung von Schrittinnovationen anstelle der Zulassung eines innovativen Produkts mit hohem Ressourcenaufwand (vgl. BVMed 2019, S.  7). Ein weiterer Aspekt hinsichtlich der Existenz inkrementeller Innovationen sind die vielen Scheininnovationen in der Pharmazie oder die zahlreichen digitalen und analogen Assistenzsysteme im Rahmen einer integrierten Patientenversorgung. Auch fallen viele der Healthcare-Tracking- und Body-Hacking-Anwendungen unter diese Rubrik, wenn dem User im Rahmen der Quantified-Self-Bewegung suggeriert wird, mit Apps und Wearables seinen Gesundheitszustand unter Echtzeitbedingungen mittels Smartphones oder Smartwatches überwachen zu können. Waren diese Anwendungen in ihrer Frühphase noch radikal und revolutionär, so hat sich diesbezüglich ein etablierter Innovationsmarkt entwickelt, auf dem teilweise nur noch marginale Leistungsverbesserungen zu beobachten sind. Auch kann es sein, dass eine Gesundheitsinnovation aus Anbieter- und Technologiesicht objektiv pfadbrechend ist, ohne dass der User einen derartigen Quantensprung tatsächlich wahrnimmt. Oder umgekehrt – was viel häufiger der Fall ist – entsteht ein User-Hype um eine Innovationsbagatelle, die in sozialen Medien viral gepusht wird. Mitunter lassen sich aufgrund fließenden Übergangs keine klaren Demarkationslinien zwischen radikalen und inkrementellen Innovationen im Gesundheitswesen ziehen. Zudem können beide Innovationsformen sowohl pfadbe-

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stätigend als auch pfadbrechend sein. Hier stellt sich die Frage, ob das dominante Design im Sinne des vorherrschenden Status quo durch die Innovationsleistung entweder infrage gestellt oder aber verstärkt und bestätigt wird. Am Beispiel der Digitalisierung wird aufgrund ihrer transversalen Implikationen deutlich, dass nur im ­Einzelfall zu klären ist, welche Auswirkungen diese auf Subsektoren des Gesundheitswesens haben wird. (c) Impuls der Innovation: Im Sinne einer pyramidalen Unternehmensplanung wird oft ein Top-down-Innovationsimpuls unterstellt, der das Ergebnis der Research Policy einer Organisation ist. Diese entwirft einen Masterplan in Form einer prospektiven Innovationslandkarte mit politischer Leitplankenfunktion. Hierüber definiert sich dann der Innovationskorridor auf Betreiben der Geschäftsführung. So sind das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte oder das neue Paradigma der Präzisionsmedizin eher als Masterinitiativen einzustufen, während die Innovationsmethode des Design Thinking eher versucht, basisdemokratisch inspirierte Innovationsimpulse zu generieren. Insbesondere die Generationen X und Y fordern zunehmend eine aktive Organisationsteilhabe in flachen Hierarchieräumen ein, weshalb zahlreiche postmoderne Unternehmen den Start-up-Geist des Silicon Valley zu emulieren versuchen. Typische Krankenhäuser, Krankenkassen oder kassenärztliche Vereinigungen sind derzeit allerdings noch relativ weit von offenen Innovations- und Erfinderlandschaften entfernt, weil das Tagesgeschäft notwendige Transformationsprozesse überstrahlt. Völlig anders dagegen gestaltet sich die Innovationsszene im aufstrebenden HealthTech-­ Bereich, der von zahlreichen Gründungsinitiativen gekennzeichnet ist. Oft anzutreffen ist auch eine Form der Gegenstromplanung, die Vorteile einer Top-down-Planung mit den Vorteilen kreativer Bottom-up-Initiativen zu verbinden versucht. Zum Ziel des Employer Branding sollten die arrivierten Institutionen im ersten Gesundheitsmarkt versuchen, verstärkt das kreative Potenzial der Digital Natives zu nutzen, um nicht nur eine attraktive Arbeitgebermarke aufzubauen, sondern auch im „Ideenreichtum der Jugend“ selbst eine Quelle der Wettbewerbsfähigkeit zu sehen. So kann es kaum verwundern, dass die globalen Stars der digitalen Welt teilweise von „Freaks and Nerds“ im Zeitraffer gegründet und zu Weltruhm gebracht worden sind, während viele der Krankenhäuser trotz einer ausgeprägten Technologie- und Therapieorientierung teilweise im Organisationsrahmen tayloristischer Manufakturbetriebe operieren (Rasche und Braun von Reinersdorff 2015 und 2016). (d) Markt- und Wettbewerbsumfeld der Innovation: Inventionen und Innovationen sind das Ergebnis exogener und endogener Systemkonstellationen. Gerade für das Gesundheitswesen werden immer wieder der rigide Marktordnungsrahmen und hohe Regulierungsgrad angeführt, die sich als externe Flaschenhälse negativ auf das unternehmerische Denken insbesondere im Kliniksektor auswirken. Einhergehend mit der Pluralisierung und Privatisierung im Kliniksektor wird schrittweise der Freiraum für unternehmerische Führung geschaffen, in der wiederum die Quelle für Innovationen, Neuerungen und Transformationsprozesse gesehen wird. Rekurrierend auf das Zwiebelschalenmodell des Gesundheitswesens, unterscheiden sich der erste, zweite und

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dritte Gesundheitsmarkt teilweise deutlich voneinander, was sich direkt auf die Innovationsoptionen auswirkt. Während der boomende Markt für digitale Fitness- und Gesundheitsanwendungen kaum reguliert ist, sehen sich die Akteure im ersten Gesundheitsmarkt für Akut- und Notfallversorgung mit einem teilweise stark einschränkenden Regulierungskorsett konfrontiert. Sicherlich besteht allein schon aufgrund der risikogeneigten Interventionen im ersten Gesundheitsmarkt aus Qualitätssicherungsgründen ein hoher Ordnungszwang. Jedoch ist dieser oftmals machtpolitisch induziert, weil die angestammten Akteure eine aktives Einflusssphärenmanagement praktizieren (Rasche et  al. 2019). Wenn das Wesen der Innovation in der Transformation liegt, dann können die Profiteure der Stasis kein Interesse an einer solchen haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund verzögern sich Diffusion und Adoption digitaler Innovationen in der regulierten Gesundheitswirtschaft, wie sich am Beispiel des Constraint-­ Managements zeigt. So müssen fortwährend technische, rechtliche, ökonomische, medizinische und soziale Flaschenhälse beseitigt werden, um aus Inventionen marktreife Innovationen und skalierbare Problemlösungen für Volumenmärkte werden zu lassen. (e) Governance-System der Innovation: Hiermit gemeint ist der organisatorische Verfassungsrahmen der Innovation, der über die Innovationsphilosophie mitentscheidet. Allein schon aufgrund der strikten Sicherheitsrestriktionen verbieten sich im Gesundheitswesen oftmals Open-Innovation-Regime, weil Letztere auf einer Vielzahl kaum kontrollierbarer Schnittstellen, Akteure und Wissensbeiträge basieren. So wird in fast allen Kliniken eine Bring-your-own-Device-Philosophie mit Blick auf systemische Sicherheitslücken kategorisch abgelehnt. Auch sind viele Universitätskliniken nicht auf offene Innovationsregime vorbereitet  – zumal diese mit hohen Koordinations-, Kontroll- und Kommunikationskosten einhergehen. In der Grundlagenforschung dagegen wird verstärkt auf kooperative und interdisziplinäre Drittmittelforschung gesetzt, um von der Schwarmintelligenz multipler Akteure und Institutionen zu profitieren. Geschlossene Innovationsregime basieren dagegen auf Abschottungsstrategien zum Ziel des Wissens- und Kompetenzschutzes. Verhindert werden sollen unbeabsichtigte bzw. nicht vergütete Wissensabflüsse in Richtung nicht legitimierter Dritter. Sprichwörtlich hierfür ist das Abwehrverhalten westlicher Unternehmen gegenüber einem „erzwungenen Technologietransfer“, der eine Säule der chinesischen Industrieund Technologiepolitik darstellt. Die Patentstreitigkeiten zwischen Appel und Samsung oder die politische Debatte rund um strategische Technologieallianzen mit Huawei stehen womöglich für eine Ära sich anbahnender Handelskriege, die einen Wettlauf um die globale Innovationsführerschaft zum Gegenstand haben. Mit Blick auf den sich entwickelnden digitalen Gesundheitsmarkt sind Hybridstrategien in Erwägung zu ziehen, die auf den Vorteil halboffener Innovationsökosysteme abstellen. Einerseits verlangen Großprojekte geradezu nach Vernetzung, Kooperation und Offenheit, andererseits liegt hierin aber auch die große opportunistische Gefahr, dass Falschspieler unfaire Wettbewerbsvorteile erlangen.

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(f) Technologie- oder Marktpriorisierung der Innovation: Das Gesundheitswesen ist bis in die Gegenwart hinein stark von Technologie- und Therapieinnovationen geprägt. Kliniken, Pharmaunternehmen oder auch Medizingerätehersteller bewegen sich zumeist auf B2B-Märkten ohne direkten Zugang zum Endkunden. Zwar erbringen Kliniken Leistungen für Patienten, doch werden diese meistens durch Kostenträger ­vergütet. Bisweilen wird versucht, Innovationen in den Markt hineinzuschieben, ohne dass Marktsegmente, Bedarfe und Nutzenerwartungen ausreichend analysiert worden sind, wie sich am Beispiel der Technologievergoldung zeigt. In dieser Konstellation befinden Experten über Bedürfnisse auf Basis von Projektionen, Prämissen und Pro­ gnosen. Zwar lassen sich auf diese Weise bahnbrechende MINT-Innovationen lancieren, doch besteht immer auch die Gefahr grandioser Flops aufgrund unzureichender Markt- und Kundenkenntnis. Für embryonale Innovationen im Patentstadium ist zudem oftmals keine präzise Zielmarktdefinition möglich, was die Beurteilung der ökonomischen Erfolgsaussichten erschwert. Marktinduzierte Innovationen dagegen lassen sich oftmals im dritten Gesundheitsmarkt finden, der für die LOHAS-Zielgruppen (Lifestyle of Health and Sustainability) von besonderem Interesse ist. Hierbei handelt es sich um sport- und gesundheitsorientierte Endkunden mit einem Faible für Produkte und Dienstleistungen, die zu einem spezifischen Healthstyle-Muster passen. Sportartikel, Fitness-Apps oder innovative Studiogeschäftsmodelle weisen oft den Charakter marktinduzierter Innovationen auf, weil der Kunde für derartige Leistungen über eine hohe Urteilsfähigkeit verfügt. Das sogenannte User-driven-Design entspricht dabei der Logik des Lead-Customer-Ansatzes, der den Kunden zum Impulsgeber und Co-Value-Creator macht. Markt- und Technologieprioritäten sollten sich in einer Balance befinden, die sich z. B. durch ein Schnittstellenmanagement, eine größere Prozessorientierung oder ein interprofessionelles Design Thinking erreichen lässt. (g) Digitales Plattformpotenzial der Innovation: Der Aufstieg der sozialen Medien basiert entscheidend auf Plattformgeschäftsmodellen (Van Alstyne et al. 2016), die in ihrer Funktion als digitale Marktplätze Angebot und Nachfrage bei geringen Transaktionskosten synchronisieren und selbst marginale Grenzkosten bei gleichzeitig signifikanten Skaleneffekten aufweisen (Choudary 2015; Pflaum und Klötzer 2019). Bedurfte es früher hierarchischer Instanzen der kommunikativen Brückenbildung qua Dienstweg, Telefonat oder Briefpost, so lassen sich heutzutage vergleichsweise einfach Many-­2-many-Kommunikationswege unter der Ägide eines Plattformbetreibers realisieren. Dabei ist ein reger Datenaustausch über unterschiedliche Plattformen oft gewünscht bis hin zu multiplen Datenzugriffsrechten, die Google, Facebook, Instagram, Snapchat oder Messenger bei ihren Nutzern aggressiv einfordern. Repräsentieren diese eher allgemeine Kommunikationsplattformen, die sowohl von Endkunden als auch von Institutionen genutzt werden, so etablieren sich zunehmend Special-­Purpose-­ Plattformen. Hierzu zählen auch Gesundheitsplattformen, über die ein Daten- und Informationsaustausch der heterogenen Akteure im Gesundheitswesen unterstützt wird. Derartige Multistakeholderplattformen bedürfen allerdings einer ausdifferen-

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zierten Sicherheitsarchitektur, sofern darüber prospektiv sensible Patientendaten transferiert werden sollen. Trotzdem darf ein Vormarsch innovativer Plattformen im Gesundheitswesen erwartet werden, weil diese ein enormes Versorgungspotenzial in der digitalen Gesellschaft bieten. Die oft monierten Daten-, System- und Versorgungsbrüche ließen sich auf diese Weise auf ein Minimum reduzieren, sofern digitale ­Plattformlösungen das Vertrauen aller involvierten Anspruchsgruppen erhalten. Psychologische und juristische Akzeptanzbarrieren stellen damit die viel größere Hürde als die eigentliche Systemimplementierung dar. Die hier diskutierten Entscheidungstatbestände und Gestaltungsfelder des Innovationsmanagements im Gesundheitswesen sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern Komponenten eines holistischen Bezugsrahmens sein, um Insellösungen zu vermeiden.

1.3

4-D-Management der Innovation

Das 4-D-Management der Innovation im Gesundheitswesen steht für Digitalisierung, Datenanalytik, Disruption und Diskontinuität, wodurch für die etablierten Akteure ein hoher Anpassungsdruck entsteht. So sollte nicht ausschließlich auf resilient-robuste Geschäftsmodelle vertraut werden, weil sich nicht jede Veränderung negieren, aussitzen oder mit Finanzressourcen abwiegeln lässt. Vielmehr sollte mittels agiler Innovationsorientierung versucht werden, die vier D zum Aufbau eigener Wettbewerbsvorteile zu nutzen.

1.3.1 Digitalisierung im Gesundheitswesen Gegenwärtig stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Digitalisierung im Gesundheitswesen eine erfolgskritische Rolle spielt, sondern wie, wann, wo und in welcher Intensität diese ihre Effekte im ersten, zweiten und dritten Gesundheitsmarkt zeigt. Allerdings unterscheiden sich die unterschiedlichen Player deutlich hinsichtlich des Reifegrads, der Progression und der Professionalisierung der Digitalisierung. Diese bewegt sich auf einem Kontinuum, das sich von papierlosen Verwaltungsdokumenten und einfachen Krankenhausinformationssystemen über elektronische Patientenakten bis hin zu künstlich-intelligenten Medbots erstreckt. Letztere stellen entweder adjuvante oder sogar arztersetzende Problemlösungen dar, die die Vision der Präzisionsmedizin realisieren helfen sollen. Einhergehend mit telemedizinischen Flächenversorgungsoptionen, Patienten-Apps oder Onlinerezepten entstehen individualisierte, personalisierte und lokalisierte Datenströme, die in konsolidierter Form für sektorenübergreifende Managed-Care-Lösungen von großer Relevanz sind. So bleibt abzuwarten, ob in den nächsten Jahren die Sektorengrenzen fallen werden und vertikal wie horizontal vernetzte Healthcare Provider entstehen, die aus einer Hand Klinik-, Kassen- und Kundenbetreuungsfunktionen über alle Sektorengrenzen hinweg übernehmen. Voraussetzung hierfür sind neben professionellen ICT-Kapazitäten (ICT, engl. „in-

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formation and communications technology“) ein diesbezüglich begünstigender Marktordnungsrahmen und Geschäftsmodellinnovationen, die die Kompetenzen des (digitalen) Patienten stärken und ihm Wahloptionen hinsichtlich Komfort, Convenience sowie Arztund Therapiewahl bieten (Rasche et al. 2018).

1.3.2 Datenanalytik im Gesundheitswesen Das Handling großer Datenmengen, deren Transformation in nutzenbringende Informationen für Patienten, Ärzte, Kostenträger, Kliniken und Unternehmen im Sinne einer individualisierbaren Datenanalytik sowie als Basis für algorithmisches Entscheidungsverhalten bis hin zu maschinellem Lernen in Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (Abk. KI) haben begonnen das Gesundheitswesen in Teilbereichen zu revolutionieren, wie z. B. in der Bildverarbeitung (Hufnagl et al. 2018). Die Tatsache, dass sich die Giganten des datengetriebenen ICT-Sektors verstärkt auf die Gesundheitswirtschaft fokussieren, ist ein Indikator für das große Potenzial hinsichtlich Innovationen und Effizienzsteigerung durch Data-Analytics-Methoden. Zwar waren die Institutionen des Gesundheitswesens in ihrer Funktion als Expertenorganisationen schon immer sehr datenfokussiert, doch entsteht durch die Synthese aus Daten und Analytik eine neue Wertschöpfungsdimension. Große Datenmengen lassen sich nunmehr bei vergleichsweise geringen Transformationskosten unter Echtzeitbedingungen erheben, veredeln und entscheidungsorientiert entsprechend den jeweiligen Nutzerpräferenzen zum Aufbau substanzieller Wettbewerbsvorteile nutzen. Zum einen arrondiert die Datenanalytik die klassischen Wertschöpfungsarchitekturen der bestehenden Anbieter, indem Krankenhäuser und Krankenkassen auf Basis feingranularer Daten effiziente Mikroentscheidungen fällen können, die in der analogen Welt schlichtweg zu teuer wären. Zum anderen aber besteht die Gefahr, dass sich die Datenanalytik zu einem eigenständigen und emanzipierten Geschäftsmodell innerhalb der Gesundheitswirtschaft entwickelt. In der extremsten Variante werden menschliche Routineentscheidungen durch Medbots ergänzt oder ersetzt, die über die Fähigkeit zur effizienten Großdatenanalyse verfügen. Zu denken ist hierbei nur an typische Data-Matching-Jobs, wenn individuelle Patientendaten mit einer Megapopulation verglichen werden sollen, um den jeweils optimalen Therapiepfad bestimmen zu können. Zudem entsteht im Zuge der Quantified-­ Self-­Bewegung im ersten, zweiten und dritten Gesundheitsmarkt User Generated Content in Form selbsterhobener, freigegebener und transferierter Daten, die analog zu Facebook, Instagram oder Twitter den eigentlichen Wert eines Geschäftsmodells ausmachen. Die simple Logik: Post or Perish! Daher unterstützen wir zum jetzigen Zeitpunkt den Ansatz der Augmented Intelligence (Kirste 2019) im Sinne einer erweiterten menschlichen Intelligenz als Komponente von Gesundheitsanwendungen. Hierbei wird beispielsweise in kooperativer Zusammenarbeit unter Führung von Patienten bzw. Ärzten mit einem KI-­ basierten Service eine individuelle, effiziente Therapie ermöglicht und Entwicklern die Chance eröffnet, neue Algorithmen auf Basis des entstehenden Datenpools zu trainieren.

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1.3.3 Diskontinuitäten im Gesundheitswesen War in der Vergangenheit die Gesundheitswirtschaft eher von schleichenden Diskontinuitäten betroffen, so müssen für den zweiten und dritten Gesundheitsmarkt verstärkt abrupte Diskontinuitäten konstatiert werden, die ihre Ursache in digitalen Geschäftsmodellinnovationen haben. Zum einen besteht für die etablierten Anbieter die Möglichkeit, eine Markterschütterung durch Innovation zu bewirken, wenngleich diese zumeist pfadbestätigenden Charakter haben wird. Zu groß ist die Gefahr, ein erfolgsbewährtes und beherrschbares durch ein fragil juveniles Geschäftsmodell zu ersetzen. Zum anderen drängen zunehmend branchenfremde Akteure in den zweiten und dritten Gesundheitsmarkt ein, um von den Freiheitsgraden einer schwächeren Regulierung unternehmerisch zu profitieren. Exemplarisch hierfür stehen die inflationär aufkommenden Healthcare-Apps, die allein schon aus Haftungsgründen nicht als potenziell erstattungsfähige Medizinprodukte lanciert werden. Es bleibt abzuwarten, wie lange es dauern wird, bis auch der erste Gesundheitsmarkt von radikalen Geschäftssysteminnovationen heimgesucht wird, die keinen Komplementär-, sondern Substitutionscharakter haben. Vordergründig zu denken ist hierbei weniger an revolutionäre Therapien, Technologien oder Pflegeinnovationen, sondern an holistische Versorgungsinnovationen mit systemüberbrückendem Charakter und hohem Digitalisierungsimpact.

1.3.4 Disruption im Gesundheitswesen Hiermit gemeint sind tektonische Verschiebungen in der Versorgungslandschaft, die mit neuartigen Leistungsversprechen, Problemlösungen und Wertschöpfungsarchitekturen einhergehen. Zwar können durch radikale Therapie- und Technologieinnovationen punktuelle Verwerfungen bewirkt werden, doch werden weder durch Da-Vinci-OP-As­ sistenzsysteme noch durch eine personalisierte Präzisionsmedizin die Grundfesten der Gesundheitswirtschaft substanziell zerstört. Vielmehr handelt es sich hierbei um punktuell radikale Paradigmenwechsel von großer Tragweite, die aber innerhalb der bestehenden Geschäftssystemordnung für Transformation sorgen können. Architekturale Innovationen verändern dagegen die Genetik des Geschäftsmodells auf inkrementelle oder radikale Weise – je nachdem, wie stark der Bauplan der Wertschöpfungs- und Strategiearchitektur verändert wird. Während Wertschöpfungsarchitekturinnovationen auf eine mehr oder weniger substanzielle Transformation der Leistungs-, Leitungs- und operativen Systemlandschaft abstellen, verfolgen Strategieinnovationen philosophisch normative Ambitionen der Neudefinition des Geschäftszwecks einer Gesundheitsorganisation. Was auf den ersten Blick relativ banal anmutet, impliziert immer auch einen Visionswechsel. Wie bereits angesprochen, verändern digital und horizontal vernetzte Gesundheitskonzerne einer ambulant-­stationären Drehscheibenversorgung samt Kostenträgerfunktion und multiplen Convenience-Optionen die Art und Qualität des Leistungsangebots. Die Patienten kommen als Äquivalent für den freiwilligen Datenaustausch über spezifische Plattformen in den

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Genuss einer privilegierten, individualisierten und präferenzorientieren Hochleistungsversorgung ohne System- und Kommunikationsbrüche.

1.3.5 F  unktionen von Geschäftsmodellinnovationen im Gesundheitswesen Die vier D des Innovationsmanagements bewirken im Gesundheitswesen deshalb substanzielle Veränderungen, weil dieses in weiten Teilen über erhebliche Leistungs-, Führungsund Managementreserven verfügt. Zwar kommen auf operativen Wertschöpfungsinseln innovative Technologien und Therapien zum Einsatz, doch bieten Geschäftsmodellinnovationen womöglich die größte Hebelwirkung. Die Idee des morphologischen Kastens (Schawel und Billing 2018) aufgreifend sollen im Folgenden Geschäftsmodellinnovationen im Gesundheitswesen analysiert und diskutiert werden. Diese sind oftmals durch ein Höchstmaß an Digitalisierung, Datenanalytik, Diskontinuität und Disruption gekennzeichnet. Im Gegensatz zu vielen Produkt- und Prozessinnovationen besteht das Wesen vieler Geschäftsmodellinnovation in ihrer architekturalen Integrationsfunktion. Dadurch verändert sich das Gesamtbild einer Wettbewerbsvorteils- und Wertschöpfungslogik, werden doch die einzelnen Subsysteme einer dominanten Ordnung grundlegend infrage gestellt. Im hier verstandenen Sinne erfüllen Geschäftsmodellinnovationen im Gesundheitswesen folgende Funktionen: (a) Digitale Plattformfunktion: Hier ist vor allem an Multiagentenportale im Gesundheitswesen zu denken, die in B2B-, B2C- und C2C-Konstellationen diverse Akteure und Institutionen des ersten, zweiten und dritten Gesundheitsmarkts zusammenführen. Leistungserbringer, Kostenträger, Leistungsempfänger sowie marktarrondierende Medizintechnik- und Pharmaunternehmen bis hin zu peripheren Gesundheitsinstitutionen haben die Möglichkeit einer qualitätsgesicherten und konsolidierten Kommunikation und facettenreichen Dialogführung in einem professionellen Expertenkontext. (b) Schnittstellenfunktion: Plattformen helfen, Schnittstellen zu überbrücken, die im Gesundheitswesen zu den oft monierten Kommunikations- und Leistungsbrüchen führen. Die Idee elektronischer Fall- oder Patientenakten korrespondiert mit dem Hauptziel einer verzögerungsfreien, reibungslosen und hocheffizienten Leistungserbringung zum Wohl des Patienten, der nicht länger zum Opfer eines unkoordinierten Instanzenund Institutionengeflechts werden soll. Funktionierende Schnittstellen sind zudem eine Grundvoraussetzung für die Nutzung künstlich-intelligenter Expertensysteme in der Versorgungskette, damit nicht nur die Mensch-Maschine-, sondern auch die Maschine-­Maschine-Entscheidungsfindung funktioniert. (c) Integrationsfunktion: Eine Schlüsselfunktion sozialer Medien besteht in ihrer ubiquitären Integrationsfunktion. In der Gesundheitswirtschaft wird es künftig darum gehen, sehr heterogen qualifizierte Akteure zum Gegenstand einer holistischen Wertschöpfungsarchitektur werden zu lassen. Dies betrifft insbesondere die Integration unter-

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schiedlicher Kompetenzstufen und Anspruchsniveaus, wenn z.  B. gleichermaßen Gesundheitsamateure und professionelle Anbieter das Wesen integrierter Versorgungslandschaften ausmachen sollen, die inkludieren, anstatt zu diskriminieren. So müssen Plattformmigrationshilfen für gering qualifizierte Akteure zur ­Verfügung gestellt werden, um nicht den Eindruck einer „Bestenauslese“ entstehen zu lassen, die im solidarischen Gesundheitswesen zu ethischen Verwerfungen führen würde. (d) Kommunikationsfunktion: Die Foren- und Chatfunktion spielt in Gesundheitsnetzwerken eine entscheidende Rolle, weil das Medienverhalten in digitalen Sozialräumen fast alle menschlichen Lebenslagen indoktriniert. Die Zielgruppe der Digital Natives fordert schon heute mit großer Vehemenz ein Mehr an personalisierter, individualisierter und lokalisierter Echtzeitinformation ein. Leider wird diesem Bedürfnis im Gesundheitswesen aus vielerlei Gründen nur sehr eingeschränkt entsprochen. Trotz aller datenschutzrechtlichen Bedenken sollte der Vormarsch digitaler Kommunikationsinnovationen im Gesundheitswesen nicht aufgehalten werden, um im direkten Vergleich zum US-amerikanischen bzw. asiatischen Ausland den Abstand nicht noch größer werden zu lassen. (e) Marktplatzfunktion: Die transaktionskostenarme Synchronisation von Angebot und Nachfrage bei bewertungs- und verhaltensunsicheren Vertrauensgütern kann durch innovative Gesundheitsmarktplätze erleichtert werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Etablierung einer Qualitätssicherungsinstanz, um keine „grauen“ Gesundheitsmärkte samt unseriösen Akteuren entstehen zu lassen. Abgestufte „Sicherheitsvorkehrungen“ sind mit Blick auf die diversen Gesundheitsmärkte zu treffen, weil ein medizinisch notwendiger Eingriff anders zu bewerten ist als ein Wellnessprogramm oder der Bezug fitnesssteigernder Nahrungsergänzungsmittel. Letztlich darf aber auch der dritte Gesundheitsmarkt nicht zu einem Tummelplatz für Scharlatane werden, weil diese die Reputation des Gesamtmarktkollektivs schädigen. (f) Transaktionsfunktion: Die papierlose Leistungsabrechnung und Transaktionsdurchführung werden im Gesundheitswesen oft moniert. An dieser Stelle stellt sich die Frage nach professionellen Mobile-Health-Lösungen, um Leistungs- und Zahlungsströme in einem professionell bequemen Serviceambiente abwickeln zu können. Innovative Plattformlösungen bieten zudem die Optionen des Up-Sellings und Cross-Sellings, weil sich Ergänzungs- und Zusatzleistungen einfach und transparent abwickeln lassen. (g) Servicefunktion: Oftmals hat der Gesundheitskunde ein genuines Interesse an inte­ grierten Serviceleistungen, die aus seiner Sicht zu einer signifikanten Reduktion der Leistungskosten führen. Unter dem Schlagwort der Convenience lassen sich Nutzenversprechen subsumieren, die für den Kunden die Leistungsinanspruchnahme und -abwicklung so angenehm wie möglich machen. One-Stop-Shopping-Geschäftsmodelle sind sicherlich für viele Gesundheitskunden und Patienten von hoher Relevanz, weil die gesamte Versorgungskette durch eine professionelle Clearingstelle koordiniert wird.

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(h) Leistungsfunktion: Gesundheitsdienstleistungen werden künftig nicht nur orts- und zeitungebunden im Rahmen konventioneller Geschäftsmodelle angeboten, weil eine distanzierte Leistungserbringung qua Telemedizin eine sinnvolle Alternative sein kann. Ebenso lässt sich die Medizinerexpertise durch künstlich-intelligente Assistenzsysteme verbessern, sofern eine ausreichendgroße Datenbasis für eine Analytics-­ Zweitmeinung zur Verfügung steht. Gleiches gilt für Patienten, die künftig in Apps und Bots mit Medizinproduktcharakter womöglich interessante Rettungsanker für den Fall einer Nichtarzterreichbarkeit sehen. (i) Daten- und Informationsveredelungsfunktion: Viele innovative Geschäftsmodelle werden sich künftig der Entscheidungsveredelung widmen, wenn Daten und Informationen die Basis für marktrelevante Problemlösungen rund um die Gesundheit bilden. Das TTTPPP-Paradigma verdeutlicht, dass Tracing, Tracking, Tapping, Profiling, Prediction und Profit die Grundbausteine vieler digitaler Geschäftsmodelle darstellen. Ausdifferenzierte Medizin- und Gesundheitsinformationen sind dabei Segen und Fluch, weil sie zum Wohl des Patienten oder zum Wohl der Gewinnmaximierung eingesetzt werden können (Rasche 2013; Rasche et al. 2017). (j) Lenkungs- und Koordinationsfunktion: Hierin kann auch eine wesentliche Innovationsleistung bestehen, geht es doch oftmals oft um die Koordination heterogener Anspruchsgruppen, Bedarfe, Ressourcen und Kompetenzfelder, die auf eine übergeordnete Zielfunktion hin auszurichten sind. Der Vorteil vertikal und horizontal vernetzter Gesundheitskonzerne besteht in der Disposition knapper Ressourcen bei gleichzeitig hohen Ansprüchen unter Engpassbedingungen. So können z.  B.  OP-­Dispositions-­ Apps dazu beitragen, die für die Durchführung einer komplexen Operation erforderlichen Ressourcen wertschöpfungsoptimal zu disponieren. Auf diese Weise werden potenzielle Ressourcenvergeudungen im Sinne von Überqualifikationen ebenso vermieden wie Überforderungssituationen. Die oben diskutierten Funktionen innovativer Gesundheitsgeschäftsmodelle werden in der Innovationsmorphologie kondensiert, die einen Bezugsrahmen für deren Beschreibung darstellt.

1.4

Innovationsmorphologie der Gesundheitsgeschäftsmodelle

Die entwickelte Innovationsmorphologie umfasst insgesamt sieben Stufen die im Grunde der P2P-Logik folgt. Diese steht für einen Proposal-to-Profit-Ansatz, der mit einer Konzeptidee startet und dann über die Stufen Patentierung, Prototypenentwicklung, Produkt, Produktion final den Profit ins Visier nimmt. Wichtig dabei ist der Transformationsprozess von einer anfangs abstrakten Nutzenphilosophie hin zur Nutzenkapitalisierung. So inte­ ressieren sich Investoren nicht nur für die Nutzenphilosophie im Sinne strategischer Erfolgspositionen im Markt, sondern auch für deren Monetarisierung.

1  Innovationsmanagement unter VUKA-Bedingungen: Gesundheit im Fokus von …

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(a) Nutzenphilosophie: Gesundheitsgeschäftsmodelle sollten von einer Vision inspiriert sein, aus der das innovative Leistungsversprechen deutlich hervorgeht. So stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Problemlösungspotenzial bzw. dem Fortschrittspotenzial gegenüber dem Status quo. Mitunter beinhaltet die Nutzenphilosophie auch eine ethisch-normative Komponente, wenn z. B. gemeinwohlorientierte oder nachhaltige Organisationsziele verfolgt werden sollen. Zudem sollte der Nutzen für die unterschiedlichen Anspruchsgruppen spezifiziert werden, um deren Wohlwollen und Zahlungsbereitschaft zu erwirken. (b) Nutzentstrategie: Hier geht es konkret um den Aufbau und die Verteidigung substanzieller Wettbewerbsvorteile, die Ergebnis wichtiger, wahrgenommener und nachhaltiger Alleinstellungsmerkmale sind. Gesundheitsinnovationen sollten immer über einen spürbaren Nutzenvorteil gegenüber dem Status entlang einer oder mehrerer Erfolgsfaktoren verfügen. Zumeist wird dabei in stark aggregierter Form auf die Erzielung eines überlegenen Preis-Leistungs-Verhältnisses abgestellt, wobei sich die Leistung über Qualitäts-, Zeit-, Service- oder Technologiedifferenzierung definieren kann. Umgekehrt implizieren Preisvorteile fast immer auch Kosten- und Effizienzvorteile. (c) Nutzenangebot: Das Nutzenangebot ist zweiseitig zu interpretieren, weil dieses immer eine Anbieter- und Nachfragersicht beinhaltet. Im günstigsten Fall liegt eine Win-win-Situation vor, in deren Rahmen beide Parteien von einem Angebot profitieren. Zudem ist nach der Nutzenbreite und Nutzentiefe zu unterscheiden. Während die Da-Vinci-Operationseinheit über eine vergleichsweise hohe Nutzentiefe im Sinne eines Leistungsvorsprungs auf einem eng definierten Gebiet verfügt (Urologie, Gynäkologie), bieten Gesundheitsportale den Vorteil einer relativ hohen Nutzenbreite. Der Nutzen muss nicht immer radikal und neuartig sein, sondern kann auch in operativen Effizienz- und Kostenvorteilen bestehen. (d) Nutzenkommunikation: Im digitalen Zeitalter besteht für die Akteure die Option zur Omnikommunikation, weil sie Zugriff auf ein Portfolio differenzierter Online- und Offlinekommunikationskanäle haben, die sie zu einem integrierten Strategiekonzept der Zielgruppenansprache verdichten können. So lassen sich z. B. Patienten personalisiert, individualisiert und auch lokalisiert adressieren, um die Streuverluste der Kommunikation zu minimieren. Soziale Gesundheitsnetze bieten zudem den Vorteil einer Many-to-many-Kommunikation, wodurch virale Marketingformen unterstützt werden. Auch kann von Netzeffekten ebenso profitiert werden wie von interaktiven App-Lösungen in ihren unterschiedlichen Spielarten, die Informationsaustausch deutlich erleichtern. (e) Nutzenerzeugung: Hierbei handelt es sich um das Produktionssystem eines Geschäftsmodells, das Ressourcen, Prozesse, Eigentums- und Verfügungsrechte sowie Kooperationspartner oder auch Preismechanismen und Leistungstiefenfragen zum Gegenstand hat. Im Zuge der Sharing Economy stellt sich zwangsläufig die Frage nach der vertikalen und horizontalen Integrationstiefe eines Geschäftsmodells, weil ein innovatives Element auch in seiner Virtualität bestehen kann, indem eine Vielzahl externer Leistungen zu einem attraktiven Leistungsbündel aggregiert wird. Dieser Logik ent-

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T. Knape et al.

sprechen viele Plattformgeschäftsmodelle in ihrer Funktion als Transaktions-, Service- und Mehrwertunterstützer im Dienst gesundheitsinvolvierter Akteure. (f) Nutzenbereitstellung: Nutzenadressaten können Endkunden und Geschäftskunden im Rahmen von B2C-, B2B-, C2B- und C2C-Konstellationen sein, wobei die Nut­ zenbereitstellung sofort, innerhalb eines definierten Zeitfensters oder auch zeitversetzt erfolgen kann. Für den Fall digitaler Gesundheitsdienstleistungen kann sofort ein globaler Marktauftritt in Erwägung gezogen werden, weil keine physische Infrastruktur erforderlich ist und es sich hierbei um sehr leichtgewichtige Geschäftsmodelle handelt. Die Nutzenbreitstellung lässt sich sowohl anbieter- als auch nachfrageseitig initiieren – je nachdem, wann, wo und wie eine Leistung zur Verfügung gestellt werden soll. (g) Nutzenkapitalisierung: Schließlich besteht das Wesen einer jeden Innovation in ihrer erfolgreichen Vermarktung, um nicht im Zustand der Invention zu verharren. Die Kosten- und Preismodellierung hat entscheidenden Einfluss auf die Gewinnchancen. So ist zu analysieren, ob schnell Marktanteile durch eine Preis-/Mengenstrategie aufgebaut werden sollen, über die sich weitere Skalen- und Erfahrungskurveneffekte ergeben können, oder eine Abschöpfungspreisstrategie in Erwägung gezogen wird. Auch sind Formen einer asymmetrischen Preisgestaltung der Anbieter- und Konsumentenseite bei mehrseitigen Geschäftsmodellen realisierbar, um z. B. das sog. „Henne-­Ei-­ Problem“ bei digitalen Plattformen (Caillaud und Jullien 2003, S.  310) durch das Sponsoring einer Marktseite zu lösen und so die kritische Masse zu erreichen. Ferner sind eine Leistungsbündelung und Fremium-Strategien denkbar. Bei diesen wird eine freie Einstiegsvariante und eine entgeltpflichtige Premiumvariante angeboten, wobei das Ziel eines Up-Sellings verfolgt wird und die Basisvariante oftmals eine Köderfunktion hat. In Abb. 1.1 ist die Beziehung zwischen Nutzenkaskade und Nutzenoptionen als Ma­ trixübersicht zusammenfassend dargestellt. Geschäftsmodellinnovationen im Gesundheitswesen bedürfen einer konsistenten Führung und Steuerung. Das Modell der Nutzenkaskade und Nutzenoptionen veranschaulicht den dornigen Weg vom Proposal zum Profit (P2P), wobei mit der Migration, Transformation, Substitution und Disruption vier Wege zur Verfügung stehen, um mit Innovationen im Gesundheitswesen zu „punkten“. Differenziert wird dabei zwischen pfadbrechenden und pfadbestätigenden Innovationen, die entweder inkrementell oder radikal in Erscheinung treten können. Auf diese Weise lässt sich eine Vierfeldermatrix ableiten, wie sie durch Abb. 1.2 repräsentiert wird. (a) Migration: Streng genommen handelt es sich hierbei um keine genuinen Innovationen, sondern nur um marginale Leistungs- und Geschäftsmodellverbesserungen, die das dominante Branchenparadigma bestätigen. Oftmals fordern Patienten oder institutionelle Kunden vom Anbieter Optimierungen ein, die dann zu einer Arrondierung des Status

1  Innovationsmanagement unter VUKA-Bedingungen: Gesundheit im Fokus von … Nutzenoptionen Nutzenkaskade

Inkrementell pfadbestätigend

Radikal pfadbestätigend

Inkrementell pfadbrechend

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Radikal pfadbrechend

Nutzenphilosophie Nutzenstrategie Nutzenangebot Nutzenkommunikation

Migration

Transformation

Substitution

Disruption

Nutzenerzeugung Nutzenbereitstellung Nutzenkapitalisierung

Abb. 1.1  Nutzenkaskade und Nutzenoptionen. (Quelle: eigene Darstellung)

Novationsgrad Inkrementell

Pfadverhalten

Migration

Pfadbestätigend

    

Pfadbrechend

    

(Paradigmendominanz)

Gesundheits-APPs Hotelkliniken Schönheitschirurgie TCM und Alternativmedizin Patient als Gesundheitskunde

Substitution

(Paradigmengefährdung)

Radikal

(Market-User-DrivenInnovation)

Telemedizin Assisted Ambient Living Clinic Home Health Maintenance Organizations Super MVZ (Hybridversorger)

(MINT-Expert-Driven Innovation)

Transformation

    

Precision Medicine OP-Roboter Big-Data-Diagnosen Virtuelle Maximalversorgung From Wearables 2 Implantables

Disruption

    

Integrierte Kreislaufversorgung Globale Gesundheitskonzerne Digital Health 5.0 From Apps 2 Bots and AI/IoT Ubiquitäre Big-Data-Anwendungen

Abb. 1.2  Pfadverhalten und Novationsgrad von Innovationen. (Quelle: eigene Darstellung)

quo führen, ohne diesen zu gefährden. Typische Beispiele hierfür sind Gimmicks and Gadgets mit kundeninduziertem Charakter. (b) Transformation: Im Gegensatz zur Migration soll dann von Transformation gesprochen werden, wenn zwar das dominante Branchenparadigma als strategischer Pfad bestätigt wird, aber ein relativer Quantensprung zum Status quo erzielt wird. Weder OP-Roboter noch die Precision Medicine stellen die Grundprämissen der medizinisch-­ therapeutischen Versorgungskette grundlegend infrage. Jedoch lässt sich ein innerpa-

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T. Knape et al.

radigmatischer Sprung ausmachen, wie viele medizinische Leuchtturmprojekte verdeutlichen. (c) Substitution: Schrittweise und schleichend werden in dieser Konstellation bestehende Geschäftsmodelle, Therapieansätze, Medikationen oder Behandlungsleitfäden durch bessere Alternativen ersetzt. Das bislang dominante Branchenparadigma wird sukzessive infrage gestellt und mit Blick auf seine künftige Validität kritisch beurteilt. Das eigentliche Gefährdungspotenzial besteht im Verpassen und Verschlafen schwacher Marktsignale, die dann von Chancen zu Bedrohungen mutieren. (d) Disruption: Diese Form der Innovation korrespondiert mit einem Prozess der kreativen Zerstörung der etablierten Ordnung. Das Rule Breaking impliziert die bewusste und geplante Obsoleszenz des dominanten Strategiepfads der Platzhirsche einer Branche. Bislang branchenfremde Spieler mit ausgeprägtem ICT-Fokus könnten perspektivisch das Tandem aus Daten und Digitalisierung als Absprungbasis für die Erzielung disruptiver Wettbewerbsvorteile in der bislang massenträgen Gesundheitswirtschaft bilden. Der Pfadbruch ist hierbei gleichbedeutend mit einem Systembruch und einem Bruch mit den Regeln, Usancen und Traditionen einer Branche, die aus den Angeln gehoben werden soll. Die hier entwickelte MTSD-Logik (Migration, Transformation, Substitution, Disrup­ tion) ist als strukturierender Ordnungsrahmen mit fließenden Übergängen zu verstehen, um die Innovation als konstante Größe im Gesundheitswesen zu verankern. Mit Blick auf die eigenen Kernkompetenzen und Pfadabhängigkeiten ist individuell zu entscheiden, welche Innovationsform in welcher Situation zu welchem Zeitpunkt das größte Vorteils­ potenzial bietet.

1.5

Schlussbetrachtung

Abschließend sollen die drei diskutierten Akronyme VUKA  (Volatibilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität), DDDD (Digitalisierung, Datenanalytik, Diskontinuität, Disruption/Gesundheitswesen)  und MTSD  (Migration, Transformation, Substitution, Disruption/Strategiepfad) im Kontext der Gesundheitswirtschaft zusammengeführt werden (s. Abb. 1.1). Zwar lassen sich die sich daraus ergebenden Implikationen auch auf andere Branchen übertragen, doch erzeugen diese drei Veränderungstreiber einen hohen Innovationsdruck in der Gesundheitswirtschaft. Dies gilt umso mehr für sich anbahnende Plattformgeschäftsmodelle und architekturale Wertschöpfungsinnovationen. Mehr denn je stellt sich analog zu anderen Branchen nicht mehr die Frage nach isolierten Innovationspotenzialen auf der Ebene unverbundener Leistungsinseln, sondern nach kreativen Formen einer digital unterstützten Wertschöpfungslandschaft, in die heterogene Akteure und Institutionen des ersten, zweiten und dritten Gesundheitsmarkts eingebunden sind (Abb. 1.3). Deutlich wird, dass sich die Gesundheitswirtschaft im Umbruch befindet, wenn durch Innovationen die Wettbewerbsspielregeln verändern werden. Während pfadbrechend radikale Innovationen oftmals von branchenfremden Akteuren initiiert werden, konzentrieren

1  Innovationsmanagement unter VUKA-Bedingungen: Gesundheit im Fokus von …

VUKA    

   

Volatilität Unsicherheit Komplexität Ambiguität

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DDDD Digitalisierung Datenanaly k Diskon nuität Disrup on / Gesundheitswesen

Agilität in der Gesundheitswirtscha

   

MTSD Migra on Transforma on Subs tu on Disrup on / Strategiepfad

Abb. 1.3  Gesundheitswirtschaft im Umbruch. (Quelle: eigene Darstellung)

sich viele der arrivierten Institutionen auf eine Absicherung ihrer Hochburgen und Kompetenzbastionen. Eine solche kann auf radikalem oder inkrementellem Weg erfolgen, solange dadurch die bestehende Versorgungsordnung nicht nur erhalten, sondern weiterentwickelt und optimiert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird oftmals ein Political-Impact-Management (PIM) praktiziert, um die eigenen Einflusszonen durch Interventionen in das Nichtmarktsystem zu schützen (Rasche et al. 2019). Allerdings kann es sich hierbei längerfristig nur um Abwehrschlachten im Gesundheitswesen handeln, weil sich innovative Pfadbrecher ihren Weg bahnen werden. Vielmehr sollten die etablierten und pfadabhängigen Anbieter offensive Optionen in Erwägung ziehen, wie sich offensive Wettbewerbsvorteile jenseits einer schleppenden Migration der alten Ordnung durch Transformation, Substitution und Disruption aufbauen und verteidigen lassen. Dies setzt allerdings ein Denken und Lenken über die Branchengrenzen voraus, was die Einleitung organisatorischer Innovationen voraussetzt. Diese beinhalten den Mut zur Systemöffnung, Vernetzung und Sektorenüberbrückung bis hin zur Implementierung neuer Versorgungsarchitekturen. Ein solches Modell für ein digitales, mehrseitiges Geschäftsmodell (Plattform) skizziert der in Abb. 1.4 abgebildete morphologische Kasten der Wert- und Nutzenerzeugung im Gesundheitswesen. Er bildet eine Adaption des Modells nach Täuscher et al. (2017, S. 201) als leitfadenähnliche Perspektive zur Gestaltung einer plattformökonomischen Betrachtung von Digital-Health-Services. Dieser stellt gleichsam ein verdichtetes Entscheidungssystem zur Ableitung innovativer Versorgungsformen dar. Das hier entwickelte System ist im Sinne der Open-Innovation-Idee als multianschlussfähig zu interpretieren, um nicht den Eindruck eines finalen Optionenbaukastens zu erwecken. So lassen sich damit einerseits bestehende Versorgungsformen analysieren und andererseits neue Versorgungsmodelle auf analytischem Weg ableiten. Das morphologische Modell zur Generierung

20

T. Knape et al.

1 . Strategie des Plattformökosystems

Verhältnis Produzent/Konsument Plattformkategorie Kernfokus Leitbild

6. Monetarisierung des Wertes

5. Kommunikation und Bereitstellung des Wertes

4. Kooperative Nutzenerzeugung

3. Nutzenangebote

2. Rollen / Stakeholder

Zielsetzung der Plattform

Business-to-Patient B2P bzw. B2C

Business-toBusiness B2B

transaktionszentriert Marktplatz

Vision der Plattform

Patient-to-Patient P2P bzw. C2C

daten- und transaktionszentriert

datenzentriert

Produkt-, Service-, Technologieentwicklung

Datenservices

Steigerung Transaktionen ("Traffic")

Patient-toBusiness P2B, C2B

Mission der Plattform

Datenaggregation, Datenanalytik, Teilen von Daten

Community etablieren

Werte der Plattform

Wertsteigerung der Plattform für einen Verkauf

Effiziente Produktentwicklung, Ressourcen teilen

Stakeholder im Gesundheitswesen

Patient/ Privatperson

Leistungserbringer

Kostenträger, Versicherungen

MedTechSonstige, Unternehmen z. B. Ausbildung

Zu erledigende Aufgaben ("jobs to be done")

z. B. Psychotherapie besuchen

z. B. Onlinetherapie

z. B. Management Partnerservices

z. B. Produkt- zu erledigende Aufgaben entwicklung

Lösungswertes Problem, Bedarf

lange Wege, Wartezeiten

z. B. fehlende Technik

z. B. Bündelung Partnerservices

z. B. fehlende z. B. Lerninhalte Ressourcen bereitstellen

Ziele durch das Plattformökosystem

z. B. Zugang zu z. B. Zugang z. B. zentral digitale Health-Services zu Patienten Services bereitstellen

Rolle im Plattformökosystem

Konsument

Produzent, Anbieter

alleiniger Betreiber

Digitale Angebote der "Plattform" (Kern)

Gesundheitservices

Angebote der Anbieter, "Produzenten"

vertikal (Teildienstleistung, Komponente)

Erbringer des Services (Art)

Mehrwertservices

Offenheit der Plattform (Zugang)

offen

Open-SourceTechnik

Transparenz und Vertrauen schaffen

Bewertung Services

Kommunikationskanal Vermittlung von Transaktionen, Matching

Self-Service, automatisiert, Algorithmus, KI

individuelle Prüfung

Registrierung

Bewertung Produzenten

Verifizierung der Beteiligten Webp Soziale ortal Netze

Kooperationsverträge

Bereitstellungskanal

Webp ortal

Bereitstellungszeitpunkt

unmittelbar nach Kauf

App-Store

per Konsument

In-App

Erlösoptionen

ZuProvision, gang Servicegebühr

Hilfsmittel BGM SGB V

reguliert, Plattform Produzent legt Preisbindung legt Preis fest Preis fest Konsument

physische Kanäle vereinbarter Zeitpunkt

Lockin

Produzent

Betreiber

Zusatzleistung

orientiert an Bewertungen

GesundWer- Daten aus heitswesen bung Nutzung

persönliche Empfehlung

Bewertungsreputationssystem

andere digitale Kanäle

Transaktions- Flatrate / asymmetrisch, eine basiert Subscription Marktseite bevorzugt

Erlöspartner (Zahler)

Netzeffekte

zeitlich versetzt zum Kauf

EBM (ambulant)

kein Zugang

PaymentDienstleister

per Pro- per duzent Betreiber

Preisstrategie

Preisfindung

Open Innovation

Persönlicher Vertrieb

Möglichkeiten zum EnMarketingaktionen, gagement auf der Plattform Rabatte, Anreizsysteme

DRG-Katalog (stationär)

Zertifizierung exklusiv

Bewertung Qualitätsstandards, Partner Zertifizierungen

Bindung der Konsumenten

Kostenerstattung Gesundheitswesen

Bezahl- Distrivorgänge bution

PlattformGovernance

Offline Marketing

Informations-, VorschlagsSuchfunktion algorithmus

Vertragswesen

Open Data

Bewertung Plattform

Online Marketing

Community

Kombination: Person, Self-Service, KI

Zugangsgebühren

Erfüllung technischer Voraussetzungen

API

Marktzugang

horizontal (Gesamtservice, Produkt)

technische Daten, MarkeUX Infrastruktur Analytik ting

Offenheit der Infrastruktur, Daten

Schutz des gemeinschaftlichen Wertes

kooperierender Infrastrukturpar Sonstige Betreiber tner

Gesundheits- technische Daten, Analytik, produkte Infrastruktur Infos, Algorithmus

reale Person, über digitales Medium

Angebote der Plattformpartner

z. B. Daten, z. B. Zugang zu Infrastruktur Lernenden

immateriell

KV-Selektivverträge Konsument legt Preis fest

Social Media

regulative Preisbindung Wertsteigerung Plattform

Privatzahler

B2B

Auktion

"Wettbewerb"

Partner

Abb. 1.4  Morphologisches Modell zur Generierung innovativer Gesundheitsgeschäftsmodelle. (Quelle: in Anlehnung an Täuscher et al. 2017, S. 201)

1  Innovationsmanagement unter VUKA-Bedingungen: Gesundheit im Fokus von …

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innovativer, digitaler Plattformgesundheitsgeschäftsmodelle dient als integrativer Bezugsrahmen zur Einbeziehung multipler Entscheidungsparameter bei Definition und Ableitung optionaler Innovationspfade, die von inkrementell bis radikal und von pfadbestätigend bis pfadbrechend reichen können. Im ersten Schritt werden die strategischen Optionen des Plattformökosystems festgelegt. Dies umfasst die Aspekte der generellen Marktkonstellation, z.  B.  Business-to-­ Consumer oder Business-to-Business, und die Entscheidung des Kernfokus bzw. zur Ausrichtung der Plattform, z. B. als transaktionszentrierter Marktplatz oder als datenzentrierte Serviceplattform (von Engelhardt et al. 2017). Damit verbunden ist die Fragestellung der Zielsetzung des Vorhabens, wie z. B. eine wesentliche Steigerung der Transaktionen. Im Mittelpunkt des zweiten Schritts steht die Beantwortung der Fragestellungen: Welche Stakeholder des Gesundheitswesens agieren auf der Plattform? Welches ihrer Pro­ bleme soll mithilfe der Plattform gelöst werden? Welche Rolle streben diese Stakeholder im Plattformökosystem an? Hierbei wird zwischen den Konsumenten bzw. Kunden von Digital-­Health-Services (z. B. Patienten), deren Anbietern bzw. Produzenten (z. B. Ärzte, Medizintechnikunternehmen), dem eigentlichen Plattformbetreiber als Intermediär zwischen Anbietern und Konsumenten (Haller und Wissing 2018, S. 175) sowie den Partnern des Betreibers, z. B. IT-Infrastrukturanbieter, unterschieden. Wobei ein Stakeholder zwischen mehreren Rollen wechseln kann. Beispielsweise kann ein Patient als „Konsument“ einen digitalen Gesundheitsservice in Anspruch nehmen und seine Nutzungsdaten als Anbieter bzw. Partner dem Plattformökosystem wieder zur Verfügung stellen (Tiwana 2014). Die Skizzierung des Plattformangebots und deren Erbringer erfolgt im dritten Schritt. In diesem Zusammenhang spielen zum Beispiel die Art und der Umfang der Integration von Data Analytics bzw. künstlicher Intelligenz in die Geschäftsmodellinnovation eine Rolle. Der Gestaltungsaspekt einer kooperativen Nutzenerzeugung innerhalb des Ökosystems im Hinblick auf innovative Services bzw. Produkte folgt im vierten Schritt. Welchen Grad und welche Form der „Öffnung“ nach außen strebt die Plattform an? Wird ein Open-­ Innovation-­Ansatz (Chesbrough 2006) in Kombination mit Open Data gewählt? Welche Kriterien, Voraussetzung müssen neue Teilnehmer für das Beitreten zur Plattform erfüllen? Nach welchen Regeln erfolgt die Zusammenarbeit (Platform Governance)? Wesentliche Herausforderung sind in diesem Zusammenhang die vertragliche, kooperative Basis und der Schutz des geistigen Eigentums. Ferner sind im vierten Schritt die Kommunikation und Bereitstellung des Nutzens bzw. digitalen Health-Services zu definieren. In diesem Zusammenhang ist u. a. von Interesse, auf welche Art das Suchen bzw. Finden des Anbieters und Konsumenten erfolgt. Für die Schaffung von Transparenz und Vertrauen bietet sich die Etablierung von Onlinebewertungs- und Reputationsmechanismen auf der Plattform an. Die Kommunikation der Offenheit und Unabhängigkeit der Plattform stellt hierbei ein weiteres Mittel für die Vertrauensbildung dar. Als wesentlicher Schritt ist schließlich das Monetarisierungskonzept zu erstellen. Hierbei sind einerseits verschiedene Erlösoptionen zu identifizieren, wie z. B. Zugangsgebühren für die Plattform oder transaktionsabhängige Provisionen. Andererseits sind die Möglichkeiten zur Kostenerstattung innerhalb des Gesundheitswesens zu

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T. Knape et al.

prüfen. Ferner sind die Art der Preisfindung, z. B. Vorgabe durch den Betreiber, und der eigentliche Erlöspartner zu bestimmen. Für welchen Innovationspfad sich im konkreten Einzelfall entschieden wird, ist dabei eine Funktion individueller Kernkompetenzen, Risikopräferenzen und unternehmenspolitischer Entscheidungen. Die entwickelte Innovationsmorphologie für das Gesundheitswesen könnte ebenso eine Diskussionsplattform für einen Design-Thinking-Prozess sein, der einer strategischen Kanalisierung und Impulsvermittlung bedarf, ohne dabei die Kreativität zu limitieren.

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Thorsten Knape  ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam am Lehrstuhl für Management und Professional Services bei Herrn Prof. Dr. Rasche tätig. Seine aktuellen Forschungsinteressen konzentrieren sich auf die digitale Transformation im Gesundheitswesen. Hierbei stehen digitale, datengetriebene Geschäftsmodellinnovationen und Plattformökonomie mit dem Fokus auf Digital Health, Smarthome sowie digitale Beratungsdienstleistungen im Mittelpunkt. Ferner ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektteamleiter am Telemedizin Centrum der Charité Universitätsmedizin Berlin (TMCC) bei Herrn Prof. Dr. Hufnagl beschäftigt. Hierbei liegen seine aktuellen Forschungsschwerpunkte in der nutzerzentrierten Entwicklung von digitalen Lösungen für Mental Health. Er absolvierte sein MBA-Studium an der Uni Potsdam sowie die Studiengänge Wirtschaftsingenieurwesen und Medieninformatik (M. Sc.) an der Beuth Hochschule Berlin. Relevante Berufserfahrung sammelte Thorsten Knape in den Bereichen Produkt- und Geschäftsmodellentwicklung sowie Consulting in über 15 Jahren in Unternehmen der Medizintechnik und an Forschungseinrichtungen.

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T. Knape et al.

Professor Dr. rer. nat. Peter  Hufnagl studierte Mathematik und Statistik an der Bergakademie Freiberg. Er konzentrierte sich zunächst auf die medizinische Bildanalyse und entwickelte Frameworks für die Tumorcharakterisierung und Medikamentenforschung. In den späten 1990er-Jahren begann er mit dem Aufbau telemedizinischer Lösungen für die Kommunikation zwischen Ärzten sowie für die Versorgung von medizinischen Notfällen auf Schiffen und in Flugzeugen. Hierfür gründete er das Telemedizin Centrum an der Berliner Charité. Als Leiter der Abteilung für Digitale Pathologie am Pathologischen Institut der Charité Berlin beschäftigt er sich mit der Anwendung von virtuellen Mikroskopiesystemen und maschinellem Lernen in der Histologie. 2016 gründete er das Zentrum für Biomedizinische Bild- und Informationsverarbeitung (CBMI) mit einem Forschungsschwerpunkt „Deep Learning“ an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin (HTW). Univ.-Prof. Dr. rer. pol. habil. Christoph  Rasche (Bayreuth), Jahrgang 1965 in Münster, ist Leiter der Sektion „Professional Services“ an der Universität Potsdam. Zugleich war er mehrere Jahre geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sportwissenschaft und fungiert als Professor für Sport- und Gesundheitsmanagement. Professor Rasche besitzt eine Doppelmitgliedschaft in der Humanwissenschaftlichen und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Von 1995–1998 war Prof. Rasche Topmanagementberater bei der Unternehmerberatung DROEGE & Comp. AG. Er übt(e) u. a. Gastprofessuren an den Universitäten Innsbruck, Acalá de Henares (Madrid), Jena sowie der Hochschule Osnabrück im Rahmen der MBA-Ausbildung aus. Prof. Rasche wirkt als Unternehmensberater und Executive Trainer zur Stimulierung des Diskurses zwischen Wissenschaft und Praxis. Seine Forschungs- und Beratungsschwerpunkte beinhalten folgende Themenfelder: multifokales Management, Corporate Restructuring, Professional Services sowie Sport- und Gesundheitsmanagement. Die Dissertation erfolgte zum Thema „Wettbewerbsvorteile durch Kernkompetenzen“; der Titel der Habilitationsschrift lautet „Multifokales Management“. Schwerpunktmäßig beschäftigt sich Professor Rasche in der Forschung und Beratung mit dem Wertsteigerungs- und Produktivitätsmanagement in der Gesundheitswirtschaft. Seit 2017 ist Professor Rasche Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Instituts für Beratungswissenschaften.

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Innovation durch Digitalisierung – Eine Chance für die Restrukturierung von Prozessen im Gesundheitswesen Andreas Gadatsch

Inhaltsverzeichnis 2.1  Vom Einzelplatz-PC zur Cloud  2.2  Digitalisierung als Kernbestandteil von Innovationen  2.3  Big Data  2.4  Geschäftsprozesse im Gesundheitswesen  2.5  Generische Ansätze der Restrukturierung von Prozessen  2.6  Inhaltliche Ansätze zur Restrukturierung von Prozessen  2.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Trends in der Informations- und Kommunikationstechnik kommen und gehen. Aber jeder Trend hinterlässt Spuren. Ein aktueller Megatrend ist die Digitalisierung. Sie verändert Geschäftsmodelle, Organisationsstrukturen und Prozesse, oft mithilfe von Big-Data-Technologien. Die Digitalisierung bringt umfangreiche Innovationen im Gesundheitswesen mit sich und wird auch als Enabler für Innovationen genutzt. Mögliche Konzepte in der Praxis sind die „digitale Arztpraxis“, „digitale Rezepte“ oder „Echtzeituntersuchungen und -operationen“ mit verteilten Standorten von Patient, Operateur und Fachexperten, unterstützt durch digitale Plattformen. Digitalisierung ist einerseits somit Innovation, andererseits ist Innovation häufig mit Digitalisierung verbunden. Beide Begriffe sind wie die Vorder- und Rückseite einer Münze zu sehen, ein unzer-

A. Gadatsch (*) Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Sankt Augustin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_2

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trennbares Paar. Waren die Einrichtungen des Gesundheitswesens zunächst zögerlich bei der Nutzung dieser Technologien, so häufen sich jetzt Beispiele von ­Krankenkassen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen zu diesem Thema. Digitalisierung ist jedoch kein Selbstzweck, sie muss einen inhaltlichen Vorteil bieten. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann dies ein neues Geschäftsmodell oder ein effizienterer Prozess sein. Aus medizinischer Sicht kann dies eine Verbesserung der Untersuchung, Behandlung oder Nachsorge von Patienten sein. Aus gesellschaftlicher Sicht ist die Digitalisierung ein Muss. Es ist bereits höchste Zeit, hier mehr für Tempo zu sorgen. Anlässlich der diesjährigen Eröffnung des Branchentreffs, der DMEA Fachkonferenz in Berlin, hat der Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn, darauf hingewiesen, dass es hierbei bereits auf jeden Monat im Rahmen der Umsetzung ankommt. Im Moment sind wir nicht auf dem Weg zur „digitalen Weltmeisterschaft im Gesundheitswesen“. Der Beitrag geht auf die Chancen der Digitalisierung unter besonderer Berücksichtigung von Big-Data-Technologien ein und zeigt auf, wie die Geschäftsprozesse im Gesundheitswesen verbessert werden können.

2.1

Vom Einzelplatz-PC zur Cloud

Aktuelle Schlagzeilen versprechen zum Teil eine spektakuläre Zukunft: „Kurt Kruber, Leiter MIT (Medizintechnik und IT) am Klinikum der Universität München, geht davon aus, dass die ersten drei volldigitalisierten Kliniken in Deutschland bereits in fünf Jahren existieren“ (Kruber 2017). Die Realität sieht derzeit häufig noch anders aus. Papierdokumente wie Rezepte, Überweisungen, Arztbriefe, Anamnesebögen dominieren die Prozesssteuerung und Patientenkommunikation. Historische Entwicklung In den 1980er-Jahren lag der Schwerpunkt der IT-Unterstützung noch auf der administrativen Verwaltung (vgl. Gadatsch 2013, S. 60). Beispiele der IT-Unterstützung waren Patientenverwaltung, Leistungsabrechnung, Finanzbuchhaltung oder die Lohn- und Gehaltsabrechnung. In den 1990er-Jahren wurden erste medizinische und pflegerische Daten erfasst und die Automatisierung von Massenprozessen wurde intensiviert. In dieser Zeit wurden die ersten Computerprogramme entwickelt, die vom Grundsatz her der heutigen elektronischen Patientenakte entsprechen. Weiterhin wurden erste rudimentäre Führungsinformationssysteme entwickelt. Beginnend mit den 2000er-Jahren wird die „IT“ im Gesundheitswesen als „Chefthema“ identifiziert. Die ersten „Krankenhausinformations­ systeme (KIS)“ tauchen auf. Daneben verbreiteten sich webbasierte Anwendungen in zahlreichen Einrichtungen des Gesundheitswesens. Spätestens seit etwa 2011 ist die IT-gestützte Bereitstellung von Managementinformationen zu einem wichtigen Thema geworden, nicht zuletzt durch die im Rahmen von „Big Data“ angetriebene Diskussion und die damit verbundenen Möglichkeiten.

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Cloud-Computing Eine zunehmende Bedeutung erfahren derzeit Cloud-Anwendungen, also die dynamische anforderungsorientierte Bereitstellung von Informationsverarbeitungsprozessen durch externe Dienstleister. Cloud-Anwendungen erfordern keine eigenen Investitionen, setzen jedoch ein standardisiertes Leistungsangebot voraus. In der Gesundheitsbranche sind Cloud-Lösungen insbesondere für sensible Daten noch die Ausnahme. Aber es gibt auch Ausnahmen, wie z. B. der Vivantes Krankenhauskonzern in Berlin (vgl. Kurzlechner 2015). Das Unternehmen betreibt ein Personalmanagementsystem des Anbieters SAP im eigenen Rechenzentrum, die Personalakten der Mitarbeiter werden in einer Cloud des Bielefelder IT-Dienstleisters Aconso geführt. Die Motivation für den Einsatz einer Cloud-Lösung besteht in der Zeitersparnis im Rahmen der Digitalisierung von Krankenakten. Die betroffenen Krankenhäuser des Unternehmens pflegten zuvor an mehreren Standorten ihre Papierakten, zum Umzug der Hauptverwaltung in neue Räume sollte die Aktenführung konsolidiert und möglichst schnell digitalisiert werden (vgl. Kurzlechner 2015).

2.2

Digitalisierung als Kernbestandteil von Innovationen

Innovation und Digitalisierung werden schon länger als Begriffspaar verstanden, analog zur Vorder- und Rückseite einer Münze (vgl. Costello 2010). Ohne Digitalisierung ist häufig keine Innovation im Gesundheitswesen möglich. Digitale Innovationen werden als Produktinnovationen (z. B. EKG auf Smartwatch), Prozessinnovationen (z. B. Rezept online) oder als Geschäftsmodellinnovationen (z. B. digitale Arztpraxis) sichtbar (Back et al. 2018, S. 26). Der Begriff „Digitalisierung“ wird gelegentlich in der Diskussion mit der bislang schon weit fortgeschrittenen „Automatisierung“ verwechselt. Es gibt jedoch Unterschiede im Vergleich zu früheren Epochen des Einsatzes von IT. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind dramatischer und weitreichender als bisher. Der Präsident von Acatech, der Akademie der Technikwissenschaften, Dieter Spath, hat den Unterschied auf den Punkt gebracht (vgl. Spath 2018): Die Automatisierung dient der Erhöhung des Profits, basiert auf hierarchischen Strukturen und Kontrolle der Prozesse und Mitarbeiter. Sie setzt klassische Planungsinstrumente ein und fördert klassisches Silodenken in den meist funktional aufgestellten Unternehmen. Die Digitalisierung dagegen folgt einer Unternehmensvision, basiert auf teamorientierten Arbeitsweisen und Wissenstransfer (Kollaboration) und setzt anstelle von starren Planungsmethoden agile Projektmethoden ein und sorgt für Transparenz (vgl. Abb. 2.1). Im Gegensatz zur Automatisierung, welche die Arbeit erleichtert und beschleunigt, verändert und ersetzt die Digitalisierung die Arbeit. Die Auswirkungen der Digitalisierung sind gewaltig und betreffen alle Branchen und Aufgabenfelder, das berufliche und das private Leben (vgl. Abb. 2.2).

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Gewinnmaximierung Ressourceneffizienz

Unternehmensvision Stakeholderorientierung

Profit

Sinn

Hierarchie

Netzwerke

Bürokratisierung Zentralisierung

Kontrolle

Kollaboration

Bedarfsorientierung Wissenstransfer

Budgetierung Kalkulation

Planung

Experimente

Agile Methoden Pioniergeist

Diskretion

Transparenz

Offene Systeme Denkfabriken

Autorität (An-)Weisung

Informationshoheit Silodenken

Automasierung

Teamgedanke Freiheitsgrade

Digitalisierung



Abb. 2.1  Digitalisierung versus Automatisierung. (Quelle: Spath 2018)

Arbeit der Zukunft • Homeoffice & von überall

Social Collaboration

Physische Produkte => Services

• Facebook & weitere

• Rundum-sorglos

Digitalisierung – Digitale Dienstleistungen anstelle Vor-Ort-Services

Chancen & Risiken

• Big Data Analytics

• Mobile Banking & Chatbots

Neue Komfortdienstleistungen • Onlinelieferdienste & digitale individualisierte Beratung

Gläserne Menschen

Kooperationen & Globalisierung • Automobilhersteller & Versicherungen

Abb. 2.2  Auswirkungen der Digitalisierung. (Quelle: Hanschke 2018)

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Häufigkeit

Qualifizierungsdefizit Notwendige Qualifizierungsmaßnahmen

Sockel der Anpassungsverlierer

Fachkräemangel

Lücke der Qualifizierbarkeit

Qualifikaon Qualifikationsangebot Qualifikationsnachfrage

Abb. 2.3  Digitalisierung und Anforderungen an die Qualifizierung von Mitarbeitenden. (Quelle: Kornwachs 2018)

Diese Entwicklungen führen zu einer Erhöhung des Bedarfs an qualifizierten Mitarbeitern in enormer Höhe mit starken Wirkungen auf den Arbeitsmarkt (vgl. Abb. 2.3).

2.3

Big Data

Big Data wird häufig mittels der drei V Volume, Velocity und Variety des Analysten- und Beratungshauses Gartner beschrieben, die später um weitere Faktoren ergänzt wurden (vgl. Bachmann et al. 2014, S. 23). Demnach ist Big Data charakterisiert durch ein hohes Mengenvolumen (Data Volume), enorme Geschwindigkeiten der Informationsverarbeitung (Data Velocity) sowie die Vielfalt der verarbeitungsfähigen Daten (Data Variety), Werthaltigkeit (Value) und Widerspruchsfreiheit (Validity). Andere Autoren haben noch den Aspekt der Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit (Veracity) hinzugefügt (vgl. Beyer und Laney 2012). Big Data ist die … wirtschaftlich sinnvolle Gewinnung und Nutzung entscheidungsrelevanter Erkenntnisse aus qualitativ vielfältigen und unterschiedlich strukturierten Informationen, die einem schnellen Wandel unterliegen und in bisher ungekanntem Umfang anfallen (BITKOM 2012, S. 7).

Die Erläuterung zeigt nicht nur den technischen Hintergrund auf, sondern fokussiert den unternehmerischen Aspekt, der hinter Big Data steht. Es geht darum, die neuen Werkzeuge für das strategische und operative Geschäft zu nutzen. Big Data stellt Werkzeuge bereit, die geschäftskritische Anwendungen, wie beispielsweise die Vertriebssteuerung oder die Produktionsüberwachung, unterstützen und mit denen neue Geschäftsmodelle auf der Basis von verfügbaren Daten entwickelt werden können.

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Grundsätzlich steigen die Nutzungsmöglichkeiten für Big Data, wenn sich aus den Geschäftsprozessen ein hohes Datenvolumen unstrukturierter Daten extrahieren lässt und eine hohe Interaktivität der Analysen gefordert ist, d. h. Echtzeitanalysen gewünscht sind. Im Gesundheitswesen sind dies z. B. die Möglichkeit der Frühwarnung vor Epidemien, die Erkennung von unerwünschten Nebenwirkungen bereits zugelassener Medikamente (vgl. z. B. die Habilitation von Andersohn 2011) oder die Fernüberwachung von Patienten.

2.4

Geschäftsprozesse im Gesundheitswesen

Geschäftsprozesse sind wiederholt durchgeführte zielorientierte und arbeitsteilige Aufgaben (vgl. z. B. Gadatsch 2017). Ein beispielhafter Prozess des Gesundheitswesens ist die Aufnahme des Patienten, seine Untersuchung, Behandlung und Pflege oder die Leistungsabrechnung (vgl. Gadatsch 2013). Gesteuert wird der Prozess durch einen Prozessverantwortlichen. In der Literatur und Praxis werden im Gesundheitswesen verschiedene Prozesstypen unterschieden. Medizinische Prozesse decken den Kernbereich des Gesundheitswesens ab (Untersuchung, Behandlung, Pflege, Rehabilitation u. a.), für die es individuelle Methoden zur Beschreibung und Dokumentation gibt (z. B. Operationsplan). Betriebswirtschaftliche Prozesse nehmen im Gesundheitswesen allgemeine Aufgaben wahr, wie z. B. Management, Personalwesen, Controlling, Buchhaltung, Logistik und Materialwirtschaft, Gebäudemanagement.

2.5

Generische Ansätze der Restrukturierung von Prozessen

Wesentliche Ziele der Geschäftsprozessoptimierung sind die Verkürzung der Durchlaufzeit und die Verbesserung der Prozessqualität. Die Möglichkeiten zur Restrukturierung von Prozessen sind schon länger bekannt und z. B. bei Bleicher (1991, S. 196) beschrieben. Sie lassen sich auf alle Prozesstypen anwenden, da sie elementare Grundregeln der Vereinfachung darstellen. Sie müssen allerdings konsequent angewendet werden, wenn sie wirksam werden sollen. Weglassen Die einfachste Art der Optimierung besteht darin, überflüssige Prozesse oder Teilschritte wegzulassen. Dies können Überprüfungen der Notwendigkeit zur Funktionserfüllung sein, z. B. Ersatz der Genehmigung von Dienstreiseanträgen im nahen Umkreis durch eine Dauergenehmigung. Typisch sind auch der Wegfall von manuellen Tätigkeiten durch Einsatz neuer Technologien, Wegfall von überflüssigen Statistiken, Erstellung von „Sicherheits-“Fotokopien von Belegen u. v. m.

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Auslagern Die Vergabe von Aktivitäten an externe Dienstleister hat im Gesundheitswesen bereits eine längere Tradition. Sie stellt eine einfache Möglichkeit dar, Prozesse dadurch zu vereinfachen, dass externe spezialisierte Dienstleister Leistungen effizienter erbringen können. Typische Beispiel sind die externe Fakturierung von privaten Leistungen, externe Arztbriefschreibung, externe Labor- und Radiologieleistungen, externe Rechenzentren u. a. m. Zusammenfassen Jeder Bearbeiterwechsel im Rahmen eines Prozesses kostet Zeit, da der Vorgang übertragen werden muss. In der Industrie spricht man von Rüstzeiten. In Dienstleistungseinrichtungen wie dem Gesundheitswesen sind es Wiederanlaufzeiten zur Aufnahme von Prozessen. Meist müssen nicht nur Informationen übermittelt werden, sondern auch physische Objekte (Akten, Arztberichte, Atteste, Medikamente u. a. m.), was zu weiteren Verzögerungen im Ablauf führt, da der Transport organisiert werden muss und Zeit verbraucht. Die Zusammenlegung von Aktivitäten reduziert den für den Transfer von Informationen und realen Objekten notwendigen Zeitverbrauch erheblich. Ein typisches und vergleichsweise einfach zu realisierendes Beispiel im Gesundheitswesen ist der Ausdruck von Rezepten und Überweisungen direkt durch den Arzt im Behandlungszimmer, um Wartezeiten für den Patienten an der Rezeption zu vermeiden (Kunden-/Patientenorientierung). Parallelisieren Sofern es möglich ist, sollten Teilschritte eines Gesamtprozesses parallelisiert werden. Dies bringt allerdings eine erhöhte Arbeitsteilung mit sich und erfordert spezialisierte Mitarbeiter und eine übergeordnete Steuerung. Im Rahmen von Optimierungsmaßnahmen sollte daher im Einzelfall abgewogen werden, ob und welche Teilschritte zur gleichen Zeit ausgeführt werden können. Verlagern Ein früherer Beginn von bisher nachgelagerten Aktivitäten einer Prozesskette kann zu kürzeren Prozesslaufzeiten führen. Ein Beispiel wäre das frühzeitige Untersuchen oder Befragen von Patienten, um spätere Wartezeiten durch Rückfragen zu vermeiden. Fragebögen zu Vorerkrankungen könnten bereits im Vorfeld von Aufnahmevorgesprächen übermittelt und vom Patienten ausgefüllt werden. Beschleunigen Die Bereitstellung von geeigneten und zeitgemäßen Arbeitsmitteln zur effizienten Aufgabenerledigung und zur Vermeidung von Warte- und Liegezeiten ist eine wesentliche Vo­ raussetzung für die Prozessbeschleunigung. Ein typisches Beispiel ist die mobile Visite mithilfe von Tablet-PCs. Mithilfe der elektronischen Patientenakte, dargestellt auf einem mobilen Endgerät, können vom Arzt relevante Daten wie Labordaten, Diagnosen, Befunde oder auch Vitaldaten des Patienten abgerufen werden. Daneben besteht Zugriff auf medizinische Bilddaten (Röntgen-, CT- und MRT-Bilder). Dies kann kombiniert werden

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mit administrativ-organisatorischen Informationen (Kalender, OP-Belegungspläne u. a.). Hierdurch entfallen beispielsweise fehleranfällige und zeitraubende Übertragungsarbeiten von Notizzetteln in die Patientenakte. Suchzeiten werden reduziert, da die relevanten Patienteninformationen vor Ort im Krankenzimmer im Zugriff sind. Angesichts einer steigenden Anzahl von Apps für Smartphones und Tablet-PCs sind mobile Erfassung und Auswertungen von Daten als Prozessbeschleuniger denkbar (vgl. z.  B.  Amelung et  al. 2013, S. 10). Schleifen vermeiden Der Rücksprung im Ablauf und ein erneutes Durchlaufen des Prozesses sind ein häufiger Grund für Zeitverluste. Daher sollten Daten bei der Erfassung möglichst vollständig plausibilisiert werden, um spätere Nacherhebungen und Rückfragen zu vermeiden. Ein Beispiel ist die Erfassung von Rezeptnachbestellungen beim Arzt, die interaktiv im Arztpraxisinformationssystem vom Assistenzpersonal erfasst und gegen die Patientenstamm- und Bewegungsdaten abgeglichen werden können. Ein weiteres Beispiel ist die elektronische Terminvergabe bei gleichzeitigem Verfügbarkeitscheck notwendiger Ressourcen, insbesondere dem ärztlichen und Assistenzpersonal, der erforderlichen Räume und ggf. wichtiger Geräte. Ergänzen Bislang wurden nur Aspekte behandelt, die einen konkreten Einzelprozess optimieren. Da die Prozesse in der Regel miteinander verbunden sind und Querbeziehungen bestehen, kann es notwendig sein, Teilschritte hinzuzufügen, um Einsparungen an anderer Stelle zu erzielen. Dies können z. B. zusätzliche Maßnahmen zur Qualitätssicherung, eine Patientennachbefragung zur Zufriedenheit, Ausfüllen von Checklisten für Folgetermine, Erstellung einer SMS-/E-Mail-Erinnerung an Termine u. v. m. sein. Hierdurch wird der betrachtete Einzelprozess zwar verlängert, aber der Gesamtprozess wird optimiert. Spezialfall Segmentierung Die Segmentierung ist ein spezieller Ansatz aus der Militär- und Katastrophenmedizin, der dann greift, wenn viele Verletzte gleichzeitig zu versorgen sind und sequenzielles Abarbeiten tödlich sein kann (vgl. Hellmann und Eble 2010). Daher müssen in solchen Fällen deutliche Prioritäten gesetzt werden. Die Segmentierung stellt gewissermaßen eine spezielle Form von „Parallelisieren“ und „Weglassen“ an. Das Prinzip kann auch im „Normalfall“ zum Einsatz kommen. Nach einer klinischen Untersuchung wird beispielsweise entschieden, ob es sich um einen „Standardverlauf“ handelt oder ob weitere Untersuchungen oder Behandlungen erforderlich sind. Je nach Entscheidung laufen unterschiedliche Prozessvarianten ab. Projektmanagement Die Optimierung von Prozessen erfolgt bei großen Veränderungen idealerweise in Projektform mit anschließender regelmäßiger Feinoptimierung. Für Optimierungsprojekte sind

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gemischte interdisziplinäre Teams aufzustellen, die aus verschiedenen Bereichen rekrutiert werden: Auftraggeber, Prozessmanager, Prozessexperten, Methodenexperten und Projektleiter. Der Auftraggeber fungiert als Projektsponsor, d. h., er fördert das Projekt. Idealerweise handelt es sich hierbei um ein Mitglied des Krankenhausdirektoriums. Prozessmanager sind leitende ärztliche oder nichtärztliche Mitarbeiter aus den beteiligten Abteilungen (Station, Anästhesie …). Prozessexperten sind pflegerische Mitarbeiter aus den betroffenen Bereichen (Station, OP, Anästhesie …), Verwaltungsmitarbeiter aus der Patientenverwaltung, Vertreter der Funktionsabteilungen (Labor, Röntgen …).

2.6

Inhaltliche Ansätze zur Restrukturierung von Prozessen

Einsatz disruptiver Geschäftsmodelle Die Digitalisierung bietet ein hohes Wachstumspotenzial, wenn das Management bereit ist, in innovative neue Geschäftsmodelle und -prozesse zu investieren (vgl. Gadatsch 2016, S. 63). Der seit Langem anhaltende Weg der Digitalisierung von Prozessen nimmt weiter zu und erreicht Anwendungsbeispiele, die bislang nicht denkbar waren. Werth et al. skizzieren beispielsweise unter dem Label „Consulting 4.0“ einen digitalisierten Beratungsprozess, der anders als heute, wo die Digitalisierung vieler Beratungsunternehmen beim Kontaktformular endet, den gesamten Beratungsprozess von der Problemidentifikation, Analyse, Problemlösung und deren Umsetzung umfasst (vgl. Werth et al. 2016). Das weltweit tätige und jahrzehntelang erfolgreiche Unternehmen Kodak mit mehreren Tausend Mitarbeitern musste 2012 Konkurs anmelden, obwohl es die Patente für digitale Fotografie besaß. Zur gleichen Zeit etwa wurde Instagram, ein Internetunternehmen für die Bearbeitung und den Versand digitaler Fotos, mit 20 Mitarbeitern für eine Mrd. US-Dollar an Facebook verkauft (vgl. Scheer 2016). Einsatz digitaler Elemente in klassischen Prozessen Viele Prozesse im Gesundheitswesen lassen stärker digitalisieren (z. B. mobile Visite im Krankenhaus) oder auch vollständig elektronisch abwickeln (z.  B.  Terminvereinbarung beim Zahnarzt, Beratung bei der Suche nach freien Kapazitäten für Spezialuntersuchungen, Auskunftssysteme möglicher Krankheiten). Nachfolgend wird zunächst der klassische Prozess der mobilen Visite als typisches Beispiel vorgestellt. Mobile Visite als Beispiel für Prozessoptimierung im Krankenhaus

Istsituation: In vielen Krankenhäusern erfolgt die tägliche Visite auf den Krankenstationen nach folgendem Muster: • Täglich werden ein bis zwei Visiten unter Beteiligung des Chefarztes, der Assistenzärzte und Pflegekräfte durchgeführt. • Die Dauer der Visiten variiert abhängig von vielen Parametern, wie z. B. Klärungsbedarf oder Gesprächigkeit von Patienten.

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• Als Arbeitsmittel dienen dem Personal Patientenakten in Papierform, die im Visitewagen von Zimmer zu Zimmer transportiert werden, sowie Laptops und Schreibzeug. • Meist sind die Visitewagen zu sperrig, um im Krankenzimmer Platz zu finden, sodass nicht alle Informationen am Patientenbett zur Verfügung stehen. • Kritisch und häufig prozessstörend sind WLAN-Verbindungen, mit denen vom Laptop auf das zentrale Krankenhausinformationssystem (KIS) zugegriffen werden kann. Nicht selten sind Flure und Krankenzimmer nicht ausreichend ausgeleuchtet, d. h., es kommt zu Störungen in der Verbindung. • Vor und nach der Visite fallen Informationsbeschaffungs- und Aktualisierungsprozesse an. Patienteninformationen und Medikationen müssen aktualisiert und dokumentiert werden. • Viele Informationen werden mehrfach erfasst und z. B. von Notizzetteln in Patientenakten oder Informationssysteme übertragen. Das Personal kennt die Arbeit mit der üblichen Zettelarbeit seit jeher und hat sich mit der Situation abgefunden, obwohl technische Neuerungen bekannt sind. Sollsituation: Der Einsatz von Smartphones und Tablet-PCs kann die geschilderte Situation in mehrfacher Hinsicht optimieren. Im einfachsten Fall werden auf den Stationen ein oder mehrere mobile Endgeräte als Arbeitsstationen eingesetzt. Sie ersetzen die Papierpatientenakte und klassische PCs oder Laptops. Außerhalb der Visite können die Geräte für andere Aufgaben genutzt werden, beispielsweise zum Abgleich von Inventurbeständen auf den Stationen (Medikamente, Wäsche u. Ä.). • Aus Mitarbeitersicht dienen mobile Endgeräte als zentrale Arbeitsstationen, die durch einfache Bedienung, geringes Gewicht, lange Akkulaufzeiten und gute Darstellungsmöglichkeiten (Daten, Bilder, Videos) einen direkten und aktuellen Zugriff auf notwendige Informationen bieten. Die Mitarbeiter werden deutlich durch den Wegfall unnötiger Doppelarbeiten entlastet und können sich auf das Wesentliche, den Patienten, konzentrieren. Der Schulungsaufwand ist meist sehr gering, zumal viele Mitarbeiter derartige Geräte bereits aus ihrem privaten Umfeld kennen. • Aus Patientensicht wird ein gesteigerter Service wirksam. Beispielsweise kann der Patient Röntgenaufnahmen oder andere Informationen am Krankenbett betrachten und direkt mit dem Arzt besprechen. Zudem wird die Gefahr von Übertragungsfehlern (falsche Medikation) minimiert, was den Behandlungserfolg steigert. • Aus der Sicht des Krankenhauses ergeben sich Zeit- und Kosteneinsparungen sowie Qualitätsverbesserungen im Prozess durch reduzierte Fehlerquellen in erheblicher Größenordnung. Smartphones können zudem vorhandene Einzelfunktionsgeräte (z. B. Diktiergeräte, Telefone) ersetzen, da sie zahlreiche Funktionen in einem Gerät vereinen.

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Schon vor längerer Zeit wurde in Pilotprojekten die Patientenaufklärung mit digitalen Elementen optimiert. Patienten können vor dem Arztgespräch am Computer oder Ta­ blet-­PC Informationen zum Eingriff und zu den Risiken lesen, anschließend beantworten sie Fragen zu Vorerkrankungen und Medikamenten. Der Arzt hat nun die Informationen strukturiert und elektronisch vorliegen und kann das Aufklärungsgespräch gezielt den Bedürfnissen des Patienten anpassen. Die elektronische Unterschrift ermöglicht den vollelektronischen Abschluss des Prozesses. Innovative Ansätze, häufig von kleinen Start-ups, gehen hier weiter. So ist die digitale Behandlung bzw. Rezeptausstellung via www.medikamente-now.de, www.fernarzt.de oder www.patientus.de keine Utopie mehr, sondern technisch und als realer Prozess realisiert. Befunddokumentation und Arztbriefschreibung im Krankenhaus

1968 wurde im Bethesda Krankenhaus in Duisburg die „teuerste Schreibmaschine“ der Welt genutzt, eine elektronische Datenverarbeitungsanlage vom Typ IBM 360/30. Es wurde versucht, Organisatorisches und Medizinisches schnell und kostensparend zu rationalisieren. Ein Dokumentationsprozess, bei dem aus den Patientendaten und dem Protokoll des Schlussgesprächs der Arztbrief automatisch generiert wurde. Suchmaschine für Krankheiten Ein weiteres interessantes Beispiel eines digitalisierten Prozesses ist die „symptombasierte Ursachenanalyse“ von Krankheiten. Hierzu wurde das Tool „SYMPTOMA.com“ entwickelt, eine „Suchmaschine für Krankheiten“, welche ausgehend von Symptomen die passenden Ursachen sucht, gewichtet mit vermuteten Wahrscheinlichkeiten (vgl. symptoma 2019). Einsatz von Big Data im Gesundheitswesen Schon lange werden leistungsfähige Informationssysteme genutzt, um den Arzt bzw. das Pflegepersonal zu unterstützen. Ein historisches Beispiel findet sich zur Befunddokumentation und Arztbriefschreibung im Krankenhaus (BAIK) in einem Artikel aus den Duisburger Nachrichten vom 25.01.1968 (vgl. Duisburger Nachrichten 1968). Auswertung von Daten aus Schlaflaboren Zahlreiche Patienten erzeugen in Schlaflaboren Daten, ohne dass diese übergreifend zusammengefasst und analysiert werden. Die Analysen von Zusammenhängen könnten durch anonymisierte Aggregation von Daten zusammengefasst werden. Robotik in der Pflege An Ideen zu innovativen Ansätzen mangelt es nicht, wie z. B. ein Forschungsprojekt der Universität Siegen zeigt, welches den Roboter „Pepper“ erfolgreich für den Einsatz in Altenheimen getestet hat (vgl. Ries 2017). Roboter können die bislang traditionell durch-

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geführte Betreuungsprozesse entlasten (z. B. Aufnahme von Getränkebestellungen durch Bewohner im Altenheim anstelle einer Servicekraft) und durch digitale Komponenten (Unterhaltung, Spiele, Information u. a.) auch inhaltlich erweitern.

2.7

Schlussbetrachtung

Der Beitrag hat Innovation unter dem Blickwinkel der Digitalisierung betrachtet. Innovationen im Gesundheitswesen erfordern häufig digitale Elemente in Produkten, Prozessen und vor allem in Verbindung mit neuen innovativen Geschäftsmodellen. Das Gesundheitswesen holt beim Thema Digitalisierung im Vergleich zur Industrie nach einiger Verzögerung sichtbar auf, allerdings liegen wir im Vergleich zu anderen Ländern noch zurück. Es sind zahlreiche Hürden zu überwinden, bei den gesetzlichen Grundlagen, vor allem aber bei den Einstellungen in den Köpfen von Patienten und des Personals in Arztpraxen und Kliniken. Die Übernahme des zentralen Gesundheitsdienstleisters (Gematik, Berlin) zum 01.05.2019 durch das Gesundheitsministerium ist ein sinnvoller, aber alleine nicht ausreichender Schritt, um mehr Tempo in die Bereitstellung sicherer Gesundheitsinfrastrukturen zu bekommen. Insbesondere sind noch wenige Ideen disruptiver digitaler Geschäftsmodelle in die Praxis umgesetzt worden. Meist sucht der Patient vergeblich nach einer „digitalen Arztpraxis“, „digitalen Rezepten“, „digitalen Sprechstunden“ u. a. m. Es bleibt zu hoffen, dass die Branche ihre Chance nutzt und Patienten in naher Zukunft die ihnen gewohnten digitalen Medien (Smartphone, Tablet, Smartwatch u.  a.) auch in Gesundheitsprozessen (Beratung, Untersuchung, Behandlung, Nachsorge, Medikationsmanagement u. a.) nutzen können.

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Duisburger Nachrichten (1968) Ein Elektronengehirn schreibt den Duisburger Ärzten Briefe, 25.01.1968. http://www.medizin-edv.de/modules/AMS/article.php?storyid=4572 (Bild und Textquelle). Zugegriffen am 09.09.2018 Gadatsch A (2013) IT-gestütztes Prozessmanagement im Gesundheitswesen. Springer, Wiesbaden Gadatsch A (2016) Die Möglichkeiten von Big Data voll ausschöpfen. Control Manag Rev 2016(1):62–66 Gadatsch A (2017) Grundkurs Geschäftsprozessmanagement, 8. Aufl. Springer, Wiesbaden Hanschke I (2018) Digitalisierung und Industrie 4.0. Hanser, München Hellmann W, Eble S (Hrsg) (2010) Ambulante und Sektoren übergreifende Behandlungspfade. Medizinisch-­Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin Kornwachs K (2018) Digitalisierung – Revolution oder Gestaltungsauftrag? Dialogreihe „Innovation und Verantwortung“, 12.–13.11.2018. Digitalisierung und Arbeitswelt (modifiziert). Acatech, Deutsche Akademie der Wissenschaften Kruber K (2017) IT-Manager wetten. Die digitale Klinik kommt. CIO-Magazin. https://www.cio. de/a/die-digitale-klinik-kommt,3261506?tap=e76debe9672f8a078de6f2e363a79f1c&utm_source=Healthcare%20IT&utm_medium=E-Mail&utm_campaign=newsletter&r=56763157235609 5&lid=715235&pm_ln=9. Zugegriffen am 27.07.2017 Kurzlechner W (2015) Hybrid Cloud – Vivantes verlagert Personalakten in die Cloud. CIO Magazin, 20.07.2015. http://www.cio.de/a/vivantes-verlagert-personalakten-in-die-cloud,3243500?tap=1d3ab1058233ec6b59f18b263745438f&r=564614332552309&lid=443259&pm_ln=24. Zugegriffen am 27.07.2017 Ries H (2017) Roboter „Pepper“, Der neue Begleiter im Altenheim. In: Westfalenpost (Hrsg) Pressemitteilung 23.08.2017. https://www.wp.de/region/sauer-und-siegerland/der-neue-begleiter-im-altenheim-id211667321.html. Zugegriffen am 19.12.2018 Scheer A-W (2016) Nutzentreiber der Digitalisierung. Informatik Spektrum 39(4):275–289 Spath D (2018) Arbeit in der digitalen Transformation, Dialogreihe „Innovation und Verantwortung“, 12.–13.11.2018, Digitalisierung und Arbeitswelt (modifiziert), acatech. Deutsche Akademie der Wissenschaften, München symptoma (2019) Hauptseite Symptoma. In: Symptoma (Hrsg). http://www.symptoma.com. Zugegriffen am 22.02.2012 Werth D, Greff T, Scheer A-W (2016) Consulting 4.0 – Die Digitalisierung der Unternehmensberatung. Praxis der Wirtschaftsinformatik (HMD) 53:55–70. https://doi.org/10.1365/s40702-0150198-1

Prof. Dr. Andreas Gadatsch  ist Inhaber der Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsinformatik, und Leiter des Masterstudiengangs Innovations- und Informationsmanagement des Fachbereiches Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin. Daneben baut er als Wissenschaftlicher Leiter das Data Innovation Lab im Institut für Management des Fachbereichs auf und betreut als Wissenschaftlicher Leiter den Kooperationslehrgang „Zertifizierter IT-Governance Manager“ der Academy of Finance, Bonn. Er hat Erfahrungen als DV-Organisator, IT-­Projektleiter und IT-Manager in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen (Jean Walterscheid GmbH, Uni Cardan Informatik Service GmbH, Klöckner-Humboldt-Deutz AG, Deutsche Telekom AG). Die Hauptarbeitsgebiete sind Informationsmanagement (insb. IT-Controlling), Geschäftsprozessmanagement (insb. Prozessmodellierung) sowie Einsatz betriebswirtschaftlicher Informationssysteme (insb. ERP-Systeme). Die aktuellen Projekte beschäftigen sich mit den Auswirkungen von Big Data auf das Informations- und Geschäftsprozessmanagement. Er ist Autor von über 330 Publikationen, davon 26 Bücher, z. T. in mehreren Auflagen.

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Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-­ Start-ups Heiko Block, Mareike Heinzen und Nils von Dellingshausen

Inhaltsverzeichnis 3.1  Einleitung  3.2  Besonderheiten und Beziehungen im deutschen Gesundheitswesen  3.3  Begriffsbestimmung von Digital-Health-Start-ups  3.4  Charakteristika und Gestaltung von Erlösmodellen  3.5  Die Einzelfallstudie: BetterDoc  3.6  Systematisierung des Erlösmodells  3.7  Methodik für die Praxis: Gestaltung eines Erlösmodells für Digital-Health-Start-ups  3.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist Herausforderung und Chance zugleich, indem sie einerseits viele Fragen beim Thema Datenschutz und Interoperabilität aufwirft und anderseits neue Möglichkeiten der Verbesserung von Versorgung und Kom­ munikation bietet, die alle Akteure betrifft. Zunehmend werden dazu Angebote von

H. Block (*) Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Heinzen Hochschule Koblenz, Remagen, Deutschland E-Mail: [email protected] N. von Dellingshausen BetterDoc GmbH, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_3

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Start-ups entwickelt, die für die Gesundheitsversorgung relevant sind und als Produkt, (Dienst-)Leistung oder Lösung im Versorgungsalltag angeboten werden können. Dabei stellt sich für viele Gründer bei der Gestaltung des Geschäftsmodells die Frage: Welche Wege der Erlösgenerierung sind möglich, um diesen existenzbestimmenden Veränderungen gerecht zu werden? Oder kurz: Wer wird dafür wie bezahlen? In diesem Beitrag werden der Begriff und die Besonderheiten von Digital-Health-Start-ups im deutschen Gesundheitswesen erläutert und Besonderheiten und Praktiken im Hinblick auf die Erlösmodellgestaltung für Digital-Health-Start-ups aufgezeigt. Damit sollen Gründern, Investoren und interessierten Akteuren, die sich dem Thema nähern und digitale Leistungen im Gesundheitswesen anbieten oder einkaufen wollen, themenspezifische In­ formationen und Handlungsempfehlungen zur Verfügung gestellt werden. Erfahrungswerte aus der Praxis werden am Fallbeispiel des Start-ups BetterDoc geschildert.

3.1

Einleitung

Die Digitalisierung ist im Gesundheitswesen seit Jahren ein ständiges und viel diskutiertes Thema. Wertschöpfungsketten entwickeln sich mit den Chancen der Überwindung zeitlicher und räumlicher Distanzen, Prozesse werden effizienter und Marktakteure stärker vernetzt. Für das Gesundheitswesen ergeben sich umfangreiche Chancen in der Forschung, der Prävention und Prognose von Krankheiten sowie der Gesundheitsversorgung. Es werden disruptive Innovationen angekündigt, die eine bessere Versorgung von Patienten und potenzielle neue Heilungschancen versprechen. Damit einhergeht großes unternehmerisches Potenzial im digitalen Gesundheitsmarkt (Klemm 2017). Studien prognostizieren eine jährliche Steigerung des weltweiten Marktvolumens von über 20 Prozent und erwarten die Erweiterung von bestehenden sowie die Schaffung von ganz neuen Angeboten im Bereich Digital Health (Kaltenbach 2016). Neben den großen Pharma- und IT-Unternehmen, die schon lange auf dem Gesundheitsmarkt aktiv sind, haben viele Gründer von Start-ups die Gesundheitsbranche als vielversprechenden Markt identifiziert. Sie wollen mit innovativen Produkten und Leistungen Teile des Gesundheitssystems und die Patientenversorgung verbessern und sich langfristig im Markt etablieren. Demgegenüber steht jedoch – besonders in Deutschland – ein Gesundheitssystem, dessen Akteure dieser dynamischen Entwicklung häufig skeptisch gegenüberstehen. Krankenkassen und -versicherungen, Leistungserbringer und Gesetzgeber haben mit der raschen Entwicklung Schwierigkeiten. Sie halten an bestehenden Strukturen fest und kommen bei der Integration von Innovationen in den Versorgungsalltag kaum voran (Klemm 2017). Auch das veränderte Verhalten der Patienten verstärkt den Bedarf nach neuen Angeboten. Immer mehr Menschen nutzen mobile Applikationen zur ­Erfassung und Analyse ihrer Gesundheitsdaten und nehmen eine souveräne und aktive Rolle zur Erhaltung ihrer Gesundheit ein (Knöppler et al. 2016).

3  Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-Start-ups

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Bei der Gestaltung des Erlösmodells handelt es sich um eine Thematik, die in der Literatur bisher kaum branchenspezifische Beachtung findet. Zwar sind in der Fachliteratur viele Informationen zur Entwicklung und Innovation von Geschäftsmodellen (Gassmann et al. 2017) sowie Möglichkeiten der Erlösgenerierung und des Preismanagements vorhanden (Posselt und Dijk 2014), jedoch bleibt offen, wie die Besonderheiten des Gesundheitswesens in solchen Modellen berücksichtigt werden können. Deshalb wurde für diesen Beitrag ein explorativer Forschungsansatz gewählt, dessen zentraler Bestandteil, neben der systematischen Literatur- und Dokumentenanalyse, ein Experteninterview im Rahmen einer Einzelfallstudie eines Digital-Health-Start-ups darstellt. Dabei wurden das Vorgehen und die Beweggründe, die zum heutigen Erlösmodell des Fallbeispiels geführt haben, in Teilschritte gegliedert, analysiert und zusammenfassend dargestellt. Ergebnis dieses Beitrags sind die Systematisierung und Visualisierung eines innovativen Praxismodells. Dies soll Digital-Health-Start-ups zukünftig dabei helfen, ihr individuelles Erlösmodell zu konzipieren. Außerdem werden Herausforderungen und Möglichkeiten für Digital-Health-Start-ups bei der Erlösmodellgestaltung am Praxisbeispiel beschrieben.

3.2

 esonderheiten und Beziehungen im deutschen B Gesundheitswesen

Das deutsche Gesundheitswesen setzt sich aus einer Vielzahl von Akteuren zusammen, deren Zusammenspiel aus Regulierung, Finanzierung, Leistungserbringung und Leistungsempfang die Grundstruktur des Systems bildet. Der Kernbereich des Gesundheitssystems umfasst den Bereich der medizinischen Grundversorgung und wird als erster Gesundheitsmarkt bezeichnet. Die Besonderheit dieses Systems ist die Dreiteilung der Gesundheitsversorgung. Die primären Akteursgruppen sind einerseits die Leistungserbringer, welche professionelle Dienstleistungen im Bereich der Gesundheitsversorgung leisten, und andererseits die Kostenträger, gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die private Krankenversicherung (PKV). Hinzu kommt der Patient als Leistungsempfänger und Beitragszahler (Simon 2017). Als zweiter Gesundheitsmarkt werden alle privat finanzierten Produkte und Dienstleistungen rund um die Gesundheit bezeichnet. Welche davon einen Bezug zur Gesundheit aufweisen, ist dabei nicht klar definiert und teilweise umstritten. Nach allgemeinem Verständnis umfasst der zweite Gesundheitsmarkt frei verkäufliche Arzneimittel und individuelle Gesundheitsleistungen, Fitness und Wellness, Gesundheitstourismus sowie Teilbereiche aus Sport, Freizeit, Ernährung und Wohnen (Bundesministerium für Gesundheit 2018 a). Während im ersten Gesundheitsmarkt von Patienten die Rede ist, wenn Personen Leistungen in Anspruch nehmen, werden im Zusammenhang mit dem zweiten Gesundheitsmarkt meist die Begriffe Kunde oder Nutzer verwendet, da sich das Angebot auch an ­gesunde Menschen richten kann. Privatwirtschaftliche Unternehmen, die im ersten Gesundheitsmarkt aktiv sind, kamen in der Vergangenheit vor allem aus der Pharma- oder

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Medizintechnikbranche. Start-ups als Anbieter für gesundheitsbezogene Produkte oder Dienstleistungen waren eher auf dem zweiten Gesundheitsmarkt aktiv. Im Zuge der Digitalisierung etablieren sich diese Unternehmen aber auch immer stärker als Akteure im ersten Gesundheitsmarkt. Eine weitere Rolle im Gesundheitssystem spielen Unternehmen auch in ihrer Funktion als Arbeitgeber, wie bei Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder dem Angebot von betrieblicher Gesundheitsförderung (Butzer-Strothmann et al. 2018). Bei der Analyse von Geschäftsbeziehungen bilden die Akteure verschiedene Interaktionsmuster zueinander. Unterschieden wird, insbesondere im E-Business (engl. Electronic Business), üblicherweise zwischen den Akteuren private Konsumenten (engl. Consumer), Unternehmen (engl. Business) und öffentliche Institutionen (engl. Administration). Dabei werden die Beziehungen bspw. mit B2C (Business-to-Consumer) oder B2B (Business-­to-­ Business) bezeichnet. Im E-Business sind entsprechend der Beziehungen zwischen den Akteuren somit verschiedene Betrachtungsebenen und Konstellationen denkbar. In der Praxis kommen häufig auch indirekte Beziehungen zwischen Anbieter und Endkunde, wie z. B. B2B2C (Business-to-Business-to-Consumer) zustande (Wirtz 2016). Diese Betrachtungsweise aus dem E-Business lässt sich auch auf den Bereich Digital Health übertragen. Abb.  3.1 zeigt, dass die Beziehungen der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen und deren Interaktionen miteinander deutlich komplexer sind. Von daher sollen an dieser

Staat

G-BA

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Richtlinien

Konsultation

1 Verträge

6 Vergütung

Vergütung Kostenträger

Leistung

2 Leistung Versicherung/ Leistung Patient/Kunde

5 Beitrag/ Prämie

7

Vergütung

Leistungserbringer

4 Leistung

Privatwirtschaft (Digital-Health-Start-ups)

Nutzung/ Vergütung

3 Leistung

Vergütung

8

Leistung/ Vergütung

Abb. 3.1  Beziehungen der Akteure im deutschen Gesundheitswesen. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Blachetta et al. 2016; Simon 2017; Lux 2017)

3  Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-Start-ups

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Stelle die am Gesundheitssystem beteiligten Akteure Leistungserbringer (Arzt, engl. Doc), Leistungsempfänger (Patient/Kunde, engl. Patient), Kostenträger (Versicherung, engl. Admin) und Privatwirtschaft (Unternehmen (Digital-Health-Start-ups), engl. Business) und deren Beziehungen zueinander betrachtet werden (Lux 2017). Anhand der in Abb. 3.1 dargestellten Interaktionsbeziehungen der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen kann eine Kategorisierung der Nutzungsformen im Bereich Digital Health vorgenommen werden. An dieser Stelle wird aus Gründen der Übersichtlichkeit bewusst auf eine weitere Differenzierung der einzelnen Akteure (z. B. der Gemeinsame Bundesausschuss (GB-A)) verzichtet. Ebenso sind zukünftig weitere Beziehungen und Nutzungsformen denkbar, weshalb diese Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern einen Überblick über potenzielle Kundensegmente für Digital-Health-Start-ups geben soll. 1. Leistungserbringer zu Leistungserbringer (Doc to Doc): Die direkte Verbindung von Leistungserbringern durch Digital Health betrifft meist den elektronischen Transfer von Befunden und Patientendaten zur Verbesserung der Versorgungsqualität (z. B. Konsultation für gemeinsame Diagnosen). 2. Leistungserbringer zu Patient/Kunde (Doc to Patient): Kontakte zwischen Leistungserbringern und Patienten beinhalten meist die Erbringung medizinischer Versorgungsleistungen im Rahmen des Anwendungsfeldes Telemedizin. 3. Privatwirtschaft zu Patient/Kunde (Business to Patient): Die direkte Interaktion zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen (wie Digital-Health-Start-ups) und dem Patienten beinhaltet primär die Versorgung mit gesundheitsbezogenen Produkten und Dienstleistungen (z. B. Health Apps). In den meisten Fällen findet auch der Austausch zwischen Patienten untereinander (Patient to Patient) auf privatwirtschaftlich betriebenen Gesundheitsportalen statt, weshalb diese Interaktionen ebenfalls dieser Nutzungsform zugeordnet werden können. 4. Privatwirtschaft zu Leistungserbringer (Business to Doc): Kontakte zwischen diesen Akteuren treten in der Praxis in vielfältiger Weise auf. Typisch sind hierbei der Vertrieb von Medizintechnik oder Softwareprodukten an Kliniken und Arztpraxen. Etabliert haben sich hierbei ebenso Portale zur Arztbewertung sowie Onlineterminvereinbarungen. 5. Kostenträger zu Patient/Kunde (Admin to Patient): Mit der Hilfe von Digital-Health-­ Angeboten (z. B. Health-Apps) bieten Kostenträger ihren Versicherten häufig Dienstleistungen zur Nutzung weiterer Serviceangebote. Dazu zählen unter anderem digitale Patientenakten, Präventionsangebote, Leistungsabrechnung oder Bonusprogramme. 6. Leistungserbringer zu Kostenträger (Doc to Admin): Interaktionen finden insbesondere zur Abrechnung und Administration von Leistungen an Patienten und zu dem damit verbundenen Austausch sensibler Daten statt. 7. Privatwirtschaft zu Kostenträger (Business to Admin): Kontakte dieser Akteure können bspw. im Rahmen der Nutzung von Hard- und Softwareprodukten für Verwaltungsprozesse stattfinden. Immer häufiger werden aber auch Verträge zur Kostenübernahme von

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Digital-Health-Anwendungen durch die Versicherungen angeboten, wodurch Patienten diese kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. 8. Privatwirtschaft zu Privatwirtschaft (Business to Business): Austausch findet zum einen beim Vertrieb von Digital-Health-Anwendungen zur Nutzung im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) statt, zum anderen im Rahmen von Kooperationen für gemeinsame Geschäftstätigkeiten (Blachetta et  al. 2016; Fischer und Krämer 2016; Lux 2017).

3.3

Begriffsbestimmung von Digital-Health-Start-ups

In der Literatur liegt bislang keine spezifische Definition für Digital-Health-Start-ups vor. Auf Grundlage der Ausführungen des befragten Experten sowie der folgenden Definitionen zu den Begriffen Start-ups, E-Health und Digital Health wurde eine eigene Begriffsbestimmung vorgenommen. Start-ups Sowohl die Bedeutung des Begriffs Start-ups als auch dessen Schreibweise werden in Wissenschaft und Praxis derzeit nicht einheitlich verwendet. Der Deutsche Start-up Monitor (Kollmann et al. 2018) definiert den Begriff wie folgt: Start-ups sind jünger als zehn Jahre und haben ein (geplantes) Mitarbeiter-/Umsatzwachstum und/oder sind (hoch) innovativ in ihren Produkten/ Dienstleistungen, Geschäftsmodellen und/ oder Technologien.

Unter diesen Kriterien werden Start-ups als eine besondere Untergruppe von Unternehmensgründungen betrachtet, welche sich von klassischen Existenzgründungen oder Kleinunternehmern abgrenzt. Während der Begriff in der Vergangenheit häufig für Unternehmen mit dem Fokus auf digitale Geschäftsmodelle genutzt wurde, ist die genannte Definition weiter gefasst und schließt alle Branchen mit ein. Start-ups stellen somit eigenständige Unternehmensgründungen in einem jungen, innovativen, wachstumsorientierten Umfeld dar. E-Health Ein allgemeingültiges Begriffsverständnis für E-Health existiert derzeit noch nicht. Bei der Abgrenzung des Themenfeldes kommt es zu teils deutlichen inhaltlichen Überschneidungen und uneinheitlich verwendeten Definitionen. Als Oberbegriffe für die Digitalisierung im Gesundheitswesen sind derzeit vor allem die nahezu identisch verwendeten Begriffe E-Health und Digital Health sowie vereinzelt auch der Begriff Health 2.0 anzutreffen (Knöppler et al. 2016). Das (Bundesministerium für Gesundheit 2018 b) definiert den Begriff E-Health wie folgt:

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Unter E-Health fasst man Anwendungen zusammen, die für die Behandlung und Betreuung von Patientinnen und Patienten die Möglichkeiten nutzen, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bieten.

Digital Health Während in der deutschsprachigen Literatur in der Vergangenheit meist der Begriff E-­ Health verwendet wurde, ist aktuellen Studien und der Fachpresse zunehmend der Begriff Digital Health zu entnehmen, der sich auch international durchzusetzen scheint. Dennoch besteht kein gemeinsames Verständnis davon, ob Digital Health E-Health einschließt oder die Begriffe gleichbedeutend sind. So liefern Knöppler et al. (2016) eine Definition für Digital Health, welche der E-Health-Definition des BMG sehr ähnelt: … die kooperative und/oder interaktive Anwendung von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Bevölkerungsgesundheit.

Eine ähnlich breite Definition bietet das World Economic Forum (2012) und stellt dabei das länderübergreifende Veränderungspotenzial von Digital Health hervor: Digital health harnesses the transformational power of modern information and communication technologies for improving health and healthcare throughout the world.

Die Definition der Europäischen Kommission (2018) beschränkt sich nicht auf die rein technischen Komponenten, sondern nennt auch mögliche Anwendungsfelder. Außerdem schließt sie die konkreten sozialen und ökonomischen Vorteile von Digital Health mit ein sowie dessen Potenzial, die Produktivität und Effizienz im Gesundheitswesen zu erhöhen. Digital health and care is the collective term used to refer to tools and services that use information and communication technologies (ICTs) that can improve prevention, diagnosis, treatment, monitoring and management of health and lifestyle. Digital health and care has the potential to improve access to care, quality of care, and increase the efficiency of the health sector.

cc Digital-Health-Start-ups  Die folgende Definition kann einen Beitrag dazu leisten, ein einheitliches Verständnis unter den Akteuren zu vermitteln, welche Charakteristika Startups im Gesundheitswesen aufweisen und welche nicht. Ebenso kann sie als Grundlage für weitere Forschungen und Diskussionen innerhalb dieser Thematik genutzt werden. Unter Digital-Health-Start-ups ist Folgendes zu verstehen: sind junge, innovative Wachstumsunternehmen, die für ihr Geschäftsmodell Instrumente und Methoden der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) nutzen, um digitale Leistungen anzubieten, welche den Zugang und die Qualität der Versorgung verbessern oder die Effizienz des Gesundheitssystems steigern.

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3.4

Charakteristika und Gestaltung von Erlösmodellen

Bei der Entwicklung eines Erlösmodells sind in der Praxis zwei Vorgehensweisen möglich: zum einen eine Anpassung der Unternehmenssituation an vorhandene Erlösmodelle und der darin enthaltenen Prinzipien hinsichtlich Kunden und Markt sowie eine Zielanpassung, zum anderen die Identifikation von möglichen Erlösmodellen durch Festlegung von Zielen an das Erlösmodell auf Basis der Rahmenbedingungen durch das Unternehmen, den Markt, den Kunden und den Wettbewerb. Letzteres Vorgehen setzt jedoch die Verfügbarkeit der erforderlichen Informationen über Wettbewerber voraus (Affenzeller 2014). Die Gestaltung eines Erlösmodells wird in der Literatur als mehrstufiger Prozess beschrieben, wobei unterschiedliche Aufgabengebiete zu identifizieren sind, die sich wiederum in mehrere Phasen bündeln lassen (Wortmann et al. 2017). Dabei werden von den Autoren durchaus unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Zerdick (2001) gliedert die Entscheidung über das Erlösmodell in die zwei Teilbereiche Erlösformen und Preispolitik. Eine modellhafte Darstellung eines Erlösmodells bieten unter anderem Skiera et al. (2005) und beschreiben dabei Erlösquelle, Erlöspartner und Preismodell als Teilkomponenten. Affenzeller (2014) wählt eine sehr ähnliche Darstellung mit drei Teilkomponenten, wobei er der Preisstruktur eine besondere Bedeutung zuschreibt. Außerdem wird bei ihm deutlich, dass sich die Teilkomponenten gegenseitig beeinflussen und die Gestaltung als andauernder Prozess betrachtet werden kann. Täuscher et al. (2017) haben das Thema sehr aktuell aus praxisrelevanter Sicht erforscht und Geschäftsmodellelemente von digitalen Servicemarktplätzen identifiziert. Das dargestellte Gewinnerzielungsmodell stellt eine von fünf Geschäftsmodelldimensionen dar, welche die Autoren als Ergebnis ihrer Arbeit in einem Framework visualisiert haben. Die uneinheitliche Verwendung des Begriffs Erlösmodell erschwert den Vergleich der verschiedenen Ansätze, wobei häufig auch keine klare Abgrenzung zu den Unterbegriffen vorgenommen wird. Knyphausen-Aufseß et al. (2011) haben dennoch anhand einer systematischen Auswertung der Erlösmodellliteratur insgesamt sechs Entscheidungsbereiche bzw. Erlösmodellkomponenten identifiziert: • • • • •

Erlösformen (transaktionsabhängiger und -unabhängiger Tarif), Festlegung und Gewichtung der Erlösquellen und Erlösströme, Preissetzung, Preisfestlegung, Erlösverteilung, Finanzierung am Kapitalmarkt.

Die Teilkomponenten Erlösquelle, Erlösform und Preisgestaltung werden von der überwiegenden Mehrheit der Autoren als am relevantesten bei der Gestaltung eines Erlösmodells aufgefasst. Die Begriffe Erlösquelle und Erlösform werden in der Literatur oft syno-

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nym verwendet. Jedoch bestehen hier deutliche Unterschiede. Die Darstellung der Erlösquelle erklärt, was den Erlös generiert, und die Erlösform, wie dies geschieht (Knyphausen-­Aufseß et al. 2011). Auf Grundlage der vorgestellten Erlösmodelle sowie der Systematisierung der bestehenden Erlösmodellliteratur konnten die relevanten Teilelemente Erlösquelle, Erlösformen und Preisstruktur identifiziert und detailliert beschrieben werden. In Abschn.  3.2 wurde bereits herausgefunden, dass die Erlösgenerierung im Gesundheitswesen eine besondere Herausforderung für Digital-Health-Start-ups darstellt, da der erste und der zweite Gesundheitsmarkt mit unterschiedlichen Ansätzen adressiert werden können. Das Geschäftsmodellelement der Kundensegmente gewinnt damit an Bedeutung. Es wird im Folgenden in Anlehnung an das Element der Erlöspartner, wie es auch Täuscher et al. (2017) und Skiera et  al. (2005) verwenden, als eigenständiges Teilelement eines Erlösmodells verstanden. Damit soll auch eine klare Abgrenzung von Erlösquellen und Kundensegmenten ermöglicht werden. Nachfolgend wird mithilfe von Literatur- und Dokumentenanalyse sowie einer Einzelfallstudie und eines Experteninterviews ein Praxismodell entwickelt und illustriert, welches die für Digital-Health-Start-ups relevanten Teilelemente eines Erlösmodells vereint.

3.5

Die Einzelfallstudie: BetterDoc

Für das Experteninterview (von Dellingshausen und Block 2018) im Rahmen der Einzelfallstudie konnte Nils von Dellingshausen gewonnen werden. Er hat die BetterDoc GmbH im Sommer 2012 mit seiner Ehefrau Dr. med. Donata von Dellingshausen und seinem Bruder Christoph A. von Dellingshausen in Köln gegründet. BetterDoc ist ein unabhängiger Gesundheitsservice, der Patienten mit seltenen oder schwerwiegenden Erkrankungen dabei unterstützt, geeignete Spezialisten mit hervorragenden Behandlungsergebnissen für eine kompetente Zweitmeinung, eine Behandlung oder Operation zu finden. BetterDoc hat es sich zur Mission gemacht, den Gesundheitsmarkt in Deutschland transparenter zu gestalten und Menschen bei der oft schwierigen Arztwahl zu unterstützen. Nach der Anfragestellung, die sowohl online als auch telefonisch erfolgen kann, führt zunächst ein ärztlicher Mitarbeiter von BetterDoc ein ausführliches Anamnesegespräch mit dem Patienten. Danach werden binnen 48 Stunden zwei bis drei Spezialisten empfohlen, die für den individuellen Patientenfall besonders gut geeignet sind. Falls bereits eine gesicherte Diagnose vorliegt, nennt BetterDoc Spezialisten, die für die geplante Operation oder Therapie die besten Behandlungsergebnisse erzielen. Dazu analysiert BetterDoc Qualitätsdaten im Gesundheitswesen (Fallzahlen, Komplikationsraten, Qualitätszertifikate etc.) und aggregiert diese Daten mit eigenen Messergebnissen aus bereits bearbei­ teten Patientenfällen (Patient Reported Outcome Measures). Darüber hinaus hat das

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­ nternehmen den größten medizinischen Expertenbeirat in Deutschland gegründet: Für U sehr komplexe oder seltene medizinische Fälle können über 2500 Experten aus mehr als 30 Fachbereichen Empfehlungen für Kollegen aussprechen, die für die Diagnostik und Behandlung des Patienten besonders geeignet sind. Zudem kümmert sich BetterDoc auf Wunsch um die Terminvereinbarung bei den identifizierten Spezialisten und stellt die Betreuung der Patienten über einen Zeitraum von zwei Jahren sicher (BetterDoc 2019). Mit bereits über 10.000 betreuten Patientenfällen und starkem jährlichen Wachstum ist BetterDoc Marktführer im Bereich Zweitmeinung und Patientensteuerung in Deutschland. Das Unternehmen beschäftigte im Jahr 2018 über 60 Mitarbeiter aus verschiedenen Disziplinen. Zu den Kunden zählen führende deutsche Krankenversicherungen und -kassen sowie Unternehmen, welche die Kosten für den Service für ihre Versicherten bzw. Mitarbeiter übernehmen. Dadurch haben bereits mehrere Millionen Menschen in Deutschland kostenfreien Zugang zum Service, der auch auf Selbstzahlerbasis genutzt werden kann (BetterDoc 2019).

3.6

Systematisierung des Erlösmodells

Im Folgenden wird beschrieben, wie sich das Erlösmodell von BetterDoc entwickelt hat und welche Herausforderungen und Besonderheiten dabei aufgetreten sind. Dazu werden die Bestandteile des Erlösmodells (Erlösquelle, Kundensegment, Erlösform und Preisgestaltung) analysiert und allgemeine Sichtweisen des Experten zum Thema Digital Health geschildert. Der Experte stellt fest, dass es sich bei dem Thema Digital Health um ein sehr weites Feld handelt, was schwer zu definieren ist, da der Begriff in der Praxis noch sehr undifferenziert verwendet wird. Der Gründer ordnet das Start-up BetterDoc fest in das Digital-­ Health-­Umfeld ein. Er führt allerdings weiter aus, dass Teile der Leistungserstellung zwar digital ablaufen, die Digitalisierung aber nicht der primäre Treiber des Geschäftsmodells sei. Für ihn stehen die Qualität der Leistung und die bestmögliche Versorgung der Patienten im Vordergrund. Digitale Lösungen werden nur da eingesetzt, wo sie aus Kundensicht und monetär zielführend sind. So läuft bspw. der Datenanalyseprozess größtenteils digital, der Patientenkontakt hingegen überwiegend analog am Telefon. Für den Experten hat es deutliche Unterschiede zwischen den Überlegungen im Gründungsprozess und der tatsächlichen späteren Erlösmodellgestaltung gegeben, da „die Realität eben total anders aussieht“ (von Dellingshausen und Block 2018). Die wichtigste Erkenntnis für den Experten in diesem Prozess war, „dass man von vornherein weiß, dass es eh alles anders kommen wird und man sich darauf einstellen und dann reagieren muss, um den richtigen Weg zu finden“ (von Dellingshausen und Block 2018). Bei der Gründung des Start-ups lag der Schwerpunkt zunächst auf der Wertschöpfung und das Erlösmodell kam erst später. Rückblickend ist für den Gründer das Erlösmodell dennoch eine zwingende Voraussetzung für einen langfristigen Unternehmenserfolg: „Man muss in der Lage sein, mit dem was man tut, Einnahmen zu generieren, die die Ausgaben übersteigen“ (von Dellingshausen und Block 2018).

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Erlösquellen Das allgemeine Verständnis des Experten für Erlösquellen deckt sich u. a. mit dem von Bieger und Reinhold (2011), die als bedeutende Aufgabe des Erlösmodells die Wertsicherung sehen. Die Gestaltung des Erlösmodells wurde bei BetterDoc als mehrstufiger Prozess angegangen. Die Erlösquelle, also das Leistungsangebot des Unternehmens, welches einen Wert schafft, wurde an den Anfang dieses Prozesses gestellt. Als wesentlicher Bestanteil eines Erlösmodells nennt der Experte zuerst die Generierung eines Nutzens, „der für irgendjemanden so wichtig ist, dass er auch bereit ist, dafür zu bezahlen“ (von Dellingshausen und Block 2018). An dieser Stelle beschreibt er die Schaffung von Wert beim Kunden als die Hauptaufgabe eines Unternehmens und stellt dabei klar, dass dies der erste Schritt bei der Gestaltung eines Erlösmodells sein müsse. Die Beantwortung der Frage, welche Erlösquellen von Digital-Health-Start-ups genutzt werden können, ist sehr eng mit der Frage nach der Zielgruppe des Leistungsangebots verbunden. Für den Experten spielt es dabei eine zentrale Rolle, bei welchem Kundensegment der geschaffene Nutzen am stärksten auftritt. Es kann festgehalten werden, dass sich die Entscheidung über geeignete Erlösquellen sehr gut als erstes Teilelement bei der Erlösmodellgestaltung anbietet. Für die inhaltliche Einordnung sowie eine modellhafte Darstellung hat sich eine Kombination der Klassifikationen von Kollmann (2016; Kern- und Nebenleistung) und Skiera und Lambrecht (2007; Produkt, Kontakt und Information) als praktikabel erwiesen. Eine noch detailliertere Einordnung, wie bspw. im 4C-Net Business Model nach Wirtz (2016), scheint an dieser Stelle keinen zusätzlichen Nutzen zu generieren und würde das Praxismodell unnötig verkomplizieren. Kundensegmente BetterDoc begann als rein B2C-getriebenes Unternehmen, welches Patienten als direkte Zielgruppe ansprach. Da der Nutzen direkt am Patienten generiert wurde, sollten diese nach Auffassung der Gründer auch für den Service bezahlen. Ebenso war dabei die Positionierung im Geschäftsmodell maßgeblich bei der Auswahl der Zielgruppe. Für die Gründer war entscheidend, dass sie unabhängig agieren können. Dafür musste das Erlösmodell vollkommen unabhängig von Ärzten und Kliniken gestaltet werden. Um bei der Empfehlung von Ärzten Interessenskonflikte oder Fehlanreize zu vermeiden, hat BetterDoc anfangs die strategische Entscheidung getroffen, nur dem Patienten verpflichtet zu sein und auf andere B2B-Erlösmodelle zu verzichten. Gerade bei sehr persönlichen Anliegen, um die es sich bei Erkrankungen oft handelt, sind die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen, das die Patienten in das Unternehmen haben, von besonderer Bedeutung. Das direkte B2C-Geschäft wäre für BetterDoc kurzfristig jedoch nicht rentabel gewesen und ohne größere Kapitalinvestitionen nicht langfristig umsetzbar. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass hohe Kosteneinsparungen bei jenen Krankenversicherungen generiert werden, deren Versicherte den Service von BetterDoc in Anspruch nehmen. Damit entwickelte sich das Erlösmodell von B2C zu B2B2C. Krankenkassen und -versicherungen, welche die Leistung von BetterDoc für ihre Versicherten bezahlen, sind heute das

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­ ichtigste Kundensegment des Start-ups. Der Experte begründet dies mit der besseren w Messbarkeit des entstandenen Wertes beim Kunden. „Auch der Patient hat einen sehr hohen Nutzen, aber einen viel schwieriger messbaren Business Case als die Krankenversicherung, die ja ansonsten auch die Kosten für die Behandlung trägt“ (von Dellingshausen und Block 2018). Der Business Case für Krankenversicherungen ergibt sich insbesondere über die Kosteneinsparung durch die Korrektur von suboptimalen Behandlungen und die Vermeidung von unnötigen Operationen. Die Messdaten von BetterDoc zeigen, dass ein Drittel aller Diagnosen und zwei Drittel aller Therapieempfehlungen nach einer Zweitmeinung bei den von BetterDoc empfohlenen Spezialisten korrigiert werden. Einen ähnlichen Mehrwert haben Unternehmen, welche die Kosten für ihre Mitarbeiter und deren Familie übernehmen und den Service im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements anbieten. Durch eine Behandlung beim ausgewiesenen Spezialisten können vor allem bei langwierigen Erkrankungen die kostenintensiven, krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) der Arbeitnehmer reduziert werden. Der Serviceaspekt sowie die gesteigerte Zufriedenheit bei Versicherten und Mitarbeitern sind zusätzliche Aspekte, die den Nutzen für die Kunden noch erhöhen. Nach wie vor sind auch Patienten eine Zielgruppe, die heute den Service als Selbstzahler in Anspruch nehmen können, wenn ihre Krankenversicherung noch keinen Kooperationsvertrag mit BetterDoc geschlossen hat. Gemäß dem Gründer können auch weitere Kundensegmente durchaus interessante Anlaufstellen für die Zukunft sein. Er verweist darauf, dass die derzeitigen Kundensegmente nicht abschließend sind, sondern weiter offen betrachtet werden. Dabei sieht er auch das Potenzial von Nebenleistungen als weitere Erlösquellen, welche sich mit neuen Kundensegmenten auftun können. Der Experte glaubt, „wenn man eher offen in so eine Thematik reingeht, entwickeln sich Erlösmodelle weiter, weil Abfallprodukte entstehen aus dem, was das Start-up tut, die dann an anderer Stelle wieder weiter monetarisiert werden können“ (von Dellingshausen und Block 2018). Dass andere Kundensegmente nur langsam erschlossen werden, hat den Grund, dass sich das Start-up voll auf die bestehenden Segmente und die Kernleistung konzentriert. Für Nils von Dellingshausen ist eine der wichtigsten Erkenntnisse seiner bisherigen Gründungsgeschichte, dass, „wenn man keinen Fokus hat und alles macht, dann wird man nichts erreichen. Werden zu viele Themen gleichzeitig angeschoben, besteht für Start-ups die Gefahr, in allen Bereichen zu scheitern.“ Eine regelmäßige Bewertung und Anpassung des Erlösmodells sieht der Experte als essenziell für das Unternehmen an. Bei BetterDoc steht das Erlösmodell daher dauerhaft auf dem Prüfstand. „Dabei sind die Kunden mit Sicherheit die wichtigsten Inputgeber, weil sie den Service ja auch bezahlen müssen“ (von Dellingshausen und Block 2018). Im täglichen Geschäftsbetrieb bekommt das Start-up ständig Rückmeldungen von den Kunden, welche als Grundlage für Anpassungen am Erlösmodell dienen können. Es wird festgehalten, dass Digital-Health-Start-ups ihre Leistungen einer Reihe von potenziellen Kunden offerieren können. Die Interaktionsbeziehungen der Akteure im Gesundheitswesen (siehe Abb. 3.1) bieten dazu einen guten Anhaltspunkt für eine mögliche Positionierung auf dem Markt. Auch für dieses Teilelement wurde eine Kombination für

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die Darstellung im Praxismodell gewählt. Für die Auswahl der Kundensegmente bieten sich dazu die in der Praxis etablierte Gliederung von Geschäftsbeziehungen (B2B, B2C, B2B2C) und die im Bereich Digital Health aktiven Akteure als Übersicht an. Erlösformen Sind Erlösquellen und relevante Kundensegmente identifiziert, müssen passende Erlösformen festgelegt werden. BetterDoc nutzt eine einzelne Erlösquelle, die Erlösformen variieren jedoch je nach Kundensegment. Dabei spielt die Planung von Kapazitäten beim Start-up eine wichtige Rolle, um die internen Prozesse und Ressourcen so aufzustellen, dass alle Anfragen bearbeitet werden können und keine langen Wartezeiten für die Patienten entstehen. Außerdem besteht bei einer zu geringen Auslastung die Gefahr, dass die Leerkosten steigen. Aus Sicht der B2B-Kunden ist eine hohe Inanspruchnahme des Service durch die Versicherten bzw. Mitarbeiter maßgeblich für einen positiven Business Case und Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit. Die möglichen Erlösformen bilden das nächste Teilelement des Erlösmodells. Die u. a. von Wirtz (2016) und Osterwalder und Pigneur (2011) beschriebenen Formen können auch zur Beschreibung von Digital-Health-Angeboten genutzt werden. Die von Wirtz (2016) gewählte Auswahl ist dabei sehr spezifisch auf Unternehmen ausgelegt, die auf elektronischen Märkten agieren. Er benennt dabei z. B. die Erlösform Verkauf als Transaktionserlöse, was das Verständnis in Bezug auf Dienstleistungen erschwert. Außerdem wurden die von Wirtz (2016) genannten Einrichtungs- und Grundgebühren als Mitgliedsgebühren vereinfacht zusammengefasst. Die Formen der indirekten Erlösgenerierung wurden grafisch abgegrenzt. Da in der vorgestellten Erlösmodellliteratur nur bereits etablierte Erlösformen vorgestellt werden, ist die Einordnung von innovativen Ansätzen darin schwierig. So haben Gassmann et al. (2017) bspw. eine Reihe von innovativen Konzepten zur Geschäftsmodellentwicklung vorgestellt, die weitere Möglichkeiten für zukünftige Erlösformen aufzeigen. Preisstruktur Bei der Festlegung der Preisstruktur orientierte sich das Start-up im Wesentlichen an einem kostenbasierten Preis pro Anfrage. Dieser Standardpreis bot eine Grundlage, von der die Preisgestaltung für die verschiedenen Kundensegmente abgeleitet wurde. Jeder Patient, der bei BetterDoc eine Anfrage stellt, erhalte die gleiche Leistung, völlig unabhängig davon, ob der Patient selbst, sein Arbeitgeber oder seine Krankenversicherung die Kosten trägt. Daher gibt es auch bei der Preisgestaltung keine leistungsabhängigen Unterschiede. Alle Kunden zahlen einen vorher vertraglich vereinbarten fixen Preis. Die Struktur der Preise kann dabei je nach Kundensegment variieren. Dazu ergänzt der Experte, dass er langfristig nicht an kostenbasierte Preise glaubt, es ist aber für Start-ups gerade am Anfang sehr wichtig, die eigenen Kosten abzudecken. Besonders schwierig bei der Bestimmung der Preishöhe ist für Digital-Health-Start-ups, dass eine Orientierung am Wettbewerb meist nicht möglich ist, da es bei innovativen Leistungen wenig direkt vergleichbare Angebote auf dem noch jungen Markt gibt. Start-ups agieren meist im freien Raum, wo es

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kaum Anhaltspunkte gibt, was ein Produkt/eine (Dienst-)Leistung kosten darf. Heute verfolgt BetterDoc größtenteils einen wertorientierten Ansatz, um den Preis auch langfristig zu rechtfertigen. Bei der Gestaltung der Preisstruktur zeigt das Fallbeispiel, wie eng dieser Teilbereich mit dem jeweiligen Kundensegment zusammenhängt. Start-ups müssen sich auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Kundensegmente einstellen und möglichst Alternativen bei der Preisgestaltung anbieten. Das Vorgehen bei BetterDoc hat gezeigt, dass mehrdimensionale Preise einen entscheidenden Beitrag dazu leisten können, eine einzelne Erlösquelle in verschiedenen Kundensegmenten erfolgreich anzubieten. Für Start-ups, deren Produkte weitgehend digital sind, bietet sich dabei insbesondere eine Mengendifferenzierung an. In der Literatur sind die Überlegungen zur Zahlungsstruktur meist auf finanzielle Aspekte, wie Kapitalbedarf und Liquidität, begrenzt (Posselt und Dijk 2014). Die Einzelfallstudie hat jedoch gezeigt, dass Entscheidungen bezüglich dieser Thematik weitreichende Auswirkungen auf ein Unternehmen haben können: Es sind z. B. eine bessere Planung der Auslastung und ein geringeres finanzielles Risiko durch die Ausgestaltung der Zahlungsstruktur möglich. Für die Darstellung im Praxismodell bietet sich die Zweiteilung der typischen Varianten von einmaligen oder regelmäßigen Zahlungen an (Diller 2008). Auf die Darstellung der Kombinationsmöglichkeit wird wie bei den anderen Teilelementen verzichtet. Die Höhe der Preise zu bestimmen, wurde als große Herausforderung für Start-ups identifiziert. Es empfiehlt sich, die Preise stark am Kundensegment auszurichten. Das liegt vor allem an der großen Differenz der Zahlungsbereitschaft der Kunden für digitale Gesundheitsanwendungen. Für Krankenversicherungen bietet sich eine wertbasierte Preiskalkulation an, da hier der Business Case/Return on Investment und weniger die Höhe des Preises entscheidend ist. Im B2C-Bereich scheinen wertbasierte Preise schwer durchsetzbar, da Patienten den Nutzen nur schwer monetär bemessen können und es häufig nicht gewohnt sind, die Kosten für solche Leistungen selbst zu tragen. Dies ist eine typische Problemstellung im Gesundheitswesen, da je nach Gesundheitszustand des Patienten eine Verbesserung der Lebensqualität sehr subjektiv bewertet wird und kaum in Zahlen ausdrückbar ist. Aus Sicht eines Start-ups bietet der Kosten-Plus-Ansatz daher zunächst Planungssicherheit und ermöglicht es, über einen längeren Zeitraum hinweg zu testen, welche Preise von den Kunden angenommen werden. Abschließend fasst der Experte, die aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte bei der Erlösmodellgestaltung zusammen. Für ihn ist ein Erlösmodell „ideal, was das Start-up sehr schnell in eine Position bringt, wo es unabhängig ist von externen Finanzgebern. Denn dann bekommt das Start-up die Ruhe und den Fokus, um das Unternehmen auch wirklich weiterzuentwickeln“ (von Dellingshausen und Block 2018). Dabei sieht er das Thema der Erlösgenerierung gerade im Gesundheitswesen als besonders schwierig an. Er empfiehlt, das Thema langfristig zu betrachten, da es nicht möglich ist, von vornherein das passende Erlösmodell komplett zu planen und anschließend in der Praxis umzusetzen. Daher sieht er ein Learning by Doing als beste Strategie, um sich der schnellen Entwicklung der Rahmenbe-

3  Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-Start-ups

53

dingungen auf dem Markt anpassen zu können und neue Potenziale frühzeitig zu erkennen: „Auch wenn man das richtige Erlösmodell vielleicht ganz am Anfang noch nicht hat, sollte man trotzdem permanent drüber nachdenken, wie man es schaffen kann, dahin zu kommen.“

3.7

 ethodik für die Praxis: Gestaltung eines Erlösmodells für M Digital-Health-Start-ups

In der folgenden Abb.  3.2 ist das Praxismodell zur Gestaltung von Erlösmodellen für Digital-­Health-Start-ups dargestellt. Die aus der Literatur gewonnenen Erkenntnisse über generische Erlösmodelle konnten mithilfe der Einzelfallstudie überprüft und durch branchenspezifische Anforderungen ergänzt werden. Das Praxismodell ist in die zwei Kernbereiche Erlös- und Preisstruktur gegliedert. Es wurden sieben Teilelemente erarbeitet, die auf der linken Seite dargestellt sind und als aufeinander aufbauender Prozess verstanden werden sollen. Für die Teilelemente wurden insgesamt 30 Bausteine entwickelt, die eine detaillierte Übersicht der Möglichkeiten zur Gestaltung eines Erlösmodells liefern. Digital-Health-Start-ups können es im Sinne eines morphologischen Kastens als Kreativitätsmethode nutzen, um in der frühen Phase der Geschäftsmodellentwicklung Ideen zu finden und aktuelle Probleme hinsichtlich des Erlösmodells zu lösen.

Nebenleistung

Kernleistung

Erlösstruktur

Erlösquelle

Kontakt

B2C Kundensegmente

Erlösform

Preisgestaltung

Preisstruktur

Produkt

B2B Leistungserbringer

Patient

Verkauf

Information

Nutzungsgebühr

Mitgliedsgebühr

Fix

B2B2C Privatwirtschaft

Lizenzgebühr

Provision

Nutzungsabhängig

Kostenträger

Werbung

Leistungsabhängig

Mehrdimensionale Preise

Preisdifferenzierung

Preisbündelung

Zahlungsstruktur

Einmalig

Regelmäßig

Preisfindung

Kosten-Plus

Wettbewerbsorientiert

DataMiningErlöse

Wertbasiert

Abb. 3.2  Praxismodell zur Gestaltung von Erlösmodellen für Digital-Health-Start-ups. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Posselt und Dijk 2014; Täuscher et al. 2017)

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H. Block et al.

Das entwickelte Praxismodell kann als Vorlage zur Analyse und Veranschaulichung einzelner Erlösmodelle eingesetzt und dafür ebenso von Investoren genutzt werden. Anhand des Praxismodells können sich Gründer in kurzer Zeit einen umfassenden Überblick über die Möglichkeiten der Erlösmodellgestaltung verschaffen und so strukturiert an der Umsetzung arbeiten.

3.8

Schlussbetrachtung

Dieser Beitrag stellt eine erste explorative Annäherung an das Thema Erlösmodelle für Digital-Health-Start-ups dar. Insbesondere die in der Literatur und Praxis häufig anzutreffende inhaltliche und begriffliche Gleichstellung von Erlös- und Geschäftsmodell haben eine detailliertere Darstellung des Erlösmodells erschwert. Strategische Entscheidungen, die das gesamte Geschäftsmodell beeinflussen, können nur schwer auf das Erlösmodell beschränkt werden. Das erarbeitete Praxismodell soll daher nicht isoliert betrachtet werden, sondern an bestehende Geschäftsmodellansätze anknüpfen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Markt für Digital-Health-­An­ wendungen für alle beteiligten Akteure gleichermaßen intransparent ist. Das liegt zum einen an der hohen Dynamik des Marktes mit teils unklaren Regularien, zum anderen an der Vielzahl von Angeboten, die noch wenig systematisiert sind, und dass es für die spezifischen Anforderungen der einzelnen Akteure noch an fundierten Daten zum Nutzennachweis mangelt. Technologische, kulturelle und politische Treiber bilden die Rahmenbedingungen für Digital-Health-Start-ups und müssen bei der Gestaltung des Erlösmodells berücksichtigt werden. Sie zeigen auch, dass das Gesundheitsbewusstsein und die digitale Affinität in der Bevölkerung steigen, was die Nachfrage und Akzeptanz von Digital-­ Health-­Anwendungen erhöht. Insbesondere wenn Start-ups Krankenkassen und -versicherungen als Kunden gewinnen wollen, müssen sie sich frühzeitig über ihr Erlösmodell Gedanken machen, um die spezifischen Anforderungen zu erfüllen. Die Beziehungen der Akteure im Gesundheitswesen zeigen jedoch auch, dass noch weitere Kundensegmente für Start-ups infrage kommen. Die Andersartigkeit von Digital-Health-Anwendungen im Vergleich zu etablierten Produkten und Dienstleitungen und die schwierigen Vergütungsmöglichkeiten im ersten Gesundheitsmarkt verdeutlichen den Bedarf nach einem branchenspezifischen Erlösmodell. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich aktuelle Entwicklungen in Bezug auf rechtliche Rahmenbedingungen und technologische Innovationen auf das Gesundheitswesen auswirken werden. Womöglich ergeben sich damit neue Möglichkeiten der Erlösmodellgestaltung für Start-ups, welche in diesem Beitrag nicht berücksichtigt werden konnten. Digital-­Health-Start-ups haben das Potenzial, die Gesundheitsbranche nachhaltig strukturell zu verändern. Die etablierten Akteure werden auf diese Entwicklungen reagieren müssen und ihre Leistungen an die Anforderungen der Digitalisierung anpassen müssen. Start-­ ups müssen dabei ihr Erlösmodell stets kritisch hinterfragen und weiterentwickeln, um

3  Gestaltungsmöglichkeiten eines Erlösmodells für innovative Digital-Health-Start-ups

55

zahlungskräftige Kunden zu gewinnen und sich so langfristig im Gesundheitswesen zu etablieren.

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Heiko Block,  M. A., hat einen Bachelor of Science an der Hochschule Niederrhein in Health Care Management absolviert. Dabei studierte er ein Semester an der San Diego State University (SDSU) in Kalifornien im Vertiefungsfach Public Health. An der Hochschule Koblenz, RheinAhrCampus Remagen, erlangte er den Master of Arts in Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Gesundheits- und Sozialwirtschaft. Während des Studiums sammelte er praktische Erfahrung in verschiedenen Kliniken, einer ­Unternehmensberatung sowie beim Auslandsrundfunk. Seit 2017 ist er bei der BetterDoc GmbH tätig und verantwortet heute als Manager Business Development unter anderem den Geschäftsbereich Unternehmenskunden. Mareike Heinzen,  Prof. Dr. (ETH), ist Professorin für Innovationsmanagement an der Hochschule Koblenz, RheinAhrCampus in Remagen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Kollaborationen, neuen Arbeitswelten und Geschäftsmodellen und deren Auswirkung auf die Innovationsfähig-

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keit von Organisationen. Bevor sie ihren Ruf an den RheinAhrCampus erhielt, forschte sie als Senior Researcher am Lehrstuhl für Technologie- und Innovationsmanagement der ETH Zürich, Schweiz, mit Forschungsaufenthalten in Japan und USA und war einige Jahre als Produktmanagerin der Daimler AG in verschiedenen Ländern beschäftigt. Ihre Forschungsarbeiten veröffentlicht sie in Journalen, wie Creativity and Innovation Management, Journal of Knowledge Management oder Ergonomics, sowie in mehreren Büchern. Nils von Dellingshausen,  Dipl.-Kfm., studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Köln. Im Juni 2012 gründete er gemeinsam mit seiner Frau und seinem Bruder die BetterDoc GmbH. BetterDoc ist ein unabhängiger Gesundheitsservice, der Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen unterstützt, geeignete Spezialisten mit hervorragenden Behandlungsergebnissen für eine Zweitmeinung, Behandlung oder Operation zu finden. Als CEO verantwortet er die Bereiche Business Development, Marketing & Sales. Zuvor war er über ein Jahrzehnt leitender Mitarbeiter in einem deutschen Telekommunikationskonzern. Er hat vier Kinder.

4

Mit Low-End Innovationen die medizinische Versorgung verbessern – Potenziale und Herausforderungen Ariane Segelitz-Karsten, Nadine Hietschold, Sebastian Gurtner und Ronny Reinhardt

Inhaltsverzeichnis 4.1  E  inleitung  4.2  Das Potenzial von Innovationen für das Gesundheitswesen  4.3  Low-End Innovationen zur Verbesserung medizinischer Versorgung  4.3.1  Beispiel 1: FORUS Health  4.3.2  Beispiel 2: Partec  4.3.3  Beispiel 3: EinDollarBrille  4.4  Low-End Innovationen erfolgreich umsetzen  4.5  Förderung von Low-End Innovationen  4.6  Schlussbetrachtung  Literatur 

 60  61  63  64  65  66  67  70  72  72

Zusammenfassung

Unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert steht vor zahlreichen globalen Herausforderungen. Besonders das Gesundheitswesen sieht sich trotz Verbesserungen von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden großen Aufgaben gegenüber. Ein drängendes Problem stellt die Bereitstellung von medizinischer Versorgung dar. Mehrere Milliarden Menschen, v.  a. in Entwicklungs- und Schwellenländern, verfügen über keinen oder nur unzureichenden Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Ein Weg, um diese

A. Segelitz-Karsten (*) · R. Reinhardt Friedrich-Schiller-Universität, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] N. Hietschold · S. Gurtner Berner Fachhochschule, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_4

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Herausforderungen zu bezwingen, stellen Low-End Innovationen dar. Hierbei handelt es sich um neue Produkte oder Dienstleistungen, die deutlich kostengünstiger sind als bisher erhältliche Produkte oder Dienstleistungen. Sie adressieren somit Patienten, deren finanzielle Ressourcen für existierende High-End Lösungen nicht ausreichen. Um das Potenzial von Low-End Innovationen für die Bekämpfung von sozialen Herausforderungen zu nutzen, muss eine Vielzahl von Problemstellungen angegangen werden. In diesem Kapitel beschreiben wir deshalb die Potenziale sowie unternehmerische, staatliche und angebots- und nachfrageseitige Hürden, die genommen werden müssen, damit Low-End  Innovationen einen Beitrag zur verbesserten medizinischen Versorgung leisten können.

4.1

Einleitung

Innovationen spielen im Gesundheitswesen eine tragende Rolle. Die Schaffung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und die stetige Weiterentwicklung der Medizintechnik tragen zu präziseren Diagnosen, effizienterer Versorgung und somit zur Verbesserung der Gesundheit und der Verlängerung der Lebenserwartung bei. Eine potenziell bahnbrechende Innovation des 21. Jahrhunderts ist die Anwendung künstlicher Intelligenz. Ihr Einsatz öffnet die Pforten zu zahlreichen Verbesserungen, indem sie beispielsweise Ärzte bei der Entscheidungsfindung unterstützen und auf diese Weise dazu beitragen kann, Fehlentscheidungen zu minimieren (Jiang et al. 2017). Während derartige Innovationen primär darauf abzielen, die Gesundheitsversorgung in entwickelten Ländern weiter zu optimieren, wird übersehen, dass es gleichzeitig auch grundlegender Innovationen bedarf, um essenzielle Behandlungen in unterentwickelten Ländern sicherzustellen. Entwicklungsländern mangelt es häufig nicht nur am Zugang zu Wasser und Strom, sondern auch an medizinischer Grundversorgung. Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen ist es nicht oder nur eingeschränkt möglich, medizinische Versorgung bereitzustellen und in Anspruch zu nehmen. Folglich können Krankheiten, die in entwickelten Ländern einfach zu behandeln wären, nicht bekämpft werden und im schlimmsten Fall zum eigentlich vermeidbaren Tod von Patienten führen. Medizinische Unterversorgung geht häufig mit Staatsversagen einher, weswegen staatliche Maßnahmen zur Bewältigung solcher Problematiken häufig unzureichend und nicht zuverlässig sind. Stattdessen könnten m ­ arktbasierte Ansätze – Innovationen von Unternehmen – zum Lösen dieser sozialen Herausforderung beitragen. Ein Ansatz, die Gesundheitsversorgung ärmerer Bevölkerungsschichten zu verbessern, sind Low-End Innovationen – Innovationen, die strategisch unter dem durchschnittlichen Marktpreis einer Produkt- oder Dienstleistungskategorie positioniert sind und sich folglich an Konsumenten mit einer geringen Zahlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit richten (Reinhardt et al. 2018). Solche Innovationen konnten bereits in anderen Branchen erfolgreich Konsumenten mit geringeren Zahlungsfähigkeiten zu Nutzen verhelfen – man denke an Billig-

4  Mit Low-End Innovationen die medizinische Versorgung verbessern – Potenziale …

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fluglinien wie Easyjet oder günstige Automarken wie Dacia, die im Vergleich zu herkömmlichen Flug- und Autoanbietern preislich unterdurchschnittlich positioniert sind und einkommensschwächeren Konsumenten somit Zugang zu Flugreisen oder zum Erwerb eines Neuwagens ermöglichen. Im Gesundheitswesen weisen Low-End Innovationen zudem das Potenzial auf, medizinische Unterversorgung zu adressieren. Im Folgenden beschreiben wir einige gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit und insbesondere jene im Gesundheitswesen. Anschließend erläutern wir das Potenzial von innovativen Produkten und Dienstleistungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen. Wir stellen drei Praxisbeispiele erfolgreicher und nutzenstiftender Low-End Innovationen vor und zeigen außerdem auf, welche Hürden für Unternehmen bei der Umsetzung von Low-End Innovationen zu überwinden sind. Zuletzt betrachten wir Maßnahmen von staatlicher und Angebots- und Nachfrageseite, mithilfe derer Low-­ End Innovationen gefördert werden können.

4.2

Das Potenzial von Innovationen für das Gesundheitswesen

Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts steht zahlreichen globalen Herausforderungen gegenüber. Komplexe Problemstellungen in Umwelt, Sozialwesen und Politik bewegen die Welt. Solche komplexen Probleme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie miteinander verflochten sind, über Staatsgrenzen hinaus bestehen, es keine klaren und eindeutig richtigen Lösungsansätze gibt und somit multiple Akteure und Disziplinen einbezogen werden müssen. Das Bewusstsein für die dringliche Bewältigung dieser Herausforderungen steigt stetig. Aus diesem Grund legten die Vereinten Nationen im Jahr 2015 insgesamt 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) fest, die dem Zweck dienen, „wirtschaftlichen Fortschritt im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit und im Rahmen der ökologischen Grenzen der Erde zu gestalten“ (BMZ 2019). So soll bis zum Jahr 2030 unter anderem die weltweite Armut bekämpft, Maßnahmen zum Klimaschutz ergriffen, Geschlechtergleichheit gefördert und Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum forciert werden. Eines der wichtigsten Ziele (Ziel 3: Gesundheit und Wohlergehen) bezieht sich auf das Gesundheitswesen. Tatsächlich existieren trotz eines andauernden technischen Fortschritts und der stetigen Weiterentwicklung medizinischer Methoden weltweit gravierende Probleme in diesem Bereich. Eine der größten globalen Herausforderungen besteht v.  a. in der Zugänglichkeit zu medizinischer Hilfe. Hier zeigen sich weltweit massive Defizite. So besteht beispielsweise ein deutliches Gefälle zwischen urbanen und ländlichen Gebieten: Selbst in entwickelten Ländern haben Menschen, die in ländlichen Gegenden leben, einen deutlich schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung als Menschen, die in der Stadt oder Stadtnähe leben. Die Gründe hierfür sind unter anderem auf infrastrukturelle, politische und soziokulturelle Faktoren zurückzuführen (Weinhold und Gurtner 2014). In den USA weisen Einwohner ländlicher Regionen beispielsweise höhere Raten von Diabetes und koronaren Herzerkrankungen auf als Einwohner in urbanen Gegenden. Dies kann auf einen Mangel an Ein-

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A. Segelitz-Karsten et al.

kommen der Patienten und an ärztlicher Versorgung zurückgeführt werden (O’Connor und Wellenius 2012). Der wohl stärkste Kontrast hinsichtlich des Zugangs zu medizinischer Versorgung zeigt sich, wenn man Entwicklungs- bzw. Schwellenländer und Indus­ trieländer einander gegenüberstellt. Viele Bewohner von Entwicklungs- und Schwellenländern gehören der sogenannten Base of Pyramid (BOP) an. Es handelt sich hierbei um 4 Mrd. Menschen, die sich am unteren Teil der Welteinkommenspyramide befinden und von weniger als 2 Dollar am Tag leben müssen (Prahalad 2012). Ihnen mangelt es häufig an einfachen, aber überlebensnotwendigen Behandlungen. Blickt man exemplarisch auf die aktuelle Situation in Indien, dann verstellen zahlreiche Barrieren den Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung: Staatliche Krankenhäuser sind häufig mit unzureichenden Ressourcen ausgestattet und private ressourcenstärkere Krankenhäuser sind für ärmere Menschen zu teuer. Kleineren privaten Einrichtungen mangelt es zumeist an Qualität und Preistransparenz. Ferner ist die Gefahr groß, an Praktizierende zu geraten, die nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügen und somit nicht in der Lage sind, Patienten angemessen zu behandeln (Esposito et  al. 2012). Folglich ist der Zugang zu medizinischer Grundversorgung stark eingeschränkt. So stellt beispielsweise Blindheit, bedingt durch eigentlich behandelbare Augenkrankheiten wie eine Katarakt (grauer Star), ein großes Gesundheitsproblem in Indien dar (Murthy et al. 2008). Dieses Beispiel zeichnet ein dramatisches Bild jener Ungerechtigkeit, der die Menschen an den unteren Einkommensgrenzen ausgesetzt sind. Dass diese Menschen zudem etwa die Hälfte der weltweiten Population ausmachen, unterstreicht die Dringlichkeit des Handelns, diese Ungleichheiten zu bekämpfen. Dies haben auch die Vereinten Nationen erkannt und halten in den Zielen für nachhaltige Entwicklung fest, dass „alle Menschen die grundlegende medizinische Versorgung erhalten, die sie brauchen, ohne dabei in finanzielle Not zu geraten“ (WHO 2019). Innovationen können dazu beitragen, dieses wichtige Ziel zu realisieren. Sie sind seit jeher der Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortschritt und ein Mittel zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen. Besonders im Gesundheitswesen spielen sie eine große Rolle und sind unverzichtbar. Bahnbrechende Innovationen wie Penicillin und Röntgengeräte, deren Entwicklung und Realisierung schon viele Jahrzehnte zurückliegen, beeinflussen das Wohlergehen unserer Gesellschaft noch heute und haben nachhaltig zu einer Verbesserung von Untersuchung und Behandlung zahlreicher Krankheiten beigetragen. Grundsätzlich existiert in der Gesundheitsbranche ein breites Spektrum an Innovationen und auch in der Literatur bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Gestalt eine Innovation im Gesundheitswesen annehmen kann. So kann es sich beispielsweise um neuartige medikamentöse Therapien oder chirurgische Verfahren handeln sowie um neue Geräte und Testverfahren, aber auch um Training des ärztlichen Personals, Aufklärungsmaßnahmen gegenüber Patienten und nicht zuletzt auch um Innovationen im Management, in der Finanzierung und von Dienstleistungsmodellen (Dixon-Woods et  al. 2011). Innovationen können darüber hinaus definiert werden als „jene Veränderungen, die Mediziner dabei unterstützen sich auf den Patienten zu konzentrieren, indem sie ärztlichem Fachpersonal helfen, intelligenter, schneller, besser und kosteneffizienter zu arbei-

4  Mit Low-End Innovationen die medizinische Versorgung verbessern – Potenziale …

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ten“ (Thakur et al. 2012, S. 564). Da der Mehrwert für Patienten mit geringen Zahlungsfähigkeiten bei der Bekämpfung von gesellschaftlichen Herausforderungen im Vordergrund steht, beziehen wir uns nachfolgend v. a. auf neue Produkte und Dienstleistungen, die sich direkt an Patienten richten und ihnen einen Mehrwert für ihre Gesundheit verschaffen. Wenngleich Innovationen für eine Verbesserung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sorgen, wirken sie jedoch auch als starke Kostentreiber. Tatsächlich steigen die Kosten im Gesundheitswesen stetig an (OECD 2018). Die Ursachen hierfür sind vielfältiger Natur (siehe Reinhardt und Oliver 2015); hohe Kosten sind unter anderem aber auf technologieintensive Bereiche der Medizin zurückzuführen, da hier der medizinische Fortschritt häufig mit dem Einsatz teurerer und komplexerer Technologie gleichgesetzt wird (Kumar 2011). Technologische Innovationen können zwar zur Verbesserung von Behandlungsmethoden führen, steigern aber auch gleichzeitig die Behandlungskosten und marginalisieren auf diese Weise ärmere Bevölkerungsschichten, da sie den Zugang zu medizinischer Versorgung nicht verbessern. Um die gesellschaftliche Herausforderung des Wohlergehens und der Gesundheit für breite Bevölkerungsschichten wie die BOP maßgeblich anzugehen, bedarf es folglich nicht der weiteren (technologischen) Optimierung von einzelnen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, sondern der grundle­ genden Bereitstellung von medizinischer Versorgung. Ein zentraler Mechanismus zur Gewährleistung der Bereitstellung ist der kostengünstige und großzahlige Zugang zu medizinischen Geräten, Produkten und Dienstleistungen. Aufgrund ihrer Eigenschaft, günstiger als bisher existierende Lösungen zu sein, haben Low-End Innovationen das Potenzial, diese Herausforderung zu adressieren.

4.3

 ow-End Innovationen zur Verbesserung medizinischer L Versorgung

In der Innovationsliteratur wird zwischen zahlreichen Innovationsarten unterschieden. Eine Abgrenzung lässt sich hinsichtlich der preislichen Positionierungsstrategie vornehmen. Demzufolge kann man zwischen Low-End Innovationen und High-End Innovationen differenzieren. Low-End Innovationen bezeichnen hierbei neue Produkte und Dienstleistungen, die unter dem durchschnittlichen Marktpreis der jeweiligen Produkt- oder Dienstleistungskategorie positioniert sind, während High-End Innovationen oberhalb des durchschnittlichen Marktpreises angesiedelt sind (Reinhardt et al. 2018). Hieraus schließt sich, dass sich Low-End Innovationen an Kunden mit einer geringen Zahlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit richten, während High-End Innovationen Konsumenten mit einer hohen Zahlungsbereitschaft adressieren. Beide Innovationsarten bringen grundsätzlich Vor- und Nachteile für Unternehmen und Gesellschaft mit sich. High-End Innovationen verschaffen Unternehmen aufgrund ihres häufig mit Prestige verbundenen Images Vorteile wie hohe Margen und positive Spillover-Effekte auf mittel- oder niedrigpreisige Produkte derselben Marke (Randall et al. 1998). Zudem ver-

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A. Segelitz-Karsten et al.

knüpfen Konsumenten höhere Preise mit höherer Qualität, was wiederum zu einer höheren Kaufwahrscheinlichkeit bei zahlungsfähigen Konsumenten führt (Völckner und Hofmann 2007). Tatsächlich bevorzugen Manager, die für Entscheidungen hinsichtlich der Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen verantwortlich sind, häufig High-End Innovationsprojekte – selbst wenn kein objektiver Grund für eine solche Präferenz vorliegt (Reinhardt et al. 2017). Dementsprechend verfolgen Unternehmen tendenziell vorwiegend High-End Innovationsstrategien und richten strategische Markenerweiterung eher in Richtung höherer Zahlungsbereitschaften aus (Desai 2001). Low-End Innovationen erfahren hingegen weniger Beachtung – sowohl im unternehmerischen Kontext als auch in der Forschung (Reinhardt et al. 2018). In der Forschung besteht kein einheitliches Begriffsverständnis und Low-End Innovationen werden oft sy­ nonym mit Begriffen wie disruptive Innovation (Christensen und Bower 1996; Tellis 2006), Resource-constrained Innovation (Baker und Nelson 2005; Prahalad und Mashelkar 2010) oder BOP Innovation (George et  al. 2012; Halme et  al. 2012) verwendet. Low-End  Innovationen haben gegenüber High-End  Innovationen besondere Vorteile: Aufgrund ihres niedrigen Preises richten sie sich an eine breite Masse von Konsumenten. Zudem weisen sie disruptives Potenzial auf: Sie können neue Märkte erschaffen, indem sie Nichtkunden in Kunden verwandeln und bestehende Märkte zum Verfall bringen (Christensen et al. 2015; Sood und Tellis 2011). Der wohl wichtigste Vorteil bezieht sich auf die Schaffung von sozialem Nutzen. Indem Unternehmen besonders günstige, auf die Bedürfnisse von armen Bevölkerungsschichten zugeschnittene Innovationen entwickeln, können sie nicht nur Profit erlangen, sondern das Leben benachteiligter Menschen beträchtlich verbessern (Prahalad 2012). Das Potenzial von Low-End Innovationen ist v. a. für die Gesundheitsbranche vielversprechend. Der Trend der stetig an Komplexität zunehmenden Technologien verursacht hohe Kosten im Gesundheitswesen und nicht selten übersteigen die Kosten den Nutzen der neuen Technologien. Low-End Innovationen hingegen stellen eine Möglichkeit dar, mit einfachen und kostengünstigen Lösungen neue, bisher nicht bediente Märkte zu erschließen. Low-End  Innovationen sind dabei nicht minder qualitativ als High-End  Technologien; sie erreichen ihren Kostenvorteil aber durch die Beschränkung auf essenzielle Funktionalitäten. Low-End Innovationen ermöglichen es, Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung zu gewährleisten, und können auf diese Weise eine Unterstützung für die Erreichung der Ziele für nachhaltige ­Entwicklung darstellen. Im Folgenden beschreiben wir illustrativ drei Erfolgsgeschichten von Low-End Innovationen, die zeigen, wie sowohl Gesellschaft als auch Unternehmen von Low-End Innovationen profitieren können.

4.3.1 Beispiel 1: FORUS Health „Es ist wichtig, dass die Menschen am Fuße der Pyramide dieselbe Versorgung erhalten wie jene Menschen an der Spitze der Pyramide“ – so lautet die Vision des Gründers und

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CEOs des indischen Unternehmens FORUS Health, K. Chandrasekhar (The Tech for Global Good 2017). In Indien leben 15 Mio. Menschen, die blind sind; 80 % der Erblindungen wären durch Früherkennung und entsprechende Behandlungen vermeidbar gewesen. Für die 1,3 Mrd. Einwohner Indiens stehen jedoch nur 20.000 Augenärzte zur Verfügung (The Tech for Global Good 2017). Chandrasekhar empfand dies als unzureichend und machte es sich zum Ziel, Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln Zugang zur Untersuchung der Augen zu verschaffen. So gründete er im Jahr 2010 FORUS Health und entwickelte das funktional einfache, aber technologisch effektive Augenmessgerät 3nethra. Für die Bedienung des Geräts ist keine besondere Ausbildung notwendig – folglich kann es auch von gering qualifiziertem Personal betätigt werden. Das Gerät macht zunächst eine umfassende Aufnahme des Auges, welche daraufhin an einen qualifizierten Augenarzt gesendet wird. Dies ist besonders für Patienten in ländlichen Gegenden hilfreich, da die nächstgelegene Stadt häufig nicht erreichbar ist. FORUS Health hat bei der Entwicklung des 3nethra neben den niedrig zu haltenden Kosten auch andere in Indien vorherrschende Herausforderungen berücksichtigt: Damit möglichst viele Menschen Zugang zu einem Gerät und damit zu einer Untersuchung haben, ist das Gerät transportabel und besonders robust. Auf diese Weise kann es im Bus oder auf einem Motorrad transportiert werden – trotz der rauen Straßen Indiens und der ständigen Erschütterungen beim Transport bleibt das Gerät unversehrt. Mittlerweile wird das 3nethra, von dem drei unterschiedliche Ausführungen existieren, längst nicht mehr nur in Indien vertrieben; bis heute wurden 2,5 Mio. Menschen in 26 Ländern untersucht (FORUS Health 2019). Der Gründer Chandrasekhar legt hierbei großen Wert darauf, dass Patienten in Indien einen genauso hohen Standard erfahren wie Patienten in den USA (The Tech for Global Good 2017).

4.3.2 Beispiel 2: Partec Partec ist ein Biotechnologie- und Diagnostikunternehmen, welches sich auf Produkte und Anwendungslösungen im Bereich molekularer und zellulärer Diagnostik und Durchflusszytometrie spezialisiert hat. Die Mission der im Jahr 2000 unter Leitung von Roland Göhde ins Leben gerufenen Abteilung Partec Essential Healthcare besteht darin, den Bewohnern von Entwicklungsländern Zugang zu überlebensnotwendigen Diagnosetests zur Aufdeckung der Infektionskrankheiten HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria zu v­ erschaffen (Göhde 2013). Damit die Krankheiten rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden können, entwickelt Partec spezielle Durchflusszytometer. Diese erkennen und zählen mithilfe von Laserstrahlen die entsprechenden Zellen und können so den Gesundheitsstand des Patienten erfassen (Schnitzler 2011). Wie auch FORUS Health berücksichtigt Partec die besonderen Anforderungen der Zielmärkte und legt Wert darauf, dass die Anwendungslösungen robust und bezahlbar sind (Sysmex-Partec 2019). Um beispielsweise HIV/ Aids zu erkennen, wird mit dem Durchflusszytometer ein Immunstatusmonitoring vorgenommen und die CD4-Zellen werden untersucht (Göhde 2013). In Afrika wird hierfür unter anderem das CyFlow miniPOC eingesetzt – ein besonders kleines, kompaktes, stra-

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pazierfähiges und tragbares Gerät. Statt mit Strom wird es mit Batterien betrieben und kann daher auch an abgelegenen Orten ohne Stromversorgung eingesetzt werden. Die Analyse des Bluts des Patienten und damit die Diagnose erfolgen dann innerhalb von drei Minuten (Sysmex-Partec 2019). Dass es sich bei den Durchflusszytometern von Partec um ein Paradebeispiel für eine Low-End  Innovation handelt, wird deutlich, wenn man die Preisentwicklung für einen solchen Patiententest betrachtet: Während die bis zum Markteintritt Partecs existierenden Tests zur Untersuchung der CD4-Zellen pro Test ca. 40 Euro gekostet haben, gelang es Partec mit seinen Geräten, den Preis auf unter 2 Euro pro Test zu senken (Göhde 2013). Auf diese Weise konnten von 2008 bis 2012 weltweit 14 Mio. Tests zur Bestimmung des HIV/Aids-Immunstatus durchgeführt werden. Das Unternehmen stiftet auf diese Weise nicht nur sozialen Nutzen, sondern ist auch aus unternehmerischer Perspektive erfolgreich. Um einen weltweiten Ausbau der Geschäftsfelder zu fördern und noch mehr Patienten versorgen zu können, wurde Partec 2013 schließlich von dem japanischen Konzern Sysmex aufgekauft und agiert heute als Sysmex Partec GmbH.

4.3.3 Beispiel 3: EinDollarBrille Im Jahr 2012 wurde der EinDollarBrille e. V. von Martin Aufmuth gegründet. Er hatte sich das Ziel gesetzt, Menschen in benachteiligten Ländern und ohne Zugang zu medizinischer Augenversorgung mit günstigen und bezahlbaren Brillen zu versorgen. So erfand Aufmuth die EinDollarBrille  – eine Brille, deren Produktionskosten sich auf weniger als einen US-Dollar belaufen und deren Endpreis für Kunden sich ebenfalls unter dem Marktpreis der bereits angebotenen Brillen befindet (EinDollarBrille 2019). Dank des niedrigen Preises ermöglicht die EinDollarBrille es Menschen, die bislang durch ihre teilweise extrem schwache Sehkraft stigmatisiert wurden und nicht in der Lage waren, am Unterricht in der Schule teilzunehmen oder eine Arbeit auszuüben, ihre Lebenssituation erheblich zu verbessern und gesellschaftlich integriert zu werden. Der soziale Nutzen, der diesem Projekt entspringt, beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Bereitstellung bezahlbarer Sehhilfen. Anstatt Zielmärkte mit fertigen Brillen zu beliefern, stellt das Projekt eine vom Gründer entwickelte Biegemaschine sowie passende Metallbügel und Kunststoffgläser in verschiedenen Stärken zur Verfügung. Mithilfe der Biegemaschine, die ohne Strom funktioniert und somit auch in Dörfern ohne Energieversorgung verwendet werden kann, können die Brillen in der passenden Größe einfach selber hergestellt werden. Hierfür werden die Menschen vor Ort geschult und lernen, wie sie Sehtests vornehmen und die Brille mithilfe der Biegemaschine in die für den Kunden passende Form bringen können. Der EinDollarBrille e. V. sorgt außerdem dafür, dass kleine Shops in den Dörfern errichtet werden, um den Zugang zu den Produkten zu erleichtern. Auf diese Weise verhilft die EinDollarBrille den Menschen nicht nur zu einer Verbesserung ihrer Sehkraft, sondern schafft auch Arbeitsplätze (Dudley et al. 2015). Momentan werden die Brillen in Südamerika, Afrika und Indien vertrieben. Bis heute konnten auf diese Weise über 100.000 Brillen verkauft werden (EinDollarBrille 2017). Das Sortiment, welches zunächst nur aus klassischen Stan-

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dardbrillen bestand, wurde mittlerweile um Sonnenbrillen mit UV-Schutz erweitert, welche besonders für Menschen in Afrika und Südamerika Nutzen stiften. Da diese Modelle etwas teurer sind, können die Standardmodelle ohne UV-Schutz im Endpreis weiter gesenkt werden, sodass sich auch die einkommensschwächsten Kunden eine Brille leisten können (EinDollarBrille 2017). Obgleich die EinDollarBrille bislang noch größtenteils über Spenden finanziert wird, verdeutlicht die Idee, wie eine kostengünstige Innovation erfolgreich umgesetzt und auf die speziellen Bedürfnisse einer einkommensschwachen Zielgruppe angepasst werden kann.

4.4

Low-End Innovationen erfolgreich umsetzen

Die aufgeführten Beispiele sowie die bestehende Forschungsliteratur zeigen deutlich, dass Low-End Innovationen bedeutsamen Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft – insbesondere das Gesundheitswesen – bringen können. Die Potenziale von Low-End Innovationen lassen sich jedoch nicht immer einfach realisieren. Es bestehen zahlreiche unternehmerische He­ rausforderungen, die sich von denen der High-End Innovationen merklich unterscheiden. Low-End  Innovationen müssen dabei nicht nur wirtschaftlich erfolgreich aus Unternehmenssicht sein; ebenso muss die Umsetzung des versprochenen Nutzens – Zugang zu Gesundheitsversorgung – bewerkstelligt werden. Speziell sollten Unternehmen über drei Arten von Fähigkeiten verfügen, um Low-End Innovationen erfolgreich zu realisieren: interne Fähigkeiten, Schnittstellenfähigkeiten und externe Fähigkeiten (Reinhardt et al. 2018). Die internen Fähigkeiten, die Unternehmen in ihren organisationalen Strukturen inte­ grieren sollten, um Low-End  Innovationen erfolgreich umzusetzen, beinhalten (1) eine Low-End  Innovationskultur, (2) Fähigkeit zur ganzheitlichen Kostenreduktion und (3) Skalierungsfähigkeit. Demzufolge sollten Unternehmen die Fähigkeiten besitzen, eine besondere organisationale Umwelt zu erschaffen und aufrechtzuerhalten, die der erfolgreichen Umsetzung von Low-End  Innovationen dient. Unternehmen streben in der Regel danach, ihre Produkte ständig technisch zu verbessern und neue Funktionalitäten zu entwickeln. In einer für Low-End Innovationen vorteilhaften Innovationskultur sollte jedoch nicht weitere technologische Verbesserung das Ziel sein; stattdessen sollte im Vordergrund stehen, wie die zentrale Bedürfnisbefriedigung einkommensschwacher Patienten ­möglichst ressourcenarm und reduziert auf zentrale Funktionen vonstattengehen kann. Das Beispiel von FORUS Health zeigt, dass die Beschränkung des ophthalmologischen Medizingeräts auf die Kernfunktion der digitalen Bildgebung des Auges vollkommen ausreicht, um relevante Volkskrankheiten wie Katarakt zu erkennen. Durch den Verzicht auf zusätzliche Funktionen konnten so Kosten reduziert werden. Weiterhin muss darauf Acht gegeben werden, dass die Mitarbeiter in einem Low-End Innovationsprojekt in ihren unternehmerischen Denkweisen nicht auf klassische High-End Entwicklung fokussiert sind. Das Unternehmen sollte nicht nur in der Lage sein, die Innovationskultur Low-End innovationsförderlich auszurichten, sondern auch Prozesse so zu gestalten, dass Kosten si­ gnifikant reduziert werden können. Da die Innovation schon bei der Markteinführung

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möglichst kostengünstig sein muss, sollte die Reduktion von Produkt- und der Prozesskosten ganzheitlich erfolgen. Eine Verringerung der Materialkosten reicht oftmals nicht aus, zumal die Senkung dieser Kosten nicht zulasten der Qualität gehen darf. Stattdessen muss auch der Produktionsprozess kostenoptimiert werden. Die EinDollarBrille zeigt, wie eine Optimierung der Produktionsprozesse gestaltet werden kann: Indem den Menschen in den Zielmärkten die eigens entwickelte, einfache Biegemaschine zur Verfügung gestellt wird, erfolgt die Produktion der Brillen direkt vor Ort und muss nicht vom EinDollarBrille e. V. selbst durchgeführt werden. Zuletzt sollte das Unternehmen dazu befähigt sein, in kurzer Zeit große Mengen der Innovation zu realisieren, zum einen, um Kosten zu senken, und zum anderen, um die Nachfrage einer großen Kundengruppe zu befriedigen. Da die Margen bei Low-End Innovationen kleiner sind als bei High-End Innovationen, hängt wirtschaftlicher Erfolg auch von der Skalierungsfähigkeit des Unternehmens ab. Low-End Innovationen sind deshalb auch insbesondere für den äußerst großen BOP-Markt interessant, da hier eine große Nachfrage herrscht und durch Economies of Scale Kostenvorteile erzielt werden können. Die Produktion der Innovationen oder die Bereitstellung der Dienstleistungen muss demzufolge darauf ausgerichtet sein, dass diese fast fließbandartig erbracht werden kann. Produktionsprozesse sollten deshalb standardisiert sein und Sonderausfertigungen vermieden werden oder modular aufgebaut werden. Wichtig ist zudem, dass sich solche Produktionsprozesse auch in gleichem Stil in ressourcenärmeren Entwicklungsländern aufbauen lassen. Sie sollten entsprechend einfach sein und nicht die Notwendigkeit von Hightechgeräten voraussetzen. Für große Unternehmen ist solch eine Massenproduktion grundsätzlich zwar einfacher zu realisieren als für kleine Unternehmen, jedoch fällt großen Unternehmen dies in der Realität schwer, da diese meist auch mehr in ihren klassischen High-­ End Denkweisen gefangen sind (Reinhardt et al. 2018). Neben unternehmensinternen Fähigkeiten spielen auch Schnittstellenfähigkeiten eine tragende Rolle für den Erfolg von Low-End Innovationen. Bei Schnittstellenfähigkeiten handelt es sich insbesondere um unternehmerische Erfolgsfaktoren, die im Zusammenspiel mit dem Markt stehen. Zu diesen gehören die Fähigkeiten, (1) Bedürfnisse einkommensschwacher Kunden zu erfassen, (2) Iteration im Innovationsprozess zu etablieren und (3) eine ganzheitliche Lösung zu entwickeln. Das Verstehen der Kunden und ihrer speziellen Bedürfnisse ist besonders dann herausfordernd, wenn die Konsumenten geografisch und kulturell weit entfernt vom Unternehmen sind (z.  B. in Entwicklungsländern). So kann es für Mitarbeiter schwierig sein, sich in die Lage der Konsumenten hineinzuversetzen und ihre speziellen Bedürfnisse zu verstehen. Beispielsweise werden in vielen Kulturen medizinische oder hygienische Utensilien nicht akzeptiert, weil diese zur Stigmatisierung in Gemeinschaften führen können. So hatten und haben Menstruationsartikel wie Einlagen Akzeptanzschwierigkeiten in ländlichen Gegenden in Indien. Menstruieren gilt dort als unrein – folglich versuchen Frauen, ihre Menstruation zu verbergen und entsprechend den Kauf und die Entsorgung solcher Artikel zu umgehen. Die mangelnde Hygiene hat unter anderem eine erhöhte Rate von Gebärmutterhalskrebs zur Folge. Unternehmen müssen sich solcher spezifischen Gegebenheiten bewusst sein und ihre Low-End Innova-

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tionen entsprechend den kulturellen Besonderheiten ausrichten. Beispielsweise entwickelte der Inder A. Muruganantham eine kostengünstige Maschine, die es indischen Dorfbewohnerinnen ermöglicht, Einlagen selber herzustellen. Frauen müssen auf diese Weise teure Einlagen nicht in den meist von Männern geführten kleinen Ortsläden kaufen und können produzierte Binden direkt an andere Frauen verkaufen (Venema 2014). Weil gerade bei Low-End Innovationen die Unsicherheiten hoch sind – beispielsweise weil Konsumentenbedürfnisse schwer zu erfassen sind –, bieten sich iterative Innovationsprozesse an. Folglich sollte während des Innovationsprozesses kontinuierlich Feedback der Zielgruppe eingeholt werden. Für High-End Innovationen ist dieses Vorgehen untypisch; hier werden die Bedürfnisse häufig nur zu Beginn des Prozesses beleuchtet und Innovationen anschließend in jahrelangen Entwicklungsprozessen intern optimiert. Im Low-End Kontext sollten Produkte hingegen schnell auf den Markt gebracht, getestet und das Feedback für die Verbesserung des Produktes eingearbeitet werden. Solch iterative Schleifen ermöglichen es, das eventuelle Scheitern erster Produktversionen schnell zu verstehen. Die Low-End Innovation kann dann entsprechend zügig direkt an die Bedürfnisse der Kunden angepasst werden. Zuletzt bedürfen Low-End  Innovationen der Entwicklung einer ganzheitlichen Lösung. Beispielsweise wäre die reine Bereitstellung kostengünstiger Menstruationseinlagen im Fall des Gründers A. Muruganantham unzureichend gewesen. Weil die Menstruation mit Stigmatisierung verbunden ist, musste er zusätzlich Aufklärungsarbeit betreiben und sicherstellen, dass die Innovation tatsächlich an den benötigten Stellen ankommt. Weil die Kosten von Low-End Innovationen zudem nicht immer durch die niedrigen Verkaufspreise kompensiert werden können, benötigen Unternehmen innovative Geschäftsmodelle. Beispielsweise verkauft der EinDollarBrille e. V. zusätzlich zu Gläsern und dem Draht für die Gestelle auch die entsprechenden Biegemaschinen. Die Unternehmung bildet Menschen in Entwicklungsländern in der Nutzung dieser Biegemaschinen aus, die sich wiederum ein eigenes Geschäft um den Verkauf der kostengünstig hergestellten Brillen aufbauen können. Final müssen Unternehmen über externe Fähigkeiten, also solche, die sich mit den unternehmensexternen Marktstrukturen auseinandersetzen, verfügen. Dazu zählen insbesondere die Fähigkeiten, (1) Zugang für einkommensschwache Patienten zu schaffen und (2) Unterstützernetzwerke zu etablieren. Der Zugang zu den Patienten – insbesondere auch der geografisch-physische Zugang zu den Konsumenten – ist im Gegensatz zu High-­End Innovationen eine besondere Herausforderung von Low-End Innovationen. Da Low-­End Innovationen im Gesundheitswesen häufig Entwicklungsländer adressieren, sind Unternehmen mit dem Problem konfrontiert, dass Distributionskanäle auf den Zielmärkten nur schwer zugänglich oder überhaupt nicht vorhanden sind. Beispielsweise sind Infrastrukturen zu Dörfern häufig nur spärlich ausgebaut. In diesen Fällen müssen Unternehmen dafür sorgen, dass sie entweder Zugang zu bereits bestehenden Distributionskanälen erlangen oder auf kreative Weise völlig neue Distributionssysteme erschaffen. Die EinDollarBrille schafft beispielsweise Marktzugang, indem die Dorfbewohner die Brillen selber herstellen und an ihre Gemeinschaft verkaufen. Auch für Partec spielt der After-­Sales-­Service bei Marketing-

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maßnahmen zum Teil eine größere Rolle als der Neuverkauf von Produkten. Die Prioritätensetzung auf den After-Sales-Service zeigt, dass die Entwicklung von Innovationen allein nur einen kleinen Teil zur tatsächlichen Nutzenstiftung darstellt: Da Nutzen erst mit der tatsächlichen Anwendung der Innovation generiert werden kann, müssen Zugänge aufgebaut und eine nachhaltige Versorgung sichergestellt werden. Schlussendlich sind Netzwerke für den Erfolg jeglicher Art von Innovationen wichtig – aber für Low-End Innovationen sind sie von besonders großer Bedeutung. Mithilfe von Netzwerkpartnern kann die Akzeptanz von Patienten gegenüber Low-End Innovationen gesteigert werden. Die geeigneten Netzwerkpartner für Low-End  Innovationen unterscheiden sich jedoch von jenen im High-End Innovationskontext. Während High-End Innovationen von der Zusammenarbeit mit in der Supply Chain vorgelagerten Partnern wie Universitäten profitieren, ist es im Kontext von Low-End Innovationen vorteilhafter, die Kollaboration mit nachgelagerten Partnern zu vertiefen. Dazu gehören beispielsweise die Regierung, NGOs und lokale Gemeinschaften, die insbesondere im Rahmen der Distribution zur Steigerung der Akzeptanz der Low-End  Innovation beitragen (Reinhardt et  al. 2018). Partec kooperiert beispielsweise mit NGOs und Initiativen und stellt diesen zum Teil auch kostenlos Diagnosegeräte zur Verfügung, um so die Nutzung der Innovation über die legitimierten Partner anzuregen und die medizinische Versorgung sicherzustellen.

4.5

Förderung von Low-End Innovationen

Interne Fähigkeiten, Schnittstellenfähigkeiten und externe Fähigkeiten der Unternehmen können den Erfolg von Low-End Innovationen stark beeinflussen. Damit in Zukunft eine breite Masse von Menschen Nutzen aus preisgünstigen und bedürfnisgerechten Innovationen ziehen kann, muss diese Innovationsform jedoch auch auf staatlicher Seite gefördert werden. Ebenso muss die allgemeine Akzeptanz auf Angebots- und Nachfrageseite gesteigert werden. Der Staat in seiner originären Aufgabe als Repräsentant des Volkes hat das Ziel, den Nutzen der Bevölkerung zu maximieren. Hierzu fördert er vielerorts die Entstehung und Diffusion von Innovationen. Die Bundesregierung hat sich mit der Hightech Strategie 2025 klar dafür positioniert, den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit mit Innovationen zu begegnen. Allerdings spielen in diesem Zusammenhang Low-End Innovationen bislang keine entscheidende Rolle. Es fehlt bisher an Förderinstrumenten, welche darauf abzielen, die Entwicklung und Umsetzung von Low-End  Innovationen zu fördern – in Entwicklungsländern und in entwickelten Ländern. Entwicklungsländer benötigen Low-End  Innovationen zwar dringend, sind aber häufig durch einhergehendes Staatsversagen in ihren Fördermöglichkeiten begrenzt. Aus diesem Grund sollte die Förderung von Low-End  Innovationen auch von entwickelten Ländern aus erfolgen. Low-­ End Innovationen stehen spezifischen Herausforderungen gegenüber, die von der Skalierbarkeit der Produkte und Produktionsverfahren hin zu Herausforderungen bei der Distribution reichen. Unternehmen benötigen deshalb Anstöße, um kompetitiv aufgestellt

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zu sein. Neben auf Low-End  Innovationen ausgerichteten Förderprogrammen wäre es denkbar, einen Award zu verleihen, der Low-End Innovationen würdigt und Unternehmen dazu anreizt, Low-End  Innovationen zu entwickeln. Einer der wichtigsten Innovationsawards in Deutschland ist der German Innovation Award. Dieser „zeichnet branchenübergreifend Produkte und Lösungen aus, die sich v.  a. durch Nutzerzentrierung und einen Mehrwert gegenüber bisherigen Lösungen unterscheiden“ (German Innovation Award 2019). Angelehnt an den German Innovation Award könnte ein Low-End  Innovation-­ Award Produkte und Dienstleistungen im Gesundheitsbereich auszeichnen, die sich speziell an Menschen mit unzureichenden Finanzmitteln richten und diesen Menschen einen besonderen Mehrwert für ihre Gesundheit und somit für ihr Leben verschaffen. Damit sich genügend Unternehmen auf der Angebotsseite Low-End Innovationen widmen, ist zudem ein Umdenken in Unternehmen selbst gefordert. Manager bevorzugen in der Regel die Entwicklung und Vermarktung von High-End Innovationen – selbst wenn keine objektiven Gründe vorliegen, die solche Entscheidungen begründen (Reinhardt et al. 2017). Dieses verzerrte Verhalten führt dazu, dass Low-End Chancen übersehen und verpasst werden. Auf diese Weise entstehen sowohl für Unternehmen als auch für die Gesellschaft gravierende Nachteile: Möglichkeiten zur Profitgenerierung und zu unternehmerischem Wachstum gehen verloren und die Befriedigung grundlegender medizinischer Bedürfnisse von benachteiligten Menschen wird versäumt. Aus diesem Grund ist es essenziell für Unternehmen, ihr Bewusstsein für Low-End Innovationen zu schärfen. Zu solchen Maßnahmen kann die gezielte Auswahl von Mitarbeitern mit sozialen Einstellungen oder die Verankerung von organisationalen Entscheidungsroutinen, die spezifisch Low-­ End Alternativen prüfen, gehören. Letztendlich ist auch ein Umdenken auf der Nachfrageseite relevant, damit Patienten Low-End Innovationen akzeptieren und diese entsprechend auch von der Unternehmensseite fordern. Patienten und Konsumenten im Allgemeinen können neue Innovationen aus vielfältigen Gründen ablehnen. Diese reichen von praktischen Aspekten, wie umständlichen Handhabungen oder störenden Abläufen bei der Anwendung von Medizinprodukten, über Unsicherheiten hinsichtlich funktionaler oder physischer Risiken bis hin zu der potenziellen Verletzung von ethischen und sozialen Normen durch die Innovationen (Kleijnen et al. 2009). Da Konsumenten häufig einen geringeren Preis mit geringerer Qualität assoziieren, sollten sie darüber aufgeklärt werden, dass Low-End Innovationen zwar preisgünstig sind, diese Kosteneinsparungen aber insbesondere durch den Verzicht auf zusätzliche Funktionen – und nicht auf Qualität – bedingt sind. Konsumenten – auch in Entwicklungsländern  – bevorzugen meist High-End  Innovationen, obwohl sie sich diese selten leisten können. Folglich müssen sich Marketingstrategien großflächig ändern, damit die Denkweisen von Konsumenten beeinflusst werden und sie den Nutzen von Low-End Innovationen erkennen. Die einfache und robuste Handhabung von Low-End Innovationen kann hierbei einen Vorteil darstellen. Zudem hat es sich als hilfreich herausgestellt, akzeptierte Intermediäre wie Gemeinschaftsmitglieder mit hohem gesellschaftlichen Status einzuspannen, da diese die Low-End  Innovationen direkt an die Gemeinschaftsmitglieder verteilen oder Dienstleistungen anwenden können (siehe beispielsweise das Vertriebsmodell

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des EinDollarBrille e. V.). Wie im Fall der Stigmatisierung von menstruierenden Frauen, welche die Nutzung von Hygieneartikeln behinderte, können solche Intermediäre helfen, soziale Normen zu beeinflussen, die für die Akzeptanz von Low-End Innovationen relevant sind. Letztendlich ist ein Zusammenspiel von innovativen Unternehmen, Staat und allgemein der Nachfrager und Anbieter notwendig, damit die Potenziale von Low-End Innovationen genutzt werden können und die medizinische Versorgung für Bevölkerungsschichten mit geringen Zahlungsfähigkeiten sichergestellt werden kann.

4.6

Schlussbetrachtung

Low-End Innovationen können einen Beitrag leisten, den Zugang zu medizinischer Versorgung für ärmlichere Bevölkerungsschichten zu gewährleisten. Low-End  Innovationen sind neue Produkte und Dienstleistungen, die strategisch unterhalb des durchschnittlichen Preises der jeweiligen Produkt- oder Dienstleistungskategorie positioniert sind. Folglich richten sie sich an jene Zielgruppen, die eine geringe Zahlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit aufweisen. Besonders in der Gesundheitsbranche offerieren sie somit die Möglichkeit, das Leben von Menschen mit eingeschränkten finanziellen Ressourcen zu verbessern. Anhand von drei Beispielen – FORUS Health, Partec und EinDollarBrille e. V. – haben wir aufgezeigt, wie einfache Produktlösungen, die genau auf die Bedürfnisse einkommensschwacher Menschen zugeschnitten werden, zur Verbesserung des Lebensstandards der ärmeren Teile der Bevölkerung beitragen können. Möchte ein Unternehmen Low-End Innovationen erfolgreich implementieren, gilt es jedoch, einige organisationale Hürden zu überwinden. Insbesondere sollten Unternehmen organisational interne Fähigkeiten (d. h. Schaffung einer Low-End Innovationskultur, ganzheitliche Kostenreduktion und Skalierungsfähigkeit), Schnittstellenfähigkeiten (d. h. Erfassung von Bedürfnissen einkommensschwacher Kunden, Iteration im Innovationsprozess und Entwicklung einer ganzheitlichen Lösung) sowie externe Fähigkeiten (d. h. Zugang für einkommensschwache Patienten schaffen und Eta­ blierung von Unterstützernetzwerken) aufweisen. Trotz der unternehmerischen und sozia­ len Vorzüge, die Low-End Innovationen bieten, verfolgen viele Unternehmen ausschließlich High-End Strategien. Low-End Innovationen müssen demzufolge staatlich gefördert werden und benötigen zusätzliche Maßnahmen, um das Bewusstsein für und die Akzeptanz von Low-End Innovationen auf Angebots- und Nachfrageseite generell zu stärken.

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Ariane Segelitz-Karsten, M.Sc.  ist seit Oktober 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dok­ torandin am Lehrstuhl für Marketing der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist verantwortlich für das DFG/SNF-geförderte Forschungsprojekt „Low-end I­nnovationen: Eine Untersuchung zu Schlüsselpersonen und organisatorischen Ökosystemen“, welches sich mit Herausforderungen für einzelne Manager und Organisationen im Low-­End Bereich beschäftigt. Vor ihrer Promotion schloss sie ihren B. Sc. im Fach Wirtschaftswissenschaften und ihren M. Sc. im Fach BWL mit Schwerpunkt „Strategy, Management and Marketing“ an der FSU Jena ab. Dr. Nadine Hietschold  ist eine Postdoktorandin im Bereich Innovation und Entrepreneurship an der Berner Fachhochschule. Nadine Hietschold hat Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Dresden studiert und im Jahr 2017 an selbiger Hochschule ihre Promotion zum Thema Konsumentenwiderstand gegen Innovationen abgeschlossen. Im Rahmen ihrer Postdocaktivitäten untersucht sie nun, wie Low-End Innovationen und soziale Innovationen organisational erfolgreich umgesetzt werden können, wie diese gesellschaftlichen Wert generieren und welche spezifischen Fähigkeiten Unternehmensgründer benötigen, um solche Innovationen erfolgreich umzusetzen.

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Dr. Sebastian Gurtner  ist als Professor für Healthcare Management, Strategie und Innovation an der Berner Fachhochschule tätig. Er leitet das Institut Innovation & Strategic Entrepreneurship am Departement Wirtschaft und beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit der Fragestellung, wie man mit Innovationen Wert generieren kann. Ein Fokus liegt dabei immer auf den Besonderheiten der Gesundheitswirtschaft, wo Innovationen direkt zum Wohl von Patienten beitragen können, aber auch Grundlage für unternehmerischen Erfolg und gesellschaftliches Wohl sind. Dr. Gurtner publiziert die Ergebnisse seiner Forschung regelmäßig in akademischen Fachzeitschriften wie dem Journal of Product Innovation Management, Long Range Planning, Journal of Business Research, Technological Forecasting and Social Change, Medical Decision Making und Health Care Management Review. Dr. Ronny Reinhardt  arbeitet als Innovationsmanager für Cloud&Heat Technologies und war zuvor als  wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Marketing der FSU Jena beschäftigt. Er promovierte an der TU Dresden zum Thema Low-End Innovationen. Seine Forschungsarbeiten haben mehrere Auszeichnungen wie den Academy of Management Best Student Paper Award im Bereich Technologie- und Innovationsmanagement und den Thomas Hustad Best Paper Award erhalten und wurden in angesehenen Fachzeitschriften wie dem Journal of Product Innovation Management, Long Range Planning, dem Journal of Business Research und R&D Management veröffentlicht. Herr Dr. Reinhardt studierte Wirtschaftsingenieurwesen und forschte in verschiedenen gesundheitsbezogenen Projekten wie „InnoTech4Health“ und „GesundLeben“.

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Wertschöpfende Innovationen als Ausweg aus der Kostenfalle im Gesundheitswesen Waldemar Pelz

Inhaltsverzeichnis 5.1  5.2  5.3  5.4  5.5  5.6 

 esonderheiten der Innovation im Gesundheitswesen  B Klassifikation von Innovationen  Wirkungen von Innovationen  Beispiele aus dem Gesundheitswesen  Blue Ocean: Methoden der Generierung von Innovationen  Blue Ocean: Umsetzung von Innovationen  5.6.1  Zusammenhang von Führung und Innovation  5.6.2  Transformationale Führung  5.6.3  Schlüsselkompetenzen innovativer Führungskräfte  5.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Das Kernproblem des Gesundheitswesens sind steigende Kosten und damit seine Finanzierbarkeit. Der wachsende Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung wird dieses Problem in Zukunft noch verschärfen. Ein Blick auf das Verhältnis von Gesundheitskosten einerseits und die von Patienten wahrgenommene Qualität der Gesundheitsversorgung andererseits erlaubt die Schlussfolgerung, dass die vorherrschende bürokratische Regulierung mit Sparprogrammen und Leistungskürzungen der letzten 20 Jahre als weitgehend gescheitert gelten kann. Aus diesem Grund suchen Wissenschaftler und Praktiker weltweit nach kreativen Lösungen. Den Schlüssel könnten wertschöpfende Innovationen (Value Innovations) sowie Führungsprinzipien liefern, W. Pelz (*) Bad Soden am Taunus, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_5

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die eine Alternative zur traditionellen Führung durch Direktiven und Leistungsdruck darstellen. Zur Implementierung sind neue Managementkonzepte notwendig. Chan Kim und Renee Mauborgne nennen diese Ansätze Blue Ocean Strategy und Blue Ocean Leadership. Im marktwirtschaftlichen Bereich der Gesellschaft gibt es bereits zahlreiche Beispiele für die erfolgreiche Anwendung dieser Konzepte. Nun finden sie Eingang ins Gesundheitswesen. Dieser Beitrag skizziert die Kerngedanken dieser Ansätze und beschreibt Beispiele für die praktische Umsetzung.

5.1

Besonderheiten der Innovation im Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen wird der Begriff Innovation im Wesentlichen als Synonym für medizinisch-­ technischen Fortschritt verwendet. Teilbereiche sind pharmakologischer Fortschritt (neue Medikamente), Verbesserungen in Diagnose und Therapie (zum Beispiel minimalinvasive Chirurgie oder neue Formen der Organtransplantation), medizintechnischer Fortschritt (zum Beispiel bildgebende Verfahren) oder organisatorische Verbesserungen (Reimer et al. 2007). Manche Erfindungen kann man als Querschnittsinnovationen bezeichnen. Beispiele sind Digitalisierung und künstliche Intelligenz; sie versprechen Verbesserungen in den meisten Teilbereichen  – von der Forschung über die Diagnose und Therapie bis hin zur Nachsorge und Pflege (Garbuio und Lin 2019, S. 59). Der medizinisch-­ technische Fortschritt bringt Verbesserungen mit sich, hat aber den Nachteil, dass er häufig zugleich die Kosten steigert, insbesondere durch zusätzlich verfügbare Medikations- und Behandlungsmöglichkeiten (Bratan und Wydra 2013). Mit einem Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11,3 % liegt Deutschland an der Spitze der OECD (8,8  %). Nur wenige Länder haben höhere Gesundheitskosten. Dazu gehören die Vereinigten Staaten von Amerika mit 17,2 % und die Schweiz mit 12,3 % (OECD Health Data 2019). Für die Qualität der Gesundheitsversorgung gibt es Indikatoren, wie zum Beispiel Mortalität, Morbidität und Lebenserwartung. Dabei fehlt ein wichtiger Qualitätsindikator, der gesellschaftlich immer wichtiger wird: der von Patienten (Kunden) wahrgenommene Nutzen, den man auch als Lebensqualität bezeichnen kann (Bhatti et al. 2018). Beispiele für derartige Indikatoren sind die Zeit, die ein Arzt seinem Patienten widmet, wie sorgfältig er auf die Sorgen und Probleme des Patienten eingeht oder wie wirksam und nachhaltig er zur Veränderung des Gesundheitsverhaltens seiner Patienten beiträgt. Daraus folgt die Forderung nach einer patientenorientierten Gesundheitsversorgung, für die neue Ansätze der Innovation notwendig sind (Reed et al. 2012).

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Klassifikation von Innovationen

Innovation ist ein Prozess, der kreative Ideen und Neuerungen (Inventionen) in nützliche Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse umwandelt (Robbins et al. 2013, S. 491). Den Nutzen erkennt man an der Akzeptanz (Zufriedenheit) und Zahlungsbereitschaft der Zielgruppe (Kunden). Erst dadurch kann sich eine Invention in der Gesellschaft durchsetzen, weil sie einen (messbaren) Wert darstellt (Drucker 2019, S. 147). Diese Definition macht deutlich, welche Faktoren für die erfolgreiche Umwandlung von Ideen (Input) in Resultate (Output) notwendig sind (Robbins et al. 2013, S. 235): Der erste Erfolgsfaktor heißt Effizienz (Produktivität). Darunter versteht man das Verhältnis von eingesetzten Ressourcen (Zeit, Arbeit und Wissen) und Resultaten (unter Vermeidung von Verschwendung). Daher spricht man auch von Wirtschaftlichkeit. In der Tech­ nik ist der Wirkungsgrad ein Synonym für Effizienz. Der zweite Erfolgsfaktor heißt Organisations- oder Unternehmenskultur. Dazu gehören Verhaltensgrundsätze und Prinzipien wie Fehlertoleranz, Risikobereitschaft, Begeisterungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Freiräume, Konfliktfähigkeit, Mut, effektive Kommunikation und Teamgeist. Der gesamte Prozess der Umwandlung von Ressourcen (Input) in Resultate (Output) in einer gegebenen Unternehmenskultur kann nur dann funktionieren, wenn geeignete Führungskräfte und ihre Mitarbeiter diesen Prozess gestalten. Der dritte – und wichtigste – Erfolgsfaktor ist daher die unternehmerische Führung (Weintraub und McKee 2019). Die besondere Herausforderung für Innovationen im Gesundheitssystem ist das weitgehende Fehlen einer unternehmerischen Führung sowie markt- und wettbewerbsinduzierter Prinzipien, die durch den „Marktmechanismus“ für Effizienz, wirksame Führung und eine innovative Organisationskultur sorgen. Solange bürokratische Steuerung und Kontrolle das vorherrschende Prinzip darstellen, haben nur wenige Arten von Innovation eine Chance auf Erfolg. Innovationen kann man nach ihrer Wirkung unterscheiden.

5.3

Wirkungen von Innovationen

Nach ihrer Wirkung kann man Innovationen in drei Gruppen einteilen (Christensen et al. 2019, S. 17): 1. Sustaining Innovations. Dabei handelt es sich um Neuerungen, die bestehende Produkte und Dienstleistungen kontinuierlich verbessern und dadurch ihren Wert (Nutzen) steigern. 2. Efficiency Innovations. Sie werde auch als Prozessinnovationen bezeichnet, weil sie durch eine verbesserte Prozessgestaltung das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis (die Produktivität) optimieren.

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3. Market-Creating Innovations. Sie werden auch als Value Innovations bezeichnet. Ihre besondere Wirkung ist die Schaffung oder Erschließung neuer Märkte, indem sie komplizierte oder teure Produkte breiten Bevölkerungskreisen oder neuen Zielgruppen zugänglich machen. Das klassische Beispiel ist das Modell T von Ford. Durch die Einführung der Fließbandfertigung stieg die Automobilproduktion in den Vereinigten Staaten von 20.000 im Jahr 1909 auf zwei Millionen im Jahr 1922. Von dieser Innovation gingen Impulse in viele gesellschaftliche Bereiche aus. Sie reichen von neuen Berufen (zum Beispiel Designer, Verkäufer, Werbefachleute) über neue Industrien (zum Beispiel Touristik, Hotelwesen, Straßenbau, Raffinerien) bis hin zu Belebung der Gummi-, Stahl-, Holz-, Lack- und Baumwollindustrie. Eine ähnliche Bedeutung hatte die Entwicklung von Mikrocomputern mit Auswirkungen in nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Das besondere Merkmal dieser wertschaffenden Innovation ist die Verbesserung der Produkte (oder Dienstleistungen) bei gleichzeitiger Kostensenkung und einer Ausweitung des Angebots. Das schafft die Möglichkeit, neue Märkte und Zielgruppen (bisherige „Nichtkunden“) zu erschließen. Der wesentliche Unterschied zu sogenannten disruptiven Innovationen ist die Tatsache, dass sie Wettbewerber oder andere Technologien verdrängen. Beispiele sind der Wandel von der chemischen zur digitalen Fotografie oder die Verdrängung von Cassetten durch CDs und dieser wiederum durch Onlineangebote. Das Konzept der Blue Ocean Strategy greift den Grundgedanken der wertschaffenden Innovation auf und macht Vorschläge, wie man derartige Neuerungen finden kann; das Konzept des Blue Ocean Leadership verdeutlicht, was Führungskräfte tun müssen, damit Innovationen erfolgreich umgesetzt werden. Zuvor sollte man einen Blick auf einige Beispiele aus der Praxis werfen.

5.4

Beispiele aus dem Gesundheitswesen

Die Kosten der medizinischen Versorgung sind in den Vereinigten Staaten von Amerika am höchsten (siehe Abschn. 5.1). Folglich besteht in diesem Land ein besonders großer Veränderungsbedarf. Die Diskussion geht weniger in Richtung bürokratischer Steuerung, sondern vielmehr in Richtung marktwirtschaftlicher Lösungen. Der private Sektor gilt als Vorbild für Leistungsqualität und Kundenorientierung. Der Vorsprung gegenüber dem Gesundheitswesen wird auf 20 Jahre geschätzt (Block 2013). Diese Rahmenbedingungen fördern die Experimentierfreude und die Entwicklung neuer Lösungen, von denen das Gesundheitswesen in vielen Ländern lernen kann. Dazu einige Beispiele: Beispiel 1: Humana Inc. Humana ist eine Aktiengesellschaft aus Louisville, Kentucky, mit einem Umsatz von 54  Mrd. US-Dollar und rund 50.000 Mitarbeitern. Das Unternehmen hat sich der

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­ atientenzentrierten, ganzheitlichen Gesundheitsversorgung seiner Patienten (Mitglieder) p verschrieben und einen Wandel von einer Krankenversicherung hin zu einem Anbieter von Gesundheitsleistungen vollzogen: „shifting its focus from paying claims to improving the health of its beneficiaries“ (Kane 2017, S. 2). Die Steigerung des Aktienkurses von 170 US-Dollar im Jahr 2016 auf rund 300 US-Dollar im Jahr 2018 (vwd 2019) kann man als Beleg für den Erfolg dieses Konzeptes werten. Wie wird der Erfolg der gesundheitlichen Versorgung gemessen und welche Interventionen sind dazu notwendig? Für die Messung des Gesundheitszustandes hat Humana ein System von Kennzahlen entwickelt. Die wichtigsten Ergebnisse sind Lebensqualität und Lebenserwartung mit jeweils 50 % Gewichtung. Als deren Determinanten wurden das Gesundheitsverhalten mit 30 %, die klinische Versorgung mit 20 %, sozioökonomische Faktoren mit 40 % und Umweltfaktoren wie Luft- und Wasserqualität mit 10 % Gewicht festgelegt. Zum Gesundheitsverhalten gehören unter anderem Ess- und Trinkgewohnheiten sowie körperliche Aktivität. Beispiele für sozioökonomische Faktoren sind familiäre oder gegenseitige Unterstützung und Weiterbildung. Die klinischen Leistungen werden mit Verfügbarkeit und Qualität (Zufriedenheit) bewertet. Die Daten werden durch Befragungen erhoben, wie sie im Marketing üblich sind. Zur Sicherstellung dieser Leistungen wurde ein umfangreiches Interventionsprogramm mit Anreizen, Informationen und Schulungen entwickelt. Es reicht von Kochkursen und Seminaren über spezielle Diäten und Ernährungspläne bis hin zur Zusammenarbeit mit dem lokalen Einzelhandel zur Veränderung des Einkaufsverhaltens. Zusammenfassend kann man feststellen, dass es sich um ein systematisches Programm zur Veränderung des Gesundheitsverhaltens handelt, bei dem zugleich die Eigeninitiative und das Engagement der Patienten gefördert werden. Besonders wichtig ist dabei die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Ärzten, Patienten und Pflegepersonal. Dieses Zusammenspiel von Eigeninitiative („Selbststeuerung“) der Patienten mit professioneller Betreuung durch Fachpersonal unter Einbeziehung der Ärzte macht das gesamte System sehr effektiv und kostensparend. Kennzahlen der Humana Inc. für 2018: Umsatzrendite = 5,5  %; Gesamtkapitalrendite = 20  %; Umsatz pro Mitarbeiter = 1,2 Mio. US-Dollar; Eigenkapitalquote = 63 %. Beispiel 2: Iora Health Iora Health ist ein Start-up-Unternehmen, das der Arzt und Absolvent der Harvard Medical School, Rushika Fernandopulle, in den Jahren 2010 und 2013 gegründet hat (Sahlman und Vijaraghavan 2016; Beckman und Gupta 2018). Seine Vision war es, einen Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Grundversorgung (Primary Care) zu leisten, die sich in den Vereinigten Staaten von Amerika in einem „fürchterlichen Zustand“ befindet, wenn man das Verhältnis von Versorgungsqualität und Kosten betrachtet. Das vorherrschende Vergütungssystem nach dem Prinzip „fee for service“ ist ein nahezu perfekter Anreiz für Verschwendung. Verschiedene Studien beziffern den Anteil

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­ nnötiger, doppelter oder übertriebener Maßnahmen auf 25–40 % – ohne dass die Qualität u der medizinischen Versorgung verbessert wird (Gowindarajan und Ramamurti 2018, S. 8). Der Kerngedanke des Geschäftsmodells besteht darin, dass jeder Patient einem Team zugeordnet ist, das ihn ganzheitlich betreut. Zu diesem Team gehören ein Arzt, Pflegepersonal und ein Gesundheitscoach. Alle Teammitglieder erarbeiten zusammen mit dem Patienten einen Behandlungsplan, der anschließend konsequent umgesetzt wird. So entsteht ein vertrauensvolles, partnerschaftliches Verhältnis mit einer größeren Verbindlichkeit und einem stärkeren Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Patienten. Dieses Modell hat mehrere Vorteile mit wirtschaftlichen Konsequenzen: (1) Der Teamgeist, der durch die arbeitsteilige Einbindung und Verantwortung aller Beteiligten entsteht, führt zu einem motivierenden Arbeitsklima und reduziert gleichzeitig den Stress. (2) Viele Aufgaben können vom Pflegepersonal, dem Gesundheitscoach und dem Patienten übernommen werden, deren Personalkosten wesentlich niedriger sind als die der Ärzte. (3) Die Teammitglieder konzentrieren sich auf ihre besonderen Stärken (Verhaltensänderung durch den Coach, Sicherheit und Geborgenheit durch die Pfleger und medizinische Fachkompetenz durch den Arzt). Ein funktionierendes Team ist wegen der Arbeitsteilung und Kooperation fast allen anderen Organisationsprinzipien weit überlegen und damit äußerst effektiv (ziel- und ergebnisorientiert) sowie effizient (produktiv) – und folglich auch wirtschaftlich sinnvoll. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den die Autoren Sahlman und Vijaraghavan (2016, S. 5) sinngemäß wie folgt beschreiben: „Die meisten Diabetiker haben nicht einfach nur Diabetes. Sie leiden meistens auch an Herzproblemen, Depressionen, Übergewicht, Wissenslücken und mangelnder Motivation. Es ist kaum möglich, diese Patienten zu verschiedenen Spezialisten zu überweisen, die alle Probleme zugleich lösen und eine langfristige, ganzheitliche Sicht einnehmen können.“ Zusammenfassend in Tab. 5.1 kann man die Charakteristika des Iora-Modells gegenüber dem traditionellen Konzept hervorheben. Resultate Im Jahr 2017 hatte Iora Health 24 Standorte in acht Städten und beschäftigte mehr als 400 Mitarbeiter. Insgesamt hatte das Unternehmen 125 Mio. $ Risikokapital akquiriert. Es ist gelungen, die gesamten Behandlungskosten um 15–20  % und die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus um rund 40 % zu senken. Die Kennzahlen für Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit liegen deutlich über dem Durchschnitt (Gowindarajan und Ramamurti 2018, S. 10). Diese Beispiele deuten die Spitze des Eisberges an Möglichkeiten an und zeigen, welche Kriterien man bei der Suche und Auswahl kreativer Ideen anwenden sollte: Überdurchschnittliche Wertschöpfung, bei der die Kunden- oder Patientenzufriedenheit den Ausgangspunkt der Wertschöpfungskette bilden sollte. Erst eine hohe Wertschöpfung schafft Spielräume für Verbesserungen der Leistungen bei gleichzeitig sinkenden Kosten. Dadurch werden zusätzliche Investitionen finanzierbar. Es entsteht eine „Aufwärtsspirale“.

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Tab. 5.1  Vergleich traditionelles Konzept mit dem Iora-Modell. (Quelle: eigene Darstellung) Traditionelles Konzept Behandlung von ca. 2000 Patienten pro Arzt („patient load“) Rund 30 Patienten pro Tag, die in einer Praxis behandelt werden Arzt mit Unterstützung durch Arzthelfer oder Pflegekräfte Mentale Probleme (Sorgen, Ängste, Stress, Unsicherheit) können nicht thematisiert werden Keine Zeit für valide Sachinformationen, Wissensvermittlung und Tipps zum Gesundheitsverhalten Patienten gehen zu mehreren, selbst gewählten Spezialisten ohne Koordination Kostenerstattung („fee for service“) fördert einen hohen „Patientendurchsatz“

Iora-Modell Panel mit 600 bis 1200 Patienten, die aktiv betreut werden Weniger persönliche Kontakte mit Ärzten; diese führen die Gesundheitscoaches Vier Gesundheitscoaches pro Arzt; Kooperation im Team mit IT-Unterstützung Gesundheitscoaches sind für mentale Themen qualifiziert und haben Zeit dafür Patientenspezifischer Informationsaustausch im Team mit gezielten Trainings- und Schulungsmaßnahmen Sinnvolle Auswahl und Überweisung zu am besten geeigneten Spezialisten Betrag pro Patient („capitation“), mit dem die Gesundheit der Patienten honoriert wird

Das Iora-Konzept folgt dem Motto: „… transactions don’t heal people; relationships heal people“ (Beckman und Gupta 2018, S. 156)

Neue Formen der Führung, die das traditionelle Prinzip von Anweisungen und (bürokratischer) Kontrolle überwinden und sowohl die wirtschaftlichen (Produktivität) als auch menschlichen (Engagement, Teamgeist und Arbeitsklima) Vorteile der Organisation nutzen. Beispielsweise fand eine Studie der Gallup-Organisation, dass Unternehmen mit einer überdurchschnittlich hohen Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit Renditen und Wachstumsraten erzielten, die um den Faktor drei bis vier höher waren als bei anderen Unternehmen (Fleming et al. 2005). Organisationen mit einer niedrigen Wertschöpfung leiden in der Regel unter einem besonders hohen Kosten- und Leistungsdruck, der zudem das Arbeitsklima (und folglich die Produktivität) weiter verschlechtert. Die Folge ist eine „Abwärtsspirale“ oder eine „Notlösung“ – zum Beispiel in Form von Fusionen, die in der Regel die Innovationskraft schwächen (durch Komplexität, Hierarchie, lange Entscheidungswege, Verteilungskämpfe, Marktferne, „Silodenken“ etc.).

5.5

Blue Ocean: Methoden der Generierung von Innovationen

Während traditionelle Strategien auf Wettbewerbsvorteile zielen, versuchen Blue-­Ocean-­ Strategien, den Wettbewerb irrelevant zu machen, indem sie neue Produkte für neue Märkte schaffen. Damit soll man den „Red Ocean“ verlassen. Diese Bezeichnung steht als Symbol für harten („blutigen“) Konkurrenzkampf in einem „reifen“ Markt. Den Unterschied zwischen beiden Symbolen soll die Tab. 5.2 zusammenfassend kennzeichnen.

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Tab. 5.2  Vergleich der Situation in „roten“ und „blauen“ Ozeanen. (Quelle: eigene Darstellung) Rot (Red Ocean) Wettbewerb auf existierenden Märkten Wettbewerbsvorteile (Vorsprung) erzielen Nachfrage (Bedarf) ausschöpfen Fokus: Kosten senken oder Qualität steigern

Blau (Blue Ocean) Neue Märkte (ohne Wettbewerb) schaffen Wettbewerb irrelevant machen Neue Nachfrage generieren Fokus: Kosten senken und Qualität steigern

Eine „blaue“ Strategie ist nur möglich, wenn ihr eine wertschöpfende Innovation zugrunde liegt. Ein Beispiel für große Wertschöpfung sind Mobiltelefone. Sie bestehen aus etwa 60 verschiedenen Stoffen. Davon entfallen rund 15 % auf Silizium und der Rest auf Kunststoffe sowie verschiedene Metalle, wie zum Beispiel Kupfer, Aluminium, Eisen, Zinn, Nickel, Silber (0,16 %), Gold (0,024 %) und Platin (0,00034 %, Hütz-Adams 2016, S. 2). Der Marktwert dieser Stoffe dürfte bei etwa 20 Euro liegen. Bei einem Verkaufspreis des Mobiltelefons von 800 Euro, beträgt die Wertschöpfung 780 Euro. Die Pioniere konnten viele Jahre in diesem „blauen Ozean“ weitgehend ungestört leben, bis die ersten Wettbewerber erschienen und das Wasser begann – sinnbildlich gesprochen – sich rot zu färben. Derartige wertschöpfende Innovationen entstehen durch zufällige Entdeckungen (zum Beispiel Viagra, Benzolring, Teflon und Penicillin) oder durch systematisches Innovationsmanagement (z. B. IKEA, Ryanair, Nike, Dell und Apple). Zur Generierung von Innovationen gibt es in der Fachliteratur unzählige Vorschläge (von Hippel 2005; Rustler 2018). Für die Entwicklung von Blue-Ocean-Strategien empfehlen Chan Kim und Renee Mauborgne (Kim und Mauborgne 2017) unter anderem folgende Methoden: (1) Value Innovation und (2) Gewinnung von Nichtkunden. Die Kerngedanken dieser Methoden lassen sich wie folgt zusammenfassen: Value Innovation: Nutzen schaffen Ein Nutzen (Value) ist dann gegeben, wenn ein Kunde bereit ist, für ein Produkt oder eine Dienstleitung einen bestimmten Preis zu entrichten. Das ist meistens dann der Fall, wenn das Angebot eines oder mehrere seiner Probleme löst. Subtrahiert man vom Verkaufspreis (des Angebots) alle eingekauften Vorleistungen (Kosten der Rohstoffe, Vor- und Zwischenprodukte sowie Dienstleistungen), erhält man die Wertschöpfung. Dies ist der Kerngedanke wertschaffender Innovationen (Value Innovations). Das führt zu der entscheidenden Frage, wie man neue (innovative) Möglichkeiten der Wertschöpfung finden kann. Dazu gibt es in der Fachliteratur sehr viele Vorschläge. Chan Kim und Renee Mauborgne schlagen die Buyer Utility Map vor (Kim und Mauborgne 2017, S. 148). Diese Matrix enthält – vereinfacht dargestellt – in der Kopfspalte verschiedene Nut­ zenarten und in der Kopfzeile den Kauf- und Anwendungsprozess aufseiten des Kunden (siehe Tab. 5.3). Der Kundennutzen kann emotional oder rational sein. Beispiele sind:

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Tab. 5.3  The Buyer Utility Map. (Quelle: eigene Darstellung nach Kim und Mauborgne 2017, S. 148) Kauf- und Anwendungsprozess Liefern Angebot Kaufen & & finden verhandeln lagern

Anwenden & pflegen

Entsorgen & Umwelt

Nutzenkategorien Einfachheit Bequemlichkeit Spaß/ Wohlbefinden Risikofreiheit Folgekosten Beendigung Kombiniert man die Nutzenkategorien und die Teilprozesse in einer Matrix, kann man zum Beispiel in einem moderierten Workshop eine Vielzahl von Ideen generieren. Anschließend erfolgt die Auswahl von Ideen mit der größten Wertschöpfung

• • • • • •

Einfachheit (Komplexitätsreduzierung), Bequemlichkeit (weniger Anstrengung und Mühe), reduziertes Risiko und dadurch mehr Sicherheit, Zugewinn an Spaß, Wohlbefinden, Anerkennung, Zeit- und Kostenersparnis, reduzierte Folgekosten und Umweltschutz.

Derartige Nutzenarten können während des gesamten Kauf- und Anwendungsprozesses beim Kunden entstehen. Beispiele für Teilprozesse sind: • • • • • •

das passende (Produkt oder Dienstleistung) finden, den Kauf (einschließlich Verhandlungen) durchführen, das Produkt oder die Dienstleistung bereitstellen, liefern und lagern, das Produkt anwenden, instand halten, aktualisieren und pflegen, Produkt entsorgen beziehungsweise Vertrag kündigen, Konflikte lösen und Geschäftsbeziehung beenden.

Nichtkunden erschließen Um – sinnbildlich gesprochen – noch tiefer in den blauen Ozean einzutauchen, sollte man die Analyse auf neue Zielgruppen ausweiten. In der traditionellen Sichtweise besteht das Marktpotenzial (der gesamte Bedarf eines Marktsegments) aus der Anzahl der Kunden multipliziert mit ihrem durchschnittlichen Bedarf (Pelz 2004, S. 28). Hinzu kommen sogenannte Nichtkunden. Diese kann man in drei Kategorien einteilen (Kim und Mauborgne 2017, S. 148):

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• Gelegenheitskäufer, • bewusste Verweigerer, • bislang unbeachtete Kunden. Das besondere Merkmal von Gelegenheitskäufern ist die Tatsache, dass sie bei einem bestimmten Anbieter aus Mangel an Alternativen bleiben, obwohl sie unzufrieden sind. Sie wechseln sehr schnell, sobald sie ein (etwas) besseres Angebot finden. Bei dieser (potenziellen) Zielgruppe sollte man deren Kaufmotive studieren und herausfinden, unter welchen Voraussetzungen sie den Anbieter wechseln würden und wie man sie als Stammkunden gewinnen könnte. Bewusste Nichtkäufer Diese Kunden kennen Ihr Angebot, lehnen es aber aus bestimmten Gründen bewusst ab. In diesem Fall bietet sich die gleiche Strategie wie bei den Gelegenheitskäufern an. Die Marktforschung hat dazu eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt, wie man das Kaufverhalten besser verstehen und beeinflussen kann (Kroeber-Riel und Gröppel-Klein 2009). Unbeachtete Kunden Bislang unbeachtete Kunden findet man in anderen Wirtschaftszweigen, Märkten, Personengruppen, Altersklassen oder Regionen. Dazu zählen zum Beispiel folgende Möglichkeiten: • Produkte, die bislang von Erwachsenen genutzt wurden, auch Kindern zugänglich machen (und umgekehrt), • Weintrinker gewinnen, die bislang Biertrinker waren, • Fleischesser für vegane Produkte gewinnen, • Expansion in andere Länder (Kernkompetenz mittelständischer Weltmarktführer), • Mittel der Körperpflege, die von Frauen verwendet werden, für Männer modifizieren, • professionelle Werkzeuge für Heimwerker entwickeln. Als generelle Empfehlung zum Auffinden von Nichtkunden, die man in Kunden verwandeln kann, können folgende Fragen helfen (Shepherd 2001; Slimane et al. 2014): • • • • • • •

Kennen die Kunden einer bestimmten (potenziellen) Zielgruppe unser Angebot? Wie einfach können sie unser Produkt finden? Wissen die Kunden, worin der Nutzen unserer Produkte und Dienstleistungen besteht? Was erwarten sie von unserem Service? Haben sie Probleme mit der Anwendung unserer Produkte? Haben sie Vertrauen zu unseren Produkten, Beratern und Verkäufern? Was sind die kaufentscheidenden Faktoren der potenziellen Kunden und können wir uns in ihre Situation hineinversetzen (Empathie)?

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Erfahrungsgemäß liefert ein Brainstorming eine Fülle kreativer Ideen. Das größere Problem sind die Auswahl, Bewertung und Umsetzung der besten Möglichkeiten (die eine überdurchschnittliche Wertschöpfung versprechen). Als Entscheidungsgrundlage für die Auswahl und Bewertung der Ideen benötigt man in der Regel einen Businessplan (Pelz 2004). Bei der erfolgreichen Umsetzung in der Praxis sind die Führungskräfte und ihre Mitarbeiter gefordert. Das Kernproblem hat Sattelberger (1996, S. 984) durch die folgende Aussage aus dem Volksmund auf den Punkt gebracht: „Wir sind Wissensriesen, aber Realisierungszwerge.“ Ohne Führung bleiben auch die besten Konzepte nur Wunschträume.

5.6

Blue Ocean: Umsetzung von Innovationen

5.6.1 Zusammenhang von Führung und Innovation Danae Stantaou (Stantou et al. 2017) und Co-Autoren haben in einer umfangreichen Metaanalyse nachgewiesen, dass Führungskräfte einen entscheidenden Einfluss auf die Effektivität und Innovationsfähigkeit einer Organisation (nicht nur) im Umfeld des Gesundheitswesens haben. Zum gleichen Ergebnis kommen zahlreiche andere Studien (siehe z. B. Weintraub und McKee 2019). Für die Realisierung wertschöpfender Innovationen scheint das Konzept Blue Ocean Leadership geeignet zu sein. Die wesentlichen Merkmale kann man wie folgt zusammenfassen (Kim und Mauborgne 2014, S. 1): • Fokussierung auf konkretes, beobachtbares Verhalten von Führungskräften (statt auf Führungsstile, visionäre Qualitäten und Charaktereigenschaften (Persönlichkeitsmerkmale); • konsequente Kundenorientierung der Führungskräfte und ihrer Mitarbeiter, damit sie sich in die Situation der Kunden (beziehungsweise Nichtkunden) hineinversetzen können (Empathie). Die Kundenorientierung gilt auch für die organisatorischen Abläufe. Dies steht im Gegensatz zu abstrakten, nichtevidenzbasierten Führungsphilosophien, wie zum Beispiel „situatives“ oder „partizipatives“ Führen. Über die Fähigkeit, zu führen (Führungskompetenzen), sollten alle Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen und Funktionen verfügen (und nicht nur die obersten Führungsebenen). Führung wird dadurch zu einer Selbstverständlichkeit, sodass alle wissen, was zu tun ist, statt auf Entscheidungen „von oben“ zu warten. Dies fördert zugleich das Verantwortungsbewusstsein und vermindert „Reibungsverluste“ in der Zusammenarbeit. Der Schwerpunkt wird vom Prinzip der Zielvorgaben und Zielvereinbarungen („Geld gegen Arbeit“) auf das Prinzip der Selbststeuerung und Eigeninitiative verlagert (zum Thema Selbststeuerung siehe Pelz 2017).

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5.6.2 Transformationale Führung Sehr wichtig ist die Fokussierung auf konkretes, im Alltag beobachtbares Führungsverhalten (statt auf allgemeine, abstrakte Führungsphilosophien). Dazu haben Chan Kim und Renee Mauborgne leider keinen evidenzbasierten, validierten Vorschlag erarbeitet. Ein Vergleich verschiedener empirisch fundierter Führungsansätze, die den genannten Anforderungen am besten gerecht werden, lässt das Konzept der transformationalen Führung in den Vordergrund rücken. Der Begriff „transformational“ soll andeuten, dass die Mitarbeiter zur Veränderung (Transformation) ihrer Verhaltensgewohnheiten inspiriert werden. Einer der ersten Ansätze, der zugleich ein validiertes Diagnoseverfahren (Test) lieferte, ist der von Bernard Bass und Bruce Avolio. Die Autoren bemerken dazu (Bass und Avolio 1994, S. 2): In physics, a new theory is usually tested … within a few years … In social science, theories are seldom adequately tested. They are likely to hang around as long as the originator is active … One exception has occurred with transformational leadership. First mention of it appeared in Downtown’s Rebel Leadership (1973) … In 1985, Bass presented a formal theory of transformational leadership as well as models and measurements of its factors of leader­ ship behavior.

Seit der ersten Version wurden mehrere Varianten entwickelt und teilweise ins Deutsche übersetzt. Das Problem dabei ist, dass man das Item- und Faktorensystem nicht ohne Weiteres auf die deutsche Unternehmenskultur übertragen kann. Aus diesem Grund und angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1980er-Jahren und der kritischen Diskussion hat Waldemar Pelz (2016) ein neues Konzept entwickelt und empirisch getestet. Ausgangspunkt waren Tiefeninterviews mit 34 Geschäftsführern mittelständischer Weltmarktführer (Hidden Champions), wie sie Hermann Simon (2007, S. 33) definiert hat. Darauf folgte eine schriftliche Befragung von 153 (auswertbare Datensätze) Geschäftsführern sowie Personal- und Vertriebsleitern zufällig ausgewählter Unternehmen in der Region Frankfurt am Main. Nach zahlreichen Diskussionen der Items (Verhaltensbeschreibungen) in Fokusgruppen wurde eine Onlinebefragung von 14.348 Fach- und Führungskräften (auswertbare Datensätze) durchgeführt. Die Gütekriterien (Validität und Reliabilität) erfüllen die geforderten Kriterien. Das Testverfahren trägt den Namen „Gießener Inventar der Transformationalen Führung“ (Pelz 2016).

5.6.3 Schlüsselkompetenzen innovativer Führungskräfte Die wichtigsten Erkenntnisse hinsichtlich der Förderung der Innovationsfähigkeit durch Führungskräfte kann man wie folgt zusammenfassen: Der Vorschlag von Bernard Bass und Bruce Avolio enthält vier Faktoren der transformationalen Führung. Das Gießener Inventar fügt drei Faktoren hinzu: (1) Kommunikation und Fairness zur Stärkung des

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Teamgeistes, (2) unternehmerische Haltung zur Fokussierung auf Chancen, Risiken und Wirtschaftlichkeit sowie (3) Umsetzungsstärke, die man auch als Durchhaltevermögen oder mentale Stärke bezeichnen kann. Die sieben Faktoren (Fähigkeiten oder Kompetenzen) wurden durch jeweils sieben Verhaltensbeschreibungen (Items) operationalisiert. Die Definitionen der sieben Faktoren des Gießener Inventars der Transformationalen Führung lauten: 1. Vorbild sein und Vertrauen aufbauen (Identification): Inwiefern sind die persönlichen Ziele, Werte und Überzeugungen der Führungskraft authentisch? Wie gut nimmt diese Person ihre Vorbildfunktion wahr? 2. Durch anspruchsvolle Ziele motivieren (Inspiration): Wie stark sind Leistungs- und Lernbereitschaft der Mitarbeiter ausgeprägt? Klare Ziele und Maßstäbe führen zu Erfolgserlebnissen, erfüllen die Mitarbeiter mit Stolz und inspirieren sie zu größeren Leistungen. 3. Zur selbstständigen, kreativen Problemlösung anregen (Stimulation): Ist allen Mitarbeitern klar, was von ihnen erwartet wird und welche Konsequenzen es hat, wenn sie den Anforderungen nicht gerecht werden? Inwiefern besteht ein Klima der persönlichen Verantwortung (statt einer Rechtfertigungskultur)? 4. Individuell fördern (Consideration): Verfügen die Mitarbeiter über die notwendigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Ressourcen, um ihre Aufgaben selbstständig und kundenorientiert zu erledigen? Kennen sie ihre Stärken, Schwächen und Perspektiven? 5. Kommunikation und Fairness (Team Spirit): Inwiefern sorgt die Führungskraft dafür, dass der Umgang miteinander (im Team) auf fairen Spielregeln basiert? Folgen die zwischenmenschlichen Beziehungen konstruktiven Werten, wie zum Beispiel Transparenz, Offenheit und Aufrichtigkeit? 6. Unternehmerische Haltung (Entrepreneurship): Ist das Denken und Handeln im Verantwortungsbereich der Führungskraft an Chancen, Risiken und deren wirtschaftlichen Konsequenzen ausgerichtet? Werden Veränderungs- und Verbesserungsinitiativen kontinuierlich gefördert und gelebt? 7. Umsetzungsstärke (Volition): Inwiefern verfügen die Führungskräfte und die Organisation über die Willenskraft und Fähigkeit, Chancen, Ziele und Absichten in messbare Resultate umzusetzen, also ihren Worten auch Taten folgen zu lassen (Umsetzungskompetenz)? Der letzte Faktor erwies sich als besonders komplex und wurde daher zu einem separaten Konzept ausgebaut (Pelz 2017). Das Verhalten von Führungskräften, das die sieben Faktoren repräsentieren, ist eng korreliert (r = 0,73) mit Eigenschaften herausragender Unternehmerpersönlichkeiten, wie sie Csíkszentmihályi (2004) in Tiefeninterviews mit Vertretern dieser Personengruppe ermittelt hat (Pelz 2016, S. 107). Diese Merkmale wurden wie folgt operationalisiert (Faktoren mit jeweils einem Beispielitem):

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• Ehrgeiz: „Meine Arbeit hat einen höheren Sinn und Zweck als nur Spaß, Anerkennung, Einkommen oder (sozialer) Status.“ • Integrität: „Im Beruf (oder im Team) erfahre ich zu wenig Wertschätzung“ (umgepolt formuliert). • Energie: „Meistens fühle ich mich voller Tatkraft und Energie.“ • Optimismus: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zukunft mehr Chancen und Möglichkeiten als Risiken mit sich bringen wird.“ Chan Kim und Renee Mauborgne (2014) empfehlen, die Persönlichkeit von Führungskräften zu vernachlässigen. Neuere Erkenntnisse, wie sie zum Beispiel von Angela Duckworth (2016) vorgelegt wurden, bekräftigen dagegen die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen für den unternehmerischen Erfolg und scheinen eine Volksweisheit zu bestätigen. Diese besagt, man könne aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen. Wertschöpfende Innovationen, auf die es im Gesundheitswesen besonders ankommt, sind wesentlich riskanter und anspruchsvoller als kontinuierliche Produkt- und Prozessverbesserungen. Sie erfordern ein überdurchschnittliches Maß an Ehrgeiz, Energie und Durchhaltevermögen eines Teams, in dem zugleich Integrität herrscht. Außerdem ist ein unternehmerischer Antrieb notwendig. Für die erfolgreiche Umsetzung wertschöpfender Innovationen sollte man daher mit der Auswahl der geeigneten Führungskräfte beginnen. Ihre Vorbildfunktion hat den größten Einfluss auf das Verhalten der anderen Teammitglieder – vermutlich um ein Vielfaches größer als traditionelle Anreiz- und Kontrollsysteme. Hat man geeignete Innovationsmanager gefunden, folgt die zweite Phase: das Unternehmen aus dem „roten“ in den „blauen“ Ozean führen. Hier kommt es auf praktische (handwerkliche) Management- und Führungskompetenzen an, die man nicht einfach in einem Seminar, einem MBA-Programm oder einem Beratungsprojekt, sondern nur in einer mehrjährigen Praxis erwerben kann. Das zeigen auch unsere Erkenntnisse aus zahlreichen Gesprächen mit mittelständischen Weltmarktführern. Beim Innovationsmanagement sollte man sorgfältig zwischen der Berater- und der Unternehmerperspektive unterscheiden. Wer echte Verantwortung trägt, sollte auf jeden Fall jegliche Naivität, aber keinesfalls seine Risikobereitschaft und seinen Optimismus ablegen.

5.7

Schlussbetrachtung

Die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens ist die größte gesellschaftliche Herausforderung der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Wenn man die Entwicklung der Altersstruktur bedenkt sowie die Tatsache, dass ein Arzt aus Kostengründen nur wenige Minuten für die physischen und psychischen gesundheitlichen Probleme eines Patienten aufbringen kann, wird deutlich, dass die bisherige bürokratische Steuerung mit Kostendruck versagen muss. Alle Erfahrung zeigt, dass Bürokratie der wichtigste Kostentreiber und zugleich Einfallstor für jegliche Formen der Misswirtschaft und Korruption ist. Unabhängige Eliteuniversitäten haben dieses Problem erkannt und arbeiten an innovativen Lösungen. Diese

5  Wertschöpfende Innovationen als Ausweg aus der Kostenfalle im Gesundheitswesen

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f­ okussieren auf die Leistungsqualität aus der Sicht des Patienten (Kunden) und auf unternehmerische Kompetenzen der Führungskräfte. Wenn man bedenkt, welches Potenzial wertschöpfende Innovationen im Gesundheitswesen bieten, erscheint die Erwartung nicht übertrieben, dass die nächste Generation kreativer Unternehmer, wie es einst Steve Jobs, Bill Gates, Jeff Bezos oder Marc Zuckerberg waren, in Zukunft aus dem Gesundheitswesen kommen wird. Beispiele gibt es bereits. Es wird Zeit, die Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Probleme der Gesellschaft zu richten und ideologische Scheuklappen abzulegen.

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Prof. Dr. Waldemar Pelz  lehrt Internationales Management und Marketing an der Technischen Hochschule Mittelhessen und ist Leiter des Instituts für Management-Innovation. Er verfügt über 15 Jahre Praxiserfahrung unter anderem als Unternehmer (Familienbetrieb), im Marketing und Vertrieb sowie zuletzt als Leiter der Führungskräfteentwicklung eines globalen Chemie- und Pharmaunternehmens.

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Digitale Innovation – Trendwende im deutschen Gesundheitssystem Wie Unternehmen Digitalisierung zur strategischen Marktpositionierung nutzen Kristin Kassel

Inhaltsverzeichnis 6.1  H  intergrund  6.2  Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen  6.3  Praxisbeispiele  6.3.1  Siemens Healthineers AG  6.3.2  Sana Kliniken AG  6.3.3  Techniker Krankenkasse  6.4  Schlussbetrachtung  Literatur 

 94  95  97  98  100  102  104  107

Zusammenfassung

Das Gesundheitswesen sieht sich mit bedeutenden Herausforderungen wie dem steigenden Kostendruck, demografischen Wandel sowie der Zunahme chronischer Krankheiten und Multimorbidität konfrontiert. Auch die Thematik Gesundheit selbst nimmt in ihren zahlreichen Ausprägungen eine zentrale Rolle in der Weltwirtschaft ein. Im Zeitalter der Technologie und Innovation scheint Digitalisierung eine Antwort auf zumindest einige drängende Fragen bieten zu können. Der aktuelle Stand der Digitalisierung sowohl in der deutschen Industrie, besonders jedoch im deutschen Gesundheitssystem ist durchschnittlich, in weiten Teilen sogar unterdurchschnittlich. Trotz der Ausarbeitung einer Strategie zur Verbreitung der Digitalisierung im Gesundheitswesen mangelt es bisweilen an politischer Initiative. Dennoch gibt es diverse Akteure des Gesundheitsmarktes, die digitale Anwendungen fest in ihre Unternehmensstrategie und -prozesse integriert K. Kassel (*) München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_6

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K. Kassel

haben. Dazu gehören unter anderem der Medizintechnikhersteller Siemens Healthineers, die private Klinikgruppe Sana und die Techniker Krankenkasse, eine der größten gesetzlichen Krankenversicherungen Deutschlands. Diese Unternehmen zeigen, w ­ elches Potenzial sich auch unter schwierigen Marktvoraussetzungen m ­ ittels digitaler Anwendungen realisieren lässt. Das betrifft gleichermaßen die Effizienzsteigerung interner Prozesse, Etablierung digitaler Produkte oder Versorgungsangebote und die Verbesserung der Kundenbeziehung. Vor allem das Eingehen von ­Kooperationen zwischen Unternehmen sowie aktive Unterstützung und Einbindung junger Unternehmen in die eigenen Strukturen scheinen für einen hoch regulierten und digital rückständigen Markt wie das Gesundheitswesen ein entscheidender Erfolgsfaktor zu sein.

6.1

Hintergrund

Im Zeitalter der Technologie, Innovation und zunehmenden Disruption ist die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken. Vor allem im Kontext der industriellen Weiterentwicklung, des Wachstums und der Innovation spielt sie eine zentrale Rolle. Die Digitalisierung – auch als digitale Wende oder digitale Transformation bezeichnet – ist das Resultat der Basisinnovation im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologie aus dem 5. Kondratieff-Zyklus (Kondratieff-Zyklen sind von Nikolai D. Kondratieff im Jahr 1926 erstmalig beschriebene, in langen Wellen verlaufende Schwankungen der Weltkonjunktur). Diese werden ausgelöst durch die Erfindung einer disruptiven Basisinnovation, sind gekennzeichnet durch wirtschaftlichen Auf- und Abschwung und dauern durchschnittlich 50 Jahre (Nefiodow 2011). Was zunächst als reine Automatisierung und Optimierung von Produktionsprozessen begann, wirkt sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts in Bereichen wie der Entwicklung disruptiver Technologien und innovativer Geschäftsmodelle aus (Schmiech 2018). Das Zukunftsinstitut beobachtet kontinuierlich die Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Forschung und Entwicklung, die mittels der Megatrends beschrieben werden. Die aktuellen Megatrends umfassen unter anderem die Bereiche Wissenskultur, Konnektivität, Globalisierung, Individualisierung, Gesundheit, Silver Society, Mobilität und Sicherheit. Besondere Bedeutung haben die Schnittstellen der Megatrends, durch die sich viele Produktneuentwicklungen und Marktentwicklungstendenzen der globalen Industrie erklären und abbilden lassen (Zukunftsinstitut 2019). Solche Schnittstellenthematiken, die aus den Megatrends hervorgehen, sind unter anderem Leistungsfähigkeit und Speicherkapazität moderner Computer, Konnektivität des Internets, Vernetzung, Internet of Things, Big Data, künstliche Intelligenz, Blockchain, Open Innovation, Mikrosensorik, 3-D-Druck und viele mehr (Hahn 2018; Zukunftsinstitut 2019). Die fortschreitende Entwicklung und Kombination der Technologien führten bereits weltweit zur Etablierung leistungsstarker und preisgünstiger integrierter Systeme. Die Eigenschaften und Möglichkeiten ebendieser Systeme gehen weit über die Anwendung rein automatisierter Lösungen hinaus. Klassische Strategien von Unternehmen, wie die Diversifikation in der Anwendung ihrer Produkte, galten lange Zeit als der Garant für eine

6  Digitale Innovation – Trendwende im deutschen Gesundheitssystem

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hohe Marktdurchdringung und langfristigen Erfolg. Mit der Weiterentwicklung der Digitalisierung hin zur digitalen Vernetzung wurde dieses Konzept jedoch überholt. Um sich den stetig verändernden Marktbedingungen anzupassen, wird von Unternehmen zunehmende Agilität und Flexibilität gefordert – Eigenschaften, die vor allem kleinere Unternehmen mit sich bringen (Bauer et al. 2018; PwC Strategy& 2018). In einer Studie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Jahr 2018 wurde der aktuelle Stand der deutschen Industrie zum Thema Digitalisierung erfragt. Branchenübergreifend wurde hierbei ein Indexwert von lediglich 54 Punkten (von 100 möglichen Punkten) in deutschen Unternehmen gemessen. Verglichen zu den Vorjahren 2016 und 2017 fand der Befragung nach keine digitale Weiterentwicklung statt. Auch in den kommenden fünf Jahren rechnen die Unternehmen mit keiner starken Zunahme. Außerdem sehen 29 % der Industrieunternehmen im Jahr 2018 die Durchführung von Digitalisierungsprojekten immer noch als nicht notwendig (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018). Das deutsche Gesundheitswesen gehört mit einem Umsatz von ca. 75 Mrd. Euro und rund 2,5 Mio. Beschäftigten zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Deutschlands (Statista 2018). Auch der bereits lang anhaltende Megatrend Gesundheit sowie der demografische Wandel, die zunehmende Multimorbidität und der technologische Fortschritt sprechen für die nachhaltige Entwicklung der Branche. Laut der Studie des BMWi ist das Gesundheitswesen jedoch mit insgesamt 37 Indexpunkten insgesamt und beinahe in jeder abgefragten Kategorie im Bereich Digitalisierung das Schlusslicht. Beispielsweise erachten 96 % der befragten Unternehmen im Gesundheitswesen das Thema Big Data als nicht relevant. Künstliche Intelligenz wird in den Gesundheitsunternehmen derzeit lediglich von 8 % genutzt. Außerdem befinden 46 % der befragten deutschen Unternehmen im Gesundheitswesen das Vorantreiben der Digitalisierung als nicht notwendig (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018). Für den Standort Deutschland und den Gesundheitsmarkt besteht, um langfristig im globalen Umfeld relevant zu bleiben, bei der Digitalisierung Nachholbedarf. Dessen sind sich bereits zahlreiche Unternehmen des deutschen Gesundheitsmarktes bewusst, die sich deshalb gezielt über die Thematik der Digitalisierung strategisch positionieren. Zu dieser Art Unternehmen gehören die Siemens Healthineers AG stellvertretend für die Medizintechnikbranche, die Sana Kliniken AG, eine private Klinikgruppe, und die Techniker Krankenkasse als Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen. Deren Digitalstrategien und -projekte (siehe Abschn.  6.3) werden neben einer Kurzcharakteristik des deutschen Gesundheitswesens und einer allgemeinen Einschätzung zum Stand der Digitalisierung (siehe Abschn. 6.2) im Rahmen des Beitrags vorgestellt.

6.2

Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen

Das deutsche Gesundheitswesen kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und definiert werden. Die Kernfunktion (Dienstleistungssektor) des Gesundheitssystems ist die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der deutschen Bevölkerung durch Akteure des stationären (Krankenhäuser, Pflegeheime und Ähnliche) und ambulanten (niedergelassene

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Ärzte, Pflegedienste, medizinische Versorgungszentren, Therapeuten und Ähnliche) Sektors. Wichtig ist hierbei, dass die Umsetzung politischer Rahmenbedingungen nicht direkt, sondern durch Organe der Selbstverwaltung erfolgt. Zu diesen Einrichtungen (Körperschaften des öffentlichen Rechts) gehören beispielsweise auch Krankenkassen. Krankenkassen verwalten unter anderem die Vertragsbeziehung zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern und stellen die Bezahlung erbrachter Leistungen sicher. Weitere Einrichtungen der Selbstverwaltung sind unter anderem die ärztlichen Vereinigungen als Interessensvertreter der unterschiedlichen Kassenärzte. Aus den einzelnen Selbstverwaltungen bildet sich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das wichtigste Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung, der übergeordnete politische Vorgaben in verbindliche Richtlinien für die Akteure des Gesundheitssystems übersetzt. Ebenfalls Teil des Dienstleistungssektors sind Apotheken, die für die Sicherstellung der Arzneimittel- und Medizinprodukteversorgung zuständig sind. Wird das Gesundheitswesen aus dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt betrachtet, tritt auch der industrielle Bereich der Gesundheitswirtschaft in den Vordergrund. Dieser umfasst die Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln, Medizin- und medizintechnischen Produkten, aber gleichzeitig auch beispielsweise den Handel mit diesen. Zunehmend wichtiger wird außerdem der Bereich der Entwicklung und Bereitstellung digitaler Anwendungen und E-Health (Bundesministerium für Gesundheit 2018, 2019a, b). Gesundheit wird nicht nur durch das Zukunftsinstitut als weltweiter Megatrend bezeichnet. Für den Zukunftsforscher Leo N. Nefiodow ist die ganzheitliche Gesundheit der zentrale Faktor, der die Weltwirtschaft im jetzigen 6. Kondratieff-Zyklus bestimmt. Dabei es wichtig diesen Wirtschaftszweig nicht nur als reine Leistungserbringung zu sehen, sondern die Thematik Gesundheit als umfassendes Gebilde zu betrachten. Für Nefiodow umfasst die ganzheitliche Gesundheitswirtschaft das herkömmliche Gesundheitswesen (Medizintechnik und Pharmaindustrie, stationäre und ambulante Leistungserbringer, Aus- und Weiterbildung, Handel und weitere) und den neu aufkommenden Gesundheitssektor (Biotechnologie, alternative Behandlungsmethoden, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Psychologie und Weitere). Besonders die psychosoziale Komponente ist hierbei für ihn eine der Basisinnovationen, die das Weltgeschehen und die Wirtschaft auf vielen Ebenen durchdringt. Psychosoziale Gesundheit führt damit zu einer Vielfalt chaotischer Zustände, wie Terrorismus, Umweltzerstörung, soziale Kosten und strukturbedingte Krankheitsursachen, deren Lösung jedoch ein enormes wirtschaftliches Potenzial bergen (Nefiodow 2011). Strukturelle Ähnlichkeit zur psychosozialen Komponente hat hierbei die Digitalisierung. Auch diese besitzt eine starke Durchdringungskraft in Wirtschaft und ­Gesellschaft, birgt enorme Risiken und hat trotz allem die Möglichkeit, globale Probleme und Herausforderungen zu lösen. Besonders in der Gesundheitswirtschaft gilt die Digitalisierung in Form von beispielsweise Robotik, Big Data und künstlicher Intelligenz als zukünftige Schlüsselkompetenz. Jedoch muss aufgrund der Sensibilität der Daten der Schutz dieser zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein. Da sowohl das deutsche Gesundheitswesen als auch Deutschland als Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung zurückliegt, wurde zur Schaffung eines Handlungsrahmens und einer politischen Vision für die Umsetzung der Digitalisierung bereits im Jahr 2016 eine E-Health-Strategie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesund-

6  Digitale Innovation – Trendwende im deutschen Gesundheitssystem

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heit erarbeitet. Diese identifizierte die „Zeitnahe Erhöhung der Versorgungsqualität durch den sinnvollen Einsatz von eHealth und Big Data“ als Primärziel der E-­Health-­Strategie. Zur Erreichung dieses Primärziels wurden sieben weitere strategische Ziele formuliert: 1. Fokus auf zusammenhängende Versorgungsprozesse: Analyse der Versorgungsprozesse zur Entwicklung einer nahtlosen und zusammenhängenden Versorgung; 2. Ausrichtung an Versorgungszielen: Versorgungsziele als Orientierungspunkte für die Verbesserung der Versorgungssituation; 3. ethischer Einsatz neuer Technologien: Durch die hohe Sensibilität von Gesundheitsdaten darf die ethische Diskussion beim Technologieeinsatz nicht aus dem Fokus verloren werden. 4. Unterstützung Arzt-Patienten-Verhältnis: Das Arzt-Patienten-Verhältnis als zentraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung soll durch die Digitalisierung gestärkt werden. 5. Kosteneffiziente Umsetzung: gezielte Investition in digitale Anwendungen, welche Kosteneffizienz signifikant steigern; 6. konstante Evaluierung von Maßnahmen: Entscheidung über Implementierung und Beibehalten digitaler Maßnahmen kontinuierlich überprüfen; 7. Einbindung aller Akteursgruppen: ganzheitliche Entwicklung und Realisierung eines Handlungsrahmens für die erfolgreiche Verwirklichung von Digitalisierungspotenzialen im Gesundheitswesen. Die strategischen Ziele resultieren in diversen Handlungsfeldern, die eine flächendeckende Implementierung digitaler Anwendungen bewirken sollen. Dazu gehören der beschleunigte Ausbau von Anwendungen in den Bereichen E-Health und Big Data, Erhöhung der Adaption und Akzeptanz digitaler Technologien durch vorrangige Anwendergruppen, Fortentwicklung eines umfassenden regulatorischen Rahmens für Digitalisierung im Gesundheitswesen, Bereitstellung notwendiger Infrastruktur zum übergreifenden Datenaustausch, versorgungsnahe Ausrichtung der Förder- und Forschungspolitik sowie die Stärkung der digitalen Gesundheitswirtschaft in Deutschland (PwC Strategy& 2016). Ausgehend von der Berichterstattung sowie des immer noch stark unterdurchschnittlichen Digitalisierungsgrades des deutschen Gesundheitswesens scheint die Umsetzung der E-Health-Strategie bisher eher lückenhaft. Nichtsdestotrotz wirken sich Globalisierung, Wettbewerb und Kostendruck auch im Gesundheitswesen auf den Fortschritt durch Digitalisierung aus. Das betrifft gleichermaßen Konzerne mit bedeutender Marktmacht als auch Start-ups, die durch ihre Agilität und „outside-the-box“-Denken disruptive Innovationsschübe auslösen können.

6.3

Praxisbeispiele

Obwohl die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen weitestgehend als Flickenteppich bezeichnet werden kann, gibt es bereits aus verschiedenen Bereichen zahlreiche etablierte Marktteilnehmer, die durch ihren hohen Marktanteil, Branchenwissen und In-

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K. Kassel

vestitionskraft digitale Anwendungen auf dem Gesundheitsmarkt platzieren können. In den folgenden Praxisbeispielen sind drei dieser etablierten deutschen Unternehmen aus den Bereichen Medizintechnik (Siemens Healthineers AG), stationäre Versorgung (Sana Kliniken AG) und Krankenversicherung (Techniker Krankenkasse) mit ihren Digitalstrategien und -initiativen dargestellt.

6.3.1 Siemens Healthineers AG Die Siemens Healthineers AG ist mit rund 50.000 Mitarbeitern in über 70 Ländern eines der erfolgreichsten Medizintechnikunternehmen weltweit. Über 170 Jahre Erfahrung und 18.000 Patente ermöglichen es dem Unternehmen, auch in den zunehmend wichtigen Feldern der digitalen Gesundheitsservices und des Krankenhausmanagements stetig innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und auf dem Markt erfolgreich zu eta­ blieren (Siemens Healthineers AG 2019b). Das Unternehmen wächst durchschnittlich zwischen 3 % und 4 % pro Jahr und erzielte im Geschäftsjahr 2017 einen Umsatz von 13,8 Mrd. Euro (davon 55 % wiederkehrend), wobei die Profitabilität des Unternehmens bei ca. 18 % liegt. Zur Vorbereitung auf den Börsengang Anfang 2018 wurde die grundlegend richtungsweisende „Strategie 2025“ ausgearbeitet. Mittels dieser Strategie soll sowohl das Wachstum des Kerngeschäfts vorangetrieben als auch die Rentabilität des Unternehmens gesteigert werden. Auf Grundlage dessen fokussiert sich Siemens Healthineers auf die folgenden fünf Felder (Siemens Healthineers AG 2018b): 1. Nutzung der einzigartigen Stellung im In-vivo- und In-vitro-Markt zur Kombination von Daten und Know-how im Bereich der Präzisionsmedizin und deren Nutzung in der klinischen Praxis; 2. Kombination von Daten und Anwendung künstlicher Intelligenz zur Integration vorhandener und innovativer Therapietechnologien; 3. Koordination und Optimierung des Behandlungspfades, der Patient Journey, über das Versorgungskontinuum hinweg; 4. Entwicklung eines kompletten Spektrums technischer, operativer und klinischer Services, die mithilfe der Technologien von Siemens Healthineers effektiv und effizient gestaltet werden können; 5. weitere Entwicklungen und Investitionen in Fähigkeiten und Anwendungen im Bereich der künstlichen Intelligenz zur Stärkung der oben genannten Bereiche. Strukturell gesehen gliedert sich das Unternehmen Siemens Healthineers als Matrixorganisation in drei Segmente (Imaging, Advanced Therapies und Diagnostics), drei Business Horizontals (Digital Services, Enterprise Services und Customer Services) und drei Regionen. Die Segmente mit den tatsächlichen medizintechnischen Produkten bilden hierbei das Kerngeschäftsfeld. Das Segment Imaging umfasst Bildgebungs- und Therapiesys-

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teme, wie Magnetresonanz- und Computertomografen, Röntgensysteme, molekulare Bild­ gebung und Ultraschall. Das Diagnostics-Segment beinhaltet diagnostische Produkte und Dienstleistungen in den Bereichen Labordiagnostik, molekulare Diagnostik und Point-of-Care-Diagnostik sowie zur Akutversorgung und Betreuung chronisch erkrankter Menschen. Das dritte Segment, Advanced Therapies, umfasst integrierte Produkte, Lösungen und Dienstleistungen, die beispielsweise bei bildgestützten minimalinvasiven Behandlungen oder Therapien zum Einsatz kommen (Siemens Healthineers AG 2018a). Die Integration der segmentübergreifenden Business Horizontals (Digital Services, Enterprise Services und Customer Services) führt zu einer Verzahnung der verschiedenen Geschäftsbereiche, wodurch ein weitreichendes Servicenetz entlang der gesamten Kundenwertschöpfungskette gewebt wird. Hierdurch kann sich das Unternehmen als langfristiger und starker Service- und Kollaborationspartner positionieren und ermöglicht eine übergreifende und ganzheitliche Bewältigung globaler Herausforderungen. Besonders digitale Anwendungen und Artificial Intelligence (AI) sind die zentralen Faktoren, wodurch sich Unternehmen im Zusammenhang mit Produkt- und Serviceneuentwicklungen am Markt dauerhaft positionieren und etablieren können. Die Siemens Healthineers AG investierte im Geschäftsjahr 2018 insgesamt 1,3  Mrd.  € in Forschung und Entwicklung. Laut des Geschäftsberichts beinhalten die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten die „… Entwicklung von innovativen Produktlinien, die neue Technologien wie Digitalisierung oder künstliche Intelligenz nutzen. Dies wird unter anderem die Verarbeitung von Gesundheitsdaten beschleunigen und damit präzisere und individuell auf den Patienten zugeschnittene klinische Entscheidungen ermöglichen. Indem neue Computeralgorithmen verborgene Muster in den Daten aufspüren und Ärzten wertvolle Unterstützung bei Diagnose- und Therapieentscheidungen geben können, entsteht Mehrwert“ (Siemens Healthineers AG 2018a). Damit richtet das Unternehmen seine Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten an den zentralen Inhalten der zuvor vorgestellten Strategie 2025 aus. Siemens Healthineers fokussiert sich im Bereich der Digitalisierung einerseits auf den Schwerpunkt Artificial Intelligence, um die Verwendbarkeit der Daten zu erreichen, und andererseits auf Cybersecurity. Hierbei steht die Erhaltung der Integrität empfindlicher Daten im Vordergrund. Aktuelle Produkte und Projekte zum Thema Artificial Intelligence konzentrieren sich auf die Automatisierung komplexer Diagnoseabläufe und die Unterstützung einer optimalen Versorgung. Sie dienen also vorwiegend als Serviceanwendungen sowie zur Unterstützung oder Entlastung der Leistungserbringer, was einerseits zu einer qualitativ höheren Versorgung und andererseits zu Effizienzsteigerungen führt (Siemens Healthineers AG 2019a). Zu den Projekten des Schwerpunkts Artificial Intelligence gehören beispielsweise der AI-Rad Companion Chest CT und der AI-Pathway Companion. Ersteres ist ein Diagnoseassistenzsystem, das auf Basis bereits existierender Untersuchungsergebnisse oder relevanter Studien automatisch Messungen durchführt, Bilder aufbereitet und so die Diagnosefindung vorbereitet und vereinfacht. Der AI-Pathway Companion ist ein Tool zur Unterstützung der medizinischen Entscheidungsfindung. Dabei werden alle relevanten krankheitsspezifischen und patientenbezogenen Daten mithilfe von künstlicher Intelligenz

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in die Entscheidungsfindung einbezogen, um so einen patientenindividuellen Therapieweg einzuschlagen. Somit wird das Patientenmanagement in gleichem Maße personalisiert als auch standardisiert. Einerseits unterstützt das die nachhaltige Verbesserung sowie die Messbarkeit der Behandlungsqualität, andererseits werden dadurch Prozesse vereinfacht und beschleunigt, sodass sich das medizinische Personal auf seine Kerntätigkeit – die Behandlung von Patienten – fokussieren kann (Siemens Healthineers AG 2019a). Ein weiteres Projekt des Unternehmens im Bereich Digitalisierung ist das Digital Ecosystem. Bei diesem sollen Untersuchungsdaten direkt von Endgeräten, Leistungserbringern oder Einweisern in eine offene und gesicherte Plattform eingespeist werden. Dabei geht es besonders um die klinische und operative Optimierung von Diagnose- und Therapieprozessen in einem lernenden System von Gerätenutzern. Auch hierbei werden die Personalisierung und Präzisierung der Medizin adressiert, welche sowohl zentrale Punkte der strategischen Ausrichtung des Unternehmens als auch die allgemeinen globalen He­ rausforderungen fokussiert (Siemens Healthineers AG 2019a). Die größte Vision des Unternehmens im Bereich der Digitalisierung ist jedoch die Erschaffung eines „digitalen Zwillings“ von Menschen. Durch die Kombination und Vereinigung verschiedenster individueller Daten aus unter anderem Bildgebung, Genomforschung und der Gesundheitsakte wird ein digitales Modell von Organen oder dem ganzen Menschen angefertigt. Anhand dieses Modells können zukünftige Gesundheitsprobleme vorhergesagt und Therapieansätze getestet werden. Eine solche Technologie könnte potenziell die Identifikation einer individuell optimierten Therapie für jeden Patienten ermöglichen und so maßgebend für die Präzisionsmedizin sein  – eine der zentralen Zukunftsthemen Siemens Healthineers (Montag 2019). Die Strategie 2025 mit ihren langfristigen Kernzielsetzungen und besonders die konkrete Betrachtung der Digitalisierungsinitiativen und -projekte zeigen, dass das Unternehmen die Digitalisierung als Basistechnologie und Innovationsfaktor anerkennt. Sie zielen speziell darauf ab, den Prozess der Leistungserbringung im Hinblick auf die Patientenzentriertheit und gleichzeitig die Optimierung und Effizienzsteigerung zu transformieren. ­Dabei werden die Personalisierung und Präzisierung der Medizin vorangetrieben. Diese digitalen Produkte sind hierbei immer als Add-on-Produkte oder -Services zum bestehenden Portfolio der drei Kernsegmente Imaging, Advanced Therapies und Diagnostics zu verstehen, wodurch sich das Unternehmen als langfristiger Partner der Leistungserbringer am Markt positionierten kann.

6.3.2 Sana Kliniken AG Die Sana Kliniken AG ist mit 53 Akut- und Fachkrankenhäusern, Rehabilitationskliniken sowie verbundenen medizinischen Versorgungszentren und ca. 2,6 Mrd. Euro Umsatz im Jahr 2017 die drittgrößte private Klinikgruppe Deutschlands (Sana Kliniken AG 2018). Insgesamt bilden 25 private Krankenversicherungsunternehmen die Gesamtheit der Aktionäre, wobei die DKV Deutsche Krankenversicherung AG (22,4  %), SIGNAL IDUNA

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Krankenversicherung a. G. (19,4  %) und die Allianz Private Krankenversicherungs-AG (14,4 %) die Aktionäre mit den größten Anteilen darstellen (Sana Kliniken AG 2019b). Die Aktionärsstruktur der Sana Kliniken führt zu der grundlegenden strategischen Ausrichtung der Klinikgruppe: auf die Erbringung qualitativ hochwertiger medizinischer Leistungen bei gleichzeitigem Fokus auf Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Investitions- sowie Innovationskraft (Sana Kliniken AG 2019a). Aus diesem Grund ist die Thematik der Digitalisierung auch bei der Klinikgruppe von zentraler Bedeutung, weshalb das Unternehmen im Jahr 2016 eine Zusammenarbeit mit dem Flying Health Incubator in Berlin eingegangen ist. (Der Flying Health Incubator in Berlin ist ein Netzwerk für Digitalisierung im Gesundheitswesen, das Start-ups und bereits etablierte Player des Gesundheitsmarktes zusammenbringt, um neue, innovative Lösungen der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu finden (Flying Health Incubator 2019).) Bei der Integration digitaler Pilotprojekte oder Anwendungen in die Unternehmensabläufe fokussiert sich das Unternehmen mittels einer Dreisäulenstrategie auf folgende Handlungsfelder (Sana Kliniken AG 2018): 1. Handlungsfeld 1 – Arzt-Patienten-Verhältnis: Trägt die neue digitale Anwendung zur Verbesserung der Bindung von Medizin/Pflege und Patient bei? 2. Handlungsfeld 2 – Prozesseffizienz: Unterstützt die digitale Lösung die Mitarbeiter bei ihrer (administrativen) Arbeit? 3. Handlungsfeld 3 – allgemeines Wissensmanagement: Hilft die Technologie bei der Erweiterung des klassischen Geschäftsfeldes der Sana Kliniken? Die Dreisäulenstrategie zeigt, dass das Unternehmen digitale Lösungen potenziell sowohl in der tatsächlichen Leistungserbringung am Patienten als auch in der Infrastruktur des Unternehmens oder zur Weiterentwicklung des Geschäftsmodells der Klinikgruppe einsetzt. Aktuell befinden sich insgesamt sieben Digitalprojekte in der Pilotphase oder sind bereits in den Regelbetrieb überführt. Vier dieser Projekte sind dabei dem Handlungsfeld 1 zuzuordnen. Das bedeutet, dass sie an der primären Leistungserbringung am Patienten ansetzen und diese verbessern. Dazu gehören HappyMed, Heartbeat Medical Solutions, die Patient Journey App und Triaphon. Bei HappyMed werden Videobrillen eingesetzt, die Patienten während eines medizinischen Eingriffs durch das Einblenden von Filmen ablenken sollen. Dadurch werden mögliche Ängste reduziert, sodass sich der Patient entspannen kann und die subjektive Dauer des Eingriffs herabgesetzt wird (HappyMed GmbH 2019). Mittels Heartbeat ONE, einer Software zur Erfassung von Patient Reported Outcomes (Patient Reported Out­ comes: Konzepte zur Messung von subjektiv empfundenen Gesundheitszuständen (Brettschneider et al. 2011)), kann die Ergebnisqualität von Eingriffen durch Erfragung des Patientenfeedbacks und Aspekte der subjektiven Lebensqualität digital dokumentiert werden. Diese Informationen können dann zu umfassenden Analysen herangezogen werden (HRTBT Medical Solutions GmbH 2019). In der Patient Journey App begleitet der Arzt den Patienten digital mit personalisierten Inhalten, Pushmitteilungen und Erinnerungen

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durch die gesamte stationäre Behandlung. Ebenso ist eine Einbindung von Angehörigen möglich, um relevante Informationen zum Gesundheitszustand mit diesen zu teilen. Dadurch wird die personalisierte und patientenzentrierte Behandlung gefördert (Patient Journey App 2019). Triaphon ist ein telefonischer 24 Stunden erreichbarer Übersetzungsservice, der speziell auf kurze ungeplante Kontakte (beispielweise in der Notaufnahme) zwischen medizinischem Personal und Patienten mit Sprachbarrieren ausgelegt ist. Dieser Service ermöglicht die medizinische Versorgung auf Augenhöhe (Triaphon gUG 2019). Die digitalen Initiativen Imito und Recare sind nicht konkret einem Handlungsfeld der Digitalstrategie zuordenbar. Sie verbessern einerseits die medizinische Versorgung (Handlungsfeld 1), gleichzeitig unterstützen sie das medizinische Personal bei der Effizienzsteigerung (Handlungsfeld 2). Imito vereinfacht mithilfe einer App das Wundmanagement mittels Foto- und Videodokumentation, was sich positiv auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und die interdisziplinäre Zusammenarbeit auswirkt und gleichzeitig den Dokumentationsprozess beschleunigt (imito AG 2019). Bei Recare handelt es sich um eine digitale Vermittlungsplattform für den Pflegeüberleitungsprozess, um das Entlassmanagement zu optimieren. Dies führt einerseits zu einer optimalen Weiterbetreuung des pflegebedürftigen Patienten, andererseits wird der Prozess teilweise automatisiert, was die Vereinfachung und Beschleunigung des Entlassmanagements bewirkt (RECARE GmbH 2019). Simplinic ist das einzige Digitalisierungsprojekt der Klinikgruppe, das sich lediglich auf Prozesseffizienz fokussiert und somit eindeutig Handlungsfeld 2 zuzuordnen ist. Die Software ermöglicht es, Dinge in Echtzeit zu lokalisieren, was die Klinikgruppe aktuell im Bettenmanagement einsetzt. Mit der Auskunft über Ort und Verfügbarkeit der Betten wird Zeit gespart, die dann der Kerntätigkeit des medizinischen Personals wieder zur Verfügung steht (Simplinic GmbH 2019). Die Digitalisierungsstrategie der Sana Kliniken zeigt, dass die Thematik im Konzern angekommen ist. Bei den durchgeführten und implementierten Projekten ist auffällig, dass der überwiegende Teil (6 von 7 Projekten) ausschließlich oder teilweise dem Handlungsfeld 1 zugewiesen werden kann. Der Fokus des Unternehmens liegt also primär auf der Verbesserung der medizinischen Leistungserbringung beziehungsweise der Arzt-­Patien­ ten-­Beziehung. Die Sana Kliniken positionieren sich mit dieser Vorgehensweise bewusst weiter als Leistungserbringer mit sehr hohem Qualitätsanspruch. Digitalisierung ist hierbei eher als Vehikel zur Qualitätssteigerung zu sehen und nicht primär als Positionierungsinstrument. Mit der Etablierung der Simplinic-Software rückt jedoch auch das Thema Prozesseffizienz mithilfe digitaler Lösungen in das Blickfeld der Klinikgruppe, was für die Weiterentwicklung des Digitalisierungsgedankens innerhalb des Unternehmens und der zukünftigen Ausrichtung spricht.

6.3.3 Techniker Krankenkasse Die Techniker Krankenkasse gehört mit über 10 Mio. Versicherten und Leistungsausgaben von 24,5 Mrd. Euro im Jahr 2017 zu den größten bundesweit tätigen, gesetzlichen Kran-

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kenversicherungen. Somit ist jeder zehnte Deutsche bei der Techniker Krankenkasse versichert. Beginnend im Jahr 2016 wurde sowohl die Marke als auch die strategische Ausrichtung der Techniker Krankenkasse restrukturiert (Techniker Krankenkasse 2018b). Digitalisierung und die damit verbundene zukünftige Marktpositionierung und aktive Gestaltung des Gesundheitsmarktes sind von zentraler Bedeutung für das Unternehmen. Aufgrund der Rückschrittlichkeit der Branche im Bereich der Digitalisierung versucht die Techniker Krankenkasse sowohl mit der Politik in den Dialog zu treten als auch durch eigene Initiative Innovations- und digitale Projekte zu initiieren und zu fördern (Techniker Krankenkasse 2018b). Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2017 der TK-Accelerator gegründet, eine Initiative zur Unterstützung von Start-ups, die eine digitale Geschäftsidee im Gesundheitsbereich weiterentwickeln möchten. Ausgewählte Start-ups werden hier von Beginn an für 100 Tage durch Paten und Fachpromotoren aus verschiedenen Geschäftsbereichen der Krankenkasse begleitet. Am Ende des Coachings steht eine Abschlusspräsentation, nach der über eine weiterführende Kooperation entschieden wird (Techniker Krankenkasse 2018b). Jedoch stellt die Techniker Krankenkasse abseits des Coachingprogramms auch Informationen für Start-ups im Gesundheitsbereich bereit. Dies erfolgt beispielsweise in Form von Webinaren, vergünstigten Versicherungsangeboten, Onlinekalkulatoren sowie möglichen Geschäftsmodellen und Informationsdatenbanken zum Thema Gesundheitsmarkt (Techniker Krankenkasse 2019b). Die digitalen Angebote der Krankenkasse erstrecken sich über mehrere Bereiche. Im Bereich Verwaltung und Kundenservice können Mitglieder beispielsweise über die TK-­ App Formulare oder Anträge digital einreichen oder herunterladen. Somit werden Serviceprozesse deutlich vereinfacht und beschleunigt. Gleichzeitig werden auch teilweise begleitende Therapien, Gesundheitscoachings und -kurse über eine Webseite oder App digital angeboten oder sind erstattungsfähig. Hierzu gehören beispielsweise die Thematiken Allergie, Sprachstörungen von Kindern, Migräne, Schlafstörungen, Tinnitus, chronische Krankheit von Jugendlichen und Videosprechstunden (Techniker Krankenkasse 2019a). Hervorzuheben ist die im Jahr 2017 in den Leistungskatalog integrierte App TK Smart Relax. Diese umfasst Entspannungsübungen, Meditation und Achtsamkeitstraining und bietet zudem die Möglichkeit, die Inhalte durch Alexa und Google Assistant über Sprache zu steuern. (Alexa ist Amazons Spracherkennungsdienst, der eine rein sprachliche Interaktion mit Geräten wie Amazon Echo ermöglicht. Diese lassen sich somit allein mit der Stimme steuern (Amazon 2019).) Somit geht diese App über die Funktionalität und Bedienbarkeit der bisherigen Angebote hinaus (Techniker Krankenkasse 2018a). Eines der aktuellsten und vermutlich wichtigsten Digitalprojekte der Techniker Krankenkasse ist die Entwicklung des TK-Safes, einer elektronischen Gesundheitsakte, die seit 2018 von Versicherten verwendet werden kann. Diese wurde in Zusammenarbeit mit IBM Deutschland GmbH entwickelt und in die bereits bestehende TK-App eingebettet. Der Versicherte kann sich mittels der elektronischen Akte auf Wunsch Abrechnungsdaten bereitstellen lassen. Außerdem können Gesundheitsdaten, wie beispielsweise Impfungen, Medikamente, Diagnosen sowie Arztbriefe und Röntgenbilder, integriert werden. Diese

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sind jedoch nur für den Versicherten einsehbar und können bei Bedarf auch nur durch diesen freigegeben werden. Außerdem können Ärzte Entlassberichte, Laborberichte und Medikationspläne in die Akte integrieren. Wichtig ist jedoch, dass der Versicherte selbst die Verwaltung seiner Gesundheitsdaten übernimmt (Techniker Krankenkasse 2019c). Die digitalen Projekte und Angebote der Techniker Krankenkasse zeigen, dass sich das Versicherungsunternehmen proaktiv mit der Digitalisierungsthematik auseinandersetzt. Obwohl die Politik die Digitalisierung im Gesundheitswesen zum Großteil sehr zögerlich angeht, versucht die Techniker Krankenkasse die eigenen Versorgungsangebote sowohl mittels Eigenentwicklungen als auch durch Scouting von Start-ups (TK-Accelerator) und Kooperationen mit anderen Unternehmen (TK-Safe in Zusammenarbeit mit IBM) zu modernisieren. Besonders die Etablierung der elektronischen Gesundheitsakte (TK-Safe) im deutschen Gesundheitsmarkt ist von großer Bedeutung. Diese Initiative fordert und fördert zum einen den Patienten in seiner Eigenverantwortung, zum anderen ermöglicht eine solche übergreifende elektronische Akte den Ausbau interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Versorgung und hat das Potenzial, die Versorgungsqualität zu steigern, nachvollziehbarer und leichter messbar zu machen. Die Techniker Krankenkasse positioniert sich durch diese Initiativen und digitalen Angebote als moderne und innovative Krankenkasse. Diese Charakteristik macht sie sowohl für eine junge und technikaffine Zielgruppe als auch für Firmenkunden interessant, wodurch sich das Unternehmen auch zukünftig eine sichere Position auf dem Krankenversicherungsmarkt verschaffen dürfte.

6.4

Schlussbetrachtung

Deutschland hinkt im Bereich der Digitalisierung und Technologisierung im Gesundheitswesen hinterher. Dies resultiert unter anderem aus der schlecht ausgebauten digitalen In­ frastruktur, den Innovationshemmnissen durch rechtliche Hürden und einer träge ­handelnden Politik. Zweifelsohne gibt es bereits zahlreiche Initiativen, Projekte und Produkte, die Lösungen für die Herausforderungen in allen Bereichen des Gesundheitswesens bieten. In den Fallbeispielen wurden etablierte Player des deutschen Gesundheitsmarktes mit ihren Digitalstrategien und -initiativen vorgestellt. Deren strategische Ausrichtung ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal, sondern ist auch bei konkurrierenden Unternehmen zu finden. Im Bereich der Medizintechnik gehört beispielsweise Philips Healthcare neben Siemens Healthineers zu den führenden Anbietern in Deutschland. Auch Philips positioniert sich am Markt, analog zu Siemens Healthineers hauptsächlich über Anwendungen mit künstlicher Intelligenz sowie den Aspekt der Cybersicherheit. Siemens Healthineers zielt mit dem Produktportfolio zum Großteil auf die Optimierung der medizinischen Versorgung durch Exzellenz in der Diagnostik und Therapie ab. Maßgeblich unterscheidet sich Philips durch den starken Fokus des Unternehmens auf die Effizienzsteigerung in der Prozessstruktur. Begründet ist dies unter anderem durch das Produktportfolio, in dem sich

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neben medizintechnischen Großgeräten und Instrumenten auch eine Bandbreite an digitalen Lösungen, wie beispielsweise klinische Informationssysteme, finden (Philips GmbH 2018, 2019). Deutschlands größte Klinikgruppe ist die Helios Kliniken GmbH. Im Gegensatz zu der Sana Kliniken AG, deren Aktionärsstruktur durch private Krankenversicherungsunternehmen gekennzeichnet ist, gehört Helios zu der Fresenius SE & Co. KGaA, einem global agierenden Gesundheitskonzern, der in verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens tätig ist. Helios verfolgt mit der helios.hub eine ähnliche Digitalisierungsstrategie wie die Sana Klinikgruppe. Die helios.hub ist eine Plattform für digitale Anwendungsideen von Gründern und Start-ups, die mit Mentoring, der Möglichkeit zur Durchführung von Pilotprojekten in Helios-Kliniken sowie einem Netzwerk und Räumlichkeiten durch die Helios-­Klinikgruppe betreut und unterstützt werden. Durch diese Zusammenarbeit soll die Digitalisierung innerhalb der Klinikgruppe und gleichzeitig im gesamten Gesundheitswesen vorangetrieben werden (Fresenius SE & Co. KGaA 2018; helios.hub 2019). Die BARMER Krankenversicherung ist neben der Techniker Krankenkasse mit 9,2 Mio. Versicherten eine der größten Krankenversicherungen Deutschlands. Zwar verfolgt sie ihre Digitalisierungsstrategien und -initiativen nach außen hin weniger offensichtlich als die Techniker Krankenkasse, jedoch ähneln sich die Ansätze sehr. Die BARMER fokussierte sich zunächst hauptsächlich auf die Digitalisierung und somit auf die Vereinfachung interner Prozesse und Kundenserviceprozesse. Aus dieser Initiative entstand später die „Meine-BARMER“-App mit zahlreichen Funktionen, die mit der TK-App der Techniker Krankenkasse vergleichbar sind. Ebenfalls kooperiert die Krankenkasse nach Ausschreibung des Digital-Health-Wettbewerbs mit jungen Unternehmern im Gesundheitsbereich und betreut diese. Passende digitale Lösungen und Versorgungsangebote werden dabei in das Leistungsangebot der Krankenkasse integriert (BARMER 2018). In den verschiedenen Sektoren des deutschen Gesundheitssystems ist die Digitalisierung unterschiedlich weit fortgeschritten. Dabei sind große Klinikgruppen, Versicherungen sowie Medizintechnik- und Pharmakonzerne oft bereits weiterentwickelt als kleinere Strukturen, wie beispielsweise einzelne Krankenhäuser oder niedergelassene Ärzte. Hier wirken unterschiedliche Mechanismen. Bei großen Konzernen führt starker Wettbewerbsdruck im Regelfall zu einer konstanten Weiterentwicklung des Unternehmens und dessen Produkte. Durch das übergeordnete Ziel des Erwirtschaftens von Gewinn sind große Unternehmen außerdem bestrebt eine optimierte Kostenstruktur herbeizuführen. Fortlaufende Effizienzsteigerungen, die eine Kostensenkung und somit höheren Gewinn herbeiführen, sind deshalb ein grundlegender Ansatzpunkt. Sowohl die stationäre als auch ambulante Versorgungsstruktur sowie die gesetzlichen Krankenversicherungen wurden historisch gesehen gegründet, um gesellschaftliche Bedürfnisse, wie Absicherung und Behandlung im Krankheitsfall, zu stillen. Finanziell gesehen geht es daher bei diesen Einrichtungen vorwiegend um die Kostendeckung. Logische Schlussfolgerung ist also, dass die Marktkräfte bei diesen Unternehmen nicht konsequent wirken können.

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Wird stellvertretend für den öffentlichen Sektor der stationäre Bereich der Versorgung betrachtet, können mehrere Aspekte identifiziert werden, die für eine Rückschrittlichkeit des Teilmarktes ursächlich sind. Die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland belief sich im Jahr 2017 auf 1947 Krankenhäuser. Von diesen machten ca. 80 % Krankenhäuser mit weniger als 500 Betten aus (Statistisches Bundesamt 2019). Es kann also von einer relativen Kleinteiligkeit des Krankenhausmarktes gesprochen werden. Die Digitalisierung der Kliniken würde voraussetzen, dass in jedem Krankenhaus zunächst die infrastrukturelle und personelle Grundlage für eine Implementierung übergreifender digitaler Lösungen geschaffen wird, Voraussetzungen, die eine schwere finanzielle Bürde für einen Bereich des Gesundheitswesens darstellen, der bereits mit einer jährlichen Investitionslücke von 3,7 Mrd. Euro gekennzeichnet ist (Deutsche Krankenhausgesellschaft 2017). Dies und der Fokus auf die Erbringung qualitativ hochwertiger medizinischer Leistungen dürften Gründe dafür sein, warum vor allem digitale Insellösungen implementiert werden, die spezielle Bereiche und Teilprozesse innerhalb der Diagnostik und Therapie verbessern. Eine umfangreiche Verschlankung und Optimierung der Prozesse innerhalb der Krankenhäuser bleiben hierbei vermutlich aus. Es können jedoch auch durch diese Teilschritte Kapazitäten bei beispielsweise dem medizinischen Personal geschaffen werden. Die bisher lückenhafte Umsetzung der Digitalisierung im Gesundheitswesen sollte jedoch nicht nur als Bürde gesehen werden, sondern eröffnet gleichzeitig viel Gestaltungsspielraum. Große Firmen mit einer starken Marktposition, wie beispielsweise die in den Fallbeispielen vorgestellten Unternehmen Siemens Healthineers AG, Sana Kliniken AG und die Techniker Krankenkasse, können durch Initiativen das Gesundheitssystem enorm vorantreiben. Deren Kooperationen vor allem mit Start-ups zeigt, welches Potenzial disruptive und kreative Ideen haben können. Ein gutes Beispiel hierfür ist die elektronische Gesundheitsakte der Techniker Krankenkasse. Deren Eigeninitiative sowie die Etablierung der elektronischen Patientenakte des Start-ups vivy bei 90 privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen konnten die bisher träge Politik zum Handeln bewegen. Auf diesen Druck hin reagierte die Politik schließlich mit der Beauftragung der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) mit der Erarbeitung einheitlicher Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die elektronische Patientenakte. Diese wurden Ende des Jahres 2018 in einem Statement veröffentlicht. Der bisherige Ansatz der elektronischen Gesundheitskarte, die bereits seit etlichen Jahren geplant, deren Potenzial aber nie ausgeschöpft wurde, könnte damit hinfällig sein (gematik 2018; Hannoversche Allgemeine 2018; Ärzteblatt 2018; Handelsblatt 2018). Trotz der schwierigen Voraussetzungen bei der Umsetzung der Digitalisierung führen Prozesse wie die voranschreitende Konsolidierung, Konzentrierung sowie Netzwerk- und Kettenbildung innerhalb des Marktes zu einer zunehmenden Erleichterung des flächendeckenden Einsatzes digitaler Lösungen. Des Weiteren geht aus der strategischen Betrachtung in den Fallbeispielen hervor, dass sowohl etablierte als auch junge Unternehmen von einer Kooperation untereinander profitieren können. Großunternehmen verbessern ihre Flexibilität und Agilität durch die Zusammenarbeit. Gleichzeitig haben sie durch die langjährige Erfahrung und finanzielle Stabilität die Möglichkeit, junge Unternehmen bei der Über-

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windung hoher Markteintrittshürden zu unterstützen. Der Ideenreichtum und die aus der Kooperation resultierenden Projekte und Initiativen gehören zu den Schlüsselfaktoren, die eine maßgebliche Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitsmarktes bewirken können.

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Kristin Kassel  studiert seit Oktober 2017 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-­ Nürnberg im Master Gesundheitsmanagement und Gesundheitsökonomie. Während ihres Bachelorstudiums war sie als studentische Hilfskraft am Kompetenzzentrum „Vernetzte Gesundheit“ und der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm tätig und kam initial mit gesundheitsökonomischen Fragestellungen und Themenbereichen in Kontakt. Seit dem Beginn ihres Masterstudiums liegen ihre Forschungsinteressen auf den Thematiken Value-based Healthcare und Marketing, der evidenzbasierten Analyse und Bewertung von Geschäfts- und Behandlungsprozessen sowie der Einwirkung von Digitalisierung und Innovation auf Unternehmen des ­Gesundheitsmarktes.

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Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation Franziska Wilhelm und Martin Kägi

Inhaltsverzeichnis 7.1  Die aktuelle Situation der Deutsch-Schweizer Akutspitäler  7.2  Innovation als Untersuchungsfokus  7.3  Blinde Flecken  7.4  Schlussbetrachtung und Handlungsempfehlung  Literatur 

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Zusammenfassung

Inwiefern lässt sich die Innovationsmaturität in einem Deutsch-Schweizer Akutspital messen und vergleichen? Und wieweit kann ein bestehendes Mess-Framework (aus ähnlichen oder fremden Industrien) adaptiert werden, um diese Frage zu beantworten? Diese Frage wurde im Rahmen einer Masterarbeit für den Studiengang MAS Business Innovation an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich (HWZ) beantwortet. Die Masterarbeit befasst sich damit, die Reife der Akutspitäler in Bezug auf Innovation anhand der Innovationsaktivitäten zu identifizieren und mittels eines Frameworks messbar und vergleichbar zu machen. Um die eingangs erwähnte Forschungsfrage zu beantworten, wurden im Rahmen von einer qualitativen, nichtstandardisierten Datenerhebung 16 semistrukturierte Interviews mit Fachpersonen aus zehn verschiedenen Deutsch-­ ­ Schweizer Akutspitälern durchgeführt. Die anschließende qualitative Inhaltsanalyse F. Wilhelm (*) Luzerner Kantonsspital, Luzern, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Kägi Hochschule für Wirtschaft Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_7

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F. Wilhelm und M. Kägi

zeigt die Vielseitigkeit des vorherrschenden Innovationsverständnisses sowie der Innovationsaktivitäten der untersuchten Spitäler auf. Die Kategorisierung der Daten in zehn verschiedene Innovationsperspektiven macht Gemeinsamkeiten, aber auch kreative Aktivitäten und Anhaltspunkte zu deren Messbarkeit in einem Framework erkennbar. In den vergangenen Jahren haben die Spitäler große Investitionen in die Beschaffung von Innovationen in Form von medizintechnischen Gerätschaften und Infrastruktur getätigt und im Bereich der Kundenserviceprozesse im Allgemeinen wenige Bestrebungen unternommen. Bezogen auf ein ganzheitliches Verständnis von Innovation gibt es hier offensichtlich blinde Flecken.

7.1

Die aktuelle Situation der Deutsch-Schweizer Akutspitäler

Das Gesundheitswesen der Schweiz unterliegt einem starken Wandel. Direkt davon betroffen sind die verschiedenen öffentlich-rechtlichen Akutspitaleinrichtungen der Deutsch-­ Schweiz. Mit dem Inkrafttreten des neuen Spitalfinanzierungsgesetzes im Jahre 2012 und der damit verbundenen Einführung der Fallpauschale „SwissDRG“ sowie dem unklaren Ausgang der aktuellen Tarifverhandlungen erhöht sich der finanzielle Druck auf die Spitalbetriebe. Die rasante Entwicklung der medizinischen und pharmazeutischen Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten steht im direkten Gegensatz zu der vergleichsweise eher konservativen Entwicklung der Behandlungsprozesse. Im Vergleich zu früher sind in den medizinischen Fachbereichen die Investitionsvolumina für medizinische Gerätschaften und Techniken gestiegen, um Dienstleistungen kontinuierlich auszubauen. Die Innovationskraft fokussiert sich dabei auf die Persönlichkeit und Fachkompetenz der Ärzte. Innovation wird in Form von Personen mit Fachwissen und zugehöriger Technik eingekauft. Der Erfolg eines Betriebes wird abhängig von der Investitionskraft in neue Technologien und Fachspezialisten mit dem nötigen Know-how. Neue nationale und internationale Regulatorien beschränken die Einnahmen und somit die Autonomie der einzelnen Spezialisten, welche wiederum zu einer erhöhten Jobmobilität derselben führt. Die Rekrutierung und nachhaltige Bindung herausragender Persönlichkeiten werden damit zunehmend eine Herausforderung. Um Investitionen zu tätigen, ist eine langfristige ertragsplanerische Sicherheit notwendig. Damit die öffentlich-rechtlichen Deutsch-Schweizer Akutspitäler auch zukünftig erfolgreich auf dem Gesundheitsmarkt bestehen können, braucht es neue Ansätze. Zunehmend finden sich Themen wie Effizienzsteigerung, Prozessoptimierung, Entwicklung neuer Dienstleistungsangebote und Innovation in den Unternehmensstrategien.

7.2

Innovation als Untersuchungsfokus

Vergangene Literaturrecherchen haben ergeben, dass aktuell keine allgemeingültige Definition des Begriffs „Innovation“ im Deutsch-Schweizer Spitalumfeld besteht. Ebenso findet sich allgemein wenig aktuelle Literatur über Spitäler, welche mit Innovation außerhalb

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der Medizin vertraut sind. Eine aussagekräftige Messung der Innovationsmaturität im nationalen oder regionalen Vergleich ist nicht möglich, da kein Messinstrument oder geeignetes Framework existiert. Somit wissen die Betriebe untereinander nicht, wo sie im direkten Vergleich in Bezug auf Innovation stehen. Die Hypothese, dass öffentlich-rechtliche Deutsch-Schweizer Akutspitäler ihre Potenziale in Bezug auf Prozess-, Service- und Produktinnovation zu wenig ausschöpfen, lässt sich daher vor der Untersuchung nicht bestätigen oder widerlegen. Huber et al. (2014) beschreiben im Buch Bridging the innovation gap den Umstand, dass sich die Unternehmen zukünftig zunehmend schwierig über ihre Dienstleistungen oder Produkte differenzieren können. Die Beherrschung und Steuerung der Prozesse reichen dadurch nicht mehr aus, um langfristig erfolgreich auf dem Markt bestehen zu können. Dies führt dazu, dass die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens eine maßgebliche Größe zur Differenzierung und somit zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen darstellt respektive zu einer Schlüsselkompetenz des Unternehmens wird. Dies haben viele der Spitäler erkannt und in den vergangenen Jahren unzählige Initiativen in die Wege geleitet. Die Medien berichten regelmäßig von größeren Spitalneubauprojekten, kostspieligen Softwareprojekten und neuen innovativen Behandlungsmethoden, welche den Patienten bessere Heilungschancen und kürzere Aufenthaltsdauern in den Spitälern versprechen. Unternehmen sollen die Ausgaben reduzieren und gleichzeitig Gewinn steigernde Dienstleistungen entwickeln. Die knappen finanziellen und personellen Ressourcen zwingen die Unternehmungen sich zu fokussieren. Von den einzelnen Fachdisziplinen getriebene Beschaffungen in teure, hoch spezialisierte Diagnose- und Therapiegeräte sind schwieriger zu finanzieren. Die Entwicklung geht weg von der bewusst geförderten, oft ungesteuerten Innovation in der Beschaffungspolitik hin zu einer systematisch gesteuerten Innovationsstrategie. Dies wurde in den geführten Interviews klar. Ich glaube, Innovation, als Kantonsspital, selbst darauf einzugehen, wird relativ schwierig sein, es braucht „Enabler“ im Umfeld, welche Lösungen anbieten, damit man Innovation implementieren kann in der Unternehmung. Grundsätzlich unterscheidet sich ja das Business, welches wir am Kantonsspital machen, nicht gross von den anderen Spitälern, welche wir haben, also sehr innovativ wirst du hier wahrscheinlich dich nicht unterscheiden können von anderen Unternehmen (Wilhelm 2019).

Um nun den Reifegrad der Innovationsfähigkeit eines Betriebes zu ermitteln, muss geklärt werden, was denn die Innovationsfähigkeit eines Betriebes ausmacht. Die Fachliteratur beschreibt klar, dass einer erfolgreichen Innovation eine systematische Vorbereitung und Umsetzung zugrunde liegt. Es braucht ein Innovationsbewusstsein im Betrieb. Das Bewusstsein über die Innovationsreife, das Wissen und Kennen der damit verbundenen Sachverhalte und Abläufe sowie die Fähigkeit, diese zu managen, führen dazu, dass der Betrieb sich trotz knapper Ressourcen durch das sogenannte Innovationsmanagement und die Steuerung der damit verbundenen Aktivitäten langfristige Marktund Wettbewerbsvorteile sichert (Granig und Perusch 2012, siehe Abb. 7.1). So befasst sich die Untersuchung unter anderem damit, inwieweit sich das Innovationsbewusstsein für ein Deutsch-Schweizer Akutspital definieren lässt und welchen Einflüssen dessen Ausprägung unterliegt.

114

F. Wilhelm und M. Kägi

Experimentierraum

Entwicklung neuer Produkte

Innovationen und Kreativitätsworkshops

Innovationen durch Netzwerke

Verbesserungen in der Leistung der Produkte Prozessinnovationen

Markeninnovationen Kundenbeteiligung und -innovationen Innovationstaskforce

Neue oder verbesserte Kanäle

Verbesserungen in der Produkteanwendung Produktesysteminnovationen

Abb. 7.1  Klassifikation nach Innovationstypen. (Quelle: in Anlehnung an Phillips und Pulliam Phillips 2018)

Gerade durch die vielfältige Interpretierbarkeit von Innovation und die nichtexistierende Allgemeingültigkeit der Definition von Innovation steht am Anfang jeder Untersuchung im Zusammenhang mit Innovation eine Klassifizierung der Untersuchungsinhalte. Die Fachliteratur führt eine große Menge an unterschiedlichen Unterscheidungen von Innovationsbereichen, Innovationsarten oder Innovationstypen auf. Tabas et al. (2012) beschreiben in ihrer Studie „Classifications of innovations: approaches and consequences“ ebenfalls die Notwendigkeit einer Innovationsklassifizierung als Grundlage für effizientes und effektives Innovationsmanagement. Auch die Klassifizierung von Innovation befindet sich in einer kontinuierlichen Weiterentwicklung. Dabei wird in den meisten Klassifizierungen zwischen der radikalen, disruptiven Innovation und der inkrementellen Innovation unterschieden. Um eine sinnvolle Klassifizierung definieren zu können, müssen zuerst das genaue Ziel oder die Absicht der Messung sowie das Instrument bzw. das „Wie“ oder das „Womit“ der Erhebung geklärt sein. Dementsprechend wurden für die Untersuchung folgende Handlungsstufen abgeleitet: Stufe 1: Um Innovation gezielt zu fördern, muss das Innovationsbewusstsein erlangt oder erhöht werden. Stufe 2: Voraussetzung für das Innovationsbewusstsein ist ein Verständnis davon, was Innovation für den Betrieb bedeutet und wo und in welcher Form Innovation vorkommt oder betrieben wird. Stufe 3: Die Klassifizierung und Priorisierung nach Innovationstypen bieten dem Betrieb Orientierung und ermöglichen bewussteren Fokus bezüglich der Ausprägungen. Stufe 4: Innerhalb der priorisierten Gruppe werden messbare Zielkriterien definiert, anhand welcher die Bestrebungen und ihre Maturität in Bezug auf Innovation beurteilt werden können. Somit wird die Reife der Bestrebungen auch vergleichbar und der spitalübergreifende Austausch wird angeregt.

7  Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation

Abstimmung Quantifizierung

115

Level 5 optimierend Der Prozess wird fortlaufend optimiert.

Level 4 vorhersagbar

“Best Practice”

Level 3 etabliert

Spezifikation

Level 2 gemanagt

Intuition

Level 1 durchgeführt

Chaos

Level 0 unvollständig

Prozesse und Qualität werden gemessen und vorausschauend gesteuert.

Definierte Prozesse nach Standards aus Erfahrung.

Planung, Produkt und Verantwortung sind geklärt.

Input und Output sowie Ziele bekannt.

Arbeit ohne erkennbare Prozesse und Metriken.

Abb. 7.2  Reifegradmodell nach SPICE ISO 15504. (Quelle: in Anlehnung an Wagner und Dürr 2008, S. 24)

Das wichtigste Reifegradmodell von Prozessen nach SPICE ISO 15504 (Software Process Improvement and Capability Determination) definiert einen Standard zur Durchführung unternehmensprozessorientierter Assessments. Dieser liefert Anhaltspunkte über die Fähigkeit eines Betriebes, seine Prozesse und die zugehörigen Lieferergebnisse in der erforderlichen Zeit, Kosten und Qualität zu erbringen. Das SPICE-Modell beschreibt die Messung und Analyse der Prozessperspektive als Quelle für Verbesserung und Innovation (Wagner und Dürr 2008, siehe Abb. 7.2). Als Grundlage für ein Framework kann vom SPICE-Modell direkt die Reifegradentwicklung auf die Innovationsmaturität übertragen werden. Außerdem ist es notwendig, Dimensionen für die Innovationsarbeit zu definieren. Der Bericht „Global diffusion of healthcare innovation: making the connections“ nennt in Bezug auf den Innovationsbedarf unter anderem die Untersuchungsfelder Pflege, Patientenerlebnis und Qualität und Sicherheit. Sie befragten dazu medizinische Fachpersonen, welche direkt am Patienten arbeiten, und Führungspersonen aus dem Gesundheitswesen. Daraus leiteten sie die Dimensionen mit folgendem Handlungsbedarf ab (Darzi et al. 2016, siehe Abb. 7.3).

7.3

Blinde Flecken

Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurden im Rahmen einer qualitativen, nichtstandardisierten Datenerhebung 16 semistrukturierte Interviews mit Fachpersonen aus zehn verschiedenen Deutsch-Schweizer Akutspitälern durchgeführt (Wilhelm 2019). Dabei wurden folgende Untersuchungsfelder betrachtet:

116

F. Wilhelm und M. Kägi

Pflege

Patientenerlebnis

Qualität und Sicherheit

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Schweregrad der Krankengeschichte

Häufigkeit von medizinischen Fehlern

Sicherstellung der richtigen Behandlung in den dafür geeigneten Räumlichkeiten/Institutionen

Wartezeiten in Bezug auf Sprechstunden oder Behandlungen

Überbehandlung oder Überdiagnostik

Senkung des Rehospitalisationsrisikos

Finanzielle Belastung für den Patienten

Fehlermanagement

Pflegestandardisierung

Förderung des Patienten in seiner Selbstpflegefähigkeit

Arzt-Patient-Kommunikation

Behandlung von multimorbiden Patienten

Abb. 7.3  Innovationsbedarf. (Quelle: Darzi et al. 2016, S. 17)

1. Innovationsverständnis: Definitionen, Verankerung in der Unternehmensstrategie sowie das Vorkommen von Innovation im Betrieb; 2. Kundenerlebnis: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich des Kundenerlebnisses; 3. medizinisch-technische Innovation: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich der Medizin, Medizintechnik, Dia­ gnostik; 4. Prozessinnovation: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich der Prozesse und Prozesssteuerung; 5. Innovationsmethodologie: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich Projektportfoliomanagement, Projektmanagement; 6. Innovationen rund um die Mitarbeitenden: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich der Mitarbeiterzufriedenheit; 7. Innovation rund um die Unternehmenskultur: Identifikation und mögliche Metriken zur Reifegradeinschätzung von Bestrebungen im Bereich Führung, Kultur und Personalentwicklung. In den jeweils rund eine Stunde dauernden Interviews wurden Fach- und Führungspersonen aus dem Unternehmensentwicklungskader oder der Geschäftsleitung aus zehn verschiedenen Kantons- und Regionalspitälern unterschiedlicher Größe befragt. Die qualitative Inhaltsanalyse zeigte die Vielseitigkeit des vorherrschenden Innovationsverständnisses sowie der Innovationsaktivitäten der untersuchten Spitäler auf. Die Kategorisierung der Daten in zehn verschiedene Innovationsperspektiven macht Gemeinsamkeiten, aber auch kreative Aktivitäten und Anhaltspunkte zu deren Messbarkeit in einem Framework erkennbar. Hier die wichtigsten Auszüge mit originalen Nennungen aus der Analyse:

7  Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation

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Um den Bereich „Innovationstypen und -bereiche“ zu untersuchen, wurden die Interviewpartner gefragt, inwiefern bei ihnen die Innovation in der Unternehmensstrategie verankert ist und welche Innovationstypen und -bereiche in ihrem Betrieb vorkommen (Wilhelm 2019, S. 9, 11, 16, 19 und 23): Also, wir betreiben Innovation, vielleicht nicht so das alltägliche Vorgehen darin, dass man ein Zentrumsspital für die Schweiz sein möchte, dass man Allianzen mit den anderen Spitälern stark verfolgt und versucht umzusetzen. Und ich glaube, das ist innovativ, das siehst du noch nicht in allen Regionen in der Schweiz, in diesem Bereich sehe ich sicherlich auch eine große Innovation. Der zweite Punkt, in welchem Innovation stark betrieben ist, mit diesen Zentren, welche man macht pro verschiedene Aufgabengebiete, das ist sicherlich auch ein Punkt, in welchen man sehr viel Zeit und Energie reinsteckt, das Interdisziplinäre Zusammenarbeiten, aus diesen Silos raus, „End to End Dienstleistungen“ für den Kunden anbieten, das ist sicherlich auch Innovation. Die ganzen Trends, welche im Moment im Gesundheitswesen sind, mit eben Digitalisierung, Standardisierung, „Lean Programme“, die ganzen Themen waren für Versicherungen, Banken vor 20, 30 Jahren dran. Ich glaube, da stehen wir am Anfang, brutal am Anfang, es ist für mich auch die klare Strategie nicht immer erkennbar, grundsätzlich müsste man ja zuerst einmal auf dem Papier eine Strategie definieren und dahin gehen. Ich stelle einfach immer noch fest, dass es viel zu viele Insellösungen gibt. … durch das, dass wir nicht sehr stringent sind oder nicht sehr stark regulatorisch führen, gibt es an vielen Orten eine Ökonische, …, gibt es ganz stark, halt aus der Basis raus, die Möglichkeit solche Dinge zu entwickeln. Auch welche auch in die Innovation münden können oder in der Innovation münden. Das Thema ist dann eher halt auch, dass uns oft ein Überblick fehlt, welche Innovation wird wo angedacht, das ist jetzt bei ärztlich getriebenen Verfahren jetzt relativ simpel. … die Innovation ist als Schlagwort drin, aber es fehlt uns eine klare Strategie, wo will sich der Dampfer hinbewegen. Geschweige davon sind Innovationen eben welche wir machen auf Einzelpersonen basierend. Es gibt es paar treibende Kräfte im Haus, welche für Innovation stehen meiner Meinung nach. Es gibt ein paar Chefärzte, welche auch wirklich sehr mit innovativen Behandlungsmethoden unterwegs sind und sich dort auch kundig machen und sich fortlaufend weiterentwickeln. Ich glaube, um Innovation messbar zu machen, wenn man es konsequent machen möchte, müsste man nur schon von der Idee, eine konsequente Ideenbewertung, wie viele enden schlussendlich irgendwo in einem Projekt. Wenn man diesen Prozess installieren würde und messbar machen, dann ist das relativ einfach. Und wenn dann nur schon zwei, drei gute Ideen in einem Projekt irgendwo enden, ist dies super. Im Moment merke ich einfach, Ideen wären extrem viele da, aber wir haben die Ressourcen im Moment schlichtweg nicht, um so etwas zu machen.

Die Reaktionen auf die Interviews, das Vorhaben der Untersuchung sowie die befragten Aspekte fanden breites Interesse und Anklang bei den Interviewpartnern. Die Idee, die Innovationsreife messbar zu machen, wurde breit unterstützt, sorgte jedoch für Kopfzerbrechen, wenn es darum ging, Metriken zu definieren. Trotzdem ließen sie sich auf das Gedankenspiel ein, was dazu führte, dass die Datensammlung eine umfangreiche Analyse als Grundlage für ein zukünftiges Framework zuließ. In den untersuchten Akutspitälern herrscht gemäß der Analyse kein einheitliches Verständnis von Innovation, Innovationstypen und Innovationsbereichen. Die Verankerung

118

F. Wilhelm und M. Kägi

der Innovation oder einer Innovationsstrategie in der Unternehmensstrategie zeigt sich bei den befragten Spitälern noch wenig verbreitet. Die Datensammlung weist jedoch eine große Vielfalt an Innovationsaktivitäten und ein breites Spektrum an Innovationstypen mit den Schwerpunkten Beschaffung von medizintechnischen Innovationen und der Einführung von Lean Management im Prozessinnovationsbereich auf (Wilhelm 2019, S. 1, 20, 32 und 45): … bei der Medizintechnik ist die Schweiz ja traditionell weit vorne, weil die Medizintechnik sehr eng mit den Ärzten zusammenarbeitet … Wir diskutieren viel über neue Führungsphilosophien, wir setzen stark auf das Thema „Lean Hospitalmanagement“, wir setzen auf das patientenzentrierte Management und dort ist Innovation eben nicht die Innovation als „disruptiver“ Fortschritt, sondern es ist mehr in dem „KAIZEN-mässigen“ eben, das tägliche Verbessern der Prozesse, das tägliche Erkennen von Patientenbedürfnissen. Ich glaube, bei allen Sachen sind wir eher reaktiv. Also jetzt auch als Beispiel – das ist klar im Moment auch ein bisschen Innovationstrend – „Lean Management“ im Gesundheitswesen. Sind wir sicher nicht bei den Early-Adaptors gewesen, sondern eher nachziehend. Also ich weiss, dass es eine Station gibt in der Geburtshilfe, welche eine „Lean Station“ ist. Also die ist komplett eigentlich „Lean“, sie führen „Huddles“ durch, wo sie zusammenstehen und Sachen besprechen, sie haben auch die „Huddles“ oder beziehungsweise auch die Visite der Ärzte sind abgestimmt mit den ganzen Prozessen. Also in sich eine sehr stimmige Sache. Inwiefern, dass sie eben wirklich einen gesteuerten „KVP“ dort haben, das wäre mir jetzt nicht bekannt.

Die Datenanalyse hat ergeben, dass die Spitäler in Bezug auf das Prozessmanagement im Zusammenhang mit Innovation sehr unterschiedlicher Auffassung sind. Während die einen Spitäler in der gezielten Prozessteuerung nach standardisierten Kennzahlen und einer damit verbundenen hohen Prozessmaturität die Grundlage jeglicher Innovationsreife sehen, befürchten andere eine geradezu verhindernde Kraft des Prozessmanagements in ­Bezug auf die Entstehung von Innovation im Betrieb. Daher sind die Metriken aus der Prozesswelt in Bezug auf die Innovationsreife eines Unternehmens für ein mögliches ­Framework bestritten und mit Vorsicht einzusetzen. Das Kundenerlebnis stand bis heute bei vielen Innovationsaktivitäten nicht direkt im Zentrum bzw. wurde nicht als treibender Faktor definiert. Die Ergebnisse verdeutlichten auch die verbreitete Annahme, dass der Betrieb schon weiß, was der Kunde braucht, auch ohne ihn in die Vorhaben einzubinden oder zu befragen. Jeder Mitarbeiter könnte auch ein Patient sein. Tendenz: Mehrere Spitäler gaben an, dass sie dieser Kategorie zukünftig mehr Gewicht in der Umsetzung von Innovationsbestrebungen verleihen wollen. Jedoch wurden keine Angaben gemacht, inwiefern sie dies umsetzen wollen (Wilhelm 2019, S. 10, 45 und 127): … gerade bei den medizinischen Innovationen, stellt sich die Frage: was ist Kundenerlebnis oder Patientenerlebnis, aber gerade bei den medizinischen Innovationen profitiert der Patient sehr direkt davon und spürt das auch bei den Dingen, die wir dort machen.

7  Spitäler haben blinde Flecken in Bezug auf Innovation

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Also wir sind daran ein Kundenbeziehungsmanagement aufzubauen. Eine Mitarbeiterin von mir macht dies und dort sind wir wirklich daran im Moment zu definieren, was, wie definieren wir, dass wir beziehungsweise, eben, es geht eigentlich darum, wir zerbrechen unsere Köpfe ein wenig darüber, wie gehen wir dieses Thema an, das ganze Kunden-Beziehungsmanagement. Es ist sicher das Kundenerlebnis, welches auch da ist. Schlussendlich ist es halt alles, ist es die innere Betrachtung, …, wo wollen wir betriebswirtschaftlich mit der Unternehmung hin und dazu brauchen wir Zahlen, dazu müssen wir Zentren haben, dazu müssen wir interdisziplinär zusammenarbeiten können, auf der anderen Seite, …, das Spital ist ein schwieriges Kundenerlebnis, als Erlebnis zu definieren, aber sicher das muss auch stimmen, sonst bringt eine super Dienstleistung nichts, das muss Hand in Hand gehen.

Nur eine Minderheit der befragten Spitäler gab an, die Kunden oder Patienten bei Neuentwicklungen von Prozessen oder Produkten gezielt einzubeziehen. Alle der befragten Spitäler gaben an, die Patientenzufriedenheit regelmäßig und strukturiert zu messen. Die Ergebnisse der Befragungen werden allerdings unterschiedlich und nur teilweise systematisch weiterbearbeitet bzw. in den Betrieb adaptiert.

7.4

Schlussbetrachtung und Handlungsempfehlung

Die Datenanalyse der Interviews zeigt, dass das allgemeine Verständnis von Innovation und Innovationsmanagement in den Deutsch-Schweizer Akutspitälern in der Gesamtbetrachtung niedrig ist. Dieser Schluss sowie die detaillierten Aussagen innerhalb der Kategorien als eine Selbsteinschätzung der Spitäler zeigen wiederum, dass auch die Innovationsmaturität gemessen an den Thesen dieser Arbeit grundsätzlich als tief einzuschätzen ist. Das Verständnis von Innovation und Innovationsmanagement ist noch wenig gereift und die damit verbundenen, häufig kostspieligen Innovationsaktivitäten sind kaum gesteuert und nicht strategisch verankert. Auch wird keine Erfolgsmessung zur Innovationsfähigkeit durchgeführt. Wobei eine Messung ein einheitliches Verständnis zum Thema entwickeln könnte. Referenzen aus anderen Industrien zeigen auf, dass Innovationsinitiativen einen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg von Organisationen haben und diesen positiv beeinflussen. Alle Interviewpartner befanden die untersuchten Dimensionen als sinnvoll und ausreichend. Die Hauptfragestellung der Arbeit ließ sich damit beantworten: Inwiefern lässt sich die Innovationsmaturität in einem Deutsch-Schweizer Akutspital messen und vergleichen? Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Innovationsmaturität in Deutsch-Schweizer Akutspitälern anhand einer qualitativen Erhebung unter Anwendung eines Leitfadeninterviews, welches auf der Basis eines Frameworks mit qualitativen Fragestellungen aufgebaut ist, ermittelt werden könnte. Inwiefern kann ein bestehendes Mess-Framework (aus ähnlichen oder fremden Indus­ trien) adaptiert werden, um die Forschungsfrage zu beantworten?

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F. Wilhelm und M. Kägi

Das Interessen der Interviewpartner an der vorliegenden Arbeit sowie die Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse der Datensammlung aus den Interviews zeigen den Bedarf, die Innovation für die Deutsch-Schweizer Akutspitäler einheitlich zu definieren und mittels einer systematischen Bewertungsstruktur fassbarer und vergleichbarer zu machen. Das einheitliche Verständnis über ein effektives und effizientes Innovationsmanagement in den Akutspitälern durch ein Framework soll die Rahmenbedingungen schaffen, welche zukünftig für den nachhaltigen Wettbewerbsvorteil durch die Innovationsfähigkeit der Deutsch-Schweizer Akutspitäler verantwortlich sein werden. Die erarbeiteten Datensätze aus den Interviews in Anwendung mit dem Codebuch sowie die beschriebenen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen ermöglichen in einem weiteren Schritt die Erarbeitung des geplanten Frameworks.

Literatur Darzi A, Parston G, del Castillo J, Prime M, Bhatti Y, Harris M (2016) Global diffusion of healthcare innovation: making the connections. IGHI, London Granig P, Perusch S (2012) Innovationsmanagement im Krankenhaus, Identifikation, Bewertung und Strategien. Springer, Wiesbaden Huber D, Kaufmann H, Steinmann M (2014) Bridging the Innovation Gap – Bauplan des innovativen Unternehmens. Springer Gabler, Berlin Phillips JJ, Pulliam PP (2018) The value of innovation: knowing, proving, and showing the value of innovation and creativity: a step by step guide to impact and ROI measurement. Wiley, Hoboken Tabas J, Beranová M, Polák J (2012) Classifications of innovations: approaches and consequences. Elsevier, Scopus Wagner KW, Dürr W (2008) Reifegrad nach ISO/IEC 15504 (SPiCE) ermitteln. Carl Hanser, München Wilhelm F (2019) Chancen der Messbarkeit der Innovations-Maturität in Deutsch-Schweizer Akutspitäler. Hochschule für Wirtschaft Zürich, Luzern

Franziska Wilhelm  verfasste die Untersuchung als Masterarbeit im Rahmen des berufsbegleitenden Studiums Master of Advanced Studies in Business Innovation an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich (HWZ). Am Luzerner Kantonsspital arbeitet sie als Applikationsverantwortliche und Teamleitung in einem Softwareprojekt zur Einführung eines umfassenden Klinikinformationssystems. Sie ist dipl. Pflegefachfrau HF, ­Ausbildnerin und Dozentin und leitete in den vergangenen Jahren strategische Projekte in der Unternehmensentwicklung am Luzerner Kantonsspital. Martin Kägi,  betreute die Masterarbeit von Franziska Wilhelm. Er ist Co-Leiter der Fachstelle für Innovation und Lean Management und doziert zu den Themen Innovation und Agilität an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich (HWZ). Als Partner bei der KW+P Management Consultants AG begleitet er Kunden in den Themen Innovation und Agilität. Martin Kägi hat einen Abschluss als Dipl.-Ing. der ETH in Zürich und einen Abschluss in KMU-Management der HSG.

8

Innovationen im (öffentlichen) Gesundheitssystem: Eine Analyse aus strategischer Perspektive Anne Maria Busch, Renate Kratochvil und Christina Schweiger

Inhaltsverzeichnis 8.1  8.2  8.3  8.4 

Einleitung   as theoretische Modell der dynamischen Kompetenzen  D Herausforderungen und Lösungen im öffentlichen Gesundheitssystem  Eine Analyse der Einführung von Primärversorgungszentren  8.4.1  Phase 1: Suche  8.4.2  Phase 2: Chancen ergreifen  8.4.3  Phase 3: Umsetzung  8.5  Erfolge und Herausforderungen der eingeführten Primärversorgungszentren  8.6  Handlungsempfehlungen aus einer theoretischen Perspektive  8.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

 122  122  124  125  126  128  130  132  134  136  136

Zusammenfassung

Primärversorgungszentren sind als innovative Idee im österreichischen Gesundheitssystem entwickelt und eingeführt worden. Ein Ziel hierbei war es, ein attraktives Angebot für Patienten zu schaffen und eine effiziente Versorgung im öffentlichen Versicherungssystem zu garantieren. Dieser Beitrag wendet das theoretische Konzept der dynamischen Kompetenzen (engl. Dynamic Capabilities) an, um anhand einer Sekundärdatenrecherche die Entstehung und Umsetzung dieser Innovation systematisch zu A. M. Busch (*) · C. Schweiger FHWien der WKW, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] R. Kratochvil BI Norwegian Business School, Oslo, Norwegen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_8

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122

A. M. Busch et al.

analysieren. Darauf aufbauend werden Erfolgsaspekte und Herausforderungen der Entwicklung und Einführung von Primärversorgungszentren beschrieben sowie Handlungsempfehlungen aus der Theorie der dynamischen Kompetenzen abgeleitet. Dieser Beitrag nimmt eine strategische Perspektive ein und will Akteuren im Gesundheitssystem Impulse für die Entwicklung und Umsetzung von Innovationen geben.

8.1

Einleitung

Als Antwort auf viele Herausforderungen im (öffentlichen) Gesundheitssystem wurden in Österreich von der Sozialversicherung – unter Beteiligung diverser Stakeholder – sogenannte Primärversorgungszentren als innovative Lösungen entwickelt und eingeführt. Angelehnt an das Primary-Health-Care-(PHC-)Konzept, welches bereits 1978 von der WHO entwickelt wurde, stellt diese Lösung ein ambulantes und interdisziplinäres Versorgungskonzept dar. Die mit diesen Primärversorgungszentren verbundenen Ziele sind unter anderem eine Steigerung der Service- und Behandlungsqualität sowie Kosteneinsparungen aufgrund weniger stationärer Aufenthalte im Krankenhaus. Die gebotene interdisziplinäre und koordinierte Behandlung in einem strukturierten Rahmen soll sowohl für Patienten und Ärzte als auch für öffentliche Institutionen wie die Sozialversicherung Vorteile bieten und den Grundstein für ein innovatives und zukunftsfähiges Gesundheitssystem legen. Die Einführung neben dem dynamischen Tagesgeschäft bringt jedoch Schwierigkeiten mit sich und das Projekt Primärversorgungszentren steht damit vor vielen Herausforderungen. Wir verwenden das theoretische Konzept der strategischen Veränderungsfähigkeiten, den sogenannten dynamischen Kompetenzen von Organisationen, um die Entwicklung und Einführung einer Innovation im (öffentlichen) Gesundheitssystem, konkret der Primärversorgungszentren, systematisch zu analysieren. Dies ermöglicht es, die Komplexität und die Dynamiken der Entwicklung und Einführung einer Innovation im Gesundheitssystem nachzuvollziehen. Darüber hinaus gibt die theoretische Perspektive der dynamischen Kompetenzen Einblicke, in welchen Phasen des Entwicklungsprozesses bereits die ersten Steine für spätere Erfolgsaspekte und Herausforderungen gelegt werden können. Auf Basis der Literatur über dynamische Kompetenzen präsentieren wir Handlungsempfehlungen.

8.2

Das theoretische Modell der dynamischen Kompetenzen

Dynamische Kompetenzen beschreiben die organisationale Fähigkeit, sich (erfolgreich) an verändernde Umweltbedingungen anzupassen (Ambrosini und Bowman 2009; Barreto 2010; Di Stefano et al. 2010). Dies gelingt, indem auf Basis spezifischer Kompetenzen Chancen erkannt, genutzt und umgesetzt werden. Dies erfolgt graduell über längere ­Zeiträume und integriert die Nutzung interner Ressourcen und die effektive Integration externer Ressourcen (Teece 2007, 2014).

8  Innovationen im (öffentlichen) Gesundheitssystem: Eine Analyse aus strategischer …

123

Dynamische Kompetenzen befähigen eine Organisation, in deren Umwelt aufkommende Trends und Möglichkeiten wahrzunehmen, Innovationen zur kontinuierlichen Aufrechterhaltung eines Wettbewerbsvorteils hervorzubringen sowie diese folglich umzusetzen und in das operative Tagesgeschäft zu integrieren. Diese Kompetenzen ermöglichen eine Balance zwischen den aktuellen und den zukünftigen Aktivitäten von Organisationen. Das heißt, sie befähigen Organisationen, die Entwicklung und Implementierung von Produkt- und Prozessinnovationen durchzuführen sowie die operative Führung des Geschäfts und die Verbesserung und Weiterentwicklung bestehender Kompetenzen in sich ver­ ändernden Umweltbedingungen wahrzunehmen (Wang und Ahmed 2007; Winter 2003; Zahra et al. 2006). Dynamische Kompetenzen gelten als Treiber für erfolgreiche Reaktionen auf Ver­ änderungen, Leistungssteigerung und strategische Entwicklung des Wettbewerbsvorteils (Arend und Bromiley 2009). Organisationen, die über entwickelte dynamischen Fähigkeiten verfügen, sind auf lange Sicht erfolgreich (Zahra et al. 2006), da sie über jene Kompetenzen verfügen, die eine rasche und strukturierte Anpassung an neue Gegebenheiten ermöglichen. Im Rahmen dieses Beitrags wird zur Analyse der Entstehung und Einführung von Primärversorgungszentren in Österreich das theoretische Modell der dynamischen Kompetenzen von Professor David J. Teece (2007, 2014) herangezogen (siehe Abb. 8.1). Dieses Modell abstrahiert die dynamischen Kompetenzen von Organisationen in Suche (engl. Sensing), Chancen ergreifen (engl. Seizing) und Umsetzung (engl. Transforming). Diese Kompetenzen reihen sich in der Praxis zumeist wie Phasen aneinander (mit verbundenen Iterationen zwischen den Phasen). In diesem Beitrag wird der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (kurz: Sozialversicherung) als Hauptakteur eingesetzt, um die Anwendung von dynamischen Kompetenzen zu analysieren. Anhand einer Sekundärdatenrecherche wird retrospektiv analysiert, wie mögliche Kompetenzen bei der Sozialversicherung zur Entwicklung der Primärversorgungszentren beigetragen haben könnten. Die folgende Sekundäranalyse setzt sich aus Informationen der Websites der unterschiedlichen Stakeholder im Gesundheitssystem, in Datenbanken und Zeitungsberichten zusammen. Im Abschn. 8.3 werden zunächst die Herausforderungen und Lösungen im öffentlichen Gesundheitssystem beschrieben. Darauf folgt eine Analyse anhand des oben dargestellten Modells der dynamischen Kompetenzen (Abschn. 8.4).

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Abb. 8.1  Die Phasen der dynamischen Kompetenzen. (Quelle: in Anlehnung an Teece 2007)

124

8.3

A. M. Busch et al.

 erausforderungen und Lösungen im öffentlichen H Gesundheitssystem

Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema Primärversorgung seitens der Sozialversicherung in Österreich war unter anderem die Publikation The strength of primary care in Europe von Dionne Kringos (2012). Hierin zeigte sich, dass das österreichische System der Primärversorgung im europäischen Vergleich zu den schwächsten in Europa gehört(e). Daraufhin wurde das Thema in die Gesundheitsreform 2013 aufgenommen und die Rahmenbedingungen für die Primärversorgung wurden durch die Gesundheitsreform 2017 festgelegt. In diesen Prozess waren wichtige Stakeholder aus Politik, Sozialversicherung und Ärztekammer involviert. Im Rahmen der Gesundheitsreform wurde formuliert, dass bis zum Jahr 2021 österreichweit 75 Primärversorgungszentren einzurichten sind. Die Umsetzung soll primär unter partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Sozialversicherung und Ärztekammer erfolgen (Hauptverband 2018).

Die Gesundheitsausgaben sind in Österreich in den letzten Jahren stetig gestiegen. Wurden 2004 noch 9,7  % des BIP für Gesundheit aufgewendet, waren es 2017 bereits 10,4 % (diese Prozentzahl umfasst öffentliche und private Ausgaben). Auffällig sind insbesondere die hohen Ausgaben in der öffentlichen stationären Versorgung (d. h. der Versorgung im Krankenhaus, die aus öffentlicher Hand finanziert wird). Hierauf entfielen im Jahr 2004 etwa 7,7 Mrd. Euro, im Jahr 2017 waren es bereits etwa 13 Mrd. Euro (Statistik Austria 2019). Diese hohen Ausgaben im stationären Bereich lassen sich u. a. durch die eingeschränkten Öffnungszeiten und damit verbundenen geringen Verfügbarkeiten von niedergelassenen Ärzten begründen. Als Konsequenz suchen viele Patienten ein Krankenhaus auf, obwohl in vielen Fällen ein Besuch in einer Arztpraxis ausreichend wäre (Osztovics et al. 2018). Um auch in Zukunft dem Anspruch einer hochwertigen und qualitätsgesicherten Versorgung bei knappen Mitteln gerecht zu werden, ist der effiziente und gleichzeitig transparente Umgang mit den verfügbaren Ressourcen erforderlich (Habima et al. 2015). Die Sozialversicherung als zentraler Akteur des österreichischen Gesundheitssystems hat hierfür die innovative Idee der Primärversorgungszentren für Österreich entworfen. Mit diesen Gesundheitszentren, die die Leistungen verschiedener Fachgruppen für Patienten an einer Stelle bündeln, wird auf sich verändernde gesellschaftliche, medizinisch-technologische, aber auch ökonomische Rahmenbedingungen eingegangen (Hauptverband 2019a). Dies bedeutet eine große Veränderung für die Gesundheitsbranche und allen daran beteiligten Stakeholdern. Diese Stakeholder setzen sich aus einer vielschichtigen und komplexen Verflechtung von Akteuren zusammen. Dies sind einerseits Institutionen aus dem öffentlichen Sektor, wie der Hauptverband der Sozialversicherungsträger und das Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, andererseits Institutionen aus dem privaten Sektor wie private Versicherungen oder auch die Pharmaindustrie. Auch Interessensvertretungen der betroffenen Individuen sind als Stakeholder anzufüh-

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ren, dazu zählen unter anderem die Ärztekammer und die Patientenanwaltschaft. Die jeweiligen Akteure in diesem Geflecht sind durch unterschiedliche Mechanismen motiviert und verfolgen teilweise unterschiedliche Ziele, wie beispielsweise Kosteneinsparungen, politische Agenden oder auch Änderung der Beitragszahlungen. Die Rahmenbedingungen für das Projekt Primärversorgung wurden mit der Gesundheitsreform 2017 festgelegt. Bis 2021 sollen 75 Primärversorgungszentren österreichweit errichtet und primär unter partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Sozialversicherung und Ärztekammer umgesetzt werden. Ziel ist eine bessere, wohnortnahe medizinische Versorgung im niedergelassenen Bereich und damit verbunden weniger stationäre Aufenthalte in Krankenhäusern. Erste umgesetzte Projekte zeigen, dass dieses Konzept an manchen Standorten erfolgreich ist, an anderen hingegen, wie zum Beispiel in Wien Donaustadt, weniger erfolgreich. Laut Presseberichten scheint die Auslastung des Zentrums zu Beginn geringer als erwartet gewesen zu sein, was zu Spannungen zwischen den betreibenden Ärzten, der Ärztekammer und der Wiener Gebietskrankenkasse geführt hat (Die Presse 2018). Unter Primärversorgungszentren werden in diesem Beitrag Gesundheitszentren verstanden. An einem Standort arbeiten angestellte Mediziner verschiedener Fachrichtungen gemeinsam mit Leistungserbringern weiterer Gesundheitsberufe wie Pflegehelfern zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht eine kontinuierliche, koordinierte und interdisziplinäre Behandlung und beispielsweise den Aufbau von Disease-Management-­Programmen für chronisch Kranke. Weitere geplante Vorteile für Patienten sind die regelmäßige Evaluation von Service- und Behandlungsqualität, längere Öffnungszeiten im Vergleich zu niedergelassenen Ärzten sowie höhere Transparenz bei der Terminvergabe. Ärzte können vor allem von der Teamarbeit sowie von geregelten Arbeitszeiten im Vergleich zum Krankenhaus profitieren.

8.4

Eine Analyse der Einführung von Primärversorgungszentren

Um zu verstehen, wie die innovative Idee der Primärversorgungszentren in Österreich entwickelt und eingeführt wurde, wird dieser Prozess anhand des theoretischen Modells der dynamischen Kompetenzen nach Teece (2007, 2014) analysiert. In einem ersten Schritt werden die spezifischen Kompetenzen (die im gesamten die dynamischen Kompetenzen bilden) beschrieben. Die spezifischen Kompetenzen reihen sich in der Praxis zumeist wie Prozessphasen aneinander und werden daher nachfolgend als Phasen bezeichnet. In einem zweiten Schritt werden aus der akademischen Literatur abgeleitete Fragen in Bezug auf die jeweilige Kompetenz (Phase) präsentiert und mit Beispielen (auf Basis der Sekundärliteraturrecherche) hinterlegt. Anhand dieser Fragen können Organisationen ihre eigenen Kompetenzen hinterfragen und entwickeln (in Anlehnung an Güttel 2006; Kump et al. 2018).

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8.4.1 Phase 1: Suche Die Suchkompetenz bezieht sich auf die routinierte Suche nach Informationen und Wissen, welches dazu führt, neue Geschäftsmöglichkeiten oder Innovationen aufzuspüren. Die Suchkompetenz ermöglicht eine systematische Umweltbeobachtung, um dadurch effektiv neue Möglichkeiten zu erkennen. Beispiele für Suche sind regelmäßige Teilnahmen an Konferenzen, Abonnieren von Newslettern, Betreiben von Marktforschung und Austausch mit diversen Stakeholdern. Die Beantwortung der folgenden Fragen gibt Aufschluss über den Entwicklungsgrad der Suchkompetenz einer Organisation (siehe Tab. 8.1).

Tab. 8.1  Beispielantworten und Ergebnisse zu Suche. (Quelle: eigene Darstellung nach Güttel 2006; Kump et al. 2018; Teece 2007, 2014) Beispiele, wie die Sozialversicherung die fortlaufende und routinierte Suchkompetenz ausüben könnte:

Beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger ist ein Beirat eingerichtet, der die Anliegen der Versichertengemeinschaft und der Leistungsbezieher wahrnehmen soll. Durch die Einrichtung der Beiräte soll auch im Bereich der Dachorganisation das Ziel einer versichertennahen Verwaltung sichergestellt werden Es gibt Ombudsstellen als Anlaufstellen für Patienten bei den einzelnen Sozialversicherungsträgern, um Missverständnisse und Konflikte zu lösen. Durch den Kundenkontakt können Trends und Bedürfnisse frühzeitig wahrgenommen werden Regelmäßiger Austausch auf politischer Ebene sowie auf Ebene der Sozialversicherung mit anderen Ländern (z. B. Deutschland), die ein ähnliches Gesundheitssystem haben. Mit einem Blick über die Landesgrenzen hat die österreichische Sozialversicherung daher viele Möglichkeiten, sich über Trends und Lösungen in Bezug auf Herausforderungen in der Gesundheitsbranche zu informieren und von anderen zu lernen Unterschiedliche Stakeholder innerhalb des österreichischen Gesundheitssystems (z. B. Ärztekammer, Ministerium) können mittels regelmäßigen Austausches (über gemeinsame Projekte oder Arbeitsgruppentreffen) relevante Informationen generieren (Fortsetzung)

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127

Tab. 8.1 (Fortsetzung) Als Konsequenz dieser routinierten Suche der Sozialversicherung in Kooperation mit anderen Stakeholdern könnten (im Rahmen unserer Sekundärdatenanalyse) die Information entstanden sein (Beispiele):

Das Gesundheitswesen leidet unter der geteilten Zuständigkeit von Finanzierung und Steuerung (intramuraler Bereich: Bundesland, extramuraler Bereich: Sozialversicherung). Im Zusammenhang dieser Situation mit der aktuellen Organisation der ambulanten Versorgung, schreitet die Fragmentierung des Gesundheitssystems voran. Als Folge entstehen Mehrfachuntersuchungen, Qualitätsverluste bei der Patientenbetreuung und erhöhte Krankenhauseinweisungen Es kommt zu einer hohen Anzahl an Krankenhausaufenthalten in Fällen, in welchen eine ambulante Versorgung im niedergelassenen Bereich oft effektiver oder ausreichend wäre. Dadurch steigen die Gesundheitskosten, da Krankenhausaufenthalte Kostentreiber sind Eingeschränkte Öffnungszeiten und Erreichbarkeiten im niedergelassenen Bereich (z. B. individuelle Öffnungszeiten jeder Arztpraxis, keine Öffnungszeiten an Wochenenden) erschweren die Versorgung und führen unter anderem zu Krankenhausaufenthalten Die Sozialversicherung beobachtet einen stetigen Zuwachs an chronisch Kranken, die eine koordinierte und kontinuierliche Betreuung brauchen. Diese kann durch einzelne Ärzte, die nicht entsprechend vernetzt sind, nicht gewährleistet werden. Eine Vernetzung und Zusammenarbeit von Leistungserbringern sind erforderlich In Österreich werden oft eine Intransparenz und lange Wartezeiten bei Terminvergaben wahrgenommen (beispielsweise für ein MRT). Die Folge ist nicht nur Unzufriedenheit seitens der Patienten, sondern oft auch höhere Kosten durch zu späte zielgerichtete Behandlung Schnittstellenprobleme zwischen Leistungserbringern führen zu Informationsverlust (z. B. Patienten vergessen beim Besuch mehrerer Ärzte Details, ältere Menschen erinnern sich nicht mehr an Anweisungen von Ärzten). Dieser Informationsverlust kann eine zielgerechte Behandlung erschweren und/oder verzögern und somit höhere Kosten verursachen

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Suche: Fragen, die sich Organisationen stellen können

• Wie gut gelingt es der Organisation, routiniert über neue Trends und Innovationen (in der Branche) auf dem Laufenden zu bleiben und die eigene Perspektive regelmäßig zu erweitern? • Gibt es geeignete Kanäle, über die fortlaufend neue Informationen in die Organisation gelangen? Sind diese Informationen ausreichend, sodass keine potenziell relevanten Trends übersehen werden? Werden alle potenziell relevanten Quellen regelmäßig genutzt? • Kennt die Organisation die Best Practices sowie die Worst Practices in der Branche? Weiß die Organisation über die Veränderungen des Marktes Bescheid? • Ist die Organisation auch laufend über die Veränderungen in anderen Regionen und Märkten informiert? • Kennt die Organisation die Bedürfnisse der Kunden? Abschn. 8.4.1 präsentiert Fragen, welche sich Organisationen stellen können, um ihre Suchaktivitäten abzufragen und eventuell zu entwickeln. Diese Fragen können zum Beispiel in Bezug auf die Gesamtorganisation und/oder einzelne Projekte gestellt werden. In Tab. 8.1 werden Beispiele beschrieben, wie die Sozialversicherung die Kompetenz Suche ausgeübt haben könnte. Diese Beispiele können als Orientierung zum Verständnis und der Beantwortung der zuvor präsentierten Fragen herangezogen werden.

8.4.2 Phase 2: Chancen ergreifen Die Kompetenz zum Ergreifen von Chancen bezieht sich auf die Entwicklung von konkreten Ideen, Lösungen und Innovationen. Darüber hinaus inkludiert diese Kompetenz auch die Entscheidung für oder gegen eine nachfolgende Implementierung einer Innovation. Die Schlüsselaktivitäten in dieser Phase sind Reflexion und Absorption (siehe Tab. 8.2). Reflexion bedeutet die Beobachtung der eigenen Organisation durch etablierte Routinen der Fremd- und Selbstreflexion. Absorption bezieht sich darauf, dass die gesammelten Informationen gezielt gefiltert werden. Das bedeutet, dass die Organisation Informationen mit dem „Innen“ (z.  B.  Ressourcen im Unternehmen, Kompetenzen der Organisation) und dem „Außen“ der Organisation (z. B. Markt, Region, Kunden) abstimmt. Diese Reflexion und Absorption ermöglichen die gezielte Entscheidung für eine Innovationsidee (zumeist aus einem Pool von mehreren entwickelten Ideen und Lösungen).

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Tab. 8.2  Beispielantworten und Ergebnisse zu Chancen ergreifen. (Quelle: eigene Darstellung nach Güttel 2006; Kump et al. 2018; Teece 2007, 2014) Beispiele, wie die Sozialversicherung die fortlaufende und routinierte Ergreifung von Chancen ausüben könnte:

Als Konsequenz dieser routinierten Ergreifung von Chancen könnten (im Rahmen unserer Sekundärdatenanalyse) die folgenden Ideen und Aktivitäten entstanden sein:

Reflexionsmeetings mit involvierten Stakeholdern, beispielsweise im Rahmen einer Tagung für Ärzte, Gesundheitsberufe und politische Verantwortungsträger zur Umsetzung der Primärversorgung (Welldone Pressemeldungen 2018) Regelmäßige Evaluierung von Pilotprojekten, beispielsweise des Primärversorgungszentrums Mariahilf in Wien durch die Gesundheit Österreich GmbH, des Forschungs- und Planungsinstituts für das Gesundheitswesen und der Kompetenzund Förderstelle für Gesundheitsförderung in Österreich (Gesundheit Österreich 2017) Neben der Evaluation einzelner Projekte werden auch die Auswirkungen auf das Gesamtsystem betrachtet. Zu diesem Zweck wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts Methoden und Indikatoren entwickelt, um die Veränderungen in der Versorgung zu „monitoren“, damit die richtigen Schlüsse für eine Weiterentwicklung der Primärversorgung gezogen werden können. Diese theoretische Entwicklung des Monitorings befindet sich derzeit im praktischen Aufbau (Hauptverband 2018) Andere Länder kämpfen mit ähnlichen Problemen und haben teilweise schon Lösungen entwickelt. Beispielsweise wurde in Deutschland insbesondere auf regionaler Ebene eine Vielzahl von Disease-Management-Programmen und Programmen der integrierten Versorgung umgesetzt. Die österreichische Sozialversicherung kann die entwickelten Lösungen und die Erfahrungen und Konsequenzen der Umsetzung nutzen und darauf aufbauen Es bedarf Kommunikation und Kooperation zwischen Sozialversicherung, Ärzten und Patienten zu einer besseren Nutzung und Verteilung vorhandener Ressourcen (z. B. bessere Verteilung zwischen Allgemeinmedizinern und Fachärzten). Dadurch sollen Mehrfachuntersuchungen, Qualitätsverluste bei der Patientenbetreuung und erhöhte Krankenhauseinweisungen reduziert werden. Nach einer intensiven Reflexion ist das Konzept der Primärversorgungszentren in diesem Zusammenhang als Lösungsidee entstanden Die Einführung neuer Konzepte startet meist in kleineren Pilotregionen, um sie besser evaluieren, reflektieren und anpassen zu können, bevor sie österreichweit ausgerollt werden Das Konzept der Primärversorgungszentren wurde im Rahmen von einzelnen Pilotprojekten ausprobiert. Als Basis dienten hier oft bestehende Gruppenpraxen und es konnte somit auf vorhandenen Ressourcen aufgebaut werden (Hauptverband 2017)

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Chancen ergreifen: Fragen, die sich Organisationen stellen können

• Erkennt die Organisation frühzeitig, wenn eigene Prozesse, Praktiken oder Abläufe veraltet sind und wann etwas verändert werden soll? • Werden positive und negative Erfahrungen gesammelt und dokumentiert, um daraus zu lernen? • Werden Misserfolge stetig kritisch darauf hin analysiert, was schiefgelaufen ist? Werden Erfolgsfaktoren regelmäßig kritisch analysiert? • Werden Abläufe regelmäßig evaluiert und/oder reflektiert, um Verbesserungsmöglichkeiten zu finden? • Wie gut gelingt es, neue Ideen zu verinnerlichen (in konkrete Veränderungsprozesse zu transformieren)? • Gibt es geeignete Kanäle, über die neue Informationen im Unternehmen weitergegeben werden können? Ist die Weitergabe von Informationen ausreichend? Werden diese Informationen in ausreichendem Maß genutzt? • Werden Veränderungsideen auf ihre Umsetzbarkeit hin abgewogen? • Werden bei der Entwicklung von Veränderungsideen Stärken und Schwächen berücksichtigt? • Gelingt ein schneller Anschluss an neues Wissen von außen? • Wird bei der Bewertung neuer Ideen darauf geachtet, was zur Umsetzung noch fehlen würde? • Passen bestehende Ideen und Lösungen in das vorhandene (lokale) Gesundheitssystem, in die vorhandene Systemlogik? Oder passen diese lediglich in die Systemlogik anderer Länder? Abschn.  8.4.2 bietet Fragen an, welche Organisationen verwenden können, um ihre Kompetenz, Chancen zu ergreifen, zu reflektieren. So können Organisationen zum Beispiel evaluieren in welchen Bereichen eventuell Verbesserungspotenzial besteht. Die Tab. 8.2 umfasst illustrative Beispiele, wie die Sozialversicherung eventuell handelt, um Chancen zu ergreifen, und welche Ergebnisse dabei entstanden sein könnten.

8.4.3 Phase 3: Umsetzung Die Kompetenz Umsetzung bezieht sich auf die Einführung und Umsetzung der entwickelten Innovation. Konkret umfasst diese Kompetenz die Aktivitäten Planung und Handlung. Planung bedeutet die Operationalisierung der strategischen Zielvorgaben für die Innovationsideen und umfasst damit die Erstellung von Umsetzungsplänen zur Implementierung von Innovationsideen sowie die Identifikation von damit einhergehenden Barrieren. Handlung bezieht sich darauf, die Umsetzung von geplanten Veränderungsvorhaben letztendlich erfolgreich abzuschließen. Dazu gehört die ausreichende Qualifikation der Personen, welche die Innovation einführen und darauf folgend im Tagesgeschäft operationalisieren sollen, so-

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Tab. 8.3  Fragen und Beispielantworten zu Umsetzung. (Quelle: eigene Darstellung nach Güttel 2006; Kump et al. 2018; Teece 2007, 2014) Beispiele, wie die Sozialversicherung die fortlaufende und routinierte Umsetzung ausgeübt haben könnte:

Als Konsequenz dieser routinierten Umsetzung könnten (im Rahmen der Sekundärdatenanalyse) die folgenden Aktivitäten entstanden sein:

Ein entscheidender Punkt bei der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Ärztekammer ist die Vertragsgestaltung von Leistungserbringungen. Themen, die es zu klären gilt, sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die unterschiedliche Honorierung an unterschiedlichen Standorten oder auch die Art der geregelten Arbeitszeiten (Der Standard 2018) Die Einführung des zweiten Primärversorgungszentrums im Bundesland Niederösterreich dient u. a. der Schließung von Versorgungslücken zu Tagesrand- und Urlaubszeiten und somit zu einer besseren Ressourcenverteilung (Ots 2019) Laut Gesundheitsreform 2017 sind bis 2021 österreichweit 75 Zentren einzuführen. Die einzelnen Bundesländer haben dies in ihre Agenda übernommen. So hat Niederösterreich bisher drei Primärversorgungszentren eröffnet. Bis 2019 sollen drei weitere folgen. Ende 2021 sollen es in Summe 14 werden (NÖN 2018) Die Finanzierung der Primärversorgungszentren kann über Krankenkassen (die jeweilige Gebietskrankenkasse sowie Sonderversicherungsträger), das Land Österreich sowie zum Teil über EU-Mittel erfolgen Die Ausrollung des Projektes Primärversorgungszentrum soll in den einzelnen Bundesländern bis 2021 erfolgen. Bis dahin sind 75 Primärversorgungszentren österreichweit geplant. Die Umsetzung soll unter partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Sozialversicherung und Ärztekammer erfolgen

wie das Zurverfügungstellen von ausreichenden zeitlichen Ressourcen, die eine Umsetzung neben dem dynamischen Tagesgeschäft ermöglichen können (siehe Tab. 8.3). Umsetzung: Fragen, die sich Organisationen stellen können

• Sind klare Ziele für die Umsetzung der Veränderung sowie den Zielzustand nach der Veränderung definiert? • Werden die für die Veränderung notwendigen Ressourcen realistisch geplant? • Ist die Planung flexibel für Abweichungen? • Können Veränderungsvorhaben neben dem Tagesgeschäft umgesetzt werden? • Sind die Verantwortlichen klar definiert? Stehen die relevanten Entscheidungsträger voll und ganz hinter der Veränderung? • Ermöglichen existierende Strukturen und Abläufe die geplanten Veränderungen bzw. werden diese gegebenenfalls angepasst?

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• Steht das notwendige Know-how zur Verfügung? • Werden bei geplanten Veränderungen erforderliche Weiterbildungen der Mitarbeiter berücksichtigt? • Werden erforderliche Strukturen und Abläufe für die Veränderung geschaffen? Abschn.  8.4.3 formuliert Fragen, anhand welcher Organisationen ihre Umsetzungskompetenz hinterfragen können. Die Umsetzung einer entwickelten Innovation stellt einen kritischen Punkt in Organisationen dar, unter anderem weil die effektive und realistische Zuteilung von Ressourcen zu erfolgen hat und eine konkrete Projektplanung benötigt wird. Die Tab. 8.3 zeigt Beispiele und mögliche Konsequenzen, die im Rahmen der Ausübung der Umsetzungskompetenz der Sozialversicherung entstanden sein könnten. Beispiel

Weitere Innovationen, die durch die Sozialversicherung entstanden sind: • Mit der Einführung der elektronischen Krankenversicherungskarte (e-Card) im Jahr 2005 hat die Sozialversicherung mithilfe neuer Technologien administrative Prozesse und Abläufe weiter vereinfacht. • In der Folge wurden weitere Ideen für E-Health-Anwendungen generiert und implementiert, wie beispielsweise die Plattform „meinesv.at“, um Patienten schneller und direkter zu informieren und Prozesse papierlos und schneller zu gestalten, oder auch die elektronische Gesundheitsakte (ELGA), um Informationen zu Behandlungen an einem zentralen Ort zu speichern. • Die sogenannte E-Medikation wird seit 2018 schrittweise eingeführt. Der behandelnde Leistungserbringer kann Einsicht in eine elektronische Liste der Medikamente nehmen, die sein Patient einnimmt, und so neue Verordnungen auf unerwünschte Wechselwirkungen prüfen.

8.5

 rfolge und Herausforderungen der eingeführten E Primärversorgungszentren

Die bisherige Implementierung von Primärversorgungszentren bietet bereits erste Erkenntnisse über die Konsequenzen der Einführung einer solchen Innovation in das Gesundheitssystem. Anhand einer weiteren Sekundärdatenanalyse werden im Folgenden konkrete Erfolge und Herausforderungen beschrieben. Mit Stand Dezember 2018 wurden neun Primärversorgungszentren in Österreich eingeführt (Primärversorgung 2019). Die Zufriedenheit von Leistungserbringern und ­Patienten mit Primärversorgungszentren ist an den verschiedenen Standorten unterschiedlich ausgeprägt.

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Eine Umfrage der Wiener Gebietskrankenkasse zur Zufriedenheit mit dem Primärversorgungszentrum in Wien Mariahilf zeigt, dass 93 % der Patienten mit ihrem Besuch sehr zufrieden waren. 94 % der Patienten schätzen die langen Öffnungszeiten. Für Mitarbeiter ermöglicht die Arbeit im Primärversorgungszentrum familienorientierte, flexible Arbeitszeitmodelle durch größere Teams, mehr Zeit für die Patienten und eine ausgewogene Work-Life-Balance (Hauptverband 2019b). Die zentrale Koordination von Leistungen ermöglicht auch einen Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitsbereich. Das Rollout von in Österreich geplanten elektronischen Anwendungen kann leichter und schneller umgesetzt werden. Bereits im Jahr 2005 wurde mit Einführung der elektronischen Krankenversicherungskarte (e-Card) neben einer administrativen Vereinfachung der bargeldlosen Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens eine wesentliche Voraussetzung für weitere E-Health-Anwendungen geschaffen. So stehen Patienten in einzelnen Primärversorgungszentren derzeit bereits Dienste wie E-Medikation und ELGA zur Verfügung. Diese Dienste ermöglichen sowohl den Leistungserbringern als auch den Patienten jederzeit einen ortsunabhängigen Zugriff auf Gesundheitsinformationen. Dies trägt unter anderem zur Effizienz der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen bei (Sozialministerium 2019). Neben den Erfolgsaspekten gibt es auch einige kritische Punkte bzw. Herausforderungen, vor denen das Konzept der Primärversorgung steht. Mit neun eingerichteten Primärversorgungszentren österreichweit (Stand Dezember 2018) erfolgte die Einrichtung der Zentren schleppender als erwartet und ursprünglich fokussiert (Medonline 2018). Dies liegt unter anderem an Punkten der Unzufriedenheit mit den ersten bestehenden Zentren. Während es an manchen Standorten weniger Patientenaufkommen als erwartet gibt, sind andere Standorte überfrequentiert und es kommt zu langen Wartezeiten. Dieses Ungleichgewicht führt unter den betreibenden Ärzten zu Uneinigkeiten und Kommunikationsschwierigkeiten. Darüber hinaus werden Adaptierungen in Bezug auf die Ausgestaltung der Primärversorgungszentren gemacht (Die Presse 2018). (Der letzte Punkt lässt darauf schließen, dass die Sozialversicherung sich an die Umweltbedingungen anpasst und mithilfe von Suche und Chancen ergreifen die Ausgestaltung von Primärversicherungszen­ tren verbessert.) Darüber hinaus zeigt eine Analyse, dass das „Zusammenwachsen“ der Leistungserbringer ein langwieriger Prozess sein kann, wenn das Primärversorgungszentrum eine Neugründung ist. Größere Erfolge haben jene Primärversorgungszentren vorzuzeigen, welche aus einer bestehenden Gruppenpraxis heraus entwickelt wurden. Aus Patientensicht gibt es teilweise zu wenig vorhandene Kontinuität bezogen auf die Behandlung durch einen Vertrauenshausarzt, sodass es schwierig ist, Vertrauen und eine persönliche Kommunikation aufzubauen (wie es zu dem niedergelassenen Hausarzt oft möglich war/ist; Medonline 2018).

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8.6

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 andlungsempfehlungen aus einer theoretischen H Perspektive

Wie in Abschn. 8.5 beschrieben, haben Primärversorgungszentren Erfolgsaspekte und Herausforderungen zu verzeichnen. Die theoretische Literatur zu dynamischen Kompetenzen gibt – aus einer strategischen Perspektive – Handlungsempfehlungen zur verbesserten Suche, Ergreifung von Chancen und deren Umsetzung und damit zur Entwicklung der dynamischen Kompetenzen von derartigen Organisationen. Nachfolgend werden die relevantesten Handlungsempfehlungen kurz dargelegt. Dies soll Organisationen im Gesundheitsbereich Aufschluss darüber geben, wie die dynamischen Kompetenzen im Gesundheitssystem entwickelt werden können und dadurch folglich der Erfolg von Innovationsprojekten gesteigert werden könnte. (Die folgenden Handlungsempfehlungen erfolgen aus der Literatur und stehen nicht in Zusammenhang mit den (möglichen) Aktivitäten der Sozialversicherung.) Suche

• Routinen für eine regelmäßige und fortlaufende Suche nach Informationen, Trends, Neuigkeiten in der Branche (im lokalen und internationalen Kontext) etablieren, beispielsweise durch die Teilnahme an nationalen und internationalen Kongressen, die regelmäßige Durchführung von Umfragen oder eine regelmäßige Evaluierung durch Patienten. • Alle relevanten Stakeholder und eventuelle weitere Organisationen mit Erfahrung und Expertise in die routinierte Suche einbeziehen. Dies kann beispielsweise durch die Implementierung von institutsübergreifenden Arbeitstreffen oder die ­regelmäßige Organisation von Fachtagungen oder weiteren vergleichbaren Austauschmöglichkeiten erfolgen. • Mechanismen zur Integration einer Außenperspektive einrichten durch beispielweise die Einrichtung eines Beirates, der in regelmäßigen Abständen tagt und Abläufe kritisch hinterfragt. • Einbeziehen der Kunden-(Patienten-)Perspektive (z. B. Standortwahl und Erreichbarkeit und Öffnungszeiten) durch regelmäßige Befragungen und Evaluierungsmöglichkeiten. • … Chancen ergreifen

• Innovationen, die am Markt gefunden werden, reflektieren und auf die Integration und erfolgreiche Umsetzbarkeit im eigenen Kontext abstrahieren (z. B.: Sind die passenden Ressourcen verfügbar? Ist die Innovation mit der aktuellen Gesetzeslage vereinbar?). • Alle betroffenen Personen und Organisationen in die Entscheidung (für eine Innovation) miteinbeziehen, um Engagement für die Entscheidung zu gewinnen und Widerstände bei der Umsetzung zu vermeiden. Dies führt auch zu einer effizienteren Ressourcenverwendung.

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• Rahmenbedingungen klar formulieren und kommunizieren, um spätere Missverständnisse, Ressourcenfragen oder Kommunikationsprobleme zu vermeiden. –– Realistisch sein. Passen die gefundenen Innovationen zu der operierenden Systemlogik, d.  h. dem Muster davon, wie in einem bestimmten System/Kontext agiert wird (siehe Beispiel Systemlogik). –– Sorgfältig abwiegen, welche Innovationen spannend sind und/versus in den jeweiligen Kontext integriert werden können. • … Umsetzung

• Agile Projektplanung für eine klare und realistische Zielsetzung, auf die sich alle einigen können. Ein konkreter und gleichzeitig agiler Projektplan hilft Innovationen im Zeit- und Budgetrahmen umzusetzen. Es sollte Flexibilität eingeplant werden, um auf Ungeplantes und Unvorhergesehenes reagieren zu können. • Die regelmäßige Nutzung eines neuen Produkts oder Services erfordert oft eine Verhaltensänderung bei unterschiedlichen Stakeholdern (z.  B.  Kommunikation mit Hausärzten). In der Planung und Umsetzung sollten mögliche Adaptierungen im Verhalten von Individuen oder Gruppen miteinbezogen werden. Zum Beispiel brauchen Verhaltensänderungen Zeit und können erwartete Projekterfolge zeitlich nach hinten verlagern. • Für eine nachhaltige Umsetzung sind eine regelmäßige Evaluierung und damit verbunden ein regelmäßiges Nachsteuern und Anpassen der Innovation notwendig. • … Die hier dargelegten Handlungsempfehlungen leiten sich aus der Literatur der dynamischen Kompetenzen ab und stellen einen ersten Versuch dar, diese auf das österreichische Gesundheitssystem und folglich auf Organisationen, die im Gesundheitssystem tätig sind, umzulegen. Beispiel für Systemlogik Best-Practice-Beispiele aus anderen Ländern können im eigenen Land scheitern, da die Innovation nicht in die institutionellen Strukturen und die Systemlogik des eigenen Gesundheitssystems eingebunden werden konnte. Während in Deutschland beispielsweise Konzepte der integrierten Versorgung häufig regional umgesetzt werden und es zu „Insellösungen“ kommt, ist durch die zentrale Aufstellung der Hauptakteure in Österreich der Fokus von Beginn solcher Projekte an mehr auf flächendeckende Umsetzung gerichtet. Primärversorgungszentren sind an sich keine neue Idee und werden in anderen Ländern bereits umgesetzt. Die Schwierigkeit besteht darin, das Konzept betreffend die institutionelle Struktur und Systemlogik optimal in das bestehende System zu integrieren. Neben strukturellen Rahmenbedingungen unterscheiden sich auch oft die Bedürfnisse der Patienten sowie des Personals (z. B. Anonymität, Datensicherheit, Kommunikationspräferenzen). Das Gut „Gesundheit“ ist ein „Vertrauensgut“, d. h., das Vertrauen in die Institution an sich, aber auch zu einzelnen Leistungserbringern ist für Patienten elementar. Insbesondere darauf ist bei der Entwicklung und Implementierung von Innovationen einzugehen.

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8.7

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Schlussbetrachtung

Das theoretische Modell der dynamischen Kompetenzen ist in der strategischen Managementliteratur verankert und wird im Zusammenhang mit Innovationsaktivitäten einzelner Unternehmen verwendet. Im Rahmen dieses Beitrags wird das Modell erstmalig auf die Entwicklung und Einführung einer Innovation im (öffentlichen) Gesundheitssystem angewendet. Im Rahmen dieser Analyse können strategische Aktivitäten systematisch aufgezeigt werden und die Komplexitäten der Entwicklung und Einführung dargelegt werden. Die angeführte Analyse beruht auf einer Sekundärdatenanalyse und präsentiert Handlungsanweisungen basierend auf theoretischer Literatur. Da sich die Anwendung von dynamischen Kompetenzen auf das Gesundheitssystem als aufschlussreich erwiesen hat, wäre es interessant, weitere Innovationsprojekte in diesem Markt derart zu untersuchen. Beispielsweise würde auch eine qualitative und quantitative Datenerhebung bei den jeweiligen Stakeholdern viele Einsichten gewähren.

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Dr. Anne Maria Busch, M.Sc.,  ist Stiftungsprofessorin am Competence Center for Strategy and Competitiveness der FHWien der Wirtschaftskammer Wien (WKW). Ihr inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf der Wettbewerbsfähigkeit von Standorten. Vor ihrem Wechsel an die FHWien der WKW arbeitete sie bei Statistik Austria in der Direktion Volkswirtschaft, wo sie sich insbesondere mit den Gesundheitskonten nach dem OECD-­Konzept System of Health Accounts beschäftigt hat. Ihr Doktorat machte sie im Rahmen eines EU-Projektes in Volkswirtschaft zum Thema Gesundheitsökonomie an der Leuphana Universität Lüneburg. Weitere Erfahrungen im Bereich Gesundheit konnte sie bei der Firma IT-Services der Sozialversicherung sammeln, wo sie unter anderem an Projekten zu ELGA gearbeitet hat. Mag. Dr. Renate Kratochvil  ist Forscherin an der BI Norwegian Business School (Oslo) und beschäftigt sich mit dem Thema Strategie und Digitalisierung. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Unternehmen, welche Digitalisierung als Chance nutzen, um interne Prozesse, Praktiken und Strukturen sowie die strategische Ausrichtung des Unternehmens zu erneuern. Des Weiteren umfasst ihre Forschung die Themen strategisches Denken, strategische Entscheidungsfindung und Wissenstransfer (z. B. Problemdiagnose und Lösungsfindung) in Unternehmen. Renate Kratochvil forscht explorativ und ist im stetigen Austausch mit Unternehmen diverser Branchen. Zuvor war Renate Kratochvil an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), dem University College Dublin (UCD) und der FHWien der WKW als Forscherin und Lektorin beschäftigt. Dr. Christina Schweiger  ist Fachhochschulprofessorin an der FHWien der Wirtschaftskammer Wien (WKW) und leitet den Studienbereich Personal & Organisation. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen strategische Veränderungsfähigkeit, organisationales Lernen und Personal- und Organisationsentwicklung.

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Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche Innovationsentwicklung im Gesundheitswesen Matthias L. Zuchowski und Frank Kohler

Inhaltsverzeichnis 9.1  E  inleitung  9.2  Grundlagen des Projektmanagements  9.2.1  Definition und Auswahl eines Projektes  9.2.2  Wesentliche Elemente im traditionellen Projektmanagement  9.2.3  Agiles Arbeiten in Projekten  9.2.4  Hybride Modelle im Projektmanagement  9.3  Phasenmodell  9.4  Erfolgsfaktoren  9.5  Strategisches Management durch Projekte  9.6  Zentrales Projektmanagement  9.7  Projektportfoliomanagement  9.8  Projektbasierte Innovationsentwicklung  9.9  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Etablierung eines professionellen Projektmanagements stellt eine wichtige Voraussetzung für die zielorientierte und erfolgreiche Durchführung von Projekten dar. Dies betrifft in besonderem Maße Organisationen der Gesundheitswirtschaft, welche strategische und operative Projekte in einem sich schnell wandelnden unternehmerischen Umfeld durchführen. Die Wahl der adäquaten Projektmanagementmethodik und der systematische Aufbau von Projektmanagementkompetenz kann ­Gesundheitsorganisationen M. L. Zuchowski (*) · F. Kohler Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_9

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

dabei unterstützen, mit Projekten die strategische Unternehmensentwicklung zu fördern und innovative Strukturen und Prozesse aufzubauen. Projekte zur Entwicklung von innovativen Strukturen, Prozessen oder Dienstleistungen zeichnen sich dabei regelhaft durch eine wesentliche Erhöhung der Anforderung an die Projektmanagementkompetenz der Organisation aus, sodass die organisationale Fähigkeit zum professionellen Management von Projekten auch die Innovationsfähigkeit einer Organisation maßgeblich beeinflusst.

9.1

Einleitung

Mit einem professionellen Projektmanagement wird sichergestellt, dass in Projekten das richtige Wissen, die richtigen Fähigkeiten, Werkzeuge und Methoden angewendet werden. Nur so können die Anforderungen an ein Projekt erfüllt werden (de Wit 1988; Project Management Institute 2017, S. 10–11; Radujković und Sjekavica 2017). Die Anforderungen an ein Projekt richten sich immer an den Zielen der Organisation (z. B. Unternehmen, Institutionen, Einrichtungen) aus und verfolgen diese. Dementsprechend werden die Ziele des Projektmanagements durch die übergreifenden Ziele der Organisation bestimmt. Projektmanagement ist kein Selbstzweck und unterstützt maßgeblich den Erfolg einer Organisation (siehe Abschn. 9.5). Der Zweck und das Ziel sind bedeutende Eingangsgrößen für ein Projekt bzw. sind am Anfang eines Projektes zu erarbeiten. Ebenso ist der Nutzen, der nach einer erfolgreichen Umsetzung des Projektes zu erwarten ist, quantitativ oder qualitativ zu beschreiben. Speziell in der Innovationsentwicklung sind Ziel, Zweck und Nutzen am Anfang des Vorhabens oft schwer zu greifen. Dennoch ist es von entscheidender Bedeutung die Ausrichtung des Projektes am Start festzulegen, auch wenn sich diese im Laufe des Projektes konkretisieren oder sogar ändern. Im Rahmen des Projektmanagements sind geeignete Methoden anzuwenden, um sich den ändernden Rahmenbedingungen und Anforderungen anpassen zu können. Dies kann verhindern, am Ende eines Projektes feststellen zu müssen, dass man an den eigentlichen Bedarfen, Anforderungen oder Zielen vorbeigearbeitet hat. Über ein standardisiertes Phasenmodell (Beispiel siehe Abschn. 9.3) und eingebaute Kontrollpunkte kann vermieden werden, dass sich Projekte vom Bedarf wegentwickeln oder terminlich und kostenseitig aus dem Ruder laufen. In Innovationsprojekten bietet sich hierbei speziell die Nutzung von agilen Methoden an. Agiles Arbeiten ist eine Antwort auf ein unsicheres Umfeld bzw. auf instabile Rahmenbedingungen. Kurztaktiges Vorgehen, Konzentration auf die wertigsten Arbeitsaufgaben, die schnelle Ablieferung von Zwischenergebnissen erlauben das frühzeitige Erkennen von Fehlern und bewirken höhere Leistungen des Teams. In der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis zeigt sich, dass die Anwendung agiler Methoden in vielen unterschiedlichen Projekten möglich ist und zum Erfolg führen kann. Oft werden hierbei klassische, planungsbezogene

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

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Projektmanagementmethoden und agile Methoden kombiniert. Diese Hybridmodelle sind heute in erfolgreichen Unternehmen und Institutionen Realität. Hybride Modelle vereinigen bedarfsorientiert Elemente aus den klassischen und aus den agilen Methoden (Schelle und Linssen 2018, S. 29; Kuster et al. 2019, S. 28–29). In der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis ist häufig zu beobachten, dass Projekte zwar sehr erfolgreich abgeschlossen werden, sich dennoch nach einiger Zeit die Ernüchterung einstellt, dass sich die vorgesehenen Änderungen, der Wandel oder der Erfolg nicht eingestellt haben. Ein professionelles Projektmanagement hat weitergehend die Aufgabe, die Nachhaltigkeit des Projekterfolges sicherzustellen (Mossalam 2018). Auch hierzu sind geeignete Maßnahmen während des Projektes zu ergreifen. Es ist unabdingbar, die Zeit nach dem Abschluss des Projektes zu betrachten. Der Einsatz von Prozessbegleitern oder der Aufbau einer Implementierungsorganisation mit definierten Verantwortlichen sind hierzu wichtige Elemente (Mossalam und Arafa 2016). Ebenso ist die Verfolgung der festgelegten Kennzahlen zur Messung des Erfolges über das Projektende hinaus ein wichtiger Baustein (siehe Abschn. 9.4). Das Prinzip einer institutionalisierten Implementierung könnte widersprüchlich zur zeitlichen Begrenzung eines Projektes verstanden werden. Das Projekt sollte idealerweise zum festgelegten Zeitpunkt beendet und das Projektteam entlastet werden. Es sollte allerdings auch ein Bestandteil des Projektes sein, zum Ende ein Konzept vorzulegen, wie eben diese Nachhaltigkeit sicherzustellen ist. Hierzu gehört zu dem oben Genannten auch die Befähigung der Organisation, den Wandel, der durch ein Projekt herbeigeführt wird, zu verstetigen. Dieser Aspekt ist in innovativen Vorhaben entscheidend, wenn Projekte z. B. zur Neugestaltung von Prozessen, zu starken oder sogar disruptiven Veränderungen in der Organisation führen. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist hier die Zusammensetzung der Teams im Projekt und der Teams und Mitarbeiter, die für die anschließende Implementierung verantwortlich sind. Nur wenn die zu implementierende Modalität zur eigenen Sache jedes einzelnen Beteiligten gemacht wird, wird das Projekt auch nachhaltig wirken. Dies setzt eine gemeinsame Verantwortung aller für die Ergebnisse des Projektes und den zu erreichenden Zustand voraus. Hierzu gehört auch die Fähigkeit, im Projekt und darüber hinaus eine Vision zu entwickeln, die nicht nur auf Einwilligung stößt, sondern genuines Engagement und Teilnahme fördert. Eine paternalistisch verordnete Vision im Projektmanagement erscheint in vielen Fällen kontraproduktiv (Senge 2017, S. 20–21).

9.2

Grundlagen des Projektmanagements

Um Vorhaben in einer Organisation erfolgreich umzusetzen und den Umsetzungserfolg langfristig sicherzustellen, ist demnach die organisationale Fähigkeit zum professionellen Projektmanagement und agilen Arbeiten in Teams notwendig. Daher sollen in Abschn. 9.2 die Grundlagen des Projektmanagements und agiler Arbeitsmethoden im Projekt beschrieben werden.

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9.2.1 Definition und Auswahl eines Projektes Zuerst muss die Frage beantwortet werden, was überhaupt unter einem Projekt zu verstehen ist. Das Project Management Institute (PMI) definiert ein Projekt als ein zeitlich begrenztes Vorhaben mit dem Ziel, ein einmaliges Produkt, eine einmalige Dienstleistung oder ein einmaliges Ergebnis zu schaffen (Project Management Institute 2017, S. 4–5). Ein Projekt ist grundsätzlich zielgerichtet und dient der Erfüllung eines bestimmten Zwecks. Projekte können auf allen Organisationsebenen durchgeführt werden. Jedes Projekt hat einen klar definierten Anfang. Dieser wird durch die Freigabe des Projektauftrages (Projektcharter) und durch einen vom Projektmanager zu organisierenden Projektstart (Kick-off) festgelegt. Das Projektende ist durch die zu erreichenden Ziele und Ergebnisse bestimmt. Das Projektergebnis wird letztlich vom Auftraggeber oder Kunden abgenommen und dadurch das Projektteam entlastet. Projekte können einen organisatorischen Wandel und die gezielte Unternehmensentwicklung befördern (van der Merwe 2002). Aus einem Projekt sollte dabei ein intrinsischer Nutzen für die Organisation ableitbar sein, welcher quantitative oder qualitative Aspekte beinhalten kann (Project Management Institute, S. 5–6). Regelhaft sollten Projekte bzw. die Projektideen innerhalb der Organisation einem Prüfschema unterzogen werden. Vor jedem Projektstart sollte dabei anhand festgelegter Kriterien entschieden werden, ob die Idee als Projekt aufgesetzt oder eliminiert wird. Einen beispielhaften schematischen Ablauf zur Auswahl von anstehenden Projekten zeigt hierzu Abb. 9.1. Über einen Eingangskanal wird eine Projektidee einem Auswahlprozess mit definierten Kriterien unterzogen. Dies führt entweder zum Erfüllen der Kriterien mit Steuerung des Projektes über die Zentralstruktur (rechte Seite der Abb.  9.1) oder zur Nichterfüllung der Kriterien mit Einstellung des Vorhabens oder der dezentralen Abwicklung des Projektes. Projektvorhaben & Ideen

Auswahlprozess Nicht erfüllt Abwicklung über Fachabteilung oder Einstellung des Vorhabens

Zeitlich definiertes und begrenztes Vorhaben / Vorhaben betrifft mehr als eine Fachabteilung / Vorhaben dient nicht allein den wissenschaftlichen Forschungen und Vorhaben mit positivem wirtschaftlichen Effekt (Kosten-und/oder Leistungseffekt) oder Strategische Relevanz für das Krankenhaus ist gegeben oder Vorhaben zur Schaffung struktureller Voraussetzungen

Erfüllt Steuerung des Projektes über das Projektmanagementoffice und Benennung Projektmanager und Start Phase 0

Abb. 9.1  Beispielhafte Darstellung des Projektauswahlprozesses eines Krankenhauses mit zentraler Projektsteuerung. (Quelle: eigene Darstellung)

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

143

9.2.2 Wesentliche Elemente im traditionellen Projektmanagement Unabhängig von der Art eines Projektes, ob es sich um ein Effizienzsteigerungsprojekt, ein Prozessoptimierungsprojekt oder um ein Projekt zur Innovationsentwicklung handelt, werden grundsätzlich die gleichen Elemente des Projektmanagements oder auch Wissensgebiete angesprochen. Die traditionellen Definitionen des Projektmanagements beinhalten zumeist Phasen des Projektverlaufes, welchen bestimmte Wissensgebiete und Aufgaben zugeordnet werden können. Tab.  9.1 zeigt die einzelnen Elemente des Projektmanagements und die zu bearbeitenden Anforderungen in den jeweiligen Projektphasen, welche auch in Gesundheitsorganisationen Anwendung finden können. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Wissensgebiete vertiefend dargestellt und die speziellen Anforderungen für Innovationsprojekte innerhalb dieser benannt. Das Integrationsmanagement vereinigt Aktivitäten, die das Projekt identifizieren und definieren, das Vorgehen im Projekt vereinheitlichen und das Projekt steuern und verfolgen. Hierzu gehören beispielsweise die Erstellung und Verabschiedung eines Projektauftrages (auch Projektcharter) und die Entwicklung eines Projektmanagementplanes. cc Ein Projektauftrag (auch Projektcharter) beinhaltet mindestens die Beschreibung der Projektziele, enthält eine wirtschaftliche Bewertung, die identifizierten wesentlichen Rahmenbedingungen für das Projekt, die erforderlichen Ressourcen und die definierte Projektstruktur (Projektleitung und Projektteam). cc Der Projektmanagementplan (PMP) legt fest, wie das Projekt ausgeführt, überwacht und gesteuert wird. Er vereint alle wesentlichen Dokumente des Projektes, vom Projektauftrag über Termin- und Ressourcenpläne bis zum Inhalt und Umfang des Projektes. Der PMP ist somit das inhaltliche Rückgrat des Projektes. Der PMP wird auch im Laufe des Projektes bei eingetretenen Veränderungen angepasst (vgl. Project Management Institute 2017, S. 82–89). In Innovationsentwicklungsprojekten, bei denen häufig agile Methoden zum Einsatz kommen, wird der PMP regelhaft hochfrequent aktualisiert. Die Verteilung, Kommunikation und Bereitstellung des PMP an alle beteiligten Projektmitarbeiter stellen somit einen bedeutenden Faktor des Projekterfolges dar. Das Scope-Management umfasst die Ausarbeitung und Festlegung der Ziele des Projektes, die Detaillierung der Aufgaben im Projekt und ordnet das Projekt in das organi­ sationale Zielsystem ein. Ein weiteres wichtiges Element des Scope-Managements ist die Festlegung der Akzeptanzkriterien des Kunden für die Projektabnahme. Die Anforderungen an das Ergebnis, sei es an Qualität, Kosten oder zu etablierende Fähigkeiten, sind ebenfalls im Scope-Management zu berücksichtigen. Auch wird dargelegt, wie Inhalt und Umfang verfolgt und gesteuert werden. Kundenanforderungen im agilen Umfeld werden in der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis regelhaft über sog. User Stories beschrieben. Im Terminmanagement werden die erforderlichen Projektschritte, Meilensteine und Prozesse terminlich eingeplant. Jedes Projekt benötigt einen Projektterminplan, welcher

Festlegung wesentlicher Ziele

Phase 0 Anforderung Ausarbeitung und Verabschiedung Projektcharter Phase 1 Vorbereitung Entwicklung Projektmanagementplan, Planung Projektphasen, Aufbau der Projektsteuerung Detaillierung Projekt-­ Scope, Entwicklung, Steuerung und Verfolgung von Akzeptanzkriterien

Erstellung eines groben Terminplans Kostenmanage­ Beschreibung der Festlegung Projektbudget und Einplanung von ment Kosten und Reserven Nutzen des Projektes Qualitätsmanage­ Berücksichtigung ment von Feedback und Erfahrungen (Lessons Learned) aus anderen Projekten

Terminmanage­ ment

Scope- Manage­ ment

Wissensgebiete Integrationsma­ nagement

Steuerung und Verfolgung der Terminplanung Steuerung und Verfolgung der Kosten

Regelmäßige Zusammenfassung von Feedback und Erfahrungen (Lessons Learned) aus anderen Projekten

Finalisierung und Verfolgung des Budgets

Verfolgung der Qualitätsziele, Zusammenführung von Projekterfahrungen

Projektsteuerung einschließlich Änderungsmanagement

Projektsteuerung einschließlich Änderungsmanagement

Steuerung und Verfolgung der Terminplanung

Phase 3 Implementierung Steuerung und Verfolgung des Projektes

Phase 2 Konzeption Finalisierung und Freigabe Projektmanagementplan, Steuerung und Verfolgung des Projektes

Sammlung von Feedback und Erfahrungen (Lessons Learned) aus dem Projekt

Phase 4 Abschluss Projektabschluss, Archivierung, Übergabe an Fachbereiche

Tab. 9.1  Zusammenfassung der wesentlichen Aktivitäten und Anforderungen, die in den jeweiligen Projektphasen zu durchlaufen sind. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an Project Management Institute 2017, S. 20–25 und Kuster et al. 2019, S. 62–63)

144 M. L. Zuchowski und F. Kohler

Stakeholderma­ nagement

Beschaffungsma­ nagement

Risikomanage­ ment

Kommunika­ tionsmanagement

Ressourcenma­ nagement

Identifikation wesentlicher Stakeholder

Wesentliche Risiken identifizieren

Benennung der Team- und Projektleiter

Prüfung der Einbindung externer Partner, Erstellung eines Lastenhefts Initiierung des Stakeholdermanagements

Aufbau Kommunikationskonzept, Berichterstattung, Durchführung des Projektstarts Durchführung einer Projektrisikoanalyse

Erstellung der Ressourcenplanung

Regelberichterstattung in Projektgremien

Projektabhängig Hinzunahme externer Partner, Start von Einkaufsprozessen Weiterführung des Stakeholdermanagements

Weiterführung des Stakeholdermanagements

Aktualisierung, Steuerung Steuerung und Verfolgung und Verfolgung von Risiken von Risiken

Regelberichterstattung in Projektgremien, Methodenworkshops und Teambildung

Entwicklung und Steuerung Entwicklung und des Teams Steuerung des Teams

Kommunikation des Projektabschlusses

Abschließende Bewertung der externen Partner

Umfängliches Feedback im Projektteam, Input für Mitarbeitergespräche Regelberichterstattung in Projektgremien

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche … 145

146

M. L. Zuchowski und F. Kohler

als Mindestanforderung eine Terminierung der wesentlichen Meilensteine erfüllen sollte. Ein Terminplan muss als Aufgabe des Projektmanagements verfolgt und gesteuert werden. In Projekten mit hoher Unsicherheit, z. B. in Innovations- oder Produktentwicklungsprojekten, muss der Zeitplan entsprechen regelmäßig adaptiert werden. Hier empfiehlt es sich, eine rollierende Planung über einen bestimmten Zeitraum durchzuführen. Das Terminmanagement kümmert sich neben der Terminierung der Aktivitäten auch um die Abschätzung der Dauer von Projektschritten. In agilen Projekten wird die Terminplanung oft durch die Planung von festgelegten Zeitsequenzen (sog. Sprints) und die in diesem Zeitsegment zu erledigenden Aufgaben ersetzt. Kostenmanagement beinhaltet die im Projektmanagement notwendigen Prozesse zur Planung, Abschätzung, Budgetierung, Finanzierung und Steuerung von Kosten innerhalb eines Projektes. Ebenso hat das Kostenmanagement die Aufgabe, eine angemessene fi­ nanzielle Ausstattung des Projektes sicherzustellen. Übergeordnetes Ziel ist es, das Projektbudget einzuhalten. Die Projektkosten sind oft stark durch die Personalkosten der Projektmitarbeiter dominiert. Eine Einplanung dieser Kosten erfolgt regelhaft durch Aufwandserfassung, welche allerdings adaptiert an die Projektanforderung und die Projektkomplexität erfolgen sollte. Durch das Qualitätsmanagement im Projekt wird sichergestellt, dass die Projekte in der Qualität durchgeführt werden, wie es die Standards der Organisation vorgeben. Ein eta­ bliertes und standardisiertes Qualitätsmanagement in Projekten kann dabei eine Vergleichbarkeit zwischen Projekten herstellen. Die setzt allerdings eine entsprechende Festlegung von Qualitätskriterien vor Beginn des Projektes voraus. Jedes Projekt benötigt ausreichende Ressourcen. Dies wird über das Ressourcenmanagement sichergestellt. Hierzu gehört nicht nur die Beschaffung einer ausreichenden Anzahl von Mitarbeitern, sondern auch die Überlegung, welche Fähigkeiten, Erfahrung und welche Mitarbeiterprofile zur Umsetzung des Projektes erforderlich sind. Insbesondere bei Anwendung agiler Methoden und bei Innovationsentwicklungsprojekten ist ein reifes Team mit der Fähigkeit der Selbstorganisation von entscheidender Bedeutung (vgl. Schelle und Linssen 2018, S. 291; Stellman und Greene 2019, S. 97–98). Zu den planungsrelevanten Ressourcen gehören auch die finanziellen Mittel, die ein Projekt benötigt. Kommunikationsmanagement umfasst nicht nur die Kommunikation nach außen, wie beispielsweise die Kommunikation über Projekterfolge, Projektstatus, Veränderungen oder getroffene Entscheidungen, sondern auch die Organisation und das Management von Informationen, die innerhalb des Projektes benötigt werden. Die Verteilmechanismen von Informationen sind festzulegen und die Art und Weise, wie Informationen zugänglich gemacht werden, ist zu planen. Ebenso ist es bedeutend zu planen, zu welcher Zeit welche Informationen an Projektbeteiligte (Stakeholder, Auftraggeber, Projektmitarbeiter) weitergegeben werden. Ein ungefilterter oder unsystematischer Informationsfluss in die Organisation kann sich kontraproduktiv auswirken. Es ist alles gesagt, nur noch nicht von allen (Karl Valentin).

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

147

Das Risikomanagement in Projekten wird in der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis häufig vernachlässigt, was regelhaft unerwünschte Projektentwicklungen begünstigt. Insbesondere in Projekten mit hoher Unsicherheit, beispielsweise in der projektbasierten Produktentwicklung und Innovationsentwicklung, müssen Risiken systematisch bewertet und Handlungsvarianten entworfen werden, um das Eintreten von Risiken zu vermeiden bzw. im Falle des Eintretens eines Risikos entsprechend agieren zu können. Risiken betreffen oft wesentliche Aspekte eines Projektes wie Zeit, Kosten, Inhalt und Qualität. Die Risiken sind im traditionellen Projektmanagement mindestens einmal pro Projektphase zu evaluieren. In Projekten, bei denen agile Methoden Anwendung finden (Abschn. 9.2.3), sind die Risiken iterativ zu bewerten (Abschn. 9.2.3). Das Beschaffungsmanagement befasst sich mit dem Vorgehen, wie externe Projektmittel beschafft werden können. In Projekten ist festzulegen, wie der Prozess bei Hinzunahme von externen Dienstleistern oder externen Ressourcen zu steuern ist. Insbesondere sind die Freigabe von Projektmitteln, die Definition von Vertragsinhalten, die Einhaltung legaler Anforderungen (z.  B.  Arbeitnehmerüberlassung oder Werkverträge) sicherzustellen. In Betrachtung der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis zeigt sich, dass dieser Aspekt des Projektmanagements vermehrt zum Risiko wird, wenn eine eindeutige Vorgehensweise nicht festgelegt wurde und die Verantwortlichkeiten nicht definiert sind. Eine ebenfalls häufig vernachlässigte Disziplin des Projektmanagements ist das Stakeholdermanagement. Bereits in der Phase 0, also bei der Initiierung des Projektes (Abschn. 9.3), sollten die relevanten Interessensgruppen eines Projektes identifiziert werden (de Oliveira und Rabechini Jr 2019). Jeder Stakeholder (siehe Definition) sollte beispielsweise mithilfe einer Stakeholdermatrix in seiner Zuordnung zum Projekt eingeschätzt werden. cc Im Projektmanagement können Stakeholder als Person, Gruppe oder Organisation definiert werden, die auf ein Projekt einwirken oder von dessen Auswirkungen betroffen sind oder der Meinung sind, dass sie von Entscheidungen, Vorgängen oder Ergebnissen eines Projektes betroffen sind oder sein könnten (Project Management Institute 2017, S. 721). Die Interessensgruppen, welche auf ein Projekt einwirken, müssen hinsichtlich ihrer möglichen Einflussnahme auf das Projekt analysiert werden. Dadurch können mögliche negative Einflüsse einer oder mehrerer Interessensgruppen auf ein Projekt frühzeitig erkannt werden und es können Gegenmaßnahmen eingeleitet werden (vgl. Schelle und Linssen 2018, S. 110–117). Die Bewertung der Stakeholder kann hierbei in Form einer Matrix durchgeführt werden, welche beispielhaft in Abb. 9.2 visualisiert werden soll. Organisationale Blockaden oder persönliches Gegenwirken können häufig durch ein effektives und nachhaltiges Management der Projektstakeholder bereits im Vorfeld vermieden werden. Aus der Platzierung eines Stakeholders in der Matrix leiten sich mögliche Maßnahmen oder Verhaltensweisen ab. Die in Abb. 9.2 aufgeführten Elemente sind als Ordnungsbegriffe bestimmter Arten von Tätigkeiten und Aktivitäten im Projektmanagement zu verstehen. In allen Projektphasen

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M. L. Zuchowski und F. Kohler Einfluss und Management von Stakeholdern in Projekten

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Gegner: zufriedenstellen

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E

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Einfluss

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U

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O

B P

M

5

L

A

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G

4

K

3

J

2

Y

N

H

D

1 0

F

Mentor: einbinden

Störer: beobachten 0

1

2

3

Z

Unterstützer: informieren 4

5

Interessen

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9

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Abb. 9.2  Beispielhafte Darstellung einer Stakeholdermatrix. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an Project Management Institute 2017, S. 522)

finden sich Aktivitäten, die solchen Elementen oder Wissensgebieten zuordenbar sind (siehe Tab. 9.1). Sie können dabei helfen, die Aufgaben im komplexen Umfeld eines Projektes besser zu strukturieren. Dies führt zu einer festgelegten und institutionalisierten Projektabwicklung. Insbesondere allerdings im agilen Organisationsumfeld, beispielsweise in der Softwareentwicklung, können solche Elemente der optimalen Projekteffizienz im Wege stehen. Aus der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis heraus hat sich gezeigt, dass strukturelle, planerische Elemente und agile Praktiken und Prinzipien sy­ nergistisch kombinierbar sind. In Projekten zur Innovationsentwicklung ist diese Kombination durchaus empfehlenswert. Die Verbindung von Strukturelementen des Projektmanagements und agilen Methoden kann Projekten einen Rahmen geben und eröffnet gleichsam zeitweise die Möglichkeit, durch iteratives, agiles Vorgehen im unsicheren Projektumfeld zu agieren.

9.2.3 Agiles Arbeiten in Projekten Speziell in Projekten zur Entwicklung innovativer Prozesse, Strukturen und Dienstleistungen, in welchen das Umfeld des Projektes häufig sehr unsicher, volatil oder komplex ist, sind die Vorgehensmodelle im traditionellen Projektmanagement oft überfordert bzw. ­ziehen einen nicht zu unterschätzenden Änderungsaufwand nach sich. Die festgelegten Pläne müssen laufend überarbeitet werden, festgelegte Meilensteine werden nicht erreicht, die Projektziele müssen laufend angepasst werden. Dadurch führt, in einem stringent geführten Projekt, jede Abweichung zu Eskalationen und Entscheidungsbedarfen in den

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

149

Projekt- und Steuerungsgremien. Der Einsatz von agilen Methoden oder vielmehr Praktiken (Art der Ausübung einer Tätigkeit) und Prinzipien (Grundsätze des Handelns) agiler Arbeit erlauben einen besseren Umgang mit Volatilität, Unsicherheit und Komplexität. Das am häufigsten eingesetzte agile Konzept Scrum entspricht einem Framework zur Softwareentwicklung, das auf Projektmanagement und Produktentwicklung fokussiert (vgl. Stellman und Green 2019, S. 12). Die in Scrum angewendete agile Arbeitsweise kann sich jedoch auch für andere Arten von Projekten, speziell auch für Projekte im innovativen Umfeld, eignen. Die wesentlichen Kernelemente für ein agiles Arbeiten (vgl. Stellman und Green 2019) werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Das Arbeiten in agilen Teams stützt sich auf drei agile Rollen: den Product Owner, den Agile Master (auch Scrum Master) und das selbstorganisierte Implementation Team. In der traditionellen Arbeitswelt kennt man primär die Rollen der übergeordneten Führungskraft, des Projektleiters und des Mitarbeiters. In agilen Arbeitsmodellen werden hingegen die Verantwortung und die Ausführung von Aufgaben unmittelbar zum Team hin verlagert. Der Agile Master räumt mögliche Projekthindernisse aus dem Weg und ist der Experte für die anzuwendenden Methoden. Der Product Owner hingegen ist für den Erfolg des Projektes verantwortlich und repräsentiert den Kunden bzw. den Auftraggeber. Das Implementation Team arbeitet selbstorganisiert und liefert die (Teil-)Ergebnisse oder Inkremente, welche der Kunde oder Auftraggeber fordert. Das Projektteam entscheidet dabei selbst, wie die Aufgaben umgesetzt werden, trägt aber auch die Verantwortung für die (Teil-)Ergebnisse, die vereinbart wurden. Die selbstorganisierten Teams arbeiten in größtmöglicher Freiheit und sind selbstbestimmt. Dies erfordert jedoch, dass die Tätigkeiten der Mitarbeiter im Team an einer gemeinsamen Vision ausgerichtet sind. Des Weiteren müssen alle Teammitglieder auf Augenhöhe miteinander kommunizieren können. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für agiles Arbeiten ist das Aufteilen der Aufgabe in Arbeitsintervalle. Dieses inkrementelle Arbeiten erlaubt es, erforderliche Korrekturen, neue Anforderungen, veränderte Situationen schnell zu adaptieren. Das Projektteam arbeitet nicht in einem starren, über Monate festgelegten Plan, sondern definiert Aufgaben und (Teil-)Ergebnisse, welche in kurzen Iterationen oder Intervallen abgearbeitet werden. Die Produktvision spielt für das agile Arbeiten eine wesentliche Rolle („Produkt“ steht in diesem Kontext auch für „Ergebnisse“ oder „Projekt“). Zum Start der Arbeiten ist für alle Projektbeteiligten ein gemeinsames Bild oder eine gemeinsame Vorstellung des Projektziels notwendig. Eine klare Produktvision ist die Voraussetzung, dass selbstorganisierte Teams eigenverantwortlich auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Die Produktvision gibt die Richtung vor, setzt den Rahmen für die zu bearbeitenden Inhalte und hilft den Kundenwunsch greifbar zu machen. Wenn eine echte Vision vorhanden ist, können die Beteiligten besondere Herausforderungen erfüllen und lernen aus eigenem Antrieb (vgl. Senge 2017, S. 19–22). Die Produktvision ist die Basis für Anforderungen an das Ergebnis eines Projektes oder Produktes. Diese Anforderungen werden in sogenannte User Stories unterteilt. Die User Stories beschreiben das Problem des Kunden oder des Auftraggebers. Sie stellen heraus, welchen Nutzen der Kunde oder Auftraggeber von einer Umsetzung hat. Die User Stories fokussieren auf die wesentlichen Anforderungen und sollten prägnant formuliert sein.

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

Alle Anforderungen, die definiert wurden, werden geordnet in einem sogenannten Product Backlog gesammelt, welches den vom Projektteam abzuarbeitenden Arbeitsvorrat darstellt. Wesentlich ist, dass der Product Backlog dynamisch ist. Es können also neue Aufgaben hinzukommen, die sich beispielsweise aus neu formulierten User Stories ergeben. Vor jeder Iteration werden die Aufgaben im Product Backlog neu priorisiert. Verantwortlich für den Product Backlog ist der Product Owner. Um über alle Aufgaben ein hohes Level an Transparenz zu erhalten, wird ein Team­ board genutzt. Das Teamboard verschafft dem selbstorganisierten Team einen Überblick aller (Teil-)Aufgaben. Dadurch kann das Team die Kapazitäten und die erforderliche Expertise steuern. Regelhaft sind die Aufgaben im Teamboard innerhalb der Kategorien „zu erledigen“, „in Arbeit“ und „erledigt“ strukturiert. Die Aktualisierung des Boards erfolgt beispielsweise in einem täglichen kurzen Meeting (sog. Stand-up). Um die Komplexität und die Unsicherheiten in einem Projekt zu managen, können, wie bereits dargestellt, die Projektaufgaben in Iterationen abgearbeitet werden. Diese sogenannten Sprints teilen die vielen Aufgaben in Teilaufgaben auf, die dann in festgelegten Intervallen abgearbeitet werden sollen. Auf der Einheit Sprints basiert das gesamte agile Arbeitsmodell. Das Team legt hierbei ein immer gleichbleibendes Zeitintervall fest. Das Zeitintervall liegt zwischen einer und vier Wochen. Die festgelegten und gleichbleibenden Zeitintervalle erzeugen eine zeitliche Projekttaktung. Das Team legt den Arbeitsumfang jedes Intervalls selbstständig fest und die Aufgaben werden aus dem Product Backlog entnommen. Wenn mehrere Teams parallel arbeiten, kann auch eine Synchronisierung der Teams durch die festgelegten Zeitintervalle vereinfacht werden. Das jeweilige Projektteam konzentriert sich ausschließlich auf die Abarbeitung der vereinbarten Pakete, welche zum Start des Sprints gemeinsam festgelegt wurden. Am Ende des Sprints werden die erarbeiteten Ergebnisse mit den Anforderungen abgeglichen. Nach jedem Intervall wird dem Kunden oder Auftraggeber durch Einschaltung des Product Owner ermöglicht, die Ausrichtung des Teams nachzusteuern. Bevor der Sprint startet wird eine Sprintplanung durchgeführt. Je schneller und öfter sich die Kundenanforderungen ändern, desto schwieriger ist es, häufig langfristige Schritte zur Erreichung des Projektzieles zu planen. Die zeitliche Begrenzung eines Sprints kann hierbei die Komplexität der Aufgabenstellung reduzieren. Alle Arbeitspakete, die für diesen Sprint festgelegt werden, sind am gleichen Ziel des Sprints ausgerichtet. Dies kann helfen, die Planungsaufwendungen und den administrativen Aufwand im Projekt zu reduzieren. Auf Basis des Product Backlog erarbeitet sich das Team ein gemeinsames Verständnis für die im nächsten Sprint zu erledigenden Aufgaben. Das Team prognostiziert die Aufgaben für den anstehenden Sprint, welche realistisch erledigt werden können, und das am Ende des Sprints zu erreichende Ergebnis. Ein regelmäßiges Abgleichen aller Teammitglieder über das Erreichte und das noch zu Erreichende ist ein wesentliches Element des agilen Arbeitens. Der Abgleich findet innerhalb der Stand-up-Meetings statt. Stand-up-Meetings können die Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit eines Projektes erhöhen. Dies geschieht durch die Fokussierung auf die wertigsten Arbeitsschritte. Mögliche Barrieren können, beispielsweise unter Einbeziehung

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

151

des Agile Master, somit früher erkannt und eliminiert werden. Das Teamboard des Projektteams wird während des Stand-up-Meetings kontinuierlich aktualisiert. Nach Beendigung des Sprints wird das Sprintreview abgehalten. Hier nimmt der Product Owner als Kundenvertreter oder Auftraggeber teil. Aber auch alle interessierten Stakeholder können dem Review beiwohnen. Die Ergebnisse des Sprints werden durch das Team präsentiert und das Projektteam erhält somit unmittelbar Rückmeldung vom Kunden oder Auftraggeber. Durch die kurzen Abstände der Reviews ist es möglich, die Ergebnisse oder das Produkt schneller und flexibler an die Kundenanforderungen anzupassen. Bei korrekter Anwendung der Methodik wird mit dem Product Owner vor dem Sprint festgelegt, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit das Ergebnis als suffizient beurteilt werden kann. Arbeiten in Sprints erfordert eine permanente Rückmeldung betreffend die projektbasierte Zusammenarbeit im Sprint. Hierzu wird eine sogenannte Retrospektive durchgeführt. In Form eines Workshops wird dem Team Zeit für Reflexion mittels Feedback eingeräumt. Hierbei soll explizit nicht der Inhalt des Sprints im Mittelpunkt stehen, sondern die projektbasierte Zusammenarbeit im Team. Die Retrospektive wird routinemäßig im Anschluss an einen Sprint durchgeführt. Der Workshop sollte in einem geschützten Raum stattfinden, um offenes Feedback zu ermöglichen. Der Einsatz eines Moderators für diesen Workshop stellt sich dabei regelhaft als obligatorisch dar. Das agile Arbeiten erfordert differente Kompetenzen der Zusammenarbeit als Arbeiten in traditionell gesteuerten Projekten. Die Zusammensetzung der Teams und die Reife der Teammitglieder sind hierbei entscheidend für den Projekterfolg. Die Einstellung der einzelnen Teammitglieder bezüglich der verwendeten Praktiken ist ebenso für die Effektivität des Teams maßgeblich wie die Verinnerlichung der Projektmitarbeiter, Verbesserungen immer mit Blick auf das gesamte Team anzustreben (vgl. Stellman und Green 2019, S. 10).

9.2.4 Hybride Modelle im Projektmanagement In Abschn. 9.2.2 und Abschn. 9.2.3 wurden die verschiedenen Elemente des traditionellen Projektmanagements und des agilen Arbeitens beschrieben. Einen möglichen Nachteil des traditionellen Projektmanagements können die vorhandene Starrheit der langfristigen Planung und ein geringes Maß der Flexibilität des Projektteams darstellen. Gleichsam bietet dieser Ansatz eine klare Struktur und einen Rahmen für das projektbasierte Arbeiten und eignet sich somit beispielsweise in höherem Maße für die unternehmensweite Steuerung von Projekten. Vorteile des agilen Arbeitens basieren auf der flexiblen und reaktionsfreudigen Durchführung der Projektaufgaben. Durch Methoden, wie Sprints, Teamboards und die Ausrichtung des Teams an einer gemeinsam erarbeiteten Vision sowie der hohe Freiheitsgrad eines selbstorganisierten Teams, wird der Umgang mit Unsicherheit, Volatilität und Komplexität im Projekt vereinfacht.

152

M. L. Zuchowski und F. Kohler

Dies kann speziell für Projekte zur Entwicklung von innovativen Prozessen, Strukturen und Dienstleistungen gelten. Mögliche Nachteile liegen hierbei in den hohen Anforderungen bezüglich Disziplin, Zusammenarbeit, Mindset und Reife, welche durch die Methoden an die Teammitglieder gestellt werden (vgl. Kuster et al. 2019, S. 36–37). Des Weiteren kann festgehalten werden, dass agile Vorgehensweisen nicht alle Projektanforderungen vollständig abdecken können. Elemente zur Risikominimierung oder zum Kostenmanagement sind innerhalb dieses Methodensatzes nur in geringem Maße ausgeprägt. Zum effektiven und zielorientierten Management eines Projektes ist daher unternehmensweit vorzugeben, was notwendigerweise in der Projektplanung festgelegt werden muss und an welchen Stellen Flexibilität zur Projektarbeit benötigt wird. Es ist festzuhalten, dass die beiden dargelegten Modelle der Projektarbeit sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr synergistisch verbunden werden können. Die Kombination aus traditionellem und agilem Projektmanagement führt zu einem hybriden Modell der Projektarbeit (vgl. Schelle und Linssen 2018, S. 290–293; Kuster et al. 2019, S. 34–35). Das hybride Modell nutzt dabei Elemente des traditionellen Ansatzes, wie z.  B. ein vordefiniertes Phasenmodell mit einer stringenten Meilensteinplanung und festgelegten Eskalationsschritten. Zur Abarbeitung der Phasen werden allerdings agile Methoden eingesetzt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das traditionelle Projektmanagement einen positiven Effekt in der zielorientierten Steuerung von Projekten entwickeln kann und agile Methoden dagegen für die Durchführung von Projektaufgaben im unsicheren Umfeld mit hoher Volatilität und Komplexität Vorteile bieten können.

9.3

Phasenmodell

Grundsätzlich durchlaufen alle Projekte, egal ob Projektvorhaben zur Produktentwicklung, Prozessoptimierung, Innovationsentwicklung oder Projekte zur Effizienzsteigerung, bestimmte Phasen. Diese Phasen besitzen definitorisch einen Start- und Endpunkt und bilden in ihrer Gesamtheit einen Projektlebenszyklus, der einer festen Abfolge von Projektphasen folgt (vgl. Project Management Institute 2017, S. 18–21). Grundsätzlich kann der Projektlebenszyklus in fünf Projektphasen eingeteilt werden und jede Phase umfasst bestimmte Prozesse, die in dieser Projektphase typischerweise durchlaufen werden (siehe Tab. 9.1). In Abb. 9.3 werden die Projektphasen des Projektlebenszyklus, beispielhaft angepasst an eine Organisation der Gesundheitswirtschaft, dargestellt. Diese Phasen können gleichsam als Struktur- und Steuerungsmodell für Projekte zur Entwicklung innovativer Prozesse, Strukturen und Dienstleistungen verwendet werden. Die Projektphasen starten und enden mit definierten Projektmeilensteinen. Für die projektbasierte Erarbeitung der in der jeweiligen Projektphase erforderlichen Aufgaben sind, wie im Abschn. 9.2.4 beschrieben, agile Methoden anwendbar. Dies ist abhängig von der Art des Projektes und bei komplexen, mit hoher Unsicherheit behafteten

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

Phase 0

Anforderung

M0 Projektidee

Phase 1

Phase 2

Vorbereitung

M1 Freigabe Projektcharter

Konzeption

M2 Kick-off

M3 Freigabe zur Implementierung

Phase 3

Implementierung

M4 Interne Abnahme

153

Phase 4 Abschluss

M5 Kundenabnahme

M6 Entlastung Team

Abb. 9.3  Darstellung der Projektphasen innerhalb des Projektlebenszyklus eines Projektes. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an Project Management Institute 2017, S. 30)

Projekten können agile Vorgehensweisen einen wichtigen Bestandteil darstellen (vgl. Kuster et al. 2019, S. 37). Die wesentlichen Inhalte der Projektphasen sind in Tab. 9.1 aufgeführt und in Abschn. 9.2.2 sind die dazugehörigen Wissensgebiete erläutert. Die Projektphasen werden regelhaft durch das Erreichen eines Meilensteines beendet bzw. durch das Erreichen des Meilensteines wird die nächste Projektphase gestartet. Am Ende der Projektphase 0 steht die Freigabe eines kongruenten Projektauftrages (auch Projektcharter) durch ein Steuergremium. Erst nach Freigabe von Kompetenzen, Ressourcen und notwendigen Projektmitteln kann das Projekt in die Projektphase 1 übergehen. Sollte das Steuergremium den Projektauftrag nicht verabschieden, wird dieser in einer weiteren Iteration überarbeitet oder die Projektidee wird nicht weiterverfolgt. Der Projektauftrag bzw. die Projektcharter sollte hierbei mindestens die folgenden Informationen beinhalten (siehe hierzu auch Definition Projektauftrag in Abschn. 9.2.2): • • • • • • • • • •

Projektname, Projektmanager, Problembeschreibung und Projektmotivation, wesentliche Ziele des Projektes und Kennzahlen zur Messung der Ziele, Business Case zur Darlegung des Nutzens des Projektes mit qualitativer und quantitativer Bewertung des möglichen Projektnutzens, wesentliche abzuliefernde Ergebnisse des (Teil-)Projektes, grobe Zeitplanung/Meilensteinplanung, Chancen und Risiken des Projektes, projektbezogener Ressourcenbedarf, wesentliche Stakeholder des Projektes.

cc In einem Business Case eines Projektes werden die Ziele und Gründe für die Projektinitiierung genannt. Er soll projektassoziierten Entscheidern und dem Projektteam dabei helfen, den Erfolg des Projektes bei seinem Abschluss gegenüber den festgelegten Projektzielen zu messen. Der Business Case ist die dokumentierte, wirtschaftliche Machbarkeitsstudie eines Projektes und dient der qualitativen und quantitativen Beschreibung des Projektnutzens (vgl. Project Management Institute 2017, S. 30).

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

Es empfiehlt sich, bereits bei der Konkretisierung der Projektidee in Projektphase 0 eine Analyse der Ergebnisse vorangegangener Projekte der Organisation durchzuführen. In der industriell-betriebswirtschaftlichen Praxis hat sich das Format der Lessons Learned bewährt. In Lessons Learned wird das Projekt retrospektiv betrachtet und die Erfolgsfaktoren für ein mögliches Gelingen oder Scheitern des Projektes dokumentiert. Auch die gegebenenfalls im Projekt vorhandenen Hindernisse und Barrieren werden besprochen und festgehalten. Die Erkenntnisse aus dieser strukturierten Analyse werden zentral dokumentiert und anderen Projekten zur Verfügung gestellt. Am Ende der Projektphase 1 steht die Verabschiedung der Zusammenstellung eines Projektteams. Das Projektteam wird zu diesem Zeitpunkt offiziell beauftragt, was regelhaft im Rahmen eines gemeinsamen Projekt-Kick-off-Meetings erfolgt. Im Besonderen in Organisationen der Gesundheitswirtschaft führt die feste Zuordnung von Personalressourcen zum Projekt zu Problemen in der Konzeptphase. Die Bereiche, welche die Ressourcen für Projekte bereitstellen, unterschätzen häufig den Aufwand und die Intensität der zeitlichen Bindung, die von den benannten Mitarbeitern in den Projekten erwartet wird. Es empfiehlt sich daher, mit den Verantwortlichen des Bereiches eine dokumentierte Vereinbarung zur personellen Ressourcenzuordnung zu treffen. In der Projektphase 2, am Ende der Konzeptphase eines Projektes, werden die ausgearbeiteten Konzepte zur Umsetzung durch das Steuerungsgremium freigegeben. Hierzu wird der Projektmanagementplan verwendet. In dieser Projektphase ist es von hoher Bedeutung darzulegen, dass die Projektkonzepte auch zum gewünschten Ergebnis führen können. Deshalb wird der Projektaufsatz anhand der in der Projektcharter aufgeführten abzuliefernden Ergebnisse beurteilt. Nur wenn die Akzeptanzkriterien suffizient erfüllt werden, sollte eine Freigabe der Implementierung durch das Steuergremium erfolgen. Im gegenteiligen Fall erfolgt eine Wiedervorlage nach Iteration. Die Projektphase 3 (Implementierung) endet mit der internen Abnahme bzw. durch die Abnahme des Kunden nach festgelegten Kriterien. Hier müssen die in der Projektcharter vorgesehenen und zu liefernden Ergebnisse nachgewiesen werden. In der Projektphase 4 werden alle projektassoziierten Unterlagen archiviert und an die betroffenen Fachbereiche oder Kunden übergeben. Es wird empfohlen, in dieser Phase eine Lessons Learned, wie weiter oben beschrieben, durchzuführen. Dies kann für nachfolgende Projekte einen wichtigen Beitrag zum Projekterfolg darstellen. Am Ende der Projektphase 4 steht die Entlastung des gesamten Projektteams, was durch eine Bestätigung des Auftraggebers oder Kunden des Projektes erfolgt. Von hoher Bedeutung für die Organisation ist die Sicherstellung der Nachhaltigkeit der erzielten Projektergebnisse. Auch in Organisationen der Gesundheitswirtschaft sind die Fachbereiche häufig überfordert, den zu vollziehenden Wandel, der durch das Projekt initiiert wurde, nachhaltig zu etablieren. Dies gilt maßgeblich auch für Innovationsprojekte im Gesundheitswesen, beispielsweise in der projektbasierten Entwicklung von E-Health-­ Anwendungen (Urueña et  al. 2016). Der Einsatz von sog. Prozessbegleitern bietet hier beispielsweise die Möglichkeit, die neu implementierten, innovativen Prozesse langfristig operativ zu verankern.

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

9.4

155

Erfolgsfaktoren

Für traditionelle Bereichsprojekte oder Projekte zur Entwicklung innovativer Prozesse und Dienstleistungen gelten, unabhängig vom Einsatz der Projektmanagementmethodik, bestimmte Erfolgsfaktoren (vgl. Alias et al. 2014; Radujković und Sjekavica 2017) eines Projektes. Diese sollen im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden. • Es sollte ausreichend Zeit für die Definitionsphase eines Projektes veranschlagt werden (Projektphase 0 und Projektphase 1). Eine gute und wohlüberlegte Projektdefinition ist erfahrungsgemäß entscheidend für den Projekterfolg. • Die dem Projekt zugeordneten Personalressourcen sollten mit den bereitstellenden Bereichen dokumentiert vereinbart werden, denn ohne die erforderlichen Projektressourcen sinkt die Erfolgsrate eines Projektes erheblich. • Die Zielsetzung, Produktvision und die zu erreichenden Ergebnisse sollten mit einer starken Fokussierung auf die Kundenanforderungen festgelegt werden. Diese sollten laufend mit den zu erarbeitenden Projektergebnissen abgeglichen werden. Ein enger Kontakt mit dem Kunden oder Auftraggeber in allen Projektphasen und Sprints ist bedeutend für den Projekterfolg. • Die Teamzusammensetzung eines Projektes ist von hoher Bedeutung. Die besten Individualisten und Fachspezialisten garantieren nicht unbedingt den besten Erfolg. Speziell bei Anwendung agiler Methoden ist ein erfahrenes Team entscheidend für die Effektivität. • Das Projektteam, egal ob im traditionellen oder agilen Projektmanagement, profitiert von einer gemeinsam ausgearbeiteten Projektvision. Diese ist Basis für ein Handeln aus eigenem motivationalen Antrieb. • Die Projektteams brauchen Entscheidungsbefugnisse, um in einem volatilen und unsicheren Umfeld schnell handeln zu können. Dies betrifft im Besonderen auch Innovationsprojekte. • Die Projektphasen sind erst abgeschlossen, wenn die vorgesehenen Bewertungskriterien erfüllt wurden. Ein vorgezogener Übergang in eine folgende Projektphase kann den Projekterfolg nachhaltig beeinträchtigen.

9.5

Strategisches Management durch Projekte

Das strategische Management von Gesundheitsorganisationen wird beeinflusst von den normativen Managementgrundsätzen der Organisation. Elemente des normativen Managements, wie das Unternehmensleitbild, die Unternehmensvision oder die Unternehmensmission, haben eine hohe Beständigkeit und beeinflussen, unabhängig davon, ob sie implizit gelebt oder explizit benannt werden, die grundlegenden strategischen Entwicklungsbereiche der Organisation.

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

Auch die strategische Gesamtausrichtung einer Gesundheitsorganisation besitzt einen hohen Grad der Beständigkeit, wird dabei aber von Faktoren der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umwelt maßgeblich beeinflusst. Die Unternehmensstrategie beinhaltet somit eine inerte Revisionszeit, was im Besonderen für eine Unternehmung der Gesundheitswirtschaft mit sich schnell wandelnden Umweltbedingungen und einer Vielzahl von zu berücksichtigenden Interessensgruppen gelten kann. Die Aufstellung und Verfolgung einer Unternehmensstrategie erfüllen somit Kriterien eines unternehmerischen Projektes (siehe Abschn. 9.2.1), indem sie als zeitlich terminiert, innovativ, zielorientiert, risikobehaftet, interdisziplinär und mit der Notwendigkeit zur Beachtung von differenten Interessensgruppen attribuiert werden können. Bei der Aufgliederung der Unternehmensstrategie zeigt sich, dass diese analog zum Projektportfoliomanagement (Abschn.  9.7) in Geschäftseinheiten, strategische Entwicklungsfelder und operative Bereichsstrategien aufgeteilt werden kann. Auch kann die Gesamtstrategie aufbauorganisatorisch und bereichsgetrennt differenziert werden. Projekte in Gesundheitsorganisationen und das professionelle Projektmanagement können somit zur Translation und Implementierung der Unternehmensstrategie bis in das tägliche operative Handeln der Organisationen einen wichtigen Beitrag leisten (Project Management Institute 2017, S. 6–12; Meskendahl 2010). Hier bestehen auch erhebliche Kontaktpunkte zur projektbasierten Innovationsentwicklung von Prozessen, Dienstleistungen, Systemen, Technologien und Produkten. Diese können dabei innerhalb des Projektmanagements sowohl durch strategische als auch durch operative Projekte abgebildet sein (siehe Abb. 9.4).

9.6

Zentrales Projektmanagement

Trotz der Abwesenheit von umfänglichen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Bedeutung des Projektmanagements in Gesundheitsorganisationen geben verschiedene Arbeiten Hinweise darauf, dass professionelles Projektmanagement bereits heute eine Rolle im effektiven Management von Gesundheitsorganisationen spielt (vgl. Harsch 2018; Srivannaboon und Southall 2011).

Abb. 9.4 Strategisches Management durch Projekte. (Quelle: eigene Darstellung)

Normatives Management Strategisches Management Strategieprojekt

Innovationsprojekt

Operatives Management Operatives Projekt

Innovationsprojekt

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

157

Die Projektmanagementkompetenz der Organisation kann dabei in unterschiedlichen Ebenen der Aufbauorganisation verankert sein. Zum einen ist es möglich, dass die einzelnen Unternehmensbereiche eigene Projektmanagementfähigkeiten vorhalten und Bereichsprojekte selbstständig durchführen. Dies kann einen Kompetenzaufbau von bereichsspezifischen und spezialisierten Projektmanagementfähigkeiten mit einer starken Adaptation des Linienaufbaus des Bereiches innerhalb des Projektmanagements zur Folge haben. Häufig erfolgt dezentrales Projektmanagement auch ausgehend von Stabsstellen. Dieses dezentrale Projektmanagement weist regelhaft Effizienzprobleme bei bereichsübergreifenden und interdisziplinären Projekten auf, zu welchen Strategieprojekte und Innovationsprojekte meist gezählt werden können. Eine weitere Möglichkeit der aufbauorganisatorischen Abbildung von Projektmanagementkompetenzen liegt in der Etablierung von zentralen Projektoffices (PMOs, Project Management Offices). Die Bündelung von Projektmanagementfähigkeiten und -ressourcen als fester Bestandteil der Organisation ermöglicht die institutionalisierte Verknüpfung von Unternehmensstrategie und Unternehmenszielen durch gezieltes Projektportfoliomanagement (siehe Abschn. 9.7). Projektmanagementoffices können somit als Transformationstreiber (Bredillet et al. 2018) innerhalb einer Organisation wirksam werden. Die zentral gesteuerte Projektarbeit kann somit die strategische Ausrichtung einer Unternehmung (Monteiro et al. 2016) sowie die Translation der Strategie in das operative Tagesgeschäft befördern. Weitergehend können Projektmanagementoffices auch als Multiplikator für professionelle und transparente Projektmanagementfähigkeiten innerhalb der Organisation wirken. Der Wissensaufbau kann hierbei auch durch Methodenentwicklung und -einsatz, wie beispielsweise die Etablierung und feste Verankerung der Methodik Lessons Learned innerhalb des Phasenmodells (siehe Abschn. 9.3) des Projektmanagements, erfolgen. Projektmanagementoffices wirken somit auch als Förderer des Wissensaufbaus innerhalb einer Organisation. Ein weiterer Aspekt einer zentralen Projektmanagementstruktur ist die Eingliederung von Entwicklungs- und Innovationsprojekten in die Gesamtstrategie der Unternehmung. Diese Funktion erfüllen Projektmanagementoffices innerhalb des Projektprogramm- und Portfoliomanagements durch zielorientierte Projektsteuerung. Diese Verbindungsfunktion legt gleichsam eine aufbauorganisatorische Nähe zu der obersten Führung der Unternehmung nahe, um sicherzustellen, dass eine enge Verbindung zwischen Strategieentscheidungen und projektbasierter Translation in den strategischen und operativen Projekten besteht.

9.7

Projektportfoliomanagement

Projektportfoliomanagement dient zum einen der Translation der normativen und strategischen Managementvorgaben in eine zielorientierte Projektlandschaft und der Ausrichtung der Projektziele an den übergeordneten strategischen bzw. operativen Zielkorridoren. Zum anderen ist es die Aufgabe des Projektportfoliomanagements eine kontinuierliche Abstimmung zwischen den Projekten auf Ebene der Projektleiter und der Projektteams zu

158

M. L. Zuchowski und F. Kohler

Normatives Management Unternehmensstrategie Zentrales Projektmanagement Projektportfoliomanagement Programm Strategie Projekt 1

Projekt 2

Projekt n

Programm Operations Projekt 1

Projekt 2

Projekt n

Abb. 9.5  Darstellung eines Projektportfoliomanagements mit den beispielhaften Projektprogrammen „Strategie“ und „Operations“. (Quelle: eigene Darstellung)

institutionalisieren. Diese unterschiedlichen Wirkungsweisen des Projektportfoliomanage­ ments werden in Abb. 9.5 grafisch dargestellt und führen zu einer Integration der Strategie- und Innovationsprojekte in das Gesamtprojektportfolio und zu einer Verknüpfung mit zugeordneten operativen und prozeduralen Projektvorhaben. Diese steuernde Funktion des Projektportfoliomanagements zeigt sich in Bezug auf die projektbasierte Innovationsentwicklung als besonders bedeutsam (Brook und Pagnanelli 2014). Im Rahmen des Projektportfoliomanagements können die Projekte der Gesundheitsorganisation in aggregierende Einheiten zusammengefasst werden. Hierdurch entstehen Projektprogramme, welche eine einheitliche Steuerung von gleichgerichteten Projekten ermöglichen. Die Projektprogramme sind hierbei nach den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der Gesundheitsorganisation abzufassen und sollten ein steuerungsfähiges Volumen nicht überschreiten. Jüngere Untersuchungen zeigen dabei, dass ein effektives Portfoliomanagement im Zusammenwirken mit einer zentralen Projektmanagementstruktur die Adaptation der Gesamtunternehmung durch Etablierung neuer Prozesse und Strukturen befördern kann (Bredillet et al. 2018). Im Folgenden sollen mögliche Projektprogramme von Gesundheitsorganisationen beispielhaft dargestellt werden. Beispiel

Ein Krankenhaus kann beispielhaft eine Unterteilung des Projektportfolios in ein strategisches Projektprogramm und ein operatives Projektprogramm vornehmen. Innerhalb des strategischen Projektprogramms werden Projekte gesteuert, welche eine strategische Relevanz für das Krankenhaus haben oder der klinischen Bereichsentwicklung dienen. Innerhalb des operativen Projektprogramms werden Projekte gesteuert, welche Bezug zu Behandlungsprozessen oder operativ-administrativen Abläufen haben. Je nach Schwerpunkt der beinhalteten Projekte kann das operative oder strategische Projektprogramm auch weitergehend unterteilt werden.

9  Professionelles Projektmanagement als Grundlage für erfolgreiche …

159

Eine weitere Möglichkeit zur Einteilung von Projektprogrammen innerhalb eines Krankenhauses bestünde in der bereichsorientierten Sortierung. Hier könnte beispielsweise eine Einteilung in ärztliche Projekte, pflegerische Projekte oder Bauprojekte erfolgen. Nach den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen kann ebenso eine Kombination beider Projektprogrammsysteme erfolgen. Die Aggregation von Projekten in Projektprogramme ermöglicht weitergehend die Zuordnung eines verantwortlichen Projektprogrammmanagers, welcher die Funktion der Projektsteuerung der Einzelprojekte im Gesamtkontext des Projektprogramms sowie (in Anbindung an das Projektmanagementoffice) eine Ausrichtung des verantworteten Projektprogramms innerhalb der Unternehmensgesamtstrategie ermöglicht. Eine beispielhafte aufbauorganisatorische Gliederung eines Projektmanagementoffices in einem Krankenhaus wird in Abb. 9.6 dargestellt. Die organisationale Struktur eines PMO sollte sich hierbei flexibel an die Anforderungen der Organisation an das zentrale Projektmanagement und die Strategieimplementierung anpassen (Monteiro et al. 2016).

9.8

Projektbasierte Innovationsentwicklung

Voraussetzung für eine effiziente projektbasierte Innovationsentwicklung sind eine an die Bedarfe der Organisation angepasste Projektmanagementstruktur sowie das Vorhandensein einer Methodensicherheit und personellen Kompetenz (Cobo-Benita et  al. 2016),

Projekt management of fice Leitung PMO Strategie/Entwicklung

Operations/Prozesse

Bau/Gebäude

Programmmanager

Programmmanager

Programmmanager

Projekt 1 Projektleiter

Projekt 1 Projektleiter

Projekt 1 Projektleiter

Projekt 2

Projekt 2

Projekt 2

Projektleiter

Projektleiter

Projektleiter

Projekt n

Projekt n

Projekt n

Projektleiter

Projektleiter

Projektleiter

Abb. 9.6  Beispielhafte aufbauorganisatorische Gliederung eines Projektmanagementoffices (PMO) eines Krankenhauses. (Quelle: eigene Darstellung)

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

welche eine Adaptationsfähigkeit der Projektsteuerung sowie des Projektteams ermöglicht (Rajegopal 2013). Diese ist notwendig, da das Management von gesundheitsbezogenen Innovationsprojekten in verschiedenen Aspekten von dem in Abschn.  9.3 dargestellten Phasenmodell deviieren kann. Innovationsprojekte können sich dabei auf den unterschiedlichen Ebenen der Projektarbeit eingliedern und sowohl Aspekte von strategischen Projekten (Entwicklung innovativer Strukturen) als auch von operativen Projekten (Entwicklung innovativer Prozesse und Dienstleistungen) vereinigen. In Tab. 9.2 sollen die in Abschn. 9.3, Abschn. 9.4 und Abschn. 9.7 dargestellten Besonderheiten von Innovationsprojekten (vgl. Herstatt und Lühring 2012) zusammenfassend denen eines operativen Bereichsprojektes gegenübergestellt werden.

9.9

Schlussbetrachtung

Im vorliegenden Beitrag wurde ein Überblick über die Grundlagen des Projektmanagements gegeben. Hierbei wurden die wesentlichen Elemente des traditionellen Projektmanagements sowie auch agile Projektmethoden beschrieben und dargelegt, dass diese zum erfolgreichen Projektmanagement auch kombiniert werden können. Es wurde ein PhasenTab. 9.2  Projektphasenmodell. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Project Management Institute 2017, S. 20–25) Projektphase Phase 0 (Anforderung)

Innovationsprojekt Anforderungsprofil häufig unklar, Projektcharter und Projektziele weniger eindeutig spezifizierbar, Terminplanung risikobehaftet, Projekterfahrungen ggf. nicht vergleichbar Projektmanagementplan und Akzeptanzkriterien flexibler, Projektbudget ggf. nur mit größerer Reserve planbar Hohe Anforderung an Projektplanung und Vorplanung von Changemanagement ggf. erforderlich

Bereichsprojekt Anforderungsprofil meist aus dem bekannten Handeln ableitbar, Projektziele und Terminplanung nach operativer Notwendigkeit eindeutig festgelegt, Projekterfahrung meist vorhanden Projektmanagementplan und Phase 1 Kundenanforderungen eindeutig (Vorbereitung) planbar, Projektbudget nach operativen Vorgaben Anforderungen an Phase 2 Changemanagement abhängig vom (Konzeption) Projekt, Projektplanung, Terminplanung und Zielplanung teilweise vorgegeben Steuerung und Verfolgung des Phase 3 Hohe Anforderung an Projektes bei Routineprojekten (Implementierung) Projektsteuerung und flexibles Arbeiten im Projektteam notwendig, erleichtert, Projektmanagement mit bereichsadaptierter Methodik adaptives Projektmanagement erforderlich Projektabschluss eindeutig Phase 4 Abschlusskriterien ggf. nicht mehr identifizierbar und Projektübergabe (Abschluss) zutreffend, systematische nach vorgeplanten Kriterien Projektübergabe und fortgeführte Prozessbegleitung von hoher Bedeutung

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modell zur Steuerung von Projekten erläutert und aufgezeigt, dass strategische und operative Projekte sowie auch Innovationsprojekte unterschiedliche Anforderungen innerhalb der Projektphasen an die Projektmanagementkompetenz der Organisation stellen. Projekte zur Entwicklung von innovativen Strukturen, Prozessen oder Dienstleistungen stellen dabei besondere Anforderungen an die anzuwendende Projektmethodik und erfordern dabei regelhaft einen hohen Grad der Flexibilität der Projektsteuerung. Auch die gezielte Unternehmensentwicklung und die Implementierung einer Unternehmensstrategie bis in die operative Umsetzung innerhalb der Fachbereiche können durch Projekte unterstützt werden. Hierzu sowie zum Aufbau von methodischer Kompetenz und effektiver Projektsteuerung kann der Aufbau von Projektmanagementoffices einen wichtigen Beitrag leisten. Innovationsprojekte gliedern sich so in das Portfolio­ management der Gesundheitsorganisation ein und werden unter Berücksichtigung der normativen und strategischen Ausrichtung der Organisation gesteuert. Die Fähigkeit einer Organisation im Gesundheitswesen zum professionellen Projektmanagement wird somit auch eine Voraussetzung für die erfolgreiche und systematische Entwicklung von gesundheitsbezogenen Innovationen.

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M. L. Zuchowski und F. Kohler

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Dr. Matthias L. Zuchowski,  M. A., leitet seit 2017 die medizinstrategische Entwicklung und seit 2019 das Projekt Management Office der Robert-Bosch-Krankenhaus GmbH. Weitergehend erfüllt er eine Lehrbeauftragung als Fachdozent im Bereich Health Care Management der SRH Fernhochschule Riedlingen, koordiniert die gesundheitsökonomische Forschung der Klinikstandorte und ist als wissenschaftlicher Beirat in ­gesundheitswissenschaftlichen Projekten der Robert Bosch Stiftung engagiert. Als Arzt, Gesundheitsökonom und Healthcare-Manager setzt er sich für eine sachdienliche Verbindung von Medizin und Ökonomie in allen Ebenen der Gesundheitsversorgung ein. Frank Kohler,  Dipl.-Betriebsw. (FH), ist Chief Operating Officer des Robert-Bosch-­Krankenhauses und hat seit 2018 das Projekt Management Office der Klinik aufgebaut. Zuvor war er als Vice President und Partner im Inhouse Consulting der Robert Bosch GmbH tätig. Davor leitete er international unterschiedliche Projekte mit Schwerpunkt Logistik und verantwortete als Bereichsleiter die weltweite Logistik der Bosch Rexroth AG (Mobile Applikationen). Um den Transfer von industriellem Know-how in die Gesundheitsunternehmungen der Robert Bosch Stiftung zu unterstützen setzt er sich für den Aufbau von professionellen Projektmanagementstrukturen an den Standorten der Robert-Bosch-­Krankenhaus GmbH ein.

Regulatory Sandboxes – Ein Instrument für digitale Innovationen im Gesundheitssektor

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Julia Hagen

Inhaltsverzeichnis 10.1  E  inleitung  10.2  Begriffsbestimmungen  10.3  Digitale Innovationen im Gesundheitssektor  10.3.1  Marktentwicklung  10.3.2  Kategorisierung digitaler Innovationen im Gesundheitssektor  10.3.3  Herausforderungen für digitale Innovationen im Gesundheitssektor  10.3.4  Andersartigkeit digitaler Innovationen  10.4  Regulatory Sandboxes  10.4.1  Regulatory Sandbox der Financial Conduct Authority in Großbritannien – Der Beginn  10.4.2  Regulatory Sandboxes in der Finanzbranche in der Europäischen Union – Die weitere Entwicklung  10.4.3  Regulatory Sandboxes außerhalb des Finanzsektors – Die Übertragung des Konzepts  10.5  Diskussion  10.6  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Digitale Gesundheitsinnovationen gewinnen an Relevanz. Gleichzeitig ist der Umgang mit ihnen noch immer schwierig aufgrund verschiedener Herausforderungen. InnovaJ. Hagen (*) health innovation hub (hih) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_10

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J. Hagen

tive Lösungen für den Gesundheitssektor lassen sich schwierig mit bestehenden Rahmenbedingungen zusammenbringen. In anderen Branchen wurden als Antwort auf diese Frage Regulatory Sandboxes eingerichtet. Aus dem Finanzsektor ist eine Vielzahl solcher Ansätze bekannt. Das Kapitel beschäftigt sich mit der Funktionsweise und ersten Erfahrungen aus Regulatory Sandboxes aus dem Finanzsektor und aus anderen Bereichen. Das Ziel besteht darin, zu verstehen, welche Aspekte sich auf eine Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor in Deutschland übertragen lassen könnten. Dafür werden sowohl die Chancen als auch die Risiken betrachtet. Aufgrund der überschaubaren Studienlage und der wenigen Erfahrungen aus anderen Ländern bleiben viele Fragen noch offen. Grundsätzlich zeigt sich, dass es Argumente gibt, die dafür sprechen, die Möglichkeit einer Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor in Deutschland tiefergehend zu analysieren und politisch zu diskutieren.

10.1 Einleitung Digitale Innovationen für den Gesundheitssektor finden zunehmend Eingang in die deutschen Versorgungsstrukturen. Ende 2015 machten die Techniker Krankenkasse zusammen mit dem Hamburger Start-up Sonormed GmbH Schlagzeilen, als mehrere Zeitungen von der „App auf Rezept“ berichteten (vgl. u. a. Zeit Online 2015). In der Zwischenzeit wurden vielseitige weitere digitale Angebote entwickelt. Private Krankenversicherungen und gesetzliche Krankenkassen haben Innovationsabteilungen eingerichtet. Trotz der Weiterentwicklungen auf beiden Seiten finden digitale Innovationen für die Gesundheitsversorgung weiterhin nur langsam Eingang in die regelhafte Versorgung. Zu anderen Sektoren, die hoch reguliert sind, den digitalen Wandel jedoch bereits seit längerer Zeit durchlaufen, gehört der Finanzsektor. Im Finanzsektor hat sich in vielen Ländern (vgl. European Securities and Markets Authority et al. 2018; Agarwal 2018) die Praxis der Regulatory Sandboxes als eine Antwort auf digitale Innovationen durchgesetzt. Vor welchen Herausforderungen stehen digitale Innovationen im Gesundheitswesen? Welche Rolle könnten Regulatory Sandboxes oder ähnliche Ansätze spielen? Was lässt sich von anderen Sektoren für den Gesundheitssektor ableiten? In diesem Kapitel wird zunächst diskutiert, warum digitale Gesundheitsinnovationen nur schwierig den Weg in das System finden. Im Anschluss wird das Konzept der Regulatory Sandboxes vorgestellt. Hierfür werden Beispiele von Regulatory Sandboxes aus dem Finanzsektor sowie aus anderen Sektoren betrachtet. Schließlich wird diskutiert, welche Erkenntnisse sich auf den deutschen Gesundheitssektor für eine Regulatory Sandbox übertragen ließen und welche weiteren Betrachtungen notwendig wären. Dieses Kapitel betrachtet die Funktionsweisen von Regulatory Sandboxes und die Erkenntnisse, die bisher aus diesen Ansätzen gewonnen wurden. Der Fokus liegt nicht auf den unterschiedlichen regulatorischen Anforderungen der Sektoren, sondern auf dem Umgang mit Innovationen.

10  Regulatory Sandboxes – Ein Instrument für digitale Innovationen im …

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10.2 Begriffsbestimmungen Unter digitalen Versorgungsangeboten oder digitalen Innovationen werden in diesem Kapitel alleinstehende Software oder Software in Verbindung mit Hardware verstanden, die eine vorliegende oder eine sich (möglicherweise) abzeichnende gesundheitliche Beeinträchtigung adressieren. Solche digitalen Versorgungsangebote können z. B. in Form einer App auf einem mobilen Endgerät oder internetbasiert in jeder anderen Form funktionieren (Neumann et al. 2016). Diese digitalen Innovationen können sowohl von Bürgern selbst angewandt werden oder im Zusammenspiel mit Leistungserbringern zum Einsatz kommen (Knöppler et al. 2017). Regulatory Sandboxes werden als Umgebungen verstanden, in denen Unternehmen Innovationen unter Marktbedingungen und unter den Augen der Aufsicht testen können, obwohl die Anwendung möglicherweise nicht allen geltenden Regularien genügt. Dabei unterliegen diese Umgebungen in der Regel einer Reihe an Auflagen, die u. a. Verbraucher schützen sollen. Zudem ist die Erprobung in der Regel zeitlich eingeschränkt (vgl. EBA 2017; European Securities and Markets Authority et al. 2018). Auch in Deutschland wird der Begriff „Regulatory Sandboxes“ anstelle einer deutschen Übersetzung verwendet (vgl. u. a. Ringe 2019). Zudem findet die Diskussion hierzu vor allem im Ausland und auf europäischer Ebene statt. Daher wird auch hier der englische Begriff verwendet. Der Ansatz des Sandboxing stammt aus der Softwareentwicklung. Die Sandbox wird hier verwendet, um Programme oder Programmteile, die bisher noch nicht getestet wurden oder denen nicht sicher vertraut werden kann, in einem sicheren Umfeld zu erproben. Der Test erfolgt daher in einer Sandbox-Umgebung, die vom eigentlichen System getrennt ist, um mögliche Schäden von Beginn an zu minimieren. Die Ressourcen und die Freiheit, die innerhalb der Sandbox bestehen, werden im Vorfeld klar definiert und entsprechend den bestehenden Risiken eingeschränkt (Goldberg et al. 1996). Regulatory Sandboxes sind heute insbesondere aus der Finanzwelt bekannt. Die britische Finanzaufsicht (Financial Conduct Authority) etablierte 2016 die erste Regulatory Sandbox. Das Ziel der britischen Finanzaufsicht bestand darin, Innovationen im Finanzsektor zu unterstützen, ohne die Risiken zu ignorieren. Nachdem die Financial Conduct Authority (FCA) 2014 zunächst einen Innovation Hub gegründet hatte, der Unternehmen darin unterstützen sollte, sich im regulatorischen Umfeld zu orientieren, war die Regulatory Sandbox ein nächster Schritt, um Unternehmen in der Erprobung ihrer Produkte und Dienstleistungen unter Marktbedingungen zu unterstützen (Financial Conduct Authority 2015). Dem britischen Beispiel folgten seitdem weitere Länder, sodass u. a. auch Australien, Kanada und Singapur sowie diverse EU-Mitgliedsstaaten eigene Regulatory Sandboxes im Finanzsektor und für andere Bereiche etabliert haben (EBA 2017; European Securities and Markets Authority et al. 2018).

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10.3 Digitale Innovationen im Gesundheitssektor Abschn. 10.3.1 betrachtet zunächst die Marktentwicklung digitaler Innovationen im Gesundheitssektor. Im Anschluss widmet sich der Abschn. 10.3.2 der Kategorisierung digitaler Gesundheitsinnovationen, Abschn.  10.3.3 den Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen, und Abschn. 10.3.4 der daraus resultierenden Andersartigkeit.

10.3.1 Marktentwicklung Auch vier Jahre, nachdem die erste gesetzliche Krankenkasse eine digitale Gesundheitsanwendung für ihre Versicherten finanziert, ist der Markt in finanzieller Hinsicht weiterhin überschaubar. Das Wachstum in diesem Markt ist jedoch weiterhin groß. Der Start-up-­ Barometer von Ernst & Young stellte zwischen 2015 und 2016 einen Anstieg an Risikokapital von 11 Mio. Euro auf 93 Mio. Euro fest (Ernst & Young 2016). Im Vergleich dazu beträgt das Risikokapitalvolumen im Jahr 2018 bereits 317 Mio. Euro (Ernst & Young 2019). Neben dem zu beobachtenden Marktwachstum zeigt sich auch eine Bereitschaft in der Bevölkerung. In der Bevölkerung geben bereits 45 % der Deutschen an, Gesundheits-Apps zu nutzen, während weitere 45  % sich vorstellen können, Gesundheits-Apps zu nutzen (Bitkom Research 2017b). Auch die Ärzteschaft zeigt sich grundsätzlich offen gegenüber digitalen Anwendungen: 53 % der befragten Mediziner im Rahmen einer Befragung des Hartmannbunds und des Bitkom sehen digitale Gesundheitsanwendungen positiv. Eine Mehrheit der befragten Ärzte (69 %) schätzt jedoch ein, dass digitale Gesundheitsanwendungen sich eher an technikaffine Menschen richten (Bitkom Research 2017a). Auch wenn digitale Gesundheitsanwendungen noch nicht in der breiten Versorgung abgekommen sind, ist die Einstellung zu digitalen Gesundheitsanwendungen grundsätzlich positiv  – sowohl bei Versicherten als auch bei Leistungserbringern. Gleichzeitig nimmt global betrachtet die Evidenz zur Wirksamkeit digitaler Anwendungen in den letzten Jahren zu: 2017 lagen bereits 571 Studien zur Wirksamkeit und zum Nutzen digitaler Anwendungen vor. Im gleichen Jahr liefen weltweit noch 860 weitere Studien. Potenziale haben sich insbesondere bei Anwendungen im Bereich Diabetes, Depression und Angststörungen gezeigt (Deutsche Apotheker Zeitung 2017). Das Interesse an digitalen Gesundheitsinnovationen wächst daher stetig.

10.3.2 Kategorisierung digitaler Innovationen im Gesundheitssektor Diverse Publikationen haben sich in ersten Schritten damit beschäftigt, digitale Gesundheitsinnovationen besser zu verstehen. Es wurden verschiedene Versuche angestellt, digitale Gesundheitsanwendungen oder Gesundheits-Apps im Spezielleren zu kategorisieren.

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Dabei identifiziert eine Studie der Bertelsmann-Stiftung unterschiedliche Typen von Gesundheitsanwendungen, die von Dokumentation von Gesundheits- und Krankheitsgeschichte bis hin zu direkten Interventionen reichen. Gleichzeitig fließt eine weitere Dimension zur Kategorisierung ein, die sich an den Schritten des Gesundheitshandelns orientiert (Knöppler et al. 2017). Ein ähnlicher Ansatz, eine Kategorisierung nach Anwendungskontexten, wurde in der CHARISMAH-Studie, die durch das Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegeben wurde, verfolgt (Albrecht 2016). Einen alternativen Ansatz zu diesen Kategorien wurde in einer Studie des IGES-Instituts für die Techniker Krankenkasse gewählt (Neumann et al. 2016). Hier wurden Anwendungen gemäß assoziierten Risiken kategorisiert. Die Risikoklassifizierung unterscheidet hier zwischen der Darstellung allgemeiner Informationen (Risikoklasse 1a), der Sammlung individueller Daten (Risikoklasse 1b), datenbasierten Empfehlungen zur Unterstützung von Leistungserbringern oder Patient in Diagnose und Therapie (Risikoklasse 2) und datenbasierten Empfehlungen zum Ersetzen des Leistungserbringers in Diagnose, Therapie etc. (Risikoklasse 3). Eine solche risikobasierte Klassifizierung ist dem Gesundheitswesen nicht unbekannt, sondern z.  B. aus dem Medizinprodukterecht bekannt (Neumann et  al. 2016). Während die niedrigen Risikoklassen nach Ansicht der Autoren nicht staatlich reguliert werden sollten (Risikoklasse 1a und 1b), sehen die Autoren der IGES-Studie für die Risikoklassen 2 und 3 eine bedingte Zulassung vor, zu der eine Risiko- und Nutzenbewertung gehört. Digitale Anwendungen müssten hierbei beispielsweise mit ärztlichen Interventionen verglichen werden, um die Sensitivität verlässlich festzustellen. Wie mit digitalen Gesundheitsinnovationen im Vergleich zu bestehenden festen Kategorien, wie beispielsweise Arzneimittel, umgegangen werden soll, ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen.

10.3.3 Herausforderungen für digitale Innovationen im Gesundheitssektor Neben der Kategorisierung beschäftigen sich verschiedene Autoren auch mit Überlegungen zum Marktzugang und zur Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsinnovationen. In verschiedenen Arbeiten wurden zu diesen Fragestellungen Systematiken entwickelt und Vorschläge erarbeitet. Während die Vorschläge sich in Teilen unterscheiden, kommen die Autoren zur Erkenntnis, dass digitale Gesundheitsinnovationen vor eine Reihe von He­ rausforderungen stehen (Neumann et al. 2016; Knöppler et al. 2017; Albrecht 2016). Die Hürden für digitale Versorgungsansätze entstünden laut Knöppler et al. (2017) z. B. dadurch, dass die Verfahren für den Marktzugang für Arzneimittel und Medizinprodukte entwickelt worden seien und daher nicht der Realität digitaler Ansätze entsprächen. Digitale Gesundheitsanwendungen stellen gemäß den Autoren häufig hybride Formen aus Prozess- und Produktinnovationen dar, die daher eher als hybride „Lösungen“ bezeichnet werden sollten, was eine Einordnung in bestehende Kategorien erschwert (Knöppler et al. 2017).

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Eine weitere Herausforderung stelle der Einsatz agiler Methoden dar. Da hier Projekte in Teilprojekte aufgeteilt würden und jedes abgeschlossene Teilprojekt unmittelbar von Endnutzern getestet werde, kann das bedeuten, dass Anwendungen sich stark weiterentwickeln (Neumann et al. 2016). Eine weitere Herausforderung stellt der zeitliche Rahmen dar: Entwicklungszyklen digitaler Anwendungen sind im Vergleich zu anderen Produkttypen in der Gesundheitsversorgung (Arzneimittel und Medizinprodukte oder auch neue Versorgungsformen) deutlich kürzer. Da viele digitale Gesundheitsinnovationen direkt auf dem Smartphone für Bürger zugänglich sind, können sie in einem anderen Kontext eingesetzt werden und erreichen neben der klassischen Zielgruppe („Kranke“) auch Gesunde oder Personen mit Risikofaktoren. Der potenziell direkte Zugang zu diesen digitalen Gesundheitsinnovationen über die Endgeräte der Nutzer ist ein weiterer Unterschied zu klassischen Gesundheitsinnovationen. Diese werden in der Regel über Leistungserbringer verordnet oder erbracht oder durch Fachhändler bereitgestellt. Ein weiterer Unterschied zwischen den digitalen Gesundheitsinnovationen und den klassischen Gesundheitsinnovationen besteht im Preis: Dieser ist im Fall digitaler Lösungen oft niedrig, weil die Lösungen sich leicht skalieren lassen. Klassische Gesundheitsinnovationen sind oft hochpreisig. Für Leistungserbringer stellen sich diese Fragen ebenfalls (vgl. Knöppler et  al. 2016, 2017).

10.3.4 Andersartigkeit digitaler Innovationen Sowohl die Diskussion über die Kategorisierung digitaler Gesundheitsanwendungen als auch die unterschiedlichen Ansätze für Wege in die regelhafte Erstattung unterstreichen die Andersartigkeit digitaler Gesundheitsinnovationen im Vergleich zu den bekannten Versorgungsansätzen. Für die weiteren Betrachtungen wird daher festgehalten, dass die regulatorische Landschaft und die neuen digitalen Produkt- und Prozessinnovationen für das Gesundheitswesen nicht reibungslos zusammen funktionieren. Die Andersartigkeit digitaler Gesundheitsinnovationen wird beispielsweise auch durch Entscheidungen des Bundesversicherungsamts (BVA) illustriert: Mehrere Krankenkassen sind bereit eine digitale Innovation als Satzungsleistung für ihre Versicherten anzubieten. Die Satzungsänderung erfordert die Einbindung des Bundesversicherungsamts in diesem Fall. Da sich die Lösung nicht in die bestehenden Kategorien einordnen ließ, wurde sie zunächst abgelehnt (Thelen 2018). Regulatory Sandboxes wurden im Finanzsektor eingerichtet, um die Anders- und Neuartigkeit digitaler Innovationen aufzufangen und den Umgang mit ihnen zu erleichtern. Das Ziel bestand darin, digitalen Innovationen den Zugang zum Markt zu erleichtern und gleichzeitig Verbraucher zu schützen (Financial Conduct Authority 2015). Abschn. 10.4 betrachtet, wie Regulatory Sandboxes versuchen, das Zusammenspiel zwischen Innovationen und regulatorischen Anforderungen für beteiligte Unternehmen und die Aufsicht zu verbessern.

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10.4 Regulatory Sandboxes Abschn. 10.4.1 betrachtet zunächst die erste Regulatory Sandbox aus Großbritannien. Im Anschluss werden weitere Entwicklungen der Regulatory Sandboxes im Finanzsektor (Abschn. 10.4.2) und darüber hinaus in anderen Sektoren betrachtet (Abschn. 10.4.3).

10.4.1 Regulatory Sandbox der Financial Conduct Authority in Großbritannien – Der Beginn Die erste Regulatory Sandbox wurde 2016 von der britischen Finanzaufsicht eingerichtet. The sandbox aims to promote more effective competition in the interests of consumers by allowing firms to test innovative products, services and business models in a live market environment, while ensuring that appropriate safeguards are in place (Financial Conduct Authority 2017).

Der Fokus der Regulatory Sandbox liegt auf der Ermöglichung der Erprobung innovativer Geschäftsmodelle in der Finanzbranche in einem echten Marktumfeld innerhalb der nötigen Sicherheitsschranken für Verbraucher und andere involvierte Akteure (Financial Conduct Authority 2015). Die Regulatory Sandbox arbeitet mit Kohorten. Pro Jahr starten zwei sechsmonatige Erprobungszeiträume. Für die Teilnahme an einer der Kohorten müssen Unternehmen eine Bewerbung einreichen, wozu auch ein eigenes Erprobungskonzept gehört. An die Bewerber werden durch die britische Finanzaufsicht weitere Anforderungen gestellt. Diese bestehen z. B. im Nachweis der finanziellen Tragfähigkeit im Interesse des Schutzes der Verbraucher. Die Erfüllung der Anforderungen der britischen Aufsicht für die Teilnahme an der Regulatory Sandbox erwies sich teilweise als schwierig. In der Praxis zeigte sich, dass die Aufsicht durch die Regulatory Sandbox im engen Dialog mit dem Sandbox-Teilnehmer geeignete Lösungen finden konnte. In einigen Fällen sind z. B. weitreichende Autorisierungen, wie eine vorhandene Versicherungslizenz, notwendig, selbst um eine Erprobung im kleinen Rahmen zu starten (Financial Conduct Authority 2017). Die Regulatory Sandbox operiert in Großbritannien unter bestehenden Regeln. Es wurden keine gesetzlichen Anpassungen vorgenommen. Daher sollen durch die Regulatory Sandbox vor allem die Vorschriften identifiziert werden, die auf den zu erprobenden Fall anwendbar sind. Gleichzeitig sollen Sandbox-Teilnehmer darin unterstützt werden, die sie betreffenden Vorschriften richtig auszulegen (Allen 2017). Die Sandbox bietet den Unternehmen vor allem Zugang zu regulatorischer Expertise. Das bedeutet auch, dass Interpretationshilfen für den Umgang mit bestehenden Regeln in Form von Guidance angeboten werden. Ist die Anwendbarkeit bestehender Vorschriften unklar, stellt die Aufsicht für den Erprobungsfall auf diesem Weg Klarheit her. Halten sich Unternehmen an diese Interpretationshilfen, die von der Aufsicht entwickelt werden, wird von einem regelkonformen Verhalten ausgegangen. In der Konsequenz würde die

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Aufsicht von Maßnahmen der Rechtsdurchsetzung (z. B. Sanktionen) für den Zeitraum der Erprobung absehen. In Einzelfällen hat die britische Financial Conduct Authority auch die Möglichkeit, Vorschriften aufzuheben oder anzupassen. Diese Kompetenz erstreckt sich aber nicht auf EU-Vorschriften und wurde bisher nur sehr eingeschränkt angewandt (Financial Conduct Authority 2017). Ein weiteres Instrument der Aufsicht im Rahmen der Regulatory Sandbox stellen die No Enforcement Letters dar. Dieses Instrument geht einen Schritt weiter als die Interpretationshilfen. Wo Geschäftsmodelle Grundsätze bestehender Regularien infrage stellen, besteht die Möglichkeit, dem Unternehmen zu bestätigen, dass von der Rechtsdurchsetzung während der Erprobung in der Regulatory Sandbox abgesehen wird. Der Einsatz dieser Instrumente liegt dabei vollständig im Ermessen der Financial Conduct Authority. Die Beurteilung erfolgt fallbasiert (Moyle und Maclean 2016). Jedes Unternehmen arbeitet mit einem dezidierten Mitarbeiter (Case Officer) der Aufsicht zusammen, um zu verstehen, wie das neue Produkt sich in die regulatorische Landschaft einfügt und welche Vorsichtsmaßnamen zu ergreifen sind, um eine Erprobung zu ermöglichen. Diese Vorsichtsmaßnahmen bestehen aus allgemeinen Vorgaben, die alle Erprobungen betreffen, und aus individuellen Sicherheitsmaßnahmen. Diese werden spezifisch für jedes Produkt im Dialog entwickelt. Die enge Zusammenarbeit bei der Festlegung von Absicherungsmaßnahmen habe aus Sicht der Aufsicht dazu geführt, dass bei den Unternehmen ein stärkeres Bewusstsein für Verbraucherfragen entstanden sei (Financial Conduct Authority 2017). Für die Teilnahme von Verbrauchern an Erprobungen im Rahmen der Regulatory Sandbox sieht die britische FCA vier verschieden Modelle vor. In der ersten Variante müssen Endverbraucher informiert in die Teilnahme einwilligen. Im zweiten Szenario entscheidet die FCA auf Basis des zu erprobenden Falls und der Vorschläge eines Einwilligungs- und Informationskonzepts des Unternehmens, welche Form der Einwilligung notwendig ist. In weiteren Varianten wird keine spezifische Einwilligung vorgesehen. Stattdessen werden Verbraucher in ihren Rechten gegenüber den Unternehmen gestärkt. Beispielsweise könnte den Verbrauchern ein besonderes Recht auf Kompensation im Schadensfall eingeräumt werden (Financial Conduct Authority 2015). Für Unternehmen habe sich im Fall der Sandbox der britischen Aufsicht gezeigt, dass die Teilnahme von Investoren positiv bewertet wurde. Die Teilnahme habe auch die Glaubwürdigkeit der Unternehmen gegenüber Verbrauchern verbessert (Deloitte 2018). Die britische Sandbox hat sich zudem als sinnvolle Plattform für die Erprobung von Partnerschaften zwischen Start-ups und großen Unternehmen herausgestellt: Die Start-ups profitierten von der Kundenbasis, die großen Unternehmen profitierten von schnellen Prozessen und direktem Zugang zu Innovationen, ohne dass sie diese inhouse selbst entwickeln müssten. Auch wenn es zu früh ist, ein fundiertes Urteil zur Sandbox der britischen Finanzaufsicht zu fällen, ist die Aufsichtsbehörde insgesamt positiv eingestellt und sieht viele Vorteile für beide Seiten (Financial Conduct Authority 2017). Befragungen der Unternehmen, die zu den ersten Kohorten der Regulatory Sandbox gehörten, können das positive Bild bestätigen (Deloitte 2018). Zahlen zu Investitionsvolumina im Finanzsektor in Großbritannien

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legen ebenfalls nahe, dass die FCA positiv auf die ersten Erfahrungen blicken darf (Fenwick et al. 2017). Inwiefern dieser Effekt nachhaltig ist, lässt sich aktuell noch nicht beurteilen.

10.4.2 Regulatory Sandboxes in der Finanzbranche in der Europäischen Union – Die weitere Entwicklung Der Schritt der britischen Finanzaufsicht, die erste Regulatory Sandbox einzurichten, hat schnell weitere Länder inspiriert. Verschiedene EU-Mitgliedsstaaten haben zwischen 2016 und 2018 Regulatory Sandboxes eingerichtet: Neben Großbritannien zählen zu diesen Ländern Dänemark, Litauen, Niederlande und Polen. Weitere Länder haben die Einrichtung angekündigt bzw. befinden sich bereits in Planungen (European Securities and Markets Authority et al. 2018). In einer vergleichenden Analyse der Ansätze in den EU-Mitgliedsstaaten werden gemeinsame Eigenschaften identifiziert: Die Regulatory Sandboxes sind grundsätzlich offen für Innovationen aus unterschiedlichen Bereichen des Finanzwesens und angrenzender Bereiche. Sie sind offen für etablierte Akteure, junge Unternehmen sowie branchenfremde Technologieunternehmen in gleicher Weise. Sie gestatten keine Erprobung in Abwesenheit einer möglicherweise notwendigen Lizenz und genauso wenig außerhalb des Rahmens der EU-Vorschriften. Sie sehen aber Ermessensspielraum bei der Durchsetzung bestehender Regeln oder zeitliche Ausnahmen in einem sehr engen Rahmen vor. Die Regulatory Sandboxes im Finanzbereich sehen dezidierte Teilnahmekriterien und Bewerbungsanforderungen vor. Dazu gehören ein Erprobungskonzept sowie fallbasierte Erprobungsparameter (European Securities and Markets Authority et al. 2018). Bei der vergleichenden Analyse werden auch einige Risiken im Zusammenhang mit Regulatory Sandboxes identifiziert. Es wurde beispielsweise das Risiko geäußert, dass Produkte, die Teil der Regulatory Sandbox sind, fälschlicherweise als von der Aufsicht empfohlen wahrgenommen werden könnten. Dieser klare Vorteil für Unternehmen im Hinblick auf Kunden und Investoren könnte ein Risiko für die Aufsichtsbehörde darstellen, sollte es zu Schäden für Verbraucher oder Investoren kommen. Die im Abschn. 10.4.1 dargestellten Erfahrungen der Regulatory Sandbox in Großbritannien bestätigen dieses Risiko. Es wird daher angeregt, dieses Risiko durch eine klare Kommunikation (z. B. einem Standardhinweis für Verbraucher) zu reduzieren (European Securities and Markets Authority et al. 2018). Zwischen der Aufsicht und den Unternehmen besteht ein enger Dialog. Die Regulatory Sandbox ist dem Ziel verschrieben, Innovation zu fördern. Diese Umstände könnten dazu führen, dass involvierte Teile der Aufsicht das Gemeinwohl aus dem Blick verlieren. Insbesondere durch den dezidierten Mitarbeiter pro Erprobung (Case Officer) im Fall der britischen Regulatory Sandbox könnte es zu einer zu starken Identifizierung mit den Interessen des Unternehmens kommen. Diese Problematik wird als „cognitive capture“ bezeichnet (Allen 2017). Die enge Zusammenarbeit zwischen Aufsicht und Unternehmen im

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Rahmen der Regulatory Sandbox schafft Vorteile: Bessere Kenntnisse und mehr Verständnis für regulatorische Anforderungen aufseiten der Unternehmen und ein direkter Zugang zu neuen Technologien und neuen Geschäftsmodellen aufseiten der Aufsicht. Das Risiko des „cognitive capture“ ließe sich möglicherweise reduzieren: Ein Ansatz wäre eine regelmäßige Kontrolle bzw. ein Abgleich zwischen Mitarbeitern der Regulatory Sandbox mit anderen Mitarbeitern der Aufsicht im Hinblick auf Einschätzungen zu regulatorischen Fragen, Prioritäten etc. (Allen 2017).

10.4.3 Regulatory Sandboxes außerhalb des Finanzsektors – Die Übertragung des Konzepts Wie in den vorherigen Abschnitten erläutert, dominiert der Ansatz einer Regulatory Sandbox aktuell im Finanzsektor. Beispiele außerhalb des Finanzsektors befinden sich noch in frühen Stadien oder sind nicht gut dokumentiert. Dies hat sich im Rahmen der Recherchen gezeigt. Es gibt im Energiebereich ein weiteres Beispiel aus Großbritannien, das auch Grundlage weiterer Überlegungen in Australien sein soll (Australian Energy Market Commission 2018). Daneben hat z. B. die Regierung der Region New South Wales in Australien ab Ende 2016 die Einrichtung einer Reihe von Regulatory Sandboxes – u. a. im Bereich Gesundheit – angekündigt (New South Wales 2019). Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine systematische Übersicht zu Regulatory Sandboxes außerhalb des Finanzsektors, daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass es weitere Initiativen oder Überlegungen zu Sandboxes in anderen Sektoren gibt. Ein konkretes dokumentiertes Beispiel einer Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor findet sich in Singapur. Nachdem Singapur zunächst dem britischen Beispiel gefolgt war und eine Regulatory Sandbox für den Finanzsektor eingerichtet hat, wurde der Gesundheitssektor als weiteres vielversprechendes Feld für eine Regulatory Sandbox identifiziert (Galen Growth Asia 2017). Daraufhin wurde 2018 das Licensing Experimentation and Adaptation Programme (LEAP) durch das nationale Gesundheitsministerium in Singapur eingerichtet. Im Rahmen dieses Programms ermöglicht das Gesundheitsministerium die Erprobung neuer Versorgungsansätze in einem kontrollierten Umfeld. Der erste Anwendungsfall besteht in telemedizinischen Anwendungen und medizinischen Leistungen im häuslichen Umfeld. Bei der Auswahl des Anwendungsfalls verfolgt das Ministerium einen risikobasierten Ansatz (Ministry of Health Singapore 2018). Aktuell nehmen elf Unternehmen an der Erprobung teil (Ministry of Health Singapore 2019). Das Ministerium arbeitet eng mit den Unternehmen zusammen, um Sicherheitsvorgaben zu definieren. Zudem werden die Unternehmen dazu verpflichtet, Daten zu ihren Leistungen und dem Nutzungsverhalten mit dem Ministerium zu teilen (Ministry of Health Singapore 2018). Das Ministerium betrachtet die Erprobung im Rahmen der Regulatory Sandbox als eine Übergangsphase bis zur Lizensierung und damit zur Überführung in einen regelhaften Betrieb in einem angepassten Rechtsrahmen (Ministry of Health Singapore 2019). Die Erprobungsphase dient auch dem Ministerium, den neuen Rechtsrahmen für die ­Erbringung

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telemedizinischer Leistungen mit Stakeholdern für 2020 zu definieren (Ministry of Health Singapore 2018). Auch in anderen Anwendungsbereichen werden in Singapur Potenziale für den Einsatz einer Regulatory Sandbox gesehen (Liew et al. 2019). Zu Beginn dieses Jahres hat auch Korea eine Regulatory Sandbox für den Gesundheitsbereich eingerichtet, die zeitlich beschränkte Zulassungen erteilt (vgl. u. a. Korea Bizwire 2019). Leider liegen hierzu aktuell weder umfassende Materialien in englischer Sprache vor, noch Einschätzungen von Dritten. Eine genauere Betrachtung wird in Zukunft weitere Erkenntnisse zu den Potenzialen für Regulatory Sandboxes im Gesundheitssektor liefern.

10.5 Diskussion Regulatory Sandboxes sind der Versuch, Innovationsfreundlichkeit und Verbraucherschutz zusammenzubringen. Das Bekenntnis zum Schutz der Verbraucher eint den Ansatz des Finanzsektors mit dem Gesundheitssektor. Gleichwohl sind die persönliche Gesundheit und das körperliche und seelische Wohl zweifellos schützenswerter als die finanzielle Lage und der Schutz vor finanziellen Verlusten durch unsichere Produkte oder Dienstleistungen im Finanzbereich. Dieser grundsätzliche Unterschied lässt sich nicht auflösen. Genauso wenig lassen sich Unterschiede in den regulatorischen Zuständigkeiten auflösen. Diese Unterschiede sind im Gesundheitssektor auf das System zurückzuführen, u. a. die Strukturen der Selbstverwaltung und auf die unterschiedlichen regulatorischen Ansätze für u. a. Medizinprodukte, Arzneimittel und neue Behandlungs- und Untersuchungsmethoden. Bisher gibt es wenige Erfahrungen zu Regulatory Sandboxes außerhalb des Finanzsektors. Zukünftige Analysen der jungen Ansätze (z. B. in Singapur oder in Korea im Bereich Gesundheit oder im Energiesektor in Großbritannien und Australien) werden weitere Erkenntnisse für den Nutzen von Regulatory Sandboxes leisten. Unabhängig davon gibt es diskussionswürde Aspekte, die im Folgenden betrachtet werden sollen. Trotz der grundlegenden Unterschiede eint die beiden Sektoren, dass Verstöße stark sanktioniert werden und eine Missachtung bestehender Regeln potenziell eine große Auswirkung haben kann. Die Einhaltung der Vorschriften zum Schutz der Verbraucher – auch bei neuen digitalen Innovationen – zu erreichen, ist ebenfalls ein geteiltes Ziel. Im Finanzsektor ließ sich beobachten, dass die Regulatory Sandbox durch die enge Zusammenarbeit zwischen Aufsicht und Unternehmen bei Letzteren zu einem verstärkten Bewusstsein für Verbraucheranliegen und die Einhaltung von Vorschriften geführt hat. Auch wenn die zuständigen Aufsichtsbehörden im Fall der Regulatory Sandboxes im Finanzbereich die Möglichkeiten hatten, Vorschriften teilweise auszuhebeln oder deren Durchsetzung nicht zu forcieren, wurde an grundlegenden Anforderungen nicht gerüttelt (z. B. Lizenzanforderungen und EU-Vorschriften). Der Fokus besteht daher weniger darin, die Hürden zu senken und damit möglicherweise die Sicherheit von Verbrauchern zu gefährden, sondern vielmehr darin, zu unterstützen, im Rahmen der grundlegenden rechtlichen Vorgaben zu operieren und zu verstehen, wie dieser für das Geschäftsmodell anwendbar ist. Diese Ausrichtung wäre ebenfalls sinnvoll für eine Regulatory Sandbox für

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digitale Innovationen im Gesundheitssektor. Hier wäre es inakzeptabel, grundlegende Regeln, die Patienten und handelnde Akteure schützen sollen, für die Erprobung digitaler Innovationen auszuhebeln. Es erscheint aber sinnvoll, Unterstützung im Navigieren zwischen den regulatorischen Anforderungen und ihrer Auslegung zu bieten. Das ist eine Funktion, die eine Regulatory Sandbox für digitale Gesundheitsinnovationen anbieten könnte. Im Vergleich zu den Regulatory Sandboxes im Finanzsektor gab das Gesundheitsministerium in Singapur einen konkreten Anwendungsbereich vor. Die Regulatory Sandboxes im Finanzsektor waren offener. Dies ist letztendlich auf die unterschiedlichen Zielstellungen zurückzuführen. In Singapur sollen durch die Regulatory Sandbox für Telemedizin unter den Augen der Aufsicht vor allem Erfahrungen aus der Anwendung gesammelt werden, die in einen neuen rechtlichen Rahmen für telemedizinische Anwendungen einfließen sollen. Die Regulatory Sandboxes im Finanzsektor hatten die Förderung von Innovationen im Allgemeinen zum Ziel und sind daher offener. Für eine Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor in Deutschland würde sich daher die Frage stellen, welches Ziel vorranging verfolgt werden soll: Die Co-Kreation eines rechtlichen Rahmens für spezifische neue Anwendungen auf Basis von überwachten Erprobungen oder ein breiter Ansatz zur Unterstützung digitaler Gesundheitsinnovationen im Umgang mit regulatorischen Anforderungen? Grundsätzlich erscheinen beide Zielrichtungen sinnvoll für den Umgang mit digitalen Gesundheitsinnovationen. Auch in Deutschland erscheint es vorstellbar, eine konkrete Anwendung mit einem überschaubaren Risiko zu identifizieren und einen neuen Rechtsrahmen auf Basis einer überwachten Erprobung zu entwickeln, wenn es hierfür politische Unterstützung gibt. Da digitale Gesundheitsinnovationen sehr divers sind und teilweise auch höhere Risiken mit sich bringen, wäre es auch vorstellbar, eine Unterstützung im Stil der Regulatory Sandboxes im Finanzsektor anzubieten. In diesem Fall wäre zudem die fallspezifische Betrachtung sinnvoll. So könnten Risiken individuell beurteilt und geeignete Maßnahmen zur Minimierung im Dialog mit der zuständigen Aufsicht definiert werden. In der Kommunikation im Zuge der Regulatory Sandboxes im Finanzsektor sind die Förderung von Innovationen und damit auch die Attraktivität des Standorts wichtige Faktoren. Das Augenmerk liegt damit vordergründig auf den Unternehmen. In den Betrachtungen zu Regulatory Sandboxes zeigte sich jedoch auch die Perspektive des Gesetzgebers und der Aufsicht. Für die Aufsicht selbst bieten Regulatory Sandboxes eine Möglichkeit, nah an aktuellen technologischen Entwicklungen und neuen Geschäftsmodellen zu sein. Dieses Wissen ist notwendig, damit die Aufsicht ihrer Rolle angemessen nachkommen kann. Hierbei bestehen dennoch Risiken („cognitive capture“), die adressiert werden müssen. Das Beispiel aus Singapur illustriert das Interesse eines Gesetzgebers: Vor dem Hintergrund neuer Technologien und neuer Ansätze für die Gesundheitsversorgung stellt sich der Gesetzgeber die Frage nach der geeigneten Form der Regulierung. Hier nutzt der Gesetzgeber das Instrument der Regulatory Sandbox, um Erkenntnisse für die Ausgestaltung des rechtlichen Rahmens zu gewinnen. Die Regulatory Sandbox ermöglicht somit Erprobungen für beide Seiten: Unternehmen erproben ihre Produkte und den Umgang mit dem

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regulatorischen Rahmen, der Gesetzgeber bzw. die Aufsicht erproben regulatorische Ansätze. Auf diese Weise wird auf beiden Seiten ein verbessertes Verständnis gefördert. Diese Perspektive erscheint auch für die Diskussion einer Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor in Deutschland relevant. Die Relevanz einer Unterstützung für Treiber von digitalen Innovationen wurde bereits diskutiert. Auch für die Aufsicht und den Gesetzgeber in Deutschland könnte eine Regulatory Sandbox wichtige Erkenntnisse zum Umgang mit digitalen Gesundheitsinnovationen liefern. Ein engerer Austausch und somit mehr Kenntnisse zu den aktuellen technologischen Entwicklungen und digitalen Versorgungsansätzen erscheinen sinnvoll. Dabei dürfen die in Abschn. 10.2 geschilderten Risiken nicht außer Acht gelassen werden. Auf Basis tiefergehender Analysen unterschiedlicher Regulatory Sandboxes würden möglicherweise weitere Risiken identifiziert, die es ebenfalls zu berücksichtigen gilt. Es bleiben jedoch auch einige Aspekte, die im Zuge der Betrachtung der Regulatory Sandboxes im Finanzsektor und der wenigen Beispiele außerhalb des Finanzsektors nicht oder nicht ausreichend betrachtet wurden. Dazu gehört u. a. die Teilnahme der Verbraucher an Erprobungen. Im Finanzsektor ist die Marktsituation durch Produkte für Verbraucher und Geschäftskunden übersichtlich. Die britische Financial Conduct Authority hat unterschiedlichen Varianten für die Teilnahme von Verbrauchern vorgesehen. Im Gesundheitssektor sind die Strukturen u. a. durch verschreibende Ärzte, Krankenversicherungen etc. komplizierter und kleinteiliger. Digitale Innovationen bringen neben Risiken für Verbraucher und Aufsicht in diesem Fall u. a. auch Haftungsrisiken für beteiligte Akteure, wie z. B. Ärzte, mit sich. Diese komplexen Strukturen müssten in der Diskussion einer Regulatory Sandbox für den Gesundheitssektor Berücksichtigung finden. Daneben wurde in der Betrachtung der Regulatory Sandboxes im Finanzsektor und der wenigen Beispiele außerhalb des Finanzsektors die Besonderheit der Unterscheidung zwischen Marktzugang und Erstattungsfähigkeit digitaler Gesundheitsinnovationen außen vor gelassen. Da diese Fragestellung kein Äquivalent im Finanzsektor kennt, ist dieser Punkt wenig überraschend. Die Erstattungsfähigkeit im Rahmen der GKV-Versorgung ist nicht für jede digitale Gesundheitsinnovation relevant, weil einige Lösungen sich z. B. an Gesundheitseinrichtungen oder einzelne Leistungserbringer richten. Dennoch spielt die Erstattungsfähigkeit im deutschen Gesundheitssystem eine wichtige Rolle. Die Richtlinien für die Erstattungsfähigkeit über grundsätzliche Entscheidungen zum Leistungsanspruch durch den Gesetzgeber hinaus trifft mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss das höchste Beschlussorgan der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen (G-BA 2019). Neben der kollektiven Erstattungsfähigkeit besteht auch die Möglichkeit, Selektivverträge abzuschließen. Hier kommt den Krankenkassen und einzelnen Leistungserbringern eine Rolle zu (BMG 2011). Für eine Regulatory Sandbox für den deutschen Gesundheitssektor müsste daher evaluiert werden, inwiefern Fragen der Erstattungsfähigkeit abgebildet werden können und welche Anforderungen sich dadurch an eine Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor ergeben. Möglicherweise würde es die Einbindung weiterer Akteure, z. B. der Krankenkassen oder auch des Gemeinsamen Bundesausschusses erfordern.

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Sowohl der Ansatz aus Singapur als auch Erkenntnisse aus den Regulatory Sandboxes im Finanzsektor bieten interessante Anknüpfungspunkte. Die Konstellation im deutschen Gesundheitssystem ist komplexer aufgrund einer Vielzahl an zuständigen Akteuren und an Regelungsbereichen. Für Deutschland bedürfte es der Entwicklung eines Konzepts, das sich an die Bedürfnisse des Systems und der Stakeholder anpasst.

10.6 Schlussbetrachtung Sowohl im Gesundheitssektor als auch im Finanzsektor bestehen Herausforderungen im Umgang mit digitalen Innovationen. Im Finanzsektor werden Regulatory Sandboxes als eine mögliche Antwort angesehen. Es hat sich gezeigt, dass Regulatory Sandboxes im Finanzsektor eine Reihe an Potenzialen mit sich bringen. Dazu gehört die bessere Zusammenarbeit zwischen Aufsicht und Unternehmen für den Umgang mit regulatorischen Anforderungen und die gewonnene Expertise zu neuen Technologien und Geschäftsmodellen aufseiten der Aufsicht. Gleichzeitig wurden auch Risiken identifiziert, die politisch unerwünschte Effekte mit sich bringen könnten, wie beispielsweise der Eindruck, dass Produkte von Unternehmen in der Regulatory Sandbox als von der Aufsicht empfohlen angesehen werden könnten. Risiken, die mit Regulatory Sandboxes im Finanzsektor aber auch in anderen Branchen einhergehen könnten, müssen sorgfältig abgewogen werden. Es hat sich auf Basis der Betrachtung bestehender Regulatory Sandboxes gezeigt, dass interessante Anknüpfungspunkte für eine Regulatory Sandbox im Gesundheitssektor bestehen. Dies gilt sowohl für Unternehmen, die digitale Gesundheitsinnovationen in die Versorgung bringen wollen, als auch für den Gesetzgeber und die Aufsicht, die den Rechtsrahmen für digitale Gesundheitsanwendungen etablieren müssen. Möglicherweise bietet die Regulatory Sandbox als eine Sandbox für eine Erarbeitung eines gesetzlichen Rahmens mindestens genauso großes Potenzial wie für Unternehmen. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass Regulatory Sandboxes – insbesondere außerhalb des Finanzsektors – eine sehr junge Entwicklung sind. Bisher gibt es kaum wissenschaftliche Auswertungen des Ansatzes und möglicher langfristiger Effekte. Es ist anzunehmen, dass Systemunterschiede, wie sie auch zwischen dem Finanz- und dem Gesundheitssektor sowie zwischen unterschiedlichen nationalen Systemen und Kulturen bestehen, einen Einfluss auf den Erfolg solcher Ansätze haben. Es hat sich auch gezeigt, dass die Ausgestaltung der Regulatory Sandboxes unterschiedliche Formen annehmen kann. Wenn die schwierige Balance zwischen Innovationsoffenheit und Schutz der Verbraucher bzw. der Patienten und anderer involvierter Stakeholder gelingt, könnten Regulatory Sandboxes ein interessantes Instrument für mehr digitale Innovationen im Gesundheitssektor darstellen. Dafür bräuchte es im nächsten Schritt Analysen zur Machbarkeit und schließlich eine politische Diskussion über die Ausrichtung und die Umsetzung einer möglichen Regulatory Sandbox im deutschen Gesundheitssektor.

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J. Hagen

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Julia Hagen  ist seit Mai 2019 für den health innovation hub (hih) des Bundesministeriums für Gesundheit tätig. Vorher verantwortete sie den Bereich Health & Pharma beim Digitalverband Bitkom und war in Paris im Bereich der sozialen, öffentlichen Dienstleistungen tätig. Sie studierte Public Management & Governance in Friedrichshafen und absolvierte einen Master of Public Administration (MPA) an der Sciences Po Paris und der London School of Economics, wo sie sich u. a. mit der Regulierung von sich schnell entwickelnden Technologien beschäftigte.

Prozessinnovation in der Praxis Die Anwendung der Lean-Methode auf Arztpraxen

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Alfred Angerer und Eva Hollenstein

Inhaltsverzeichnis 11.1  E  inführung in das Lean Management  11.1.1  Warum ist Lean auch für Arztpraxen interessant?  11.1.2  Definition des Lean Managements  11.1.3  Potenziale von Lean in der Arztpraxis  11.2  Umsetzung  11.2.1  Vorgehen bei der Implementierung  11.2.2  Innovationsmanagement in der (Arzt-)Praxis  11.2.3  Outcomes von Lean-Projekten in Arztpraxen  11.3  Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen  11.4  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Als Methode zur kontinuierlichen Qualitätsverbesserung ist Lean mittlerweile im Gesundheitswesen, insbesondere in Krankenhäusern, etabliert. Bisher gibt es nur wenige Erkenntnisse zur Anwendung von Lean in Arztpraxen. Dieser Beitrag beleuchtet das Innovationspotenzial von Lean in Arztpraxen und zeigt praktische Umsetzungsmöglichkeiten auf. Bisher durchgeführte Studien zeigen, dass Arztpraxen langfristig primär das „Kaizen-Prinzip“ befolgen und in kurzen intensiveren Phasen Projekte umsetzen. Übergeordnetes Ziel der Lean-Initiativen ist meist eine Verbesserung der Effizienz und Produktivität bei gleichbleibender (medizinischer) Qualität und gleichbleibendem oder reduziertem Ressourceneinsatz. Die Akzeptanz der Lean-Implementierung wird stark A. Angerer (*) · E. Hollenstein ZHAW School of Management and Law, Winterthur, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_11

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A. Angerer und E. Hollenstein

von der vorherrschenden Kultur und dem Führungsstil beeinflusst und davon, welche Art der Implementierung gewählt wurde (Bottom-up vs. Top-down). Aus der Literatur können für den Praxistransfer drei Handlungsempfehlungen aus den Bereichen Mitarbeitereinbindung, Erfolgsevidenz und patientenzentrierte Outcomes extrahiert werden.

11.1 Einführung in das Lean Management Wenn im Gesundheitswesen von Lean Management die Rede ist, denkt man im Allgemeinen an Maßnahmen zur Optimierung der Prozesse in Krankenhäusern. Über die Einführung von Lean bei niedergelassenen Ärzten ist bisher selten berichtet worden, deswegen beschreibt der folgende Beitrag die Potenziale von Lean in Arztpraxen.

11.1.1 Warum ist Lean auch für Arztpraxen interessant? Lean Management ist eine der führenden Veränderungsphilosophien im Gesundheitswesen, um Effizienz- und Qualitätsverbesserungen zu erreichen und gleichzeitig eine nachhaltige Systemtransformation zu ermöglichen. Als Methode zur kontinuierlichen Qua­ litätsverbesserung ist Lean mittlerweile im Gesundheitswesen etabliert, vor allem in Krankenhäusern (vgl. Hung et al. 2015; Womack et al. 2005). In Arztpraxen findet Lean bisher jedoch kaum Anwendung (vgl. Daaleman et al. 2018; Hung 2017; Womack et al. 2005). Das ist erstaunlich, da insbesondere der ambulante Sektor prädestiniert für eine konsequente Umsetzung von Lean ist. Einzelne Pfeiler der Philosophie finden in Arztpraxen bereits zum Teil Anwendung. Der Sprechstundenalltag ist getaktet, was eine effiziente Organisation erfordert. Einzelpraxen sind häufig hocheffizient, solange das Behandlungsteam1 (Arzt und medizinische Fachangestellte) gut eingespielt ist und keine Ausfälle oder Wechsel im Personal eintreten. Bei Gruppenpraxen ist der Organisationsaufwand höher und positive Skaleneffekte werden durch diesen wieder geschmälert. Gerade hier bietet Lean Management große Chancen (vgl. Bagattini 2017).

11.1.2 Definition des Lean Managements Bei der Anwendung im Gesundheitswesen wird Lean Management häufig als eine vielschichtige Philosophie betrachtet. Ziel dieser Philosophie ist es, alle Unternehmensaktivitäten auf die Patienten auszurichten, um Mehrwert ohne Verschwendung (japanisch: Muda) generieren zu können. Alle Tätigkeiten, die keinen Beitrag zum Patientennutzen leisten oder nicht existenziell wichtig für eine Organisation sind, sollten eliminiert werden (vgl. Womack und Jones 2004). Eine mögliche Definition lautet (vgl. Angerer et al. 2018, S. 4):  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

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Abb. 11.1  Definition der optimalen Leistung für die Patienten. (Quelle: vgl. Angerer und Liberatore 2018)

cc Ein Lean-Hospital umschreibt eine hochqualitative, effiziente und sich stets selbstoptimierende Organisation, in welcher sämtliche Prozesse am Patienten ausgerichtet werden, um so nicht-wertschöpfende Aktivitäten zu eliminieren. Das wichtigste Kernelement von Lean lautet: Effiziente Wertschöpfung für den Patienten kreieren, im Englischen „value“ genannt. Value kann im Gesundheitswesen analog zu Porter und Teisberg (2006) als die Qualität der Gesundheitsleistung pro eingesetztem Franken definiert werden. Die Frage, ob man die Kosten oder die Qualität im Gesundheitswesen optimieren soll, wird laut der Lean-Philosophie klar beantwortet: beides gleichzeitig. Angelehnt an die Qualitätsdefinition des Virginia Mason Hospital wird die optimale Leistung für den Patienten in Abb. 11.1 dargestellt.

11.1.3 Potenziale von Lean in der Arztpraxis Die Tab.  11.1 zeigt typische Beispiele für Verschwendung in der Arztpraxis. Unter Verschwendung wird jede Aktivität verstanden, die Ressourcen verbraucht (und damit Kosten verursacht), jedoch keinen Wert erzeugt (sog. „non value adding activities“). Dabei handelt es sich um Problembereiche, die den Arbeitsfluss aufhalten oder fragmentieren, wie z. B. immer wiederkehrende Fragen aufgrund von strukturellen Informationsdefiziten. Die klassische Lean-Literatur teilt Verschwendung in sieben Kategorien ein. Modernere Ansätze ergänzen sie um die Verschwendungsform „nicht genutztes Mitarbeiterpotenzial“ (vgl. Tab. 11.1).

11.2 Umsetzung Um den aktuellen Umsetzungsstand von Lean in Arztpraxen zu untersuchen, wurde von den Autoren ein Literaturreview in wissenschaftlichen Datenbanken vorgenommen. Im Fokus der Literaturrecherche standen Publikationen, die sich mit Lean in Arztpraxen befassen. Dabei wurden jene Artikel genauer untersucht, welche Hinweise auf die relevanten Komponenten einer Lean-Arztpraxis geben. Ergebnisse aus verwandten Bereichen (z. B. ambulante Gesundheitsversorgung) wurden bei einer hohen Relevanz jedoch auch in die Analyse miteinbezogen.

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A. Angerer und E. Hollenstein

Tab. 11.1  Die 7  +  1 Verschwendungsarten, veranschaulicht in einer Arztpraxis. (Quelle: eigene Darstellung nach Angerer und Liberatore 2018; Ehbets 2018; Endsley et al. 2006 und Thill 2016) Verschwendungsarten Fehler und Korrekturen: Angefangene Tätigkeiten können nicht auf Anhieb vollständig erledigt werden. Verursacher können Störungen, Defekte oder mangelnde Informationen sein. Der zusätzliche Aufwand, um eine angefangene Tätigkeit zu beenden/korrigieren, kann zu Qualitätsverlust führen

Bestände und Vorräte: Bestände sind nicht zweckmäßig dimensioniert und unübersichtlich gelagert. Große Lagerbestände (etwa bei Medikamenten, Verbrauchsmaterialien, Druckerpatronen) sind gebundenes Kapital, werden unübersichtlich und sind aufwendiger zu bewirtschaften Laufwege/Bewegungen: Unter Bewegung versteht man das ständige Wechseln von einer Tätigkeit zur anderen. Je höher der Arbeitsdruck, desto größer ist das Risiko, dass Aufgaben zwar angefangen, aber nicht abgeschlossen werden. Dies zieht erneute Kontrollen und Nachfragen nach sich Wartezeiten (auf Patienten, Informationen, Material, Entscheidungen): Wenn Wartezeiten auftreten, dann ist dies für alle Beteiligten unproduktive Zeit. Aus ökonomischer Sicht ist das Warten des Arztes kostspielig. Aus Sicht der MFA ist die Situation unbefriedigend, weil nicht weitergearbeitet werden kann Überproduktion: Gänzlich unnötig durchgeführte Tätigkeiten (z. B. automatischer Ausdruck von Laborberichten, obwohl bereits digital abgelegt)

Beispiele Der Telefonanruf eines Patienten unterbricht die medizinische Fachangestellte (MFA) beim Ablegen eines Krankenhausberichtes in das Patientendossier. Die MFA wechselt dazu von einem Patientendossier zum nächsten. Der Bericht wird im Anschluss an das Telefongespräch beim falschen Patienten abgelegt Im Patientendossier fehlen aktuelle Allergieinformationen des Patienten Umfangreiche Lager z. B. an Salben oder Impfungen in den Sprechzimmern führen zu langen Kontrollzeiten beim Auffüllen Falls die Kontrolle der Bestände selten stattfindet, erhöht sich der Ausschuss infolge abgelaufenen Materials

Ein Telefonanruf unterbricht die Medikamentenabgabe. Sind nun alle Medikamente für diesen Patienten gerüstet? Der Untersuchungsraum muss verlassen werden, um nach fehlenden Laborergebnissen zu suchen

Der Arzt muss auf die Bestimmung eines Laborwertes warten, weil die MFA bereits mit einer Blutentnahme an einem anderen Patienten beschäftigt ist Die MFA kann einen dringenden Telefonanruf nicht tätigen, weil die Telefonlinien durch andere Mitarbeitende bereits besetzt sind Laborwerte werden zuerst am Laborgerät ausgedruckt, dann ins Laborjournal eingetragen und anschließend in das elektronische Patientendossier von Hand eingefüllt Automatischer, überflüssiger Ausdruck von Faxnachrichten (Fortsetzung)

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Tab. 11.1 (Fortsetzung) Verschwendungsarten Transport: Materialien oder Produkte werden zwischen den einzelnen Arbeitsorten und Prozessschritten transportiert, was unnötige und lange Transportwege zur Folge hat

Nicht genutztes Mitarbeiterpotenzial: Mitarbeiterwissen, das der Praxis nicht zur Verfügung steht, da es nicht bekannt ist oder nicht abgefragt wird

Beispiele Ständiger Wechsel der Patienten zwischen Untersuchungszimmer, Labor, Wartezimmer Praxisbeispiel: Ein Allgemeinmediziner fand heraus, dass seine Aktentransporte zum Empfang, jeweils verbunden mit kurzen Gesprächen, im Schnitt 90 Sekunden dauerten. Mit durchschnittlich 48 dieser unnötigen „Botengänge“ ergibt sich ein Zeitverlust von über einer Stunde Ideen wird keine/zu wenig Beachtung geschenkt, da der stressige Arbeitsalltag keinen Platz für Innovation lässt MFA hätten viele Ideen zur Optimierung von Teilprozessen, ihnen fehlt aber ein passendes Gefäß zur Platzierung und Diskussion der Ideen

Die Analyse der Ergebnisse zeigt, dass ein Großteil der Studien zu Lean in Arztpraxen konkrete Fallstudien analysieren. Gegenstand der Fallstudien ist meist die Untersuchung der Auswirkung von Lean auf Prozesszeiten (z. B. Wartezeiten, Dauer von Teilprozessen), ökonomische Aspekte und die Mitarbeiterzufriedenheit. Die allgemeine Versorgungsqualität oder die Zufriedenheit von Patienten werden bisher in der Literatur kaum berücksichtigt. Studien im Vorher-Nachher-Design weisen häufig methodische Mängel auf. Die Analyseergebnisse weisen auch darauf hin, dass sich das Verständnis von Lean in Arztpraxen nicht maßgeblich von den im Gesundheitswesen etablierten Prinzipien unterscheidet. So werden meist Kundenorientierung (Patient im Zentrum), Wertstromverständnis, Standardisierung und kontinuierliche Verbesserung als zentrale Pfeiler genannt (vgl. Bagattini 2017; Bushell und Shelest 2002; Hung 2017). Aus der Literatur konnten Erkenntnisse im Bereich Implementierungsvorgehen, Innovationsmanagement und Outcomes generiert werden, die in Abschn. 11.2.1, Abschn. 11.2.2 und Abschn. 11.2.3 präsentiert werden.

11.2.1 Vorgehen bei der Implementierung Grundsätzlich unterscheidet sich das Vorgehen bei der Implementierung von Lean in der Arztpraxis nicht maßgeblich vom empfohlenen Vorgehen im Krankenhaus. Prinzipiell sind zwei gegensätzliche Transformationslogiken denkbar: Kaizen (kontinuierliche Verbesserung) und Kaikaku (radikale Verbesserung, vgl. Gegenüberstellung in Tab.  11.2). Während Kaizen die kontinuierliche Verbesserung durch kleine Schritte anstrebt, wird mit Kaikaku ein radikaler Wandel angesteuert. Bei Kaikaku wird Bestehendes nicht optimiert,

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A. Angerer und E. Hollenstein

Tab. 11.2  Gegenüberstellung von Kaizen und Kaikaku. (Quelle: eigene Darstellung nach Bertagnolli 2018a) Thematik Prozess Vorgehensweise Verhaltensroutine Dauer Geschwindigkeit Investition und Risiko Zuständigkeit/ Beteiligung Wissen

Erfolgsfaktor Systematik

Kaizen Stabilisieren und Optimieren Systematisch, handlungsorientiert In der Spur bleiben Langfristiger und kontinuierlicher Ansatz mit schneller Umsetzung Langsam, viele kleine Schritte Gering, Fehler reversibel

Kaikaku Fundamentale Neugestaltung Kreativ, innovativ Neue Wege gehen Lange Planungsdauer, Umstellungsunterbrechung Schnell, ein großer Schritt Hoch

Alle Mitarbeiter

Vereinzelte Experten

Berücksichtigung von Erfahrungswerten, Bereicherung durch Lernen Mensch Simpel, Low Cost

Spezialisten, kein Erfahrungswissen Technik Komplex, Hightech

sondern grundlegend infrage gestellt. Als Ergebnis wird mit einem dementsprechend hohen Ressourcenverbrauch Innovationspotenzial freigelegt und Prozesse werden neu gestaltet (vgl. Abb. 11.2). Dieser Ansatz wird häufig synonym zum Process Reengineering oder Big-Bang-Ansatz verwendet. In der Lean-Literatur zu Arztpraxen wurde bisher insgesamt eher das Kaizen-Prinzip befolgt, mit kurzen intensiveren Phasen, in denen umfangreichere Projekte durchgeführt wurden. Beide dieser gegensätzlichen Ansätze haben Vor- und Nachteile. Welcher Ansatz sich besser für das Verbesserungsvorhaben eignet, ist von verschiedenen Faktoren abhängig und muss situativ entschieden werden. Prinzipiell wird Kaizen eher dann eingesetzt, wenn viele kleine Verbesserungen mit schnellen Ergebnissen bei geringem Risiko erzielt werden sollen. Kaikaku bzw. Process Reengineering kommen eher nur dann zum Einsatz, wenn ein großer Handlungsdruck besteht. Bei beiden Transformationslogiken unterscheidet sich die Umsetzung nicht maßgeblich vom Vorgehen im Krankenhaus. Die wesentlichen Schritte sind (vgl. Bushell und Shelest 2002; Endsley et al. 2006): 1. Patientenbedürfnisse verstehen, 2. Istzustand abbilden, 3. Verschwendungen identifizieren, 4. Future State definieren, 5. neue Prozesse überarbeiten und evaluieren. In größeren Gruppenpraxen wird empfohlen, vorab ein „Leadershipteam“ zu bilden (vgl. Daaleman et al. 2018). Jede Praxis entwickelt ihre eigene Vision für den „Idealzustand“ und einigt sich auf einen Verhaltenskodex, der den Weg dahin unterstützen soll (z. B. Zeit und

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Abb. 11.2  Transformationslogiken. (Quelle: vgl. Angerer et al. 2018)

Ressourcen in die Initiative zu investieren; vgl. Herring 2009). Nach der Abbildung des Istzustandes und Identifikation von Verschwendung folgen die Planung und Durchführung von Qualitätsverbesserungsevents und Lean-Trainingsmodulen (vgl. Daaleman et al. 2018). Bestehen mehrere Gruppenpraxen in einem Netzwerk, wird empfohlen, Lean Management zuerst in einer Pilotpraxis zu entwickeln und zu implementieren und damit einen Leuchtturm zu schaffen. Im weiteren Verlauf kann Lean Management auf die weiteren Praxen ausgerollt und skaliert werden (vgl. Hung 2017).

11.2.2 Innovationsmanagement in der (Arzt-)Praxis Die Umsetzung des vorgestellten Kaizen-Prinzips bezieht in der Regel alle Mitarbeiter ein, damit die Verschwendungsform des „nichtgenutzten Mitarbeiterpotenzials“ eliminiert wird. Diese Verschwendungsart entsteht, wenn vorhandene Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissen von Mitarbeitenden nicht genutzt oder nicht abgefragt werden und somit dieses Wissens- bzw. Verbesserungspotenzial verloren geht. Wenn hingegen Mitarbeitende stark in die neue Prozessgestaltung eingebunden werden, können zahlreiche

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A. Angerer und E. Hollenstein

Innovationen entstehen. Das Strukturieren und Managen des Innovationsprozesses ist eine wichtige Aufgabe der Führungskräfte. Bei der Umsetzung von Innovation spielt der „Faktor Mensch“ die Hauptrolle, da echte Innovationskraft nur von innen kommen kann. Die Kreativität, Intelligenz, Erfahrung und das Wissen des Mitarbeitenden sind wertvolle Faktoren für das Unternehmen und sollten in die Entwicklung von Prozessen, Abläufen und Tätigkeiten eingebunden werden (vgl. Bertagnolli 2018b). Externe Partner können zwar dabei helfen, das Potenzial für wertsteigernde Verbesserungen in den Arbeitsabläufen aufzudecken und umzusetzen. Doch erst die konsequente Einbindung der Mitarbeitenden in die Verbesserungsinitiativen ermöglicht ein nachhaltiges Erschließen von Produktivitätspotenzialen und echte Innovation (vgl. Kobi 2008). In Abschn. 11.2.2 wird aufgezeigt, wie anhand eines 6-stufigen Innovationszyklus das volle Potenzial an Mitarbeiterideen ausgeschöpft werden kann (vgl. Abb. 11.3). Wichtig ist, dass man bereit ist, bestehende Arbeitsweisen infrage zu stellen und ggf. zu ändern. Ideen in die Tat umzusetzen und ihre Wirkung zu testen, ist das Herzstück der Innovation. 1: Ziele setzen Der erste Schritt bei allen Verbesserungsmaßnahmen sollte darin bestehen, die Ziele klar zu definieren. Diese sollten zusammenfassen, was konkret erreicht werden soll. Die Ziele sollten verbindlich und klar definiert sein – am besten nach der SMART- Methode (spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert).

1. Ziele setzen

6. Evaluation des Prototyps

2. Team zusammenstellen

5. Testen der Innovation

3. Inspiration suchen

4. Ideen generieren

Abb. 11.3  Der sechsstufige Innovationsprozess. (Quelle: eigene Darstellung nach Endsley et al. 2006)

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2: Team zusammenstellen Innovation geschieht im Team. Während alle Praxismitarbeitenden Ideen einbringen und über Änderungen auf dem Laufenden gehalten werden, benötigt es eine kleinere engagierte Arbeitsgruppe, um die Verbesserungsarbeit gezielt zu verfolgen. Das Team sollte alle Berufsgruppen der Arztpraxis abdecken (z.  B. Ärzte, MFA). Es ist sicherzustellen, dass die Führungskräfte die Initiativen unterstützen und (nichtmonetär) belohnen. 3: Außerhalb der Praxis nach Inspiration suchen In vielen Fällen muss das Rad nicht neu erfunden werden. Häufig finden sich gute Ansätze von externen Quellen wie einer anderen Praxis. Lohnend kann auch der Blick über den Tellerrand in andere Dienstleistungsbranchen sein: Wie werden dort Effizienzpotenziale ausgeschöpft und Kundenbedürfnisse erfüllt? Hierfür können im Team Ideen gesammelt und diskutiert werden, wie sie für die Praxis adaptiert werden können. 4: Neue Ideen generieren Eine der besten Möglichkeiten, innovative Ideen zu generieren, ist die Teilnahme an Aktivitäten, die einen zwingen, über den Status quo hinauszudenken. Dazu stellt man sich radikale Was-wäre-wenn-Fragen, um bestehende Denkweisen zu verlassen. Zum Beispiel: „Was wäre, wenn wir bei Patientenbesuchen keine Zeitbeschränkungen hätten?“ Oder: „Was wäre, wenn Patienten den Preis für einen Praxisbesuch nach ihrer Zufriedenheit mit der Behandlung festlegen würden?“ In der praktischen Umsetzung könnte eine solche Aktivität beispielsweise folgendermaßen gestaltet werden: 1. Prozesse in der Praxis in Bezug auf die in Schritt 1 definierten Ziele beobachten. 2.  Aktivitäten und Laufwege der Patienten/Mitarbeitenden dokumentieren und diese ­hinterfragen. 3. Praxis aus Patientensicht erleben: Eine Kamera auf die Schulter des Patienten platzieren und der Frage nachgehen: „Wofür ist der Patient bereit zu zahlen, wo entsteht Wertschöpfendes?“ 4. Beobachtungen der Mitarbeitenden sammeln (z. B. Störungen, Unterbrechungen, Tätigkeitsprotokolle). 5. Wenn sinnvoll, externe, neutrale Beobachter einbinden. Eine weitere nützliche Aktivität ist das Brainstorming: Das Team wird hier für ein bis zwei Stunden zusammengebracht, um so viele Ideen wie möglich zu generieren. Begonnen wird mit einer ausgearbeiteten Aussage über das zu lösende Problem. Zum Beispiel: „Die Onlineterminbuchung über die Praxiswebsite ist eine gute Idee. Welche anderen Möglichkeiten gibt es, den Koordinationsaufwand für die Terminvergaben zu reduzieren?“ 5: Testen der Innovation in einem kleinen Rahmen Ideen in die Tat umzusetzen und ihre Wirkung zu testen, ist das Herzstück der Innovation. Dazu werden Prototypen entwickelt, um zu testen, wie die Idee in der Praxis funktionieren

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A. Angerer und E. Hollenstein

könnte (siehe dazu auch Hollenstein et al. 2018). Das Testen in einem kleinen Rahmen ermöglicht eine iterative Adaption und Verbesserung des ursprünglichen Prototyps. Dazu kann z. B. ein neuer Prozess eine Woche lang von den involvierten Personen getestet werden. Am Ende der Woche findet ein Review statt, in dem die Lessons Learned thematisiert und aufgearbeitet werden. 6: Evaluieren des Erfolgs des Prototyps Eine Messung des Fortschritts anhand ausgewählter Kennzahlen ist essenziell und wird für die Implementierung von Lean Management eindeutig empfohlen. Sie ist aber auch mit zusätzlichem Aufwand verbunden (vgl. Al-Balushi et al. 2014). Eine Definition der Ziele ist deshalb vorab unumgänglich. Die Anzahl an Kennzahlen muss begrenzt werden, damit der Messaufwand im Verhältnis zum Nutzen steht. Wenn z. B. eine elektronische Patientenregistrierung getestet wird, sollten die Zufriedenheit von Patient und Personal, die Anzahl der Registrierungsfehler und die Registrierungszeit gemessen werden. Basierend auf den Ergebnissen wird die Idee überabeitet und erneut getestet. Damit wird die Idee nach und nach perfektioniert (Endsley et al. 2005).

11.2.3 Outcomes von Lean-Projekten in Arztpraxen Insbesondere in der englischsprachigen Literatur finden sich Publikationen zu Lean-­ Umsetzungen in Arztpraxen, die zum Teil auch wissenschaftlich evaluiert wurden. Die meisten Publikationen befassen sich mit dem Thema Verbesserung der Effizienz und Produktivität bei gleichbleibender (medizinischer) Qualität und gleichbleibendem oder reduziertem Ressourceneinsatz. Insgesamt kann festgestellt werden, dass bisher sehr wenige Publikationen existieren, die ein evidenzbasierteres Forschungsdesign verfolgen (z.  B. Metaanalysen oder Fallkontrollstudien). In Tab. 11.3 werden ausgewählte Publikationen zum Thema beschrieben. Im Setting der Arztpraxis scheint es auch (noch) keine etablierten Vorreiter zu geben, wie z. B. das Seattle Children’s Hospital oder das Virginia Mason Hospital im Krankenhausbereich.

11.3 Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen Basierend auf der Literaturanalyse konnten folgende zwei Barrieren und vier Erfolgsfaktoren extrahiert werden: • Barriere Ängste. Befassen sich die Mitarbeitenden zum ersten Mal mit dem Begriff „Lean Management“, können Ängste entstehen, dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch hier ist darauf zu achten, dass von Anfang an keine Missverständnisse entstehen (Betka 2012; Bliss 2009). • Barriere Ablehnung. Genannt werden gewisse Abwehrreaktionen der Ärzte gegen standardisierte Arbeit, die schwierige Übertragung von Managementaufgaben auf Medizi-

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Tab. 11.3  Ausgewählte Publikationen zu Lean Outcomes in der Arztpraxis Setting und Forschungsfokus Studiendesign Case Study (Daaleman et al. 2018) Entwicklung einer Implementierungsstrategie und Quantifizierung der Outcomes einer Lean-Initiative in einer Hausarztpraxis in den Dimensionen Behandlungsqualität, Terminvergabe, Praxisproduktivität und Patientenzufriedenheit

(Endsley et al. 2006) Optimierung des Laborergebnisprozesses in einer Hausarztpraxis

Case Study

Ausgangslage und Erkenntnisse Die Implementierungsstrategie beinhaltete die Zusammenarbeit mit Lean-Experten und den Aufbau eines Lean-Leadershipteams, die Planung und Durchführung von Qualitätsverbesserungsevents und die Durchführung von Lean-­ Trainingsmodulen. Die Evaluation zeigte minimale bis gar keine Veränderung der Versorgungsqualität, eine Verringerung der Durchlaufzeit für den Patiententermin von 89 Minuten auf 65 Minuten, eine Steigerung der Gesamtproduktivität der Praxis von 8144 US-Dollar auf 9160 US-Dollar, eine Verringerung der Patientenzufriedenheit von 94 % auf 91 % und eine Erhöhung des monatlichen Patientenvolumens von 4112 Patienten auf 5076 Patienten Die Praxis erhielt viele Anrufe von Patienten, die ihre Laborergebnisse nicht (rechtzeitig) erhielten. Eine Umfrage zur Patientenzufriedenheit ergab auch, dass die Patienten mit dem Prozess unzufrieden waren. Mithilfe eines administrativen und medizinischen Qualitätsverbesserungsteams wurde der Prozess zur Verwaltung der Ergebnisse von Labortests abgebildet und nach Möglichkeiten zur Verbesserung gesucht. Der Prozess wurde durch die Elimination mehrerer nicht wertschöpfender Schritte und die Umleitung der Testergebnisse durch direkte, sichere E-Mails an die Patienten über ein webfähiges System (Kryptiq) neu gestaltet. Die Aktualität und Genauigkeit dieses neu gestalteten Prozesses wurden durch tägliche Überprüfungen überwacht. Insgesamt stieg die Patientenzufriedenheit mit dem Laborergebnisprozess von 89 % auf 97 %. Darüber hinaus konnte die Fehlerquote bei der Ergebnisberichterstattung von 3 % auf fast 0 % gesenkt werden (Fortsetzung)

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A. Angerer und E. Hollenstein

Tab. 11.3 (Fortsetzung) Setting und Forschungsfokus Studiendesign Case Study (Herring 2009) Optimierung des Prozesses zur Rezepterstellung in einer Hausarztpraxis

(Hung 2017) Untersuchung von Veränderungen bei der schrittweisen Einführung von lean-basierten Redesigns in 46 Primärversorgungszentren von 13 Gruppenpraxen (Allgemeinmedizin, innere Medizin und/oder Pädiatrie)

Randomisierte kontrollierte Studie (RCT), Längsschnittanalyse

Ausgangslage und Erkenntnisse Umstellung auf ein elektronisches Verfahren für Rezeptanfragen, bei dem der Hausarzt nun direkte Änderungen an Rezepten vornimmt. Dies hat die Zeit für die Ausstellung neuer Rezepte um 48 % verkürzt und das Fehlerpotenzial bei der Verschreibung reduziert. Reduzierung der Laufwege des Personals um 86 %, da nichtmedizinisches Personal aus dem Verschreibungsprozess entfernt wird. Umstellung auf einen elektronischen Prozess zur Verwaltung der Ergebnisse über alle Praxismitarbeitenden hinweg; dies hat zu einer 99 %igen Verbesserung der Prozessdurchlaufzeit geführt Übergeordnetes Ziel war die Entwicklung und Skalierung eines lean-basierten Redesigns, welches Effizienzsteigerungen in definierten Bereichen ermöglicht, bei gleichbleibender medizinischer Behandlungsqualität und Mitarbeiterund Patientenzufriedenheit. Es wurden systemweite Verbesserungen der Workfloweffizienz und der Arztproduktivität ohne negative Auswirkungen auf die Behandlungsqualität festgestellt. Die Patientenzufriedenheit stieg in Bezug auf den Zugang zur medizinischen Versorgung, den Umgang mit persönlichen Problemen und die allgemeine Behandlungserfahrung, nahm jedoch in Bezug auf die Interaktion mit Leistungserbringern ab. Die abteilungsübergreifenden Betriebskosten sanken und die jährliche Personal- und Arztzufriedenheit stieg, mit wesentlichen Verbesserungen bei der Mitarbeiterbindung, den Beziehungen zum Personal und der Arbeitszeit des Arztes (Fortsetzung)

11  Prozessinnovation in der Praxis

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Tab. 11.3 (Fortsetzung) Setting und Forschungsfokus (Poksinska et al. 2017) Auswirkungen von Lean auf die Patientenzufriedenheit in Hausarztpraxen









Studiendesign Mixed Methods (Kombination von zwei qualitativen und einer quantitativen Case Study)

Ausgangslage und Erkenntnisse In der quantitativen Studie wurden die Ergebnisse der Patientenzufriedenheitsbefragung für 23 Hausarztpraxen, die mit Lean arbeiten, mit einer Kontrollgruppe von 23 Hausarztpraxen, die nicht mit Lean arbeiten, verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass Lean-Implementierungen in erster Linie auf Effizienz abzielen und der Patientensicht wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Studie zeigt keine signifikant besseren Ergebnisse in der Patientenzufriedenheit für Hausarztpraxen, die mit Lean arbeiten, als für solche, die nicht mit Lean arbeiten

ner sowie der Zeit- und Personalaufwand für die Teilnahme an Verbesserungsmaßnahmen (Hung et al. 2015). Erfolgsfaktor Teamzusammensetzung. Die Wahl eines interdisziplinären Ansatzes  – d. h. der Einbezug unterschiedlicher Berufsgruppen – ist wichtig, damit die Innovationsphase reichhaltiger ausfällt und die Ideenumsetzung breiter abgestützt werden kann (Natale et al. 2014). Erfolgsfaktor Kommunikation. Die Kommunikation von Informationen über die grundsätzliche Wirksamkeit von Lean wirkt unterstützend (Hung 2017). Eigene Erfolge sollten von Beginn an kommuniziert werden – das gilt auch für kleinere Erfolge am Beginn des Projekts. Erfolgsfaktor Führungskultur. Für eine positive Verbesserungskultur spielt der Führungsstil der Praxis eine große Rolle. Lean-Implementierungen profitieren von einem Bottom-up-Implementierungsstil, der alle in die Entwicklung neuer Arbeitsabläufe einbezieht (Betka 2012). Erfolgsfaktor Visualisierung. Spezifische Treiber sind die visuelle Darstellung von Key Performance Indicators (Hung et al. 2015). Es ist bekannt, dass Belohnungssysteme eine erfolgreichere Implementierung von Lean begünstigen. Dafür muss eine Form der Messung des Fortschrittes vorhanden sein (Al-Balushi et al. 2014). Belohnungen sollten nicht auf Aktivitäten, sondern auf Resultaten beruhen (Betka 2012).

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Handlungsempfehlungen für die praktische Umsetzung 1. Lean ist kein Cost-Cutting-Ansatz für Arztpraxen. Zu den Einsatzgebieten von Lean zeigt die untersuchte Literatur deutlich, dass die Philosophie zwar großes Potenzial für die Umsetzung in Arztpraxen aufweist, jedoch keine schnelle Lösung zur Problembeseitigung bietet. Lean darf nicht als Stellenstreichungsprojekt genutzt werden. Das liegt daran, dass Lean stark auf das Engagement der Mitarbeitenden angewiesen ist. Einerseits wird von den Teams erwartet, dass sie zu den Verbesserungsideen beitragen. Zweitens wird von ihnen erwartet, dass sie im täglichen Betrieb weitgehend autonom handeln. Sie arbeiten innerhalb eines Systems, oft mit weniger Aufsicht als in anderen Unternehmen. Ein Teil dieser Autonomie besteht darin, Probleme selbstständig zu lösen. Folglich werden die Mitarbeitenden höchstwahrscheinlich nicht an diesen Aspekten mitwirken, wenn die Belohnung dafür darin besteht, ihre Stelle zu verlieren. Schließlich soll darauf geachtet werden, dass Lean Management nicht auf eine reine „Werkzeugkiste“ zur Lösung operativer Probleme reduziert wird, sondern als ein Lernsystem mit langfristiger Perspektive in die Praxis integriert wird (Herring 2009; Poksinska et al. 2017). Obwohl es in gewissen Bereichen oft bereits mit geringem Aufwand zu beachtlichen Verbesserungen kommen kann, bleibt der (organisationsübergreifende) Implementierungsprozess komplex (Hung 2017). 2. Vorher-Nachher-Messungen sind entscheidend. Diese Messungen werden für die Implementierung von Lean Management eindeutig empfohlen (Angerer et al. 2018). Eine Definition der Ziele ist vorab unumgänglich. Jedoch muss die Anzahl an Kennzahlen begrenzt werden, damit der Messaufwand im Verhältnis zum Nutzen steht. Die Oberund Untergrenzen der Kennzahlenmenge werden in der Literatur nicht abschließend definiert. Eine Daumenregel sagt jedoch, dass in einem Cockpit nicht mehr Kennzahlen verwendet werden sollen, als auf einem DIN-A3-Blatt visualisiert werden können (ergo nicht mehr als ca. 12 Kennzahlen). 3. Kernidee von Lean, Patient First, nicht aus den Augen verlieren. Patienten als Kunden sollten die oberste Priorität haben. Paradoxerweise zeigt die Literatur, dass Lean nicht immer einen konstant positiven Effekt auf die Zufriedenheit derselben hat (vgl. z. B. Daaleman et al. 2018; Poksinska et al. 2017). Dies legt die Vermutung nahe, dass das Credo, Patient First, im Zuge der Prozessoptimierung in den Hintergrund rückt und zu wenige Aktivitäten mit dem bewussten Ziel unternommen werden, die Patientenzufriedenheit zu verbessern. Deshalb sollte der Patient bzw. seine Zufriedenheit bei der Zieldefinition als konkreter Wert definiert werden.

11.4 Schlussbetrachtung Betrachtet man das Forschungsgebiet Lean im Gesundheitswesen, ist eindeutig erkennbar, dass es sich längst nicht mehr um einen kurzlebigen Trend handelt. Lean hat sich insbesondere in Krankenhäusern als Methode der Wahl zur kontinuierlichen Prozessoptimie-

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rung durchgesetzt. Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass sich nach und nach weitere Leistungserbringer im Gesundheitswesen mit Lean vertraut machen, allen voran Arztpraxen. Erste Studien belegen, dass Lean auch im ambulanten Setting großes Potenzial hat, wie die in diesem Beitrag vorgestellten Studien zeigen. Da es sich jedoch um ein relativ junges Forschungsgebiet handelt, sind weitere Studien und Beobachtungen notwendig, um dieses Potenzial gänzlich zu verstehen. In vielen Arztpraxen werden bereits jetzt Ideen, die den Praxisalltag erleichtern oder die Versorgung der Patienten verbessern, gesammelt. Zur systematischen Umsetzung von kontinuierlicher Verbesserung und Innovation ist Lean eine wirksame Methode, um den eingangs beschriebenen Anforderungen gerecht zu werden.

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A. Angerer und E. Hollenstein

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Prof. Dr. oec. Alfred Angerer,  Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Karlsruhe 2001, Doktorat in Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen 2005; Supply Chain Manager bei der Nestlé AG und Unternehmensberater im Bereich Operations bei der Firma McKinsey & Company. Seit 2009 Dozent an der ZHAW-School of Management and Law. Dort leitet er die Fachstelle Management im Gesundheitswesen des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie, lehrt in der grundständigen Lehre sowie in der Weiterbildung und führt betriebswirtschaftliche Projekte für Leistungserbringer. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Lean Management, Digital Health und Vernetzung im Gesundheitswesen. Eva Hollenstein  legte ihr Diplomstudium in Gesundheitswissenschaften an der UMIT in Wien ab (2015) und studierte BA mit der Vertiefung Public and Non-Profit Management im Master an der ZHAW-School of Management and Law (2016). Seit 2015 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich „Management im Gesundheitswesen“ des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie tätig, lehrt in der grundständigen Lehre und führt betriebswirtschaftliche Projekte für Leistungserbringer durch. Ihre Expertisen liegen im Bereich Prozessoptimierung im Gesundheitswesen und der Evaluation von ­Versorgungsleistungen.

Vom Lean Management zur Reorganisation Der Einfluss der Lean-Hospital-Philosophie auf Dienstleistungs- und Prozessinnovationen

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Karin Messer-Misak

Inhaltsverzeichnis 12.1  E  rfolgreiche Industrieproduktionsmodelle im Gesundheitswesen?  12.1.1  Der Einsatz von Managementmodellen in der Praxis  12.1.2  Lean Management – Ein Modell der Kundenorientierung  12.1.3  Die fünf Kernprinzipien des Lean Managements  12.1.4  Lean Hospital – Die Anwendung im Gesundheitswesen  12.2  Der Einfluss des Lean-Hospital-Gedankens auf Dienstleistungs- und Prozessinnovationen  12.2.1  Die Notwendigkeit von Innovationen  12.2.2  Innovationspotenzial fördern und steigern  12.2.3  Veränderungen in der Organisation  12.3  Erfolgsfaktoren des Modells  12.3.1  Aktive Einbindung von Klienten und Mitarbeitenden  12.3.2  Methoden und Werkzeuge  12.3.3  Die Lean-Sicht schafft Transparenz  12.4  Der Weg zur Reorganisation  12.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Managementmodelle haben den Auftrag, integrative und interdisziplinäre Sichten darzustellen. Die sich im Gesundheitswesen etablierende Lean-Philosophie soll Innovationen und Verbesserungen unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts bei

K. Messer-Misak (*) FH Joanneum, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_12

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gleichzeitiger intensiverer Betreuung der Patienten mit kürzerer Aufenthaltsdauer und damit einhergehender Personalintensität bei geforderter erhöhter Kosten- und Leistungstransparenz ermöglichen. Welche Prinzipien kommen zum Einsatz und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um das Modell der Kundenorientierung in der Praxis umsetzen zu können? Die Anpassung von Strategien, Strukturen und Systemen hat schrittweise und zielorientiert zu erfolgen.

12.1 E  rfolgreiche Industrieproduktionsmodelle im Gesundheitswesen? Das Management von Krankenhäusern ist hinsichtlich der bestmöglichen Nutzung aller vorhandenen Ressourcen besonders gefordert. Mögliche Wirtschaftlichkeitsreserven, vor allem in den oft eingesessenen vorhandenen Strukturen und Prozessen, gilt es, zu über­ prüfen und auszuschöpfen (vgl. Albrecht und Töpfer 2006, S. 7–8). Managementmodelle kommen als wichtige Werkzeuge der Strategieentwicklung zum Einsatz und stehen in unmittelbarem Zusammenhang und Abhängigkeit eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontextes. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Managementmodelle immer ein vereinfachtes Abbild der Realität darstellen und die Anzahl der zu betrachtenden Elemente beschränkt ist. Die Unternehmensrealität steht immer in einem wirtschaftlichen, ökologischen, technischen, rechtlichen und sozialen Kontext, den es mit zu berücksichtigen gilt. Managementmodelle sind hilfreich, um eine Vielzahl von vorliegenden Informationen systematisch zu ordnen, in Zusammenhang zu setzen und Basis für eine informierte Entscheidung zu sein.

12.1.1 Der Einsatz von Managementmodellen in der Praxis Im Gesundheitswesen haben Managementmodelle primär den Auftrag, integrative und interdisziplinäre Sichten darzustellen und zu entwickeln, die das dynamische Zusammenspiel mit der Umwelt widerspiegeln. Folgende Themen stehen im Gesundheitswesen besonders im Fokus: Innovationen und Verbesserungen, welche den technologischen Fortschritt, die intensivere Betreuung der Patienten mit kürzerer Aufenthaltsdauer, damit verbundene höhere Personalintensität und verbesserte diagnostische und therapeutische Möglichkeiten bei gleichzeitig geforderter erhöhter Kosten- und Leistungstransparenz und optimiertem Ressourceneinsatz (vgl. BMASGK 2019, S. 7) ermöglichen. Das aus dem Produktionsbereich bekannte Managementmodell mit der Lean-­Phi­ losophie schien den Anforderungen gerecht zu werden und erreichte Mitte der 2000er-­ Jahre, nachdem es in einigen medizinischen Centern im Nordwesten der USA und in Singapur erfolgreich umgesetzt wurde, auch das Gesundheitswesen in Europa (vgl. Walker et al. 2017, S. 188; Angerer 2015, S. 49–76).

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12.1.2 Lean Management – Ein Modell der Kundenorientierung Der Ursprung des Lean-Management-Gedankens lässt sich beim Automobilhersteller Toyota finden, der durch sein verbessertes Produktionssystem gegenüber westlichen Automobilherstellern einen wesentlichen wirtschaftlichen Vorteil erwirtschaften konnte (vgl. Womack et al. 1990; Womack und Jones 2006, S. 13–14, sowie Bösenberg und Metzen 1995, S. 8; Töpfer 2009 S. 29–30). Ausgangssituation der Lean-Management-Philosophie ist die Ausrichtung aller Unternehmensaktivitäten auf den Kundennutzen, wodurch die Effektivität und Effizienz der Leistungserstellung erhöht werden (Womack und Jones 2003, S. 111–113; Töpfer 2009, S. 28–29; Töpfer und Günther 2009, S. 3). Im Vordergrund stehen die Optimierung von Durchlaufzeiten und die Verbesserung von Produktionsprozessen mit der Konzentration auf jene Punkte, die dem Kunden wichtig sind. Womack und Jones (2006) haben hierzu den Begriff „Lean Thinking“ geprägt, was übersetzt in etwa „schlankes Denken“ bedeutet. Eine konkrete Definition liefert Braun von Reinersdorff (2007), indem sie Lean Management als die „… permanente, konsequente und integrierte Anwendung eines Bündels von Prinzipien, Methoden und Maßnahmen zur effektiven und effizienten Planung, Gestaltung und Kontrolle der gesamten Wertschöpfungskette von (industriellen) Gütern und Dienstleistungen“ sieht. Diese kontinuierliche Ausrichtung an den Kundenanforderungen soll wesentlich zur Kundenzufriedenheit und der vom Kunden wahrgenommenen Leistungsqualität beitragen (Pöhls 2012, S. 12).

12.1.3 Die fünf Kernprinzipien des Lean Managements Die Prinzipien lassen sich in Anlehnung an Womack und Jones (2003) schrittweise erarbeiten. In einem ersten Schritt wird der konkrete Mehrwert, auch als Value der Dienstleistung/des Produkts benannt, für den Kunden herausgearbeitet. In der Folge wird der Wertstrom (Value Stream) identifiziert. Der Prozess wird von Beginn bis zum Ende analysiert – wichtig ist, zu klären, welche Aktivitäten tragen zum identifizierten Wert bei, welche Schritte sind für die Erstellung der Dienstleistung (Produkte) erforderlich und welche Bereiche der Organisation sind involviert. Dies führt zum 3. Schritt – dem Flow. Dieser ergibt sich bei genauerer Betrachtung des Value Stream, indem Aktivitäten, die keinen Mehrwert für die erwünschte Dienstleistung (Produkt) ergeben, erkannt und bewusst weggelassen werden. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: „Sind unnötige Verzögerungen“ zu erkennen und „werden Ressourcen verschwendet“? Der 4. Schritt Pull bezieht sich auf die Reaktion der Kundenbedürfnisse mit der Überlegung, dass der Mehrwert gesteigert wird und Verschwendung vermieden wird, indem nur das angeboten wird, was der Kunde auch möchte. Spätestens hier gilt es, kritisch zu hinterfragen, inwiefern die Grundprinzipien und das Modell des Lean Managements im Gesundheitswesen uneingeschränkt Anwendung finden können. In einem 5. und letzten Schritt wird im Modell die Perfektion angestrebt. Die Implementierung von Lean-Ansätzen verursacht nicht selten eine umfangreiche

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Änderung der Prozesse im Unternehmen und löst Changeprozesse aus, die eine aktive Einbindung und Aktivierung der Mitarbeiter im Unternehmen erfordert.

12.1.4 Lean Hospital – Die Anwendung im Gesundheitswesen Die Prinzipien des Lean Managements haben sich als ein Ansatz zur effizienten Leistungserbringung unter der Berücksichtigung der Kundenorientierung in der Industrie etabliert (vgl. Kraft 2015, o. S.) und konnten über erste Anwendungen in Nordamerika und Asien inzwischen auch in einzelnen Einrichtungen des Gesundheitswesens in Europa Einzug halten. Grundsätzlich können in der Produktionsindustrie erfolgreich eingesetzte und gängigen Prinzipien nicht gänzlich unangepasst übernommen werden, so hat sich der Begriff Lean Hospital, welcher die Anwendung des Lean-Gedankens im Krankenhaus beschreibt, etabliert. Die Kernprinzipien der Lean-Philosophie – Ausrichtung der Leistung am Klienten und die kontinuierliche Verbesserung – erfordern einerseits eine Leistungsanpassung auf den tatsächlichen Bedarf des Klienten als auch eine erhöhte Standardisierung und Prozessorientierung der zu erbringenden Leistungen, um diese dann in Konsequenz laufend zu verbessern. Das Gesundheitssystem soll effektiv und effizient genutzt werden. Angerer (2015, S.  50) stellt in Anlehnung an das Toyota-Produktionssystem das „Krankenhaus-­Produktionssystem“ vor, in dem einerseits die richtige Leistungserbringung zur richtigen Zeit in der richtigen Menge, die dazu erforderlichen Elementarfaktoren (Personal, Werkstoffe und Betriebsmittel) rund um den Klienten und dessen Sicherheit im Blickpunkt stehen und andererseits die kontinuierliche Verbesserung, eine nivellierte Auslastung – die durch gute Planung und Organisation erreicht wird – und die Prozesse, die der Wertschöpfung dienen, dargestellt werden. Als gemeinsame Klammer dient der dispositive Faktor, die Führung als Dienstleistung.

12.2 D  er Einfluss des Lean-Hospital-Gedankens auf Dienstleistungs- und Prozessinnovationen Pöhls unterstreicht in ihrer Arbeit über Lean Management im Krankenhaus (Pöhls 2012, S. 1–20) die Notwendigkeit der Steigerung der Leistungseffizienz aufgrund der pauschalierten Leistungsvergütung, des zunehmenden Fachkräftemangels und des erhöhten Aufwandes bei der Mitarbeiterrekrutierung und -bindung. Weiter betrachtet sie das Thema Kundenbindung auch im Krankenhaus als strategischen Erfolgsfaktor. Andere Modelle, wie sie aus dem Qualitätsmanagement und dem Prozessmanagement bekannt sind, finden ihren Eingang in das Lean Management. Allerdings ist die Lean-Philosophie auf alle Unternehmensteile ausgerichtet und orientiert sich an aktuellen Kundenanforderungen, die eine fortwährende Verbesserung und ein dynamisches Qualitätsverständnis in allen Prozessen impliziert (Pöhls 2012, S. 19).

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12.2.1 Die Notwendigkeit von Innovationen Die Gesundheitsreformen im deutschsprachigen Europa stehen derzeit unter dem Credo, „die Finanzierbarkeit des öffentlichen Gesundheitswesens durch eine nachhaltige Ausgabendämpfung“ sicherzustellen, den vollstationären Bereich in den Akutkrankenanstalten durch eine Verlagerung in den tagesklinischen oder ambulanten Bereich zu entlasten und den niedergelassenen Bereich sowie selbstständige Ambulatorien auszubauen (vgl. Ziel­ steuerung-­Gesundheit 2017–2021). Auch die Forderung von Klienten nach besseren Abläufen, neuen Behandlungsformen und ganzheitlichen Ansätzen setzt Neuerungen in Gang. Innovationen (vom lateinischen „innovare“ – erneuern) sind essenziell, um den Ansprüchen im Gesundheitswesen gerecht zu werden. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ist eine Innovation dann sinnvoll, wenn sie einen Nutzen für eine Organisation bzw. im Gesundheitswesen für die Gesellschaft bringt. Zu berücksichtigen ist, dass Innovationen im Gesundheitsbereich u. a. soziale, politische, rechtliche, ökologische und ökonomische Komponenten haben, die es gleichermaßen zu berücksichtigen gilt. Der Weg von der ersten Idee bis hin zur Umsetzung bringt oftmals einige Herausforderungen mit sich. Innovationen werden nicht selten aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten initiiert und sollten optimalerweise aufgrund von Daten und Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und entsprechenden Zukunftstrends sowie einem gut koordinierten Expertennetzwerk vorausschauend strategisch geplant und gelenkt werden.

12.2.2 Innovationspotenzial fördern und steigern Wissens- und kompetenzintensive Dienstleistungsorganisationen werden als Expertenorganisationen bezeichnet. Im Vordergrund steht die „Nutzung hochgradig spezialisierten Humankapitals“ (vgl. Rasche und Braun von Reinersdorff 2016, S. 2–22). Gemäß Rasche und Braun von Reinersdorff (2016, S. 17) tendieren „viele Experten allein schon aufgrund ihres Erfahrungsvorsprungs dazu …, den Patienten zu einem Versorgungsfall (Case) zu degradieren, der vorgesteuert, angeleitet und dirigiert werden muss“. Im Gegensatz dazu impliziert eine Patientenzentriertheit eine aktive Integration des Leistungsnehmers, die sich auf die „subjektiven Bedürfniskonstellationen, Limitationen und Mitwirkungsmöglichkeiten des Patienten abstellt“ (Rasche und Braun von Reinersdorff 2016, S. 17). Die Klienten nehmen ein Unternehmen – und das gilt vor allem für Einrichtungen im Gesundheitswesen – als Gesamterfahrung wahr. Betrachtet wird vom Management, und in der klassischen Krankenanstalt lässt sich nach wie vor eine strikte Trennung zwischen Medizin, Pflege und Verwaltung beobachten, aber meist nur der eigene Einflussbereich. Dies ist vor allem in Krankenanstalten besonders kritisch zu betrachten. Denn nicht nur einzelne Touch Points werden vom Klienten wahrgenommen und bewertet, vielmehr wird der gesamte Ablauf, in der Wirtschaft auch als Customer Journey bezeichnet, vom Klienten in einem Gesamtzusammenhang erlebt. Hierfür ist es notwendig, die Bedürfnisse der

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Klienten und den gesamten Ablauf während eines Krankenhausaufenthalts oder den Prozess während der Nutzung einer medizinischen Einrichtung zu kennen. Wichtig wird dann in der Folge, nicht nur die Relevanz der einzelnen Stationen entsprechend zu nutzen, sondern den Klienten auf dem Weg von Touch Point zu Touch Point gut zu begleiten, um ein besonderes Gefühl der Sicherheit zu geben. Die Abb. 12.1 zeigt die Client Journey mit den unterschiedlichen Touch Points einer stationären Aufnahme in einer Krankenanstalt. Wie Güssow aufzeigt (2007, S. 395) sind im Patientenbehandlungsprozess vielfältige typische Schnittstellenprobleme festzustellen, von denen der Klient direkt betroffen ist. Die Abb. 12.2 und Abb. 12.3 zeigen die typischen Schnittstellenprobleme der einzelnen Touch Points im Patientenbehandlungsprozess auf. Allein die Analyse der einzelnen Touch Points sowie der Prozessablauf zwischen den Touch Points erfordern ein gut strukturiertes Prozessmanagement, um alle zugehörigen Abläufe der Kern-, Unterstützungs- und Managementprozesse entlang der Wertschöpfungskette transparent darstellen zu können. In einem zweiten Schritt werden diese Prozesse auf ihre Zusammenhänge und Abhängigkeiten untersucht und anschließend entsprechend analysiert. Bei Prozessen, deren einzelne Vorgänge bereits entsprechend ihrer Zusammengehörigkeit und chronologischen Reihenfolge in einem IT-System gespeichert werden, können unterstützend entsprechende Prozess-Mining-Techniken eingesetzt werden. Oftmals werden die einzelnen Prozesse mit sog. Key-Performance-Indikatoren (KPI) unterlegt, um die Prozesse aufgrund des Fortschritts, Erfüllungsgrades oder auch der kritischen Erfolgsfaktoren zu messen. So wird ermöglicht, prozessübergreifende Optimierungspotenziale zu erkennen, was dazu motiviert, bestehende Prozesse zu vereinheitlichen und zu harmonisieren, um Innovationspotenziale rechtzeitig zu erkennen und aufzunehmen. Dies ist Voraussetzung, um die Prozesse entsprechend zu steuern und fortzuführen.

12.2.3 Veränderungen in der Organisation Prozesse zu analysieren und dadurch Innovationspotenziale zu entdecken, ist der erste Schritt; diese Potenziale dann entsprechend aufzunehmen und zu steuern bringt Veränderungen und Risiken mit sich. Nicht selten ist mit Widerständen – teils auch ungewollt – zu rechnen. Zu berücksichtigen ist, dass Innovationen Ressourcen beanspruchen, die normalerweise im Tagesgeschäft gebunden sind. So ist es unerlässlich, eine positive Innovationskultur im Unternehmen zu schaffen. Dieser Prozess erfordert Werte und Rahmenbedingungen, wenn erfolgreich umgesetzt werden soll. Auf die Relevanz einer positiven Innovationskultur verwies bereits der Ökonom Drucker (1909–2005) mit seiner Aussage: „Culture eats strategy for breakfast.“ Eine positive Innovationskultur erfordert nicht nur Freiraum und Strukturen, in denen die Mitarbeiter handeln dürfen, sondern auch spezifischen Kompetenzaufbau und entsprechende Motivation der Mitarbeiter. Eingeleitet wird der Prozess durch das gemeinsame

Zufrieden

unzufrieden

Aufnahme und Zimmer zuweisung Präoperativ /Station

Postoperativ / Station

Abb. 12.1  Client Journey mit Touch Points bei stationärer Aufnahme. (Quelle: eigene Darstellung)

Therapie/ Operation

Diagnostik

Entlassung

Überweisung

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Zufrieden

• Lange Wartezeiten für Aufnahmetermin • Unklare Bettenverfügbarkeit • Unklare/unvollständige Überweisung • Vergabe von Aufnahmeterminen bei verschiedenen Stellen • Fehlende Definition eines „Notfalls“

Zuweisung für stat. Aufenthalt

• Unklarheit bezüglich der Aufnahmemodalitäten • Absage von Untersuchungen • Mangelnde Koordination • Unvollständige Untersuchungen u./o. Unterlagen bei Aufnahme • Später Erstkontakt mit med. Personal • Lange Wartezeiten • Fehlende Standards für Vorbereitung von Untersuchungen

Aufnahme und Zimmerzuweisung

• Sofortige Zimmerzuweisung und Einführung • Checkliste über Ablauf und Informationen über Station • Prüfung der Unterlagen auf Vollständigkeit und Organisation von fehlenden Untersuchungen/Behandlungen • Aufnahme-und Entlassungsmanagement • Zeitnahe Terminvergabe und Tagesplan • Begleitung zu unterschiedlichen med. Behandlungen • Tests u. Untersuchungen falls möglich an einem Ort • Rasche Ergebnisübermittlung mit Aufklärung und Information für weiteren Ablauf • Prämedikationscheck

• Fehlende Terminkoordination • Unkoordinierte Planung der unterschiedlichen med. Bereiche • Späte Testergebnisübermittlung • Zu viele Tests/Untersuchungen • Fehlende Patiententagesplanung

Diagnostik

Abb. 12.2  Typische Schnittstellenprobleme – präoperativ. (Quelle: eigene Darstellung)

unzufrieden

• Terminvergabe online oder direkt über einweisende Stelle • Informationen über Krankenhaus/Station und Ablauf • Checkliste für Aufenthalt • Klare Information über Anreise-/ Transport-/Parkmöglichkeiten • Erinnerung an Aufnahme

• Wartezeiten bis zum OPTermin • Überlastung des Personals durch mangelhafte Tagesplanung • OP-Absagen aufgrund unvollständiger Untersuchungen • Prämedikationsprobleme

Präoperativ /Station

• Kurze Wartezeiten zum OPTermin • Vollständige, verständliche Aufklärung • Information über Durchführung und zu erreichende Ziele bei Pflege-und Therapiemaßnahmen

204 K. Messer-Misak

Zufrieden

• Verspätung von Mitarbeitern • Verbesserungswürdiges OPManagement (geringe OPAuslastung, lange Warte-u. Leerzeiten) • Häufige OP-Absagen durch Verschiebungen

Therapie/ Operation

• Mangel an patientennaher Pflege • Hoher Anteil an Verwaltungsaufgaben • Komplizierte Materialversorgungsdienste

Postoperativ / Station

• Patientennahe individuelle Betreuung/Pflege • Aufklärung und Begleitung • Durchführung von Pflege-und Therapiemaßnahmen nach Aufklärung über deren Ziel • Information über mögliche weiterführende Betreuung/Reha (Entlassungsmanagement) • Rechtzeitigkeit der Entlassungspapiere • Organisation des Transportes/der Entlassung

• Hoher administrativer Aufwand • Entlassungsverzögerungen durch Warten auf Resultate/Entlassungsbrief etc. • Ungenügende Patienteninformation

Entlassung

Abb. 12.3  Typische Schnittstellenprobleme – postoperativ. (Quelle: eigene Darstellung)

unzufrieden

• Zusammenfassende Aufklärung und Darstellung des geplanten zu erreichenden neuen Gesundheitszustandes • Psychosoziale Begleitung • Einhaltung vereinbarter OPTermine • Falls Verschiebung rechtzeitige Information und neuer Termin

• Unnötige Doppeluntersuchungen • Verzögerte Informationsweiterleitung • Ungenügende Patienteninformation

Überweisung

• Patientenakte mit Historie liegt vor • Medikationseinstellungen sind bekannt

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K. Messer-Misak

Definieren von messbaren, innerhalb einer bestimmten Zeit zu erreichenden, realistischen Zielen, die nachvollziehbar und spezifisch formuliert sowie transparent und akzeptiert sind. Diese Veränderungen müssen vom Management gezielt gesteuert und von den Mitarbeitern aktiv mitgetragen und gestaltet werden.

12.3 Erfolgsfaktoren des Modells Die Identifikation von Größen, die eine Wirkung auf den Erfolg bei der Umsetzung der Lean-Philosophie haben, ist vielfältig. Aufgrund unternehmensinterner als auch -externer Daten lassen sich Einflussgrößen identifizieren, die sich aufgrund der Umsetzung des Lean-­Gedankens auf schlankere Prozesse oder auf eine verbesserte Struktur-, Prozessoder Ergebnisqualität beziehen lassen.

12.3.1 Aktive Einbindung von Klienten und Mitarbeitenden Shostack (1982) prägte hierzu 1982 den Begriff „Service Design“ und schlug vor, dass Unternehmen ein Verständnis entwickeln, wie die Prozesse miteinander verschränkt sind und Mitarbeiter hinter den Kulissen miteinander interagieren, weil „Dienstleistungen den einzelnen Talenten überlassen und die Teile und nicht das Ganze verwalten, ein Unternehmen anfälliger machen und einen Service schaffen, der langsam auf Marktbedürfnisse und -möglichkeiten reagiert“ (vgl. Shostack 1984, S. 139). Wichtig dabei ist, dass Service Design bzw. der Prozess bereits beim Erstkontakt, also beim Entstehen des Bedarfs beim Klienten, ansetzt und dass dem Klienten die Kommunikation mit der Gesundheitseinrichtung so einfach wie möglich gemacht wird. Wobei zu beachten ist, dass der Erstkontakt bereits über eine Zuweisung von einem externen Gesundheitsanbieter stattfinden kann. Service Design fordert also nicht nur Leistungstransparenz, sondern auch Patientenorientierung als notwendige Voraussetzung für optimale Abläufe und mehr Eigenverantwortung seitens der Klienten im Gesundheitswesen. Das bedeutet, dass nicht nur den Mitarbeitern beim Innovationsprozess eine entscheidende Rolle zukommt. Die Forderung nach einer höheren Beteiligung der Klienten gewann im Rahmen von Patient Education und Patient Empowerment in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung (vgl. Messer-Misak 2016, S. 137–139). Ein „Wegrücken von der angebotsorientierten zur bedarfsgerechten Ausrichtung der Gesundheitseinrichtungen [ist] angebracht“ (vgl. Hauke et al. 2014, S. 50).

12.3.2 Methoden und Werkzeuge Die Methoden und Instrumente, sowohl Mitarbeiter als auch Klienten in den Lean-Prozess einzubeziehen, lassen sich primär in Anlehnung an die aus dem Qualitätsmanagement

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bekannten Werkzeuge finden. Der erste Schritt im Lean Management beschäftigt sich damit, den Mehrwert der Leistung für den Kunden herauszuarbeiten. Dieser Aspekt wird im Gesundheitswesen noch kaum berücksichtigt. Es ist dem Klienten nicht nur zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten der Untersuchungen und Behandlungen bei einer gestellten Diagnose zur Verfügung stehen, sondern auch welche Konsequenzen, eventuelle Risiken, aber auch Chancen damit verbunden sind und in welchem Ausmaß seine aktive Mitarbeit/ sein Zutun erforderlich ist. Dies sorgt für Transparenz und unterstützt die gewünschte Patientenbeteiligung im Rahmen des Patienten Empowerment. Ist dieser erste Schritt entschieden, verlangt das Lean-Modell, den erforderlichen Wertstrom (Value Stream) zu identifizieren. Im Gesundheitswesen wird hier so gut wie möglich standardisiert vorgegangen, es ist transparent darzustellen, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort und mit welchem Mitteleinsatz (Personal als auch Ver- und Gebrauchsmittel) durchgeführt werden. Der Klient als auch die beteiligten Mitarbeitenden müssen sich dieses Prozesses gesamtheitlich bewusst sein, nur so wird ein optimales Zusammenspiel ermöglicht. Einerseits soll der Patient über den weiteren Verlauf seiner Behandlung so genau wie möglich informiert und involviert sein und andererseits sind seitens des Gesundheitsdiensteanbieters nicht nur die Ressourcen optimal zu planen und zu koordinieren, sondern auch jene Touch Points, also Punkte, bei denen der Klient direkt betroffen ist, so zu gestalten, dass diese für den Klienten ohne Hindernisse und Verzögerungen zu passieren sind. Hindernisse können unklare Auskünfte, mehrmalige Untersuchungen, Termine, Mehrfachdatenerhebung etc. sein und Verzögerungen können sich durch ungeplante oder unvorhergesehene Wartezeiten oder Verschiebungen ergeben. Dies wird am ehesten erreicht, wenn die Prozesse intern klar und transparent nachvollziehbar und standardisiert sind und nach außen hin – also zum Klienten – einfach nachvollziehbar dargestellt sind. Dies führt zum dritten Schritt – dem Flow. Dieser ergibt sich bei genauerer Betrachtung des Value Streams, indem jene Aktivitäten, die keinen Mehrwert für die erwünschte Dienstleistung ergeben, bereits im Vorfeld erkannt und bewusst weggelassen werden. So ergibt sich der im Lean-Gedanken erforderliche Flow. Unnötige Verzögerungen und Ressourcenverschwendung werden immanent aufgedeckt. Der vierte Schritt Pull bezieht sich auf die Reaktion des Klienten, der aktiv in den Prozess eingebunden ist und aufgrund seiner Mitwirkung und Compliance den Mehrwert der Dienstleistung steigert. In dem letzten Schritt des Lean-Modells wird Perfektion angestrebt. Durch ein laufendes Klienten- und Mitarbeiterfeedback kann bei eventuellen Änderungen oder Neuerungen schnell und effizient reagiert werden. Die Umsetzung dieses Prozesses erfordert nicht nur eine inhaltlich konsequente Berücksichtigung in der Unternehmensstrategie (kurz-, mittel und langfristige Geschäftsziele sowie Marktpositionierung), sondern auch eine entsprechende Ausrichtung in den Unternehmensstrukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) sowie den zur Verfügung gestellten Systemen (wie der Infrastruktur, Führungsinstrumenten, Managementinformationssystemen und -anreizsystemen) auf Unternehmens- und Geschäftsfeldebene.

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K. Messer-Misak

12.3.3 Die Lean-Sicht schafft Transparenz Wenn die Abläufe bei den Gesundheitsdiensteanbietern aus der Sicht des Klienten analysiert werden und die Abläufe samt Touch Points unter Effizienzgesichtspunkten analysiert werden, schafft dies eine gute Ausgangssituation für einen optimalen transparenten Ablauf. Ziele für die einzelnen Behandlungsschritte können berücksichtigt werden und entsprechend in die Handlungsabläufe mit einfließen. Die Beschreibung der logischen zusammenhängenden Behandlungsabläufe liefert definierte und werthaltige Ergebnisse für die Klienten als auch für die Mitarbeiter. Die einzelnen Teilprozesse werden durch interne oder externe Ereignisse ausgelöst und von vorher definierten Rolleninhabern und hierfür vorgesehenen und definierten Mitteln umgesetzt. Zu berücksichtigen sind die vielfältigen Schnittstellen – meist sind mehrere Berufsgruppen, Abteilungen oder Institute an einem oder an mehreren Orten in die Leistungserbringung involviert. Ein besonderes Augenmerk ist zu legen auf • die Vielfalt und Komplexität der Leistungserbringung und Zuständigkeiten, • den Einfluss der persönlichen Beziehungen zwischen Gesundheitsdiensteanbieter und Klient • und die Dynamik, die ein Behandlungsprozess beim Klienten auslösen kann. Die Beschreibung der einzelnen Prozesse wird meist durch IT-gestützte Prozessmanagementtools abgebildet. Basis sind eine grafische Oberfläche zur Erstellung von Prozessdiagrammen, eine Datenbank zur Verwaltung der Objekte und bestimmte Modellierungsmethoden sowie Werkzeuge zur Aufbereitung der Inhalte. Die definierten Prozesse werden durch Rollen, Zuständigkeiten und Zeiten sowie erforderliches Material ergänzt. Erweitert werden können spezifische Prozesskennzahlen, welche einen Soll-IstVergleich ermöglichen und mit deren Hilfe die Abläufe möglichst objektiv hinterfragt werden und einen Beitrag zur Überprüfung der gesteckten Ziele leisten können. Die Prozessleistung wird meist über den Aufwand, der für das Erreichen des Prozessergebnisses erforderlich war, und/oder eine bestimmte Zeitdauer, die der Behandlungsprozess vom auslösenden Ereignis bis hin zum Behandlungsergebnis erfordert hat, definiert. Berücksichtigt werden sollten ebenso Qualitätskennzahlen, wie z. B. die Einhaltung von zugesagten Terminen. Wenn eine umfassende Analyse und Planung der relevanten Prozessschritte unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen durchgeführt wurden, ergibt sich oftmals die Erkenntnis, dass unter Berücksichtigung der Kundensicht eine Veränderung und/oder Neugestaltung von Prozessen sinnvoll ist. Prozessaktivitäten können erweitert oder gekürzt werden, eine geänderte Reihenfolge oder auch geänderte Inhalte zur Folge haben. Dies kann eine Änderung der Arbeitsorganisation nach sich ziehen oder aufzeigen, dass durch einen erweiterten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien Potenziale nutzbar gemacht werden können.

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209

12.4 Der Weg zur Reorganisation Wenn aufgrund der vorlaufenden Analyse feststeht, dass die Organisationsstruktur nicht an den Prozessen und Funktionen der Kundenbedürfnisse ausgerichtet ist, wird immanent, dass Kompetenzen gebündelt, eine reibungslose interne Zusammenarbeit mit wenigen Schnittstellen geschaffen werden muss und die Klientenbedürfnisse in den Fokus gerückt werden müssen. Kleine Änderungen in den Prozessaktivitäten, wie deren Erweiterung, Kürzung, Parallelisierung oder Änderung der Durchführung, erfordern meist noch keine Umstellung von bestehenden Organisationsstrukturen. Wenn jedoch transparent wird, dass generelle Änderungen in der Arbeitsorganisation oder der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien für einen optimalen Ablauf erforderlich sind, bildet dies oft den Anlass für eine Reorganisation. Unter Reorganisation oder auch Restrukturierung versteht man meist die Veränderung der Unternehmensorganisation, vor allem der Aufbauorganisation. Wenn weiterführende Änderungen erforderlich sind, ist ein Businessreengineeringprozess anzudenken – hier liegt der Schwerpunkt auf der Neugestaltung der Ablauforganisation. Sneed und Verhoef (2019) warnen allerdings davor, wie es die „Reengineeringgurus“ Hammer und Charles (1993) publiziert haben, bestehende Prozesse und damit verbundenes Wissen radikal neu zu denken. Sie plädieren dafür, die gut funktionierenden Prozesse beizubehalten und von den weniger erfolgreichen zu lernen, wie diese in der Zukunft vermieden und verbessert werden können. Allerdings sehen sie ein mögliches Scheitern eines Reengineeringprozesses auch in der Nichtverfügbarkeit von passenden Technologien (siehe auch Strassmann 1995, S. 238–239). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Weg zur Reorganisation strategisch geplant und schrittweise unter der Berücksichtigung der o. a. Punkte durchgeführt werden muss, nur so ist ein weiterer Schritt zum Reengineering – also zum völligem „Neudenken“ – in bestehenden Organisationsstrukturen erfolgreich möglich (Abb. 12.4). Abb. 12.4  Elemente der positiven Umsetzung der Lean-Philosophie. (Quelle: eigene Darstellung)

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K. Messer-Misak

12.5 Schlussbetrachtung Ein wesentlicher Schlüssel zum erfolgreichen Umsetzen der Lean-Philosophie, resümiert die Pflegedienstleiterin der Berner Klinik Montana nach einer einjährigen Pilotphase in der Umsetzung des Lean Managements, sei die „Kommunikation vor Ort“ (vgl. Vetterli 2017, S.  6). Das Klinikumfeld ist hochkomplex und unterschiedliches Expertenwissen muss über Organisationsgrenzen hinweg effizient synchronisiert werden. Mangelnde Transparenz in der Leistungserbringung und nicht hinreichend auf den Klienten ausgerichtete Prozesse führen nicht nur zur Klienten- und Mitarbeiterunzufriedenheit, sondern schaffen auch Raum für Blind- und Fehlleistungen. Der Lean-Gedanke bedarf gut durchdachter und organisierter Prozesse, einer Ausrichtung der Leistungserbringung an den Bedürfnissen des Klienten und eines Überdenkens der Wertschöpfung. Mitarbeiter benötigen den erforderlichen Raum, um Verantwortung übernehmen zu können, und Kenntnis über die Probleme im Handlungsfeld sowie deren Ursachen – nur so ist ein interdisziplinäres Wirken möglich. Wie im „Walkerproject“ (vgl. Walkerproject AG 2019) die Lean-Transformation im Spital der Zukunft beschrieben wird, setzt eine hohe medizinische Qualität „ein optimales Zusammenspiel verschiedener Expertinnen und Experten, Informationen, Technologien, Infrastrukturen, Standards usw. voraus.“ Dies bedingt eine Lern- und Anpassungsfähigkeit aller am Dienstleistungsprozess Beteiligten, um zukünftig erforderliche Veränderungen letztlich als Chance und weniger als Bedrohung wahrzunehmen.

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Mag. Dr. Karin Messer-Misak  ist seit 2004 als Geschäftsführerin der Firma Personal Care in Österreich tätig, hat jahrelange Berufserfahrung in leitenden Positionen in internationalen IT-Konzernen und einer Universitätsklinik gesammelt. Sie ist als Vortragende an Universitäten und Fachhochschulen tätig und für den MBA „Health Care and Hospital Management“ sowie den Lehrgang „Führungskräfte im Gesundheitssystem“ der Med. Universität in Graz modulverantwortlich.

TWI im Gesundheitswesen – Das System von innen heraus innovieren

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Christian M. Thurnes, Patrick Graupp, Gerard Berendsen, Alexandra Thurnes und Dik Versteeg

Inhaltsverzeichnis 13.1  E  inleitung  13.2  TWI im Überblick  13.2.1  Die Ursprünge von TWI  13.2.2  Weiterentwicklung und Wiederentwicklung von TWI  13.3  Potenziale für TWI im Gesundheitswesen  13.3.1  Unterstützung des Innovationsmanagements: Adoption und Akzeptanz von Innovationen  13.3.2  Unterstützung innovativer Organisationsgestaltung: z. B. Lean Healthcare, Lean Hospital  13.4  Charakteristika der TWI-J-Methoden  13.4.1  JI – Job Instruction: Innovation und Effizienz sichern und verbreiten  13.4.2  JR – Job Relations: Konflikte auf der Beziehungsebene lösen 

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C. M. Thurnes (*) Hochschule Kaiserslautern, Zweibrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Graupp TWI Institute, Liverpool, Vereinigte Staaten von Amerika E-Mail: [email protected] G. Berendsen TWI Instituut Nederland BV, Ochten, Niederlande E-Mail: [email protected] A. Thurnes OpExInno UG, Trippstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Versteeg TWI Instituut Nederland BV, Ochten, Niederlande © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_13

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C. M. Thurnes et al.

13.4.3  JM – Job Methods: Innovations- und Verbesserungsfähigkeit steigern  13.5  A  nwendungsbeispiele und Einsatzmöglichkeiten  13.5.1  Job Instruction zur Standardisierung – Beispiel Infektionsschutz  13.5.2  Gute Arbeitsbeziehungen führen zu guten Arbeitsergebnissen  13.5.3  Inkrementelle Innovation mit Job Methods  13.5.4  Einführung innovativer Systeme – Beispiel elektronische Patientenakte  13.5.5  Innovation und Qualität in medizinischen Labors unterstützen  13.6  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Training-Within-Industry-(TWI-)Methoden wurden vor langer Zeit zur Sicherung guter Leistungserbringung bei gleichzeitig hoher Qualität und Mitarbeiterzufriedenheit entwickelt. Im Rahmen von Lean-Ansätzen sind diese Methoden in der Industrie wieder neuentdeckt worden und ihr Nutzen wird nun auch zunehmend in Organisationen des Gesundheitswesens im Rahmen von Lean-Healthcare- bzw. Lean-Hospital-­An­ sätzen wahrgenommen. Der Artikel beschreibt, wie diese Methoden einerseits dazu beitragen können, eine innovative Organisationsgestaltung zu unterstützen, und andererseits die schnelle und reibungsarme Adoption von externen Innovationsimpulsen ermöglichen. Verschiedene Anwendungsbeispiele vermitteln abschließend einen Eindruck der Methodenanwendung und möglicher Einsatzfelder.

13.1 Einleitung Innovationen und infolgedessen Innovationsmanagement gelten als wesentliche Treiber für Fortschritt, Wohlstand und Erfolg (vgl. z. B. Hauschild et al. 2016; Trott 2016). Da dies für alle Lebensbereiche und Branchen gilt, bildet auch das Gesundheitswesen mit seinen besonderen Rahmenbedingungen hier keine Ausnahme. Der vorliegende Beitrag fokussiert sich auf die Methodenwelt des Training Within Industry (TWI) als operatives Hilfsmittel zur Innovation und Innovationsadoption von innen heraus. Aber kann bei TWI eigentlich von einer Innovation gesprochen werden? Schließlich handelt es sich um Methoden, die schon ein Dreivierteljahrhundert alt sind. Wir wollen der Definition von Vahs und Brem folgen; nach dieser wird „unter einer Innovation grundsätzlich die zielgerichtete Durchsetzung von neuen, technischen, wirtschaftlichen, organisatorischen und sozialen Problemlösungen verstanden, die darauf gerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige Weise zu erreichen“ (Vahs und Brem 2015, S. 1). TWI lässt sich bezüglich seines Entstehungsdatums nicht als eine neue Methodik bezeichnen – aber bezüglich des Innovationspotenzials ist das Kriterium der Neuheit nicht auf das kalendarische Alter zu reduzieren. Neuheit kann auch über Erstmaligkeit definiert werden, sodass gemäß klassischer Innovationsdefinitionen (z. B. Kieser 1969; Schmookler

13  TWI im Gesundheitswesen – Das System von innen heraus innovieren

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2013) eine alte Methode, die erstmalig in einer bestimmten Organisation oder erstmalig in einer neuen Branche oder erstmalig unter neuen Rahmenbedingungen oder in einem neuen Umfeld eingesetzt wird, durchaus das Neuheitskriterium erfüllen kann. Letztlich kann für die Verbreitung von Innovationen auch die reine Wahrnehmung der Neuheit – losgelöst von kalendarischem Alter – entscheidend für die Beurteilung des Neuheitskriteriums sein (vgl. Rogers 2010). Der vorliegende Beitrag zeigt das Innovationspotenzial der TWI-Methoden im Gesundheitswesen auf. Wie viele andere betriebsorganisatorische Innovationen (z. B. Qualitätsmanagement, Dokumentenmanagement) entstammt auch die TWI-Methodik zunächst dem industriellen Umfeld und erlebt dort seit ca. zwei Jahrzehnten aufgrund weiter unten dargestellter Entwicklungen insbesondere im Umfeld von Lean-Production- und Lean-­ Management-­Programmen eine verstärkte Verbreitung. Und genauso wie die organisatorischen Methoden und Prinzipien des Lean Managements als Lean Healthcare im Gesundheitswesen großes Innovationspotenzial (vgl. z. B. Hekking 2011; Scholz 2016; Suneja und Suneja 2010; Zidel 2006) bergen, so trifft dies auch auf die TWI-Methoden zu, die entweder im Rahmen von Lean-Healthcare- oder Lean-Hospital-Programmen eingesetzt werden können oder auch alleinstehend nutzbringend und innovationsförderlich sind. Im Folgenden werden zunächst der Hintergrund der TWI-Programme und ihre Entwicklung betrachtet. Daraufhin wird ihre doppelte Bedeutung für Innovation von innen heraus erläutert. Eine kurze Darstellung der Charakteristika der einzelnen Methoden bildet die Basis für die abschließende Betrachtung einiger illustrierender Anwendungsbeispiele, um einen Eindruck der praktischen Bedeutung zu erlangen.

13.2 TWI im Überblick Training Within Industry (TWI) hat eine lange Geschichte, die im Folgenden in ihren wesentlichen Zügen und hinsichtlich der Relevanz für den Einsatz im Gesundheitswesen grob skizziert wird.

13.2.1 Die Ursprünge von TWI Der Ursprung von TWI liegt in den USA zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Produktion ausreichend vieler, hochqualitativer Rüstungsgüter, während gleichzeitig viele qualifizierte Arbeitskräfte nicht vor Ort waren, wurde ein Programm geschaffen, mit dessen Hilfe die Rüstungsproduktion unter diesen widrigen Umständen gesichert und gesteigert werden sollte (vgl. Graupp und Wrona 2015). Das von der Regierung aufgelegte Programm diente dazu, durch geeignete Trainingsprogramme die Fähigkeiten der Mitarbeiter bestmöglich einzusetzen und zu nutzen (vgl. War Production Board 1945). Es ging dabei um Trainingsansätze, um all jene Personen, die für andere

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C. M. Thurnes et al.

Verantwortung tragen oder sie anleiten, weiterzuentwickeln – im TWI-Jargon ist hierbei von Supervisors die Rede, was in der Realität jedoch die unterschiedlichsten Rollen umfassen kann, z. B. Teamleiterin, Meister, Gruppenleiterin, Vorarbeiterin, Stationsleiterin, Laborleiterin, Anleiterin (vgl. Bureau of Training 2009a, b, c). Wir werden im Folgenden den englischen Begriff „Supervisors“ als Variable für all solche Personengruppen nutzen. Die wesentlichen Bausteine des Programms waren die sogenannten J-Trainings. Bei Job Instruction (JI) geht es darum, Supervisors darin zu trainieren, die Mitarbeiter so zu unterweisen, dass diese sich schnell merken können, wie einzelne Tätigkeiten korrekt, sicher und gewissenhaft ausgeführt werden (vgl. Bureau of Training 2009a). Mit dem Job-­ Methods-(JM-)Training erlernten Supervisors eine einfache systematische Vorgehensweise, die Arbeitsmethoden bzw. -abläufe zu analysieren und zu verbessern (vgl. Bureau of Training 2009b), was bis hin zu inkrementellen Innovationen reichen kann. Ziel der Job-Relations-(JR-)Trainings war es, Führungsfähigkeiten von Supervisors zu entwickeln, um einerseits Mitarbeiterproblemen vorzubeugen und andererseits bereits aufgetretene Probleme systematisch analysieren und lösen zu können (vgl. Bureau of Training 2009c). Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das staatliche US-Programm in seiner ursprünglichen Form beendet. Abschließende Berichte dokumentierten dramatische Erfolge hinsichtlich Leistungssteigerungen, Qualitätserhöhung, reduzierter Durchlaufzeiten und auch verkürzter Schulungszeiten (vgl. Robinson und Schroeder 1993). Neben dem industriellen Einsatz wurde aber auch bereits damals deutlich, dass die TWI-Methoden im Gesundheitsbereich nutzbringend einsetzbar sind – insbesondere galt dies damals für Job Instruction im Bereich der Pflege zum On-the-Job-Training von unterschiedlich ausgebildeten Pflegekräften (siehe z. B. Brigh 1944; Dietz 1945; White 1946).

13.2.2 Weiterentwicklung und Wiederentwicklung von TWI Nach dem Ende des staatlichen Programmes in den USA haben sich die TWI-Methoden in verschiedener Art und Weise weiterentwickelt. Wegen des Fehlens einer über die Standards wachenden Organisation haben sich aber unterschiedlichste Formen und Varianten ergeben und teilweise sind die TWI-Methoden in andere Methoden eingeflossen, haben andere Namen erhalten, sind mutiert oder gänzlich verschwunden. Relativ nahe am Original waren zunächst die TWI-Formen, die in Japan und auch in der späteren Bundesrepublik Deutschland anzutreffen waren – TWI sollte hier den Wiederaufbau der Industrien unterstützen (vgl. Graupp und Wrona 2015). In Japan wurde die ursprüngliche Methodik in großem und maßgeblichem Umfang Teil und Fundament dessen, was heutzutage unter Lean Production verstanden wird (vgl. Huntzinger 2002; Roser 2016). In dem Maße, in dem Lean als innovative Form der Betriebsorganisation weltweit seinen Siegeszug antrat, wurden so einige TWI-Grundlagen von Lean (z. B. Ansätze zur qualitätssichernden Standardisierung der Arbeit, siehe Misiurek 2016) auch im Rahmen von Lean-Hospital- bzw. Lean-Healthcare-Ansätzen wieder sehr aktuell (siehe z. B. Graban 2016; Graupp und Purrier 2016; Jackson 2011; Latijnhouwers und Thurnes 2017).

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Auch in Deutschland hat TWI nach dem Krieg seinen Platz gefunden. Alle TWI-­ Methoden sind ganz oder teilweise in andere Methodenwerke eingeflossen und haben sich hierbei unter Umständen deutlich verändert. Job Instruction und Job Relations wurden noch bis in die späten 1960er-Jahre im Rahmen der Meisterausbildung bzw. der „Ausbildung der Ausbilder“ von Akteuren, wie z. B. dem „TWI-Konsortium Stuttgart“, trainiert (vgl. TWI-Konsortium Stuttgart 1968). Das wohl bekannteste Relikt von TWI in Deutschland ist die sogenannte Vierstufenmethode, die heutzutage in vielen Ausbildungskontexten der Berufsausbildung bzw. der Ausbildung der Ausbildenden immer noch genutzt wird – auch im Gesundheitswesen (siehe z. B. Mensdorf 2014; Rogall-Adam 2019). Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch der Eingang von JI in die REFA-­ Methodenlehre unter der Bezeichnung „4-Stufen-Methode“ (vgl. REFA 1991). Allerdings muss hierzu erwähnt werden, dass sich die Adaptionen der Methoden über die Jahre hinweg vom ursprünglichen TWI-Standard wegentwickelt haben. Die Ursache lag neben dem fehlenden Standard wahrscheinlich hauptsächlich darin, dass die Methoden nun für andere Zwecke als den ursprünglich vorgesehenen genutzt wurden. So diente Job Instruction den Supervisors ursprünglich dazu, ihre Mitarbeiter vor Ort („on the job“) darin unterweisen zu können, wie genau eine bestimmte Tätigkeit auszuführen ist – dies führt bekanntlich zu einer hohen und stabilen Qualität der Ergebnisse, wenig Fehlern und auch effizienter Ausführung. Mit der Adaption in Deutschland zu einer Unterweisungsmethode im Rahmen der Berufsausbildung wurde jedoch ein komplett anderer Bezugsrahmen geschaffen. Folgerichtig gibt es auch Kritik an der heute in der Berufsausbildung angewendeten Vierstufenmethode, da sie zu instruktional und nicht kompetenzbildend sei (vgl. z. B. Mamerow 2016). Diese Kritik ist in ihrem Kontext durchaus nachvollziehbar. Es gilt zu beachten, dass sich Job Instruction, wie es im Folgenden beschrieben wird, in Abgrenzung zu vielen in Deutschland kursierenden Modifikationen, wieder wie die Originalmethodik primär auf das konkrete Ausführen von Tätigkeiten in der täglichen Praxis vor Ort bezieht. Das Wiederentdecken der TWI-Wurzeln in den Erfolgsansätzen japanischer Unternehmen sowie der Potenziale, welche die ursprünglichen Methoden im Kontext unserer heutigen industriellen Herausforderungen und auch der Herausforderungen im Gesundheitswesen bieten, führte zu einer überlegten Rückbesinnung auf die Originalmethoden. So kam es in den 2000er-Jahren zu deren gezielter Weiter- bzw. Wiederentwicklung und Standardisierung, wie sie heute insbesondere durch das TWI Institute in den USA (siehe TWI Institute 2019) geleistet wird. Insbesondere im industriellen Bereich gibt es viele Erfolgsbeispiele (siehe z. B. Dinero 2016; Graupp et al. 2014; Graupp und Wrona 2010).

13.3 Potenziale für TWI im Gesundheitswesen Innovationen können vielfältiger Natur sein. Es kann sich z.  B. um Technologie-, Produkt-, Service-, Organisations-, Management-, Prozess-, Geschäftsmodell-, Strukturinnovationen oder vieles mehr handeln (vgl. Corsten et al. 2016; Hauschild et al. 2016; Vahs und Brem 2015).

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C. M. Thurnes et al.

Die vorangegangene Betrachtung der Hintergründe sowie aktuelle positive Erfahrungen in den USA oder auch den Niederlanden verdeutlichen das doppelte Potenzial von TWI für Innovation und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen: • Sie können als wichtiges Hilfsmittel zur erfolgreichen Implementierung und Diffusion unterschiedlichster Innovationen auf operativer Ebene dienen. In dieser Hinsicht stellen sie ein nützliches Element für ein erfolgreiches Innovationsmanagement dar, denn sie helfen dabei, externe Innovationsimpulse aus dem Inneren des Systems heraus aufzunehmen, die Akzeptanz dafür zu schaffen und sie in das System einzubinden. • Sie unterstützen Managementinnovationen wie Lean-Healthcare-Ansätze und können auch selbst als Organisations- bzw. Managementinnovation betrachtet werden, da sie als Kernelemente eines innovativen, wertorientierten Systemdenkens der Organisation durch ihre Anwendung viele Vorteile erbringen können. Diese doppelte Wirkung ist in Abb. 13.1 dargestellt.

13.3.1 Unterstützung des Innovationsmanagements: Adoption und Akzeptanz von Innovationen Die Akteure im Gesundheitswesen sehen sich wie in allen anderen Branchen zunehmend schnelleren Veränderungen durch Innovationen ausgesetzt. Je nach Umfang der damit verbundenen Änderungen kann zwischen radikalen und eher inkrementellen Innovationen

Job Instruction

Adopon und Akzeptanz

Adopon und Akzeptanz

Adopon und Akzeptanz

Äußere Innovationsimpulse von innen heraus aufnehmen: Technologie-, Medizin-, Service-, Behandlungsinnovationen ...

Job Relations

Job Methods

Innovation von innen heraus erzeugen und annehmen: kontinuierliche Verbesserung, innovative und innovationsförderliche Organisationsgestaltung, Prozess-, Service-, Behandlungsinnovationen ...

Abb. 13.1  Wirkung von TWI-Methoden: Innovation von innen heraus aufnehmen und erzeugen

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unterschieden werden (vgl. Bessant und Tidd 2007) und sogenannte disruptive Innovationen können einen kompletten Sektor nachhaltig und vollständig verändern (vgl. Christensen 2011). Die geplante und gezielte Auseinandersetzung der Organisation mit Innovation ist unumgänglich und kann als Innovationsmanagement bezeichnet werden. Es „umfasst alle Planungs-, Entscheidungs-, Organisations- und Kontrollaufgaben im Hinblick auf die Generierung und die Umsetzung von neuen Ideen in marktfähige Leistungen“ (Vahs und Brem 2015, S. 28). Unabhängig davon, ob es sich um Innovationen handelt, die von außen kommen (z.  B. eine neue Diagnosetechnologie), oder um solche, die selbst entwickelt werden (z. B. neue Abläufe im Fallmanagement), oder um solche, die beide Arten von Elementen kombinieren, entsteht im Rahmen des Innovationsmanagements die Aufgabe, die Umsetzung dieser Innovationen zu ermöglichen bzw. zu unterstützen. • Durch Innovationen ändert sich die Arbeit der betroffenen Mitarbeiter. Unter Umständen sind Einführungs- und Testphasen erforderlich, eventuell entwickeln sich neue Standardvorgehensweisen oder aber solche, die auf die provisorischen Zustände einer Implementierungsphase ausgerichtet sind. Eine weitere Herausforderung kann darin liegen, dass eine technische Innovation mitsamt zugehörigem Arbeitsablauf eingeführt wird, hierbei aber die Schnittstellen zu den vorhandenen Arbeitsabläufen nicht beachtet werden oder aber an diesen Schnittstellen suboptimale Abläufe entstehen, welche nicht nur Zeit, Geld und Ärger kosten, sondern auch die Akzeptanz der Innovation reduzieren. Job Methods ist hervorragend dazu geeignet, die Arbeitsmethoden bzw. -abläufe im Rahmen der Implementierung von Innovationen zu verbessern und somit einen Beitrag zum Innovationsmanagement der Institution zu leisten. • Wenn die entsprechenden Tätigkeiten definiert sind, sollten die zukünftig ausführenden Mitarbeiter schnell, sicher und zuverlässig in der Ausführung der Tätigkeiten trainiert werden – Job Instruction. Ziel ist dabei insbesondere, die innovativen Arbeitsabläufe schnellstmöglich standardisiert und auf die beste bekannte Art und Weise auszuführen. Dies ist nicht nur für die Qualität der Arbeit und die Effizienz der Leistungserstellung von Bedeutung, sondern auch für die Akzeptanz der neuen Arbeitsabläufe durch die betroffenen Mitarbeiter selbst. • Schließlich können im Umfeld der Implementierung von Innovationen zahlreiche Irritationen, Ängste oder Verärgerungen auf der Ebene der Mitarbeiterbeziehungen auftreten. Durch Veränderung können Ängste bezüglich der eigenen Stellung, der Art der zukünftigen Arbeitstätigkeiten, Veränderungen in den persönlichen Arbeitsbeziehungen u. v. m. entstehen. Die hieraus resultierenden Probleme wirken sich selbstverständlich auf Qualität und Leistung aus – aber somit natürlich auch generell auf die Erfolgswahrscheinlichkeit der implementierten Innovation und auf deren Akzeptanz. Die Job-Relations-Methode bietet entsprechende Möglichkeiten zur Problembearbeitung und in besonderem Maße spielen im Vorfeld von Innovationsimplementierungen die darin vermittelten Grundlagen für die Schaffung guter Mitarbeiterbeziehungen eine große Rolle.

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13.3.2 Unterstützung innovativer Organisationsgestaltung: z. B. Lean Healthcare, Lean Hospital In fast allen Industrien weltweit gelten Lean-Ansätze im Bereich des Managements und der Betriebsorganisation als die in aller Regel vielversprechendsten Ansätze zur langfristigen Sicherung und Steigerung der Erreichung der Organisationsziele (vgl. Bicheno und Holweg 2016; Liker 2016; Womack und Jones 2013). Der Versuch einer Organisation, Lean-Prinzipien anzuwenden und umzusetzen, kann sicherlich als Innovation für diese Organisation betrachtet werden, da im Falle einer erfolgreichen „Implementierung“ eher von einem kompletten Wandel als von einer Methodenumsetzung gesprochen werden sollte (vgl. Liker 2016; Mann 2014; Pöhls 2011). Lean-Ansätze für das Gesundheitswesen basieren auf einigen gemeinsamen Grundprinzipien. Hierzu zählen in der Regel Aspekte wie: Konzentration auf den Wert für die Kunden/Patienten/Klienten, Schaffung fließender Abläufe, kontinuierliche Verbesserung, Standardisierung und Respekt für die Menschen (vgl. z. B. Alkalay et al. 2017, 2018; Graban und Swartz 2013; Protzman et al. 2010; Walker 2015). Aufgrund der oben erläuterten Geschichte von TWI ist es nicht sehr überraschend, dass TWI-Methoden in hohem Maße innovative Organisationsgestaltung nach Lean-Aspekten unterstützen. Mehr noch, sie können eine solche Organisationsgestaltung vorbereiten – ihr Einsatz führt auch ohne ein existentes Lean-Konzept bzw. -Rahmenwerk bereits zu großen Erfolgen und startet den Wandel auf operativer Ebene. • Job Instruction führt dazu, dass Tätigkeiten schnell, sicher und fehlerfrei durchgeführt werden – und zwar von allen Personen, die dies tun. Die Standardisierung von Tätigkeiten ist ein wichtiges Element in Lean-Healthcare- bzw. Lean-Hospital-Ansätzen (siehe z. B. Graupp und Purrier 2016; Jackson 2011; Leone und Rahn 2010; Latijnhouwers und Thurnes 2017). Standardisierung ist hierbei aber kein Selbstzweck, sondern leistet einen großen Beitrag zur Realisierung von Wert für die Klienten bzw. Patienten, zur Schaffung fließender Abläufe, zur Sicherung höchster Qualität, z. B. in der Patientenversorgung, und schließlich bilden Standards die Grundlage für kontinuierliche Verbesserung und inkrementelle Innovation aus dem Inneren der Organisation heraus (vgl. Jackson 2011). • Job Relations unterstützt in hohem Maße den Lean-Grundsatz: Respekt für die Menschen (vgl. Graupp und Wrona 2015). Innovative Organisationsgestaltung bedeutet, in hohem Maße Zusammenarbeit zu ermöglichen und zu unterstützen (vgl. von der Oelsnitz 2009). Nur so können alle Mitarbeiter in Verbesserungs- und Innovationsaktivitäten eingebunden werden, Hürden und Hemmnisse überwunden werden. Respekt für die Menschen ist die Grundlage für jegliche innovative Organisationsgestaltung. • Zur kontinuierlichen Verbesserung gibt es zahlreiche Ansätze und Methoden in der Lean-Welt (vgl. Bicheno und Holweg 2016). Job Methods weist gegenüber vielen anderen Methoden zur kontinuierlichen Verbesserung und Realisierung von (meist inkrementellen) Innovationen aus dem Systeminneren heraus entscheidende Vorteile auf: Das Vorgehen ist systematisch gestaltet, sehr einfach durch die Beteiligten vor Ort an-

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wendbar, es ist auch ohne jegliche existente Lean-Rahmenbedingungen nutzbar und führt in kürzester Zeit zu in der Gruppe erarbeiteten und gemeinsam getragenen innovativen Lösungen. Aus diesen Ansatzpunkten wird auch deutlich, inwiefern eine entsprechend innovative Organisationsgestaltung darüber hinaus auch einen wertvollen Beitrag zur Lösung aktueller Problemstellungen, wie hohe Kosten, Qualitätsprobleme und Mangel an qualifiziertem Personal, leisten kann.

13.4 Charakteristika der TWI-J-Methoden Bevor in Abschn.  13.5 beispielhaft Anwendungsmöglichkeiten der J-Methoden im Gesundheitswesen aufgezeigt werden, erfolgt zunächst eine kurze Erläuterung der einzelnen Methodencharakteristika. Die folgenden sehr verkürzten Rahmeninformationen sind den Originalunterlagen sowie aktuelleren Methodendarstellungen entnommen und können bei Interesse dort in wesentlich ausführlicherem Umfang nachgelesen bzw. vertieft werden (z. B. in Bureau of Training 2009a, b, c; Graupp und Wrona 2015). Die nachfolgend beschriebenen J-Methoden weisen einige Gemeinsamkeiten auf (vgl. Graupp und Wrona 2015): • Sie richten sich an Supervisors, also an alle Personen, die Verantwortung für andere tragen oder diese anleiten bzw. anweisen. Es geht hier also nicht um High-Level-­ Strategien, sondern um Methoden für alle Hierarchieebenen – und insbesondere für die operativen Ebenen. • Sie enthalten ein Vierschrittevorgehen. Somit können sie systematisch trainiert und angewendet werden. Die Komplexität der Methoden wird durch die Schritte und jeweils einige Unterschritte so beherrschbar, dass das Vorgehensmuster typischerweise auf kleinen Taschenkarten in der Praxis mitgeführt werden kann. • Sie basieren auf dem Learning-by-Doing-Ansatz. Jede der J-Methoden adressiert eine wichtige Fähigkeit. Das Hintergrundwissen hierzu wäre schnell vermittelt – jedoch die Fähigkeit kann nur durch Übung erworben und weiterentwickelt werden. TWI-­ Trainingsansätze zielen daher auf Übung und praktische Anwendung. • Sie werden mit standardisierten Materialien in standardisierten Trainings vermittelt. Die Trainingskonzepte bauen auf den gesamten gesammelten Erfahrungen auf. Sowohl die didaktische Gestaltung (siehe z. B. oben: Übung und praktische Anwendung) als auch die organisatorische Gestaltung (10-Stunden-Training für Supervisors und 40-Stunden-Training für Train-the-Trainer) unterliegt nur geringfügigen Variationen. Durch diese Gemeinsamkeiten wird die direkte Wirkung auf der Ebene des operativen Handelns – also direkt im Labor, auf der Station, im Operationssaal etc. – einer Organisation erzielt. Auf diesem Weg sind sehr schnell sehr viele einzelne Erfolge erzielbar, deren Wirkung sich dann aufsummiert.

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13.4.1 JI – Job Instruction: Innovation und Effizienz sichern und verbreiten Job Instruction ist wie oben beschrieben die bekannteste J-Methode. In einem Job-­ Instruction-­Training erlernen Supervisors, wie sie ihren Mitarbeitern dabei helfen, sich schnell zu merken, wie sie eine Tätigkeit korrekt, sicher und gewissenhaft ausführen (vgl. Graupp und Purrier 2016). Das standardisierte Methodenwerk enthält zwei wesentliche Elemente: vier vorbereitende Aktivitäten und die JI-Vierschrittemethode des Unterweisens (vgl. Graupp und Purrier 2016). Zu den vorbereitenden Aktivitäten zählt insbesondere ein Trainingsplan, in dem auf Tätigkeitsebene ermittelt wird, wer in genau welcher Tätigkeit zu unterweisen ist. TWI-Trainingspläne ähneln Qualifikationsmatrizen, wie sie aus dem Lean Management bekannt sind, sind darüber hinaus aber eine wichtige Hilfe zur Planung und Ermittlung des Trainingsbedarfs. Eine weitere wesentliche Vorbereitungsaktivität ist das Erstellen eines Tätigkeitsanalyseblatts (TAB) für die zu unterweisende Tätigkeit (vgl. Graupp und Purrier 2016). Hierbei handelt es sich um ein didaktisches Hilfsmittel für die Unterweisung, mit dessen Hilfe viele Vorteile der JI-Methodik überhaupt erst erreichbar sind. Das TAB nach TWI ist keine Prozessbeschreibung, Arbeitsanweisung oder Standard Operation Procedure (SOP), sondern ein reines Lehr- und Lernstrukturhilfsmittel für die Unterweisenden (Anmerkung: hierin liegt z. B. einer der wesentlichen Unterschiede zwischen TWI-JI und der oben erwähnten REFA-Interpretation). Ein Praxisbeispiel eines TABs wird weiter unten vorgestellt. Die Unterweisung mit JI gliedert sich in die vier Schritte (vgl. Misiurek 2016): • • • •

Schritt 1: Bereite den Mitarbeiter vor. Schritt 2: Führe die Tätigkeit vor. Schritt 3: Lass ihn probieren und ausführen. Schritt 4: Erledige die Nachbereitung.

Auf dieser Betrachtungsebene ist die Ähnlichkeit mit den adaptierten 4-Stufen-­ Interpretationen noch sehr groß. Die TWI-JI-Methodik gibt für jeden dieser Schritte jedoch zusätzlich eine überschaubare, aber hinreichende Menge konkreter Einzelanweisungen mit auf den Weg, die insbesondere dafür sorgen, dass die Unterweisenden sich abschließend sicher sind, dass die Unterwiesenen tatsächlich die Tätigkeit erlernt haben. Die Verantwortung für den Unterweisungsvorgang liegt also bei den Unterweisenden und der zugehörige JI-Grundsatz lautet: Hat der Mitarbeiter nicht gelernt, hat der Unterweisende nicht gelehrt (vgl. Graupp und Purrier 2016).

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13.4.2 JR – Job Relations: Konflikte auf der Beziehungsebene lösen Die JR-Methodik zielt auf das Vermeiden oder das Lösen von Mitarbeiterproblemen. Solche Probleme können sich zwischen Mitarbeitern der gleichen Hierarchieebene oder auch über Hierarchieebenen hinweg entwickeln  – sie können die Qualität, Effizienz und das Arbeitsklima stark belasten. Als Problem kann hier alles betrachtet werden, worauf Supervisors reagieren müssen. Ziel ihrer Führung muss es sein, die Mitarbeiter dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen erwartet, wann es getan werden soll, wie es getan werden soll, und zwar weil die Mitarbeiter es selbst so tun wollen (vgl. Graupp und Wrona 2015). JR richtet sich also eher auf Probleme, bei denen das „Wollen“ im Vordergrund steht, während es bei JI und JM um das „Können“ geht. Um Problemen vorzubeugen, trainiert die JR-Methodik die Anwendung definierter Grundlagen für gute Beziehungen – der Grundsatz hierzu lautet, dass Menschen als Individuen behandelt werden müssen (vgl. Dinero 2017). Beim Erlernen der JR-Methodik nehmen die Grundlagen guter Beziehungen entsprechenden Raum im Trainingsprogramm ein, denn ein präventiv vermiedenes Problem ist immer besser als ein aufgetretenes Pro­ blem – gemäß dem alten Sprichwort: Vorbeugung ist die beste Medizin. Wenn es aber zu Problemen kommt, die teilweise oder ganz auf der Beziehungsebene liegen, kommt die Vierschrittemethode zur Problembearbeitung zum Einsatz (vgl. Graupp und Wrona 2015): • • • •

Schritt 1: Ermittle die Fakten. Schritt 2: Wäge ab und entscheide. Schritt 3: Ergreife Maßnahmen. Schritt 4: Überprüfe die Ergebnisse.

Auch hinter jedem dieser Schritte verbirgt sich eine Anzahl konkreter methodischer Einzelschritte, die es Supervisors einfach macht, systematisch an die Problembearbeitung he­ ranzugehen. Gesucht werden hierbei immer Lösungen, die nach Möglichkeit dem betroffenen Individuum, der gesamten Gruppe, der Leistung bzw. Qualität des Bereichs nutzen, um so das übergeordnete Ziel der Problembearbeitung zu erreichen (vgl. Dinero 2017). Die systematische Vorgehensweise vereinfacht den Umgang mit Problemen und schützt auch vor dem Ziehen voreiliger Schlüsse. Bei der Implementierung technischer Innovationen sind neben technischen Aspekten und Fertigkeiten insbesondere auch die Auswirkungen auf die Menschen von großer Bedeutung, da diese zu schwerwiegenden Problemen führen können.

13.4.3 JM – Job Methods: Innovations- und Verbesserungsfähigkeit steigern Die Job-Methods-Vorgehensweise dient der Verbesserung von Arbeitsmethoden und -abläufen. Im Prinzip geht es darum, einen Ablauf zu planen, bei dem durch den optimalen

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Einsatz von jetzt verfügbaren Menschen, Maschinen und Materialien in kürzerer Zeit mehr hochqualitative Produkte oder Leistungen erbracht werden können (vgl. Graupp und Wrona 2015). Die Vorgehensweise hat Ähnlichkeit mit verschiedenen Verbesserungsvorgehensweisen der Lean Healthcare, wie z. B. der Verschwendungssuche (siehe z. B. Zidel 2006), ist aber stärker strukturiert, leicht erlernbar und auch ohne Lean-Vorkenntnisse und -Randbedingungen einsetzbar. Die vier Schritte der JM-Methodik lauten (vgl. Dinero 2017): • • • •

Schritt 1: Zerlege die Tätigkeit. Schritt 2: Hinterfrage jedes Detail. Schritt 3: Entwickle die neue Methode. Schritt 4: Wende die neue Methode an.

Die konkreten methodischen Einzelpunkte unter jedem Schritt werden bei JM mit der Hilfe eines entsprechenden Analyseblattes bearbeitet (vgl. Graupp und Wrona 2015). Das Hinterfragen der Details vollzieht sich in einem strukturierten Frageprozess, dessen Antworten generische Verbesserungshinweise geben, die dann kreativ in reale Lösungsvorschläge umgesetzt werden können. Auch wenn JM zunächst stark effizienzorientiert erscheint, so können im Ergebnis Methoden bzw. Abläufe entstehen, die sich deutlich vom Ausgangszustand unterscheiden. Im später folgenden Beispiel wurde der geschilderte Arbeitsprozess so stark verändert, dass diese Veränderung durchaus in ihrem Kontext als (ggf. inkrementelle) Innovation bezeichnet werden kann.

13.5 Anwendungsbeispiele und Einsatzmöglichkeiten Der Abschn. 13.5 verdeutlicht exemplarisch einige Anwendungsfelder und Einsatzmöglichkeiten der TWI-Methoden. Die Beschreibungen entstammen der praktischen Erfahrung der Autoren. Sie sind ggf. adaptiert, gekürzt dargestellt oder bewusst gegenüber realen Fällen verändert, um das Verständnis ihrer praktischen Relevanz zu erleichtern. Betrachtet wird der Einsatz der TWI-Methoden im Gesundheitswesen, es werden keinerlei medizinische Aussagen getroffen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen oder Vorfällen sind rein zufällig.

13.5.1 Job Instruction zur Standardisierung – Beispiel Infektionsschutz Wenn Patienten sich während des Aufenthalts im Krankenhaus Krankheiten zuziehen, die sie vorher noch nicht hatten, z. B. Infektionen durch Keime, dann ist dies eine sehr unbefriedigende und gegebenenfalls gefährliche Situation. Es gibt viele verschiedene Gründe und Ursachen für solche Infektionen und auch entsprechende Präventions- und Gegen-

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maßnahmen. In diesem Zusammenhang spielen zum Beispiel die Hygienemaßnahmen seitens des Personals (vgl. Graupp und Purrier 2016) oder auch der Umgang mit zentralen Venenkathetern bzw. Blasenkathetern eine Rolle. Die entsprechende medizinische Forschung und Entwicklung von Maßnahmen zu letzterem Thema ist sehr umfangreich und ist nicht Thema dieses Beitrags – des Weiteren sehen viele Autoren insbesondere in der Fort- und Weiterbildung Erfolgspotenziale für die Reduzierung solcher Infektionen (vgl. Scheithauer und Widmer 2018). Neben der schlechten Qualität der Patientenversorgung führt die Versorgung von im Krankenhaus entstandenen Erkrankungen zu zusätzlichen Aufwänden und Kosten, ungeplanten Aufenthalten und Behandlungsabläufen und eventuell zu weiteren Konsequenzen, wie zum Beispiel hohe Strafen für Krankenhäuser in den USA, falls Infektionsziele im Rahmen des „Programms zur Reduzierung im Krankenhaus entstandener Erkrankungen“ nicht eingehalten werden (siehe z. B. Appold 2013). Es sei nochmals betont, dass es hier nicht um die Entwicklung medizinischer Methoden und Standards geht, sondern um eine Unterweisungsmethode, mit deren Hilfe Mitarbeiter erfolgreich, sicher und hinsichtlich einer standardisierten Ausführung der medizinischen Methoden unterwiesen werden können. Auf der strategischen Planungsebene könnten Institutionen, wie zum Beispiel Krankenhäuser, bestimmte Bereiche anvisieren, z. B. die Intensivstation, auf der eine hohe Anzahl an zentralen Venenkathetern und Blasenkathetern eingesetzt wird. Falls festgestellt wird und dies auch entsprechend durch Daten belegt werden kann, dass zum Beispiel die Vorgehensweisen beim ZVK-Verbandswechsel oder bei der Katheterpflege von Person zu Person unterschiedlich sind und dies zu qualitativen Unterschieden und erhöhtem Infektionsrisiko führt, kann ein Trainingsplan für die Unterweisung des Personals erstellt werden, um die Ausführung der entsprechenden Arbeitsschritte zu standardisieren. Die Hypothese hierbei wäre dann, dass die Infektionsrate im entsprechenden Bereich gesenkt werden könnte, wenn die Tätigkeiten bei jeder Ausführung durch jede Person gleich und gemäß der besten bekannten Methode ausgeführt würden. Um diese Hypothese zu testen und zu bestätigen, wäre auf der entsprechenden Station ein Team zu bilden, das die Unterweisungen gemäß Trainingsplan durchführt. Hierzu ist zunächst das JI-Tätigkeitsanalyseblatt (TAB) zu entwickeln – dieses Dokument wird aus den vorhandenen Standards, Vorgaben und Praktiken der Belegschaft vor Ort entwickelt. Abb. 13.2 zeigt ein Beispiel einer solchen Tätigkeitsanalyse für die Katheterpflege, so wie sie in einem bestimmten Krankenhaus entwickelt wurde. Beachten Sie, dass es sich hierbei ausschließlich um ein Hilfsdokument für die unterweisende Person während des Unterweisens handelt – es ist kein alleinstehendes Informationsdokument, nicht für die Unterwiesenen bestimmt und ist auch keine Arbeitsanleitung, Standard Operating Procedure o. Ä. Die Unterweisung erfolgt dann strikt nach der JI-Vierschrittemethode. Darüber hinaus müssen Strukturen geschaffen werden, um zu überprüfen, ob die Arbeit dauerhaft konsequent nach dem trainierten Standard ausgeführt wird und ob neue Mitarbeiter ebenfalls in gleicher Weise trainiert und begleitet werden. Obgleich sich dies sehr einfach anhört, sind in der Praxis viele Hindernisse zu überwinden. Dies beginnt damit, dass viele Mitarbeiter sich zu beschäftigt für Unterweisungen

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Tätigkeitsanalyseblatt

Tätigkeit: Katheterpflege (Patientin) Teile: CHG-Tücher, Reinigungstücher, Handtuch Instrumente & Materialien: Handschuhe WICHTIGE SCHRITTE Ein logischer Arbeitsabschnitt, der die Arbeit voranbringt 1. Vorbereitung

SCHLÜSSELPUNKTE

Etwas im Arbeitsschritt, wichtig für: Gründe für Schlüsselpunkte Ausführbarkeit, Arbeitssicherheit, Arbeitserleichterung 1. Händedesinfektion & Handschuhe 1. Infektionsrisiko verringern 2. Patientengespräch 2. Aufmerksamkeit, Aufklärung

2. Einverständnis einholen 1. Was & Warum erklären 2. Privatsphäre wahren 1. Von vorne nach hinten, jede Seite 3. Perinealbereich runter reinigen & trocknen mit 2. Mitte runter, mit frischem Tuch Handtuch 3. an Seiten/Schenkeln 4. unter Falten/in Taschen 1. an Insertionsstelle aus Statlock4. Katheter von der Halterung lösen Insertionsstelle aus 2. drehend vom Patienten weg reinigen 5. umgebenden Bereich desinfizieren

6. Katheter desinfizieren

7. Patientin und Bett in normale Position bringen

GRÜNDE

1. Grund für die Durchführung kennen und Aufklärung 2. Aufmerksamkeit, keine peinliche Situation schaffen 1. Schmutz weg von Insertionsstelle 2. 3. 4. 1. 2.

1. Handschuhe wechseln

1.

2. runter, Seiten, Schenkel

2.

3. nich tüber Schnitte, Abschürfungen 1. Insertionsstelle vermeiden 2. an Insertionsstelle halten 3. weg vom Patienten

3. 1. 2. 3.

4. Statlock-Halterung ggf. wechseln und Katheter sichern 1. Handschuhe entsorgen

4.

2. Händedesinfektion

2.

1.

keinen Schmutz mit Tuch bringen Schenkelfalten sauber u. trocken bleibt kein Schmutz zurück Stabilität Katheter & gesamte Länge reinigen Schmutz weg von der Insertionsstelle bringen erste Handschuhe sind verschmutzt von der vorherigen Reinigung CHG wird zur Desinfektion in Hautfalten und der Haut mit Kontakt zum Katheter benutzt; es bleibt ein CHG-Film, der weiterhin Keime bekämpft CHG ist für intakte Haut geeignet; kann zu Hautirritationen führen CHG reizt Schleimhäute damit Katheter nicht gezogen wird um Keime vom Patienten wegzuwischen Sauberkeit, Druckstellen und Zug vermeiden keine Keime durch Handschuhe übertragen Infektionsrisiko verringern

Abb. 13.2  TAB Katheterpflege (exemplarisches Unterweisungshilfsmittel)

fühlen. Auch wird es Beschäftigten mit langjähriger Erfahrung vielleicht schwerfallen, ihre Arbeitsweise zu verändern, da sie diese für den „besten Weg“ halten, die Arbeit zu erledigen. In solchen Fällen kann Job Relations helfen, Vertrauen aufzubauen und zu verstärken und die Belegschaft der Abteilung zu motivieren, die trainierten Vorgehensweisen anzuwenden.

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All diese Aufgaben erfordern Hingabe, Zeit und harte Arbeit, aber sie dürfen nicht ignoriert werden, um eine tatsächliche Standardisierung der Arbeit auf dem bestmöglichen Niveau zu erreichen. Ausführlich wurde der Einsatz der JI-Methode am Beispiel der Handhygiene im Krankenhaus von Graupp und Purrier (siehe Graupp und Purrier 2016) beschrieben und auf verschiedenen Konferenzen wurde über die positive Wirkung der Unterweisungsmethode hinsichtlich der Standardisierung und deren Ergebnisse berichtet (vgl. z. B. Latijnhouwers und Thurnes 2017; Graupp 2019a).

13.5.2 Gute Arbeitsbeziehungen führen zu guten Arbeitsergebnissen Das folgende Beispiel zeigt ein typisches Einsatzszenario für die Job-Relations-Methode auf. Es handelt sich um einen fiktiven, aber sehr typischen Fall; die folgende Darstellung ist eine gekürzte und adaptierte Fassung des Originalfalles (vgl. Graupp 2019b). Durch die Anwendung der JR-Methode entgeht im Folgenden eine Pflegedienstleiterin dem Fehler einer voreiligen Entscheidung und sie erreicht sowohl eine Verbesserung der Zufriedenheit aller Mitarbeiterinnen als auch die Sicherung der Qualität und die Verbesserung der Arbeitsabläufe. Die Pflegedienstleiterin eines städtischen Krankenhauses wurde mit einem Bericht über die neue Krankenpflegehelferin (KPH) Petra Q. konfrontiert. Die Krankenschwester Sabine T. hatte den Bericht verfasst und darin schwerwiegende Vorwürfe gegen Petra formuliert. Sabine schilderte, dass ein Patient während der Verabreichung der Medikamente darum bat, zur Toilette begleitet und danach auf einen Stuhl gesetzt zu werden. Sie bat ihn, im Bett zu warten und rief Petra an, um sie zur Hilfe zu holen – diese nahm aber das Gespräch auf ihrem Mobiltelefon nicht an. Sabine bereitete die Medikamente für das nächste Zimmer vor und versuchte nochmals vergeblich, Petra zu erreichen. Als sie dann ins nächste Zimmer ging, um dort Medikamente auszugeben, war Petra dort gerade dabei, einen Patienten zu baden. Petra sagte, dass sie schon fast fertig sei und dass Sabine zunächst weitere Medikamente ausgeben könne oder selbst dem Patienten auf den Stuhl helfen könne. Sabine stellte harsch klar, dass sie die Krankenschwester sei und schickte Petra auf den Flur. Dort schrie sie die KPH an, dass sie schließlich die Krankenschwester von ihnen beiden sei und Petra als Helferin nur zu tun habe, was sie ihr auftragen würde. Sie beschwerte sich weiterhin über Petras Aufsässigkeit und darüber, dass sie sie mehrmals erfolglos angerufen habe und dass sie die Medikamentenausgabe nicht einfach unterbrechen wolle, um Petras Arbeit zu machen. Sabine wiederum versuchte zu erklären, dass sie sich nicht geweigert habe ans Telefon zu gehen, sondern schnell das Waschen beenden wollte, weil dies für die Patientin sehr wichtig gewesen sei, die auf Besuch ihrer Familie wartete. Sie sagte auch, dass sie keine Widerworte geben wollte, sondern nur nach einer Möglichkeit gesucht hatte, die Situation

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zu meistern. Sabine ließ sie aber nicht ausreden, sondern warf ihr vor, schon öfters ihre Anrufe nicht angenommen zu haben, und stellte erneut die Rollen und das Rollenverhältnis heraus. Sie sagte auch, dass sie hart für ihren Abschluss als Krankenschwester gearbeitet habe und daher habe sie jetzt auch die Entscheidungen zu treffen. Sie kündigte an, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen und die Missachtung der Anweisungen bzw. den Ungehorsam zu melden. Petra war noch in der Probezeit und der Bericht über ihr Verhalten, das Ignorieren der Anrufe und der Widerspruch gegen Anweisungen vor Patienten könnten durchaus dazu führen, sie nicht weiter zu beschäftigen. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, kann es zu einem nachhaltig schlechten Arbeitsklima und später vielleicht einer Kündigung kommen. Ein wesentlicher Grundsatz der JR-Methode ist es, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und respektvoll mit Menschen umzugehen. Als die Pflegedienstleisterin den Bericht erhalten hatte, nutzte sie die JR-Methode und bestimmte zunächst das Ziel der Problembearbeitung: Einerseits sollte Petra die Anweisungen befolgen und zu einer guten Patientenversorgung beitragen und andererseits sollte Sabine einen motivierenden Führungsstil annehmen, um eine gute Teamarbeit zu ermöglichen. In Schritt 1 der JR-Methode sammelte sie zunächst die Fakten: Sabine war bereits zwei Jahre auf der Station, arbeitete hart, hatte viele Verbesserungsideen und den Plan, Stationsleiterin zu werden. Sie empfand sich in hohem Maße als verantwortlich für das Wohl der Patienten. Aus diesem Empfinden heraus delegierte sie erforderliche Arbeiten an die ihr zugewiesene Helferin oder ggf. auch andere Personen und erwartete die direkte und widerspruchslose Ausführung. Sie sprach sehr direkt und in knappen Worten, was aber nicht als unhöflich empfunden wurde. Petra war erst seit vier Wochen KPH und seitdem auf dieser Station. Früher half sie Senioren in deren Haushalt und konnte sich ihren Tagesablauf frei gestalten, was ihr als Mutter eines Vorschulkindes entgegenkam. Bisher hatte es noch keine Beschwerden gegeben und sie war auch schon mehrfach von Patienten gelobt worden. Mit Schritt 2 der JR-Methodik prüfte die Pflegedienstleiterin die gesammelten Fakten auf Lücken, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und Widersprüche, um daraus verschiedene Handlungsoptionen zu entwickeln. Mithilfe der gesammelten Fakten identifizierte sie Persönlichkeitsunterschiede, die Reibungspotenzial boten: Sabines direktiver Führungsstil im Gegensatz zur eher selbstbestimmten früheren Arbeitsweise von Petra. Mit einer oberflächlichen Situationsbeurteilung hätte sie diese Tatsache nicht entdecken können. Um keine voreilige Entscheidung zu treffen, suchte sie zunächst nach verschiedenen möglichen Maßnahmen, wie z.  B.  Petra zurechtweisen, in der Gruppe diskutieren und festlegen, welche Pflegeaktivitäten Vorrang vor anderen haben, mit Petra ihre Tätigkeitsbeschreibung und Arbeitspflichten besprechen, Sabine zu einem Führungskräftetraining (z. B. JR-Training) schicken. Die Pflegedienstleiterin überprüfte nun diese Handlungsalternativen gemäß der JR-­ Methodik einzeln darauf hin, inwiefern sie sich jeweils auf die Erreichung des anfänglich gesteckten Ziels, das Individuum, die Gruppe und die Leistungserbringung auswirken würden. Daher schloss sie Petras Zurechtweisung aus – das Ziel wäre so nicht zu erreichen

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und die Maßnahme stünde auch in großem Widerspruch zu dem Lob durch Patienten. Eine Zurechtweisung oder gar Entlassung würde jedoch Sabine positiv stimmen, die mit dieser Absicht ja den Bericht verfasst hatte. Die Gesamtwirkung dieser möglichen Maßnahme auf die Leistungserbringung – also die Patientenversorgung – betrachtete sie aber als negativ und schloss diese Maßnahme daher aus. Die mögliche Diskussion und Festlegung von Prioritäten für Pflegeaktivitäten betrachtete die Pflegedienstleiterin als vorteilhaft, da dies die Teamarbeit verbessern und Petra besser in die vorgesehenen Abläufe einbinden würde. Die Maßnahme würde sich positiv auf das Team auswirken und die Patientenversorgung verbessern. Positiv bewertete die Pflegedienstleiterin auch die beiden verbleibenden möglichen Maßnahmen, nämlich mit Petra ihre Rolle und Verantwortung nochmals zu besprechen und Sabine mit einem Führungskräftetraining zu helfen, einen respektvolleren und effektiveren Umgang mit Men­ schen zu entwickeln. Beide Maßnahmen tragen zur Erreichung der gesteckten Ziele bei und wirken sich positiv auf die Gruppe, die Individuen und die Patientenversorgung aus. Durch die sorgfältige Bearbeitung des Problems mithilfe der Job-Relations-Methode zur Problemlösung konnte die Pflegedienstleiterin Maßnahmen ergreifen, die einerseits Petra als wertvolle Arbeitskraft erhalten haben und andererseits Sabine dabei halfen, ihrem Ziel der Stationsleiterin näher zu kommen. Als sie sich plötzlich dem Konflikt gegenübersah, hat sie nicht voreilig gehandelt, sondern gemäß dem Prinzip des Respekts vor dem Individuum die schwierig erkennbaren zwischenmenschlichen Beziehungen beachtet. Später erhielt die Pflegedienstleiterin noch mehr Fakten und konnte dadurch die zuvor empfundenen Widersprüche auflösen. Die Patientin aus dem entsprechenden Zimmer bedankte sich nämlich ausführlich für Petras Unterstützung beim Waschen und erläuterte auch, dass diese deshalb nicht das Telefonat hatte annehmen können. Sie rügte auch Sabines Verhalten und die Zurechtweisung auf dem Flur, die sie trotz geschlossener Tür gehört hatte, und entschuldigte sich für den Ärger, den sie glaubte, Petra verursacht zu haben.

13.5.3 Inkrementelle Innovation mit Job Methods Im folgenden Beispiel wird eine Prozessverbesserung skizziert, die durch den Einsatz von Job Methods erzielt werden konnte. Eine ungekürzte und ausführlichere Beschreibung dieses Falls kann in dem im Druck befindlichen Buch Creating an effective management system nachgelesen werden (Graupp et al. 2019). Im Rahmen der perioperativen Patientenversorgung wurde Patienten in einem großen Krankenhaus vor und nach einer Operation Blut abgenommen. Hierbei kam es mehrfach zu dem Fehler, dass die Blutentnahme an der falschen Körperseite stattfand. Anstatt nun einfach die entsprechenden Akteure zu beschuldigen, wurde der gesamte aktuelle Ablauf mithilfe der Job-Methods-Vorgehensweise untersucht. Zur Analyse der Istmethode wurde der Prozess in Schritt 1 in seine Details zerlegt und dann jedes einzelne Detail im Rahmen von Schritt 2 hinterfragt. Auf diesem Weg konnten Anhaltspunkte für Verbesserungsvorschläge gefunden werden.

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So wies das EPA-System (elektronische Patientenakte) die Blutentnahme automatisch als Lab Draw aus. Dies bedeutete, dass das Laborpersonal nach Eingabe des Auftrags im System in den Operationssaal kommen sollte, um das Blut vor der Operation zu entnehmen. Auch dieses Detail wurde mithilfe der Frageliste von Job Methods hinterfragt. Es stellte sich heraus, dass die Zuweisung des Lab Draw eine Maßnahme aus der Zeit der Systemeinführung war, die nur temporär sein sollte, aber erhalten geblieben war. Mithilfe der hinterfragten Details wurde eine neue Vorgehensweise erdacht, bei der die Blutentnahme durch perioperative Pfleger erfolgt, die die Patienten für die Operation vorbereiten und hierbei einen venösen Zugang legen. Sie wissen, auf welcher Seite die Operation stattfindet und können das Blut direkt über den dann ohnehin vorhandenen venösen Zugang entnehmen. Um dies zu realisieren, musste noch eine Lösung für die Etiketten der Proben gefunden werden, die bislang im Labor ausgedruckt worden waren. Da der Ausdruck über das EDV-System an jedem Drucker möglich war, konnte einer in unmittelbarer Nähe ausgewählt werden. Die Einsendung der Proben ins Labor war vor Ort mittels Rohrpost möglich. Die Einrichtung des neuen Prozesses reduzierte die erforderlichen Arbeitsschritte von 12 auf 7 und ersparte den Phlebologen lange Laufwege und Unterbrechungen ihrer Laborarbeiten. Das Fehlerrisiko bezüglich einer Blutentnahme auf der falschen Körperseite konnte drastisch reduziert werden.

13.5.4 Einführung innovativer Systeme – Beispiel elektronische Patientenakte Der Einsatz der elektronischen Patientenakte (EPA) hat sich sowohl in Krankenhäusern als auch in Ambulanzen enorm verbreitet. Da die Menge der für die Patientenversorgung verfügbaren und erforderlichen Informationen von Tag zu Tag zunimmt, wird die EPA zunehmend als unverzichtbares Werkzeug zur Speicherung und Wiedergabe dieser Informationen betrachtet. Im Idealfall stellt die EPA Patienteninformationen zeitnah zur Verfügung und stört die Abläufe nicht, d. h., das medizinische Fachpersonal kann die benötigten Informationen genau dann betrachten, wenn sie gebraucht werden. Es gibt verschiedene EPA-Lösungen, die dies bei korrekter Installation und richtiger Implementierung leisten können. Aber nicht alle Ärzte sowie Pfleger sind mit den aktuellen Implementierungen zufrieden. Es scheint, dass einige von ihnen mit EPA-Systemen konfrontiert sind, die zu viel Information zur falschen Zeit bereitstellen. Kombiniert mit Ausgestaltungsentscheidungen, die viel Raum für Fehler lassen, nehmen diese Personen die Systeme eher als einen Fluch als einen Segen wahr. Die übliche Vorgehensweise, um Benutzer an eine neue EPA heranzuführen, besteht darin, ihnen entweder im Selbststudium oder im Schulungsraum verschiedene Übungen und Tests anzubieten. Wenn die EPA dann in Betrieb genommen wird, wird allgemein davon ausgegangen, dass die Anwender eine Einführung erhalten haben und somit gut

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darauf vorbereitet sind, das Produkt zu nutzen. Nun ist es wohl aber auch oft der Fall, dass die Teilnehmenden solcher Schulungen mehr Informationen erhalten, als sie auf einmal verarbeiten können. Und darüber hinaus gibt es Schlüsselpunkte für einzelne Aufgaben, die weder vermittelt noch erkannt werden. Es ist nicht überraschend, dass diese Ärzte und Pfleger nicht in der Lage sind, die EPA wie beabsichtigt zu nutzen, da sie nur Informationen erhalten haben, aber in der Tat nie trainiert wurden. Das Endergebnis hiervon scheint eine mangelnde Akzeptanz der EPA-Systeme zu sein, was zu unnötigen Fehlern und Patientenrisiken sowie einer Überlastung des medizinischen Personals führt. Mithilfe der Methode Job Instruction (JI) kann eine sichere und zuverlässige EPA-­ Nutzung trainiert werden. Die Nutzung einer EPA kann in mehrere typische Tätigkeiten zerlegt werden. Dies könnten zum Beispiel sein: ins System einloggen, die richtige Patientin auswählen, Diagnosen anfordern, Werte bzw. Ergebnisse überprüfen und (unerwartete) Abweichungen ermitteln. All diese Tätigkeiten bzw. Aufgaben erfordern die Ausführung spezifischer wichtiger Schritte – je nach System. Beim Erstellen eines Tätigkeitsanalyseblatts (TAB) werden in der Regel ein oder mehrere Schlüsselpunkte identifiziert, die beschreiben, wie und warum die ermittelten Schritte genau in dieser bestimmten Art und Weise ausgeführt werden sollten. Wenn zwei oder drei spätere Trainer bei der Erstellung einer solchen Tätigkeitsanalyse mitwirken, führt dies bereits zu einer stabilen ersten Fassung des TABs. Beim Trainieren der Nutzung von EDV-Systemen besteht eine Herausforderung darin, die Anzahl der Tätigkeitsschritte überschaubar zu halten – dies ist sehr wichtig. Die Dimensionierung der Lerneinheiten zu wenigen, wirklich wichtigen Schritten und bedeutenden Schlüsselpunkten sorgt dafür, dass die Lernenden diese leicht aufnehmen und behalten können. Jeder wichtige Schritt umfasst auch die Erläuterung, warum er genau so ausgeführt werden soll und was geschieht, wenn man es anders macht. Softwareentwickler bieten meist unterschiedliche Wege zum Ziel an, daher ist es wichtig zu verstehen, warum die Tätigkeiten genau in der trainierten Art und Weise ausgeführt werden sollen. Zum Beispiel hilft das Verwenden der Tabtaste in den meisten Systemen dabei, schneller einen Patientennamen zu finden, als wenn dies durch Platzieren des Cursors mit der Maus in einem bestimmten Feld erledigt wird. Der Grund dafür, den wichtigen Schritt der Patientenauswahl mittels der Tabtaste auszuführen, wäre demnach also „Zeitersparnis“. Umgekehrt kann es aber auch bei bestimmten Aufgaben sinnvoll sein, die Patientenauswahl explizit mit der Maus zu trainieren, um die Wahrscheinlichkeit der fehlerhaften Patientenauswahl durch das überhastete Drücken der Eingabetaste zu reduzieren. Da die Job-Instruction-Methodik die Vorkenntnisse der lernenden Personen berücksichtigt, variiert die Trainingsdauer individuell. Lernende, die bereits Erfahrung mit bestimmten Softwareprodukten haben, benötigen unter Umständen weniger Trainingszeit – es ist dabei Aufgabe der Unterweisenden, zu beurteilen, wann die lernende Person die Tätigkeit tatsächlich beherrscht. Mithilfe von TWI-Trainingsplänen ist der Unterweisungsbedarf zu bestimmen und zu ermitteln, welche wichtigen Tätigkeiten wem in welcher Reihenfolge vermittelt werden müssen. Wenn beispielsweise ein Update der EPA-Software angekündigt wird, sollte die unterweisende Person prüfen, inwiefern die

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Veränderungen sie oder ihre Gruppe betreffen. In der Folge kann der Trainingsplan aktualisiert werden und falls erforderlich finden entsprechende Unterweisungen nach der JI-Methode statt, bevor das Update in den Livebetrieb geht. Diese Vorgehensweise bewahrt das medizinische Personal vor der Situation, in der alltäglichen Arbeit plötzlich mit Veränderungen konfrontiert zu sein, die zwar theoretisch angekündigt waren, aber nun ihre Arbeit ernsthaft stören oder erschweren können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass TWI Job Instruction (JI) ein hervorragendes Instrument zur Schulung von EPA-Nutzern ist, bevor sie sie tatsächlich nutzen, und auch um ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu aktualisieren, bevor Änderungen vorgenommen werden. Beim Wechsel des EPA-Systems eines großen Lehrkrankenhauses wurden im Vorfeld alle Mitarbeiter klassisch im Schulungsraum in der Nutzung des neuen Systems geschult. Es wurden sehr viele Tätigkeiten und Nutzungsvorgänge vermittelt und viele Teilnehmende fühlten sich erschlagen von der Informationsmenge, die ihnen in kurzer Zeit vorgestellt wurde. Nach etwa einem Jahr gab es noch viele Nutzer, die große Schwierigkeiten im Umgang mit der Software hatten, aber einige schienen ihren Weg gefunden zu haben und arbeiteten sehr effizient damit. Die Assistenzärzte wurden bei der Anwendung der Software beobachtet, um herauszufinden, für welche Tätigkeiten sinnvollerweise Tätigkeitsanalysen für eine Schulung nach der JI-Methode erstellt werden sollten. Dabei fiel auf, dass die meisten Nutzer viel Zeit für das Erstellen von Patienteneintragungen benötigten. Das Interview mit einer Assistenzärztin brachte aber zutage, dass sie eine bestimmte Tastenkombination kannte, mit welcher die Software sie an ausstehende Eintragungen in den Patientenakten erinnerte. Die EPA half ihr also dabei, an zu erledigende Arbeitsschritte zu denken. Sie konnte sich nicht erinnern, woher sie diesen „Trick“ kannte, und es schien so, dass ihre Kollegen ihn nicht kannten. Die meisten wollten diese Funktion dann auch sehr gerne nutzen, waren sich aber unsicher, wo und wie die Tastenkombination richtig anzuwenden wäre. Die Tätigkeit „Patienteneintragungen speichern“ wurde für das Training der Ärzte mit der Methode der TWI Job Instruction ausgewählt. Alle Assistenzärzte stimmten zu, dass die Tätigkeitsanalyse die entsprechende Tastenkombination als Schlüsselpunkt enthalten solle, da sie allen damit arbeitenden Ärzten den Stress ersparen würde, sich über ausstehende EPA-Eintragungen den Kopf zu zerbrechen.

13.5.5 Innovation und Qualität in medizinischen Labors unterstützen Medizinische Labors haben sich weltweit im Laufe der Zeit in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt. Automatisierung, Qualitätssicherung und Effizienzprogramme sind Themen, die auf eine kürzere Durchlaufzeit und eine Reduzierung fehlerhafter Ergebnisse bei niedrigeren Kosten abzielen. Ein stabiles System zu etablieren, mit dessen Hilfe diese Ziele erreicht werden können, ist eine Herausforderung für viele Laborleiter.

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Medizinische Labors verfügen häufig über den höchsten Standardisierungsgrad in einem Gesundheitssystem und sind an langfristige internationale Qualitätsstandards angepasst. Die meisten Labors verfügen über eine große Anzahl von Standardarbeitsanweisungen (Standard Operating Procedures – SOPs) für diagnostische Tests, Logistik- und Wartungsaufgaben. In der Regel werden die SOPs mit vielen Sicherheitshinweisen versehen, um Personenschäden sowohl bei den Patienten als auch beim Laborpersonal zu vermeiden. Paradoxerweise garantiert die reine Existenz dieser SOPs jedoch nicht, dass die beschriebenen Aufgaben wie vorgesehen ausgeführt werden. Selbst wenn das Lesen per Unterschrift bestätigt wird, so führt die Ausgabe einer SOP nicht zu einer sicheren ­Rückmeldung für die Autoren, Vorgesetzte oder Qualitätsmanager, dass das Laborpersonal die Tätigkeit tatsächlich korrekt, sicher und gewissenhaft ausführt. Genauer gesagt: Viele SOPs beschreiben, was getan werden muss – aber nicht, wie und warum es exakt so gemacht wird. Ein Teil dieses Problems wird durch die Erstellung von Kompetenzmatrizen angegangen, um vorhandene Kenntnisse und Fähigkeiten zu bestätigen. Eine solche Matrix wird in der Regel nach einer ersten Beobachtung und bestenfalls nach späteren Folgebeobachtungen erstellt bzw. aktualisiert. Viele, wenn nicht sogar alle, dieser Beobachtungen bestätigen jedoch nicht, ob das „Wie“ und das „Warum“ einer Vorgehensweise verstanden wurden. Mithilfe der Methode Job Instruction kann das Laborpersonal gezielt für verschiedene Aufgaben trainiert werden. Dies können sowohl neue Aufgaben sein, die sich aus dem Einsatz neuer, innovativer oder auch aktualisierter Laborgeräte ergeben, als auch langfristig und dauerhaft anfallende Tätigkeiten, die noch nie tief greifend trainiert wurden. Auch Aufgaben, die auf unterschiedliche Weise ausgeführt werden, sind sehr geeignet, um die Standardisierung der täglichen Praxis zu verbessern. Die Verwendung von Job Instruction als Schulungsmethode führt üblicherweise zu einer schnelleren Inbetriebnahme von Geräten und vor allem auch zu deutlich geringeren Anlaufverlusten. Solche Anlaufverluste entstehen zum Beispiel, wenn der Hersteller die Erstbetreuung nach mehreren Wochen reduziert und das Laborpersonal schlagartig mit seinen noch unzureichenden Kenntnissen und Fähigkeiten konfrontiert wird. Eine geeignete Unterweisung für Verfahren und Aufgaben im Labor kann, wie oben beschrieben, sehr hilfreich sein, erfordert aber eine Organisationskultur des Verstehens und des Miteinanders, um am effektivsten zu sein. Genauer gesagt: Jeder, der für Menschen verantwortlich ist oder die Arbeit anderer anleitet, muss eine angemessene Beziehung aufbauen. Gute Arbeitsbeziehungen führen zu guten Ergebnissen und schlechte Arbeitsbeziehungen zu schlechten Ergebnissen. Vielen Menschen fällt es jedoch schwer, ein gutes Arbeitsverhältnis aufzubauen und zu pflegen. Das Ergebnis ist eine weniger effektive Leistung – selbst bei angemessenem Training. Betrachten wir zum Beispiel die Anschaffung neuer Laborgeräte. Die Automatisierung von Aufgaben wird vom Laborpersonal oft sehr kritisch beurteilt. Irgendwann kann es zu einer Diskussion kommen, ob die neuen Geräte das Personal in Zukunft überflüssig machen. Infolgedessen wird die Akzeptanz des neuen Gerätes und der damit verbundenen Verfahren relativ gering ausfallen, was zu einer weiteren Form von Anlaufverlusten führt.

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Diese Situation wird speziell mit einer der „Grundlagen für gute Arbeitsbeziehungen“ der JR-Methode fokussiert: Wenn Menschen im Voraus über Änderungen, die sie betreffen, informiert werden, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer negativen Reaktion auf die neuen Geräte. Wenn man erklärt, warum die Veränderungen stattfinden, und die Mitarbeiter dabei aktiv mitwirken können, ist die Chance auf Akzeptanz noch größer. Auch wenn dieser Schritt trivial erscheint, lassen sich viele Situationen finden, in denen die Akzeptanz sehr gering ist und dies darauf zurückgeführt werden kann, dass die Gründe für den Kauf und die Einführung der neuen Techniken nicht verstanden bzw. vermittelt wurden. In medizinischen Laboren gibt es viele gleichmäßige und bis zu einem gewissen Grad wiederholbare Aufgaben. Sie umfassen meist das Handling von Materialien, Arbeit mit Maschinen und manuelle Tätigkeiten. Neben der Verbesserung der Standardisierung (mithilfe der JI-Methode) und der Steigerung der Akzeptanz (mittels der JR-Methode) bieten diese Prozesse meist großes Verbesserungspotenzial, das durch konsequentes Hinterfragen der Details der Arbeitsschritte identifiziert werden kann. Je nach Wiederholhäufigkeit dieser Tätigkeiten und Anzahl der involvierten Personen kann sich hier schnell eine beachtliche Summe einsparbarer Zeiten ergeben. Beispielsweise wird in vielen Laboren nicht hinterfragt, ob der Standort der einzelnen diagnostischen Geräte die Tätigkeit des Personals erleichtert. Vielleicht wird dies sogar als Problem erkannt, aber üblicherweise wird eine systematische Verbesserung der Arbeitsprozesse nicht regelmäßig angestoßen und durchgeführt. Mithilfe der Methode Job Methods (JM) kommt zum Beispiel oftmals ans Tageslicht, dass viele hochqualifizierte Laboranten einen Großteil ihres Tages damit verbringen, durch die Gegend zu laufen, überflüssigerweise Material zu transportieren und eine Menge Bewegungen auszuführen, die nicht erforderlich sind. Diese Abläufe können wie oben beschrieben von den Labormitarbeitern detailliert durch Hinterfragen untersucht werden: Warum ist ein Arbeitsschrittdetail erforderlich, was ist sein Zweck, wo und wann sollte es erledigt werden, wer ist am besten dafür qualifiziert und wie ist es am besten zu erledigen? Dann kann durch Eliminieren, Kombinieren, Umstellen und Vereinfachen von Details der Ablauf bzw. die Arbeitsmethode verbessert werden. Ein dann neu entwickelter Ablauf kann wiederum mithilfe von Job Instruction standardisiert und trainiert werden, solange bis sich wiederum eine neue Verbesserung erkennen lässt. Die systematische Verbesserung aller Aufgaben in medizinischen Laboren führt zu einer sichereren Arbeitsumgebung, höherer Qualität der Ergebnisse und kürzeren Durchlaufzeiten bei geringeren Kosten.

13.6 Schlussbetrachtung TWI-Methoden können Innovationen im Gesundheitswesen fördern und mitgestalten. Sie verhelfen einer Organisation, einer Institution oder ganz allgemein einem Teil des Gesundheitssystems von innen heraus Innovation zu schaffen und darüber hinaus schaffen sie innerhalb des Systems die Voraussetzungen, um Innovationen erfolgreich aufzunehmen und ihre Akzeptanz dramatisch zu steigern.

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Die ursprünglich sehr alten TWI-Methoden feiern im industriellen Bereich ein erfolgreiches Comeback und sind insbesondere in innovative Organisationskonzepte des Lean Managements eingebunden. Auch im Gesundheitswesen kommen die vorgestellten Vorteile zum Tragen, wobei die meisten Implementierungen zurzeit noch in den USA stattfinden und eine großflächige Verbreitung noch in den Anfängen steckt. Die Autoren dieses Artikels sind für mögliche Kooperationen und Gedankenaustausch im deutschen Gesundheitswesen offen und dankbar.

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Gerard Berendsen,  M. Sc., ist Mitgründer und zertifizierter Mastertrainer des TWI-­Instituts in den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Österreich. Er studierte Elektrotechnik, Betriebswirtschaft, General Management und Lean Operations. Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Betriebs-, Engineering- und Wartungsmanagement in globalen Unternehmen. Sein Schwerpunkt lag auf der Entwicklung der Fähigkeiten der Mitarbeiter zur Verbesserung der Geschäftsergebnisse. Während seines Masterstudiums an der Universität Cardiff lernte er TWI kennen und begann damit, die Methoden zu üben. Durch die Schulung, Implementierung und Entwicklung von TWI-Methoden in Industrie, Dienstleistung und Gesundheitswesen wurde er zum zertifizierten TWI-Mastertrainer. Alexandra Thurnes  ist examinierte Krankenschwester und studiert zurzeit Health Care Sciences. Sie absolvierte ihre Ausbildung in der Psychiatrie und arbeitete anschließend im Bereich Gerontopsychiatrie. Danach wechselte sie für zwei Jahre in die Intensivpflege von Querschnittspatienten. Anschließend sammelte sie Erfahrungen in einem Krankhaus der Maximalversorgung in den Bereichen Neurologie, Notaufnahme und als Mitglied des Springerpools auf unterschiedlichsten Stationen. Neben der Tätigkeit als Krankenschwester ist sie seit 2017 zertifizierte TWI-Job-Instruction-Trainerin und trainiert bislang hauptsächlich Supervisors in Industriebetrieben in dieser Methodik. Dr. Dik Versteeg  studierte Medizin und hält seit 2008 seinen Doktortitel auf diesem Gebiet. Er wurde zum klinischen Mikrobiologen ausgebildet und sammelte Erfahrung in der medizinischen Mikrobiologie in mehreren Krankenhäusern in den Niederlanden. Er hat ein großes Interesse an Verbesserungsaktivitäten, sowohl im Gesundheitswesen als auch in anderen Arbeitsbereichen. Dr. Versteeg wurde von aktiven und ehemaligen Toyota-­Mitgliedern zu Themen wie Problemlösung, On-the-Job-Personalentwicklung und Strategieentwicklung unterrichtet und hat diese während seiner Arbeit im Gesundheitswesen angewendet. Er ist qualifiziert, 10-stündige TWI-Job-Instructionund Job-Relations-Kurse zu unterrichten, und hat Erfahrung in der Anwendung der TWI-Methoden in der täglichen Praxis. Er ist fest davon überzeugt, dass Verbesserungsaktivitäten nur in einem Unternehmen erfolgreich sein können, in dem die Personalentwicklung oberste Priorität hat.

Das AGAPLESION-Konzept

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Claudia Möller

Inhaltsverzeichnis 14.1  W  ie Neues in die Welt kommt  14.2  Innovationsmanagement im Gesundheitswesen  14.3  Innovationsmanagement bei AGAPLESION  14.3.1  Entstehung  14.3.2  Innovationskonzept  14.3.3  Einordung des Innovationsmanagements in die Unternehmensstrategie  14.3.4  Nutzenbewertung des Innovationsmanagements  14.4  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Innovationsmanagement im Gesundheitswesen ist immer noch nicht üblich. In den letzten Jahren hat sich zwar schon viel getan, vor allem durch die Dynamik im Markt und das große Thema „Digitalisierung“. Es geht aber trotzdem nur langsam voran. AGAPLESION, einer der größten Gesundheitskonzerne in Deutschland und der größte freigemeinnützige Träger, beschäftigt sich bereits seit 2012 mit dem Innovationsmanagement. Der Konzern hat dabei schon viele Hürden überwunden. Es ist auf keinen Fall einfach und schon gar nicht trivial, aber es lohnt sich, vor allem mit Blick auf die Zukunft.

C. Möller (*) AGAPLESION gAG, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_14

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14.1 Wie Neues in die Welt kommt Wer von Ihnen kennt Garmin? Ja genau, Garmin kommt ursprünglich aus dem Bereich der GPS-gestützten Navigationssysteme für Fliegerei und Marine und schließlich auch den allgemeinen Verkehr. Und womit macht Garmin heute seinen Hauptumsatz? Vor allem mit den Bereichen Outdoor und Fitness. Summiert konnten diese beiden Sparten im ersten Quartal 2018 44 % mehr Umsatz erreichen, die Autosparte erreichte dagegen ein Minus von 12 % (Garmin 2018). Wie kam es dazu? Ende der 2000er-Jahre sah sich Garmin mit neuen Technologien wie dem iPhone und Google Maps konfrontiert. Die Wettbewerber hatten einen Weg gefunden, die Produkte von Garmin günstiger und effektiver anzubieten. In der Konsequenz musste sich das Unternehmen neue Produkt- und Dienstleistungsansätze suchen. Die aufkommenden Trends Quantified Self und das Internet of Things sah Garmin als Chance und nutzte diese auch erfolgreich. Sie haben sich in den letzten zehn Jahren zu einem der führenden Anbieter im Bereich der Fitness-Wearables mit Produktinnovationen und ansprechendem Design entwickelt. Diese Situation wird auch auf etablierte Unternehmen im Gesundheitswesen zukommen. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht eine neue Meldung über Unternehmen erreicht, die in den Sozial- und Gesundheitsmarkt einsteigen wollen. Bemerkenswert ist, dass die Mehrzahl dieser Unternehmen bis dato gar nicht mit dem Gesundheitsmarkt in Verbindung gebracht wurde (Horneber 2015). Beispiele von Google oder Amazon sind bereits bekannt. Amazons neuste Entwicklung im Gesundheitsmarkt ist, dass die Sprachassistentin Alexa in den USA die Health-­ Insurance-­ Portability-and-Accountability-Act-Zulassung (HIPPA) bekommen hat. Das Zertifikat ermöglicht dem Unternehmen weitere Schritte in den amerikanischen Gesundheitsmarkt. Alexa besitzt zudem künftig sechs weitere Healthcare-Kompetenzen von führenden amerikanischen Gesundheitsdienstleistern (Schwelm 2019). Das LA Hospital will die alexa-betriebene Gesundheitsplattform namens „Aiva“ in über 100 Patientenzimmer installieren und testen. Der Smart Speaker von Amazon soll im ersten Schritt als Schwesternruf dienen oder zur Steuerung des TV-Gerätes (Moon 2019). Einer der Schwerpunkte von Google (bzw. der Muttergesellschaft Alphabet) ist unter anderem die Forschung im Bereich der Biowissenschaft. Das Tochterunternehmen verily beschäftigt sich vor allem mit der kontinuierlichen Erfassung von Gesundheitsdaten, um zeitnahe Entscheidungen und effektive Interventionen zu ermöglichen. Zu den Projekten gehört z. B. das Smart-Lens-Programm, eine Kontaktlinse, die Glukosewerte in der Tränenflüssigkeit misst (verily 2019). Ein vielsagendes Statement von Larry Page, CEO von Alphabet, ist in dem Zusammenhang: „Es gibt kaum Konkurrenz beim Erforschen technologischer Grenzen, weil niemand so verrückt ist, es zu versuchen“ (Schultz 2014). Aber auch in Deutschland machen sich Großunternehmen wie die Telekom oder Audi auf, den Gesundheitsmarkt zu erobern. Audi setzt dabei auf ein neues Geschäftsfeld Automotive Health. Noch befindet sich das „Projekt Audi Fit Driver“ im Vorentwicklerstatus, aber es geht darum, dass Fahrer entspannter und fitter am Ziel ankommen. Erste

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­ onzeptfahrzeuge messen dabei über Sensorik und Wearables des Fahrers Vitaldaten. Je K nach Zustand können dann verschiedene Systeme im Fahrzeug reagieren, belebend, entspannend oder schützend (Klostermeier 2019). Das passiert schon jetzt, während deutsche Gesundheitsdienstleister ihrem laufenden Geschäft nachgehen. Die Internet- und Industriegiganten nehmen mit ihren ausgreifenden technischen Innovationen keine Rücksicht auf etablierte Strukturen im (deutschen) Sozialund Gesundheitsbereich. Daher ist für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens wichtig, sich mit diesen Entwicklungen systematisch auseinanderzusetzen und Strategien zu entwickeln. Ein Ansatz ist das Innovationsmanagement.

14.2 Innovationsmanagement im Gesundheitswesen Es mangelt nicht an Innovationspotenzial in der Gesundheitswirtschaft: Entlang der gesamten Versorgungskette ergeben sich zum einen aus medizinischer und pflegerischer Sicht Ansatzpunkte für Produkt-, Prozess-, Organisations- und Systeminnovationen. Ziele sind die Optimierung der angebotenen Leistungen und eine verbesserte Koordinierung der Leistungserbringung. Zum anderen kann das Innovationspotenzial vor allem im Bereich der Krankenhausversorgung aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive heraus analysiert werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Vermeidung direkter, indirekter und psychosozialer Krankheitskosten zu. Denn Krankheitskosten können als Opportunitätskosten angesehen werden (Henke et al. 2011). Aber auch in allen anderen Bereichen des Gesundheitswesens, wie der Altenpflege oder ambulanten Versorgung, gibt es hohes Innovationspotenzial. Doch trotz des hohen Potenzials führt eine statista-Statistik zur Höhe der Innovationsausgaben in ausgewählten Branchen für 2016 das Gesundheitswesen jedoch nicht einmal auf. Die Automobilbranche war hier mit 47,11 Mrd. Euro führend, gefolgt vom Maschinenbau mit 15,35 Mrd. Euro (statista 2016). Ebenso zeigt eine Recherche im Gesundheitswesen, dass das Thema Innovationsmanagement bei den Anbietern im Gesundheitswesen nicht weitverbreitet ist. Im Bereich der privaten Anbieter finden sich auf den Webseiten vor allem die Themen Forschung und auch das große Thema Digitalisierung wieder. Zwei Anbieter verfügen über eine Innovationsabteilung, als Hub oder auch als eigenständige GmbH. Im diakonischen Umfeld haben erste größere Verbünde angefangen Innovationsabteilungen aufzubauen. Kleinere Verbünde und eigenständige Einrichtungen im Gesundheitswesen haben dafür jedoch kaum Kapazitäten oder sie haben das Thema Innovationsmanagement noch nicht bearbeitet. In diesen Einrichtungen denkt man vielleicht ein bis zwei Jahre voraus, aber selten hat man die Zeit dazu, sich wirklich intensiv mit Trends und Entwicklungen im Gesundheitswesen branchenübergreifend und international auseinanderzusetzen. Ein ganzheitliches Innovationsmanagement umfasst das Unternehmen als Ganzes, seine Strategie, Kultur und Organisation (Schultz et al. 2011). Zentrale Erfolgsfaktoren des Innovationsmanagements sind:

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• systematische Strategiebildung und Strategiekommunikation, • Einbindung von Mitarbeitenden in die Ideengenerierung und -bewertung, • systematische Analyse des Nutzens und der Risiken von Innovationen zur Selektion und für das Risikomanagement, • Einsatz formaler Steuerungsinstrumente für Innovationsprozesse, • aktive Beteiligung und Unterstützung des Topmanagements, • positive Fehlerkultur. Dies allein reicht aber nicht aus, um ein Unternehmen und seine Mitarbeitenden für die Zukunft fit zu machen. Wie kann Innovationsfähigkeit gesteigert werden? Wie können Unternehmen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil generieren? Kern des Innovationsmanagements ist eine florierende innovationsfreudige Kultur innerhalb des Unternehmens (Horneber 2015).

14.3 Innovationsmanagement bei AGAPLESION Die 2002 gegründete AGAPLESION gemeinnützige AG ist einer der größten Gesundheitskonzerne in Deutschland. Unter dem Dach von AGAPLESION befinden sich rund 100 Einrichtungen. Die beiden größten Geschäftsbereiche sind Krankenhäuser sowie Wohn- und Pflegeeinrichtungen. Viele Einrichtungen von AGAPLESION haben eine Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Dass ein solch traditioneller, diakonischer Dienstleister im Gesundheitswesen als einer der ersten in Deutschland ein Innovationsmanagement gründet, ist keinesfalls selbstverständlich.

14.3.1 Entstehung Der Grundstein des Innovationsmanagements bei AGAPLESION wurde 2012 gelegt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich der Vorstand zum ersten Mal intensiv mit dem Thema Innovation sowie mit Trends im Gesundheitswesen und deren Auswirkungen auf die Krankenhaus-, Wohn- und Pflegelandschaft in Deutschland. Im Fokus standen damals schon Trends wie neue Kommunikationsformen, Internationalisierung und die zunehmende Technisierung. Zudem wurde klar, dass sich in den nächsten Jahren auf dem Gesundheitsmarkt einiges verändern wird. Im Verlauf der Diskussionen entschied sich der Vorstand daher, eine eigene Stabsstelle Forschung und Entwicklung (FuE) & Innovationsmanagement zu schaffen, um eine strukturierte Auseinandersetzung und Bearbeitung der Themen zu gewährleisten.

14  Das AGAPLESION-Konzept

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14.3.2 Innovationskonzept Das Konzept von AGAPLESION zum Innovationsmanagement fußt auf zwei Ebenen: der Konzern- und der Einrichtungsebene (Abb. 14.1). Neben der schon erwähnten Identifizierung von Trends (siehe Abschn. 14.3.2.1) und dem ganzen Bereich der Projektinitiierung und des Projektmanagements (Abschn. 14.3.2.2) ist ein weiterer wichtiger Teil die Gewinnung von Kooperationspartnern (Abschn. 14.3.2.3). Oftmals findet die Auswahl der Kooperationspartner und Projekte in Abstimmung mit den Experten in der Zentrale oder auch den Einrichtungen statt. Diese können am besten das Potenzial neuer Anwendungen in ihrem Bereich abschätzen bzw. können sagen, ob ein Projekt oder ein Kooperationspartner interessant erscheint. Eine weitere Aufgabe des Innovationsmanagements ist es, Fördermittel zu beantragen und zu verwalten. Diese Gelder spielen eine wichtige Rolle, da für Innovationsprojekte meist nur begrenzte Budgets zur Verfügung stehen. Der Fokus liegt dabei auf Projektausschreibungen für Bundesfördermittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) oder des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfond (ESF). Es gibt seit einigen Jahren im Bereich der Digitalisierung zudem noch länderspezifische Förderprogramme. Um Projekte letztendlich durchführen zu können, bedarf es aber nicht nur der Kon­ zernebene, sondern vor allem auch der Einrichtungsebene. Die einzelnen Kliniken oder Wohn- und Pflegeeinrichtungen müssen ebenfalls an einem Praxistest von innovativen Konzernebene Vorstand ZD FuE & Innovation Zentrale Dienste

Identifizierung von Trends

Kooperationspartner (Start-ups/Branchenführer etc.) gewinnen

Abstimmung mit ZD Inno bei zukunftsweisenden Themen

Projektmanagement

Ideen-& Innovationskultur schaffen und fördern

Einrichtungsebene GF

Projekte initiieren/ umsetzen/ unterstützen

Finanzielle Mittel/ Fördermittel beantragen/ verwalten

Ideen-management/ Strategie-workshops

Kooperationspartner gewinnen

Projekte initiieren und umsetzen

Mitarbeitende

Abb. 14.1  Konzept Innovationsmanagement. (Quelle: eigene Darstellung) Anmerkung: GF = Geschäftsführung, FuE = Forschung und Entwicklung, ZD = Zentraler Dienst

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C. Möller

Projekten interessiert sein. Das ist neben dem Klinik- bzw. Einrichtungsalltag nicht immer ganz einfach. In den ersten Jahren des Innovationsmanagements bei AGAPLESION war dies eine der größten Hürden. Kern des Innovationsmanagements ist es daher, auch eine florierende innovationsfreudige Kultur innerhalb des Konzerns zu etablieren. Mittlerweile ist in allen Einrichtungen von AGAPLESION ein Ideenmanagement, der kleine Bruder des Innovationsmanagements, etabliert. Denn jeder Mitarbeiter hat das Potenzial, Ideen zu entwickeln, die es bis zu einer konzernweiten Umsetzung schaffen können. Das Ideenmanagement hat zum Ziel, die Mitarbeitenden zu motivieren, Vorschläge, Anregungen und innovative Ideen zu entwickeln. Alle Mitarbeiter werden mit dem Ideenmanagement dazu aufgefordert, ihre Erfahrungen und Ideen in die Einrichtung bzw. den Konzern einzubringen. Grundlage dafür stellt die seit Jahren etablierte Ideenbörse dar. Ideen oder Verbesserungsvorschläge können so jederzeit im Intranet eingereicht werden. Der Ideenmanager vor Ort erhält eine Nachricht mit der eingereichten Idee und bearbeitet diese. Je nach einrichtungsinterner Regelung durchläuft die Idee dann einen definierten Prozess (Horneber 2015). Zudem initiieren die Einrichtungen auch Innovationsprojekte in Rücksprache mit dem Zentralen Dienst.

14.3.2.1  Identifizierung von Trends Seit den Anfängen des Zentralen Dienstes Innovationsmanagement stehen Trends, genauer gesagt Megatrends, als stabile Treiber des globalen Wandels im Mittelpunkt der Überlegungen. Der Begriff der Megatrends wurde durch John Naisbitt geprägt (Naisbitt 1982). Mit seinen Bestsellern Megatrends und Megatrends 2000 beeinflusste er die moderne Zukunftsforschung. Im Gegensatz zu Mode- oder Konsumtrends wirken Mega­ trends langfristig. Sie helfen uns die Zukunft nicht nur zu erahnen, sondern zu gestalten. Sie geben Anlass und Struktur, um Entscheidungen zu hinterfragen. Es geht hier im Schwerpunkt um Entscheidungen im Hinblick auf strategische Fragestellungen: Auf welche zukünftigen Kundenerwartungen müssen wir uns einstellen? Welche Technologien und digitalen Lösungen haben das Potenzial, das Gesundheitswesen zu verändern? Wie müssen wir uns in Zukunft aufstellen? Benötigen wir neue oder modifizierte Geschäftsmodelle (Horneber 2015)? Mithilfe der Megatrends lassen sich neue Geschäftsfelder entdecken und Chancen erkennen, die andere in der Informationsüberflutung möglicherweise zu spät erfassen. Sie zeigen auf, welche Innovationen in Zukunft möglich werden und welche neuen Kundenbedürfnisse zu erwarten sind. Die Trendübersicht in Abb. 14.2 wurde erstmalig 2015 erarbeitet und wird seither kontinuierlich weiterentwickelt. Die äußeren Trends, wie beispielsweise Digitalisierung/Vernetzung, Wertewandel oder New Work, stellen die von AGAPLESION für das Gesundheitswesen identifizierten Megatrends dar. Sie sind seit Beginn vorhanden und beeinflussen eine Branche oder auch größere Zusammenhänge über Jahre hinweg. Vier Parameter gelten im Allgemeinen als Bedingungen für einen Megatrend: (1) Halbwertzeiten von mindesten 25 bis 30 Jahren, (2) Auswirkungen und Erscheinen in allen möglichen

14  Das AGAPLESION-Konzept WERTEWANDEL

245

INTERNATIONALISIE RUNG

WISSEN/BILDUNG/KÖNNEN

NEW WORK

Neue Marktteilnehmer Achtsamkeit

INDIVIDUALISIERUNG

Nachhaltigkeit

Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung Gesundheitstourismus

Lebensstil

Mobiles Arbeiten

Personalisierte Medizin Bildung von Verbünden

Digitale Bildung

Generationsspez. Work-Life-Konzepte

Fachkräftemangel

GESUNDHEIT/ HEALTH STYLE

Digital Health Wohlbefinden / Lebensqualität

Blockchain

Ambulantisierung

Qualität

Behandlungszentren

Systemangebot

Active Aging

Gentechnologie/ synthetische Biologie

Quantified Self / Biohacking mittels IoT / Wearables

3-D- oder 4-D-Druck/ Bioprinting

Modellierung / Simulation

Robotik

TECHNISIERUNG & BIOMEDIZINTECHNIK

AR/VR/ Mixed Reality

DATA-ÄRA

Nanotechnologie

Plattformen Cloud & Edge Computing Smart Data

DIGITALISIERUNG/ VERNETZUNG

Kl / Machine Learning

Abb. 14.2  Megatrendübersicht. (Quelle: eigene Darstellung) Anmerkung: AR = Augmented Reality, KI = künstliche Intelligenz, IoT = Internet of Things, VR = Virtual Reality

­ ebensbereichen, (3) prinzipiell globaler Charakter und (4) vorübergehende Rückschläge L führen zu keinem Verlust der Dynamik (Horx 2019). Aber nicht jeder weltweite und für andere Branchen wichtige Megatrend hat auch im Gesundheitswesen seine Berechtigung. So hatten wir zu Anfang auch das Thema Shareconomy mit in der Übersicht. Es stellte sich jedoch für uns heraus, dass der Wirkungsgrad bzw. der Einfluss dieses Trends auf das Gesundheitswesen eher gering ist. Daher findet sich dieser Trend nicht mehr in unserer Übersicht. Für die Automobilbranche z. B. ist dies jedoch ein ganz wichtiger Megatrend. Aktuell im Fokus unserer Betrachtungen stehen vor allem die Trends Digitalisierung/Vernetzung, Data-Ära, Technisierung & Biomedizintechnik sowie unser Kernthema Gesundheit/Health Style. Die kleineren Kästchen im Inneren der Grafik sind Makrotrends. Diese beziehen sich auf einen Zeitraum von etwa 5–10 Jahren und beschreiben die Teilströmungen und spezifischen Ausprägungen der Megatrends. Dabei sind einige jedoch schon sehr nah bzw. befinden sich gerade in der Umsetzung. Andere Makrotrends ziehen gerade erst im Gesundheitswesen ein, so z. B. das Thema Blockchain. Hier stehen wir im Gesundheitswesen gerade am Anfang. Es gibt bisher nur einzelne Überlegungen zum Einsatz der Blockchain, beispielsweise als Gesundheitskonto. Das Bundesministerium für Gesundheit führte in dem Zusammenhang im

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C. Möller

Februar 2019 eine Zukunftswerkstatt Blockchain im deutschen Gesundheitswesen durch. Wird sich der Trend etablieren? Oder wird er relativ zeitnah mit seinem Erscheinen auch gleich wieder verschwinden? Daher gilt es, manche Trends erst einmal nur zur beobachten. Andere sind schon so aktuell und für das Gesundheitswesen nutzbar.

14.3.2.2  Innovationsprojekte Entsprechend den Megatrends und den erarbeiteten Strategien ist es AGAPLESION wichtig, nicht nur über Trends zu sprechen, sondern Projekte zu initiieren und umzusetzen. AGAPLESION verwendet für die Auswahl ein Bewertungsschema, um ggf. Potenziale von Ideen oder Lösungen nicht zu übersehen. Kriterien sind beispielsweise: • • • • •

Passt das Projekt zur Konzernstrategie bzw. zu einer der Teilstrategien? Wie neuartig ist das Projekt bzw. die Projektidee? Wie hoch ist der voraussichtliche Mehrwert beim Kunden? Ist das Projekt ethisch vertretbar? Ist das Projekt wirtschaftlich (Kosten vs. Nutzen)?

Nur eine Handvoll Projekte kommt dann tatsächlich zur Umsetzung. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen ist das Projektvolumen in den Einrichtungen und auch in der Konzernzentrale begrenzt. Zum anderen sind die Kosten bzw. die Wirtschaftlichkeit der Projekte mit ausschlaggebend. Viele Innovationsprojekte sind mit hohen Investitionskosten verbunden und nicht alle rentieren sich. Damit ist neben dem Return of Invest (ROI) auch der Mehrwert für den Kunden gemeint. Mittlerweile sind es konzernweit trotzdem über 20 Innovationsprojekte. Ein Großteil der Projekte baut auf dem Megatrend Digitalisierung auf. Ein Projekt in diesem Rahmen ist z. B. die Kooperation mit der Techniker Krankenkasse im Bereich Patientenakte „TK-­ Safe“. Ein weiteres Projekt, welches bereits konzernweit ausgerollt wird, ist die Onlinesprechstunde. Dabei ist das Innovationspotenzial unterschiedlich hoch. Meist reden wir von neuen Produkten oder Dienstleistungen, die es bei uns im Konzern noch nicht gibt. Teilweise gibt es sie aber auch noch nicht im deutschen Gesundheitswesen. Oftmals sind uns jedoch andere Branchen voraus. Auch weltweite Innovationen sind eher weniger zu erwarten.

14.3.2.3  Kooperationspartner AGAPLESION kann die meisten Projekte nicht in Eigenleistung erbringen. Oftmals werden Kooperationspartner benötigt, die die Technologie besitzen oder über das notwendige Know-how verfügen. Diese Partner gilt es, zu finden oder auch aus der Fülle der Anbieter auszuwählen. Im Bereich der digitalen Gesundheitsanwendungen gibt es einen immensen Zuwachs an Start-ups, die vor allem digitale Anwendungen erzeugen. Der deutsche Startup Monitor 2018 (Abb. 14.3) zeigt, dass mittlerweile 8,5 % der Start-ups im Bereich M ­ edizin und Gesundheitswesen agieren (Kollmann et al. 2018). Im Startup Monitor 2017 wurde die Branche noch nicht einmal explizit ausgewiesen.

14  Das AGAPLESION-Konzept

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Informations- und Kommunikationstechnologie Ernährung und Nahrungsmittel/Konsumgüter Medizin und Gesundheitswesen Automobile/Logistik/Verkehr Freizeit und Sport/(Online-)Gaming Human Resources Bildung Medien und Kreativwirtschaft Beratung und Agentur Banken und Finanzen/Versicherung Energie/Elektrizität Chemie und Pharma/Biologie Textilbranche Bau und Immobilien Industriegüter/Grundstoffe Andere

31.6% 9.7% 8.5%

Branchen 2018

5.2% 4.8% 3.7% 3.6% 3.6% 3.4% 3.0% 2.8% 2.7% 2.7% 2.6% 2.1% 10.1% 0%

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

n-Wert 2018:1397

Abb. 14.3  Branchenvergleich Startup Monitor 2018. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Kollmann et al. 2018)

Wird beispielhaft im Play Store nach Apps für Diabetes gesucht, werden über 200 Anwendungen angezeigt. Gemäß einem Bericht der Ärztezeitung sind schon ca. 259.000 Gesundheits-Apps in den großen App-Stores abrufbar (Wallenfels 2016). Neben tausenden Fitnesstrackern und Ernährungscoaches beschäftigt sich aber nur ein kleiner Teil davon mit „echter“ Medizin. Viele Apps sind also „nette Spielereien“, aber nur ein paar Apps auf dem Markt haben einen nachgewiesenen präventiven oder auch kurativen medizinischen Mehrwert für den Anwender. Auskunft über die Seriosität und Qualität einer App können Siegel oder Zertifizierungen geben. Es gibt Zertifizierungen von Fachgesellschaften oder dem Bundesverband Internetmedizin (BiM), die Kennzeichnung als Medizinprodukt und Datenschutzsiegel. Dies wird sich jedoch mit dem Anfang 2020 beschlossenen Digitalen-Versorgungs-Gesetz (DVG) und der Digitale-Gesundheitsanwednungen-Verordnung (DiGAV) ändern. Damit ist die App auf Rezept beschlossen und wird somit zum Kriterium der Auswahl. Ziel ist es, evidenzbasierte digitale Lösungen schnell an den Patienten zu bringen und dabei sensible Gesundheitsdaten zu schützen. Eine der ersten Apps auf Rezept ist die Tinnitus-App Tinnitracks. Sie wird von Krankenkassen wie der Techniker oder BKK WF finanziert (Tinnitracks 2019). Weitere Apps sind beispielsweise CardioSecur, caterna, myDiabetizer und novego (Hüsing 2016). Gerade wenn es darum geht, neue Geschäftszweige bzw. -modelle zu erarbeiten, ist meist eine Zusammenarbeit mit Start-ups angebracht, wenn nicht sogar notwendig. Traditionsunternehmen im Gesundheitswesen haben normalerweise nicht das digitale oder auch technische Know-how, um selbst Entwicklungen voranzutreiben. Natürlich ist auch der Aufbau einer eigenen Innovationsschmiede mit entsprechendem Personal eine Möglichkeit. Das Angebot an Stellen für IT- Programmierer und Data-Scientisten ist jedoch sehr groß und meist können andere Branchen bzw. Unternehmen bessere Angebote machen. Daher stehen die Chancen für eine Umsetzung in Eigenregie eher schlecht. Deshalb wird die Kooperation mit Start-ups und schon etablierten Unternehmen in Zukunft noch wichtiger werden. Was sich so einfach anhört, ist jedoch nicht ganz so trivial.

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C. Möller

Es prallen verschiedene Kulturen und Arbeitsweisen aufeinander. Der Vorteil von ­Start-­ups: Alle diese Jungunternehmer lösen Probleme und Herausforderungen, auf die Traditionsunternehmen gar nicht kommen, obwohl sie ihr Kerngeschäft betreffen. Die jungen Start-ups nehmen keine Rücksicht auf die überkomplexen Strukturen des Gesundheitssystems, in denen wir „gefangen“ sind. Die Start-ups kennen diese Strukturen noch nicht einmal, sondern sind beseelt davon, Patienten mit innovativen Lösungen zu helfen (Horneber 2018). Aber genau dieser Vorteil kann sich dann auch als Nachteil herausstellen. Meist kennen die Gründer nicht die Regularien und Finanzierungsmöglichkeiten im Gesundheitswesen. So stellt sich spätestens in der Pilotphase die Frage, wer das Produkt bzw. die Dienstleistung eigentlich bezahlen soll. Meist können sie nicht auf herkömmlichem Weg finanziert werden. Weder die DRGs im Krankenhaus noch die Vergütungsstrukturen im ambulanten Sektor sehen innovative Dienstleistungen vor. Die Alternativen? Bundesfördermittel in Anspruch nehmen, integrierte Versorgungsverträge (IV-Verträge) mit Krankenkassen anstreben, Selbstzahlerleistung des Patienten? Oder doch eine Investition in die Zukunft? Vielleicht lohnt es sich auch, als Einrichtung im Gesundheitswesen eine Dienstleistung/ ein Produkt anfangs zu subventionieren in der Hoffnung, dass sich die Investition irgendwann auszahlt. Es gilt also zu prüfen, mit wem man zusammenarbeiten will. Welches Start-up löst eine echte Herausforderung, die auch unsere Einrichtungen oder Kunden betrifft? Welche Jung­ unternehmer haben zwar eine Lösung, aber eigentlich keine konkrete Herausforderung oder Zielgruppe? Hat die Lösung Potenzial, langfristig erfolgreich zu werden bzw. zu sein?

14.3.3 Einordung des Innovationsmanagements in die Unternehmensstrategie Das Innovationsmanagement und die formulierten einzelnen Trends geben auch Impulse für die Konzernstrategie von AGAPLESION. Diese fußt auf zwölf Teilstrategien. Dazu gehören unter anderem die Medizin- und Pflegestrategie, die Wirtschaftlichkeitsstrategie und die Digitalstrategie. In dem Zusammenhang führte AGAPLESION auf Basis der Megatrends Anfang 2019 einen „Szenarioworkshop zur Gesundheitsversorgung 2030“ durch. Dazu wurden externe Experten zu den Megatrends Data-Ära, Digitalisierung, Technisierung/Medizintechnik, Gesundheit & Health Style sowie New Work/Wissen & Bildung eingeladen. Neben den Experten nahmen der Vorstand, Geschäftsführer aus unseren Einrichtungen und Vertreter aus dem Bereich Medizin und Pflege teil. Die Experten hatten zu Beginn einen Impulsvortrag vorbereitet. Ziel war es, aus ihrer Sicht die Gesundheitsversorgung 2030 zu schildern. Die dort vermittelten Impulse wurden in weiteren Runden diskutiert, verfeinert und wieder zusammengefügt. Am Ende des Workshops stand ein mögliches Szenario der Gesundheitsversorgung 2030 fest. Ein zentraler Punkt des Szenarios ist, dass wir glauben, dass der größte Teil der G ­ esundheitsversorgung

14  Das AGAPLESION-Konzept

249

und auch ein Teil der Krankheitsversorgung sowie Rehabilitation in Zukunft digital abgebildet wird. Ein ganz neues Feld für die meisten etablierten Unternehmen im Gesundheitswesen. Auch AGAPLESION stellte sich daher die Frage, wie der Konzern aufbauend auf der Vision im Jahr 2030 aufgestellt sein wird. Im Nachgang wurde das „Bild“ der Gesundheitsversorgung 2030 und von AGAPLESION dann z. B. als Grundlage für die jährliche Prüfung der Digitalstrategie herangezogen. Fragestellungen waren: Was muss/kann man jetzt schon vorbereiten auf Grundlage dieser Vision? Welche Schritte müssen auf dem Weg dahin bereits in den nächsten zwei Jahren eingeleitet werden? Dies gilt es, nun ebenfalls für alle weiteren Teilstrategien zu bedenken. Natürlich ist dieses Zukunftsszenario nicht für die nächsten 15 Jahre festgeschrieben. Es muss genauso wie die Trends beobachtet werden. Was tut sich in den nächsten Jahren? Gibt es unvorhergesehene Entwicklungen. Setzt sich ein Trend durch, den wir bisher nicht auf dem Radar hatten? Wie würde sich z. B. das Krankheits- und Gesundheitskontinuum verändern, wenn Genmanipulationen erlaubt wären? Die Entwicklungen zu genmanipulierten Babys Ende 2018 in China zeigen, dass ein solches Szenario nicht undenkbar ist, auch wenn es ethisch nicht unbedenklich ist. Daher ist es wichtig, die weltweiten Entwicklungen kontinuierlich zu überwachen und zu bewerten. Sollte es zu Änderungen im Szenario kommen, muss letztlich auch wieder die Unternehmensstrategie angepasst werden.

14.3.4 Nutzenbewertung des Innovationsmanagements Seit der Etablierung des Innovationsmanagements im Jahr 2013 hat sich sehr viel im Unternehmen getan. Viele Innovationsprojekte wurden begonnen. Einige davon konnten erfolgreich beendet werden, andere wurden nach reiflicher Überlegung und Prüfung aller Optionen abgelehnt. Es ist festzuhalten, dass nicht alle Innovationsprojekte zum Erfolg führen. Umso wichtiger sind eine gute Fehlerkultur und die Offenheit, vor allem auch der Unternehmensführung (Horneber 2015). Es geht also um eine Balance zwischen nachhaltigem Wachstum, Anpassung ohne Zerstörung, Macht und einer Kultur, die Neues möglich macht (Minx und Roehrl 2014). Die Initiierung von Innovationsprojekten in einer so traditionsreichen und etablierten Branche, die von Restriktionen und finanziellen Einschränkungen geprägt ist, stellt eine große Herausforderung dar. Es lohnt sich aber, dranzubleiben. Denn erfolgreiche innovative Projekte haben einen hohen Effekt auf den Konzern und auf die einzelnen Einrichtungen, ob Krankenhaus oder Wohn- und Pflegeeinrichtung. Diese Effekte sind medizinisch-­ technische Effekte, soziale Effekte und bestenfalls auch ökonomische Effekte (Horneber 2015). So sind Innovationen vorteilhaft, um z.  B. patientenbezogene Behandlungsziele besser oder schneller zu erreichen, Prozesse der Leistungserbringung (einschließlich des Informationsflusses der Arbeitsbedingungen und des Schnittstellenmanagements) zu verbessern bzw. zu verkürzen oder den Ressourceneinsatz bei der Leistungserbringung zu verringern und/oder den Umsatz (auch mittels neuer Marktchancen) zu erhöhen.

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14.4 Schlussbetrachtung Das Innovationsmanagement im Gesundheitswesen wird in den nächsten Jahren aus Sicht von AGAPLESION einen noch größeren Stellenwert einnehmen. Erfolgreiche Unternehmen beschäftigen sich aktiv mit der Zukunft der Branche und blicken auch über den berühmten Tellerrand. Sie kennen die Megatrends und sind offen für Innovationen. Sie klären deren Relevanz für das eigene Unternehmen und entscheiden dann, was für sie die beste Strategie ist. Es gilt vor allem zu beobachten, wie sich internationale, meist branchenfremde Mitbewerber im Markt etablieren und wie die deutsche Gesundheitspolitik darauf reagiert. Denn wie sagte schon Woody Allen: „Alles in allem wird deutlich, dass die Zukunft große Chancen bereithält – sie enthält aber auch Fallstricke. Der Trick ist, den Fallstricken aus dem Weg zu gehen, die Chancen zu ergreifen und bis sechs Uhr wieder zu Hause zu sein“ (zitate 2019).

Literatur Garmin (2018) Garmin 01-03/2018: Rekordumsatz  – bis auf Autosparte alles bestens. Garmin. https://radmarkt.de/nachrichten/garmin-01-032018-rekordumsatz-autosparte-alles-bestens. Zugegriffen am 03.05.2019 Henke P-D, Troppens D-I, Braeseke D, Dreher B, Merda M (2011) Innovationsimpulse der Gesundheitswirtschaft – Auswirkungen auf Krankheitskosten, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi), Berlin Horneber M (2015) Ein innovatives Sozialunternehmen. Die AGAPLESION gAG. In: Becher B, Hastedt I (Hrsg) Innovative Unternehmen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Springer, Bonn, S 253–268 Horneber M (2018) Barrieren für Innovationen: Wie schaffen wir eine Kultur für Veränderungen? In: Horneber M, Deges S (Hrsg) Revolutionary Hospital. Bibliomed, Melsungen, S 50–82 Horx M (2019) Megatrends. Zukunftsinstitut.de. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/. Zugegriffen am 06.05.2019 Hüsing A (2016) 5 Apps, für die Krankenkassen ein Rezept ausstellen. deutsche-startups.de. https:// www.deutsche-startups.de/2016/06/22/5-apps-fuer-die-krankenkassen-ein-rezept-ausstellen/. Zugegriffen am 09.05.2019 Klostermeier J (2019) Audi-Projekt „Fit Driver“ sorgt für Wellness im Auto. CIO. https://www.cio. de/a/audi-projekt-fit-driver-sorgt-fuer-wellness-im-auto,3596243. Zugegriffen am 20.05.2019 Kollmann T, Hensellek S, Jung PB, Kleine-Stegemann L (2018) Deutscher Startup Monitor 2018 – Neue Signale, klare Ziele. Bundesverband Deutsche Startups e.V., Berlin Minx E, Roehrl H (2014) Organversagen- Warum Organisationen untergehen. https://www.heikoroehl.de/articles/Minx%20Roehl%20Organversagen.pdf. Zugegriffen am 20.05.2019 Moon M (2019) An LA hospital will put Alexa in over 100 patients’ rooms. engadget.com. https:// www.engadget.com/2019/02/26/alexa-trial-aiva-cedars-sinai/. Zugegriffen am 03.05.2019 Naisbitt J (1982) Megatrends: ten new directions transforming our lives. Grand Central Pub, New York Schultz T (2014) Larry und die Mondfahrer. Der Spiegel. https://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-125300634.html. Zugegriffen am 20.05.2019

14  Das AGAPLESION-Konzept

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Schultz C, Zippel-Schultz B, Salomo S, Gemünden HG (2011) Innovationen im Krankenhaus sind machbar! Kohlhammer, Stuttgart Schwelm P (2019) Alexa: In den USA jetzt HIPAA-kompatibel (April, 2019). bibliomedmanager.de. https://www.bibliomedmanager.de/revolutionary-hospital/detailansicht/37900-alexa-in-den-usa-jetzt-hipaa-kompatibel/. Zugegriffen am 03.05.2019 statista (2016) Höhe der Innovationsausgaben der Unternehmen in Deutschland in ausgewählten Branchen im Jahr 2016 (in Milliarden Euro). statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/7588/umfrage/innovationsaufwendungen-nach-branchen-in-deutschland/. Zugegriffen am 03.05.2019 Tinnitracks (2019) Startseite Tinnitracks. tinnitracks.com. https://www.tinnitracks.com/de. Zugegriffen am 03.05.2019 verily (2019) Startseite verily. verily.com. https://verily.com/. Zugegriffen am 08.05.2019 Wallenfels M (2016) Gibt’s Gesundheits-Apps bald vom Arzt? Ärztezeitung.de. https://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/e-health/gesundheitsapps/article/922992/marktanalyse-gibts-gesundheits-apps-bald-arzt.html. Zugegriffen am 03.05.2019 zitate (2019) Allen, Woody. zitate.de. https://www.zitate.de/autor/Allen%2C+Woody. Zugegriffen am 03.05.2019

Claudia Möller,  Dipl.-Pflegewirtin (FH), begann ihre Tätigkeit bei AGAPLESION im Juni 2012 als Trainee zur Nachwuchsführungskraft. Zuvor arbeitete sie als Beraterin im ambulanten Sektor mit den Schwerpunkten Qualitätsmanagement und Praxisorganisation. Im Juni 2013 wechselte Frau Möller in den neu gegründeten Zentralen Dienst FuE & Innovationsmanagement, September 2015 übernahm sie dessen Leitung.

Digitale Transformation in Krankenhäusern: Potenziale und Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses

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Eileen Doctor, Christoph Buck und Torsten Eymann

Inhaltsverzeichnis 15.1  M  otivation  15.2  Digitale Innovationspotenziale im stationären Setting  15.2.1  Prozessstrukturen in stationären Versorgungseinrichtungen  15.2.2  Potenziale durch technologische Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses  15.3  Schlussbetrachtung  15.4  Kritische Würdigung und Ausblick  Literatur 

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Zusammenfassung

Stationäre Einrichtungen stehen, bedingt durch die Asymmetrie zwischen erhöhtem Bedarf bei nur begrenzten Kapazitäten, einer Vielzahl an Herausforderungen entgegen. Zeitmangel, Überlastung und Prozessineffizienzen bedingen risikobehaftetes Verhalten der Leistungserbringer, was zulasten der Patientensicherheit gehen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung innovativer Bewältigungsstrategien unabdinglich, um die patientenzentrierte Versorgung wieder in den Fokus zu rücken. Digitale Innovationen bieten, insbesondere im Bereich der Unterstützungsprozesse, vielversprechende Möglichkeiten, um den Konflikt zwischen verfügbaren Ressourcen und gestiegenen Anforderungen bewältigen zu können. Durch gezielten Einsatz digitaler Technologien in jedem Segment des stationären Leistungsprozesses kann es gelingen, prozessuale E. Doctor (*) · C. Buck · T. Eymann Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; torsten.eymann@ uni-bayreuth.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_15

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E. Doctor et al.

Nutzeneinbußen auszugleichen und durch Vernetzung der einzelnen Segmente, in verbesserter Versorgungsqualität, einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen.

15.1 Motivation Das deutsche Gesundheitssystem ist von einer vorherrschenden, innovationshemmenden Struktur und finanzieller Dysbalance geprägt (Deiters et al. 2018; Rynning 2008). Insbesondere Krankenhäuser als zentral zu vernetzende Einrichtungen des Gesundheitswesens stehen innerhalb der Branche im Mittelpunkt des Interesses (Di Vincenzo 2018). Zum derzeitigen Stand weisen Krankenhäuser einen Investitionsstau von rund 5,6 Mrd. Euro auf und beeinträchtigen damit die bestehende Infrastruktur, Prozesse und erbrachte Dienstleistungen (Deloitte 2018). Nichtgewinnorientierte Krankenhäuser können nur begrenzt auf Fremdkapital zurückgreifen und auch Fördermittel aus öffentlicher Hand sind knapp bemessen (Augurzky und Beivers 2014), was die Optimierung von Betriebsabläufen und Versorgungsinnovationen erschwert. Mussten vor der Einführung des Gesundheitsstrukturgesetzes 1993 noch die Kostenträger die Verantwortung für die retrospektive Vergütungssystematik des Selbstkostendeckungsprinzips tragen, liegt es seit Einführung der pauschalierten Vergütung in der Eigenverantwortung der Krankenhäuser, die DRG-­Fall­ pauschale gewinnbringend umzusetzen (Rau et  al. 2009). Nach Goedereis (2009) sind Krankenhäuser im Zuge dessen in der Vergangenheit bestrebt gewesen, Kostenreduktionen vorzunehmen. Da Krankenhausleistungen mit einem Anteil von durchschnittlich zwei Dritteln der Gesamtkosten für Personalkosten sehr personalintensive Dienstleistungen darstellen, standen diese, mit schwerwiegenden Folgen für den Versorgungsalltag, häufig im Mittelpunkt von Kostensenkungsprogrammen (Simon 2014). Darüber hinaus beeinträchtig die sektorale Trennung der ambulanten und stationären Versorgung die Vernetzung der zahlreichen an der Behandlung beteiligten Professionen. Die vorliegende Fragmentierung führt zu erheblichen Schnittstellenproblemen und Versorgungsbrüchen, mit daraus resultierenden Ineffizienzen und Mängeln in der Behandlungsqualität (Gerlinger 2013). Den infrastrukturellen Herausforderungen steht derweil eine durch die Bedarfe einer zunehmend alternden Gesellschaft drastisch steigende Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen und Ressourcen entgegen. Die steigende Nachfrage findet ihren Ursprung in erster Linie in der steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitigem Abfall der Geburtenrate (van Baal et al. 2018). Gravierende Veränderungen des Versorgungsbedarfs bringt auch die nachgewiesene Expansion der Lebensjahre mit Multimorbidität, parallel zur steigenden Lebenserwartung, mit sich (Beard und Bloom 2015; Tetzlaff et al. 2017). Dieser Wandel wird die Zahl der Patienten in den nächsten Jahren erhöhen, sodass schätzungsweise weitere 30.000 Vollzeitkräfte in deutschen Krankenhäusern benötigt werden (Springer Medizin Pflegezeitschrift 2018). Dabei sinkt zusätzlich die Zahl der Menschen

15  Digitale Transformation in Krankenhäusern: Potenziale und Innovationen entlang …

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im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren kontinuierlich, weswegen der Fachkräftemangel deutlich zunimmt und eine Vorhaltung ausreichender Personalkapazitäten für die Bewältigung des Leistungsvolumens nur schwer möglich ist (Deloitte 2018). Während die Versorgungsqualität stets im Mittelpunkt medizinischer Leistungserbringung stehen sollte, kann diese Prämisse unter den gegebenen Umständen jedoch nur eingeschränkt erfüllt werden. Die entstehende Asymmetrie zwischen erhöhtem Bedarf bei limitierten Kapazitäten führt zu einer mangelhaften Ausführung der zugrunde liegenden Tätigkeiten, da die beteiligten Akteure dem auftretenden Arbeitsvolumen nicht vollumfänglich nachkommen können (Weissman et al. 2007). Dieser Mangel kann zur impliziten Rationierung von Leistungen führen und die Versorgungsqualität erheblich beeinträchtigen. Für Patienten und medizinisches Personal bedeutet Rationierung eine Veränderung des Versorgungsalltags und eine ungewollte Abwendung von etablierten, patientenzen­ trierten Pflegeleitbildern. Bedingt durch den auftretenden Zeitmangel und die Überforderung der Fachkräfte kann es zur Vernachlässigung von Patienten sowie administrativer Aufgaben, wie Dokumentationen oder Pflegeübergaben, kommen (Hufnagl et al. 2019). Die Fehleranfälligkeit von Informationen steigt, was Doppeluntersuchungen begünstigt und Verwechslungen von bspw. Patienten oder Medikationen, mit daraus resultierenden risikobehafteten Behandlungsfehlern, zur Folge haben kann. Dabei erschwert die Koordination der auf Station beteiligten Professionen die Fokussierung des medizinischen Fachpersonals auf die originären Tätigkeiten. In der Realität wird eine Vielzahl der Unterstützungsprozesse durch pflegerisch ausgebildetes Fachpersonal erbracht, da die Abstimmung mit den dafür vorgesehenen Berufsgruppen häufig zeitintensiver ist als die selbstständige Erledigung der Aufgabe. Nach Weiß (2014) geschieht es häufig, dass das Pflegepersonal Tätigkeiten unterhalb des eigentlichen Qualifikationsniveaus nachgeht, was eine Fehlallokation der ohnehin nur in mangelnder Besetzung vorhandenen Fachkräfte darstellt. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung innovativer Bewältigungsstrategien unabdinglich, um die patientenzentrierte Versorgung wieder in den Fokus zu rücken. Es bliebe den Versorgern innerhalb des gegebenen Spannungsfeldes die Möglichkeit, bspw. durch die bewusste Einschränkung des angebotenen Leistungsportfolios im Sinne einer Spezialisierung, die Nachfrage zu kontrollieren und an die gegebenen Ressourcen anzupassen. Diese Herangehensweise ist kritisch zu bewerten, da eine Veränderung des Leistungsspektrums dazu führen kann, dass Krankenhäuser nicht mehr die Voraussetzung zur Aufnahme in den Krankenhausplan der Länder erfüllen. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 BayKrG regelt bspw., dass die Aufnahme eines Hauses in den Krankenhausplan ganz oder hinsichtlich bestimmter Versorgungsaufgaben widerrufen werden kann, sofern die Voraussetzungen nicht beziehungsweise nur vorübergehend nicht mehr vorliegen. Darüber hinaus bestünde auch die Möglichkeit, die benötigten Personalressourcen sowie die Ausstattung aufzustocken, um der Veränderung des Versorgungsbedarfs nachzukommen. Dies ist jedoch bei gegebener Budgetierung und fehlenden Investitionsmitteln nur beschränkt umsetzbar. Um den Veränderungen des Versorgungsalltags entgegenzuwirken, müssen die nur im begrenzten Maße zur Verfügung stehenden Mittel und Fachkräfte effizient eingesetzt werden (Hufnagl et  al. 2019). Den beschriebenen Beeinträchtigungen des medizinischen

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­ ersorgungsalltags, Zeitmangel und Überforderung sowie die damit verbundene FehleranV fälligkeit, muss zielgerichtet entgegnet werden. Da etablierte Bewältigungsansätze nur in begrenztem Maße zielführend sind, bedarf es der Konzeption innovativer Strategien, die die Neuausrichtung der Prozessebene zum Inhalt haben. Wie Lohmann (2009) beschreibt, erwarten Patienten eine erstklassige medizinische Versorgung, die daher im Fokus der Prozesse stehen muss. Dienstleistungen resultieren aus den vorgefundenen Rahmenbedingungen. Eine Verbesserung im Hinblick auf Qualität und Wirtschaftlichkeit ist somit auf einen tief greifenden Paradigmenwechsel von einer zufälligen zu einer strukturierten und standardisierten Arbeitsweise angewiesen. Voraussetzung dafür ist eine kritische Ausei­ nandersetzung mit den bestehenden Organisations- und Prozessstrukturen, damit eine Optimierung der Prozessabläufe zur reibungslosen Ausführung der Kerntätigkeiten erfolgen kann. Die Minimierung unnötiger Tätigkeiten (Verschwendung) zielt auf die Steigerung der Prozesseffizienz ab, was die Aspekte der Versorgungsqualität und Patientensicherheit positiv bedingt (Traeger 2013). Als Verschwendung zählen sämtliche Tätigkeiten und Prozessbestandteile, welche keinen Beitrag zur Wertschöpfung leisten und demnach keinen Nutzen aus Sicht des Kunden (Patient oder Kostenträger) stiften (Bergmann und Lacker 2009). Aus gesamtorganisatorischer Perspektive dient diese Leistungsverbesserung dazu, dem Unternehmen eine nachhaltige Position als Dienstleister mit hoher Ergebnisqualität im umkämpften Krankenhausmarkt zu sichern. Die alleinige Neugestaltung zugrunde liegender Prozesse reicht jedoch nicht aus, um den Anforderungen entgegenzutreten. Dazu bedarf es der technologischen Unterstützung der Mitarbeiter in nichtmedizinischen Belangen. Digitale Innovationen entlang unterstützender Prozesse versprechen zahlreiche Möglichkeiten, um den Konflikt zwischen verfügbaren Ressourcen und gestiegenen Anforderungen bewältigen zu können (Deiters et al. 2018). Dabei fördern Prozessinnovationen nicht nur die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit durch Effizienzsteigerungen, vielmehr richtet dies den Fokus auf den originären Versorgungsauftrag der Einrichtungen, die patientenzentrierte Erbringung medizinischer Dienstleistung. Die Verringerung unerwünschter Ereignisse und die Hebung prozessualer Reserven kann, bspw. durch eine einhergehende Senkung der Verweildauer, eine simultane Reduktion der Fallkosten mit sich führen. Die Wertschöpfung wird in Dienstleistungsunternehmen, wie sie auch Krankenhäuser darstellen, durch die Mitarbeiter generiert und lässt sich aufgrund des Vertrauensverhältnisses zwischen Personal und Patient nicht ohne Weiteres digitalisieren (Riepe und Schwanenflügel 2013).

15.2 Digitale Innovationspotenziale im stationären Setting Der Durchbruch von Informations- und Kommunikationstechnologien hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Fundamente von Arbeit und Wirtschaft sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Nutzung von Technologien zur Gestaltung effizienter Geschäftsprozesse findet nicht nur im produzierenden Gewerbe, sondern auch im Dienstleistungs-

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bereich zunehmend Anwendung. Die digitale Transformation wird im Gesundheitswesen allerdings nur langsam vollzogen. So bildet das Gesundheitswesen mit 37/100 Punkten das Schlusslicht im Vergleich des Wirtschaftsindex DIGITAL, eine Kennzahl, die den branchenspezifischen Fortschritt der Digitalisierung von Unternehmen misst (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2018). Obgleich die Bundesregierung bereits im Jahr 2003 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung die Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte durch die Selbstverwaltungskörperschaften, organisiert in der gemeinsamen Gesellschaft der Gematik, beschlossen hat, erfolgte die Umsetzung aufgrund starken Gegenwinds vonseiten der Ärzte und Krankenkassen nur schleppend (Tebroke 2017). Demzufolge wurde 2015 das E-Health-Gesetz verabschiedet, welches einen Zeitrahmen für die Einführung setzt und weitere Anreize zur Digitalisierung bietet. Durch den Einsatz von Informationstechnologie, die intelligente Integration behandlungsrelevanter Daten und Anwendungssysteme sowie die Berücksichtigung der Interessen beteiligter Akteure können die Treiber der Digitalisierung zur Unterstützung der Professionen und Steigerung der Wertschöpfung genutzt werden (Georgantzas und Katsamakas 2008). Schätzungen zufolge ist die Aufgabenlast medizinischen und pflegerischen Personals um rund ein Drittel reduzierbar, etwa durch den Transfer der Aufgaben auf andere Berufsgruppen. Eine zukunftsorientierte Möglichkeit zur Reduktion der Aufgabenlast und damit Erhöhung der Versorgungsqualität liegt in der Optimierung der zugrunde liegenden Prozesse durch die Nutzung digitaler Innovationen. In Krankenhäusern werden Digitalisierungsvorhaben vielfach auf die medizinische Dokumentation reduziert, diese Vereinfachung wird jedoch dem generell notwendigen Wandel der Branche nicht gerecht. Es ist von zentraler Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, technologische Unterstützung möglichst effizient in die täglichen Prozessabläufe einzubinden, damit sämtliche Stakeholder erfolgreich und ohne Beeinträchtigung kooperieren können (Deiters et  al. 2018). Insbesondere im Bereich der Prozessharmonisierung und -digitalisierung verspricht die Unterstützung durch Informationssysteme eine enorme Qualitätsverbesserung bei gleichzeitiger Reduktion der Kosten (Denner et al. 2018). Vo­ raussetzung für eine technologische Unterstützung ist jedoch, dass Prozesse, bspw. auf Station oder in Funktionsbereichen, bereits einen hohen Reifegrad und eine exakte Definition aufweisen. Die reine Digitalisierung bereits bestehender, jedoch nichtwertschöpfungsorientierter Prozesse bietet nur geringen Mehrwert, da „schlechte“ analoge Prozesse durch Digitalisierung lediglich zu „schlechten“ digitalisierten Prozessen transformiert werden. Es bedarf der vorangestellten Optimierung dieser und der Ausrichtung auf die gesamtorganisatorische Wertschöpfung.

15.2.1 Prozessstrukturen in stationären Versorgungseinrichtungen Wird die klinische Leistungserstellung betrachtet, so stellt die medizinisch-pflegerische Versorgung den Kern der Krankenhausdienstleistung dar. Sie stiftet unmittelbaren Nutzen für externe Kunden (Patienten) und trägt zum strategischen Wettbewerbsvorteil bei. Da

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eine hierarchische Beziehung zwischen unterstützenden und primären Prozessen besteht, werden die unterstützenden Prozesse von den Kernprozessen dominiert und sind von nur untergeordneter Bedeutung (Rohner 2012). Aufgrund des hochkomplexen und individuellen Charakters sowie des besonderen Stellenwerts medizinischer Leistungserbringung liegt das Potenzial zur klassischen Prozessoptimierung überwiegend in den unterstützenden Prozessen (Zapp und Aleff 2002). Diese müssen dazu beitragen, dass die für die Primärleistung notwendigen Ressourcen zum benötigten Zeitpunkt am Einsatzort vorhanden sind und abhängige Teilprozesse reibungslos ablaufen können. Insbesondere Standards und klinische Pfade haben sich als wirksam erwiesen, um Prozesse zu vereinheitlichen sowie zu rationalisieren (Smith und Hillner 2001). Dafür ist es zunächst notwendig, den Weg des Patienten durch das Krankenhaus zu betrachten. Ein Patient durchläuft während des stationären Aufenthaltes mehrere Phasen, die zusammen als sogenannter Patientenpfad bezeichnet werden können. In Anlehnung an den Wertschöpfungsprozess nach Kriegel (2012) lassen sich die in Abb.  15.1 dargestellten Phasen des stationären Patienten­ pfades identifizieren. Farblich hervorgehoben ist dabei der medizinisch-pflegerische Kernprozess, welcher die hauptsächliche Wertschöpfung im Krankenhaus beschreibt. Der Patientenpfad umfasst dabei zunächst den Prozessschritt der Einweisung. Diese kann sowohl elektiv als auch notfallmäßig erfolgen. Die Einweisung ist geprägt von der vorliegenden Indikation zur stationären Behandlung. Der Patient wird bei einer elektiv geplanten Aufnahme mit einem Einweisungsschein vorstellig. Bei einer notfallmäßigen Aufnahme erfolgt der Zugang über die Notaufnahme des Krankenhauses, unter Umständen durch vorangestellten Einsatz des Rettungsdienstes. Nach Urteil des Bundessozialgerichts Kassel (Aktenzeichen B1 KR 26/17 R) ist auch ohne Vorliegen einer Notfallsituation eine eigenständige Einweisung durch den Patienten bei akuter Symptomatik möglich. Als Voraussetzung für die Kostenübernahme gelten dabei jedoch die Zulassung des Krankenhauses sowie die Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit der Behandlung. Im Bereich der Einweisung treten gehäuft Medienbrüche auf, da eine intersektorale Vernetzung noch keine flächendeckende Berücksichtigung findet (Pham et al. 2008). Wie Small et al. (2017) beschreiben, stellt die informationelle Kontinuität der Versorgung einen zentralen Bestandteil effektiven Patientenmanagements dar, dies wird aber oft nicht erreicht, sodass die Patienten die Last der Diskontinuität der Versorgung erleiden oder durch einen Eigenbeitrag kompensieren müssen. Fragmentierung und eine siloartige Kommunikation innerhalb Diagnosk Einweisung

Admin. Aufnahme

Entlassung

Anamnese

Pflege

Therapie

Abb. 15.1  Phasen des stationären Wertschöpfungsprozesses. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Kriegel 2012)

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und zwischen den Einrichtungen sind demnach als erhebliche Herausforderungen der Informationskontinuität anzusehen. Auf die Einweisung folgt die administrative Aufnahme des Patienten. Der Bereich der Patientenaufnahme bildet die zentrale Anlaufstelle für alle Patienten. In diesem Prozessschritt schließen Patient und Krankenhaus einen Behandlungsvertrag. Dazu sind die persönlichen Daten des Patienten, ein Versichertennachweis sowie, falls vorhanden, der Einweisungsschein des vorbehandelnden Arztes erforderlich. Weiterhin bieten sich dem Patienten zu diesem Zeitpunkt Möglichkeiten zum Abschluss von Wahlleistungsverträgen, bspw. hinsichtlich der Zimmerbelegung oder des Wunsches nach Chefarztbehandlung. Ferner werden dem Patienten weitere individuelle Informationsblätter zur Kenntnis und Unterschrift ausgehändigt. Darunter können bspw. die Hausordnung, Entgelttarife und Zuzahlungen oder nötige Einwilligungsdokumente zur Datenverarbeitung fallen. Zusätzlich erhält der Patient bei der administrativen Aufnahme seine Patientenidentifikations­ materialien, häufig sind dies Armbänder mit aufgedrucktem Barcode oder appliziertem RFID-Tag. Der Aufnahmeprozess kann nach Rapp (2013) bei mangelhafter Organisation und fehlenden Regeln zu Ineffizienzen und Schnittstellenproblemen führen. Handelt es sich um eine Einweisung im Anschluss an eine Notfallbehandlung, so sind diese administrativen Schritte von nachrangiger Bedeutung, weshalb der Behandlungsvertragsabschluss häufig versäumt wird. Charakteristisch für schlecht organisierte Patientenaufnahmen sind Warteschlangen zu morgendlichen Stoßzeiten, da Elektivpatienten gesammelt einbestellt werden. Abrechnungsrelevante Probleme ergeben sich, insbesondere bei Notfallpatienten, durch fehlende Aufklärung hinsichtlich gewünschter Wahlleistungen. Dies kann dazu führen, dass die erbrachten Leistungen nicht in Rechnung gestellt werden können. Wie in Abb. 15.2 ersichtlich, schließt sich der medizinisch-pflegerische Kernprozess an die administrative Aufnahme an. Die dazugehörigen Teilprozesse der Diagnose, Therapie und Pflege bilden einen Kreislauf der ständigen Reflexion und Revision und bedingen sich dadurch gegenseitig (Kriegel 2012). Abb. 15.2 Medizinisch-­ pflegerischer Kernprozess. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Kriegel 2012)

Diagnostische Maßnahmen

Anamnese

Befundergebnisse

Therapie/ Pflege

(Differenzial-) Diagnosen

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Der Kreislauf der medizinisch-pflegerischen Leistungserbringung startet mit den erhobenen Daten der Anamnese. Durch gezielte Fragen an den Patienten (Eigenanamnese) oder Dritte (Fremdanamnese) erhalten ärztliches und pflegerisches Personal Auskunft über den gegenwärtigen Gesundheitszustand sowie vergangene Erkrankungen des Patienten. Weiterhin werden bisher erfolgte Behandlungen und bestehende Medikationen sowie die familiäre und soziale Situation abgefragt. Häufig wird diese Abfrage durch standardisierte Anamnesebögen unterstützt. Die Anamnese bildet im Regelfall den aufwendigsten Teil der Erstuntersuchung, welcher zudem noch aufgrund der unterschiedlichen beruflichen Anspruchsgruppen von unausweichlichen Mehrfacherfassungen geprägt ist (Füeßl und Middeke 2005). Die Anamnesedaten bilden die Grundlage für die Einleitung diagnostischer Maßnahmen, bspw. bildgebende Verfahren oder Laborbestimmungen. Von den dabei objektiv erhobenen Befundergebnissen können infrage kommende Diagnosen abgeleitet werden. Kommt es bei der Auswertung der Befunde zu mehreren Krankheitsmöglichkeiten, werden sogenannte Differenzialdiagnosen ermittelt. Unter Differenzialdiagnosen versteht man die Berücksichtigung von Erkrankungen mit übereinstimmenden Krankheitsbildern, die ebenfalls als mögliche Ursache für die auftretende Symptomatik bedacht werden müssen. Grundvoraussetzung für das weitere Handeln der Leistungserbringer ist die korrekte Auswahl der Diagnose aus den infrage kommenden Differenzialdiagnosen. Therapietechniken können sowohl konservative (medikamentös/physikalisch) als auch operative Leistungen umfassen und werden durch die medizinischen Berufsgruppen ausgeübt. Es ist unabdingbar, die Arbeitsdiagnose im Verlauf der Therapie fortlaufend zu hinterfragen und Erfolgskontrollen durch weitere diagnostische Maßnahmen vorzunehmen. Sofern im Rahmen dieser Kontrollen kein Therapieerfolg festgestellt werden kann, müssen besagte Differenzialdiagnosen hinterfragt und eine dementsprechende Anpassung der eingeleiteten Therapie vorgenommen werden. Im Sinne der Ressourcenschonung sollte bei Anwendung jeglicher Diagnostik ein Augenmerk auf den Mehrwert angeforderter Untersuchungen gelegt werden. Gerade bei einer Vielzahl an Differenzialdiagnosen wird Diagnostik häufig unreflektiert ohne zeitliche Ablaufplanung und Sinnhaftigkeit in der Reihenfolge eingesetzt. Insbesondere bei technologischen Innovationen ist diese Vorgehensweise kritisch zu bewerten, da die Anwendung häufig als Zusatz zu bereits erfolgten diagnostischen Maßnahmen zum Zwecke der Befundsicherung erfolgt. So wird bspw. erst ein herkömmlicher CT-Scan angefertigt, bevor das qualitativ hochwertigere PET-CT zum Einsatz kommt. Aufgrund anfänglicher Zurückhaltung in der Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ergibt sich so in der Gesamtsicht ein finanzieller Mehraufwand ohne tatsächlichen diagnostischen Gegenwert. Während des gesamten medizinisch-­pflegerischen Kernprozesses begleitet das Pflegepersonal die diagnostischen, therapeutischen, präventiven oder auch rehabilitativen Tätigkeiten des stationären Aufenthaltes. Sie übernehmen die Patientenversorgung in Form medizinischer Betreuung (bspw. Messung von Vitalwerten), Assistenz bei ärztlichen Untersuchungen, Verabreichung von Medikamenten, Kör­ perhygiene und Beratung der Patienten. Verbindliche und nachweisbare Dokumentation und Koordination ist dabei ein unerlässlicher Bestandteil der täglichen Aufgaben, um

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­ ollständige Informationstransparenz, auch über interne Berufsgruppen und Einzelakteure v hinweg, sicherstellen zu können. Der Fachkräftemangel im Bereich der Pflege verlangt nach Innovationen in ebendiesem Prozessschritt, damit fehlende Personalressourcen durch technologische Unterstützung ausgeglichen werden können. Laut Schildmann und Voss (2018) betreut eine Fachkraft täglich durchschnittlich 13 Patienten, obgleich der Pflegeschlüssel eine deutlich geringere Anzahl vorgibt, für die Abteilung der Unfallchirurgie bspw. zehn Patienten am Tag (Bundesministerium für Gesundheit 2018). Die Bevölkerung scheint entsprechend der Resultate der Umfrage für den Einsatz von digitaler Technik im Kontext der Pflege mehrheitlich offen zu sein. Hauptbestandteil des Diskurses ist, ob der Technikeinsatz in der Pflege, die als menschliche Fürsorgearbeit angesehen ist, den Kern der Leistung negativ verändert und dadurch die Pflegetätigkeit an originärer Bedeutung verliert (Friesacher 2010). In einer von Inverto durchgeführten Studie zur Digitalisierung und technologischen Vernetzung in deutschen Krankenhäusern geht die Mehrheit der Befragten davon aus, dass der Nutzen von Digitalisierungsvorhaben die damit verbundenen Schwierigkeiten bei Weitem übersteigt: 87 % stimmten einer entsprechenden Aussage voll oder überwiegend zu (Kischkewitz 2018). Gegenwärtig ist insbesondere die Digitalisierung der zeitintensiven Dokumentation ein Fokusthema in der Pflege, die patientenbezogene Dokumentation im Krankenhaus hat einen derzeitigen Digitalisierungsgrad von 40–60 % erreicht (Häber et al. 2009). Informationselemente, die als verlässliche Grundlage für alle am Behandlungsprozess Beteiligten dienen, werden häufig noch papierbasiert dokumentiert. Dazu zählen bspw. Stammdaten der Patienten, angeforderte und durchgeführte Pflege- und Therapiediagnostik beziehungsweise -maßnahmen sowie deren Ziele, Vitalparameter und Zustandsbeschreibungen, Risiko-Assessments sowie abrechnungsrelevante Leistungsdokumentationen. Den letzten Schritt des stationären Wertschöpfungsprozesses stellen die Entlassung und Weiterleitung an die Anschlussbehandlung dar. Dafür wird zunächst am Tag der Entlassung eine Abschlussvisite durch das ärztliche und pflegerische Personal durchgeführt. Anschließend händigt der behandelnde Arzt dem Patienten zur Weitergabe an den einweisenden Fach- oder Hausarzt in der Regel das papierbasierte Entlassungsschreiben, auch Arztbrief genannt, aus. Dieses Schreiben enthält sämtliche relevanten Informationen über den stationären Aufenthalt, durchgeführte Anamnesen, Diagnostik und Therapien sowie aktuelle Medikation. Die Übermittlung dieser Informationen dient der Sicherstellung des gemeinsamen Wissensstandes aller beteiligten Behandler durch die vollständige Darstellung des Behandlungsverlaufs. Insofern am Entlassungstag noch nicht alle Informationen zur Anfertigung des Arztbriefes vorliegen, wird ein vorläufiger Entlassungsbericht übergeben, welcher die bereits zur Verfügung stehenden Informationen enthält und im Anschluss durch fehlende Befunde und Interpretationen ergänzt wird. Gesetzliche Berücksichtigung findet die Entlassung im Rahmenvertrag Entlassmanagement nach § 39 Abs. 1a S. 9 SGB V, dieser verpflichtet die Einrichtungen zur Organisation für Patienten und Rehabilitanden im Anschluss an ihre stationäre Behandlung. Die Zielsetzung des Rahmenvertrages ist es, die bedarfsgerechte, lückenlose Versorgung der Patienten durch die strukturierte Informationsweitergabe im Anschluss an die Krankenhausbehandlung sicherzustellen. Noch

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­ ährend des stationären Aufenthaltes sind Krankenhäuser in der Verpflichtung, die notw wendigen Schritte zur weiterführenden Versorgung einzuleiten, im Bestreben, eine Ver­ netzung des stationären und ambulanten Versorgungsgeschehens zu ermöglichen. Ins­ besondere bei komplexen Versorgungssituationen, wie bspw. beatmeten Patienten, ist ein erheblicher Koordinationsbedarf unter Einbezug unterschiedlichster Professionen vonnöten. Da das Entlassmanagement als Teil der Krankenhausbehandlung angesehen wird, ist für diesen Mehraufwand keine gesonderte Vergütung vorgesehen (Kramer und Schulte-Marin 2017). Dies stellt eine weitere Herausforderung dar, der die Einrichtungen sich trotz ihrer finanziellen Dysbalance stellen müssen. Bei Betrachtung der einzelnen Schritte des stationären Leistungsprozesses wird die Beteiligung der unterschiedlichen Akteure sowie die bestehende Informationsvielfalt mitsamt ihren Schnittstellenproblemen ersichtlich.

15.2.2 Potenziale durch technologische Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses Durch gezielten Einsatz digitaler Technologien in jedem Segment des stationären Leistungsprozesses kann es gelingen, die prozessualen Nutzeneinbußen auszugleichen und durch Vernetzung der einzelnen Segmente, in verbesserter Versorgungsqualität, einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen. Betrachtet man insbesondere den Ein- sowie Austritt in beziehungsweise aus einem Krankenhaus, so wird die Notwendigkeit der intersektoralen Vernetzung offensichtlich. Der stationäre Leistungserbringer ist bei Elektiveinweisungen bezüglich relevanter Befunde in der Regel von den im Voraus vom einweisenden Arzt erhobenen Daten abhängig. Ebenfalls muss die Nachfolgebehandlung konsistent in Abstimmung mit stationär erhobenen Befunden, erbrachten Leistungen und empfohlenen Therapieansätzen erfolgen. Daher stellt die Integration der Leistungserbringer durch Onlineplattformen eine Möglichkeit dar, medizinische Daten zur Verfügung zu stellen, vorab wie auch im Anschluss an die Krankenhausbehandlung. Zu den Schlüsselmerkmalen dieser sogenannten Einweiserportale gehören die Integration demografischer und klinischer Daten der bestehenden elektronischen Patientenakte, die zentralisierte und fachgebundene Triage von Einweisungen sowie die beidseitig gerichtete Kommunikation zwischen einweisenden Ärzten und stationären Einrichtungen. Technisch betrachtet stellt ein Einweiserportal ein webbasiertes Portal dar, das den Krankenhaussystemen vorgeschaltet ist und den Up- beziehungsweise Download von Daten ermöglicht (Kim et al. 2009). Ein Beispiel für ein derartiges Portal stellt die Telematikplattform der CompuGroup Medical, CGM JESAJANET, dar. Nach Angaben der CompuGroup Medical (2019) nutzt jede zweite Arztpraxis in Deutschland bereits heute ein Arztinformationssystem der CGM, weshalb der Aufruf des CGM-­ Einweiserportals ohne erheblichen Aufwand durchgeführt werden kann. Die Kernfunktionen der Anbindungslösung umfassen zum einen die transparente Verfügbarkeit der Daten für den stationären Leistungserbringer vor Stand der Einweisung, damit die Behandlung

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sorgsam geplant werden kann. Darüber hinaus werden die Daten im Krankenhausinformationssystem kontinuierlich aktualisiert. Auf dieser Grundlage gelingt es, die niedergelassenen Ärzte über Behandlungsverlauf und -dauer zu informieren und dem Krankenhausaufenthalt nachfolgende Prozesse (Reha, Pflege) zu koordinieren. Auch die Versendung des Arztbriefes an den einweisenden Arzt erfolgt über das Portal. Der aktuell behandelnde Leistungserbringer kann sich so zeitnah vorab und nach Sektorenwechsel des Patienten, von ambulant zu stationär beziehungsweise stationär zu ambulant, über den aktuellen Status bereits durchgeführter Untersuchungen und Behandlungen informieren. Insbesondere Patienten profitieren dabei von der Nutzung des Portals durch ihre behandelnden Ärzte, da folgende Therapien schneller und zielgerichteter eingeleitet werden können. Belastende Doppeluntersuchungen entfallen aufgrund der Transparenz und Verfügbarkeit der Daten, Risiken und potenzielle Wechselwirkungen werden rechtzeitig erkannt und damit die Wahrscheinlichkeit auftretender Fehlbehandlungen vermindert. Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich diese Portale insbesondere bei Ärzten aufgrund der erwarteten Steigerung der Effizienz und Serviceorientierung, da bei Notwendigkeit zur Einweisung Terminreservierungen im Krankenhaus ermöglicht werden. Aber auch die Krankenhausorganisation profitiert von der Nutzung der Portale. Im stationären Behandlungsfall sprechen ambulante Leistungserbringer oftmals subjektive Empfehlungen zur Auswahl des stationären Versorgers an Patienten aus. Dabei bleiben insbesondere Krankenhäuser, die den Vor- und Nachbehandlern verbindliche Informationsströme bieten können, positiv in Erinnerung. Auf diese Weise kann es stationären Leistungserbringern gelingen, die Zuweisertreue zu festigen und dementsprechend auch den kontinuierlichen Patientenstrom zu sichern (Schlegel 2011). Weiterhin bieten sich durch verbindliche und zeitnahe Informationsbereitstellung an die Nachbehandler Potenziale zur Kostenersparnis. Sollten bereits entlassene Patienten aufgrund von Komplikationen einer Wiederaufnahme in das behandelnde Krankenhaus bedürfen, wird diese, sofern sie innerhalb der für die Fallpauschale definierten oberen Grenzverweildauer liegt, als derselbe Fall behandelt. Es erfolgt eine Fallzusammenführung der Aufnahmen. Für Wiederaufnahmen wird, unter der Annahme einer vorab erfolgten „blutigen Entlassung“ (d. h., es wird eine zu frühe Entlassung vor Beendigung der tatsächlichen stationären Behandlungsbedürftigkeit unterstellt), kein zusätzlicher Erlös für das Krankenhaus generiert. Die zuverlässige Informationsübermittlung an den Fach- beziehungsweise Hausarzt, der die Betreuung im Anschluss an die stationäre Versorgung übernimmt, kann demzufolge zu einer besser abgestimmten ambulanten Nach­ sorge, der Reduktion von Wiederaufnahmen und damit einhergehend einer Reduktion der Fallkosten für den stationären Leistungserbringer führen. Dennoch beschreiben Hufnagl et al. (2019), dass zum heutigen Stand Einweiserportale noch keine weitläufige Verbreitung erfahren. Dies ist auf das Fehlen standardisierter Schnittstellen für Autorisierung, Signierung und Verschlüsselung und den damit verbundenen Mehraufwand für die Akteure zurückzuführen (Schlegel 2011). Auch die administrative Aufnahme bietet durch digitale Transformation Potenziale zur Entlastung des Personals, bspw. durch vorgelagerte digitale Aufnahme und Onlineterminvergabe, eine innovative Herangehensweise zur Glättung der aufkommenden Patienten-

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ströme. Unter der vorgelagerten digitalen Aufnahme versteht man die Vorabberücksichtigung des elektiven Patienten über eine Internetplattform, wie es bereits in diversen Branchen (bspw. zur Terminreservierung bei öffentlichen Ämtern) der Regelfall ist. Onlineportale im stationären Gesundheitssetting sollen darüber hinaus für Patienten die Möglichkeit bieten, relevante Dokumente bereits vorab hochzuladen und so dem stationären Leistungserbringer zur Verfügung zu stellen. Andererseits sollen es diese Portale aber auch dem Leistungserbringer ermöglichen, Patienten Informationen zur Verfügung zu stellen. Der bestenfalls vollständig automatisierte Versand von Informationsmaterial und Anamnesebögen vor der Einweisung gewährleistet eine bestmögliche Aufnahmevorbereitung. Weiterhin können elektive Behandlungen und nötige Diagnostik bereits in der Terminplanung berücksichtigt, Bettkapazitäten geplant und Wartezeiten vermieden werden. Eine weitere Möglichkeit zur Verkürzung der Wartezeit in der administrativen Aufnahme ergibt sich durch die Bereitstellung von Aufnahmeterminals, wie sie beim Check-in am Flughafen, beim Erwerb von Fahrttickets im öffentlichen Personenverkehr oder als Geldautomaten zu finden sind. Nach Kucera (2011) betreibt das Klinikum Ingolstadt diese Terminals bereits. Zentrale, im Eingangsbereich der Einrichtung positionierte Self-­ Serving-­Stationen können Teile der Patientenaufnahme in die Verantwortung mündiger und technologieaffiner Patienten beziehungsweise ihrer Angehörigen übertragen. Dies spart sowohl patienten- als auch personalseitig Zeit ein, die Anmeldungsdauer verkürzt sich laut Angaben des Herstellers um bis zu 30 % (Schömann-Finck 2011). Diese Zeitersparnis bietet das Potenzial, wiederum zur Ausführung der patientennahen Prozesse in besserer Versorgungsqualität zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus dient diese aktive Einbindung ebenfalls der Förderung der Autonomie und so der Befähigung und Integration des Patienten in den Versorgungsprozess. Schritte der administrativen Patientenaufnahme, die nicht in den Verantwortungsbereich des Patienten ausgelagert werden können und weiterhin auf Mitarbeiter entfallen, können durch digitale Unterstützung Optimierung erfahren. Eine weitreichende Ressourcenbelastung stellen die bei der administrativen Aufnahme notwendigen Papierdokumente dar. Ziel einer jeden Einrichtung sollte es sein, die Zahl notwendiger Papierdokumente kritisch zu reflektieren und langfristig zu reduzieren. So können kostenintensive Papierarchive abgeschafft und eine durchgängige und nachhaltige Dokumentation ermöglicht werden. Notwendig für die Revisions- und Beweissicherheit digitaler Dokumente ist dabei eine qualifizierte elektronische Signatur gemäß Signaturgesetz und Signaturverordnung, die die handschriftliche Unterschrift nach § 126a BGB Elektronische Form rechtlich ersetzen kann (Roßnagel 2009). Dies kann im Bereich der administrativen Patientenaufnahme erfolgen, indem der Patient die Dokumente auf einem Unterschriftentablet digital signiert, welches die biometrische Signatur (bspw. Druck und Geschwindigkeit des Schriftbildes) verschlüsselt speichert. Dadurch, dass im Anschluss ein Mitarbeiter mit qualifizierter elektronischer Signatur unterschreibt, wird die Anwesenheit des Patienten bestätigt und das Dokument digital versiegelt. Der eigentliche medizinisch-pflegerische Kernprozess bietet insbesondere im Bereich der Auftrags- und Befunddokumentation Potenziale zur Digitalisierung. Durch eine elektronische Anamnese können Effizienzreserven gehoben werden, da Anamnesedaten

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vollumfänglich in höherer Qualität erfasst werden und schnell verfügbar sind (Liu et al. 2012). Diese Erhebung kann zunächst im Rahmen einer Selbstanamnese durch den Patienten erfolgen, bei der Einzelfakten in einer strukturierten Maske, bspw. an einem mobilen Endgerät, abgefragt werden. Die individuell abgestimmten Fragebögen und die Eingabesprache können dabei vorab von den Behandlern ausgewählt werden. Diese Art der Anamnese setzt Lese- und Schreibfähigkeit sowie Verständnismöglichkeit voraus. Ergänzt werden muss die Patientenselbstanamnese durch die Anamnese des Arztes, welcher die gegebenen Antworten elektronisch aufarbeitet, eventuell hinterfragt und validiert. Folgende Diagnostik und Therapieeinleitung kann auf Basis verlässlicher und präziser Anamnesedaten zielgerichtet durchgeführt werden, was wiederum zur Schonung von Ressourcen beiträgt. Ergänzt werden diese positiven Aspekte durch die Steigerung der Patientenzufriedenheit und -sicherheit, da die Genauigkeit der Anamnese die Reduktion redundanter Diagnostik, welche mitunter für den Patienten belastend sein kann, bedeutet. Nicht nur Doppeluntersuchungen, auch das Vermeiden von Behandlungsfehlern aufgrund fehlerhafter Diagnosestellung stellen derzeit für Patienten eine Schadensquelle dar, die durch eine präzise Anamneseerhebung beseitigt werden kann (Burnet et al. 2011). Die daraus resultierende Zeitersparnis durch den Einsatz elektronischer Anamnese kann in patientenbezogene Tätigkeiten rückgeführt werden und stärkt so wiederum die Arzt-­Patienten-­Beziehung sowie die Qualität der Versorgung. Eine Weiterentwicklung der elektronischen Anamnese bietet die elektronische Entscheidungsunterstützung in der Diagnostik, welche den Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen anhand ihrer Leitsymptome und das Aufstellen von Verdachts- beziehungsweise Arbeitsdiagnosen automatisiert (Hayna und Schmücker 2008). In Diagnostik und Therapie bieten Big-­Data-­Technologien die Möglichkeit, Therapieentscheidungen weitaus fundierter und auf Basis individueller Patientenanforderungen zu treffen. Medizinische Leitlinien und Behandlungsempfehlungen basieren auf klinischen Studien, die ein repräsentatives Patientenklientel, stratifiziert in wenige Hauptgruppen, zur Grundlage haben. Weitaus zukunftsträchtiger und individueller ist die maschinelle Analyse großer patientenbezogener Datenmengen, die vormals noch zu umfassend und heterogen für das menschliche Verständnis waren. Durch algorithmenbasierte Auswertung der Patientendaten können diagnoserelevante Zusammenhänge offengelegt, komplexere Krankheitsprofile erfasst werden und schließlich kann präziser und durch die Zielgerichtetheit effizienter diagnostiziert werden (Friele et al. 2018). Im Bereich konservativer Therapien kann insbesondere die Automatisierung der Arzneimittelgabe dazu beitragen, dass vermeidbare Verschwendung entlang des Versorgungsprozesses eliminiert und so der Beitrag zur Wertschöpfung gesteigert werden kann. Der Prozess der Medikamentenausgabe ist einer der wichtigsten Faktoren für eine sichere Patientenversorgung im Stationsalltag. Häufig belasten patientensicherheitsrelevante Faktoren das Versorgungsumfeld, darunter bspw. der hohe Zeitdruck aufgrund der nur begrenzten Personalausstattung, die gleichzeitige Forderung nach rechtzeitiger und umfassender Versorgung einer Vielzahl von Patienten häufig ohne Verfügbarkeit behandlungsrelevanter Informationen sowie die hohe Anzahl von Medikamenten, die verabreicht und koordiniert

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werden müssen. Aus diesen Gründen ist die Verbesserung der Systeme und Prozesse, die zur sicheren Abgabe von Medikamenten verwendet werden, von größter Bedeutung. Die Automatisierung der Medikamentenausgabe kann zum einen in den hauseigenen Apotheken erfolgen. Zentralisierte Medikamentenverteilungssysteme umfassen dabei sowohl traditionelle manuelle Dosierungseinheiten als auch stationäre Robotersysteme, die den Prozess der Medikamentenausgabe mithilfe der Barcodetechnologie automatisieren. Des Weiteren können im Stationsalltag dezentrale Medikamentenverteilungssysteme, sogenannte Automated Dispensing Cabinets, eingesetzt werden. Zu den Vorteilen einer intelligenten automatisierten Lager- und Ausgabelösung gehört, dass manuelle Arbeitsschritte nicht mehr notwendig sind, das Personal Entlastung erfährt und Patienten die richtige Medikation zuverlässig zur vorgesehenen Zeit erhalten (Fanning et al. 2016). Im Zusammenhang mit operativen Therapiemöglichkeiten stellen insbesondere die Koordination und Dokumentation der Operation unterstützende Prozesse dar, deren Ressourcenaufwand durch digitale Abbildung in erheblichem Maße reduziert werden kann. Checklisten sind in der Luftfahrt ein erprobtes Kontrollinstrument, das zur Erhöhung der Sicherheit beiträgt. Wie im Flugzeugcockpit können auch im Operationssaal Kontrolllisten herangezogen werden (Neumayr et al. 2015). Nach Bauer (2009) sind unerwünschte Vorfälle, wie bspw. die Verwechslung von Patienten, Folge multifaktorieller Systemfehler und resultieren nicht alleine aus mangelndem Fachwissen oder dem Fehlverhalten einzelner Akteure. Je mehr Interaktion zwischen den Beteiligten und je mehr anfallende Prozessschritte, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten unerwünschter Ereignisse. Im Vordergrund stehen bei der Verwendung von Checklisten der Informationsaustausch aller Beteiligten sowie die Identifizierung des Patienten und Transparenz über den beabsichtigten Eingriff. Mit zunehmender Spezialisierung und der damit einhergehenden Arbeitsteilung ist es notwendig, Prozesse in zunehmend interdisziplinärer und interprofessioneller Weise zu koordinieren, um die Erfüllung spezifizierter Sicherheitsvorgaben zu überwachen sowie die Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu regeln. Wie der Hersteller Diagramm Halbach beschreibt, sind digitale OP-Checklisten ebenso effektiv wie die vorherige Papierversion. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die OP-Checklisten während des Schreibens digitalisiert, bei Bedarf automatisch auf Vollständigkeit geprüft, in die elektronische Fall­ akte eingespeist, mit Zeitstempel versehen und archiviert werden (Diagramm Halbach GmbH 2019). So kann die Effizienz des Prozesses gesteigert werden und die Informationen können nachweislich für alle Beteiligten zur Verfügung gestellt werden. Mithilfe elektronischer Datenerfassung, bspw. durch digitale Visitenwägen oder mobile Eingabegeräte wie Tablet-PCs, sollen diese Elemente digital verfügbar gemacht werden. Informationstransparenz geht mit positiven Erwartungen einher, darunter Zeitersparnis, welche wiederum in patientennahe Zeit investiert werden kann. Weiterhin fallen darunter auch die Vereinfachung und der Transfer bestimmter Aufgaben, Entscheidungsunterstützung, Qualitätssteigerungen bei gleichzeitiger Reduktion der Kosten sowie die Steigerung der Benutzerfreundlichkeit für das Personal (Hielscher et  al. 2015 und Sowinski et  al. 2013). Über die Dokumentation hinaus ergeben sich weitere innovative Ansätze, insbesondere im Bereich der Robotikanwendungen oder durch den Einsatz von Hilfs- und

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­ onitoringsystemen zur Überwachung der Patienten. Hilfsmittel und Monitoringsysteme M können bei Pflegetätigkeiten unterstützen, bspw. durch den Einsatz von Wearables am Patienten. Diese am Körper zu führenden Geräte bieten das Potenzial, Vitalwerte in Echtzeit zu tracken oder den Aufenthaltsstatus von Patienten transparent zu machen (Delabrida Silva et al. 2017). Auch die sogenannten Unterstützungsprozesse, die in untergeordneter Beziehung zu den medizinisch-pflegerischen Kernleistungen stehen, können durch digitale Technologien effizienter gestaltet werden (Rohner 2012). Beispielhafte Unterstützungsprozesse stellen die Bettenlogistik, Materiallogistik sowie die Speisenversorgung der Patienten dar. All diese Prozesse sind notwendig, um den reibungslosen Ablauf der Kernprozesse zu gewährleisten, welche den direkten Beitrag zur Wertschöpfung (medizinisch-­pflegerisches Dienstleistungsgeschehen) liefern. Nach Graf et  al. (2013) können die Beteiligten weitere Unterstützung durch Robotik erfahren, so haben sich bereits in vielen deutschen Krankenhäusern Systeme der Service- und Transportrobotik etabliert, die Speisen, patientenindividuell angeforderte Gegenstände (z.  B.  Zeitschriften), Verbrauchsmaterialien oder Medikamente bereitstellen und die Beseitigung von Wäsche und Abfällen durchführen. Mithilfe von drahtlosen Netzwerken, Sensorik und Kameras zur Distanz- und Bewegungserkennung, Scannern sowie Echtzeitlokalisierungssystemen (z. B. RFID) wird die autonome Navigation der Roboter sichergestellt. Aufgrund der beträchtlichen Kosten für Anschaffung und Wartung werden Service- und Transportroboter vornehmlich in Einrichtungen mit mehr als 600 Betten eingesetzt. Neben der Unterstützung in Service- und Transport können Robotersysteme auch in der Assistenz des Personals in medizinischen Belangen eingesetzt werden. Sogenannte Assistenzroboter finden in diversen Pilotierungen Einsatz in der Aufklärung und Vorbereitung von Terminen oder im physischen Beistand durch Präsenz nach Operationen, insbesondere bei Demenzerkrankten. Beispielsweise unterstützt der im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes „SeRoDi – Servicerobotik zur Unterstützung personenbezogener Dienstleistungen“ entwickelte intelligente Pflegewagen das Personal, indem Pflegeutensilien automatisch zur Verfügung gestellt werden. Neben der Bereitstellung der Materialien übernimmt der Roboter, der über mobile Endgeräte an den Einsatzort angefordert werden kann, ebenfalls die Dokumentation des Verbrauchs sowie der damit verbundenen durchgeführten Pflegetätigkeiten (SeRoDi 2019).

15.3 Schlussbetrachtung Zur Bewältigung der bestehenden Herausforderungen, denen deutsche Krankenhäuser entgegensehen, bedarf es der Neuausrichtung bestehender Prozessstrukturen. Ziel des Einsatzes von Innovationen ist die Steigerung der Leistungsfähigkeit durch technologische Unterstützung, insbesondere der medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten. Der vorliegende Beitrag illustriert, wie eine Innovationsfokussierung entlang der einzelnen Segmente des stationären Leistungsprozesses (Einweisung, Administrative Aufnahme, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Pflege, Entlassung) angestrebt werden kann. Das Aufzeigen von

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E. Doctor et al.

Einsatzmöglichkeiten für digitale Lösungen soll den Ablauf bestehender, verschwendungsreicher Arbeitsschritte durch schlanke Technologieinnovationen hinterfragen. Darüber hinaus sollen Gestaltungsanregungen für Prozessstrukturen gegeben werden, die der Steigerung des Wertschöpfungsbeitrages der Einrichtungen und damit der Bewältigung des auftretenden Leistungsvolumens dienen. Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Politik die Verantwortung für die digitale Transformation bisher an die Körperschaften der Selbstverwaltung delegiert hat, was jedoch aufgrund der zum Teil konträren Positionen zur gegenseitigen Blockade und daher Verlangsamung der Entwicklungen führte. Dahingegen existiert auf Mikro- und Mesoebene eine Vielzahl staatlich geförderter, regionaler Pilotprojekte und auch die deutsche Start-up-Szene beweist, dass innovative Technologien und Anwendungen in der Lage sind, die unterschiedlichen Interessensgruppen des medizinischen Versorgungsprozesses zu unterstützen. Vonseiten der Politik bedarf es der Stärkung der vorgesehenen Führungsrolle und aktiven Gestaltung des digitalen Wandels, unter systematischem Einbezug der Nutzer (Ärzte und Patienten). So kann sich der Branche enormes Entwicklungspotenzial bieten, wobei die Bedeutung der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Fürsorgearbeit der medizinischen und pflegerischen Berufe Berücksichtigung finden muss.

15.4 Kritische Würdigung und Ausblick Bisher stellen die Informationssysteme im Krankenhaus größtenteils Insellösungen dar, welche isoliert in ihren einzelnen Anwendungsbereichen genutzt werden. Bildgebende Geräte, Bildarchivierungssysteme oder Kommunikations- und Informationssysteme liegen in der Hand einzelner Fachabteilungen und können nicht zwangsläufig miteinander interagieren. Um den reibungslosen Ablauf der beschriebenen Prozessschritte entlang des Patientenpfades gewährleisten zu können, bedarf es der Interoperabilität der Einzelsysteme. Interoperabilität bezeichnet die Fähigkeit von zwei oder mehr Systemen oder Komponenten, Informationen auszutauschen und die Informationen, die ausgetauscht wurden, zu nutzen (Hayes et al. 2000). Diese Fähigkeit muss einerseits technisch vorliegen, damit Daten übertragen werden können. Darüber hinaus muss sie auch prozessual vorliegen, um den Gebrauch der Daten zu gewährleisten. Anbieter von Informationssystemen versuchen, eine modulare Applikationslandschaft vorzuhalten, häufig stellt sogenannte Middleware dabei die Kommunikationslösung dar, Software, die auf einer Übersetzungsebene zwischen Informationssystemen und den darauf aufbauenden Applikationen ausgeführt wird. Ohne die Integration der Insellösungen kann eine Vernetzung der Akteure nicht oder nur unter erheblichem manuellen Aufwand erfolgen, Prozesseffizienzen bleiben unangetastet. Systemverfügbarkeit und Datentransparenz gilt daher als Grundvoraussetzung der getätigten Überlegungen zu Innovationen entlang des stationären Leistungsprozesses in seinen einzelnen Segmenten. Doch nicht nur die technologische Umsetzbarkeit muss gegeben sein, bei der Erbringung von Dienstleistungen im Gesundheitswesen spielt der Faktor Mensch eine tragende Rolle. Insofern die Nutzer der Technologieinnovationen deren

15  Digitale Transformation in Krankenhäusern: Potenziale und Innovationen entlang …

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­ erwendungszweck und Sinnhaftigkeit anzweifeln, kann eine Implementierung nicht von V Erfolg gezeichnet sein. Sämtliche Innovationen und Veränderungen im Versorgungsalltag müssen daher in enger Abstimmung mit den Beteiligten geplant und schrittweise implementiert werden, damit die Akzeptanz der Technologien sichergestellt werden kann. Die Akzeptanz muss jedoch nicht nur auf Prozessebene geschaffen werden, vielmehr muss den Beteiligten die Furcht genommen werden, in der Zukunft durch Technologien ersetzt zu werden. Ziel der hier beschriebenen Innovationsimpulse ist es diesbezüglich, die Fachkräfte von Tätigkeiten zu entlasten, für die sie eine Überqualifikation besitzen. Eine Technisierung der unterstützenden Prozesse kann so zu einer Steigerung der Möglichkeiten für menschlichen Kontakt führen, zielgerichtet dort, wo Fürsorge und Fachwissen besonders gebraucht werden, der Kernleistung der Versorgung von Patienten.

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Eileen Doctor  M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und in der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Nach ihrem Bachelorstudium der Gesundheitsökonomie an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden, führte sie ihre fachliche Ausbildung im Masterstudium der Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth fort. Seit April 2020 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind E-Health und die digitale Transformation, mit Fokus auf konkrete Prozessoptimierungen. Dr. Christoph Buck,  M.Sc., ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und in der Fraunhofer Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Nach dem Diplom-Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth legte er seine Promotion an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth ab. Seine Forschungsschwerpunkte sind die digitale Transformation, Information Privacy, E-Health und datengetriebene Geschäftsmodelle. Prof. Dr. Torsten Eymann  ist Inhaber des Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und stellvertretender wissenschaftlicher Leiter der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Nach dem Diplom-Studium der Informatik an der Universität Mannheim legte er seine Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ab. Seit dem Jahr 2004 hat Prof. Dr. Eymann den Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Universität Bayreuth inne. Seit dem Jahr 2015 ist er Vizepräsident der Universität Bayreuth für Informationstechnologie und Entrepreneur­ ship. Seine Forschungsschwerpunkte sind IT-Security, E-Health und die digitale Transformation.

Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung für innovative Organisationsprozesse in der ambulanten Pflege

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Lena Marie Wirth, Sabine Daxberger, Miriam Peters und Manfred Hülsken-Giesler

Inhaltsverzeichnis 16.1  E  inleitung   274 16.2  Innovationsräume   275 16.3  Indirekte Steuerungsmechanismen und organisationale Prozesse in der ambulanten Pflege   276 16.4  Steuerungsbedingte Hemmnisse und Förderung von Innovationen   280 16.5  Innovationsräume im Rahmen der indirekten Steuerung: Erste Ansätze im Bereich der ambulanten Pflege   282 16.6  Schlussbetrachtung   284 Literatur   286

Zusammenfassung

Die vielfältigen Herausforderungen in der Versorgung älterer und chronisch sowie multimorbid erkrankter Menschen durch ambulante Dienste erfordern auf verschiedenen Ebenen Innovationen. In dem folgenden Beitrag werden erste Ansätze für eine AuseinL. M. Wirth (*) Universität Osnabrück, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Fachgebiet Pflegewissenschaft, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Daxberger · M. Peters Universität Osnabrück, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Fachgebiet Pflegewissenschaft, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] M. Hülsken-Giesler Universität Osnabrück, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_16

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L. M. Wirth et al.

andersetzung mit organisationaler Innovation in der ambulanten Pflege thematisiert. Dabei werden indirekte Steuerungsmechanismen und deren Auswirkungen auf die Leistungs- und Innovationsdynamik erörtert. Es zeigt sich, dass der Einzug von Marktmechanismen im Gesundheitssektor sowohl zu Spannungen zwischen wirtschaftlichen und fachlichen Interessen bei den Mitarbeitern führen kann, auf der anderen Seite aber auch neue Möglichkeiten der organisationalen Innovation eröffnet. Im Rahmen des BMBF-Projektes ITAGAP wurden diese neuen Möglichkeiten konzeptualisiert und in der organisationalen Praxis der ambulanten Pflege erprobt. Erste Evaluationsergebnisse verweisen darauf, dass neue Formen der Fallzuteilung sowie eine Intensivierung von Reflexion und Kommunikation dazu beitragen können, dass moderne Steuerungsmechanismen und Innovationsbestrebungen sich nicht widersprechen, sondern zur Eröffnung neuer Innovationsräume genutzt werden können.

16.1 Einleitung Vor dem Hintergrund der Zunahme der Anzahl älterer und chronisch sowie multimorbid erkrankter Menschen und einhergehender Erosion von traditionellen Unterstützungssystemen, zunehmendem Fachkräftemangel und sinkenden Pflegekapazitäten in den Familien, gewinnen neue Strategien der Absicherung der pflegerischen Versorgungssicherheit und -qualität in Deutschland an gesellschaftlicher und politischer Attraktivität. Es wird erwartet, dass der Zuwachs an pflegebedürftigen Menschen auf bis zu 4,4 Mio. im Jahr 2050 kaum über die bislang etablierten Ansätze einer familienbasierten und professionell unterstützten Pflegearbeit zu bewältigen sein wird (z. B. Bertelsmann 2012). Politisch sind derzeit drei zentrale Strategien einer „nachholenden Modernisierung“ des Pflegesystems in Deutschland erkennbar, um diesen Herausforderungen zu begegnen (Hülsken-Giesler 2017): Über (1) die Professionalisierung der Pflege sollen die Pflegeberufe insgesamt attraktiver gemacht werden, um Fachkräfte für diesen gesellschaftlichen Teilbereich zu gewinnen und nachhaltig binden zu können (Hülsken-Giesler 2014). Über (2) den Einsatz von neuen, digitalen Technologien (Informationsund Kommunikationssysteme, Robotik u. a. m.) soll Pflegearbeit unterstützt, entlastet und vernetzt werden (TAB 2018; BMG 2017). Schließlich soll die Sicherstellung von Betreuungs- und Pflegeleistungen durch (3) die Etablierung von sorgenden Gemeinschaften erreicht werden. (Begrifflich und konzeptionell wird dieser Ansatz derzeit unterschiedlich ausbuchstabiert (Klie 2014). Unter dem Label „sorgende Gemeinschaften“ „Caring Communitys“, „Quartiersmanagement“ oder auch „Mehrgenerationenhäuser“ geht es aber in der Regel darum, die Zivilgesellschaft (ggf. auch im Hilfemix von professionellen und informellen Akteuren) stärker in die Herausforderungen der Betreuung und Versorgung von älteren und hilfebedürftigen Menschen einzubinden.) In diesem Zusammenhang soll sich professionelle Pflegearbeit vorzugsweise auf fachgebundene medizinisch-pflegerische Aspekte konzentrieren (Pflege als Cure-­ Arbeit); sozial- und empfindungsbezogene Aspekte der Pflegearbeit sowie Aufgaben der Alltagsgestaltung, der Grundpflege und Teilhabearbeit (Pflege als Care-Arbeit) sollen dagegen

16  Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung … 275

als zivilgesellschaftlich getragene Pflege an engagierte Menschen im Quartier delegiert werden (Deutscher Bundestag 2016; Klie 2014; Hoberg et al. 2013). Alle drei benannten Strategien erfordern ein Überdenken bisher etablierter Angebote in der ambulanten Pflege und verweisen auf Innovationserfordernisse in diesem politisch aktuell hoch dynamischen Versorgungssektor (Stichwort ambulant vor stationär). Innovative Weiterentwicklungen in diesem Bereich erfordern veränderte Angebotsstrukturen, die wiederum mit der Etablierung neuer Geschäftsmodelle einhergehen müssen. Zur erfolgreichen Implementierung bedarf es der Bereitstellung von Innovationsräumen, die unter Berücksichtigung organisationaler und personaler Herausforderungen zu denken sind. Der vorliegende Beitrag argumentiert exemplarisch entlang der Perspektive von Anbietern professioneller Pflege und zeigt Möglichkeiten zur Gestaltung von Innovationsräumen im ambulanten Sektor auf.

16.2 Innovationsräume Innovationen stellen Ideen dar, die von einer ausgewählten Gruppe als neu und nützlich anerkannt werden (Bergmann 2000; Disselkamp 2012). Innovationen können dabei ein neuartiges und ggf. wesentlich verbessertes Produkt und/oder einen Prozess umfassen (OECD 2005; Cropley und Cropley 2018). Andere Definitionen schließen auch Kulturund Organisationsinnovationen ein, nicht selten einer Logik der Differenzierung entlang der gewünschten Ausprägung einer Innovation folgend (Bergmann 2000; Foster und Kaplan 2002). Zunehmend werden auch Geschäftsmodellinnovationen thematisiert (Eckert 2019). Produktinnovationen können neue oder verbesserte Produkte sein, die von den Kunden in alten oder neuen Märkten nachgefragt werden. Im Dienstleistungssektor entsprechen Produktinnovationen neuen oder verbesserten Dienstleistungen und Konzepten. Prozess- oder Verfahrensinnovationen umfassen Erneuerungen der organisationalen Leistungserbringung (Disselkamp 2012). Innovationen können ergebnisorientierte oder prozessorientierte Vorteile ermöglichen. Beispiele hierfür sind (folgend aus Cropley und Cropley 2018): ergebnisorientierte ­Vorteile als gesteigerte Produktivität, Wettbewerbsvorteile, gesteigerte Nachfrage, gesteigerte Erträge etc.; prozessorientierte Vorteile als verbesserte Planung, motivierte Mitarbeiter, verbesserte Teamarbeit und Kooperation, verminderte Mitarbeiterfluktuation etc. Die Entstehung von Innovationen kann in unterschiedliche Phasen gegliedert werden, die abstrakte Grundstruktur ist dabei stets: Inspiration, Ideenfindung und Implementierung (Hilbrecht und Kempkens 2013). Um Innovation zu denken, also Inspiration zu ermöglichen, Ideen zu verbalisieren und zu konkretisieren und Möglichkeiten für die Umsetzung von Innovation zu diskutieren, ist Raum zu schaffen. Die Entstehung von Erneuerung setzt die Bereitschaft voraus, sich von aktuellen und ggf. etablierten Produkten und Prozessen abzulösen und diese ggf. radikal infrage zu stellen. Gefragt ist der vielbesagte „Blick über den Tellerrand“, der allerdings „Raum“ im Sinne verschiedenster Ressourcen, etwa in Form von Zeit, angemessenen Arbeitsumgebungen und Prozessen, sozialer Unterstützung

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und finanziellem Budget, erfordert, um Innovation zu denken und ggf. sogar erfolgreich umzusetzen. Räume für Innovationen sollten dabei auf all diesen Ebenen kreativ gestaltet sein und architekturpsychologisch „Energie“, „Offenheit“ und „Kommunikation“ unter den Beteiligten fördern (Hilbrecht und Kempkens 2013, S. 352). In unserem Beitrag gehen wir von diesem breiten Verständnis aus, um „Raum für Innovation“ im Bereich der ambulanten Pflege zu diskutieren. Erfolgreiche Innovation setzt allerdings nicht nur die Bereitstellung angemessener Rahmenbedingungen, sondern insbesondere auch die Vergegenwärtigung typischer Gründe für das Scheitern von (institutioneller) Innovation voraus. Es gibt viele verschiedene Gründe für ein Scheitern von Innovationsprozessen, die z. B. entlang der Kriterien „Strategie“, „Struktur“, „Kultur“, „Abläufe und Prozesse“ sowie „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Organisationen“ unterteilt werden können (Disselkamp 2012, S. 52–59). Mögliche Barrieren für institutionelle Innovationen werden in der Tab. 16.1 zusammengefasst. Die Übersicht zu den verschiedenen Barrieren und Hemmnissen verdeutlicht den besonderen Zusammenhang von Innovation und steuerungsrelevanten Aspekten in einer Organisation. Die Steuerungsmechanismen einer Organisation bedingen dabei die organisationale Leistungsdynamik und implizieren in der Regel auch leistungsorientierte Managementinstrumente, mit denen Erfolg und Misserfolg im Unternehmen bemessen werden kann (Peters 2011). Raum für Innovationen kann in diesen Zusammenhängen nur entstehen, wenn die jeweils etablierte Steuerungs- und Leistungsdynamik diese fördert und Innovationsbarrieren auf den Ebenen der Unternehmensstrategie, -struktur und -kultur weitgehend abgebaut sind. Im Folgenden werden aktuell erkennbare institutionelle Steuerungsmechanismen und organisationale Prozesse aus dem Handlungsfeld der ambulanten Pflege erörtert.

16.3 I ndirekte Steuerungsmechanismen und organisationale Prozesse in der ambulanten Pflege Anbieter ambulanter Pflegedienstleistungen stehen seit Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes im Jahr 1995 zunehmend unter wirtschaftlichem Druck (Slotala 2011). Die finanziellen Rahmenbedingungen wirken sich auch auf die Steuerungsmechanismen innerhalb der Organisationen aus (Slotala 2011). Jüngst halten indirekte Steuerungsformen zunehmend Einzug in die ambulante Pflege (Daxberger et al. 2018). Indirekte Steuerung ist durch den Einsatz von Instrumenten charakterisiert, mit denen eine wirtschaftlich orientierte Marktlogik in konkreten Handlungsfeldern in mehr oder weniger abstrakte Zielvorgaben überführt werden kann. „Das Neue an diesen Steuerungsformen besteht darin, dass sich das Management darauf beschränkt, den weiteren Rahmen festzulegen und Ziele vorzugeben. Die konkrete Bearbeitung wird weitgehend dezentralen Einheiten und in letzter Konsequenz den Beschäftigten selbst überlassen“ (Sauer 2007, S. 6). Abstrakt kann dies über eine marktzentrierte Produktionsweise (Sauer 2007) begründet werden: „an

16  Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung … 277 Tab. 16.1  Innovationsbarrieren in Institutionen. (Quelle: in Anlehnung an Disselkamp 2012) Unternehmensstrategie Orientierungslosigkeit: Unklare Ziele und Strategie der Organisation führen zu unscharfen Zielrichtungen der Innovation Pseudoinnovationsmanagement: Innovative Ideen werden archiviert und nicht systematisch verfolgt und umgesetzt Innovationsbereitschaft ohne Investitionsbereitschaft: Das Unternehmen zeigt keine Risikobereitschaft, da ausschließlich Gewinnmaximierung und Kosteneinsparpotenziale im Mittelpunkt stehen Neue Technologien als einziger Innovationstreiber: Investitionen fließen unsystematisch in digitale Systemlösungen (ohne „Sinn und Verstand“); Technik wird überschätzt, die Weiterentwicklung von Kultur, Produkten, Verfahren, Strukturen und Märkten dagegen vernachlässigt Unzureichende Kundenorientierung: Die Innovation orientiert sich vorzugsweise auf die Binnenprozesse des Unternehmens und vernachlässigt dabei die Kundenwünsche Unternehmensstruk- Unpassende Unternehmensstrukturen: Das Unternehmen hält turen notwendige Ressourcen zur Realisierung einer Innovation nicht vor (z. B. F&E-Expertise) Hohe Ausdifferenzierung: Differenzierte Geschäftsbereiche verhindern den Blick auf die Gesamtziele des Unternehmens und erschweren einen gemeinsamen Ideenaustausch Interessenkonflikte: Blockieren neuer Prozesse und Geschäftsideen durch verschiedene Hierarchieebenen und Eigeninteressen der Akteure Unternehmenskultur Fehlerkultur: Nullfehlerhaltung erschwert die Umsetzung von neuen Ideen, da diese in der Regel mit Fehlern verbunden ist Sicherheitskultur: Sicherheit wird stärker belohnt als Innovationsbereitschaft, die mit Veränderungen und Ambiguität verbunden ist Konfliktkultur: Ist eine offene Konfliktkultur nicht etabliert, behindert dies Innovationen, da neue Ideen nicht offen geäußert werden können, ohne ggf. in einen Konflikt mit dem Status quo zu geraten Karrierekultur: Interne Karriereplanungen, die das Durchlaufen verschiedenster Verantwortungsbereiche voraussetzen, können in Konflikt mit der Umsetzung von mittel- bis langfristigen Innovationsprojekten geraten (Fortsetzung)

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Tab. 16.1 (Fortsetzung) Prozesse

Mitarbeiter

Zufällige Innovationen: Innovationen werden dem Zufall überlassen, wenn kein organisierter Prozess von der Idee zur Innovation führt; erfolgreiche Innovationen bedürfen eines Managements Kommunikation: Offene Kommunikation in der Organisation und mit externen Partnern gilt als unabdingbare Prämisse für eine Sensibilisierung zur Innovationsbereitschaft Außenkontakte: Außenkontakte werden nicht mit Blick auf potenzielle Innovationsimpulse betrachtet, stattdessen von Innovationsprozessen ausgeschlossen Timing: Fehlende zeitliche Abstimmung innerhalb von Innovationsprozessen, es werden keine Kommunikationspläne für die Weitergabe von Informationen erstellt Qualitätssicherung: Ressourcen zur Qualitätssicherung werden für verkürzte Produktlebenszyklen geopfert Partizipation: Fehlende oder zu geringe Einbindung von Mitarbeitern – Informationen über Kunden, Prozesse fehlen auf der einen Seite und auf der anderen mangelt es an Hintergrundwissen über neue Produkte und/oder Verfahren Qualifizierung: Unzureichende oder fehlende Qualifizierung der Mitarbeiter für innovative Prozesse, Technologien, Verfahren etc. – folgt die Qualifizierung der Innovation, begünstigt dies Widerstände Motivation: Innovation kann Ängste, Unsicherheiten, Demotivation und innere Kündigung aufseiten der Mitarbeiter erzeugen und dazu führen, dass die Akteure ihr Wissen zurückhalten, um nicht verzichtbar oder austauschbar zu werden Ängste: Häufig entstehen Bedenken gegenüber unkontrollierbaren negativen Konsequenzen für die Mitarbeiter, wie beispielsweise den Abbau von Arbeitsplätzen oder eine Verlagerung der Arbeit Polarisierung: Beschäftigungssicherung und Innovationen werden als Gegenspieler und nicht als Synergie interpretiert Mehrwert: Innovationen werden nicht als Mehrwert erachtet, es besteht eine gewisse Sattheit und ein allgemeines Desinteresse der Mitarbeiter

Stelle einer Abschottung der Produktions- gegenüber der Marktökonomie wird nun der Markt zum Bezugspunkt aller unternehmensinternen Prozesse“ (Peters und Sauer 2005, S. 7). Ziele Indirekter Steuerung sind die Verbindung organisationaler Interessen und ökonomischer Zielsetzungen auf der Ebene der Mitarbeiter: „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen nicht mehr tun, was ihnen gesagt wird, sondern sie sollen selbständig reagieren auf die Bedingungen, mit denen sie konfrontiert werden. Rechtfertigen können sie sich nicht mehr durch Fleiß, Einhaltung von Disziplin und fachlicher Qualität, sondern nur noch über ihren Beitrag zum unternehmerischen Erfolg“ (Peters 2011, S. 457). Erfolge beziehen sich dabei vor allem auf wirtschaftliche Erfolge, beispielsweise die Realisierung von Einsparpotenzialen, welche in messbaren Kennzahlen abgebildet und gesteuert werden. Auf der einen Seite werden darüber unternehmerische Ziele in berufliche Zielstellungen von Mitarbeitern überführt, andererseits entstehen für die Mitarbeiter darüber aber

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auch veränderte Handlungsspielräume. Diese neuen Handlungsspielräume stellen aber, anders als im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements argumentiert, nicht per se Ressourcen zur Entlastung der Mitarbeiter bereit (Ulich und Wülser 2015), vielmehr erweitern die veränderten Handlungsspielräume in der indirekten Steuerung nicht zwingend die Optionen. Die Dynamik der Spielräume ändert sich, denn letztlich müssen die Mitarbeiter selbstständig handeln und die Verantwortung tragen, egal ob dabei nur eine oder viele Optionen zum Erfolg bzw. Misserfolg führen (Peters 2011). Zu beobachten ist dabei, dass die neue zumeist von engen Controlling- und Prozessvorgaben begleitete Form der Selbstständigkeit von den Betroffenen häufig eher als eine Einschränkung der Handlungsoptionen wahrgenommen wird (Peters 2011). Personenbezogene Dienstleistungen in der Pflege beinhalten instrumentell-­ aufgabenbezogene und empfindungsbezogene Aspekte (Metzler et al. 2015). Berufliche Pflege agiert vor diesem Hintergrund wissensbasiert, körpernah und erfolgt und in enger Abstimmung mit den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls (Hülsken-Giesler und Daxberger 2018; Raven 2016; Böhle et al. 2015; Remmers 2011). Aspekte der personenbezogenen Interaktionsarbeit spielen in der professionellen Pflege eine herausragende Rolle, denn Gefühlsarbeit (Umgang mit den Gefühlen anderer, z. B. der Pflegeempfänger), Emotionsarbeit (Umgang mit den Emotionen als Pflegende), Kooperationsarbeit (Herstellung von Kooperationsbeziehungen) und subjektivierendes Arbeitshandeln gelten als unverzichtbare Voraussetzungen für eine problemlösungsorientierte Pflegearbeit (Böhle et  al. 2015). Insbesondere in der ambulanten Pflege sind Arbeitsprozesse nur begrenzt standardisierbar, was überprüfbare Zielvereinbarungen und die betriebliche Steuerung der Pflegearbeit erheblich erschwert. Sowohl ausführende als auch leitende Mitarbeiter sind nahezu täglich mit den Unwägbarkeiten der Prozesssteuerung konfrontiert. Dazu zählen etwa ungeplante Um- bzw. Neuorganisationen der Tourenplanung (z.  B. aufgrund von Krankmeldungen und hoher Mitarbeiterfluktuation), zeitlich nur schwer planbare Gespräche mit Kunden oder Angehörigen sowie weitere Formen von „Troublehandling“. Inzwischen konnten erste empirische Hinweise vorgelegt werden, dass indirekte Steuerung auch in der beruflichen Pflege mit einer Internalisierung von ökonomischen Handlungslogiken aufseiten der Mitarbeiter einhergeht (Höhmann et  al. 2016; Slotala 2011; Manzei 2009). Beruflich Pflegende geraten damit zunehmend in ein Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit/Effizienz und ihrem beruflichen Selbstverständnis, das i.  d.  R. personenorientierte Zielstellungen der Pflege (z. B. Wohlergehen, Lebensqualität) betont. Im Ergebnis mündet diese Spannung nicht selten in Phänomenen der interessierten Selbstgefährdung (Peters 2011; Krause et al. 2011), einem Zustand, in dem Mitarbeiter ihr eigenes Wohlergehen gefährden, um sowohl den personenorientierten Zielstellungen als auch den wirtschaftlichen Interessen im jeweiligen Handlungsfeld gerecht zu werden. Eigene empirische Erhebungen im Rahmen des BMBF-Projektes ITAGAP (Integrierte Technik- und Arbeitsprozessentwicklung für Gesundheit in der ambulanten Pflege) bestätigen diese ersten Befunde (Wirth et al. 2019). Beruflich Pflegende erleben eine starke Zerrissenheit zwischen wirtschaftlichen und fachlichen Interessen, erhalten aber auch eine neue Form der Selbstständigkeit im Umgang mit den veränderten Rahmungen der Pflegearbeit (Daxberger et al. 2018). Darüber hinaus verweisen

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die ITAGAP-Ergebnisse aber auch darauf, dass die neuen Handlungsoptionen aus dem Umfeld der indirekten Steuerung immer dann ungenutzt bleiben, wenn im Bereich der pflegerischen Versorgungspraxis Unwägbarkeiten auftreten – die Pflegenden verfallen dann in alte Handlungsmuster aus dem Umfeld der direkten Steuerung in der Pflege. Im ITAGAP-Projektverlauf konnten Situationen beobachtet werden, in denen Pflegedienstleitungen lange daran arbeiteten, dass ihre Mitarbeiter eigenständig agieren und entscheiden. In ungeplanten Situationen, etwa bei wirtschaftlichen Schieflagen oder internen Konflikten, verfielen diese Führungskräfte dann aber wieder in klassisch hierarchische Führungsmuster und verzichteten z. B. auf die Einbindung der Pflegenden in die Problemlösungssuche oder arbeiteten gar mit Drohgebärden und Abmahnungen. Im Berufsalltag der Pflege ergibt sich daraus eine „Mischform“ aus direkter und indirekter Steuerung der Arbeitsprozesse. Da sich diese beiden Steuerungsformen nicht organisch ergänzen, sondern einander widerstreiten, können Zielkonflikte entstehen. Inwiefern die indirekte Steuerung und etwaige Mischformen der Prozesssteuerung erneute Probleme in den gewohnten Arbeitsabläufen der Pflege, insbesondere aber auch im Umfeld innovationsorientierter Dynamiken hervorrufen, wird im Folgenden diskutiert.

16.4 S  teuerungsbedingte Hemmnisse und Förderung von Innovationen Die Steuerung von Arbeit in komplexen Organisationen ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Komplexe Interaktionen in der Organisation führen dazu, dass eine Vielzahl beteiligter Akteure jeweils eigene Anteile (z. B. Argumente, Entscheidungsbausteine, Widerstände) in die Prozesse einbringt, klar abgrenzbare Verantwortlichkeiten theoretisch also ggf. gegeben, aber faktisch kaum zu realisieren sind. Indirekte Steuerungssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie den unternehmerischen Erfolg auf allen Ebenen ins Zentrum des Handelns stellen. Weisungsgebundene Mitarbeiter können sich damit nicht mehr auf Vorgaben durch Vorgesetzte und auf ihre tatsächlich geleistete Arbeit berufen, der Wert ihrer Arbeit bemisst sich vielmehr unmittelbar an betrieblichen Kennzahlen und dem betriebswirtschaftlichen Erfolg oder auch Misserfolg des Unternehmens (Peters 2011). Neben den Führungskräften werden damit auch die Mitarbeiter selbst unmittelbar mit den Herausforderungen des unternehmerischen Denkens und Handelns konfrontiert. Dadurch entstehen veränderte Arbeitsanforderungen, die durchaus auch dazu führen können, dass neue Innovationskraft im Unternehmen freigesetzt werden kann. Neue Formen von Flexibilität, erweiterte Handlungsspielräume und ein höheres Maß an Verantwortung für das eigene Tun können Mitglieder einer Organisation beflügeln und „Energie“, „Offenheit“ und „Kommunikation“ im Unternehmen befördern und damit neues Innovationspotenzial freisetzen (Hilbrecht und Kempkens 2013, S. 352). Innovationsförderliche Effekte dieser Art werden häufig dann sichtbar, wenn die Organisationen oder betroffene Organisationseinheiten erfolgreich sind.

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Die Etablierung einer Marktlogik im Pflege- und Gesundheitssektor erfordert eine hohe Anpassungsfähigkeit der Organisationen, ist dabei aber auch mit Risiken behaftet: Marktreaktionen (z.  B. unregelmäßige Patientenbestände, neue Leistungskataloge), instabile Personalbestände (Fachkräftemangel, Fluktuation) oder auch unklare unternehmerische Effekte von finanziell aufwendigen Investitionen (z. B. im Zusammenhang mit der Etablierung von technischen Unterstützungssystemen) bringen Unternehmen der ambulanten Pflege nicht selten in wirtschaftlich schwierige Situationen. Auch und gerade in diesen Phasen lassen sich innovative Potenziale über die erweiterte Einbindung von Mitarbeitern in die Herausforderungen der betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung freisetzen, denn Konflikte und deren Bewältigung ermöglichen in Organisationen auch stets die Option zur Vitalisierung  – Innovation kann hier auch ein Teamentwicklungsprozess sein (Bergmann und Daub 2006). Die empirischen Ergebnisse aus Untersuchungen im BMBF-Projekt ITAGAP zeigen jedoch, dass Organisationen der ambulanten Pflege gerade in unternehmerisch schwierigen Zeiten auf direkte Steuerungssystematiken zurückfallen. Das Gesamtpotenzial eines Unternehmens wird in diesen Phasen häufig nicht ausgeschöpft, etwa durch Ausbau von Kommunikation und Transparenz im Team, vielmehr werden Führungskräfte sowie Mitarbeiter durch Abmahnungen, Zielvorgaben und starre Kennzahlsysteme nicht selten zusätzlich unter Druck gesetzt. In den untersuchten Einrichtungen der ambulanten Pflege wird deutlich, dass Ansätze der indirekten Steuerung gerade in Zeiten, in denen diese dazu geeignet sind, innovative und unternehmerisch ggf. überlebenswichtige Impulse zu liefern, eher zurückgefahren werden und klassisch hierarchische Denkweisen wieder Oberhand gewinnen. Neben der Problematik, dass sich Unternehmen in wirtschaftlich herausfordernden Phasen damit um erhebliche Innovationspotenziale bringen (siehe Tab. 16.1), ist festzuhalten, dass die in ITAGAP untersuchten Unternehmen der ambulanten Pflege über längere Sicht verschiedene Ansätze der Steuerung vermischen: In wirtschaftlich stabilen Phasen sollen Mitarbeiter ihr Handeln zunehmend eigenständig an den unternehmerischen Zielen ausrichten, in wirtschaftlich instabilen Phasen geraten diese wieder zu „Befehlsempfängern“ im Rahmen hierarchisch organisierter Entscheidungsstrukturen. Weiterhin können auch bei einer stringenten Anwendung von indirekter Steuerung Innovationshemmnisse auftreten. Die Orientierung am unternehmerischen Erfolg und Misserfolg kann dazu führen, dass speziell Führungskräfte im mittleren Management wenig Risikobereitschaft in der Entwicklung und Förderung von Innovationen eingehen. Wie bereits in Tab. 16.1 aufgezeigt führt eine „Innovationsbereitschaft ohne Investitionsbereitschaft“ häufig zu Barrieren in der Umsetzungsstärke von Innovationen. Im Projekt ITAGAP zeigte sich diese Problematik bei einem Praxispartner deutlich. Hier wurden viele geförderte Forschungsprojekte durchgeführt, eine Verstetigung der Innovationen in organisationale Prozesse oder Produkte konnte aber nur vereinzelt vollzogen werden, da die strategischen, strukturellen und kulturellen Innovationsbarrieren nicht überwunden werden konnten. Indirekte Steuerung ist demnach nicht per se als gut oder schlecht zu interpretieren. Es geht vielmehr darum, eine Reflexion der steuerungsbedingten Auswirkungen bei den Mitarbeitern

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sowie bei den Führungspersonen anzuregen (Peters 2011). Erst auf dieser Basis können gemeinsam mit den Beteiligten individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien in Bezug auf unerwünschte Auswirkungen entwickelt, ggf. stetig an sich wandelnde Anforderungen angepasst werden. Im Folgenden wird ein Ansatz vorgestellt, der die Implementierung innovativer Organisationsformen auf der Ebene der unmittelbaren Versorgung in der ambulanten Pflege beinhaltet, Steuerungskonflikte verringert und gemeinschaftlich strukturierte Reflexionsmöglichkeiten zur Eröffnung von Innovationsräumen fördert.

16.5 I nnovationsräume im Rahmen der indirekten Steuerung: Erste Ansätze im Bereich der ambulanten Pflege Die Forschungsarbeiten im BMBF-Projekt ITAGAP gehen von empirisch bekannten beruflichen Belastungen in der ambulanten Pflege aus und erarbeiten und erproben auf Basis dieser Erkenntnisse Konzepte für die Weiterentwicklung von Arbeitsprozessen in der Pflege, welche Möglichkeiten der Entlastung und Gesundheitsförderung für Pflegende in ihrem beruflichen Alltag eröffnen. Initiale ITAGAP-Erhebungen zeigen, dass in den untersuchten Diensten vorzugsweise nach dem Prinzip der Funktionspflege oder der Bereichspflege gearbeitet wird (Breisig et al. 2017; Wirth et al. 2019). In der Funktionspflege erfolgt eine strikte Trennung von dispositiven und ausführenden Faktoren. Einem tayloristischen Prinzip folgend werden konkrete Aufgaben aus der Ebene der Pflegedienstleitung und Verwaltung an die Pflegepersonen in der Versorgungspraxis delegiert. Die konkrete Einsatzplanung folgt dabei vorzugsweise pragmatischen Prinzipien der Organisationsplanung und ist damit aus Sicht der Klienten weitgehend kontingent. In der Bereichspflege verhält es sich ähnlich, jedoch wird hier versucht, Kontinuität in die Tourenplanung und damit auch in die Zuordnung von Kunden zu den Pflegepersonen zu bringen. Organisatorische Planung (Ablauf der Tour) und Letztverantwortung für die Pflegeprozesse (z. B. fachliche Pflegedokumentation) sind in beiden Pflegesystemen zentralisiert, verbleiben also bei der Pflegedienstleitung oder einer anderen zentral autorisierten Instanz. Beide Systeme stehen damit exemplarisch für Ansätze der direkten Steuerung. Die empirischen Erhebungen in ITAGAP haben weiterhin gezeigt, dass sich einerseits die Pflegenden in der Versorgungspraxis mehr Selbstständigkeit wünschen und andererseits auch die Pflegedienstleitungen, die als zentrale Akteure multiplen (und häufig divergierenden) Anforderungen ausgesetzt sind, Entlastung über Verantwortungsübernahme auf der Versorgungsebene begrüßen würden (Daxberger et al. 2018). Ähnliche Forderungen sind bereits aus dem stationären Pflegesektor der 1960er-Jahre bekannt (Manthey 2005). In Reaktion wurde in den USA seinerzeit das Bezugspflegesystem Primary Nursing entwickelt, das der Unzufriedenheit des Personals sowie hoher Fluktuation entgegenwirken sollte. Dieses Pflegesystem ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Verantwortungsübernahme durch die Pflegenden auf der unmittelbaren Versorgungsebene. Pflegende übernehmen hier komplexe Fallverantwortung für konkrete ausgesuchte Klienten. Sie sind Ansprechpartner für alle fachlichen und organisatorischen Fragen bei den ihnen zugeteil-

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ten Fällen (Fall = Individuum und sein soziales Umfeld im Pflegearrangement), sodass beispielsweise Veränderungen in der Pflegeplanung ausschließlich von den Primary Nurses bzw. in ihrem Auftrag vorgenommen werden. Die pflegerische Versorgung erfolgt durch die Primary Nurse und wird durch assoziierte Pflegende unterstützt. Primary Nursing stellt die extremste Form der Bezugspflege dar, bei der die Fallverantwortung selbst über die Dienstzeit hinaus besteht (Manthey 2005). Die Charakteristik dieses Pflegesystems begünstigt indirekte Steuerungsformen. Die Umsetzung von Primary Nursing in der ambulanten Pflege wird in Deutschland allerdings durch die sozialrechtlichen Rahmungen der Pflegearbeit erschwert, die eine Aufgabenteilung in der Pflege bis zu einen gewissen Grad eher begünstigen: Pflegefachpersonen dürfen pflegerische Leistungen z. B. dann nicht erbringen, wenn diese auch von Pflegehilfs- oder Assistenzpersonen erbracht werden können. Eine komplexe und kontinuierliche Betreuung und Begleitung der Leistungsempfänger durch Bezugspflegende, wie es das Primary-Nursing-Konzept vorsieht, ist damit kaum möglich. Die ITAGAP-Arbeiten konzentrierten sich daher darauf, ein Bezugspflegesystem in Anlehnung an Primary Nursing zu entwickeln und zu erproben, das zwischen „fallverantwortlichen Bezugspflegekräften“ (verantwortliche Pflegefachpersonen) und „Beziehungspflegern“ (d. s. Pflegefachpersonen ohne Fallverantwortung und/oder Pflegehilfs- bzw. Assistenzpersonen) unterscheidet. Die Bezeichnung „Beziehungspfleger“ ergab sich über die Feststellung, dass eben jene Pflegende, die die operative Pflegearbeit bei den Leistungsempfängern verrichten, auch jene sind, die  – zumindest aus Perspektive der Leistungsempfänger – eine tatsächliche Beziehung zu den Klienten aufbauen (können). Dieses Konzept birgt die besondere Herausforderung, eine enge Kooperation zwischen „fallverantwortlicher Bezugspflege“ und „Beziehungspflege“ zu ermöglichen und nachhaltig sicherzustellen. Die organisatorischen Aspekte der Pflegearbeit (Einsatzplanung, Tourenplanung, Urlaubsplanung etc.) werden, anders als es das Konzept Primary Nursing vorsieht, zentral über die Pflegedienstleitung und Verwaltung eines Unternehmens organisiert. Fallverantwortliche und Beziehungspflegende bilden dagegen Subteams im Pflegedienst, die die fachliche Versorgung sicherstellen und dazu regelmäßig über systematisch angelegte Besprechungen in engen fachlichen Austausch treten. Darüber entstehen Gestaltungsspielräume für die Pflegenden, die – mit entsprechender Rahmung – eine einheitliche, die Eigenverantwortung fördernde, indirekt strukturierte Steuerung ermöglichen. Die Qualitätssicherung im Rahmen der kontinuierlichen Patientenversorgung erfolgt über strukturierte Fallbesprechungen sowie über die Einbindung von subteamexternen Pflegefachpersonen im Rahmen von Pflegevisiten, die wiederum von den fallverantwortlichen Bezugspflegekräften zu organisieren sind. Über die Etablierung von Fallbesprechungen können sowohl organisatorische als auch fachliche Herausforderungen innovativ bewältigt (Diakonisches Werk Hamburg 2014) sowie Teambildungsprozesse forciert werden (Van der Meulen 2013). Letztlich können damit eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit sowie eine höhere Identifikation mit dem Unternehmen erreicht werden. Mit den hier skizzierten Subteams eröffnen sich strukturell neue Innovationsräume für die ambulante Pflege, die durch Dezentralisierung von Verantwortung gleichzeitig für Entlastung auf-

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seiten der Pflegedienstleitungen und neue Steuerungsoptionen im Sinne der indirekten Steuerung sorgen. Den fallverantwortlichen Bezugspflegepersonen eröffnen sich neue „Freiräume“ für die fachliche Entwicklung der Pflege, für Maßnahmen der Teamentwicklung oder auch für die Entwicklung von neuen Ideen und die Implementierung von fachlichen Innovationen. Auf der anderen Seite eröffnen sich auch auf der Ebene der Pflegedienstleitung neue Freiräume. Die Rolle der Pflegedienstleitung verändert sich hin zur Begleitung von Subteams und Mitarbeitern in der Wahrnehmung ihrer Verantwortungen. Die durch Entlastung von pflegefachlichen Verantwortlichkeiten entstehenden zeitlichen Freiräume können für originäre Führungsaufgaben, etwa der Personalentwicklung oder auch der Auseinandersetzung mit gesamtbetrieblichen Innovationen, genutzt werden. Erste Prozessevaluationen im Rahmen des ITAGAP-Projektes weisen darauf hin, dass sowohl fallverantwortliche Bezugspflegekräfte als auch Beziehungspflegende im neuen Pflegesystem mehr Selbstständigkeit wahrnehmen. Deutlich wird allerdings auch, dass der Aufwand zur Etablierung dieses Pflegesystems hoch ist: Es bedarf begleitender, individuell abgestimmter Qualifikations- und Begleitmaßnahmen, um die Mitarbeiter auf die Ausübung ihrer neuen Rollen und Verantwortlichkeiten vorzubereiten sowie diese an die je konkreten Bedingungen eines Unternehmens anzupassen und die neuen Prozesse sodann im Alltagsgeschehen einzuüben. Die Prozessevaluationen in ITAGAP verweisen deutlich auf die Notwendigkeit dieser aufwendigen Begleitmaßnahmen, um Überforderungen in den neuen Rollen vorzubeugen. Sie zeigen aber auch, dass die Belastungen aufseiten der Führungskräfte in der ambulanten Pflege, also aufseiten der Pflegedienstleitungen, durch die Bereitstellung von neuen Innovationsräumen und einem Abbau von Steuerungskonflikten reduziert werden können. Die Stärkung der Eigenverantwortung von Mitarbeitern, die begleitende Qualifizierung des Personals sowie die Intensivierung einer systematischen Kommunikation führen zu mehr Zeit und Austausch in Bezug auf eine mitarbeiter- und prozesszentrierte Arbeitsgestaltung in der ambulanten Pflege. Weitere Maßnahmen im Rahmen des ITAGAP-­Projektes sehen vor, die Sensibilisierung für Steuerungsmechanismen und -konflikte in Unternehmen der Pflege auf der Ebene des mittleren Managements sowie der Fach- und Führungskräfte zu schärfen.

16.6 Schlussbetrachtung Zur Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen und zur Umsetzung der damit einhergehenden politischen Strategien sind Anbieter ambulanter Pflegedienstleistungen aufgefordert, bestehende Angebote anzupassen bzw. weiterzuentwickeln und neue Geschäftsmodelle zu erproben, um am Markt bestehen zu können. Im Rahmen des BMBF-Projektes ITAGAP wurden am Beispiel von zwei ausgesuchten ambulanten Pflegediensten Prozessinnovationen im Sinne der Erneuerung der organisationalen Leistungserbringung initiiert und erprobt. Das in enger Zusammenarbeit mit den Leistungsanbietern

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entwickelte und erprobte Bezugspflegesystem geht mit Veränderungen der betrieblichen Steuerungsform einher: Fachliche Verantwortung geht konsequent in den Verantwortungsbereich von fallverantwortlichen Bezugspflegenden über  – die Aufgaben des mittleren Managements konzentrieren sich auf die betriebliche Weiterentwicklung. Pflegedienstleitungen werden so entlastet, da fachliche Belange sowohl der Teamführung als auch der Patientenversorgung von den Fallverantwortlichen übernommen werden. Es entstehen Freiräume für betriebliche Innovation. Pflegende auf der operativen Ebene erleben neue Freiräume zur Entfaltung ihrer fachlichen Expertise und begrüßen die neuen Verantwortungs- und Handlungsspielräume. Der Übergang zu dezentralen, indirekten Steuerungsformen in der ambulanten Pflege erfordert allerdings ein hohes Maß an Transparenz, Kommunikation sowie Vertrauen und Investitionen in das Potenzial der eigenen Mitarbeiter. Die Etablierung von indirekten Steuerungsformen in der ambulanten Pflege bleibt ambivalent: Neben der Ermöglichung von neuen Handlungs- und Verantwortungsspielräumen wird auch der ökonomische Druck von der Managementebene auf die fachliche Ebene der unmittelbaren Versorgung übertragen – und dies mit bekannten Folgen für die Qualität der Versorgung sowie ggf. auch für die Gesundheit der Pflegenden selbst. Die Folgerung kann allerdings nicht darin liegen, auf die klassischen Ansätze einer hierarchisch strukturierten Pflege zurückzufallen. Lösungsansätze, so wird hier argumentiert, sollten dementsprechend die Mitarbeiter in der ambulanten Pflege auf diese neuen Herausforderungen vorbereiten und diesen damit ein zentrales Innovationspotenzial für die operative Prozessebene der Pflege zugestehen. Erfolgskritisch ist dabei, dass die Beteiligten steuerungsrelevante Prozesse verstehen, durchdenken und mitgestalten können. Weiterhin sollten die Auswirkungen von Steuerungsmechanismen und Leistungsdynamiken regelmäßig reflektiert und untereinander kommuniziert werden. Damit Prozessinnovationen in Organisationen der Pflege nachhaltig etabliert werden können, ist weiterhin einerseits die Ebene der Versorgungspraxis mit Blick auf die ­ökonomischen Aspekte der Betriebsführung und andererseits die Ebene des betriebswirtschaftlichen Managements mit Blick auf die Notwendigkeit von Denk- und Handlungsspielräumen für die Weiterentwicklung der Pflege auf der Ebene der unmittelbaren Leistungserbringung zu sensibilisieren und zu qualifizieren. Mit dem vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, dass sich Innovationsräume im Bereich der ambulanten Pflege über die Weiterentwicklung von Pflegesystemen ergeben und damit auch fachlich relevante Herausforderungen einer qualitativ hochwertigen Versorgung, Mitarbeiterbindung sowie der innovativen betrieblichen Weiterentwicklung verbunden werden können. Die Investition besteht darin, den Mitarbeitern Gelegenheitsräume anzubieten, um sich angeleitet weiterzuentwickeln und ihren Ideen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen, diese zu konkretisieren und mit Blick auf die Unternehmensziele zu diskutieren. Die Qualifizierung von Mitarbeitern ist dabei bedarfsorientiert und individuell vorzunehmen – Kreativität und Verantwortungsübernahme können auch im Bereich der ambulanten Pflege nicht von allen Mitarbeitern erwartet werden. Wohl aber die Auseinandersetzung mit kreativen Vorschlägen zur Weiterentwicklung von Versorgungspraxis und betrieblicher Unternehmensführung. Um den Austausch zwischen etablierten

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Hierarchieebenen etwa bei größeren Trägern der ambulanten Pflege zu unterstützen, sind dringlich weitere Innovationsräume zu etablieren. Nur auf diese Weise lassen sich Sensibilisierungsprozesse für die heterogenen Bedarfe und Interessen zwischen fachlicher und betrieblicher Verantwortung auf der überbetrieblichen Ebene vorantreiben. Die ITAGAP-­ Studien verweisen schließlich darauf, dass Prozessinnovationen und innovative Geschäftsmodelle in Anlehnung an Ansätze der indirekten Steuerung in der ambulanten Pflege nur dann erfolgreich und nachhaltig etabliert werden können, wenn diese konsequent umgesetzt und nicht lediglich an alte Strukturen adaptiert werden.

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Dr. rer. pol. Lena Marie Wirth,  ist studierte Wirtschaftsjuristin und Master of Management Consulting. In ihrer Dissertation widmete sie sich der individuellen Bewältigung von Veränderungen in Organisationen. Dr. Lena Marie Wirth ist Mitglied im COGITO-Institut für Autonomieforschung e.V. und arbeit seit November 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Pflegewissenschaft an der Universität Osnabrück. Von 2016–2019 hat sie am Lehrstuhl für BWL, insbesondere Organisation und Personal, der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Projekt „Integrierte Technik- und Arbeitsprozessentwicklung für Gesundheit in der ambulanten Pflege“ (ITAGAP), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, gearbeitet. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Zusammenspiel zwischen Steuerungsmechanismen und der salutogenen Gestaltung von Arbeit in Organisation. Sabine Daxberger,  M. Sc., BScN, studierte Pflegewissenschaft, ist akademische Lehrerin für Gesundheitsberufe und hat ein (österreichisches) Diplom in Gesundheits- und Krankenpflege. Seit November 2019 ist Sabine Daxberger als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Pflegewissenschaft an der Universität Osnabrück tätig. Von 2016–2019 hat sie am Lehrstuhl für Gemeindenahe Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) im Projekt „Integrierte Technik- und Arbeitsprozessentwicklung für Gesundheit in der ambulanten Pflege“ (ITAGAP), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, gearbeitet. Ihr Arbeitsschwerpunkt sind „neue Technologien in der Pflege“.

16  Raum für Innovation – Möglichkeiten und Begrenzungen der indirekten Steuerung … 289 Dipl.-Kauffrau Miriam Peters,  MScN, arbeitet seit August 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Berufsbildung. Von 2016–2019 hat sie am Lehrstuhl für gemeindenahe Pflege zu neuen Technologien in der Pflege gearbeitet. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Fragen zu digitalen Medien in der Pflegebildung, standardisierten Methoden sowie Mixed Methods-Ansätzen in der Pflegeforschung und neuen Technologien in der Pflegepraxis. Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler  leitet das Fachgebiet Pflegewissenschaft der Universität Osnabrück. Er befasst sich seit über zehn Jahren mit der Entwicklung, Erprobung und Bewertung von neuen Technologien in der Pflege, mit Fragen der Integration technischer Innovationen in die Arbeitsprozesse der Pflege sowie mit ethischen Herausforderungen neuer Technologien in der Pflege. Hülsken-Giesler ist Mitglied der Sachverständigenkommission zur Erstellung des 8. Altersberichtes der Bundesregierung zum Thema „Ältere Menschen und Digitalisierung“, Mitglied des Expertenbeirates „Lernende Systeme – Die Plattform für Künstliche Intelligenz“ (AG 6 „Gesundheit, Medizintechnik, Pflege“) der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), war Sprecher der Sektion „Entwicklung und Folgen von Technik und Informatik in der Pflege“ (2010–2015) der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft und u. a. einschlägig als wissenschaftlicher Gutachter für den Deutschen Bundestag („Autonome Systeme in der Pflege“ – PflegeRobot, 2017; Hülsken-Giesler 2019, Kehl 2018) und das BM für Gesundheit (Gutachten ePflege 2017 und Berger 2017) tätig.

Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als innovativen Ansatz für kommunale psychiatrische Versorgung

17

Anne Berghöfer, Farideh Carolin Afraz und Carsten Dreher

Inhaltsverzeichnis 17.1  P  roblemstellung: Sektorengrenzen und Zersplitterung in der psychiatrischen Versorgung  17.2  Innovative Konzepte der Versorgung psychischer Störungen – personen- statt institutionenzentrierte Versorgung  17.3  Das Regionale Psychiatriebudget/Gesamtbudget im Modellvorhaben nach § 64b SGB V  17.4  Die Anwendung von Rogers‘ Modell der Innovationsdiffusion – Methodik der Datenerhebung und -analyse  17.5  Befunde  17.5.1  Merkmale des Diffusionsgegenstandes: Vorteile, Reversibilität, Kompatibilität  17.5.2  Merkmale der Akteure in einer Multiakteurskonstellation  17.5.3  Kommunikationsprozesse und Kommunizierbarkeit  17.5.4  Kontext der Einführung des Regionalen Psychiatriebudgets  17.6  Derzeitiger Stand: Stopp des Diffusionsprozesses  17.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

 292  294  295  299  302  302  307  308  311  314  315  316

A. Berghöfer (*) · F. C. Afraz Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] C. Dreher Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_17

291

292

A. Berghöfer et al.

Zusammenfassung

Die Entwicklung innovativer Versorgungsformen im Gesundheitswesen in Deutschland hinkt weit hinter den Erwartungen des Gesetzgebers, der Akteure und den Erfordernissen der Gesundheitsversorgung hinterher. Eine wesentliche Hürde sind in Deutschland die Vielfalt der Finanzierungsträger und eine Institutionszentriertheit des Versorgungssystems anstelle einer Patientenzentriertheit. Das Regionale Psychiatriebudget bzw. ein Gesamtbudget im Rahmen von Modellvorhaben nach § 64b SGB V ist eines von vielen innovativen Versorgungsmodellen im Gesundheitssystem in Deutschland. Trotz wissenschaftlicher Evidenz für wirtschaftliche Vorteile sowie Verbesserung der Patientenversorgung und Mitarbeiterzufriedenheit sind nach 15 Jahren der Erprobung weniger als 5 % der Versorgungsregionen diesem Modell für die Versorgung psychisch Kranker gefolgt. Eine Untersuchung des Diffusionsverlaufs und der Diffusionsbarrieren unter Anwendung etablierter Ansätze der Diffusionsforschung wie Rogers’ Modell zur Diffusion von Innovationen identifizierte entscheidende Blockaden. Hindernisse hierfür liegen in einer mangelnden Erprobbarkeit des Modells, schlechter Kompatibilität mit gleichzeitiger Regelversorgung, fehlender Reversibilität und einem folglich wahrgenommenen erheblichen Risiko der Implementierung in Modellregionen. Da eine erfolgreiche Kontrahierung nur bei völligem Konsens sehr unterschiedlicher Akteursgruppen gelingt, sind die Vertragsverhandlungen in der Regel aufwendig. Während der frühere gesetzliche Rahmen eine Kontrahierung auf Verbandsebene ermöglichte, ist unter aktueller Gesetzgebung eine Vertragsschließung mit Krankenkassen auf Einzelakteursebene erforderlich, was das Zustandekommen des Modells deutlich erschwert.

17.1 P  roblemstellung: Sektorengrenzen und Zersplitterung in der psychiatrischen Versorgung Das deutsche Gesundheitssystem gliedert sich in verschiedene Bereiche der ambulanten und stationären Akutversorgung, Rehabilitation, Integrationshilfe und Sozialhilfe (Amelung et al. 2012; Busse und Blumel 2014). Innerhalb dieser Sektoren wird die p­ sychosoziale und gesundheitliche Versorgung zudem auf der Grundlage mehrerer Sozialversicherungsgesetzbücher erbracht. Besonders für Patienten mit chronischen Erkrankungen, Multimorbidität und psychosozialen Problemen führt diese Sektorierung zur Versorgungszersplitterung und zu Versorgungsbrüchen, in der Folge zu Ineffizienz in Form von überhöhten Kosten bei Leistungserbringern und Leistungsträgern und letztlich zu mangelhafter Versorgungsqualität für die Patienten. Insbesondere in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung sind seit den 1970er-Jahren enorme Veränderungen im Sinne einer Enthospitalisierung chronisch Kranker und der Garantie von Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben gelungen, jedoch ist die mit der Ambulantisierung verbundene Entlassung in die zersplitterte Landschaft der

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 293

Sta onärer Sektor Spezialsprechstunde Universitätsklinik Kriseninterven on

Tagesklinik

Ambulante Rehabilita on Ambulante Psychotherapie Soziotherapie Ergotherapie

SGB XII

SGB IX

SGB IX

Rehabilita onsklinik

Akutsta onäre Behandlung

Ambulante Pflege

Ambulante hausärztliche Behandlung

Ambulanter Sektor

SGB V

Integra onsfachdienst

Notdienst/ Krisendienst

Ambulante psychiatrische Pflege

SGB IX SGB XI

Integra onsamt Fachdienst Eingliederungshilfe

Arbeitsamt/ Jobcenter

Psychiatr. Ins tutsambulanz (PIA) Ambulante fachärztliche Behandlung

Öffentlicher Sektor

SGB II

SGB V

Sozialpsychiatrischer Dienst im Gesundheitsamt Tagesstrukturierende Maßnahmen

Sozialamt Betreutes Wohnen

Beratungsstelle Selbsthilfegruppe für Pa enten

Selbsthilfegruppe für Angehörige

Abb. 17.1  Dickicht der Leistungsanbieter und -träger in der psychosozialen Versorgung in Deutschland. (Quelle: eigene Darstellung)

Gesundheits- und Sozialversorgung für diese Patientengruppe besonders zum Nachteil geworden. Die Abb. 17.1 stellt die in der psychosozialen Versorgung involvierten Leistungsfragmente und -einrichtungen dar, in deren Dickicht sich hilfebedürftige Personen zurechtfinden müssen. Versorgungsstrukturen, die eine kontinuierliche personenzentrierte Versorgung gewährleisten, wurden nicht in ausreichendem Maße geschaffen. Ein Gesamtversorgungskonzept, welches stationäre Akutversorgung, ambulante Langzeitversorgung, Rehabili­ tation, Integration und soziale Hilfen umfasst, ist nicht routinemäßig etabliert; ein verlässliches Abstimmungsprozedere zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern existiert in der Regelversorgung im Gesundheitswesen nicht. Auch erhalten Patienten keine ihrem Bedarf angemessene Orientierungshilfe in der Versorgungslandschaft. Unterstützer bei der Navigation, Case Manager oder Beratungszentren stehen nur in begrenzten Versorgungsmodellen für ausgewählte Patientengruppen zur Verfügung (Rutz 2001; Weinmann und Gaebel 2005; Fisher und Elnitsky 2012). Stattdessen wird die Behandlung des Patienten isoliert und vorrangig aus Sicht des beteiligten Behandlungssystems durchgeführt, es besteht also eine Institutionszentriertheit statt Patientenzentriertheit der Versorgung. Die Überwindung dieser Fragmentierung ist eine der großen Herausforderungen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens und wird seit Langem adressiert (Güntert 2006; Brandhorst et al. 2017). Niedrigschwellige sektorenübergreifende Leistungsangebote mit der Garantie personeller Kontinuität in der Versorgung werden dringend in der Routineversorgung insbesondere chronisch Kranker und psychisch Kranker benötigt (Greve 2018).

294

A. Berghöfer et al.

In diesem Beitrag soll untersucht und diskutiert werden, warum die Verbesserung der Versorgung trotz vorhandener Alternativen nicht voranschreitet. Dabei wird das Beispiel des Regionalen Psychiatriebudgets (RPB) näher untersucht. Als Untersuchungsansatz dienen die Ansätze von Rogers zur Diffusion von Innovationen in Kombination mit Elementen aus der Innovationssystemforschung, um die notwendige Multiakteursbetrachtung umsetzen zu können. Der Beitrag schildert zunächst die Anforderungen und das Beispiel des RPB, um dann – nach Schilderung des Ansatzes und der Datenbasis – die Befunde nach den untersuchten Kategorien auszubreiten. Die Auswertung und ein kurzes Fazit schließen ihn dann ab.

17.2 I nnovative Konzepte der Versorgung psychischer Störungen – personen- statt institutionenzentrierte Versorgung Neue und innovative Versorgungsformen können die bislang strikte Trennung zwischen den Versorgungsfragmenten überwinden, die interdisziplinäre Zusammenarbeit erleichtern und Kooperation der verschiedenen involvierten Leistungsträger und Leitungsanbieter ermöglichen (Weatherly und Lägel 2009). In Deutschland wurden seit den 1990er-­Jahren durch den Gesetzgeber umfangreiche Möglichkeiten geschaffen, außerhalb der Regelversorgung innovative Versorgungsmodelle zu erproben. Hierzu zählen integrierte Versorgung, Modellvorhaben, hausarztzentrierte Versorgung, Disease-Management-­Programme, medizinische Versorgungszentren (MVZ), Arztnetze oder andere Versorgerverbünde. Auch in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung wurden in den letzten drei Jahrzehnten verstärkt innovative integrierte und integrative Strukturen entwickelt. Der zunehmende Kostendruck führte dabei zu gleichzeitigen Diskussionen über Chancen und Risiken neuer Finanzierungssysteme. Unter gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten wurde verstärkt nach einem optimalen Ausbaugrad gemeindepsychiatrischer Versorgung sowie nach Möglichkeiten einer effizienten Vernetzung mit stationären Einrichtungen gesucht. Dabei wurden auch Fragen des Managements und der Organisationsentwicklung von im Grunde heterarchischen Verbünden von Leistungserbringern adressiert (Güntert 2006; Sydow 2010). Vorbilder für die in Deutschland etablierten Modelle stammen überwiegend aus dem angelsächsischen Raum, wo die Enthospitalisierungsbewegung früher als in Deutschland startete (Talbott 1987). Sie sind mit Begriffen wie „assertive community treatment“ (Stein und Test 1980), „case management“, „care management“ oder „community treatment“ mit unterschiedlichen Ausgestaltungsformen verknüpft (Solomon 1992). Im Fokus der Entwicklung dieser Modelle steht die sektorenübergreifende Behandlungskontinuität von chronisch psychisch Kranken sowohl zeitlich, umfeldbezogen, behandlungssektoren- und kostenträgerübergreifend als auch in Bezug auf die Patient-Therapeut-Beziehung (Bachrach 1981). Die Evidenz für eine Wirksamkeit verschiedener innovativer Modelle auf die Verbesserung patientenbezogener und wirtschaftlicher Ergebnisparameter aus dem angelsächsischen

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 295

Raum ist umfangreich (Marshall et al. 2000; Marshall und Lockwood 2000; Roberts et al. 2005; Burns et al. 2007; Huibers et al. 2007; Rosen et al. 2007; Christensen et al. 2008; Simon 2008; Fisher und Elnitsky 2012; Reilly et al. 2013; Dieterich et al. 2017; Murphy et al. 2017; McGregor et al. 2018). Für im deutschen Gesundheitssystem implementierte Modelle liegt eine vergleichbar umfangreiche Evidenz noch nicht vor (Kallert et al. 2006). Es existieren positive Befunde z. B. zur krankenhausvermeidenden Akutbehandlung im häuslichen Umfeld („home treatment“) in Deutschland (Gühne et  al. 2011; Kilian 2012; Weinmann et  al. 2012) zur hausärztlich-­fachärztlich integrierten Versorgung (Neumeyer-Gromen et al. 2004; Gensichen et  al. 2006) oder zur integrierten Versorgung nach §  140 SGB V (Lambert et  al. 2010a, b; Fischer et al. 2014). Capitation-Modelle wie das Regionale Psychiatriebudget (RPB) bzw. heute Gesamtbudget im Rahmen von Modellvorhaben nach § 64b SGB V weisen in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung den höchsten Grad an Integration von Sektoren, Versorgungskontinuität und Personenzentriertheit auf, sind jedoch vergleichsweise disruptive Innovationen im deutschen Gesundheitssystem.

17.3 D  as Regionale Psychiatriebudget/Gesamtbudget im Modellvorhaben nach § 64b SGB V Das Regionale Psychiatriebudget (RPB) bzw. seit 2013 Gesamtbudget im Rahmen von Modellvorhaben nach § 64b SGB V ist eines von vielen innovativen Versorgungsmodellen im Gesundheitssystem in Deutschland und umfasst die Finanzierung der psychiatrischen Versorgung in einer festgelegten Versorgungsregion (Deister und Weatherly 2009; Deister und Wilms 2014). Es war zunächst ein Finanzierungsmodell nach § 26 der Bundespflegesatzverordnung (BPflV) zwischen dem Krankenkassenverband einer Region und einem stationären Leistungserbringer mit kompletter Budgetverantwortung. Seit Einführung des Entgeltsystems Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP) 2012 erfolgt der Vertragsabschluss auf Basis eines Modellprojektes nach § 64b SGB V. Das jeweilige RPB wird zwischen den Krankenkassen und einer regionalversorgenden psychiatrischen Klinik für einen festgelegten Zeitraum vereinbart. Dieser Versorgungsanbieter erhält im Rahmen des RPB ein festgeschriebenes Jahresbudget, welches aus dem Budget des Vorjahres berechnet wird, und verpflichtet sich dazu, die psychiatrische und psychotherapeutische Krankenhausversorgung der gesamten Region sicherzustellen. Über- oder unterschreitet die vertraglich (auf der Basis der Fälle des Vorjahres) vereinbarte Patientenzahl einen verabredeten Korridor, sind neue Verhandlungen zwischen den Vertragspartnern nötig (Petersen und Hejnal 2010; Deister und Wilms 2014). Für die Dauer des RPB verzichten die Kostenträger auf die Befristung von Kostenübernahmen. Für diesen Zeitraum wurden die Regelungen der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) einvernehmlich außer Kraft gesetzt (Deister et al. 2005; Deister und Wilms 2014).

296

A. Berghöfer et al.

Zusätzlich gab es unter dem RPB zunächst keine Einführung des Pauschalierenden Entgeltsystems Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP), mit welchem psychiatrische und psychosomatische Kliniken seit 2015 grundsätzlich verpflichtend abrechnen müssen (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus GmbH (InEK), Siegburg, 2012). Ebenso wurde vereinbart, Prüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) nicht im Ausmaß wie in der Regelvergütung durchzuführen (siehe Abb. 17.2). Das kollektivvertragliche System der ambulanten Versorgung durch kassenärztliche Vereinigungen und ihre Vertragsärzte ist von dieser Vertragsform grundsätzlich formal nicht tangiert, wohlwissend um den Umstand, dass in ländlichen Regionen mit drohender Unterversorgung im niedergelassenen Bereich die Versorgungsverantwortung eher zu den Krankenhäusern verschoben wird. Die Vorteile des RPB liegen im Wesentlichen darin, dass die ökonomischen Risiken und Chancen für Leistungserbringer und Leistungsträger (Krankenkassen) innerhalb fester Grenzen kontrolliert werden. Für die Vertragspartner im RPB entsteht unter diesen Bedingungen eine Planungssicherheit. Die ansonsten stetig steigenden Ausgaben werden gedeckelt, im Gegenzug kann die Behandlungsmodalität (vollstationär, teilstationär, ambulant oder „home treatment“) frei vom Leistungsanbieter gewählt werden. Die ­Einführung eines RPB ermöglicht so eine grundlegende Umstrukturierung der psychiatrischen Versorgung sowohl in organisatorischer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Dem therapeutischen Team wird eine Behandlungskontinuität über Jahre mit hoher Flexibilität ermög-

Regionalbudget (§64b SGB V)

steigende Kosten im staonären Sektor (Be enaufwuchs, jährliche Budgetverhandlungen, MDK-Prüfungen, PEPP-Abrechnung)

stabile Kosten im RPB innerhalb eines Korridors von Fallzahlen (keine jährlichen Budgetverhandlungen, festes Budget über Vertragszeitraum, keine MDK-Prüfungen, PEPP-Abrechnung für Steuerung)

Kosten

Kosten

Regelversorgung/-vergütung

Jahre

Jahre

Abb. 17.2  Schematische Darstellung des Anreizsystems eines Gesamtbudgets nach § 64b SGB V bzw. vormals Regionales Psychiatriebudget nach §  26 BPflV (MDK=Medizinischer Dienst der Krankenkassen, PEPP= Entgeltsystem Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik). (Quelle: eigene Darstellung 2019)

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 297

licht. Die Einsteuerung von Patienten in ambulante und tagesklinische Betreuung soll vollstationäre Versorgung vermeiden bzw. reduzieren. Der Leistungserbringer übernimmt so ohne formale Vorgabe des Behandlungssettings oder der durchzuführenden Leistungen die Gestaltung der Versorgung, aber auch die Verantwortung für den Behandlungserfolg der Patienten in der definierten Region. Der Spielraum in der Versorgungsgestaltung entsteht nicht mehr wie zuvor aus ökonomischen Zwängen (stationäre Vollbelegung), sondern aus einer patientenzentrierten Perspektive. Versorgung erfolgt angepasst an den individuellen Bedarf von Patienten, ambulant, zu Hause, teilstationär tages- oder nachtklinisch, vollstationär, therapeutisch und pflegerisch. Die Patienten werden einerseits so kurz wie möglich vollstationär versorgt, da lange Liegedauern nicht extra vergütet werden und für bestimmte Patienten nachteilig sein können, und andererseits so lange wie nötig vollstationär versorgt, da eine baldige Wiederaufnahme infolge unzureichender Stabilisierung („Drehtürpsychiatrie“) die gesamte Behandlung verteuert und nicht extra vergütet wird (siehe Abb. 17.3; Deister und Wilms 2014). Derzeit ist der Abschluss eines RPB auf Basis des §-64b-SGB-V-Modellvorhabens zur Versorgung psychisch kranker Menschen möglich. Inzwischen liegen umfangreiche ­Darstellungen der Gestaltungsmöglichkeiten vor wie auch Materialien, die für Kostenträgerverhandlungen, Vertragsgestaltung etc. verwendet werden können (Deister und Wilms 2014). Stationär-psychiatrische Regelversorgung/-vergütung

Psychiatrische Versorgung im Regionalbudget (§64b SGB V)

„Begegnen“ niedrigschwellige Kontaktangebote

Bettenhaus mit Stationen … … … … … Tagesklinik mit Plätzen

PIA

Beratungsstellen Treffpunkte

„Behandeln“ bedarfszentrierte Therapie personelle Kontinuität

Komplementäre Therapien

Mobile Teams

„Wohnen“ teilstationär

Ambulante aufsuchende Versorgung

„Schlafen“ voll-, teilstationär, Low-Care „Schutz“ vollstationär, intensiv

Fuhrpark

Abb. 17.3  Änderung der Versorgungsorganisation im Regionalen Psychiatriebudget (RPB) hin zu einer sektorübergreifenden bedarfsorientierten Versorgung unabhängig von Abrechnungsanreizen. Die Zuweisung eines Patienten in einen Sektor stationär, teilstationär oder ambulant wie in der Regelversorgung/-vergütung (links) entfällt. Therapien und Versorgungsbestandteile werden unabhängig vom formalen Status bedarfsabhängig für jeden Patienten durchgeführt und stehen im RPB (rechts) unabhängig vom „Aufenthaltsstatus“ eines Patienten zur Verfügung. (Quelle: eigene Darstellung nach Deister 2019)

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Wegbereiter des RPB war der Landkreis Steinburg, Schleswig-Holstein (Deister et al. 2004). Aufgrund des hohen Innovationsbedarfs in der psychiatrischen Versorgung in Schleswig-Holstein suchten das Landesgesundheitsministerium, die gesetzlichen Krankenkassen sowie die Leistungserbringer Anfang der 2000er-Jahre gemeinsam nach flexi­ blen Behandlungsmöglichkeiten. Als Resultat erfolgte zum 01.01.2003 die erste Umsetzung eines RPB im Rahmen eines Modellprojekts für den Landkreis Steinburg. Das Modellprojekt wurde zwischen den psychiatrischen Kliniken des Kreises Steinburg (Klinikum Itzehoe und Psychiatrisches Centrum Glückstadt) und den Krankenkassenverbänden in Schleswig-Holstein mit einer Laufzeit von zunächst 5 Jahren vereinbart. In den Jahren nach der Einführung des RPB sank die vollstationäre Verweildauer von initial 21 Tagen auf 12 Tage (Stand 2014). In der Folge konnten die Bettenzahlen um 17,6 % reduziert und die teilstationären Kapazitäten verdoppelt werden (Deister und Wilms 2014; Klinikum Itzehoe 2016). Die Ergebnisse der Begleitforschung zeigten eine Verbesserung des Funktionsniveaus der Patienten sowie eine Stabilisierung der Versorgungskosten (Roick et al. 2005, 2008; König et al. 2010, 2013). Innerhalb der folgenden Jahre setzten weitere Landkreise in Schleswig-Holstein RPBs um. Das erste Nachfolgeprojekt im Kreis Rendsburg-Eckernförde startete 2006 und wurde ebenfalls positiv evaluiert; es führte zu einem Aufbau von teilstationären und ambulanten Versorgungsstrukturen (König et al. 2013). Es folgte 2008 der Landkreis Dithmarschen (Haase und Hejnal 2010), in dem die Bettenkapazität und die stationäre Liegedauer erheblich reduziert werde konnten. Patientenbezogene klinische und psychosoziale Behandlungsergebnisse verbesserten sich (Berghöfer et  al. 2016; Hubmann 2016) ebenso wie ökonomische Ergebnisse der Leistungserbringer (Schröder und Fleßa 2017). Positiv evaluiert wurde auch das RPB in Nordfriesland (Bauer et  al. 2013), darüber hinaus liegen positive Erfahrungsberichte über weitere der frühen Nachfolgermodelle vor (Schmid et al. 2013; Riederer 2014; Schillen und Thiex-Kreye 2014; Noeker und Juckel 2017; Johne et al. 2018). Nach der Neureglung zur Einführung von Modellvorhaben durch den § 64b SGB V begann eine zweite Welle der Verbreitung, zunächst 2014 in Zwickau und Glauchau. In der Region Zwickau schließt das Modell auch Versicherte der privaten Krankenversicherung ein sowie die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung (Kessen 2015; Stefan 2016). Zur „zweiten Generation“ zählen auch die Regionen Hamm, Hanau mit Teilen des Main-­ Kinzig-Kreises, Friedberg, Riedstadt und Heidenheim. Die Regionen Lüneburg und Harburg, Bonn, Bochum, Rüdersdorf für zwei Brandenburger Landkreise und einige Ver­ sorgungsregionen im Land Berlin konnten Teilbudgets mit einzelnen Kostenträgern vereinbaren. Die Modellvorhaben unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität der Inte­ gration von Versorgungskomponenten und des Grads des Umbaus der Strukturen erheblich, somit ist unter dem Begriff eine heterogene Gruppe von Modellen zu verstehen (von Peter et al. 2018). Neben positiven ökonomischen Effekten und positiven patientenbezogenen Behandlungsergebnissen existieren auch Evaluationen zur Mitarbeiterzufriedenheit. Hier legen

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 299

bisherige Erfahrungen und interne Auswertungen innerhalb der Modelle nahe, dass die nichtärztlichen Mitarbeiter zunehmend co-therapeutisch tätig wurden, sich umfangreich weiterqualifizierten und beruflich weiterentwickelten. Zudem empfanden die Mitarbeiter den Berufsalltag befriedigender infolge des Bürokratieabbaus, der Kontinuität in der Therapeut-­Patient-Beziehung und der Möglichkeit von Verantwortungsübernahme und selbstständigem Arbeiten (Haase und Hejnal 2010).

17.4 D  ie Anwendung von Rogers‘ Modell der Innovationsdiffusion – Methodik der Datenerhebung und -analyse Trotz der bislang positiven Erfahrungen setzt sich das Modell des RPB in der psychiatrischen Versorgung in Deutschland nicht sichtbar durch; nach 15 Jahren der Erprobung sind weniger als 5 % der rund 450 Versorgungsregionen diesem Modell gefolgt (siehe Abb. 17.4). Zur Untersuchung des Diffusionsverlaufes und möglicher Diffusionshemmnisse bei der Verbreitung des RPB kann auf etablierte Ansätze der Diffusionsforschung zurückgegriffen werden. Hierzu gehört vor allem Rogers mit seinem Modell zur Diffusion von Innovationen (siehe Abb. 17.5; Rogers 2003). In seinen neueren Arbeiten (Rogers 2003) problematisiert Rogers bei den Adoptern das Problem kollektiver Entscheidungen, die zur Anwendung oder Nichtanwendung einer Innovation führen (in Ergänzung zu Rogers 1962). Im Gegensatz zu Einzelentscheidungen, etwa im Konsumgüterbereich oder bei autoritären Entscheidungen wie gesetzlichen Anordnungen, sind hier in die Entscheidung unterschiedliche Akteure mit divergierenden intrinsischen Interessen eingebunden. Hier gibt es bezüglich des Einflusses auf die Adoption und die Adoptionsgeschwindigkeit in der Tat auch bei Rogers noch eine offene Forschungsfrage. Um diese Netzwerke oder Kollektive analytisch zu durchdringen, bietet sich gerade bei der Verbreitung von Innovationen der Ansatz des Innovationssystems IS an (Hekkert et al. 2007; Bergek et al. 2015). Hierbei werden Akteure und ihre Interaktionen bei Wissensaufbau und Lernprozessen analysiert, die in einem bestimmten Innovationsfeld aktiv sind. Fügt man diese beiden Ansätze zusammen, so kann man für das RPB die in Abb. 17.6 aufgelisteten Forschungsfragen formulieren. Im Rahmen einer qualitativen Studie wurden Experteninterviews mit frühen Anwendern, Nachahmern und Beobachtern des innovativen Modells sowie Regionen, bei denen die Einführung des Modells gescheitert ist, geführt. In den beteiligten Regionen wurden sowohl jeweils ärztlich-klinische Anwender, Personen aus dem kaufmännischen Bereich der beteiligten Einrichtungen sowie Krankenkassenvertreter mit einem leitfadengestützten Interview persönlich oder telefonisch interviewt. Während die Rekrutierung der ärztlichen Experten über Publikationen und Beteiligung in Netzwerken identifiziert werden konnte,

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Zentrum/ Versorgungsregion

Einwohner

gesetzl. Grundlagen früher und heute

Itzehoe/ Kreis Steinburg

135.000

§26 BPflsV seit 2003, §64b seit 2013

Rendsburg/ Kreis RendsburgEckernförde

270.000

§26 BPflsV seit 2006, §64b seit 2013

Heide/ Kreis Dithmarschen

135.000

§26 BPflsV seit 2008, §64b seit 2013

Geesthacht/ Kreis Herzogtum Lauenburg

188.000

§26 BPflsV seit 2008, §64b seit 2013

Riddorf u. Bredstedt/ Kreis Nordfriesland

166.000

§26 BPflsV seit 2006, §64b seit 2013

Stadt Zwickau

93.000 (+KJP im Landkreis)

§64b seit 2013

Glauchau/ Kreis Zwickau, nördl. Bereich

130.000

§64b seit 2013

Nordhausen/ Kreis Nordhausen

86.000 (+KJP)

§26 BPflsV seit 2009, §64b seit 2014

Stadt Hamm

190.000

§64b seit 2014

Heidenheim/ Kreis Heidenheim

130.000

§64b seit 2016

200.000

OVP, IV, §64b seit 2016

Hanau/ Kreis Hanau und Main-Kinzig, westl. Bereich Friedberg/ Kreis Wetterau

OVP, §64b seit 2013

Riedstadt/ Kreis Groß-Gerau u. 330.000 (+KJP) IV, §64b seit 2016 Grenzregion Kreis Darmstadt-Dieburg Gescheiterte Verhandlungen: Zentrum/ Versorgungsregion

Einwohner

Stadt Bremerhaven

113.000

Stadt Brandenburg

72.000

Siegen/ Kreis Siegen-Wittgenstein

278.000

Nauen/ Kreis Havelland, östl. Bereich

105.000

Stadtkreis Mannheim

308.000

Rüdersdorf/ KreiseMärkisch Oderland 230.000 u. Oder-Spree

OVP, §64b seit 2014

Klingenmünster/ Kreis Südliche Weinstraße

110.000

Stadt Bochum

400.000

IV, §64b seit 2015

Stadt Potsdam

175.000

Berlin / Bezirke Mitte, TreptowKöpenick

610.000

IV, §64b seit 2014

Lüneburg/ Kreise Lüneburg u. Harburg 430.000

§64b seit 2014

Stadt Bonn

960.000

§64b seit 2016

Berlin / Bezirke FriedrichshainKreuzberg, Spandau, Reinickendorf, Tempelhof-Schöneberg,Neukölln, Marzahn-Hellersdorf

1.684.238 (+KJP)

§64b seit 2016

Abb. 17.4  Verbreitung Regionaler Psychiatriebudgets/Modellvorhaben §  64b SGB V.  Schwarz: Gesamtbudgets, Verträge mit allen Kassen; dunkelgrau: Teilbudgets, Verträge nur mit einzelnen Kassen; hellgrau: gescheiterte Verhandlungen zu Modellvorhaben. Die Legende stellt zusätzlich die Versorgungsformen vor Einführung des § 64b dar: OVP=optimierte Versorgung Psychiatrie, IV=integrierte Versorgung, BPflsV= Bundespflegesatzverordnung. (Quelle: eigene Darstellung 2019)

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 301

Abb. 17.5  Rogers’ Paradigma der Adoption von Innovationen durch einen Akteur innerhalb eines sozialen Systems. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an Rogers 1962) Rogers Kategorien Elemente des Innovationssystemansatzes Innovationsgegenstand Wo liegen die Einsatzvoraussetzungen des RPB? Welches sind die Charakteristika des RPB hinsichtlich relativen Vorteils, Anknüpfungsfähigkeit an bestehende Strukturen, Erprobbarkeit, Komplexität, Teilbarkeit, Kommunizierbarkeit? Welcher Aufwand und welches Risiko sind mit der Einführung verbunden?

Akteure

Kommunikation

Kontext

Wie wirken sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und festgelegten Welche Motive und Entscheidungsmodi Persönlichkeitseigenschaften Wie verläuft die unterschiedlicher Kommunikation zwischen sind für die beteiligten Akteursgruppen aus? den Akteuren im Rahmen Akteure zu ermitteln? Wie unterscheiden sich Nicht- der Entscheidungsprozesse? Welche politische Ebene ist wie in die Wie schnell erfolgt die anwender von Anwendern Entscheidungen Rückmeldung über den bezüglich der oben eingebunden? Erfolg der Neuerung? genannten Eigenschaften? Welche Regularien bzw. auch deren Änderungen beeinflussen die Entscheidungsfindung? Wer sind die an der Entscheidung beteiligten Akteure?

Welche Wissensbestandteile sind in welcher Relation untereinander zur Einführung notwendig?

Abb. 17.6  Forschungsfragen zur Innovationsdiffusion des Regionalen Psychiatriebudgets (RPB) nach Rogers unter Berücksichtigung von Elementen des Innovationssystemansatzes. (Quelle: eigene Darstellung)

wurden kaufmännische Experten und Krankenkassenvertreter durch Schneeballprinzip rekrutiert. Es erfolgte eine inhaltsanalytische Auswertung nach Hsieh (Hsieh und Shannon 2005). Als Hauptkategorien galten die Kriterien nach Rogers. Im Rahmen einer Triangulation wurden zudem interne Dokumente, die im Rahmen der Interviewkontakte zugänglich wurden, sowie Publikationen ausgewertet.

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A. Berghöfer et al.

17.5 Befunde In den nachfolgenden Abschnitten wird sich mit folgenden Themen beschäftigt: mit den Merkmalen des Diffusionsgegenstandes, den Merkmalen der Akteure in einer Multiakteurskonstellation, den Kommunikationsprozessen und der Kommunizierbarkeit und dem Kontext der Einführung eines regionalen Psychiatriebudgets.

17.5.1 Merkmale des Diffusionsgegenstandes: Vorteile, Reversibilität, Kompatibilität Relative Vorteile des Modells Überzeugende Vorteile des Versorgungsmodells liegen in der flexiblen Anpassung der Patientenversorgung an den individuellen Versorgungsbedarf der Patienten. Vor dem Hintergrund eines hohen Anteils von Menschen mit langjährigem, langwierigem oder chronischem Krankheitsverlauf im psychiatrischen Versorgungsbereich ist eine traditionelle vollstationäre Versorgung weder ausreichend wirksam noch zeitgemäß und finanzierbar. Das Versorgungsmodell erlaubt nun eine umfängliche ambulante und flexible Versorgung, weil die Abrechnung der Versorgungsleistung nicht mehr über die Anzahl und Belegung der Krankenhausbetten erfolgt wie im traditionellen Regelvergütungssystem, sondern über das einmalig verhandelte Regional- (in Bezug auf die Versorgungsregion) bzw. Gesamtbudget (in Bezug auf sämtliche in der psychiatrischen Versorgung für den Patienten erbrachten Leistungen). Von Vorteil für die Stabilisierung und Genesung des Patienten ist die Möglichkeit, Leistungen in der Lebenswelt des Patienten zu erbringen. Die Unabhängigkeit von der „Vergütungswährung“ Krankenhausbett erlaubt auch das Erbringen von Leistungen, die bislang nicht regelhaft vergütet werden konnten, wie z. B. die aufsuchende Behandlung zu Hause, telefonische Kriseninterventionen, soziale Unterstützung, Kurzkontakte am Wochenende oder rund um die Uhr, präventive Kurzinterventionen und nicht zuletzt der Aufbau von komplementären Therapieverfahren wie tiergestützter Therapie oder Ergotherapie. Die Navigation des einzelnen Patienten durch das fragmentierte Versorgungssystem erfolgt zugleich nahtlos unter Erhalt der Behandlungskontinuität. Aus ökonomischer Perspektive wurden in den meisten Versorgungsregionen unter diesem Modell deutlich Krankenhausbetten abgebaut, die langjährige Kostensteigerung stabilisiert und die Personalressourcen zielgerichteter für die Patientenversorgung eingesetzt. Die Erfahrungen der Akteure sowohl seitens der Leistungserbringer als auch seitens der Kostenträger decken sich hier mit bisherigen publizierten wissenschaftlichen Evaluationen sowie der Kommunikation in einschlägigen Fachkreisen. Fehlende Erprobbarkeit Ein entscheidender Faktor für eine Adoption des Modells in weiteren Versorgungsregionen ist einerseits das wahrgenommene Risiko, die bisherigen Erfahrungen und Ergebnisse anderer Regionen in der eigenen ebenfalls erzielen zu können, und andererseits die

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 303

­ öglichkeit, das Versorgungsmodell in der eigenen Region zu probieren. Die ÜbertragM barkeit eines Modells von Vorreiterregionen auf die eigene Region wurde von den befragten Akteuren in der Regel als möglich beurteilt, wenn auch mit erforderlicher begrenzter Anpassung an die eigene Region. Jedoch erweist sich das Modell als wenig erprobbar, da es mit umfassenden strukturellen Änderungen beim Anwender verbunden ist, die zu aufwendig sind, um sie für eine reine Erprobungsphase vorzunehmen, und die nach einer gewissen Zeit auch nicht oder nur schwer reversibel sind. Mit dem Anwenden des Modells sind umfangreiche Veränderungen in der Personalstruktur, in den Tätigkeitsprofilen der Mitarbeiter sowie im Extremfall bauliche Veränderungen verbunden. Mitarbeiter insbesondere im Pflegebereich übernehmen im neuen Versorgungsmodell zunehmend co-therapeutische Aufgaben, müssen entsprechend aus- und weitergebildet werden. Für die aufsuchende ambulante Behandlung muss ein Fuhrpark angeschafft werden. Für die Erweiterung der teilstationären und ambulanten Behandlungsplätze müssen entsprechende Räumlichkeiten bereitgestellt und angepasst werden. Mit zunehmendem Abbau stationärer Versorgungskapazitäten, d. h. Krankenhausbetten, wird der Rückweg in das Regelvergütungssystem, welches an die Bettenbelegung gekoppelt ist, auch zunehmend schwieriger. Wahrgenommene Risiken Adopter der Innovation sind also in diesem Fall gezwungen, die Innovation ohne vorherige Erprobung zu übernehmen. Die mit dieser kompletten Adoption verbundenen Risiken werden als erheblich wahrgenommen. Zum einen birgt die veränderte Abrechnungsform ökonomische Risiken. Das RPB ist eine über mehrere Jahre Vertragslaufzeit gedeckelte Geldsumme für den Leistungserbringer Krankenhaus, in dessen Zuge Nachverhandlungen aufwendig sind, die aber ggf. erforderlich werden, wenn der vereinbarte Korridor von jährlichen Fallzahlen überschritten wird, also z. B. bei Veränderungen des Morbiditätsspektrums oder der Morbiditätslast in der Region oder bei sogenanntem Psychiatrietourismus. Zum anderen kann auch die Unterschreitung der Korridorgrenze Risiken bergen, weil das verhandelte Budget von den Vertragspartnern folglich als ungerechtfertigt hoch angesehen wird. Vor dem Hintergrund, dass in einer Vielzahl von Krankenhäusern die Erlöse aus den psychiatrischen Abteilungen – hier können deutlich höhere Renditen erzielt werden als in anderen Fachgebieten – zur Deckung von Defiziten in anderen Bereichen verwendet werden, ist die Umstellung von der Regelvergütung in ein anderes Abrechnungsmodell ökonomisch riskant. Weitere erhebliche Risiken werden in der Entwicklung der Mitarbeiterressourcen gesehen. Die Umstrukturierung von der Regelversorgung in das neue Modell verlangt umfangreiche Aus- und Weiterbildung der Berufsgruppen, Veränderung der Verantwortlichkeiten und des Selbstverständnisses innerhalb der Berufsgruppen hin zu hohen Erwartungen an die Flexibilität jedes Einzelnen. Wenn dieser Umstellungsprozess nicht in der geplanten Form vollzogen werden kann, kann einerseits die erforderliche Behandlungsqualität nicht erreicht werden und können andererseits die ökonomischen Ziele nicht verwirklicht werden, weil der Umstrukturierungsprozess nichtkalkulierte Investitionen erfordert.

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Und schließlich ist auch nicht abschließend kalkulierbar, wie sich das Patientenklientel, welches an die traditionelle stationäre Versorgung gewöhnt ist, im neuen Modell zurechtfinden wird. Dieses Risiko einer Reduktion der Behandlungsqualität infolge nicht ausreichend rasch angepasster Versorgerteams und infolge fehlender Akzeptanz bei den Patienten ist auch für die Kostenträger ausgesprochen relevant. Weitere Risiken liegen in der fehlenden Abschätzbarkeit der Reaktionen des Umfeldes im Gesundheitswesen, z.  B. des vertragsärztlichen Systems. In einigen Regionen mit haus- und fachärztlicher Unterversorgung im niedergelassenen Bereich wird die Unterstützung der ambulanten Versorgung durch den stationären Sektor im neuen Modell als willkommen angesehen, in anderen Regionen jedoch u. U. mit Ablehnung, da die ambulanten Versorgungsangebote der Klinik als Konkurrenz angesehen werden. Eine wesentliche Determinante ist hier die bisherige Versorgungssituation im Umfeld (s. u.). Fehlende Reversibilität Schließlich wird die von den Akteuren wahrgenommene mangelnde Reversibilität des Modells zurück in die traditionelle stationäre Regelversorgung und -vergütung als riskantes Merkmal des Modells angesehen. Das Modell wurde in allen Regionen lediglich mit begrenzter Vertragslaufzeit implementiert. Da bislang vom Gesetzgeber keine Entscheidung zur möglichen Verstetigung des Modells oder Überführung in eine Regelversorgung signalisiert wurde und da Vertragspartner nach Ablauf der Vertragslaufzeit eine Verlängerung verweigern können, müssen zunächst alle Regionen von einer potenziell drohenden Notwendigkeit eines Rückbaus der geschaffenen neuen Versorgungsstrukturen und -pfade ausgehen. Abhängig von der individuellen Risikobereitschaft der Akteure wird mit dieser Situation unterschiedlich umgegangen. Die Vorreiterregion mit dem ältesten RPB nimmt nach wie vor ihre Vorreiterstellung ein. Inzwischen wurde in der Region ein neues Versorgungszentrum gebaut, welches auf die Versorgung im RPB ausgerichtet ist und eine sektordurchlässige Patientenversorgung auch räumlich ermöglicht. Das RPB wurde hier buchstäblich in Beton gegossen (Deister und Scheele 2017). Während Modellregionen der ersten Generation also bereits seit mehr als 15 Jahren unter den veränderten Gegebenheiten arbeiten und angesichts der langjährig veränderten Arbeitsbedingungen des Personals, der zum Teil sogar baulich manifestierten Irreversibilität und des massiven Abbaus von Klinikbetten keine Rückkehrmöglichkeit mehr sehen, warten die Anwender der zweiten Generation (seit ca. 2013) zunächst auf Signale des Gesetzgebers, bevor sie das Versorgungsmodell weiterentwickeln und ohne Sicherheiten irreversible neue Strukturen schaffen. Erstere gehen eher davon aus, dass die politischen Rahmenbedingungen diese Irreversibilität perspektivisch berücksichtigen müssen, während letztere Anwendergruppe die Rückkehr in die Regelversorgung nicht für ausgeschlossen hält – wenn auch unter großen Schwierigkeiten und ökonomischen Verlusten. Als bezeichnend für diese Situation ist die folgende Verwendung eines Bildes anzusehen: „Wir sind da mit Schiffen in einer neuen Welt gelandet und haben die Schiffe verbrannt.“ Im Hinblick auf die enormen Vorteile des Modells, die in der wahrgenommenen Arbeitszufriedenheit, Selbstwirksamkeit und co-therapeutischen Verantwortungsübernahme

17  Diffusionshindernisse bei der Einführung des Gesamtbudgets in der Psychiatrie als … 305

des Personals liegen, gehen die Akteure auch davon aus, dass es keine Bereitschaft des Personals mehr gibt, wieder vorwiegend klassisch stationär und im Schichtdienst tätig zu sein. Da das Vergütungssystem in der Regelversorgung auf der Anzahl der Klinikbetten und ihrer Belegung beruht, wäre eine kurzfristige Rückkehr vom RPB in die Regelvergütung mit enormen finanziellen Kosten bzw. Einbußen für die Leistungserbringer verbunden, da ein Großteil der Betten, insbesondere in den Modellregionen der ersten Generation, nicht mehr existiert. Komplexität, Kompatibilität und Vertragsgestaltung Aufgrund der disruptiven Qualität der Innovation waren in allen Modellregionen aufwendige Vertragsverhandlungen mit allen beteiligten Akteuren erforderlich, die aufgrund des kompletten Pfadwechsels zunächst keine vorhandenen etablierten Standards verwenden konnten. Der Verhandlungsprozess wurde vor diesem Hintergrund als ausgesprochen langwierig erlebt (s.u.). Im Wesentlichen wurde auf der Basis des vorherigen Jahresbudgets in der Regelvergütung ein neues Gesamtbudget gebildet, Korridore mit Unter- und Obergrenzen für die Fallzahl sowie Abrechnungsbestimmungen festgelegt. Nach Einführung des Entgeltsystems Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP) 2012 konnte in den Modellregionen der zweiten Generation eine der Kontrolle und Transparenz dienende parallele Abrechnungsdokumentation mit PEPP vereinbart werden. Dies ermöglichte den Krankenhäusern eine engmaschige Übersicht über die erlösrelevanten ökonomischen Effekte und den Krankenkassen eine Einsicht in die tatsächlich erfolgten Behandlungsmaßnahmen. Im Gegenzug konnten die Kostenträger auf eine Kontrolle der Behandlungsverläufe einzelner Fälle durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) verzichten. Die Komplexität in der Steuerung des Modells wird seitens der Leistungserbringer zumindest in der Umstellungsphase als deutlich komplexer wahrgenommen, als dies auf Kostenträgerseite der Fall ist. Dies führt auch dazu, dass die Leistungserbringer im Wesentlichen eine Implementierung des Modells parallel zur Regelversorgung und -vergütung als schwer möglich sehen. Diese mangelnde Kompatibilität mit bestehenden Strukturen liegt einerseits darin, dass Patienten unterschiedlicher Krankenkassen nicht vermittelbar ist, weshalb sie eine sehr unterschiedliche Versorgung bei gleichem Beschwerdebild erhalten. Weiterhin können die umfangreichen strukturellen Veränderungen beim Personal, bei der Ausstattung sowie in baulicher Hinsicht nicht oder nur schwerlich parallel neben der Regelversorgung bestehen. Je länger RPBs in einer Region implementiert sind, desto weniger sehen Akteure die organisatorische Machbarkeit eines Parallelbetriebes. Beispielhaft sind im Folgenden zwei Fallvignetten dargestellt. Fall 1 beschreibt die Modellentwicklung bei einem frühen, erfolgreichen Adopter. Beispiel 1

Die Region mit RPB der ersten Generation nach § 24 BPflV a. F. befindet sich in einem ländlich strukturierten Kreis mit einem stationären Leistungsanbieter in kommunaler

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Trägerschaft in Schleswig-Holstein. Seit 2008 kommt das RPB als psychiatrisches Finanzierungsmodell mit Teilnahme aller gesetzlichen Krankenkassen zur Anwendung und ermöglicht derzeit die gemeindenahe psychiatrische Versorgung vor Ort. Diese erfolgt in grundsätzlich offenen Behandlungsbereichen, sowohl ambulant, tagesklinisch und stationär gemischt (inkl. PIA) als auch daheim im Home Treatment. Dem sozialpsychiatrischen Ansatz verschrieben steht hier gänzlich der Patient im Fokus. Eine individuelle Behandlung unter Einbeziehung der Lebenswirklichkeit des Patienten sowie eine wohnortnahe Betreuung werden angestrebt. Faktoren wie eine Behandlung möglichst durch dieselben Therapeuten und die Vermeidung von Verlegung innerhalb der Abteilung wahren dabei die Behandlungskontinuität. Mit detailliertem Wissen zu den versorgungsrelevanten und vertraglichen Ausgestaltungsmöglichkeiten eines RPB aus der Nachbarschaft ging 2006 die Geschäftsführung der Klinik für Gespräche auf die Kostenträger zu, um sich selbst nur 2 Jahre später, allerdings nach doch langwierig wahrgenommenen Verhandlungen, diesem Finanzierungsmodell anzuschließen. Die Überführung in ein §-64b-SGB-V-Modellprojekt erfolgte schließlich 2013 mit einer Vertragslaufzeit bis inkl. 2020. Unter RPB-Bedingungen wurde die Anzahl der vollstationären Betten von 91 auf 41 reduziert, insgesamt bestehen heute 90 tagesklinische Plätze an drei Standorten. Fall 2 stellt ein Modell der zweiten Generation dar, dessen Verhandlungen zur Implementierung eines RPB nach § 64b SGB V scheiterten. Beispiel 2

Die an den Modellprojektverhandlungen gescheiterte Klinik gewährleistetet die regionale Pflichtversorgung in einem städtischen Raum und ist ein wichtiger Akteur der gemeindeintegrierten psychosozialen Versorgung. Die Klinik hält stationäre und teilstationäre Bereiche sowie Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) vor. Mit dem Wissen um konkrete Vorläuferprojekte durch aktives Einholen von Informationen wurde auf Klinikseite seit 2007 an einem Konzept gearbeitet, um damit auf die Vertragspartner zuzugehen. Ziele waren u. a., mit flexiblen Angeboten und aufsuchenden multiprofessionellen Teams Patienten in ihrem Lebensfeld zu behandeln. Alternativen zur stationären Akutbehandlung sollten den Patienten angeboten, Ansätze einer sektorenübergreifenden Behandlung umgesetzt und die Ressourcennutzung effizienter gestaltet werden. Über mehrere Jahre wurden den Kostenträgern die Konzepte vorgestellt und intensiv verhandelt. Dennoch war ein Abschluss aus vielfältigen Gründen vonseiten der Kostenträger abgelehnt worden. In einer Nachbarregion, in der die Vertragsgestaltung bereits bis zur Unterschriftsreife vorangeschritten war, scheiterte der Abschluss trotz Intervention durch die Landespolitik an der Ablehnung einflussreicher bundeszentral organisierter Kostenträger. Unterschiedliche strategische Ausrichtungen wurden dafür verantwortlich gemacht. Ein Versuch, das Modellprojekt mit lediglich einer Auswahl von Krankenkassen umzusetzen, wurde nicht unternommen, weil damit ein Paradigmenwechsel der Versorgungsstrukturen mit nach-

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haltiger Flexibilisierung der k­ onzeptionellen Ansätze nicht umsetzbar erschien und eine ethisch fragwürdige Patientenselektion die Folge gewesen wäre. Im Zeitraum seit 2007 stieg die Anzahl der vollstationären Betten auf fast das Doppelte, die tagesklinischen Plätze vervierfachten sich und die Fälle in der PIA verzehnfachten sich. Die Einwohnerzahlen in der Versorgungsregion nahmen in den letzten 10 Jahren diskret zu.

17.5.2 Merkmale der Akteure in einer Multiakteurskonstellation Die Akteurseigenschaften der Leistungserbringer sollen im Zusammenhang mit dem Anreiz zur Erlösoptimierung in der psychiatrischen Regelversorgung genauer dargestellt werden. Private Leistungserbringer werden als grundsätzlich nicht am RPB inte­ ressiert angesehen, während öffentliche oder gemeinnützige Trägerschaft als förderlich angesehen wird. Kostenträger Einflussfaktoren auf die erfolgreiche Implementierung des RPB konnten auch bei den Kostenträgern identifiziert werden. Die Modellregionen der ersten Generation profitierten noch von einer regional aufgestellten Kassenlandschaft mit stärkerer Verhandlungsfreiheit und Entscheidungsbefugnis regional vernetzter Abteilungen. In den letzten 10 Jahren wurde jedoch in der Kassenlandschaft eine Veränderung hin zu stärkerer Zentralisierung und Orientierung auf eine bundesweite Organisation hin bemerkt. Ansprechpartner für die Regionen im früheren Sinne existieren heute in der Form weit weniger, damit verbunden auch ein deutlich geringeres Interesse an regionalen innovativen Lösungen der Gesundheitsversorgung. Diese Veränderung wird vor allem durch die Leistungserbringer stark wahrgenommen, die Krankenkassenvertreter selbst sehen hier eher keinen negativen Einfluss auf das Erkennen und Verhandeln innovativer Lösungen. Die Akteure auf der Kostenträgerseite werden derzeit durch wenige sehr starke, bundesweit tätige Krankenkassen dominiert, die jedoch durch diese Meinungsführerschaft auch befähigt werden, Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheider zu nehmen. Als positiver Effekt dieser Meinungsführerschaft in einer ansonsten stark heterogenen Kostenträgerlandschaft aus einer Vielzahl von kleinen Kassen und Kassenverbänden mit ausgeprägten Partikularinteressen ist wahrzunehmen, dass eine bundesweite Evaluation der patientenbezogenen und ökonomischen Ergebnisse mit gepoolten Daten über alle Modellregionen durchgeführt werden kann. Nach Abschluss der Evaluation besteht so die Möglichkeit einer evidenzbasierten Entscheidung für die Implementierung weiterer Modelle, die Verstetigung der bestehenden Modelle oder die Skalierung in die Regelversorgung. In Regionen, in denen kürzlich Verhandlungen gescheitert sind oder die sich in Beobachterposition zur Verhandlungsaufnahme befinden, wird diese Entscheidung der Kostenträger, auf die Evaluationsergebnisse zu warten, jedoch als mangelnde Gesprächsoffenheit und Desinteresse interpretiert.

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Einzelakteure In der Entwicklung der RPB und der Diffusion im deutschen Gesundheitswesen lassen sich auch förderliche Merkmale auf der individuellen Ebene der Akteure identifizieren. Die erfolgreichen Adopter der ersten Generation fallen durch eine gewisse Weltgewandtheit auf, haben Zugang zu Entscheidern, Verhandlungserfahrung und/oder nehmen Schlüsselpositionen in der Versorgungsgestaltung ein. Insbesondere von den psychiatrischen Chefärzten wurde in der Entwicklungs- und Verhandlungsphase eine hohe Verantwortungsübernahme verlangt, zu der sie bereit waren. Nach außen hin wurde Durchsetzungskraft verlangt, nach innen hin eine sehr gute Moderationsfähigkeit. Mit einer Neugierde an Effekten und Funktionsweisen innovativer Versorgungsmodelle ist auch das Abstraktionsvermögen verbunden, den Einfluss von Details eines innovativen Modells auf die Versorgungslandschaft in der Psychiatrie zu verstehen und einzuschätzen. Alle Einzelakteure zeichnen sich durch überdurchschnittliche Risikobereitschaft aus, sowohl auf der Klinikleiterebene als auch im kaufmännischen Bereich und bei den Verhandlungsführern der Kostenträger. Diese Eigenschaften paaren sich durchweg mit einem sehr deutlichen Bekenntnis zu einem sozialpsychiatrischen Behandlungskonzept in der Psychiatrie, der Befürwortung eines patientenzentrierten, lebensfeldorientierten Versorgungsmodells in der Gemeinde mit Beziehungskonstanz. Diese Grundeinstellung wird von den Akteuren auf der Leistungserbringerseite, aber auch bei Krankenkassenvertretern als unabdingbar angesehen, um ein RPB in der Region etablieren zu können. Verhandlungen gelingen da, wo auf allen Seiten ein Konsens über die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung selbst besteht, sozusagen „alle auf der Suche nach Verbesserung“ sind. Erfolgreiche Entwicklungen und Verhandlungen sind hier also auch abhängig von der Passgenauigkeit der inhaltlichen Ausrichtung, der persönlichen Werte und dem Gestaltungswillen. Damit sind Verhandlungserfahrungen nicht per se auf alle anderen Versorgungsregionen in Deutschland übertragbar.

17.5.3 Kommunikationsprozesse und Kommunizierbarkeit Kommunizierbarkeit der Innovation Die Vorteile des Modells in Bezug auf ökonomische Kriterien und die Versorgungsqualität wurden von den Initiatoren und frühen Adoptern auf mehreren Ebenen kommuniziert. Die Ergebnisse früher wissenschaftlicher Begleitforschung wurden auf Fachtagungen sowie in Fachzeitschriften kommuniziert, zugleich auch durch Austausch persönlicher Erfahrungen. Hierbei wurden zwei maßgebliche Schwierigkeiten identifiziert. Der mit dem RPB verbundene komplette Pfadwechsel offenbart seine Vorteile zunächst aus psychiatrischer oder Versorgersicht, weil er die im sozialpsychiatrischen Versorgungsideal verankerten Möglichkeiten der patientenzentrierten flexiblen Behandlungsangebote eröffnet. Von daher sind die Vorteile des Modells zunächst einmal nur Akteuren vermittelbar, die ein

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­ orverständnis der bisherigen Entwicklung der psychiatrischen Versorgung und ihrer V Probleme haben. Aus der Perspektive der involvierten Ökonomen sind diese Vorteile weit schwieriger verständlich. Aus dieser Perspektive werden zunächst die ökonomischen Risiken der Budgetdeckelung wahrgenommen, weil ein inhaltliches Verständnis der Vorteile psychiatrischer Versorgung weit weniger besteht und auch nicht vorausgesetzt werden kann. Schließlich wird aus Kostenträgersicht in erster Linie das Risiko mangelnder Transparenz der Versorgungsprozesse und tatsächlichen Versorgungsausgaben gesehen. Dies führt dazu, dass die beteiligten Akteure Vorteile und Risiken auf unterschiedlichen Ebenen wahrnehmen, verstehen und gewichten. Hinzu kommen Aspekte, die in der Diskussionskultur im deutschen Gesundheitswesen eher tabuisiert sind, wie z. B. das Verständnis des RPB als eine Art Kopfpauschale. Zweitens existieren bisher zwar verschiedene wissenschaftliche Belege für die ökonomischen und medizinischen Vorteile des Modells, jedoch beziehen sich diese jeweils auf konkrete Regionen. Zudem hat die wissenschaftliche Methodik dieser regionalen Begleitforschung nicht durchgehend einen hohen Evidenzgrad. Das ist u. a. darauf zurückzuführen, dass komplexe medizinische Interventionen wissenschaftlich schwieriger überprüfbar sind, weil die klassische randomisierte doppelblinde kontrollierte Vergleichsstudie hier nicht durchführbar ist. Die Übertragbarkeit der vorliegenden Ergebnisse auf andere Regionen mit anderen Kontextfaktoren sowie die Skalierbarkeit müssen zunächst zurückhaltend beurteilt werden. Die Kommunizierbarkeit des Modells ist somit komplex und die davon überzeugten Akteure nahmen es als mühsam wahr, die notwendige Überzeugungsarbeit bei Verhandlungspartnern oder Beobachtern der Innovation zu leisten. Verhandlungsprozess In der Folge erlebten fast alle Akteure langwierige und zähe Verhandlungsprozesse, die zum Teil mehrere Jahre umfassten, inklusive Vorbereitungs- und Überzeugungsarbeit in einigen Regionen über 12 Jahre. Leistungserbringer fanden nur mit Verzögerung und über Umwege Ansprechpartner bei den Kostenträgern in ihrer Region, die jenseits der jährlichen Budgetverhandlungen in der Regelvergütung Zuständigkeit für innovative Projekte sahen und ggf. zudem in der Projektarbeit erfahren waren. Leistungserbringer vermissten sozusagen ein „Innovationsteam“ bei den Verhandlungspartnern. Einerseits konnten zwar in einigen Regionen, abhängig von der Kompetenz und Erfahrung einzelner Personen, Projektgruppen Verhandlungsabschnitte vorbereiten und ein strukturierter Verhandlungsprozess etabliert werden, andererseits wurden in einigen Regionen aber auch Grund­ voraussetzungen der innovativen Zusammenarbeit nicht zu Beginn des Verhandlungsprozesses konsentiert und entpuppten sich am Ende dann als unüberwindbare Blockaden. Kommunikationsprozesse Das Vorreitermodell in Schleswig-Holstein erzeugte in mehreren Regionen mit vergleichbaren Versorgungsbedingungen Aufmerksamkeit, sei es durch aktive Beobachtung, durch Wahrnehmen von Präsentationen auf Fachkongressen oder aktives Einholen von Informa-

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tionen beim Vorreiter. In einigen Regionen brachten Akteure jedoch auch Erfahrungen mit vergleichbarer Versorgungsgestaltung aus dem Ausland mit und erkannten im Vorreitermodell das Potenzial, die im Ausland praktizierten Modelle auch in Deutschland umzusetzen. Wesentlich war hier die Meinungsführerschaft des Vorreiters, durch welche die Vorteile des innovativen Modells aktiv und überzeugt transportiert wurden. Insbesondere Regionen und Akteure, welche sich einer sozialpsychiatrischen Versorgungsform verpflichtet fühlen, erkannten im RPB eine potenziell passende Vertrags- und Vergütungsstruktur. Spätere Adopter des Modells konnten bereits auf eine zunehmende Anzahl wissenschaftlicher Publikationen in Fachzeitschriften zurückgreifen, um sich über das Modell zu informieren und die Kompatibilität mit den eigenen Versorgungskonzepten überprüfen. Sie führten u.  a. Simulationen des veränderten Abrechnungsalgorithmus durch, um das ökonomische Risiko des Modells einzuschätzen. Bei den Kostenträgern wurde in unterschiedlichem Ausmaß Interesse durch die erkannten ökonomischen Vorteile geweckt. Hier wurden große Kassen mit umfangreichen Erfahrungen aus anderen innovativen Versorgungsmodellen im Gesundheitswesen als aufmerksamer wahrgenommen als kleinere Kassen. Erstere waren ihrerseits ebenfalls mit der Identifizierung und Entwicklung von Vergütungsalternativen zum Regelsystem und seiner stetigen Kostensteigerung befasst, sodass das RPB in den Fokus des Interesses gelangte. Kleinere Krankenkassen sowie insbesondere die privaten Krankenversicherungen wurden als deutlich weniger bis gar nicht interessiert wahrgenommen. Der Kommunikationsprozess war in den meisten Regionen unidirektional von den Leistungserbringern zu den Kostenträgern und nicht umgekehrt. Frühe und erfolgreiche Adopter zeichnen sich durch häufige Verwendung informeller und persönlicher Kommunikationswege aus. Der Austausch zu Vorteilen und Risiken des RPB griff häufig auf bestehende interne oder externe Kommunikationsstrukturen zurück, sowohl auf der Ebene der Krankenhausgeschäftsführer als auch – in besonderem Maße – auf Netzwerke der Chefärzte und Leitungspersonen der psychiatrischen Kliniken. Hier profitierten die Akteure von bereits bestehender persönlicher Bekanntheit, bestehenden Verhandlungsrunden in anderen Zusammenhängen, „guten nachbarschaftlichen Beziehungen“, wie in den Modellregionen in Schleswig-Holstein vorfindlich. Als förderlich wurde auch ein vertrauensvoller Dialog zwischen Angehörigen gleicher Berufsgruppen angesehen, da ein vergleichbares Verständnis von und eine gemeinsame Sprache über einen Sachverhalt möglich ist. Jedoch bestehen insbesondere für die im Krankenhauscon­ trolling und in der Geschäftsführung mit dem Modell Befassten keine Netzwerke, die vergleichbar gut ausgebaut sind wie die der ärztlichen bzw. therapeutischen Seite. Bisherige Nichtadopter zeichnen sich dagegen eher durch die Verwendung umständlich formeller Kommunikationswege aus. Sie können nicht in dem Maße auf vorhandene niederschwellige Kommunikationswege, persönliche Bekanntheit und bestehende Kontakte zurückgreifen. Im Fall einer gescheiterten Region entwickelten sich jedoch über Jahre einer strukturierten formalisierten Projektarbeit zunehmend intensive Kontakte sowie ein umfangreiches Netzwerk, welches auch nach negativem Abschluss der Verhandlungen eines RPB nachhaltig und alltagstauglich weiterbestand.

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Als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Verhandlungen wurde bei allen beteiligten Akteuren eine Vertrauensbasis angesehen. Über professionelle Notwendigkeit von Kontrolle und Transparenz hinaus sei gegenseitiges Vertrauen der Vertragspartner er­ forderlich. Insbesondere wurde wahrgenommen, dass aufseiten der Kostenträger ein grundsätzliches Misstrauen in die Leistungserbringer bestehe. Dieses Misstrauen wurde durchaus auch als Folge der langjährig bestehenden Fehlanreize im Gesundheitswesen angesehen, ein Aufschaukeln von Profitorientierung der Leistungserbringer und Ausweitung und Intensivierung der Kontrolle durch die Kostenträger. Diese Entwicklung schafft für die Verhandlung innovativer Versorgungsverträge jedoch kein förderliches Klima. Regionen, die zum jetzigen Zeitpunkt Modellvorhaben verhandeln wollen, haben gegenüber den Regionen der ersten Generation von Adoptern deutlich schlechtere Kontextbedingungen. Frühe Verhandler haben deutlich vertrauensvollere Grundstimmung und gegenseitigen Respekt der Vertragspartner erlebt, jedoch auch vor dem Hintergrund dezentraler, regional organisierter Strukturen bei den Krankenkassen (s. o.).

17.5.4 Kontext der Einführung des Regionalen Psychiatriebudgets Kontext psychiatrischer Versorgungskonzepte Die Implementierung der ersten Generation von RPB fällt in einen besonderen Kontext: Im Land Schleswig-Holstein, wo innerhalb weniger Jahre mehrere RPB verhandelt wurden, waren erst wenige Jahre zuvor große psychiatrische Krankenhäuser aufgelöst oder umstrukturiert und eine dezentrale psychiatrische Versorgung installiert worden. Maßnahmen der Enthospitalisierung im Sinne der Ziele der Psychiatrie-Enquête (Deutscher Bundestag 1975) waren damit zum Abschluss gebracht worden. Zugleich nahm die moderne Psychiatrie den nachteiligen Einfluss der Fragmentierung im Gesundheitswesen auf die Qualität der Patientenversorgung bereits deutlich war. Insofern fielen hier die sich verändernden Ansprüche an eine patientenzentrierte, „Ambulant-vor-stationär“-Versorgung und Ermöglichung von Teilnahme am sozialen Leben mit der Veränderung der Krankenhauslandschaft zusammen. Ein weiterer Aspekt ist, dass in den letzten Jahren eine zunehmende Unterversorgung einzelner ländlicher Regionen durch niedergelassene Haus- und Fachärzte thematisiert wird. Leidtragende der Unterversorgung sind vorrangig chronisch Kranke, Menschen mit psychosozialen Problemen, mit reduzierter Mobilität und Benachteiligte. Es wächst die Kritik an der Fehlverteilung von Versorgungsressourcen im Sinne einer Unterversorgung der schwer Kranken und einer Überversorgung der leichter Kranken. In diesem Kontext wird die Regelversorgung schwer psychisch Kranker, chronisch oder instabil Kranker vorrangig im Krankenhausbett als nicht mehr zeitgemäß akzeptiert und damit verbunden auch die Regelvergütung als Fehlentwicklung gesehen, die einen Anreiz für eine möglichst große Anzahl von Krankenhausbetten in der Psychiatrie mit möglichst langen Belegungszeiten schafft. Die Verzögerung oder Beschleunigung von Entlassmanagement eines Patienten abhängig von der Belegungsziffer gilt nach heutigen Kriterien als

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medizinisch und sozial nicht mehr vertretbar. Ambulantisierung einer langfristigen Versorgung wird als dringend notwendige Weiterentwicklung in der psychiatrischen Versorgung – auch unabhängig von Modellvorhaben – angesehen. An dieser Stelle offenbart sich allerdings folgender Aspekt, dass die Perspektive der Sozialpsychiatrie sich von der Perspektive einer eher biologisch-psychiatrisch ausgerichteten Psychiatrie unterscheidet. Die Entwicklung der ersten RPB wurde hier also auch durch förderliche Kontextbedingungen ermöglicht. Wirtschaftlicher Kontext Die psychiatrische Versorgung hat im deutschen Gesundheitswesen einen starken Populationsbezug, d.  h., dass bestimmte Kliniken eine Versorgungsverpflichtung für eine bestimmte Region haben, in der Regel auf Landkreisebene, gesetzlich durch entsprechende Landespsychiatriepläne geregelt. Gegenüber Patienten aus anderen Versorgungsregionen haben diese Kliniken keine Aufnahmepflicht. Dies ist für die Steuerung im RPB insofern relevant, als dass eine Verschiebung von Patienten mit hohem Versorgungsbedarf aus einer Modellregion heraus in eine andere Region zur Vermeidung von Kosten nicht möglich ist. Andersherum ist die Klinik in der Modellregion nicht verpflichtet, Patienten aus umgebenden Versorgungsregionen aufzunehmen, ist also nicht dem Risiko unkalkulierbarer Patientenströme in das gedeckelte eigene Budget ausgesetzt. Hieraus ergibt sich auch für die Kostenträger nicht die Gefahr, dass Patienten abgewiesen oder verschoben werden. Im Regelvergütungssystem in der Psychiatrie sind die Anreize dergestalt gesetzt, dass die Anzahl der stationären Betten und die Bettenauslastung entscheidend für die Realisierung von Gewinnen sind. Dies wird vielfach als Fehlanreiz gesehen, weil die für den individuellen Patienten notwendige Behandlungsform gegenüber der Erlössicherung für die Klinik in den Hintergrund tritt. Der Anreiz der Gewinnmaximierung im stationären Sektor wird abhängig von der Krankenhausträgerschaft als unterschiedlich angesehen. Nur bei kommunalen oder gemeinnützigen Trägern wird daher die Risikobereitschaft erwartet, durch Abschluss eines RPB die Möglichkeit der Gewinnmaximierung aufzugeben. So wurde in den erfolgreichen Modellen vom Krankenhausträger die Patientenversorgung der Region ebenso als Ziel gesetzt wie ein auskömmliches, aber nicht gewinnorientiertes ökonomisches Ergebnis. In einer Vielzahl der Versorgungsregionen hat die öffentliche Hand jedoch die Krankenhausträgerschaft bereits vor Jahren an private Träger abgegeben und damit eine grundlegende Voraussetzung für die Implementierung eines RPB verloren, nämlich die Möglichkeit der Mitgestaltung der Versorgung durch Änderung der rahmengebenden ökonomischen Erwartungen. Die Verteilung der Krankenhausträgerschaft in den psychiatrischen Versorgungsregionen in Deutschland ist daher ebenfalls ein Einflussfaktor auf die weitere Ausbreitung von RPBs. Solange jedoch der Fehlanreiz der Erlösgenerierung durch das Krankenhausbett im Gesundheitswesen besteht, wird eine Vielzahl an Versorgungsregionen kein Interesse an der Einführung eines RPB haben. Den Effekt dieses Fehlanreizes sehen auch die Kostenträger und nehmen daher zunehmend die Möglichkeit, einer weiteren Kostensteigerung durch das RPB entgegenzuwirken, zur Kenntnis.

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Als idealer Kontext für ein RPB wird aus Sicht der Akteure somit eine Monopolstellung eines Anbieters psychiatrischer Krankenhausleistungen in einer Versorgungsregion angesehen, eine kommunale bzw. Landesträgerschaft oder gemeinnützige Trägerschaft sowie eine umschriebene Versorgungsregion mit einem Pflichtversorgungsauftrag. Hingegen wird die Etablierung des RPB in Ballungsgebieten mit umfangreicher Konkurrenzsituation auf dem Anbietermarkt als schwierig bewertet. Weiterhin ist förderlich, wenn es im vertragsärztlichen Versorgungsbereich eher einen Mangel an Haus- und Fachärzten gibt, wie zum Beispiel in ländlichen Regionen, da dann die ambulante Versorgung aus dem stationären Sektor heraus nicht als Konkurrenz durch die niedergelassenen Ärzte vor Ort erlebt wird. Politischer Kontext Der Wechsel der gesetzlichen Rahmenbedingungen für das RPB von § 24 Bundespflegesatzverordnung (BPflV) zu Modellvorhaben nach § 64b SGB V hat auch zu einer Veränderung der Kontraktionsbedingungen geführt. Während in Modellregionen der ersten Generation noch mit regionalen Krankenkassenverbänden verhandelt werden konnte, sind heute die Einzelkassen, z. T. bundesweit operierende Kassen (s. o.) Vertragspartner. Diese gesetzliche Änderung hat befördert, dass sich Meinungsführerschaft einzelner Kassen herausbilden kann. Zudem erlaubte der § 24 Bundespflegesatzverordnung (BPflV) mehr Verhandlungsfreiheiten gegenüber der heutigen gesetzlichen Grundlage, wovon die frühen RPB profitierten. Die Unterstützung durch die landespolitische Ebene wurde in den Regionen unterschiedlich erfahren. Während in Schleswig-Holstein die Modellregionen der ersten Generation umfangreiche Unterstützung erfuhren, insbesondere in schwierigen Verhandlungsstadien, und die Landespolitik mit dem gelungenen Bettenabbau selbst geworben hat, erleben jüngere Verhandler nicht immer eine wirksame ausreichende Unterstützung durch die Landespolitik. Es ist allerdings auch zu konstatieren, dass Landespolitik auf bundesweit operierende Kassen keinen nennenswerten Einfluss haben kann. So gesehen ist die Veränderung der Krankenkassenlandschaft auch mit einer geringeren Einflussmöglichkeit lokaler Politik auf lokale Verhandlungsergebnisse verbunden. Die Unterstützung durch die jeweiligen Bundesländer ist für den Erhalt der Investitionsmittel für die Krankenhäuser von erheblicher Bedeutung. Das System der dualen Finanzierung der Krankenhäuser führt bei einem Abbau von Betten in einem Krankenhaus unweigerlich zu einer Reduktion der Investitionsmittel, denn diese hängen an der Bettenzahl der Einrichtung, aber nicht am Versorgungsumfang in der Region, der ja im RPB der gleiche bleibt. Während die Betriebs- und Behandlungskosten durch das verhandelte Budget gedeckt werden, sind die Investitionsmittel des jeweiligen Bundeslandes kein Bestandteil der Verhandlungen. Hier bedarf es also eindeutiger Zusagen des jeweiligen Landes, um den gewünschten Bettenabbau tatsächlich zu ermöglichen. Aus der Wahrnehmung der eigenen Erfolge im RPB wird von den Leistungserbringern z. T. der Anspruch auf eine viel schnellere Skalierung in die Regelversorgung erhoben. Insbesondere die Modellregionen der ersten Generation erwarten dringend eine Entscheidung

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zur Entfristung oder Verstetigung ihres Modells. Aus dieser Perspektive wird allerdings verkannt, dass die bisherigen Erfahrungen auf die sehr heterogene Versorgungslandschaft in Deutschland nicht ausreichend generalisierbar sind, um auf bundespolitischer Ebene ohne weitere Forschungsergebnisse das Modell für alle durchzusetzen. Auf der bundespolitischen Ebene sehen viele Akteure das Versäumnis, dass Gesundheitsversorgung nicht ausreichend auf der Bevölkerungsebene geplant und gestaltet wird, sondern der (ökonomisch angetriebenen) Gestaltungsmacht des Marktes überlassen wird. Insbesondere in der psychiatrischen Versorgung wird diese „neoliberale“ politische Haltung als fatal für die Qualität der Patientenversorgung angesehen. Bei positivem Ergebnis der aktuellen umfassenden wissenschaftlichen Evaluation erwarten die Kostenträger durchaus, dass die politischen Entscheidungsträger eine Einführung des Modells in die Regelversorgung unterstützen. Aufgrund der umfangreichen und kostenträchtigen Umstrukturierung der Versorgung im RPB wird erwartet, dass es eine langfristig wirksame, parteienübergreifende Strategie zur Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland geben wird, sodass die Investitionen in den Strukturaufbau und -umbau nicht mehr mit Wechsel der politischen Richtung nach Ende einer Legislaturperiode verpuffen. Notwendige Einsatzvoraussetzungen Zusammenfassend werden folgende Grundvoraussetzungen als erforderlich zur erfolgreichen Verhandlung und Implementierung eines RPB angesehen: • Versorgungsgebiet eines eher ländlich geprägten Raums mit einem möglichst zentral lokalisierten Leistungserbringer, • Leistungserbringung durch nur einen regionalen Versorger in „Monopolstellung“, • kommunale oder gemeinnützige Trägerschaft des regional versorgenden Krankenhauses, • sozialpsychiatrische Ausrichtung des Versorgungskonzeptes für psychische Störungen.

17.6 Derzeitiger Stand: Stopp des Diffusionsprozesses Zum aktuellen Zeitpunkt ist die weitere Diffusion des RPB in weitere Versorgungsregionen zum Erliegen gekommen, was auf verschiedene Einflussfaktoren in einer Multiakteurskonstellation zurückzuführen ist. Die Krankenkassen warten derzeit auf die Ergebnisse einer umfassenden wissenschaftlichen Evaluation durch ein unabhängiges Forschungsinstitut. Die alle vorhandenen Modellregionen einschließenden Ergebnisse werden auf einer Auswertung von Routineleistungsdaten der Krankenkassen sowie prospektiven Studien mit Primärdatenerhebung basieren. Die Krankenkassen haben sich hierfür zu einer Arbeitsgemeinschaft unter Meinungsführerschaft einer großen bundesweiten Krankenkasse zusammengeschlossen. Die Erwägung, weitere Modellregionen erst zu kontrahieren, wenn überzeugende positive Evidenz für die

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ökonomischen Vorteile und die bessere Patientenversorgung durch die Modelle vorliegt, ist nachvollziehbar. Die Kassen haben die Erwartung, dass die Ergebnisse auch Einsicht erlauben, welche patientenbezogenen und regionalen Faktoren für ein Gelingen des Modells identifiziert werden können. Im Sinne einer evidenzbasierten Entscheidung soll das Modell dann in die Regelversorgung überführt werden können. Die Krankenkassen gehen davon aus, dass die Entscheider in der Bundespolitik durch die Evidenz überzeugt werden können. Die Strategie korreliert auch mit den Zielen des Innovationsfonds, der neben einer Förderung von Innovation im Gesundheitswesen auch eine wissenschaftliche Begleitforschung vorsieht, deren Ergebnisse später eine Verstetigung legitimieren. Die Akteure aufseiten der Leistungserbringer sehen diese Strategie der Kostenträger nicht so klar. Sie erleben die Position der Kassen als Desinteresse am Modell und mangelnde Unterstützung in der Etablierung neuer Modellregionen. Darüber hinaus besteht erhebliche Sorge, wie eine als nur sehr schwer möglich bis nahezu unmöglich wahrgenommene Rückkehr aus einem Modell in die Regelversorgung vorgenommen werden kann, wenn die bestehenden Verträge nicht verlängert werden. Vermehrt wird hier nach einer Entscheidung durch die Politik gefragt. Ausgehend von dieser Konstellation aus fehlender Verhandlungsbereitschaft der Verhandlungspartner und Unsicherheit des rechtlichen Rahmens ergreifen die Leistungserbringer derzeit kaum mehr weitere Initiative. Aus Sicht der Akteure reichen die derzeitigen Studienergebnisse aus regionaler Begleitforschung für eine Entscheidung zur Verstetigung aus.

17.7 Schlussbetrachtung Mit dem Regionalen Psychiatriebudget bzw. Modellvorhaben nach § 64b SGB V wurde ein innovatives Versorgungsmodell für die Psychiatrie entwickelt und in verschiedenen Regionen erprobt. Obwohl es sich durch erhebliche ökonomische Vorteile und eine Verbesserung der Patientenversorgung auszeichnet, ist die Verbreitung in Deutschland bislang gering. Hindernisse hierfür liegen in einer mangelnden Erprobbarkeit des Modells, schlechter Kompatibilität mit gleichzeitiger Regelversorgung, fehlender Reversibilität und einem folglich wahrgenommenen erheblichen Risiko der Implementierung in Modellregionen. Da eine erfolgreiche Kontrahierung nur bei völligem Konsens sehr unterschiedlicher Akteursgruppen gelingt, sind die Vertragsverhandlungen in der Regel aufwendig. Während der frühere gesetzliche Rahmen eine Kontrahierung auf Verbandsebene ermöglichte, ist unter aktueller Gesetzgebung eine Vertragsschließung mit Krankenkassen auf Einzelakteursebene erforderlich, was das Zustandekommen des Modells deutlich erschwert. Auch die Veränderung der Kassenlandschaft hin zu Zentralisierung erschwert möglicherweise die Implementierung, da regionale Bezüge verloren gingen. Die strategisch ­begründete Unterbrechung einer weiteren Diffusion des Modells in Deutschland ist vielen Akteuren nicht bekannt. Die vorliegenden regionalen Evaluationen mit sehr heterogener methodischer Herangehensweise, die häufig keinen hohen Evidenzgrad haben, reichen jedoch nicht aus, um

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die Ergebnisse zu generalisieren und zur Basis für eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu machen. Eine transparentere Kommunikation zwischen den sehr unterschiedlichen Akteuren über das Rationale der aktuellen Strategie wäre hier hilfreich. Derartige Kommunikationswege zwischen allen Akteuren sind jedoch nicht etabliert, sondern im Wesentlichen nur innerhalb der jeweiligen Akteursgruppe. Konzeptionell scheint sich der Rückgriff auf das altbewährte Konzept von Rogers zur Verbreitung von Innovationen unter Einschluss der Multiakteursproblematik durch Einbindung von Elementen der Innovationssystemforschung zu bewähren, zumindest eröffnet es weitere Einblicke und die Identifikation (gelegentlich unbewusster) konkurrierender Kalküle der einzelnen Akteure als auch die Interaktion zwischen verschiedenen Handlungsebenen von einzelnem Akteur, Gruppe von Akteuren und verschiedenen politischen Handlungsebenen (Kommunen, Länder, Bund). Wir betrachten dies als ermutigenden Start, hier – neben der Hinzuziehung zusätzlicher Empirie – auch konzeptionell weiterzuarbeiten.

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Priv.-Doz. Dr. med. Anne Berghöfer  ist seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrkoordinatorin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité  – Universitätsmedizin Berlin. Sie hat von 1983 bis 1989 an der Freien Universität Berlin Medizin studiert und war bis 2001 in der Psychiatrie klinisch tätig. 2015 habilitierte sie im Fach Sozialmedizin und Epidemiologie. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der psychiatrischen Versorgungsforschung und Evaluation besonderer Versorgungsformen im Gesundheitswesen. Sie ist Mitglied in mehreren Fachgesellschaften und publizierte rund 150 Artikel in Fachjournalen und Büchern. Farideh Carolin Afraz  studierte Pharmazie in Freiburg und erhielt 2014 ihre Approbation als Apothekerin. Sie ist für die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Berlin als Fachreferentin in der Abteilung Arzneimittel tätig. Fokus ihrer täglichen Arbeit ist es, AMNOG-­Verfahren (Frühe Nutzenbewertung §  35a SGB V) im Rahmen der Gremienarbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss zu betreuen und dabei eine adäquate Zusatznutzenbewertung neuer Arzneimittel zu gewährleisten. Neben der Bewertung von klinischen Studien ist sie in der Weiterentwicklung der Grundlagen für die bundesweite Steuerung der Arzneimittelversorgung (Rahmenvorgaben nach § 84 Abs. 7 SGB V) tätig und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Dr. rer. medic.

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A. Berghöfer et al.

Prof. Carsten Dreher  hat seit 2009 die Professur für Innovationsmanagement an der Freien Universität Berlin inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Technologie-­Foresight, Dynamic Capabilities/Innovation Routines, Partizipation und Innovation sowie Wirkungen staatlicher Innovationspolitik auf Unternehmen. Von 2009 bis 2012 war C.  Dreher Direktor des Center for Cluster Development, welches das Präsidium der Freien Universität in Fragen der strategischen Forschungsplanung und der Identifizierung und Entwicklung von Forschungsschwerpunkten berät und unterstützt. Zuvor arbeitete er als Professor für Innovationsforschung und Innovationsmanagement an der Universität Flensburg/Syddansk Universitet, Dänemark, sowie als Abteilungsleiter am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung.

Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im Innovationsmanagement

18

Alma Dautovic und Mario A. Pfannstiel

Inhaltsverzieichnis 18.1  Einleitung  18.2  Begriff „Produktdienstleistungssysteme“  18.3  Entwicklungsfelder von Innovationen im Absatzmarkt  18.4  Negative und positive Effekte auf Produktdienstleistungssysteme  18.5  Kunden im Innovationsprozess von Produktdienstleistungssystemen  18.6  Unternehmens- und Markteintrittsstrategien für Produktdienstleistungssysteme  18.7  Innovationsgrad von Produktdienstleistungssystemen im Absatzmarkt  18.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

 322  323  323  324  325  328  329  331  331

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Produktdienstleistungssystemen. Produktdienstleistungssysteme sind Systeme, die technisch komplex, wertvoll, für Kunden interessant und damit auch wirtschaftlich erfolgreich sind. Sie gewinnen mehr und mehr an Bedeutung, da ihre praktischen Vorzüge die Kundenakzeptanz und die Kundenzufriedenheit erhöhen und sie bei der täglichen Anwendung Bequemlichkeit, Flexibilität und einfache Bedienbarkeit vermitteln. Sie können die Wettbewerbsfähigkeit steigern, Wachstum generieren und zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Zur Gestaltung, Realisierung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen müssen Unternehmen eine systematische, zielorientierte und kollaborative Vorgehensweise im Innovati-

A. Dautovic (*) · M. A. Pfannstiel Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_18

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A. Dautovic und M. A. Pfannstiel

onsmanagement wählen. Bestehende Ressourcen müssen effizient eingesetzt werden, damit tragfähige Innovationen für den Markt entstehen. Akteure aus Wirtschaft und Wissenschaft müssen untereinander und mit Kunden zusammenarbeiten. Durch Partnerschaften können Innovationshindernisse bei der Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen überwunden werden. Die Kollaboration kann dabei als Auslöser und Impulsgeber für Ideen dienen. Kunden müssen verstärkt angesprochen und eingebunden werden, damit ertragreiche Innovationen für den Markt entstehen, diese weiterentwickelt werden können und einen Beitrag zur Wertsteigerung von Unternehmen leisten.

18.1 Einleitung Innovationen im Absatzmarkt entstehen durch neuartige Ideen, die erfolgreich umgesetzt werden und einen erkennbaren Marktwert für Unternehmen und Kunden haben. Dabei geht die Innovationskraft von Unternehmen und den dort beschäftigten Mitarbeitern aus. Die Innovationsbereitschaft trägt zur Schaffung eines innovativen Bewusstseins bei und öffnet Mitarbeiter für die Entwicklung und Verfeinerung von Produktdienstleistungssystemen. Die Bereitschaft zur Veränderung erfordert von Mitarbeitern und Führungskräften eine interdisziplinäre Strategie, um einen geordneten Überblick zu Anforderungen und Bedürfnissen von Kunden im Markt zu erhalten. Führungskräfte müssen Forschungs- und Entwicklungsprozesse unterstützen und ausreichende Ressourcen zur Verfügung stellen. Eine innovationsfördernde Unternehmenskultur ist notwendig, um von gesammelten Erfahrungen und bewährten Erkenntnissen zu lernen. Aber auch ein Kontaktnetzwerk und die Zusammenarbeit von treibenden und zielorientierten Akteuren sind essenziell und bilden einen entscheidenden Rückhalt bei der Generierung von Ideen, die zu Innovationen führen können. Sinnvolle, anerkannte und am Kunden zentrierte Innovationen bilden für Unternehmen Einnahmen, die erneut in Forschung und Entwicklung fließen können. In diesem Beitrag sollen folgende Fragen beantwortet werden: Welche Formen von Produktdienstleistungssystemen können unterschieden werden? Welche Entwicklungsfelder für Innovationen gibt es im Innovationsmanagement? Wie können positive und negative Effekte bezogen auf Produktdienstleistungssysteme dargestellt werden? Welche Unternehmens- und Markteintrittsstrategien für Produktdienstleistungssysteme spielen eine Rolle? Wie können die Entwicklungsschritte von Produktdienstleistungssystemen in Unternehmen aussehen? Was ist bei der Einbindung von Kunden zu beachten? Wie können Produktdienstleistungssysteme nach dem Grad der Neuigkeit eingeordnet werden?

18  Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im …

Wertbeitrag hauptsächlich im Produkt

reines Produkt 1

Produktdienstleistungssystem Dienstleistungen (immateriell)

Produkt (materiell) 1

• Schulung/ Beratung zu Produkten • Wartung/ Reparatur von Produkten • Produktinspektion

produktorientiert 2

2

nutzerorientiert

3

• Produktleasing • Vermietung/ Verleih von Produkten • Produktpooling • Automatisierung

ergebnisorientiert 3

323

Wertbeitrag hauptsächlich in der Dienstleistung

reine Dienstleistung

• Auslagerung von Wertschöpfungsteilen • Erfüllung von Verwaltungsaufgaben in einem Betrieb

Abb. 18.1  Klassifizierung von Produktdienstleistungssystemen. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an Tukker 2004, S. 248)

18.2 Begriff „Produktdienstleistungssysteme“ Produkt- und Dienstleistungsinhalte an Produktdienstleistungssystemen können nach ihrem Grad unterschieden werden. Tukker unterscheidet drei Formen von Produktdienstleistungssystemen (Tukker 2004, S. 248–249; Tukker und Tischner 2006, S. 1552–1156, siehe Abb.  18.1): produktorientierte, nutzenorientierte und ergebnisorientierte Produktdienstleistungssysteme. Produktorientierte Produktdienstleistungssysteme sollen den Gebrauch von erworbenen Produkten beim Kunden durch Dienstleistungen erleichtern. Bei nutzenorientierten Produktdienstleistungssystemen bleibt das Produkt Eigentum des Herstellers, der Kunde zahlt lediglich für dessen Benutzung. Für ergebnisorientierte Produktdienstleistungssysteme ist der erzielende Output für den Kunden maßgeblich (Bruhn und Hadwich 2017, S. 15; Wimmer et al. 2008, S. 26–27; Fazel 2014, S. 49–50). In der Literatur finden sich zahlreiche Anwendungsbeispiele, die sich in die drei Formen einordnen lassen (Durugbo et al. 2010, S. 537; Wirawan et al. 2018, S. 136).

18.3 Entwicklungsfelder von Innovationen im Absatzmarkt Innovationen im Markt können drei Entwicklungsfeldern zugeordnet werden: der Produkt-, der Dienstleistungs- und der Produktdienstleistungsentwicklung. Die Produktentwicklung (Ebene 1) bringt durch Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten innovative Produkte hervor, während die Dienstleistungsentwicklung (Ebene 2) durch das Hervorbringen von innovativen Dienstleistungen gekennzeichnet ist (Specht und Möhrle 2002, S. 23–25 und S. 240–244). Die Produktdienstleistungsentwicklung (Ebene 3) beschäftigt sich mit innovativen Produktdienstleistungssystemen, die ihren Ursprung in Produkten und Dienstleistungen haben und aus einer Kombination von beiden durch einen Entwicklungsprozess gestaltet und weiterentwickelt werden (siehe Abb. 18.2).

324

A. Dautovic und M. A. Pfannstiel

Entwicklungsfelder nach Ebenen

Wettbewerbsposition

Bedürfniszuwendung 3

Produktdienstleistungssysteme

Bedürfniszuwendung 2

1

Dienstleistungen

Bedürfnisabkehr

Produkte

Bedürfnisabkehr

Relevant für Benutzer

Preis

Abb. 18.2  Entwicklungsfelder von Innovationen im Markt. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Pine II und Gilmore 1998)

Wenn es um Produktdienstleistungssysteme geht, wird in der Literatur häufig auch von Produkt-Service-Systemen, Produkt-Service-Kombinationen, Produkt-Service-­Mischformen oder Produkt-Services gesprochen (Wimmer et al. 2008, S. 4). Der Anteil von Produkt und Dienstleistung ist bei Produktdienstleistungssystemen häufig ungleich verteilt. Die Angebote für Kunden sind produkt- oder dienstleistungsdominiert und bestehen aus einem materiellen und einem immateriellen Anteil und treten als Kombination in Innovationen im Markt auf (Tukker 2004, S. 246). Relevant für den Absatzmarkt sind Produktdienstleistungssysteme, die eine hohe Wettbewerbsposition einnehmen können. Entsprechend ihrem Wertgehalt ist der Preis für Produktdienstleistungssysteme höher als bei reinen Produkten oder reinen Dienstleistungen. Für Kunden sind Produktdienstleistungssysteme attraktiv, da sie bestehende Kundenwünsche erfüllen und eine Alternative zu Produkten oder Dienstleistungen darstellen (Wimmer et al. 2008, S. 18–19).

18.4 N  egative und positive Effekte auf Produktdienstleistungssysteme Ein Merkmal der Entwicklungsfelder ist, dass diese in unterschiedlicher Intensität von politischen („political“ = P, Dimension 1), wirtschaftlichen („economic“ = E, Dimension 2), soziokulturellen („social“ = S, Dimension 3), technologischen („technological“ = T, Dimension 4), ökologisch-geografischen („environmental“ = E, Dimension 5) und rechtlichen („legal“ = L, Dimension 6) Effekten beeinflusst werden (Sammut-Bonnici 2015, S. 1–7; Theobald o. J., S. 3). Vor der Entwicklung von Ideen für Produktdienstleistungs­

18  Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im …

hoch

mittel

niedrig

P1

Effekt

S1 S2 T1

L2

E1 E3

niedrig

mittel

hoch

P3 P4

E (3)

E2

E3

S (5) T (4)

E2

Effekt

P (4)

P2 E1

L1

PDS

325

S4

T3

E (5) L (4)

S3 S5

T2 T4 E4 E5 L3 L4

Abb. 18.3  Beispielhafte Darstellung von Effekten auf ein Produktdienstleistungssystem (PDS). (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Business Documents (2019), o. S.)

systeme ist die Situation von Markt und Umfeld zu analysieren. Aktuelle und zukünftige Effekte auf ein Produktdienstleistungssystem sind zu untersuchen, um Auswirkungen für das eigene Unternehmen, in dem die Entwicklung stattfinden soll, darzustellen. Die Marktund Umfeldentwicklung gibt dabei Aufschluss über die negative oder positive Stärke der Effekte (siehe Abb. 18.3). Durch die ganzheitliche Betrachtung der sechs Effektarten können Rückschlüsse auf Chancen und Risiken für ein Unternehmen aufgezeigt werden. Der wirtschaftliche Effekt von Dimension 2 wird beispielsweise durch drei Faktoren beeinflusst. Zu den wirtschaftlichen Faktoren gehören die Bevölkerungszahl in einer Region (E1), die Investitionen in Forschung und Entwicklung in einer Region (E2) und das Wirtschaftswachstum einer Region (E3).

18.5 K  unden im Innovationsprozess von Produktdienstleistungssystemen Produktdienstleistungssysteme entstehen durch Innovationsprozesse, in denen Mitarbeiter Erfahrungen sammeln, sich mit ihrem Wissen einbringen und festgelegte Ziele verfolgen. Die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten müssen dabei ständig überwacht, analysiert und bewertet werden. Um die Wünsche, Bedürfnisse und Präferenzen von Kunden mit

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A. Dautovic und M. A. Pfannstiel

1

2

Anfang

Entwicklung

Klassische Marktforschungsstrategie

Konzept- und Ideenentwicklung

Interviews, Umfragen, Fokusgruppen, Emphatic Design

Diskussionsforen, Brainstorming, Ideenwettbewerbe Crowdsourcing Living Labs

3

4

Schöpfung

Implementation

Toolkits für Innovationen und Kundenmitgestaltung

Pilotanwender Showrooms Living Labs

Crowdsourcing Lead User Innovationen und Mitgestaltung Living Labs

Anfangsphase

Fortgeschrittene Phase

Endphase

Abb. 18.4  Phasen der Einbeziehung des Kunden in den Innovationsprozess. (Quelle: in Anlehnung an Rocheska et al. 2014, S. 36)

berücksichtigen zu können, sollten Kunden vollständig mit in Innovationsprozesse einbezogen werden und alle Prozessstufen durchlaufen. Wie in Abb. 18.4 erkennbar, haben Rocheska et al. festgestellt, dass sich dieser Prozess in vier Stufen einteilen lässt: die Anfangsphase, die fortgeschrittene Phase und die Endphase. Die zweite Etappe lässt sich weiter untergliedern in die Inkubations- und die Schöpfungsphase. In der Anfangsphase geht es darum, herauszufinden, was die Bedürfnisse der Kunden sind, da diese für die Entwicklung zünftiger Innovationen obligatorisch sind. Hierfür werden überwiegend klassische Marktforschungsstrategien, wie z. B. Interviews, Umfragen oder Fokusgruppen, eingesetzt. Ziel ist es, Informationen über die Interessen und Bedürfnisse der Kunden zu sammeln, um neue Produktdienstleistungssysteme auf diese abstimmen zu können. Es kann aber vorkommen, dass die Kunden selbst nicht einmal ihre Präferenzen und Wünsche kennen oder diese nicht ausdrücken können (Rocheska et al. 2014, S. 36–37). In diesem Fall nutzen Unternehmen oft das sogenannte Empathic Design (Leonard und Rayport 1997, S.  103). Gemäß Leonard und Rayport besteht diese Strategie hauptsächlich aus Beobachtung der Kunden. Wichtig ist, dass diese in der eigenen alltäglichen Umgebung des Kunden und nicht in speziellen Laboren stattfindet. Auf diese Weise lassen sich Informationen erfassen, die durch konventionelle Methoden nicht so einfach erfasst werden können (Leonard und Rayport 1997, S. 103). Nachdem nun sowohl die impliziten als auch die expliziten Bedürfnisse identifiziert wurden, wird die nächste Phase, die Entwicklung erreicht. Ziel ist es, neue Konzepte zu entwerfen, um bestehende Produktdienstleistungssysteme zu optimieren oder neue Produktdienstleistungssysteme zu entwickeln. Um dies bewerkstelligen zu können, gibt es

18  Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im …

327

eine Reihe verschiedener Strategien. Denkbar sind zum einen Methoden wie das sogenanntes Crowdsourcing (Rocheska et al. 2014, S. 37) oder Living Labs (Rocheska et al. 2014, S. 37) und zum anderen Diskussionsforen, Brainstorming oder Ideenwettbewerbe (Rocheska et al. 2014, S. 37). Gemäß Howe ist das Crowdsourcing eine Wortneuschöpfung aus den Begriffen Crowd und Outsourcing. Gemeint ist hiermit, dass eine große Menschenmenge Leistungen, in diesem Fall eines Unternehmens, über das Internet erbringt (Howe 2006, o. S.). In dieser Phase sollen die Living Labs helfen, neue Sichtweisen und Ideen zu generieren. Da es keine eindeutige Definition der Living Labs gibt, werden nun verschiedene Ansätze vorgestellt: Pallot et al. definieren diese als eine offene Infrastruktur, welche den Nutzern unter anderem die Möglichkeit bietet, Forschungslabore zu nutzen (Pallot et al. 2010, o. S.). Diese Infrastruktur wird gemäß Peer dazu genutzt, sowohl technische als auch soziale Innovationen zu kreieren. Diese Möglichkeit zur Entwicklung offener Innovationen ist in Deutschland, aber auch in anderen Ländern inzwischen weitverbreitet (Peer 2016, S.  316). Das Ziel dieser Methode liegt „in der Schaffung von lokal verankerten Räumen, wo neue Produktdienstleistungssysteme entstehen und neue Handlungsweisen erprobt werden können“ (Peer 2016, S. 137). Es lässt sich sagen, dass diese Forschungsinfrastrukturen die gemeinsame Innovationskreation von Kunden und Produzenten fördern, verschiedene Markttrends und -chancen miteinbeziehen, aber auch die Auswertung der entwickelten Konzepte und Innovationen beinhalten (Peer 2016, S.  319). Bergvall-­ Kareborn et al. definieren Living Labs wie folgt: „A Living Lab is a user-centric innovation milieu built on every-day practice and research, with an approach that facilitates user influence in open and distributed innovation processes engaging all relevant partners in real-life contexts, aiming to create sustainable values“ (Bergvall-Kareborn et al. 2009, o. S.). Beschrieben wird hier, dass Living Labs sowohl ein kundenbezogenes, offenes Umfeld als auch ein Ansatz zur Innovationskreation durch alle wichtigen Stakeholder darstellen. Dadurch sind die Living Labs sehr vielseitig einsetzbar. Die nächste Phase ist die Schöpfungsphase, welche Rocheska et al. als eine beschreiben, in der die Kunden eigenständig Innovationen kreieren oder Ansätze mitgestalten. Hierbei spielen die sogenannten Lead User (Rocheska et al. 2014, S. 37) eine große Rolle. Sie sind Kunden, welche Bedürfnisse erkennen, noch bevor diese kommerzialisiert werden (Kirchgeorg 2018, o. S.). Die Unternehmen stellen den Kunden Toolkits (Rocheska et al. 2014, S. 37) zur Verfügung, welche ihnen gemäß Christensen et  al. ermöglichen, innerhalb gewisser Rahmenbedingungen einen Teil zur Innovation beizutragen (Christensen et al. 2008, S. 70). Zur Überwindung von technischen Widersprüchen bei Produktdienstleistungssystemen sollten auch Innovationsprinzipien (= Lösungskonzepte) mitberücksichtigt werden (Koltze und Souchkov 2017, S. 69–70). In dieser Phase können die zuvor beschriebenen Living Labs auch eingesetzt werden, um das eigenständige Ideenentwerfen der Kunden zu ermöglichen. Der Kunde wird also aktiv in die Wertschöpfungskette einbezogen und kann somit einen wichtigen Beitrag zur Innovation leisten (Rocheska et al. 2014, S. 36–37).

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Die letzte Phase dieses Prozesses wird von Rocheska et al. Implementationsphase genannt. Hier werden innovative Produktdienstleistungssysteme zum ersten Mal benutzt. Um einen ersten Eindruck der Innovation zu erhalten und um sie zu testen, werden von dem Unternehmen meistens Studienteilnehmer beauftragt. Außerdem gibt es während der Implementation eine weitere Methode, in welcher sogenannte Showrooms (Rocheska et al. 2014, S. 37) Anwendung finden. In diesen Räumen werden den Kunden Innovationen präsentiert, während ihr Verhalten beobachtet wird, um weitere Präferenzen und Wünsche zu identifizieren. Zusätzlich können die Living Labs zum Testen der Innovationen verwendet werden (Rocheska et al. 2014, S. 36–37). Zur Evaluation des Innovationsprozesses sind Kennzahlen notwendig. In der Literatur wird zwischen Input-, Prozess-, Output- und Outcome-Kennzahlen unterschieden (Möller et al. 2011, S. 39–63). Zu den Inputzahlen gehört z. B. die Anzahl der Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung und die Höhe der Personalkosten in Forschung und Entwicklung. Zu den Prozesskennzahlen zählen die Anzahl erreichter Meilensteine und die Anzahl abgeschlossener Arbeitspakete. Outputkennzahlen fokussieren z. B. die Anzahl an Publikation und die Anzahl an Patenten. Outcome-Kennzahlen beziehen sich z. B. auf Kosteneinsparungen und das Unternehmenswachstum.

18.6 U  nternehmens- und Markteintrittsstrategien für Produktdienstleistungssysteme Unternehmen können passiv, reaktiv, strategisch und kreativ auf Veränderungen im Markt reagieren (Tidd und Bessant 2018, S. 71). Gemäß Tidd und Bessant erkennen passive Unternehmen nicht den Bedarf von Innovationen. Reaktive Unternehmen erkennen den Bedarf, aber sie wissen nicht, wie sie auf die Anforderungen reagieren sollen. Unternehmen, die strategisch handeln, sind gut entwickelt und können auf die Anforderungen reagieren und kontinuierlich an Verbesserungen arbeiten. Kreative Unternehmen nutzen nicht nur das regionale und nationale Technologie- und Marktwissen, sondern auch das internationale. Ihnen stehen ausreichend Ressourcen zur Verfügung, um sich neu zu definieren und weiterzuentwickeln (Tidd und Bessant 2018, S.  70–73). Zur Erschließung von Wachstumsquellen im Markt werden in der Literatur vier Strategiealternativen unterschieden: die Marktdurchdringung, die Marktentwicklung, die Produktdienstleistungsentwicklung und die Diversifikation (Bruhn und Hadwich 2017, S. 165–167). Produktdienstleistungssysteme werden nicht nur vom Absatzmarkt und dem Marktumfeld beeinflusst. Von großer Bedeutung ist der organisationale Forschungs- und Entwicklungsrahmen von Unternehmen. Hier entwickeln Mitarbeiter Produktdienstleistungs­ systeme, bereiten diese auf die Markteinführung vor und versuchen den optimalen Markteintrittszeitpunkt festzulegen, der Wettbewerbsvorteile bieten soll. Wenn ein Unternehmen als Erstes den Markteintritt wagt und sich vor den Wettbewerbern positioniert, gilt es als Pionier. Möglich ist auch der zeitgleiche Markteintritt mit einem anderen Wettbewerber. Tritt ein Unternehmen später als ein Wettbewerber mit einem Produktdienstleis-

18  Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im …

329

Umfang Forschung und Entwicklung

Investitionsbedarf

Strategisches Ziel

Pionierstrategie

sehr hohe Forschungsintensität

sehr hoch

Technologieführerschaft

Strategie der frühen Folger

intensive Forschungsarbeit

niedrig bis mittel

Kundenorientierung

Strategie der späten Folger

stark kundenorientierte Entwicklung

niedrig

Kundenorientierung

Imitationsstrategie

kein Forschungs-/ Entwicklungsaufwand

sehr gering

Kostenführerschaft

Abb. 18.5  Differenzierungsmerkmale von Markteintrittsstrategien. (Quelle: Darstellung nach Vahs und Brem 2015, S. 111)

tungssystem in den Markt ein, gilt das Unternehmen als Follower (König and Völker 2002, S. 125; Bruhn und Hadwich 2017, S. 170–173.). Abb. 18.5 zeigt Differenzierungsmerkmale von Markteintrittsstrategien auf (Vahs und Brem 2015, S. 110–112). Es wird zwischen der Pionierstrategie, der Strategie der frühen Folger, der Strategie der späten Folger und der Imitationsstrategie unterschieden.

18.7 I nnovationsgrad von Produktdienstleistungssystemen im Absatzmarkt Der Neuheitsgrad von Produktdienstleistungssystemen kann unterschiedlich im Markt ausgeprägt sein (siehe Abb.  18.6). Mit dem Neuigkeitsgrad von Innovationen sind verschiedene Sichtweisen verbunden. Radikale (revolutionäre) Innovationen sind darauf ausgerichtet, neue Absatzmärkte, Industrien, Geschäftsmodelle und Zielgruppen durch zuvor nicht bestehende Produktdienstleistungssysteme zu schaffen. In der Praxis sind radikale Innovationen mit hohem Risiko behaftet, da sie große Veränderungen im Markt und in Unternehmen bewirken (Vahs und Brem 2015, S. 66; Innolytics o. J. a, o. S.). Inkrementelle (evolutionäre) Innovationen beziehen sich auf die schrittweise Optimierung und die kontinuierliche Anpassung oder Verbesserung von existierenden Produktdienstleistungssystemen in bekannten Anwendungsgebieten (Vahs und Brem 2015, S. 66; Innolytics o. J. b, o. S.; Strebel 2007, S. 40–41). Einzelne unbürokratische Maßnahmen können von Unternehmensmitarbeitern durchgeführt werden, die zur Steigerung von Effizienz und Qualität beitragen. Breakthrough-Innovationen (bahnbrechende Innovationen) basieren auf Forschung und Entwicklung und die entstandenen einzigartigen Produktdienstleistungssys-

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A. Dautovic und M. A. Pfannstiel

radikale Innovation

inkrementelle Innovation

neuer Stand

alter Stand nachhaltige Innovation

bahnbrechende Innovation

disruptive Innovation

neuer Stand

neuer Stand

neuer Stand

alter Stand

alter Stand

alter Stand

skalierbare Innovation

modulare Innovation

architektonische Innovation

neuer Stand

neuer Stand

neuer Stand

neuer Stand

alter Stand

alter Stand

alter Stand

alter Stand

Abb. 18.6  Formen des Innovationsgrades von Produktdienstleistungssystemen. (Quelle: eigene Darstellung)

teme gehören zum State of the Art. Sie können weltweit Einfluss nehmen und beinhalten ein neues Angebot für Kunden. Kunden können bei Breakthrough-­Innovationen eine Verbindung zwischen eigenem Bedürfnis und vorliegendem Angebot aufbauen (Imber 2013, o. S.). Disruptive Innovationen verändern etablierte Märkte und brechen diese durch die Einführung unbekannter Produktdienstleistungssysteme, die technologiebasiert sind, auf. Bestehende Unternehmen im Markt können durch neue Produktdienstleistungssysteme verdrängt werden, da diese einen anderen Kundennutzen ansprechen. Mit der Markteinführung sind diese zunächst noch nicht ganz ausgereift (Christensen et al. 2013, S. 6; Innolytics o.  J.  c, o. S.). Sustaining-Innovationen (nachhaltige Innovationen) bestehen in einem existierenden und vorhersehbaren Markt. Bestehende Produktdienstleistungssysteme sind Kunden bekannt und werden schrittweise und pfadabhängig verbessert (von Stamm 2008, 486–487). Es können verschiedene Nachhaltigkeitsaspekte, wie z. B. soziale, wirtschaftliche und ökologische, eine Rolle im Forschungs- und Entwicklungsprozess spielen (Möller et al. 2011, S. 149). Skalierbare Innovationen sollen dazu beitragen, dass innovative Produktdienstleistungssysteme Regionen und Zielgruppen durchdringen und sich so ausbreiten, erweitern und anpassen können (Campo et al. o. J., S. 1–13). Modulare

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331

Innovationen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich eine oder mehrere Komponenten eines Produktdienstleistungssystems verändern. Jede Komponente verlangt unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Lernprozesse, die verändert werden können. Bei architektonischen Innovationen verändert sich die Architektur bzw. das gesamte Aussehen eines Produktdienstleistungssystems (Henderson und Clark 1990, S. 11). Zwischen den vorgestellten Betrachtungsweisen des Neuigkeitsgrades können Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten bestehen. Die Allgemeingültigkeit hängt immer vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab. Zu berücksichtigen ist, dass die Begriffserläuterungen in Abwandlung der ursprünglich entwickelten Betrachtungsweisen gebildet wurden.

18.8 Schlussbetrachtung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Absatzmarkt stark von den Bedürfnissen der Kunden getrieben und beeinflusst wird und Unternehmen gefordert sind die Bedürfnisse von Kunden zu erfüllen. Der Wandel im Absatzmarkt regt zu Veränderungen in Geschäftsprozessen an, um Kunden noch besser versorgen zu können. Gleichzeitig bestehen vielfältige Kundenerwartungen die mit den Veränderungen verbunden sind. Kunden möchten Produktdienstleistungssysteme jederzeit in Anspruch nehmen können, wenn diese benötigt werden. Sie legen Wert auf das Design und die Funktionalität von Produktdienstleistungssystemen. Ferner wünschen sie sich die kontinuierliche Verbesserung der Qualität und der technischen Ausstattung. Damit Veränderungen umgesetzt werden können, müssen Unternehmen Kunden in den Forschungs- und Entwicklungsprozess einbinden und den Markt und die Zielgruppen analysieren. Zur Verbesserung und Gestaltung von Produktdienstleistungssystemen sind Forschungspartnerschaften zwischen Wirtschaft und Wissenschaft notwendig. Universitäten sind als Wissensanbieter notwendig, während Unternehmen als Wissensabnehmer Vorteile ziehen können. Innovationshürden können z. B. durch Innovation Hubs, Accelerators, firmeninterne Inkubatoren und Innovation Labs überwunden werden. Die geringe Bereitschaft von Unternehmen, in langfristige Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit ungewissem Verlauf zu investieren, ist ein Hemmnis bei der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Die Wissenschaft verspricht sich Antworten auf und Lösungen für bestehende Problemstellungen in der Praxis. Sie kann dazu beitragen, Produktdienstleistungssysteme kontinuierlich und nachhaltig zu verbessern und weiterzuentwickeln.

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18  Einordnung und Entwicklung von Produktdienstleistungssystemen im …

333

Rocheska S, Kostoska O, Angeleski M, Mancheski G (2014) User-driven innovation: towards a new innovation paradigm. Econ Rev J Econ Bus XII(1):31–41. http://eprints.uklo.edu.mk/103/1/economic%20review.pdf. Zugegriffen am 26.11.2018 Sammut-Bonnici T (2015) Pest analysis. https://www.researchgate.net/publication/257303449_ PEST_analysis/link/59f6ffd10f7e9b553ebd4a2a/download. Zugegriffen am 20.10.2019 Specht D, Möhrle MG (2002) Gabler Lexikon, Technologie Management A – Z, Management von Innovationen und neuen Technologien im Unternehmen. Gabler, Wiesbaden von Stamm B (2008) Managing innovation, design and creativity, 2. Aufl. Wiley, Chichester Strebel H (2007) Innovations- und Technologiemanagement, 2. Aufl. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien Theobald E. (o. J.) Pestel – Analyse, Die wichtigsten Einflussfaktoren der Makroumwelt, Management Monitor. https://www.management-monitor.de/de/infothek/whitepaper_pestel_Analyse. pdf. Zugegriffen am 20.10.2019 Tidd J, Bessant J (2018) Managing Innovation, Integreating Technological, Market and Organizational Change, 6. Aufl. Wiley, Hoboken Tukker A (2004) Eight types of product-service system: eight ways to sustainability? Experiences from SusProNet. Bus Strateg Environ 13(4):246–260 Tukker A, Tischner U (2006) Product-services as a research field: past, present and future, reflections from a decade of research. J Clean Prod 14(17):1552–1156 Vahs D, Brem A (2015) Innovationsmanagement, Von der Idee zur erfolgreichen Vermarktung, 5. Aufl. Schäffer Poeschel, Stuttgart Wimmer R, Kang MJ, Tischner U, Verkuijl M, Fresner J, Möller M (2008) Erfolgsstrategien für Produkt-Dienstleistungssysteme, Nr. 35. Bundesministerium für Verkehr. Innovation und Technologie, Wien Wirawan C, Yudoko G, Lestari YD (2018) Developing a conceptual framework of product-service system management toword firms‘ sustainability for Indonesian industrial estate firms. Adv Sci Technol Eng Syst J 3(5):128–139

Alma Dautovic  studiert seit September 2017 an der Hochschule Neu-Ulm Betriebswirtschaft im Gesundheitswesen. Darüber hinaus ist sie als studentische Hilfskraft im Institut für Vernetzte Gesundheit tätig. Ihr praktisches Fachsemester absolvierte sie in dem Unternehmen OnkoZert, welches in Zusammenarbeit mit der Deutschen Krebsgesellschaft onkologische Zentren zertifiziert. Für ihr weiteres Studium entschied sie sich für die Vertiefungsfächer „Innovationsmanagement“ und „Strategisches Management“, da ihr Forschungsinteresse sich auf das Gebiet des Entstehungsprozesses von Innovationen erstreckt. Mario A.  Pfannstiel  ist Professor für Betriebswirtschaftslehre im Gesundheitswesen, insbesondere innovative Dienstleistungen und Services, an der Hochschule Neu-Ulm. Er besitzt ein Diplom der Fachhochschule Nordhausen im Bereich „Sozialmanagement“ mit dem Vertiefungsfach „Finanzmanagement“, einen M.-Sc.-Abschluss der Dresden International University in Patientenmanagement und einen M.-A.-Abschluss der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität Witten/Herdecke im Management von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Die Promotion erfolgte an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und dem Lehrstuhl für Management, Professional Services und Sportökonomie der Universität Potsdam. An der Universität Bayreuth war er beschäftigt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strategisches Management und Organisation im Drittmittelprojekt „Service4Health“. Im Herzzentrum Leipzig arbeitete er als Referent des Ärztlichen Direktors. Seine Forschungsarbeit umfasst zahlreiche Beiträge, Zeitschriften und Bücher zum Management in der Gesundheitswirtschaft.

Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im ländlichen Raum

19

Guntram Fischer

Inhaltsverzeichnis 19.1  I nnovationsdruck durch Veränderung der Rahmenbedingungen  19.1.1  Demografische Veränderungen – Älter werdende Bevölkerung und Multimorbidität  19.1.2  Lösungsansatz  19.1.3  Beispiele für Ärztehäuser und Gesundheitszentren  19.2  Schlussbetrachtung  Literatur 

 336  337  338  340  343  343

Zusammenfassung

Die zunehmende Multimorbidität der Bevölkerung und der Anstieg der Zahl chronisch kranker Menschen treffen auf einen Generationswechsel in der niedergelassenen Versorgung, den Abbau wohnortnaher stationärer Versorgungsstrukturen und die Feminisierung der Medizin. Die äußeren Einflüsse bedingen den Wandel der ambulanten Versorgung in Richtung angepasster, innovativer und nachhaltiger Strukturen, die eine gute medizinische Versorgung gewährleisten und attraktive Rahmenbedingungen für die nächste Generation niedergelassener Ärzte gestalten. Die Schließung von Krankenhäusern im ländlichen Raum hat Auswirkungen nicht nur auf die ambulante Versorgung, sondern auch auf die Vorhaltung von Ressourcen in anderen Versorgungsbereichen, wie z. B. der rettungsdienstlichen Notfallversorgung. Anhand der Analyse der Veränderungen wird eine innovative Versorgungskonzeption zur Lösung der gravierenden Problematik vorgeschlagen. G. Fischer (*) Fischer + Rauch, Maierhöfen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_19

335

336

G. Fischer

19.1 I nnovationsdruck durch Veränderung der Rahmenbedingungen Die Situation der Gesundheitsversorgung in ländlichen Räumen Deutschlands ist gekennzeichnet durch zwei wesentliche Veränderungstendenzen: Zum einen werden aufgrund der Zielsetzung von Politik und Kostenträgern zunehmend Krankenhäuser in ländlichen Bereichen geschlossen. Dies hängt auch damit zusammen, dass laut Gesundheitsökonomen eine Notaufnahme eines Krankenhauses mit unter 300 Betten nicht wirtschaftlich betrieben werden kann. Diese Forderung hat sich zwischenzeitlich auch die Politik zu eigen gemacht (Preusker 2017). Zum anderen wird, bedingt durch die Altersstruktur besonders im allgemeinmedizinischen ambulanten Bereich, eine Ruhestandswelle bei den niedergelassenen Ärzten in den nächsten 5 Jahren vorausgesehen. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass trotz einer älter und kranker werdenden Bevölkerung mit höherem Betreuungsund Versorgungsbedarf im ländlichen Bereich sowohl die stationären als auch die ambulanten medizinischen Versorgungsangebote zurückgehen werden. Längere Anfahrtswege für die ältere und weniger mobile Bevölkerung wie auch längere Wartezeiten für eine medizinische Behandlung werden daher nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. Die zu erwartenden Auswirkungen betreffen auch andere Bereiche der medizinischen Versorgung, wie zum Beispiel Rettungsdienst und Krankentransport, die besonders in ländlichen Räumen in Zukunft deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung stellen müssen. In einer Masterarbeit an der Hochschule in Kempten wurden speziell die Auswirkungen auf die Rettungsdienstversorgung durch die Schließung der im Westallgäu liegenden Krankenhäuser Isny und Leutkirch untersucht (Matuschek-Geisler 2019). Ziel dieser Studie war es, die Auswirkungen, die durch die Schließung von Akutkrankenhäusern in ländlichen Räumen auf die rettungsdienstliche Notfallversorgung möglicherweise zukommen, herauszuarbeiten. Anhand der Parameter Einsatzaufkommen, Einsatzzeiten und Prähospitalzeiten konnte gezeigt werden, dass für sämtliche Rettungsmittel in den Rettungsdienstbereichen Leutkirch und Isny nach Schließung der dortigen Krankenhäuser eine überproportionale Zunahme auftrat. Durch die Auswertung der Einsatzdaten aller rettungsdienstlichen Einsätze mit Sonder- und Wegerecht der Jahre 2011 bis 2016 konnte nachgewiesen werden, dass diese Krankenhausschließungen massive Auswirkungen auf die dortige rettungsdienstliche Notfallversorgung auslösten. Es kam zu einer überproportionalen Steigerung des Einsatzaufkommens von 26 % bis 31 % für Rettungswagen, von 10 % bis 27 % für Notarzteinsatzfahrzeuge und von 44 % bis 52 % bei Rettungshubschraubereinsätzen. Ebenso resultierte eine deutliche Verlängerung der Einsatzzeiten um 17–23 min. Diese Daten liegen weit über den Steigerungsraten in der Kontrollgruppe (RTW: 12 %, NEF: 11 %, RTH: 8 % sowie eine Verlängerung der Einsatzzeiten in der Kontrollgruppe von 4 min). Eine interessante Beobachtung dieser Studie war, dass vor der Schließung der Krankenhäuser Isny und Leutkirch immerhin 24 % der Notfallpatienten im rein internistischen Krankenhaus Isny vorgestellt wurden und 50 % sogar im grundversorgenden Krankenhaus

19  Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im …

337

Leutkirch. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Maßnahmen in einem Sektor durchaus deutliche Auswirkungen in anderen Sektoren und Bereichen der medizinischen Versorgung haben (Matuschek-Geisler 2019, S. 54–63).

19.1.1 Demografische Veränderungen – Älter werdende Bevölkerung und Multimorbidität Durch die Zunahme der über 60-Jährigen und die damit verbundene Multimorbidität ergibt sich ein höherer medizinischer Behandlungsbedarf gerade bei Chronikern und multimorbiden Patienten (Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz, maligne Erkrankungen). 62  % der Menschen über 65 Jahren sind nach dieser Definition schon heute multimorbide. Eine Auswertung des BKK-Bundesverbandes für das Jahr 2013 ergab folgende Verteilung der Diagnosehauptgruppen der ambulant behandelten Patienten ab 65 Jahre (Knieps und Pfaff 2014, S. 199): • Kreislaufsystem • Stoffwechselkrankheiten • Muskel-Skelett-System • Urogenitalsystem

83,6 % 74,5 % 71,7 % 51,9 %

Die Herausforderung der Gesundheitsversorgung auch auf kommunaler Ebene ist in den nächsten Jahrzehnten die Anpassung an die Bedürfnisse einer älter und multimorbider werdenden Bevölkerung. cc

Aus der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes geht hervor, dass die Problembereiche einer älter werdenden Bevölkerung und der Zunahme von chronischen Erkrankungen (Multimorbidität) eine bessere Koordination der Akteure notwendig machen.

Als Ansätze für die Umsetzung existieren bereits verschiedene Werkzeuge, wie Selektivverträge, Etablierung von medizinischen Versorgungszentren (MVZ), Nutzung und Aufbau von Ärztenetzen sowie Disease-Management-Programme (DMP). In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes unter dem Titel: „Gesundheit in Deutschland“ (RKI und DESTATIS 2015, S.  284–285) werden folgende wesentliche Punkte einer kommunalen Gesundheitsförderung angegeben: 1 . eine gesundheitsfördernde kommunale Gesamtpolitik (Health Public Policy), 2. die Förderung einer intersektoralen Zusammenarbeit (i. S. eines Zusammenbringens der Akteure in Form von kommunalen Gesundheitskonferenzen zur Vernetzung aller Einrichtungen aus: gesundheitsrelevanten Bereichen, Bildung, Sport, Verkehr, Stadtentwicklung, Umwelt, Wirtschaft und soziale Dienste),

338

G. Fischer

. eine verstärkte Partizipation/Teilhabe der Bevölkerung, 3 4. Etablierung einer kommunalen Gesundheitsberichtserstattung als Entscheidungs grundlage für gesundheitsfördernde Gesamtpolitik. Auch im Bereich der niedergelassenen Ärzteschaft kommt es zu demografisch bedingten Veränderungen. So liegt das Durchschnittsalter der Hausärzte/Allgemeinmediziner laut Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW 2018) bei 56,1 Jahren. Gleichzeitig wird ein Nachwuchsmangel besonders bei Allgemeinmedizinern und Kinderärzten beklagt. Angesichts einer Anzahl von Medizin studierenden Frauen im Umfang von 61 % (stabil seit 10 Jahren) kann berechtigt von einer „Feminisierung der Medizin“ gesprochen werden. Dies hat sowohl für den stationären (Krankenhausbereich) wie auch für den ambulanten (Niederlassungen) Sektor die Folge, dass über neue Arbeitszeitund vor allem Teilzeitmodelle nachgedacht werden muss, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten können. Besonders im niedergelassenen Bereich kommt es zur Ausdünnung in ländlichen Bezirken, während eine Konzentration der Niederlassungen in den Städten zu erwarten ist. Hier scheint für Frauen und deren Familien ein attraktiveres Umfeld zu sein. Wird der Anteil der über 60-Jährigen nach Fachgruppen im niedergelassenen Bereich betrachtet, so fällt auf, dass besonders Hausärzte mit 36 % und die Psychotherapeuten mit 41 % die größten Kontingente der über 60-Jährigen darstellen (KVBW 2018). Der Umkehrschluss hieraus ist, dass diese allgemeinmedizinischen und psychotherapeutischen Niederlassungen in diesem Umfang in den nächsten fünf Jahren nachzubesetzen sind. Die Ansprüche der neuen Ärztegeneration konzentrieren sich auf: • • • • •

Work-Life-Balance („arbeiten, um zu leben“, und nicht „leben, um zu arbeiten“), verlässliche Arbeitszeiten um Familie und Beruf zu vereinbaren, Arbeiten im Team und interdisziplinärer Austausch und Abstimmung, ein breites medizinisches Versorgungsgebiet mit Spezialisierungsmöglichkeiten, Entlastung von administrativen Tätigkeiten, um eine Konzentration auf fachliche Kompetenzen zu ermöglichen, • und eine intensive Unterstützung und Begleitung beim Übergang aus der Krankenhausin die KV-Welt. Insgesamt ist eine zunehmende Tendenz zur kooperativen Berufsausübung auch im niedergelassenen Bereich zu erkennen. Dies wird durch die kassenärztlichen Vereinigungen unter anderem durch sogenannte Kooperationszuschläge auf das Regelleistungsvolumen abrechnungstechnisch unterstützt.

19.1.2 Lösungsansatz Ein Lösungsansatz für den ambulanten Sektor ist, auch hier eine Ressourcenbündelung und stärkere Vernetzung zu ermöglichen. So müssen besonders in ländlichen Bereichen

19  Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im …

339

attraktive Rahmenbedingungen für den ärztlichen Nachwuchs geschaffen werden. Denkbar wäre ein niederschwelliges Angebot mit einer Angestelltentestphase vor einer geplanten Sitzübernahme und verstärkt kooperative Berufsausübung, die wiederum neue und größere Praxisstrukturen benötigt. Idealerweise wird eine fachübergreifende ärztliche Versorgung in einer einheitlichen räumlichen Struktur ermöglicht. Dies nur unter dem Begriff eines „Ärztehauses“ zu betrachten, greift jedoch deutlich zu kurz. Ein Gesundheitszentrum geht deutlich darüber hinaus, da hier als Kern das Thema Familienmedizin (Allgemeinmediziner und Kinderärzte) ergänzt wird durch Fachärzte mit spezialisierter Diagnostik sowie medizinnahem Gewerbe, wie Sanitätshäuser, Apotheken in Kombination mit erweiterten therapeutischen Angeboten, wie Physiotherapie, Logotherapie und ambulante Rehabilitation. Ein optionales Erweiterungsmodul wäre die Errichtung von ambulanten Operationszentren, sodass ein niederschwelliges und wohnortnahes operatives Angebot im ländlichen Bereich gewährleistet werden könnte. cc

Diese Struktur eines Gesundheitszentrums steht in enger Kooperation mit akutmedizinischen Einrichtungen aus dem stationären Bereich wie Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken und Pflegeheimen oder auch sozialen Einrichtungen.

Der Leistungsumfang der geplanten Gesundheitszentren hat sich an der demografischen Entwicklung und der Veränderung der Morbiditätsstruktur zu orientieren. Aufgrund der o. g. demografischen Veränderungen ist die Kombination einer Ärztehausstruktur (haus- und fachärztliche Versorgung) mit einer Altenpflegeeinrichtung (i. S. e. Wohnparkkonzeptes mit Seniorenwohneinheiten, Pflegeeinrichtung und kurzstationärer Betreuungsmöglichkeit sowie Tagespflege) sinnvoll. Synergieeffekte kämen durch die Nähe der medizinisch-ärztlichen Versorgung sowohl im allgemeinmedizinischen wie im fachärztlichen Bereich zur Altenpflegeeinrichtung zustande. Außerdem könnte im Altenpflegebereich ein fließender Übergang zwischen seniorengerechtem Wohnen und Pflege bzw. einer kurzstationären Pflegeeinheit bei sich verschlechternden Gesundheitszuständen erreicht werden. cc

Letztlich könnte durch eine gemeinsame Nutzung eines sogenannten kurzstationären Bereiches (welcher durch Ärztehaus und Pflegeeinrichtung genutzt und betrieben wird) eine wesentliche Verbesserung der wohnortnahen Versorgung der Bevölkerung im ländlichen Bereich erreicht werden.

Durch ein solches Konstrukt können zukünftig Krankenhauseinweisungen vermieden werden. Vor allem bei Patienten, welche für eine Weiterbetreuung im häuslichen Bereich nicht mehr geeignet sind, jedoch auch nicht die Kriterien einer Krankenhausversorgung erfüllen. Denn oft sind es im sozialen Bereich liegende Gründe, welche zu einer Krankenhauseinweisung eines älteren Menschen führen.

340

G. Fischer

19.1.3 Beispiele für Ärztehäuser und Gesundheitszentren Bereits heute gibt es diverse Modellprojekte, die nach kommunaler Größe skalierbar sind. Eines davon ist das Ärztehaus Gaildorf (Zentrum Familienmedizin im Ärztehaus Gaildorf 2019; 12.093 Einwohner), welches auf einer Gesamtfläche von 3500  m2 einerseits ein Zentrum für Familienmedizin, bestehend aus drei Fachärzten für Allgemeinmedizin, einem Facharzt für innere Medizin, einem Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und einer Weiterbildungsassistentin für Kinder- und Jugendmedizin, vorhält. Diese Grundstruktur wurde ergänzt um eine gynäkologische und eine orthopädische Praxis, einen Operationsbereich für interne und externe Nutzung, eine Physiotherapiepraxis, eine Apotheke, eine Bäckerei mit Café und eine Niederlassung der AOK. Modellprojekt sektorenübergreifende Versorgungsplanung für die Modellregion Süd-Württemberg Laut einer Mitteilung der 4. Landesgesundheitskonferenz Baden-Württemberg vom 19.10.2016 wird unter TOP 3: „Sektorenübergreifende Versorgung in Baden-­Württemberg“ festgehalten (Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg 2018, S. 6): Neben der Akutversorgung der Bevölkerung besteht die wohl wichtigste Aufgabe der Gesundheitsversorgung künftig in einer adäquaten und bedarfsgerechten Versorgung von chronisch und mehrfach erkrankten Patienten in einer älter werdenden Bevölkerung. Das Ministerium für Soziales und Integration in Baden-Württemberg fördert seit Januar 2016 über einen Zeitraum von zwei Jahren ein Modellprojekt zur sektorenübergreifenden Versorgung unter dem Titel: Sektorenübergreifende Versorgungsplanung für die Modellregion Süd Württemberg (Reutlingen, Biberach, Ravensburg).

Konzept für lokal angepasste Gesundheitszentren In der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg (Schwarzwald-Baar-Kreis, Tuttlingen, Rottweil) soll ein Konzept für lokal angepasste Gesundheitszentren oder andere Kooperationsmodelle entwickelt werden. Da sich gerade im ländlichen Raum die Situation im Ärztemangel verschärft, könnte eine Antwort auf diese Verschiebungen die Etablierung zentraler Ärztehäuser sein. Es sollen die Morbidität, der Istzustand der ambulanten (haus- und fachärztlichen) und der teilstationären Gesundheitsversorgung sowie der Patientenströme beschrieben werden. Außerdem soll der zukünftige Versorgungsbedarf perspektivisch aufgezeigt werden. Das Büsumer Modell (Ärztezentrum Büsum gGmbH 2017) Hier baut und betreibt die Kommune ein Gebäude mit sogenannten Gemeindepraxen, in denen mehrere Haus- und Fachärzte ihre Patienten behandeln können und sich Geräte, Funktionsräume und Personal teilen. Im Modell 1 betreiben die Ärzte ihre Praxen dort entweder selbst in eigener Niederlassung ähnlich einer Praxisgemeinschaft oder werden

19  Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im …

341

im Modell 2 im Kommunal-MVZ als angestellte Ärzte tätig. Die Organisation und das Tagesgeschäft werden durch die Ärztegenossenschaft Nord (ein Praxisnetz) erbracht. cc

Hintergrund dieser Modelle ist auch, dass die ärztliche Versorgung in ländlichen Kommunen mehr und mehr zu einem wichtigen Standortfaktor wird.

Solche Gesundheitszentrumsstrukturen stellen jedoch auch höhere Anforderungen an die Finanzierung und vor allem deren Management. Gut gestaltet könnte jedoch die Ermöglichung diverser und vielfältiger Synergien sowohl für die dort tätigen Ärzte und Praxen sowie auch für einen koordinierten optimierten Behandlungsverlauf der Patienten resultieren. Es geht im Kern um eine bessere Vernetzung der einzelnen Leistungserbringer, die Sicherstellung eines Informationsflusses und im übergeordneten Sinn um die Einführung eines effizienten Case-Managements. cc

Der Patient soll durch das System geführt werden und Insuffizienzen durch Informationsbrüche und Doppeluntersuchungen können vermieden werden.

Aus diesen Gedanken und den Erfahrungen aus den Modellprojekten ergibt sich ein potenzielles Leistungsspektrum für Gesundheitszentren: • hausärztliche und fachärztliche Versorgung mit der Vorhaltung von Verfügungspraxen (wesentliche Kriterien: Durchführung eines effektiven Case-Managements durch die Hausärzte, Nutzung moderner IT-Infrastrukturen für zeitnahen und verlustfreien Informa­ tionsaustausch, Verbesserung der Erreichbarkeit, Zugriff auf Online-­Terminplanung), • ergänzende Therapieeinrichtungen wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logotherapie, • gesundheitsnahes Gewerbe (Apotheke, Sanitätshaus, Optiker, Hörgeräteakustiker), • ambulantes Operationszentrum (AOZ), ggf. mit „Privatklinik nach § 30 GewO“/Sonderbau Krankenanstalt, um im Rahmen von integrierten Versorgungsverträgen eine kurzstationäre/tagesklinische Versorgung für operativ versorgte Patienten zu ermöglichen, • Tages- und Nachtpflege in Kooperation mit Pflegeeinrichtung. Wichtige Komponenten eines Gesundheitszentrums sind daher: • • • • • •

Hausarztverträge, hausarztzentrierte Versorgung (HZV), Facharztverträge, Disease-Management-Programme (DMP), integrierte Versorgungsmodelle (IGV) – Besondere Versorgung, konsequentes Umsetzen des gesetzlich vorgeschriebenen Entlassmanagements mit Organisation der Übergangsversorgung (stationär – ambulant, stationär – Reha, Reha – ambulant),

342

G. Fischer Übergangsversorgung im häuslichen Umfeld

Sozialstation

Behandlungspfad

Einweisung

Übergangsversorgung im häuslichen Umfeld

Gesundheitszentrum

Wesentliche Bestandteile: • Hausarztverträge • Facharztverträge • Entlassungsmanagement • Übergangsversorgung • Case-Management

Krankenhaus

Entlassungsmanagement/ Übergangsversorgung

• Hausärzte, NäPa, VERAH, CaseManagement • Fachärzte (Diagnostik, spez. Behandlung) • Apotheke • Sanitätshaus • Physiotherapie/Logotherapie, amb. Reha • Ambulantes Operationszentrum (AOZ)

Rehabilitation

Pflegeheim • Tages-/Nachtbetten • Vorhaltung • Übergangsversorgung

Abb. 19.1  Modellstruktur eines Gesundheitszentrums. (Quelle: eigene Darstellung)

• Einbindung der vorhandenen Strukturen, wie zum Beispiel –– entlastende Versorgungsassistentinnen (EVA), –– nichtärztliche Praxisassistentinnen (NäPa), –– Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis (VERAH), • die Nutzung von Tages- und/oder Nachtbetten in Pflegeheimen. Diese teilweise bereits existierenden oder noch vor Ort zu etablierenden Strukturen bieten Ansätze einer qualifizierten Versorgung von älteren Patienten bis hin zur Unterstützung durch aufeinander abgestufte Versorgungselemente zur Gewährleistung eines Verbleibs in der gewohnten häuslichen Umgebung. Hier ist für jede Region eine auf die individuellen Gegebenheiten angepasste Versorgungsstruktur zu etablieren (siehe Abb. 19.1). Es geht eher um die intensivere Vernetzung der Beteiligten im Sinne eines effizienten Case-Managements als um den Aufbau alternativer stationärer Strukturen. cc

Aufgrund der jeweiligen regionalen Morbiditätsstruktur der Bevölkerung ist zu überprüfen, welches medizinische Angebot vor Ort benötigt und wirtschaftlich sinnvoll umsetzbar ist. Es werden dazu die statistischen Daten zu den Bereichen:

• • • •

Bevölkerung und Morbiditätsstruktur, vorhandene Behandlungsangebote im Bereich ambulante und stationäre Versorgung, Rehabilitation, Altenheime/Pflegeeinrichtungen

berücksichtigt.

19  Gesundheitszentren als innovative Lösung der absehbaren Versorgungskrise im …

343

Gesundheitszentren sind der Ansatz um den aufgrund der demografischen Veränderungen und der veränderten Morbiditätsstruktur bedingten Anforderungen durch die Kombination aus Senioren- und Gesundheitseinrichtungen auf kommunaler Ebene Lösungsmodelle entgegenzusetzen. Durch den Einsatz der viel gepriesenen Digitalisierung in der Medizin könnte eine wohnortnahe Chronikerversorgung z. B. dadurch gestaltet werden, dass eine oder mehrere Filialpraxen digital angebunden werden. So kann durch das Vorhalten von ­entsprechendem nichtärztlichen Fachpersonal in Verbindung mit einer Videosprechstunde und dem Zugriff auf die digital vorhandenen Patientenakten eine optimierte Chronikerversorgung wohnortnah ermöglicht werden. Leider verhindert die Systemrigidität und die unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen  der Sektoren des deutschen Gesundheitswesens innovative Konzepte, bei denen auch eine kurzstationäre Behandlungsoption im ambulanten Setting ermöglicht würde. So wird zwar im SGB V § 122 ein Katalog ambulant oder stationär durchführbarer Behandlungen gefordert, jedoch bislang nicht umgesetzt. So fehlen bis heute schlicht und einfach die abrechnungstechnischen Möglichkeiten zur Umsetzung innovativer Versorgungsstrukturen in Deutschland.

19.2 Schlussbetrachtung Die Veränderungen in der Gesundheitsversorgung besonders in ländlichen Räumen müssen durch innovative ambulante Versorgungskonzepte begleitet werden. Diese bedingen einen Strukturwandel in den niedergelassenen Praxisstrukturen hin zu größeren Einheiten, die einerseits den sich ändernden Versorgungsbedarf einer älter und multimorbider werdenden Bevölkerung gerecht werden und andererseits attraktive Arbeitsbedingungen für die niedergelassenen (überwiegend) Ärztinnen in der Zukunft ermöglichen. Neben Gesund­ heitszentren, die zusätzlich zu verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen auch nichtärztliche Versorgungsangebote und medizinnahes Gewerbe integrieren, müssen auch die Auswirkungen des Strukturwandels durch Krankenhausschließungen auf andere Bereiche (z.  B.  Rettungsdienst und Krankentransport) im Rahmen einer sektorenübergreifenden Gesundheitsplanung antizipiert werden.

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G. Fischer

Matuschek-Geisler J-A (2019) Die Auswirkungen von Krankenhausschließungen in ländlichen Räumen auf die rettungsdienstliche Notfallversorgung am Beispiel des Westallgäus Masterarbeit, Hochschule Kempten, University of Applied Sciences, Kempten Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (2018) Sektorenübergreifende Versorgung in Baden-Württemberg, Gesundheitsdialog Baden Württemberg. https://www.gesundheitsdialog-bw.de/gesundheitsdialog/kreisebene/modellprojekt-sektorenuebergreifende-versorgung/. Zugegriffen am 03.06.2019 Preusker SC (2017) Baden-Württemberg: Lucha hält Krankenhausschließungen für unausweichlich. https://www.medhochzwei-verlag.de/News/Details/64044. Zugegriffen am 03.06.2019 RKI und DESTATIS (2015) Gesundheitsberichterstattung des Bundes, gemeinsam getragen von RKI und Destatis. Gesundheit in Deutschland, Berlin Stadtverwaltung Gaildorf (2019) Startseite. Gaildorf. https://www.gaildorf.de/de/leben/menschen/ gesundheit-pflege/aerztehaus/. Zugegriffen am 03.06.2019

Dr. med. Guntram Fischer,  MBA, ist Facharzt für Anästhesiologie mit langjähriger Erfahrung im Bereich des ambulanten Operierens in eigener Niederlassung. Nach Facharztausbildung und leitender Tätigkeit in mehreren ambulanten Operationszentren im südbayerischen Raum realisierte er 2017 den kompletten Neubau eines AOZ in Kempten. Anfang der 2000er-Jahre Pilotpraxis für das QEP®-System (QM-System der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin) und Ausbildung zum QEP®-Trainer sowie Qualifikationsnachweis Qualitätsmanagement der Bayerischen Landesärztekammer. MBA (Betriebswirtschaft für Ärzte) an der Hochschule Neu-Ulm 2014 mit anschließender Tätigkeit als Leiter medizinische Prozesse und Betrieb am Klinikum Kempten und Geschäftsführer der Dreiländerklinik Ravensburg. Referententätigkeit bei Ärztekongressen und diverse Buch- und Zeitschriftenbeiträge zu Themen der Anästhesiologie, des Qualitätsmanagements und des Praxismanagements. Gastdozent an der Hochschule Kempten an der Fakultät Soziales und Gesundheit. Seit 2016 Partner der Beratungsgesellschaft Fischer & Rauch GbR, Kempten.

Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und mittelständischen Unternehmen bei Innovationen im Gesundheitssektor

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Dagmar Krefting und Peter Hufnagl

Inhaltsverzeichnis 20.1  Einleitung  20.2  Rahmenbedingungen an der Hochschule  20.3  Innovation Support Process  20.4  Struktur und Ausstattung des IHDH  20.5  Entwicklung des IHDH  20.6  Herausforderungen in der Innovationsunterstützung  20.7  Ausblick  20.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

 346  347  349  351  352  353  354  355  356

Zusammenfassung

Die Digitalisierung durchzieht inzwischen weite Teile der Gesellschaft. Auch der Gesundheitssektor befindet sich zurzeit im digitalen Wandel. Dabei steht die Gesundheitsbranche, die in Deutschland zum großen Teil aus kleinen und mittelständischen Unternehmen besteht, vor völlig neuen Herausforderungen. War die Entwicklung bisher aufgrund der aufwendigen und kostenintensiven Zertifizierungen eher durch inkrementelle Innovation geprägt, sind heute sowohl technisch als auch politisch Lösungen möglich, die noch vor wenigen Jahren kaum Marktchancen gehabt hätten. Auch die digitale Start-up-Szene ist im Gesundheitsbereich sehr aktiv. Die notwendigen Expertisen, um sich diesen Herausforderungen zu stellen und mit innovativen Lösungen wettbewerbsfähig zu bleiben, sind dabei so vielfältig, dass sie in kleineren Unternehmen oft nur D. Krefting (*) · P. Hufnagl Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_20

345

346

D. Krefting und P. Hufnagl

unvollständig zur Verfügung stehen. Hier setzt der Innovation Hub Digital Health (IHDH) an, der Unternehmen der Gesundheitsbranche einen einfachen Zugang der an der Fachhochschule existierenden Expertisen und Ressourcen bieten soll. In diesem Betrag werden das Konzept sowie die praktischen Erfahrungen nach zweieinhalb Jahren Laufzeit vorgestellt und kritisch diskutiert.

20.1 Einleitung Digitalisierung im Gesundheitswesen ist ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema. Die Bundesregierung hat mit verschiedenen Gesetzes – und Förderinitiativen den Rahmen für Innovationen im Bereich E-Health neu definiert. Das E-Health-Gesetz (Bundestag 2015) sowie die Lockerung des Fernbehandlungsverbots (Bundesärztekammer 2019) erleichtern den Einsatz von Telekommunikation im Behandlungskontext. Die aktuelle BMBF-Hightechstrategie weist im Fachgebiet Gesundheit insbesondere die Bereiche „Digitalisierung in der Medizin“, „Individualisierte Medizin“ und „Gesundheitswirtschaft – Innovationen für den Menschen“ als Förderschwerpunkte aus (BMBF 2018). War die Gesundheits­ branche bisher sehr stark durch Regularien wie das Medizinproduktegesetz und eine eher restriktive Anwendung des Datenschutzes geprägt, die eher zu inkrementellen Innovationen führten, wird zunehmend eine schnellere Adaption von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) für das Gesundheitswesen gefordert. Ein Beispiel dafür ist das klar formulierte Ziel des Gesundheitsministers, dass Daten der gesetzlichen Gesundheitskarte der Bevölkerung auch auf dem Smartphone zur Verfügung stehen sollen (F.A.S. 2018). Dabei sind die technischen Möglichkeiten, Gesundheitsdaten dauerhaft sicher online zu speichern, zurzeit nicht gegeben. Bereits existierende von den Krankenkassen angebotene Lösungen für mobile Patientenakten zeigen durchweg kritische Sicherheitslücken (Tschirsich 2018). Ein anderes Beispiel sind die ersten auf künstlicher Intelligenz basierenden medizinischen Entscheidungsunterstützungsverfahren, die durch die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurden (Mulero 2019; Topol 2019). Dabei gibt es bisher keinen Evaluationsprozess, der beispielsweise mit der Zulassung von Medikamenten oder Biomarkern vergleichbar wäre (Parikh et al. 2019). Dies zeigt, dass zum einen auch disruptive Innovationen im Gesundheitssektor eine Chance haben, zum anderen aber auch Technologien, wie z. B. mobile Anwendungen, die in weniger regulierten Branchen heute bereits eine Selbstverständlichkeit sind, nun auch im Gesundheitsmarkt Einzug erhalten (Russo 2016; Müller-Mielitz et al. 2017; Pfannstiel et al. 2018; Meier et al. 2019). Dies stellt aber Unternehmen in vielerlei Hinsicht vor Herausforderungen: Etablierte Unternehmen benötigen nun vielfältige Expertise in moderner IKT, wie z. B. Cloud-, Edge-, und Mobile-Computing, sichere Speicherung und Kommunikation im Internet sowie Methoden der Analyse von großen und heterogenen Gesundheitsdaten, zunehmend mit Methoden der künstlichen Intelligenz. Auf der anderen Seite benötigen Start-ups oft Expertise für das Verständnis der komplexen R ­ egularien im Ge-

20  Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und …

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Partner Technik? Verfahren? Produkt? Markt? Geschäftsmodell?

Technologie-Entwicklung Produkt-/Markteintritts-Strategie

Angewandte Forschung

Ideenfindung / Projekt-Initialisierung

Mitarbeiter/innen Studierende Professor/innen

Wissenschaftliches Netzwerk

Expertise Lösungskonzept Demonstrator Businesskonzept

Forschung und Entwicklung

Labore IKT-infrastrukturen Spezialgeräte

Technische Ausstattung

Abb. 20.1  Der Innovation Hub Digital Health dient als zentraler Kontaktpunkt für Unternehmen auf der Suche nach wissenschaftlicher Expertise für eine Innovationsidee. (Quelle: Eigene Darstellung)

sundheitsmarkt. Viele Start-ups scheitern an Fragen der Zulassung, des Marktzugangs oder der Inkompatibilität von Geschäftsmodellen, die in anderen Marktsegmenten gang und gäbe sind (Cassala 2017). Sowohl diese Expertise als auch die notwendigen Labore und die relevante Infrastruktur zum Testen von neuen Lösungen sind an vielen staatlichen Fachhochschulen mit einem breiten Fächerangebot vorhanden, so auch an der „Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin“ (HTW Berlin). Darüber hinaus gehört der Transfer der aktuellen Forschungsergebnisse in die Industrie wesentlich zum Selbstverständnis von Fachhochschulen. Die Herausforderung ist es hier, den Unternehmen einen möglichst einfachen Zugang zu dieser Expertise zu ermöglichen und diese zielorientiert und praxisnah zu unterstützen, siehe Abb. 20.1. Mit diesem Ziel ist der Innovation Hub Digital Health (IHDH) an der HTW Berlin entwickelt und aufgebaut worden.

20.2 Rahmenbedingungen an der Hochschule Die Struktur der Fachhochschule ist traditionell und vornehmlich durch die studentische Ausbildung geprägt. Die Organisationsstruktur orientiert sich stark an den einzelnen Fachrichtungen und Studiengängen und ist in der Regel flach: Hochschulleitung, Fachbereiche, Studiengänge. Der akademische Mittelbau besteht zurzeit ausschließlich aus drittmittelfinanziertem Projektpersonal mit fest definierten Aufgaben. Die Professorenschaft ist stark in die Lehre und administrative Aufgaben eingebunden. Die HTW Berlin definiert sich

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D. Krefting und P. Hufnagl

dabei aber auch als forschende Fachhochschule und ist Gründungsmitglied der Hochschulallianz für Angewandte Wissenschaften (HaWTech 2019). Innovative Forschung und Entwicklung ist heute zunehmend durch multidisziplinäre Verbundforschung geprägt. Aus diesem Grund wurde an der HTW Berlin das Konzept der Forschungscluster etabliert, die Forschende fachübergreifend in thematisch ausgerichteten Strukturen organisiert. In diesem Zuge wurde das „Forschungscluster Gesundheit“ (FCG) gegründet, in dem über 20 Professoren aus mehr als 10 Studiengängen zusammenarbeiten. Die Bandbreite reicht dabei von Biotechnologie über Medizinische Informatik bis hin zu betrieblichem Gesundheitsmanagement (FCG 2019). Durch die vermehrte gemeinsame Bearbeitung von Forschungsfragen in Drittmittelprojekten ergab sich zunehmend die Notwendigkeit, personelle Ressourcen und Forschungsinfrastruktur langfristiger und interdisziplinärer zu nutzen und zu planen. Dies hat zur Gründung des „Centrum für Biomedizinische Bild- und Informationsverarbeitung“ (CBMI) als wissenschaftlicher Einrichtung der HTW geführt (CBMI 2019). Auf mehrtägigen Workshops wurden das wissenschaftliche Vorgehen und die strategische Ausrichtung diskutiert. In der Konsequenz wurde der Schwerpunkt auf die Erzeugung und Analyse großer biomedizinischer Daten gesetzt. Ein besonderes Augenmerk liegt darüber hinaus auf der Entwicklung und Nutzung von Methoden der künstlichen Intelligenz. Der Erfolg der Forschungscluster beruht vor allem auf dem persönlichen Engagement der beteiligten Professoren. Diese haben vielfältige Kontakte in die regionale und bundesweite Industrie entwickelt, sind aber häufig dem eigenen Themengebiet verhaftet. Die Kontakte ergeben sich auf branchenspezifischen Treffen und Konferenzen, der Zusammenarbeit bei Graduierungsarbeiten oder gemeinsamen Forschungsprojekten. Die Etablierung von FCG und CBMI habt wesentlich zu einer guten interdisziplinären Vernetzung der im Bereich Gesundheitsforschung Aktiven der Hochschule geführt. In der Vergangenheit erhielten weder die Cluster noch die wissenschaftlichen Einrichtungen eine personelle Unterstützung durch die Hochschule selbst. Das Personal war ausschließlich über Drittmittel finanziert. Mittlerweile werden wissenschaftliche Einrichtungen wie das CBMI zunehmend durch die Hochschule gefördert. So werden Räumlichkeiten bereitgestellt und finanziert. Der Berliner Senat hat für die Berliner Hochschulen ein 5-Jahres-Programm zu Entwicklung eines akademischen Mittelbaus beschlossen, an dessen Ende 2022 pro Professur 0,25 Stellenanteile eingerichtet sein sollen (Land Berlin 2018). Aus dem aufwachsenden Mittelbau wird bereits eine erste Qualifizierungsstelle im Schwerpunkt KI finanziert. Auch unbefristete Stellen sind geplant. Das Netzwerk bildet inzwischen ein sehr breites Spektrum der für die Digitalisierung der Gesundheitsbranche relevanten Themengebiete und Expertisen ab. Abb. 20.2 zeigt die Kompetenzmatrix, wie sie zurzeit von den Mitgliedern des CBMI abgedeckt wird. Durch Forschungsprojekte und Aktivitäten auf wissenschaftlichen und Transferveranstaltungen ist das CBMI bekannt geworden und erhält zunehmend Anfragen aus der Industrie. Eine professionelle und zeitnahe Bearbeitung derartiger Anfragen, eine fundierte Analyse des Use Case sowie die darauf folgende Vermittlung zu entsprechenden Experten an der Hochschule ist nicht ohne zusätzliche Ressourcen zu meistern. Dies gilt i­ nsbesondere

20  Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und …

349

Digital Health Datenerzeugung Produktion

Analyse

IT-Infrastruktur

Nichtfunktionale Anforderungen

High Throughput

Machine Learning

Verteilte Systeme

IT-Sicherheit

Sensorik

Image Processing

Cloudcomputing

Usability

Verfahrenstechnik

Modellierung

Sensornetze

Interoperabilität

Bioanalytik

Big Data Analytics

Webtechnologien

Skalierbarkeit

Abb. 20.2  Kompetenzmatrix des CBMI der relevanten Themengebiete für die Digitalisierung der Gesundheitsbranche. (Quelle: Eigene Darstellung)

dann, wenn sich aus dem Kontakt weitere Aktivitäten wie Machbarkeitsstudien, Einbeziehung von Studierenden und Antragstellung ergeben. Die Analyse dieses Problems führte zum Konzept des „Innovation Support Process“.

20.3 Innovation Support Process Begonnen wurde mit der Entwicklung eines Konzepts für den Prozess „Bearbeitung von Kooperationsanfragen“. Dabei stand die Flexibilität des Ansatzes im Vordergrund, um ein möglichst breites Spektrum von Use Cases abzubilden. Während die grundsätzlichen Herausforderungen an Innovationsprozessen sich oft ähneln, sind die individuellen Ziele der Unternehmen sowie deren Voraussetzungen so divers, dass die geeignete Lösung für den konkreten Anwendungsfall völlig unterschiedlich ausfallen kann. Die Wahl des Lösungsansatzes kann entscheidend für den Markterfolg sein, aber auch die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens gefährden. Unternehmen sollen die eigene Kernkompetenz durch Expertise der HTW, die praktisch die gesamte Wertschöpfungskette von Methoden- und Geräteentwicklung über Modellierung und Verfahrenstechnik bis zum Aufbau und der Sicherung komplexer IT-Infrastrukturen abdeckt, bedarfsgerecht ergänzen und erweitern können. Das Angebot soll von wissenschaftlicher Beratung über die Realisierung kleinerer Projekte und Machbarkeitsstudien bis zur Beantragung gemeinsamer längerfristiger Forschungsprojekte reichen. Auf dieser Basis wurde der Innovation Support Process (ISP) des IHDH definiert. Die Einbeziehung von Studierenden ist hierbei spannend und von beiden Seiten gewünscht. Abb. 20.3 zeigt die grundlegende Struktur des Prozesses. Er besteht aus verschiedenen Phasen, die im Folgenden kurz erläutert werden.

350

D. Krefting und P. Hufnagl Antragstellung Förderprojekt

Förderprojekt

IHDH Projekt Vorprojekt Kontakt IHDH

Beratungsgespräche innerhalb von 4 Wochen

Ideen Skizze

6-8 Wochen

Projekt Steckbrief

je nach Aufwand und Resourcenbedarf max. 2 Jahre

Aufwandsabschätzung

Förder antrag

auch längerfristig

Ergebnis IHDH-Projekt

Laufzeit

Ergebnis Förderprojekt

Innovation Support Process

Abb. 20.3  Innovation Support Process. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kontakt IHDH Der erste Kontakt mit dem IHDH kann persönlich, telefonisch oder per E-Mail erfolgen und leitet den ISP ein. Er beinhaltet ein konkretes Kooperationsinteresse. Dies muss aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht offenbart werden, allerdings sollte der Themenbereich grob abgesteckt sein. Beratungsgespräche Mit der Hypothese, dass erfolgreiche Kooperationen stark auf Vertrauen und Zuverlässigkeit basieren, ist ein zeitnahes persönliches Treffen eine wichtige Komponente. Das erste Treffen soll dazu dienen, grundsätzlich die Idee und die Möglichkeiten der Unterstützung zu besprechen. Wenn das Thema bereits bekannt ist, dann können die in der Hochschule identifizierten Experten mit zu dem Treffen eingeladen werden, aber es ist eher als Sondierungstreffen gedacht. Gemeinsam mit den Firmenangehörigen wird der Use Case besprochen und mögliche Unterstützungsangebote vorgestellt. Darüber hinaus wird in diesem Treffen auch der Schutzbedarf bezüglich Vertraulichkeit der Informationen geklärt. Die Maßgabe, dass das erste Treffen innerhalb von vier Wochen nach Kontaktaufnahme stattfinden soll, hat dabei eine hohe Priorität. In dem Fall, dass die Interessen des Unternehmens mit den Unterstützungsangeboten des IHDH voraussichtlich bedient werden können, wird der ISP fortgesetzt. Auf Basis des im ersten Treffen analysierten Kooperationsinteresses und -bedarfs erfolgen üblicherweise weitere Treffen mit den Personen, die die entsprechende Expertise vertreten. Damit kann der Prozess bereits abgeschlossen sein, wenn z.  B. die gewünschte Kompetenz schon durch die Beratung aufgebaut werden konnte. Vorprojekt In vielen Fällen ergibt sich jedoch der Bedarf einer wissenschaftlichen Bearbeitung eines oder mehrerer Aspekte. Das kann eine Vorauswertung von Daten sein, um einen prinzipi-

20  Der Innovation Hub Digital Health – Unterstützung von klein- und …

351

ellen Erfolg der Idee besser abschätzen zu können, oder auch eine Anforderungsanalyse mit Methodenauswahl. Hierfür ist ein klarer Zeitrahmen abgesteckt, um personelle Ressourcen planen zu können. Das Vorprojekt dient zum einen dazu, die prinzipielle Machbarkeit zu klären. Zum anderen dient es einer fundierten Aufwandsschätzung, um das weitere Vorgehen planen zu können. IHDH-Projekt Wenn das Projekt keine besonderen Anforderungen an die personellen Ressourcen stellt und z. B. mit studentischen Projekten und Abschlussarbeiten mit entsprechender wissenschaftlicher Betreuung bearbeitet werden kann oder in begrenztem Maße Labor- und IT-Infrastruktur genutzt werden sollen, so ist es möglich, ein „hauseigenes“ IHDH-Projekt ohne spezifische Drittmittelförderung durchzuführen. IHDH-Projekte sind auf maximal zwei Jahre begrenzt. Damit sollen auch kurzfristige und relativ unbürokratische Transferprojekte insbesondere mit Start-ups und kleinen Unternehmen möglich sein, die aber eine klare Ressourcenbegrenzung haben. Projektantrag und Förderprojekt Wenn der personelle und materielle Aufwand die Möglichkeiten eines IHDH-Projektes überschreitet, dann besteht die Möglichkeit, gemeinsam ein Drittmittelprojekt zu beantragen. Dazu werden vom IHDH geeignete Förderlinien und Programme vorgeschlagen. Das Portfolio ist auch hier breit – sowohl regionale und bundesweite prinzipiell aber auch internationale Projekte sind möglich. Die Erstellung des Antrags erfolgt üblicherweise mit der Unterstützung durch den hochschulweiten Forschungs- und Transferservice. Projektangestellte erhalten einen Arbeitsplatz in den Räumlichkeiten des CBMI, wenn dem nicht Notwendigkeiten, wie z. B. die Nähe zum einem chemischen Labor, entgegenstehen. So steht potenziell die gesamte Struktur des CBMI für die Unterstützung derartiger Projekte bereit.

20.4 Struktur und Ausstattung des IHDH Für den Aufbau des IHDH konnten Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung eingeworben werden. Dadurch war es möglich, über eine Laufzeit von 3 Jahren eine Koordinationsstelle sowie wissenschaftliches Personal für die übergeordnete Themenbereiche Daten, Sensorik, Biotechnologie und IKT einzustellen. Insgesamt 16 Professoren haben sich im Rahmen der Eigenbeteiligung der Hochschule dazu verpflichtet, dem IHDH mit ihrer Expertise zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus existiert ein Netzwerk von weiteren Professoren, die an Kooperationen im Gesundheitsbereich interessiert sind. Im Rahmen des Antrages wurden neun Startprojekte mit Berliner Unternehmen formuliert; je 3 Projekte in den Themenbereichen Daten und Biotechnologie, 2 Projekte im Bereich Netzwerke und 1 Projekt im Themenbereich Sensorik. Darüber hinaus wurde in IHDH der Aufbau einer Knowledge Base für das Expertenmatching nicht nur zwischen

352

D. Krefting und P. Hufnagl

Unternehmen und Hochschulangehörigen, sondern auch zwischen regionalen Unternehmen geplant (Knape et al. 2017). Es wurde ein Projektbüro mit festen Bürozeiten in den Räumlichkeiten des CBMI eingerichtet. Nach etwa einem Jahr wurde mit der Projektleitung ein wöchentlicher Terminblock festgelegt, der durch den Koordinator auch kurzfristig für Beratungsgespräche vergeben werden kann.

20.5 Entwicklung des IHDH Zwischen Antragseinreichung und Projektstart lagen 6 Monate. Das Projekt startete im Juni 2016, das Projektbüro wurde im September 2016 eingerichtet. Abb.  20.4 zeigt die Entwicklung der Kontaktaufnahmen zum IHDH von Juli 2016 bis Dezember 2018. Nach Errichtung des Projektbüros stieg die Anzahl der Kontaktaufnahmen im Quartal auf 7 Unternehmen. Im folgenden halben Jahr blieb diese Zahl konstant und stieg dann zum Jahresende auf knapp das Doppelte. Ein ähnlicher Verlauf zeigt sich auch im Jahr 2018. Es ist dabei wichtig zu berücksichtigen, dass in die Statistik nur die Kontaktaufnahmen einfließen, die über das IHDH-Projektbüro koordiniert werden. Dies bedeutet, dass darüber hinausgehende, direkte Kontakte zu Professoren, die diese selbstständig koordinieren, nicht berücksichtigt wurden. Wir gehen also davon aus, dass ein Großteil dieser Kontaktaufnahmen durch die Netzwerkaktivitäten des IHDH, wie z. B. direkte und indirekte Ansprache, auf regionalen Vernetzungstreffen und Hochschulveranstaltungen initiiert wurden. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass über 90  % der Kontakte über persönliche Gespräche zustande kamen. Die verbleibenden 10  % der Kontaktaufnahmen erfolgten über E-Mail – teilweise weitergeleitet vom Transferservice der Hochschule oder der Leiterin des Forschungsclusters Gesundheit. Das Telefon wurde interessanterweise kaum für die erste Kontaktaufnahme genutzt. Die Zeitvorgabe von 4–6 Wochen für das erste Kontakt IHDH 16

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10 7

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8

10

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Q2 2018

Q3 2018

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1 Q3 2016

Q4 2016

Q1 2017

Q2 2017

Q3 2017

Q4 2017

Q1 2018

Abb. 20.4  Kontaktaufnahmen über das IHDH. (Quelle: Eigene Darstellung)

Q4 2018

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­ eratungsgespräch konnte eingehalten werden. Üblicherweise findet es innerhalb von 2–3 B Wochen statt. Aus den Beratungsgesprächen entwickelten sich über die bisherige Laufzeit 12 Förderprojektanträge mit einer Laufzeit von 2–4 Jahren, von denen bisher 9 bewilligt wurden. Drei Anträge befinden sich noch in der Begutachtung, es wurde bisher kein Förderprojekt abgelehnt. Insgesamt sind an den Anträgen über 20 regionale Unternehmen beteiligt. Darüber hinaus wurden ein Horizon 2020-Projekt mit internationaler Unternehmensbeteiligung, ein BMBF-Projekt mit bundesweiter Unternehmensbeteiligung, ein Projekt im Auftrag des BMI ohne Unternehmensbeteiligung sowie 2 weitere Projekte mit rein akademischen Partnern eingeworben, die in der obigen Zählung nicht berücksichtigt wurden. Die Antragseinreichungen verteilen sich nahezu gleichmäßig über die Projektlaufzeit, sodass im Schnitt ab 2017 1–2 Förderanträge pro Quartal gestellt wurden. Schwerpunkte der Förderung liegen in der Entwicklung neuer diagnostischer Marker auf Basis existierender Systeme sowie in der Entwicklung innovativer Systeme zur Vitaldatenerfassung.

20.6 Herausforderungen in der Innovationsunterstützung Die Kooperation in Förderprojekten, die im Rahmen des IHDH sehr erfolgreich läuft, bedarf eines vergleichsweise langen Vorlaufs. Üblicherweise liegen mindestens 6 Monate zwischen Antragseinreichung und Projektbeginn. Dies ist für Unternehmen, die einen akuten Supportbedarf haben, nicht ausreichend kurzfristig. So gab es verschiedene Unternehmen, die gerne eine Kooperation im Rahmen einer Auftragsforschung eingegangen wären. Dies ist aber im Rahmen der Hochschule nicht unproblematisch. Durch den fehlenden hochschuleigenen Mittelbau kommen als Auftragnehmende nahezu ausschließlich Professoren infrage. Diese wiederum erhalten kaum Anreize, Aufträge im Namen der Hochschule durchzuführen und nicht als Nebentätigkeit. (Dies ist an Hochschulen sehr unterschiedlich geregelt und variiert von Bundesland zu Bundesland.) Projektbeschäftigte aus Förderprojekten stehen aufgrund des Querfinanzierungsverbots nicht für Auftragsforschung zur Verfügung. Studentische Hilfskräfte kommen in der Regel aufgrund der fehlenden Qualifikation nicht infrage. Damit kann eine kurzfristige aber personalintensive Unterstützung über Forschungsaufträge zurzeit nicht geleistet werden. Dies stellt zunehmend ein Problem dar, da der Zeitfaktor gerade im Bereich der disruptiven Innovation in der Digitalisierung immer wichtiger wird. So konnten 3 der 9 Startprojekte nicht durchgeführt werden, da eine beteiligte Firma in Insolvenz gehen musste und 2 Unternehmen durch Umstrukturierungen den entsprechenden Themenbereich des Startprojektes nicht weiter verfolgten. In diesem Sinne stellt das IHDH keinen klassischen Dienstleister dar, sondern eine Vermittlung zwischen Unternehmen und akademischen Partnern, die im Rahmen der Freiheit von Forschung und Lehre agieren. Insbesondere an der Fachhochschule mit einer hohen Lehrbelastung sind kurzfristige Forschungsergebnisse nur schwer zu garantieren. Studiengangs- und fachbereichsübergreifende Studierendenprojekte stel-

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D. Krefting und P. Hufnagl

len immer noch die Ausnahme dar und sind nur schwer in die bestehenden Curricula und Hochschulstrukturen integrierbar (Krefting et al. 2018). Insgesamt stellen die Ressourcen der beteiligten Professorenschaft einen stark limitierenden Faktor beim Innovation Support dar. (Die Lehrbelastung an FH beträgt in Berlin 18 Semesterwochenstunden.) Wie Abb. 20.4 zu entnehmen ist, skaliert das IHDH nicht, sondern die Anzahl der Kontaktaufnahmen ist abgesehen von saisonalen Schwankungen über die bisherigen 2 Jahre vergleichsweise konstant. Die meisten Erstberatungen werden von der Autorin und dem Autor dieses Kapitels als Leitung des CBMI zusammen mit der Koordination durchgeführt. Die im IHDH-Projekt Angestellten verfügen noch nicht über das notwendige breite Wissen und den Überblick über das Expertise-Netzwerk, um die Erstberatung kompetent durchzuführen. Fachlich wäre die Projektkoordination dazu in der Lage, allerdings kommt dies nur in den wenigsten Fällen zum Tragen, da die Unternehmen üblicherweise die Beteiligung eines Professors wünschen. Der persönliche Kontakt stellt, wie aus der Analyse der Kontaktaufnahmen abgelesen werden kann, eine zentrale Komponente in der Innovationsunterstützung dar. Das Vertrauen in die Verschwiegenheit der potenziellen Partner ist eine wichtige Voraussetzung für das Offenbaren einer Innovationsidee. Akademische Partner ohne eigenes kommerzielles Interesse sind zwar prinzipiell attraktiv, jedoch auch hier muss sich erst „in die Augen geschaut“ werden. Nur in wenigen Ausnahmen wurde bisher eine Verschwiegenheitserklärung seitens der Unternehmen gewünscht, dies zeigt das grundsätzlich vorhandene Vertrauen in die akademischen Partner. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde auch das Konzept der Onlineplattform für ein Kompetenzmatching nicht weiter verfolgt. Die geringe Bereitschaft von Unternehmen, ihre Innovationsideen und Kooperationsgesuche online zu stellen, hat neben der Schwierigkeit, eine solche Plattform aktuell zu halten, zur Einstellung der von der Industrie- und Handelskammer Berlin betriebenen Plattform marktreif.berlin.de mit dem gleichen  – allerdings branchenübergreifenden – Ansatz geführt (Berlin Partner 2014).

20.7 Ausblick Der Innovation Hub Digital Health hat sich als zentrale Anlaufstelle für Kooperationsanfragen im Bereich Digital Health an der HTW Berlin etabliert. Der nächste Schritt ist die nachhaltige Etablierung und die Erweiterung der aufgebauten Struktur. Insbesondere die Koordinationsstelle mit hoher fachlicher Expertise hat sich neben dem Engagement der CBMI-Mitglieder ebenso wie des wissenschaftlichen Personals als wichtigster Erfolgsfaktor herausgestellt. Die Schwierigkeit ist hier, dass es zwar hochschulweit und sogar hochschulübergreifend Transferstrukturen gibt, die dort entsprechend Zuständigen aber zum einen nicht die branchenspezifische Expertise haben und zum anderen nicht die Kapazitäten, die zahlreichen branchenspezifischen Aktivitäten zu besuchen und mitzugestalten. Darüber hinaus haben sich die Hochschulstrukturen in einigen Bereichen als zu unflexibel für den Unterstützungsbedarf erwiesen. Aus diesem Grund ist die Gründung eines Forschungsinstituts in GmbH-Form geplant, das in enger Kooperation mit dem CBMI den

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stärker dienstleistungsorientierten Innovation Support übernehmen soll. Auch weist das CBMI zurzeit vor allem eine starke technische und technologische Expertise auf. Betriebswirtschaftliche und regulatorische Expertisen, die insbesondere für Start-ups in der Gesundheitsbranche relevant sind, sollen im Rahmen eines branchenspezifischen Inkubators integriert werden. Um eine bessere Skalierbarkeit zu erreichen, ist eine engere hochschulübergreifende Koordination der Innovationsunterstützung notwendig. Hierfür wurde das „Kooperationszentrum Wissenschaft und Praxis“ geschaffen. Über die Hochschulgrenzen hinaus bietet der 2018 neu gegründete Transferverbund Bit6 der Berliner Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ein hohes Potenzial (BIT6 2019). Darüber hinaus ist auch der Aufbau des wissenschaftlichen Mittelbaus von hoher Relevanz für den Innovationssupport. Da hochschuleigene Angestellte nicht an spezifische Projektaufgaben gebunden sind, können diese Aufgaben in der Innovationsunterstützung übernehmen. Die Gesamtkoordination soll der 2019 an der HTW einzurichtende „Wissenschaftliche Beirat für Gründung und Entrepreneurship“ übernehmen.

20.8 Schlussbetrachtung Es wurde das Konzept des Innovation Hub Digital Health als zentrale Anlaufstelle für die Unterstützung von Innovation in der Gesundheitsbranche vorgestellt. Als zentrales Instrument wurde der Innovation Support Process eingeführt, der die Begleitung des Unternehmens vom Kontakt über die Beratung bis zur Durchführung gemeinsamer Förderprojekte strukturiert. Der IHDH hat sich zur Anbahnung von längerfristigen Forschungskooperationen im technologischen Bereich erfolgreich etabliert. Die Skalierbarkeit dieser Kooperationen ist vor allem durch die Ressourcen der beteiligten professoralen Mitglieder begrenzt. Die Etablierung eines wissenschaftlichen Mittelbaus sowie die hochschulübergreifende Zusammenarbeit sind hier Lösungsansätze. Kurzfristige personalintensive Kooperationswünsche stellen eine zurzeit nicht gelöste Herausforderung dar. Hier kollidieren die Anforderungen der Unternehmen an die Geschwindigkeit bei der Erarbeitung von Lösungen mit den Möglichkeiten einer Hochschule. Dies gilt auch für Fragen der Lizensierung und Gewährleistung, beispielsweise bei IT-Lösungen. Gerade bei disruptiven und neuartigen Lösungen kann dies den Transfer aus der Hochschule in die Wirtschaft gänzlich infrage stellen. Um auch hier erfolgreich sein zu können, sind andere rechtliche Strukturen mit enger Bildung an die Hochschule notwendig, wie beispielsweise eine GmbH. Neben der fachlichen Kompetenz spielen die technischen Voraussetzungen für Kooperationsangebote eine große Rolle. Am CBMI wurde beispielsweise mit einem Rechnercluster für KI-Anwendungen ein System etabliert, dass sich viele KMU kaum leisten können. Last, not least soll durch die Etablierung eines eigenen Digital Health Inkubators eine bessere Unterstützung von Start-ups, insbesondere in Fragen der branchenspezifischen Geschäftsmodelle und rechtlichen Rahmenbedingungen erreicht werden.

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D. Krefting und P. Hufnagl

Danksagung  Wir möchten uns herzlich bei Herrn Thorsten Knape für die Unterstützung bei der Erstellung von Abb. 20.1 sowie dem Koordinator des IHDH, Herrn Sebastian König, für die Bereitstellung der statistischen Daten zu Abb. 20.4 bedanken.

Literatur Berlin Partner (2014) Neue Plattform soll Wirtschaft und Wissenschaft auch digital vernetzen, Presse­ information. Berlin Partner. https://www.berlin-partner.de/nc/presse/presseinformationen/detailansicht/neue-plattform-soll-wirtschaft-und-wissenschaft-auch-digital-vernetzen/. Zugegriffen am 31.03.2019 Bit6 (2019) DER BIT6 VERBUND, bit6. https://www.bit6.de/de/topic/11.bit%E2%81%B6.html. Zugegriffen am 31.03.2019 BMBF, Referat Grundsatzfragen, Digitalisierung und Transfer (2018) Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Rahmenprogramm_Gesundheitsforschung.pdf. Zuge­ griffen am 31.03.2019 Bundesärztekammer (2019) (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 –∗) in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018, in: Deutsches Ärzteblatt, 1. Feb. 2019. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.mbo_daet2018b. Zugegriffen am 31.03.2019 Bundestag (2015) Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen sowie zur Änderung weiterer Gesetze∗. Bundesgesetzblatt I(54):2408–2423 Cassala C (2017) Wachstumssegment E-Health – Deutschland holt auf. deutsche-startups.de. https:// www.deutsche-startups.de/2017/05/12/wachstumssegment-e-health-deutschland-holt-auf/. Zugegriffen am 31.03.2019 CBMI (2019) Centrum für Biomedizinische Bild- und Informationsverarbeitung. CBMI. https:// cbmi.htw-berlin.de/. Zugegriffen am 31.03.2019 F.A.S (2018) Was kommt nach der Gesundheitskarte? Gesundheitsminister Spahn sucht eine „coole“ Lösung für das Handy. Dabei wird gerade ein sicheres Netz für Patientendaten eingeführt, F.A.Z. Einspruch, 14.05.2018. Frankfurter Allgemeines Sonntagszeitung (F.A.Z.), Frankfurt am Main FCG (2019) Gesundheit, Forschungscluster Gesundheit (FCG). https://www.htw-berlin.de/forschung/ forschungsprofil/forschungscluster/cluster/?eid=19. Zugegriffen am 31.03.2019 HAWTech (2019) Forschung an den Verbundhochschulen der HAWtech, Hochschulallianz für Angewandte Wissenschaften (HAWTech). https://www.hawtech.de/forschung-projekte/forschungin-der-hawtech/. Zugegriffen am 31.03.2019 Knape T, Fröhlich M, Hufnagl P (2017) The digitalization of consulting and Auto-Assignment of experts in the MedTech and life sciences industries. In: Nissen V (Hrsg) Digital transformation of the consulting industry. Springer International, Berlin, S 427–442 Krefting D, Olbrich S, Kietzmann K (2018) Von der Hochschule in den Makerspace: Studierendenprojekte für Innovationen in der humanitären Katastrophenhilfe. In: Berlin HTW, Knaut M (Hrsg) Kreativität + X = Innovation. BWV Berliner Wissenschafts, Berlin, S 240–245 Land Berlin und HTW Berlin (2018) Vertrag für die Jahre 2018 bis 2022 gemäß § 2a Berliner Hochschulgesetz. https://www.berlin.de/sen/wissenschaft/politik/hochschulvertraege/hochschulvertrag-2018-2022-09-htw-inkl-anlagen.pdf. Zugegriffen am 31.03.2019

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Dagmar Krefting,  Prof. Dr., ist Professorin für Informatik an der HTW Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und leitet dort zusammen mit dem Zweitautor das Centrum für Biomedizinische Bild- und Informationsverarbeitung (CBMI) sowie das IT-­Sicherheitslabor (Labor 42). Zurzeit leitet sie darüber hinaus das Institut für Medizinische Informatik der Universitätsmedizin Göttingen. Davor war sie mehrere Jahre als wissenschaftliche Assistentin im Institut für Medizinische Informatik an der Charité – Universitätsmedizin Berlin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in sicheren kollaborativen IKT-Infrastrukturen für die klinische Forschung sowie modernen Methoden der medizinischen Bild- und Biosignalanalyse. Neben dem IHDH führt sie verschiedene regionale, bundesweite und international innovative Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit klein- und mittelständischen Unternehmen durch. Peter Hufnagl,  Prof. Dr., ist Professor für Angewandte Informatik an der HTW Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und leitet gemeinsam mit Dagmar Krefting das Centrum für Biomedizinische Bild- und Informationsverarbeitung (CBMI). Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der medizinischen Bildverarbeitung, Streamingverfahren in der Telemedizin und in der Anwendung von Verfahren der künstlichen ­Intelligenz in der Medizin. Er ist gleichzeitig Leiter der Digitalen Pathologie in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er hat als Entrepreneur mehrere Firmen gegründet.

Konzepte und Faktoren für Innovation bei Pfizer

21

Dare to Try, Start-up Hubs und Green Economy Ekaterina Alipiev, Peter Neske und Ralph Lägel

Inhaltsverzeichnis 21.1  21.2  21.3  21.4  21.5  21.6 

 fizer als innovatives Unternehmen  P Der Pfizer-Fokus: Patienten in den Mittelpunkt rücken  Die „Dare-to-Try“-Kultur als Innovationskatalysator (D2T)  Start-ups im regionalen „Labor“ (Lab)  Start-ups im internationalen „Hub“  Green Economy und Smart Green Accelerator  21.6.1  Pfizer Healthcare Hub Freiburg  21.6.2  Pfizer Healthcare Hub 2.0  21.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Ein flexibles und dennoch formalisiertes Innovationsmanagement stellt heute einen wichtigen Wettbewerbsfaktor für Unternehmen dar. Das pharmazeutische Unternehmen Pfizer hat vor diesem Hintergrund den sogenannten Dare-to-Try-Ansatz implementiert, der als Katalysator für eine neue Innovations- und Experimentierkultur wirkt. Ein Ergebnis, das diese Struktur hervorgebracht hat, war das „Pfizer Healthcare Lab“ in Berlin, das eine flexible Plattform für Kooperationen zwischen Pfizer und verschiede-

E. Alipiev (*) · P. Neske Pfizer Pharma GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] R. Lägel Cap4Health GmbH & Co. KG, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_21

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E. Alipiev et al.

nen Start-ups darstellte. Das Lab entwickelte sich bald zu einem Erfolgsmodell und wurde zum internationalen „Pfizer Healthcare Hub“ ausgebaut. Zudem wurden auch an anderen Standorten weitere Hubs eingerichtet, darunter der Produktionsstandort Freiburg, wo die Innovationsfelder Patientenorientierung und ökologische Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen. Das innovationsfreundliche Umfeld im Land Baden-Württemberg wirkt sich dort zusätzlich als positiver Treiber aus.

21.1 Pfizer als innovatives Unternehmen Das Unternehmen Pfizer hat seinen Ursprung in Baden-Württemberg, denn Karl Pfizer und sein Cousin Karl Erhart stammten aus Ludwigsburg. Sie gründeten 1849 in Brooklyn den Pharmakonzern Pfizer. Insofern könnte man nach heutiger Nomenklatur von einem „schwäbischen Start-up“ sprechen. Im Jahr 1958 eröffnete das Unternehmen in Karlsruhe seine Deutschlandzentrale, die 50 Jahre später nach Berlin an den Potsdamer Platz verlegt wurde. Außerdem steuert Pfizer von Berlin aus die Sparte der onkologischen Arzneimittel für rund 50 Länder – von Europa über Japan und Südkorea bis nach Australien und Neuseeland. Die beiden anderen deutschen Standorte Freiburg und Karlsruhe sind für die Bereiche Produktion und Distribution zuständig: In Karlsruhe steht eines der modernsten pharmazeutischen Distributionszentren Europas. Jeden Tag werden von dort aus rund 135.000 Arzneimittelpackungen verschickt. Das Werk in Freiburg gehört zu den bedeutendsten Produktionsstätten im globalen Pfizer-Netzwerk. Jährlich werden hier 5 Mrd. Tabletten, Kapseln und Dragees in mehr als 200 Mio. Packungen für den weltweiten Markt hergestellt. Pfizer beschäftigt in Deutschland rund 2.500 Mitarbeiter, weltweit sind über 90.000 Menschen im Unternehmen tätig. Der Umsatz betrug 2018 rund 53,6 Mrd. US$. Pro Jahr werden ca. 8 Mrd. in Forschung und Entwicklung investiert. Der Ansatz von Pfizer bestand stets darin, nachhaltige Lösungen für dringende Herausforderungen im Gesundheitswesen zu entwickeln und bereitzustellen. Mit einem Portfolio von zum Teil marktführenden Produkten und Medikamenten unterstützt Pfizer das Wohlbefinden der Patienten sowie die Prävention und die Behandlung von Krankheiten in einem breiten therapeutischen Bereich. Gleichzeitig hat Pfizer in den letzten Jahren die Möglichkeiten digitaler Technologien in der Gesundheitsversorgung auf der ganzen Welt erkannt. Das Unternehmen sieht in der Digitalisierung die Chance, unter anderem Therapien sinnvoll zu ergänzen. Es werden auf der Basis digitaler Anwendungen aber auch eigenständige Lösungsansätze entwickelt, um Patienten darin zu unterstützen, ihre Gesundheit zu verbessern.

21.2 Der Pfizer-Fokus: Patienten in den Mittelpunkt rücken Ziel aller Aktivitäten von Pfizer ist es, für die Patienten den größtmöglichen Nutzen zu erreichen. Somit sind die Mitarbeiter angehalten, ihr Handeln stets an dieser Prämisse auszurichten. Im Mittelpunkt der Bemühungen stehen die Aufklärung und Information der

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Patienten, damit diese bei Entscheidungen, die sich auf ihre Gesundheit auswirken, eine aktivere Rolle spielen können. Auf diese Weise entsteht eine echte Partnerschaftskultur, die auf patientenorientierte Erkenntnisse und integrierte Entscheidungsfindung abzielt. Indem die Mitarbeiter aktiv auf die Stimme der Patienten hören und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, wird ein Kulturwandel vollzogen. Zukünftig wird der Wertekompass von Pfizer darauf ausgerichtet sein, der Stimme der Patienten in allen gesundheitlichen Belangen Gehör zu verschaffen und sie an die erste Stelle zu setzen. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Outcome für alle Beteiligten umso größer wird, je enger die Partnerschaften geknüpft sind. Dieser Gedanke beeinflusst auch nachhaltig alle Innovationsaktivitäten.

21.3 Die „Dare-to-Try“-Kultur als Innovationskatalysator (D2T) Um Innovation im Unternehmen zu leben und zu verstetigen, wurde vor einigen Jahren das „Dare-to-Try“-Programm ins Leben gerufen. „Dare to Try“ (D2T) ist eine globale Initiative, die die kreative Kultur innerhalb des Pfizer-Teams unterstützen soll. Alle Mitarbeiter sollen sich befähigt fühlen, unternehmerisch zu denken, Konventionen herauszufordern und kalkulierte Risiken einzugehen, um Wachstumschancen freizusetzen. Mithilfe eines bewährten Rahmens, benutzerfreundlicher Tools und geschulter Experten führen Kollegen schnelle und risikominimierte Experimente durch, um Geschäftshypothesen zu testen. Erfolgreiche Experimente können anschließend in anderen Teilen der Organisation skaliert und/oder implementiert werden. Weniger erfolgreiche Experimente bieten die Möglichkeit zu analysieren, warum etwas nicht funktioniert hat und diese Erkenntnisse unternehmensweit zu teilen, um davon zu lernen. „Dare to Try“ richtet sich generell an alle Pfizer-Mitarbeiter. Das Programm stellt die Annahme infrage, dass innovatives Denken allein von der Unternehmensführung vorangetrieben werden sollte. Es schafft ein Umfeld, in dem jeder Einzelne den Erfolg von Pfizer durch neues Denken, durchdachte Risikobereitschaft und die tatsächliche Anwendung von Ideen beeinflussen kann. Das Programm wurde zunächst durch eine Reihe von Workshops über Regionen und Geschäftseinheiten hinweg ausgerollt. Die Innovations- und Experimentierfähigkeit wurde weiterhin durch ein Netzwerk von D2T-Trainern sozialisiert und später durch sogenannte D2T-Champions, also Pfizer-Teammitglieder, die bereits sehr erfolgreich D2T-Projekte durchgeführt hatten, verstärkt. So wurde ein Netzwerk von D2T-Erfahrenen aufgebaut, das anderen Kollegen bei künftigen Projekten unterstützend als „Sparringspartner“ zur Verfügung steht. Die Ziele von D2T sind ausgerichtet auf: 1. Frisches Denken a. Erfolgreiche Experimente skalieren b. Aus Fehlern lernen c. Kurzfristige und langfristige Ergebnisse erzielen

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2. Echte Anwendungen 3. Wohlüberlegtes Eingehen von Risiken a. Schaffung eines sicheren Raums, um neue Ideen in einem experimentellen Rahmen zu testen b. Klein anfangen und schnell skalieren (oder Fehler erkennen, stoppen und aus diesen lernen) Die D2T-Workshops ermöglichen es den Teilnehmern, geschäftliche Herausforderungen durch „Out-of-the-Box“-Denken anzunehmen. Im Anschluss an die Workshops haben die Teams die Möglichkeit, neue Ideen und Experimente an ihre Führungskräfte heranzutragen, um diese zu prüfen, zu bestätigen und ggfs. finanzieren zu lassen. Abgeschlossene Experimente werden über das Projektteam hinaus im Rahmen einer „Scale-or-Fail-­ Kommunikation“ mit Kollegen geteilt. Dadurch können Teams entweder die Auswirkungen erfolgreicher Experimente erweitern oder von weniger erfolgreichen Experimenten lernen. Die Besonderheit des Programms liegt unter anderem darin, dass es auch die „Erlaubnis zum Scheitern“ gibt und gleichzeitig eine positive Fehlerkultur etabliert wird. Der Dare-to-Try-Ansatz kombiniert in einem einzigen Framework bewährte Innovationsmethoden: Design Thinking, kreative Problemlösung, agile Projektentwicklung und das Arbeiten im Sinne eines schlanken internen „Start-ups“, wie die Abb. 21.1 auch zeigt. Das Framework bietet eine Reihe leistungsstarker Tools, die unabhängig und iterativ verwendet werden können, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Der Rahmen ist in 6 Stufen unterteilt. In jeder dieser Stufen befinden sich 14 Tools und 7 Verhaltensweisen, die speziell dafür konzipiert wurden, den Innovationsprozess zu beschleunigen. Mit dem Dare-to-Try-Ansatz ermuntert Pfizer seine Mitarbeiter, ungewöhnliche Wege zu gehen und liefert ein ganzes Set an Werkzeugen für innovatives Gestalten.

Abb. 21.1  Das Pfizer-Dare-To-Try-Konzept. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pfizer 2019a)

21  Konzepte und Faktoren für Innovation bei Pfizer

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21.4 Start-ups im regionalen „Labor“ (Lab) Zu den im D2T-Programm durchgeführten Experimenten gehört das „Pfizer Healthcare Lab“ in Berlin. Es handelte sich dabei um ein virtuelles Labor, in dem unter der Überschrift „Co-Create, Co-Innovate und Co-Llaborate“ ein interdisziplinäres Team gezielt die enge Zusammenarbeit mit Start-ups aus dem Healthcare-Bereich gesucht hat. Ein Schwerpunkt lag dabei auf digitalen Gesundheitsanwendungen. Das Pfizer Healthcare Lab hat die Experimentierphase relativ schnell hinter sich gelassen. Nach einer ersten Phase des Scoutings, des allgemeinen offenen Austauschs und des Ausprobierens konkretisierte sich das gesamte Konzept und entwickelte sich „on-the-­fly“. Anders als bei Inkubatoren oder Akzeleratoren wurde die Zusammenarbeit mit den Start-ups so flexibel und individuell wie möglich gestaltet. Diese Herangehensweise ermöglichte es, Chancen und Potenziale für Kooperationen schnell zu prüfen, den Partnern eine individuelle und bedarfsgerechte Begleitung und Unterstützung anzubieten und sie in bestehende Geschäftsfelder zu integrieren. Die Unterstützung, die Pfizer den Start-ups in diesem Rahmen angeboten hat, umfasste beispielsweise die Bereitstellung von Büroräumen, die Mentorenvermittlung aus dem Pfizer-Expertennetzwerk, Zugang zu Marktwissen, Kontakte in andere Pfizer-Organisationen sowie Sales-Partnerschaften. Der Fokus bei der Suche nach geeigneten Kooperationspartnern lag auf verschiedenen Schwerpunkten entlang der Patient Journey. Dazu gehörten u. a. die Themen: • Information und Aufklärung • Früherkennung und Verbesserung der Diagnostik • Behandlungsadhärenz und Management von chronischen Erkrankungen Im Dialog zwischen den Pfizer-Teams und verschiedenen Start-ups zeigte sich schnell: Es treffen hier häufig zwei sehr verschiedene Welten aufeinander, die trotzdem eine gemeinsame Schnittmenge haben. Ziel war es, zu Lösungen zu gelangen, die das Produkt der Start-ups mit den Bedürfnissen der Patienten und den bestehenden Therapien bzw. Produkten von Pfizer passgenau kombinierten. Es stellte sich bald heraus, dass dazu ein iteratives Vorgehen sinnvoll war, in dem die Lösungsansätze immer weiter adjustiert wurden. Auf diese Weise entstanden bei und mit Pfizer digitale Lösungen, die für viele Patienten eine sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Therapien und Produkten darstellen. Um diese Erfahrungen zu teilen, aber auch um sich für weitere Start-ups attraktiv zu machen, wurden spezielle Formate für die Healthcare-Start-up-Szene entwickelt. Ein im Jahr 2015 ins Leben gerufenes und bis heute sehr geschätztes Veranstaltungsformat sind die „Start-up-Sprechstunden“, die mehrmals im Jahr zu verschiedenen Themen stattfinden. Bei diesen offenen Sprech- und Fragestunden für Start-ups aus dem Bereich Digital Health erklären Mitarbeiter von Pfizer sowie externe Experten komplexe Themen der pharmazeutischen Industrie, der Gesundheitswirtschaft sowie des deutschen Gesundheitswesens und stehen für Fragen zur Verfügung. Um sicherzustellen, dass die Themen die Relevanz der Start-ups treffen, werden die Themenschwerpunkte gemeinsam mit den jungen Gründern

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und Innovatoren gestaltet. Diese können ihre Bedarfe entweder direkt an das Team melden oder im Rahmen von Umfragen angeben, welche Themen für sie relevant sind. Die ersten Erfolge im Lab brachten schließlich die volle Aufmerksamkeit und Unterstützung der deutschen Pfizer-Organisation mit sich, aber auch seitens der internationalen Pfizer-Kollegen weckte das Pfizer Healthcare Lab Berlin immer mehr Interesse. Dies führte schließlich zum nächsten Entwicklungsschritt.

21.5 Start-ups im internationalen „Hub“ Anfang 2017, gut 2 Jahre nach dem Launch des Berliner Healthcare Labs, haben auch weitere Pfizer-Standorte den Ansatz aus Berlin übernommen. Was als lokales Lab gestartet ist, hat sich zu einem globalen Hub, dem „Pfizer Healthcare Hub“, entwickelt. Zu den bestehenden Vorteilen einer Zusammenarbeit mit Pfizer kam für die Start-ups nun die Möglichkeit der organisierten Vernetzung mit anderen globalen Pfizer Healthcare Hubs hinzu. Mittlerweile gibt es Pfizer Healthcare Hubs u. a. in London, Stockholm, Sydney und Tel Aviv. Der Berliner Hub wurde dabei innerhalb des Pfizer Konzerns zum Role Model. Nach dem Vorbild aus Berlin sind die kleinen, sehr engagierten Teams in den Hubs interdisziplinär und funktionsübergreifend zusammengesetzt. Die dort tätigen Kollegen kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie z. B. Unternehmenskommunikation, Digitale Kommunikation, Digital Marketing oder haben selbst Erfahrungen als Gründer oder Start-up-Mitarbeiter gesammelt. Diese Mischung aus verschiedenen Perspektiven und Kompetenzen ist ein entscheidender Erfolgsfaktor. Neben dem Aufbau eines globalen Hub-Netzwerkes etablierten sich im Verlaufe der letzten Jahre auch weitere Veranstaltungsformate mit Start-ups. So werden regelmäßige Start-up-Challenges und Hackathons zu verschiedenen Digital-Health-Themen entlang der Indikationen veranstaltet, in denen Pfizer sich als wesentlichen Kompetenzträger sieht. Aus ersten Kooperationen mit Start-ups entstanden inzwischen auch Partnerschaften mit konkreten gemeinsamen Geschäftszielen, die z. B. auch die vertriebliche Kraft der Pfizer-­ Organisation nutzen, wie das Beispiel des Start-ups Cortrium zeigt. Best Practice: Cortrium

Das dänische Start-up-Unternehmen Cortrium und Pfizer Deutschland starteten ab Frühjahr 2018 gemeinsam die Einführung eines tragbaren Sensors zur Messung von Vitalwerten im deutschen Markt. Der von Cortrium entwickelte Sensor misst u.  a. die Herzaktivität und kann so frühzeitig Hinweise auf mögliche Herz-Kreislauf-­ Erkrankungen geben (siehe Abb. 21.2). Der Sensor wird auf die Haut geklebt und erfasst und speichert initial die Daten des Elektrokardiogramms (EKG). Pfizer engagiert sich für eine bessere Schlaganfallvorsorge, bietet innovative Medikamente in diesem Bereich an und forscht an neuen Behandlungsansätzen. Die Kooperation mit Cortrium ermöglicht Pfizer, die Situation von Menschen mit Herz-­Kreislauf-­ Erkrankungen in Deutschland weiter zu verbessern. Pfizer öffnete Cortrium dafür den Zugang zu seiner Vertriebsstruktur und verschaffte dem Start-up so einen viel schnelle-

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ren und breiteren Markteintritt  – zum Vorteil der Patienten. Diese Vertriebspartnerschaft mit einem Start-up war die erste ihrer Art für Pfizer weltweit. Aber die Hub-Aktivitäten wirken nicht nur nach außen. Neben dem positiven Effekt der Vernetzung und des Austauschs bezüglich einer möglichen Zusammenarbeit tragen die im Hub konzipierten Formate sowie die Start-up-Partnerschaften wesentlich auch zum internen Kulturwandel bei. Pfizer-Mitarbeiter aus verschiedenen Fachabteilungen und Bereichen kommen mit den Start-ups in Kontakt, indem sie sich als Referenten, Mentoren oder im Vertriebsgeschehen einbringen. Durch den Austausch bei der Start-up-Sprechstunde, den Hackathons oder bei der Arbeit rund um den Vertrieb wird auf beiden Seiten das Verständnis für den jeweils anderen vertieft. Somit können die Innovatoren die Strukturen und Bereiche von Pfizer besser kennenlernen und umgekehrt erhalten die Pfizer-Mitarbeiter eine viel genauere Vorstellung davon, was die Start-ups motiviert, welche Themen sie beschäftigen und wie die Denk- und Arbeitsweisen sich von denen in einem etablierten Konzern unterscheiden. Dies alles sind sehr wichtige Voraussetzungen für die Etablierung von Lernprozessen und das Verständnis der verschiedenen Kulturen. Um diese Effekte weiter zu verstärken, wurde abteilungsübergreifend ein Strategieteam gebildet, in dem zahlreiche unterschiedliche Bereiche des Unternehmens vertreten sind. Dieses Team arbeitet permanent daran, externe und interne regionale Entwicklungen aufzunehmen und mit der globalen Pfizer-Strategie abzustimmen bzw. dahingehend Impulse zu setzen. Dabei werden strategische und taktische Schritte und Maßnahmen geplant, die auch eine Einbeziehung von immer mehr Mitarbeitern in die sich verändernde Kultur ermöglichen sollen. Auch für die Hubs und deren Teammitglieder in den Ländern bedeutet das eine Zusammenarbeit auf intensiverem Niveau. So werden Challenges und Hackathons noch viel stärker gemeinsam entwickelt und betrieben und Ergebnisse zügiger internationalisiert. Gleichzeitig bilden sich Schwerpunkte in der Arbeit der einzelnen Hubs heraus. Diese ermöglichen wiederum eine größere Tiefe der Bearbeitung sowie eine genauere Zuordnung bestimmter Start-ups zu den verschiedenen Pfizer-Standorten – je nachdem, was der Standort benötigt und welche spezifische Unterstützung er für das Start-up anbieten kann.

Abb. 21.2  Der Cortrium C3-Sensor. (Quelle: Cortrium ApS 2019)

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21.6 Green Economy und Smart Green Accelerator Pfizer hat sich weltweit insgesamt auf eine „Green Journey“ begeben (Pfizer 2018). „Greener Processes“, „Green Chemistry“ und „Green Packaging“ seien hier nur beispielhaft als Stichworte genannt. Das Pfizer Werk in Freiburg gilt als der „grüne Leuchtturm“ von Pfizer. Hier wurden in den letzten 15 Jahren mehr als 200 umweltschonende Maßnahmen umgesetzt. Dazu zählen beispielsweise der Bau des seinerzeit größten Holzpellet-Heizkessels in Europa und die Errichtung einer Geothermie-Anlage. Letztere ermöglicht via geothermischer Heizung und Kühlung eine Absenkung des am Standort verursachten CO2-Aufkommens um 750 t pro Jahr. Die in Freiburg benötigte Energie kann zu über 90 % aus nachhaltigen Quellen direkt vor Ort erzeugt werden. So werden am Standort Freiburg die Klimaschutzziele des Unternehmens bereits seit Langem erfolgreich umgesetzt. Dies und die hohe Kompetenz der Freiburger Organisation im Bereich Lean Manufacturing sowie bei der Einführung und Etablierung neuester Technologien unterstützt den deutschen Produktionsstandort auch nachhaltig im internen internationalen Wettbewerb. Bei vielen Entwicklungen im Bereich „Green Economy“ spielen Innovationspartnerschaften bereits eine wesentliche Rolle. So wurde beispielsweise gemeinsam mit einem studentischen Forschungsprojekt der Hochschule Offenburg und dem Zentrum für erneuerbare Energien Freiburg eine Hightech-Lösung im Industriemaßstab entwickelt und auf mehreren Gebäuden installiert. Diese stellt die Wärme zur Konditionierung der gewünschten Produktionsluft zur Verfügung. Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist die neu errichtete kontinuierliche Fertigung – „Continuous Manufacturing Technology“ (CMT). Die CMT-Anlage ermöglicht es, die einzelnen Herstellungsschritte bei der Fertigung von Arzneimitteln von der Anlieferung der Rohstoffe bis zur Auslieferung des fertigen Produktes ohne Unterbrechung aneinanderzureihen. Dies spart Zeit und erhöht die Flexibilität – und stellt somit einen ­wesentlichen Entwicklungsschritt der Herstellungsprozesse unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten dar. Die Konzeption zur Umsetzung vom Forschungs- und Entwicklungsmaßstab in den großtechnischen Maßstab erfolgte in Kooperation zwischen dem Freiburger Werk und Professoren und Studierenden der Hochschulen Offenburg, Freiburg und Sigmaringen.

21.6.1 Pfizer Healthcare Hub Freiburg Generell wird bei forschenden pharmazeutischen Unternehmen die Entwicklung eines neuen Produkts in drei Wertschöpfungsschritte unterteilt: Forschung und Entwicklung (F & E), Herstellung und letztlich Kommerzialisierung. In allen drei Schritten gehört das Thema Patientensicherheit zu den wichtigsten Innovationsfeldern. Da Forschung und Entwicklung bei Pfizer größtenteils außerhalb Deutschlands stattfindet, fokussieren sich die Organisationen in Freiburg und Berlin vorrangig auf die letzten beiden Schritte. Im Bereich Herstellung geht es dabei beispielsweise um den beschleunigten Transfer von For-

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schungsergebnissen in die Industrialisierung (Time to Market), um patientenorientierte Verpackungen und Beipackzettel sowie um das Thema Patientensicherheit. Im Bereich Kommerzialisierung betrifft dies z. B. die Themen Disease Awareness, zeitnahe Diagnostik und Adhärenz. Infolge der positiven Erfahrungen der Pfizer-Organisation mit der Healthcare-­Hub-­ Struktur in Berlin, der starken Präsenz von Pfizer in Baden-Württemberg, der dortigen politischen Initiativen und Plattformen und der daraus resultierenden Opportunitäten entstand im Geiste des „Dare-to-try-Ansatzes“ die Überlegung, auch einen Hub in Freiburg zu implementieren. Der im März 2018 gegründete „Pfizer Healthcare Hub Freiburg“ fokussiert sich als erster Hub im globalen Pfizer-Netzwerk auf Innovationsansätze, die unmittelbar den Wertschöpfungsschritt Herstellung adressieren. Kernthemen sind u. a. Automation, Industrie 4.0, Lean Manufacturing und die Steigerung der Energieeffizienz. Ziel ist es, im Austausch mit Innovationsführern wie Start-ups, Hochschulen und Industriepartnern kreative Lösungen für die Digitalisierung der Arzneimittelproduktion zu identifizieren und umzusetzen. Ebenso wie im Berliner Hub geschieht dies auf einer flexiblen Plattform, die es ermöglicht, Kooperationen mit Partnern aus der Innovationsszene in unterschiedlichen Veranstaltungsformaten, aber auch Kooperationen mit Akzeleratoren individuell zu gestalten. Sowohl Start-ups als auch Spin-offs und Tech-Unternehmen sind potenzielle Innovationspartner. Lösungen, die am Produktionsstandort Freiburg funktionieren, können zeitnah in andere Werke des globalen Pfizer-Netzwerks transferiert werden. Der Pfizer Healthcare Hub Freiburg bildet somit eine wichtige Schnittstelle von Pfizer zur Innovationsszene im Bereich Manufacturing. Gleichzeitig unterstützt er eines der Unternehmensziele von Pfizer: Nachhaltigkeit durch effiziente, ressourcen- und umweltschonende Produktionsprozesse. Dabei profitiert Pfizer auch von den besonderen Rahmenbedingungen in Baden-­ Württemberg. Die dortige Landesregierung unterstützt seit vielen Jahren Innovationen im Bundesland und hat dies 2017 mit dem 1. Start-up Summit der Landesregierung unterstrichen, bei dem der Ministerpräsident und die Wirtschaftsministerin Visionen und Maßnahmen für das „Start-up-Ländle“ Baden-Württemberg präsentiert und damit den Startschuss für 9 Start-up-Ökosysteme gegeben haben (Landesregierung Baden-Württemberg 2017). Drei von ihnen sind für die deutsche Pfizer-Organisation von Bedeutung: • Der Life Science Accelerator Mannheim-Heidelberg-Tübingen (Life Science Accelerator Baden-Württemberg 2018) mit Fokus auf alle Life-Science-Themen • Der BADENCAMPUS in Breisach (BadenCampus 2018) mit Fokus auf komplexe Energielösungen in Kooperation mit dem Elsass und der Nordschweiz • Der Smart Green Accelerator im Kreativpark in Freiburg (Smart Green Accelerator 2018) mit dem Schwerpunkt auf nachhaltiges Wirtschaften Baden-Württemberg ist zum jetzigen Zeitpunkt das einzige Bundesland, das eine über alle Ministerien abgestimmte Strategie für die Digitalisierung hat. Diese wird unter dem Titel „digital@bw“ vorangetrieben (Wirtschaft digital Baden-Württemberg 2019). Mit di-

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gital@bw will die Landesregierung u. a. die Innovationskultur stärken und den Gründergeist von Unternehmen wie Bosch, Daimler und Pfizer in die Gegenwart übertragen. Dies korrespondiert in hervorragender Weise mit den Anliegen von Pfizer. Der Standort Freiburg ist ein Produktionsstandort. Lösungen, die in einem besonderen Umfeld (GMP – „Good Manufacturing Practice“) funktionieren müssen, benötigen in der Regel Referenzansätze. Ebenso sind für einige der Projekte zeitlich schnell umsetzbare Lösungen nötig, die einem Start-up-Charakter entsprechen. Von Anfang an wurde auch vor diesem Hintergrund die Kooperation mit den oben erwähnten Start-up-Akzeleratoren in Baden-Württemberg gesucht. Diesem Bestreben kam zugute, dass sich in Freiburg zudem der sogenannte Kreativpark, der auch die Heimat des Landes-Accelerators „Smart Green Accelerator“ (SGA) ist, etablierte. Der Pfizer Healthcare Hub Freiburg wurde dort Industriepartner der ersten Stunde (Smart Green Accelerator 2018). Neben der jahrelangen konsequenten Ausrichtung im Bereich Nachhaltigkeit, den aktuellen Auszeichnungen des Standortes in den Bereichen Ressourceneffizienz (Schmidt et  al. 2019) und Industrie 4.0 (BMWi 2018; Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg 2018) passt das stringent zur Geschichte, da Pfizer als das „schwäbische Start-up mit der überzeugenden Geschäftsidee“ hier quasi zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Aus der Industriepartnerschaft mit dem „Smart Green Accelerator“ resultierten bereits im ersten Kooperationsjahr konkrete Projekte, die sowohl im Bestand am Standort als auch in Neubauvorhaben diskutiert werden. Zudem ist hier ein Netzwerk um das Innovationsökosystem Baden-Württemberg entstanden, das eng mit der Start-up-Nation Israel kooperiert. Über Start-ups hinaus werden auch Tech-Companies und Innovationsnetzwerker aktiv in die laufenden Fragestellungen eingebunden.

21.6.2 Pfizer Healthcare Hub 2.0 Während die Innovationsszene in Baden-Württemberg stark auf Business-to-Business (B2B) ausgerichtet ist, stehen im Berliner Health-Innovationsökosystem stärker Business-­ to-­Customer-Ansätze (B2C) im Fokus. Somit eröffnete die Idee der beiden Hubs verstärkt den Zugang zu beiden Welten bzw. die Möglichkeit des Transfers von Berliner Lösungen nach Freiburg und umgekehrt. Auf diese Weise ergeben sich Synergien, die mittels der engen Zusammenarbeit beider Hubs im Sinne eines „Hub 2.0“ gehoben werden können und bis in die internationale Pfizer-Organisation Impulse setzen (siehe Abb. 21.3). Dies begann bei der gemeinsamen wechselseitigen Präsenz auf den Veranstaltungen, die so eine breitere und thematisch vielfältigere Schnittstelle für die Start-ups boten. In der Folge führte es zudem häufig zur gemeinsamen Bewertung von Start-up-Pitches durch beide Hub-Teams. Später wurde die Zusammenarbeit durch die Präsenz einer Mentorin aus dem Berliner Hub im Life Science Accelerator Baden-Württemberg weiter ausgebaut. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die enge Verzahnung der Hubs im „Umzug“ zweier als positiv bewerteten Start-ups aus Berlin nach Freiburg in den „Smart Green Accelerator“, bei dem Pfizer wie beschrieben Industriepartner der ersten Stunde ist.

21  Konzepte und Faktoren für Innovation bei Pfizer

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Abb. 21.3  Struktur und Schwerpunkte der deutschen Pfizer Healthcare Hubs. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Pfizer 2019b)

Sicher ist dies nicht der Endpunkt. Da es in Baden-Württemberg mehrere Universitätskliniken mit einem entsprechenden Innovationsumfeld im Start-up- und Spin-off-Bereich gibt, erwartet sich auch der Berlin Hub früher oder später Impulse für die Bereicherung des B2C-Ansatzes.

21.7 Schlussbetrachtung Mittlerweile arbeiten die beiden nationalen Pfizer Healthcare Hubs in Berlin und Freiburg immer intensiver zusammen und profitieren dabei gegenseitig von ihren Erfahrungen und Kooperationen, wobei sie zugleich Impulse ins globale Pfizer-Netzwerk geben. Der so entstandene Ansatz „Hub 2.0“ bewährt sich zunehmend und ist gleichzeitig erneut Vorreiter in der globalen Pfizer-Start-up-Innovationskultur. Dabei verbinden sich die Ansätze in den Bereichen „Green Economy“ und “Life Science“ zu immer besseren und nachhaltigeren Lösungen zum Wohle der Patienten und der Umwelt – bei gleichzeitigem weiterem Wachstum für das Unternehmen.

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Literatur Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg (2018) Pfizer: Continuous Mixing Technology  – das Herzstück der kontinuierlichen Produktion als Kern des Fully Automated Supply and Transport-­ Konzept. Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg. https://www.i40-bw.de/de/100orte/pfizer-manufacturing-deutschland-gmbh/. Zugegriffen am 09.04.2019 BadenCampus (2018) Homepage, Baden Campus. https://badencampus.de/. Zugegriffen am 08.04.2019 BMWi (2018) PLATTFORM Industrie 4.0, Pfizer Manufacturing Deutschland GmbH – Continuous Mixing Technology. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). https://www.plattform-i40.de/I40/Redaktion/EN/Use-Cases/484-pfizer/beitrag-pfizer.html. Zugegriffen am 08.04.2019 Landesregierung Baden-Württemberg (2017) Großer Start-up-Gipfel des Landes. Staatsministerium Baden-Württemberg. https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/ grosser-start-up-gipfel-des-landes-auf-der-neuen-messe-stuttgart/. Zugegriffen am 08.04.2019 Life Science Accelerator Baden-Württemberg (2018) Homepage, Life Science Accelerator Baden-­ Württemberg. http://www.lifescience-bw.de/. Zugegriffen am 08.04.2019 Pfizer (2019a) Der Pfizer Dare-to-Try-Ansatz, internes Schulungsdokument. Berlin Pfizer (2019b) Homepage, Pfizer Healthcare Hub. https://healthcarehub.pfizer.de/. Zugegriffen am 08.04.2019 Pfizer (2018) Pfizer’s Green Journey. Pfizer. https://www.pfizer.com/purpose/workplace-responsibility/green-journey. Zugegriffen am 08.04.2019 Schmidt M, Spieth H, Haubach C, Preiß M, Bauer J (2019) 100 Betriebe für Ressourceneffizienz, Bd. 2, Praxisbeispiele und Erfahrungen, Springer Spektrum. Springer, Berlin/Heidelberg Smart Green Accelerator (2018) Homepage, Smart Green Accelerator (Hrsg). https://smartgreen-­ accelerator.de/. Zugegriffen am 08.04.2019 Wirtschaft digital Baden-Württemberg (2019) Digitalisierungsstrategie des Landes Baden-Württemberg digital@bw, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg. https://www.digital-bw.de. Zugegriffen am 08.04.2019

Ekaterina Alipiev  ist Mitinitiatorin und Leiterin des Pfizer Healthcare Hub Berlin. Vor ihrer Tätigkeit bei Pfizer hat sie das E-Health-Start-up Jourvie im Bereich psychische Gesundheit gegründet und aufgebaut, das mit diversen Preisen ausgezeichnet wurde und breite mediale Aufmerksamkeit findet. Darüber hinaus ist sie Mentorin für Start-ups in verschiedenen Akzeleratorprogrammen sowie Mitglied des Health-i-Boards vom Handelsblatt und der Techniker Krankenkasse. Peter Neske  MHBA, ist seit 1988 in der pharmazeutischen Industrie tätig. Gestartet bei der Farmitalia Carlo Erba GmbH kam er durch Fusionen und Akquisitionen zur Pfizer Pharma GmbH. Dort leitet er als Innovation Lead den Pfizer Healthcare Hub Freiburg. Er ist Vorstandsmitglied der Health-Region Freiburg, einem interdisziplinären Gesundheitscluster in Südbaden. Darüber hinaus engagiert er sich in zahlreichen Arbeitsgruppen und Initiativen im Innovations-Ökosystem der Gesundheitswirtschaft in Baden-Württemberg.

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Ralph Lägel  MBA, leitete bis Mitte 2018 den Pfizer Healthcare Hub Berlin. Inzwischen ist er Mitinhaber und Geschäftsführer eines Versorgungsforschungsinstituts (inav GmbH) und betätigt sich als Business Angel für Start-ups (Cap4Health GmbH & Co. KG). Seit vielen Jahren ist er zudem Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Managed Care e. V. (BMC). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von innovativen, digital unterstützten Versorgungskonzepten sowie in der strategischen Beratung zu den Aspekten der Digitalisierung und des Marktzugangs im Gesundheitswesen. Er ist Mitautor und Mitherausgeber zahlreicher Publikationen zu den vorgenannten Themenkreisen.

Innovationen an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln: Herausforderungen für Firmen und Verbraucher

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Stefanie Bröring, Sukhada Bidkar und Carolin Kamrath

Inhaltsverzeichnis 22.1  I ndustrie Konvergenz und Grenzprodukte  22.2  Herausforderungen für Firmen  22.2.1  Herausforderungen auf gesetzlicher und industrieller Ebene  22.2.2  Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene  22.3  Wahrnehmung durch Verbraucher  22.3.1  Wahrnehmung der Inhaltsstoffe  22.3.2  Wahrnehmung der Grenzprodukte  22.4  Schlussbetrachtung und Ausblick: Möglichkeit der Personalisierung  Literatur 

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Zusammenfassung

Das Zusammenwachsen unterschiedlicher Wissens- und Technologiefelder oder gar ganzer Branchen stellt ein hochaktuelles empirisches Phänomen dar, was in unterschiedlichen Sektoren beobachtbar ist. Dieses Kapitel ordnet sich in die Konvergenzliteratur ein und fokussiert Hybrid- oder Grenzprodukte, die Funktionalitäten vormals getrennter Branchen und Leistungsangebote kombinieren. In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl solcher Grenzprodukte (z. B. funktionelle Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel) an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln entstanden, welche verändernde Bedürfnisse von Verbraucher hinsichtlich Ernährung und Gesundheit mit einem einzigen Produkt ansprechen sollen. Die Einführung dieser Grenzprodukte wird von Unternehmen sowie Verbrauchern angetrieben. In diesem Kontext ergründet S. Bröring (*) · S. Bidkar · C. Kamrath Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_22

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dieses Kapitel für beide Stakeholder-Gruppen die Herausforderungen, die im Bezug zu Grenzprodukten stehen, auf verschiedenen Ebenen (z. B. auf Gesetzes-, Industrie-, Gesellschafts-, Inhaltstoff- sowie Produkt-Ebene). Die Analyse zeigt, dass neben diesen verschiedenen Herausforderungen (z. B. spezielle Vorschriften, Kategorisierung, Verbraucherwahrnehmung und Akzeptanz) aufgrund des hybriden Charakters der Grenzprodukte zwischen Lebens- und Arzneimitteln, diese innovativen Produktkonzepte mehrere Forschungs- und Innovationsmöglichkeiten, wie z. B. eine personalisierte Ernährung, bieten.

22.1 Industrie Konvergenz und Grenzprodukte Weltweite Entwicklungstrends wie eine steigende Weltbevölkerung, klimatische Veränderungen, Urbanisierung, Mangelernährung, steigenden Gesundheitskosten sowie Lebensmittelverschwendung und -Verluste als auch Ressourcenknappheit fordern das globale Nahrungsmittelsystem heraus. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind neue Technologien auf verschiedenen Ebenen der Lebensmittelversorgungskette erforderlich, um die Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten. Der Entwicklungsprozess neuer Technologien und der dafür erforderlichen Kompetenzen führt dazu, dass verschiedene Branchen zusammenwachsen und es zu einer „Industriekonvergenz“ kommt (Bröring 2007). Industriekonvergenz kann dabei als das Verschwimmen der technischen und gesetzlichen Grenzen zwischen Wirtschaftssektoren beschrieben werden (OECD 1992, S. 13). Produkte, welche an der Grenze bisher getrennter Branchen entstehen, werden Borderline-Produkte, Hybridprodukte oder Grenzprodukte genannt. Smartphones sind vermutlich das bekannteste Ergebnis eines vollständigen Konvergenzprozesses zwischen der Telekommunikations- und Konsumentenelektronik-Branche (Bröring et  al. 2006; Bröring und Cloutier 2008). Funktionen bestehender, unterschiedlicher Produkte aus zuvor unabhängig voneinander agierenden Industriesektoren werden dabei in Grenzprodukten integriert (Katz 1996; Stieglitz 2003; Yoffie 1997). Aufgrund der vielschichtigen Eigenschaften von Herausforderungen ist die Analyse der Innovationsprozesse dieser Produkte für verschiedene Interessengruppen wie Politik, Industrie, Verbraucher oder Wissenschaftler von zentraler Bedeutung. In den letzten Jahren sind die Grenzen zwischen Ernährungs- und medizinischer Forschung aufgrund neuer Wissens- und Technologiegebiete verschwommen. Weitere Gründe für das Verschwimmen dieser Grenze sind veränderte Lebensstile, steigende Kosten in der Gesundheitsvorsorge und ein wachsendes Interesse der Konsumenten an Selbstmedikation und Krankheitsprävention. Grundsätzlich sind Lebensmittel im Vergleich zu Arzneimitteln durch eine geringe technische Komplexität gekennzeichnet und ihre Hauptfunktion gilt der Erhaltung eines guten Gesundheitszustandes, während Arzneimitteln hohe technologische Komplexität aufweisen und der Fokus auf der Behandlung von Krankheiten liegt (Clydesdale 2005). Folglich ist es deshalb möglich, zwischen Lebensmitteln und

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Medikamenten ausschließlich basierend auf der primären Produktpositionierung zu unterscheiden. In den letzten Jahrzehnten weisen die Lebensmittel- und Pharmaindustrie jedoch zunehmend Tendenzen einer komplementären Konvergenz auf. Denn eine Vielzahl an Produkten, die neben ihrer Funktion als Grundnahrungsmittel auch einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen bieten, sind in den Markt vorgedrungen (Bröring 2013; Castellini et al. 2002; Cencic und Chingwaru 2010; Khedkar 2018). Diese hybriden Produkte weisen bis zu einem gewissen Grad sowohl Eigenschaften von Lebensmitteln (Ernährung) als auch von Pharmazeutika (Senkung von Risikofaktoren bestimmter Krankheiten) auf und lassen die Grenzen zwischen Lebensmittel- und Pharmaindustrie verschwimmen. Deutlich wird dies am Beispiel der vielzitierten cholesterinsenkenden Margarine (z. B. Becel Pro Aktiv), die ein klassisches Grenzprodukt darstellt (Bröring 2005 und vgl. Khedkar et  al. 2017; siehe auch Verordnung EC 178/2002 für Lebensmittel und Direktive 2001/83/EC ergänzt durch die Definition medizinischer Produkte in der Richtlinie 2004/27/EC; Europäische Kommission 2002 und Europäische Union 2004). Abb.  22.1 stellt die Konvergenz zwischen Lebensmittel- und Pharmaindustrie mit den entsprechenden Grenzprodukten dar. Neben der Anpassung an Verbraucherbedürfnisse bieten Produkte zwischen Lebensund Arzneimitteln den Unternehmen Differenzierungs- und Innovationsmöglichkeiten (Bröring 2005). Unternehmen sind allerdings mit einigen Hindernissen hinsichtlich des rechtlichen Rahmens (Kennzeichnung und Auslobung) und Wahrnehmung bzw. fehlender Verbraucherakzeptanz von Grenzprodukten (z.  B.  Einsatz neuer Technologien) konfrontiert. Da Grenzprodukte an der Schnittstelle von mindestens zwei Branchen liegen, ist ihre rechtliche Klassifikation als Lebens- oder als Arzneimittel oftmals nicht eindeutig. Der hybride Charakter kann somit zu einer unklaren Produktkategorisierung von Grenzprodukten führen und Abgrenzungsprobleme aufwerfen (siehe gemeinsame ­Expertenkommission

Abb. 22.1  Konvergenz zwischen Lebensmitteln und Pharmazeutika führt zu Grenzprodukten. (Quelle: Eigene Darstellung nach Bröring et al. 2017; Khedkar et al. 2017)

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S. Bröring et al.

zur Einstufung von Stoffen, welche zwischen dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit [BVL] und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [BfArM] angesiedelt ist). Darüber hinaus ergeben sich häufig Herausforderungen bei der Einführung neuer Produkte, da es sich bei Grenzprodukten um sehr erklärungsbedürftige Produkte handelt, denen Verbraucher skeptisch gegenüberstehen (Lusk et al. 2014). Daher müssen Unternehmen versuchen zu verstehen, wie Einzelpersonen Grenzprodukte bewerten und was ihre Wahrnehmung beeinflusst. Allgemein kann die Akzeptanz von Grenzprodukten von mehreren Aspekten abhängen, wie etwa dem Verständnis von Grenzprodukten und ihren (funktionalen) Inhaltsstoffen (Bornkessel et al. 2014), der Involvierung bei der Kaufentscheidung oder der Gesamtwahrnehmung der Funktionalität und dem Aussehen dieser Produkte. Vor allem an der Schnittstelle zwischen Lebens- und Arzneimitteln müssen die einzelnen Akteure in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie über ergänzende Kompetenzen verfügen, die eine enge Zusammenarbeit erfordern, um Markterfolge zu erzielen (Bröring 2005 und vgl. Khedkar 2018). Letztlich könnten sich diese Herausforderungen auf die Innovationsaktivitäten, die Produktpositionierung und Kommunikationsstrategien von Unternehmen im Hinblick von Grenzprodukten auswirken (Verbeke 2006; Khedkar 2018). Vor diesem Hintergrund konzentriert sich dieses Kapitel auf die Dynamik von und die Herausforderungen für Unternehmen und Verbraucher im Kontext von Grenzprodukten an der Schnittstelle zwischen Lebens- und Arzneimitteln. Zunächst werden im Abschn. 22.2 die Herausforderungen, mit denen Unternehmen konfrontiert sind, im Zusammenhang mit Technologieschub („technology push) und Markt-Sog („market pull“) (vgl. Hauschildt et  al. 2016) gesetzlichen Rahmenbedingungen, Innovationsaktivitäten und Marktnachfrage im Detail diskutiert. Abschn. 22.3 analysiert die Wahrnehmung von Verbrauchern und ihre Beziehung zu Grenzprodukten, indem die Wahrnehmung der Verbraucher zu verschiedenen Aspekten von Grenzprodukten, ihre Involvierung bei der Kaufentscheidung und ihre Akzeptanz neuer Lebensmitteltechnologien untersucht werden. Schließlich werden im Abschn. 22.4 zukünftige Trends wie die personalisierte Ernährung aufgeführt und Ausblicke auf weitere Forschungsmöglichkeiten beschrieben.

22.2 Herausforderungen für Firmen Generell lässt sich sagen, dass industrielle Konvergenz ein immenses Potenzial für Produktinnovation an der Grenze von zwei oder mehreren Industriesektoren birgt. Bevor wir konkret über die Lebensmittel- und Pharmaindustrie sprechen, nehmen wir eine breitere Perspektive ein und betrachten die wichtigsten Arten der Branchenkonvergenz und ihre Triebkräfte. Dies ist wichtig, um Herausforderungen und Chancen für verschiedene Unternehmen zu analysieren, die an der Branchenkonvergenz beteiligt sind. Die bestehende Literatur (z.  B.  Bröring 2005, 2013; Greenstein und Khanna 1997) unterscheidet hauptsächlich zwei Arten der Konvergenz:

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• Substitutive Konvergenz (1 + 1 = 2): Im Falle der substitutiven Konvergenz verschmelzen zwei Industriesektoren zu einem neuen Sektor, der die ehemals getrennten Sektoren komplett ersetzt und damit substituiert (z. B. Smartphones). • Komplementäre Konvergenz (1 + 1 = 3): In der komplementären Konvergenz entsteht ein völlig neues Industriesektor- oder Interindustriesektorsegment, welches die ursprünglichen Industriesektoren ergänzt, während diese bestehen bleiben (z.  B.  Nahrungsergänzungsmittel). In Bezug auf die Treiber der Industriekonvergenz schematisiert die bestehende Literatur zur Konvergenzforschung (siehe Bröring 2005; Curran 2013) folgende Faktoren: • technologische (Technologie, F & E-Aktivitäten von Wissenschaftlern), • betriebswirtschaftliche (Kreativität und Innovationen des Managements, neue Geschäftsmodelle), • industrielle (Branchenpositionierung und -struktur), • politische (Verordnungen, Liberalisierung, Standardisierung) und • gesellschaftliche (demografischer Wandel, Konsumtrends). Im Allgemeinen hängen die Treiber der Branchenkonvergenz mit Vorschriften, Technologien und Märkten zusammen, die eine wichtige Rolle bei der Unternehmensführung, der Innovation und dem endgültigen Erfolg von Grenzprodukten spielen (vgl. Weaver 2007). All diese Faktoren gelten auch für die Untersuchung von Industriekonvergenz und Innovationen im Kontext der Lebensmittel- und Pharmaindustrie. Unter den Innovationstreibern in der europäischen Lebensmittelindustrie im weiteren Sinne machen die technologischen Entwicklungen im Gesundheitssektor und im Gesundheitswesen fast jede vierte eingeführte Innovation aus und sind der dynamischste Treiber der (Lebensmittel-)Innovation im Hinblick auf das Wachstum (FoodDrinkEurope 2016). Gesellschaftliche Dynamiken wie Verbrauchertrends sowie sich aufgrund des demografischen Wandels ändernde Verbrauchererwartungen haben auch Innovationen in Form von Grenzprodukten gefördert. Sowohl bestehende rechtliche Rahmenbedingungen als auch eine ausreichende Verfügbarkeit von Ressourcen ermöglichen es Unternehmen, innovative Produkte auf den Markt zu bringen und Innovationsaktivitäten durchzuführen. Neben diesen Faktoren könnten individuelle Überzeugungen und Einstellungen auf der Mikroebene (z.  B. die Wahrnehmung von Grenzprodukten durch Manager oder Verbraucher) die Innovationsergebnisse auf der Makroebene beeinflussen (vgl. Microfoundations; Coleman 1990; Felin et al. 2015). Die Entwicklung und Umsetzung dieser Innovationen hängt jedoch auch von Unternehmen ab, die vor bestimmten Herausforderungen auf gesetzlicher, industrieller oder gesellschaftlicher Ebene stehen. Diese Herausforderungen sind in Abb. 22.2 dargestellt.

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S. Bröring et al. Herausforderungen auf gesetzlicher Ebene • Fehlende rechtliche Definition • Fehlende Ressourcen für die Einhaltung der Vorschriften • Unklare Kriterien für die Kategorisierung von Grenzprodukten

Grenzprodukte an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln

Herausforderungen auf industrieller Ebene Notwendigkeit, Wissen und Kompetenzen aus • unterschiedlichen Bereichen zu integrieren Kompetenzlücken • • Produktpositionierung-und Kategorisierung

Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene • Verständnis der Verbraucherwahrnehmung • Verständnis der Verbraucherkategorisierung von Grenzprodukten • Produktkommunikationsstrategien

Abb. 22.2  Herausforderungen für Unternehmen auf gesetzlicher, industrieller und gesellschaftlicher Ebene. (Quelle: Eigene Darstellung nach Khedkar 2018)

22.2.1 Herausforderungen auf gesetzlicher und industrieller Ebene Grenzprodukte bewegen sich im unscharfen und grauen Regelungsbereich zwischen mindestens zwei Industriezweigen (Bröring 2005). Diesen Produkten fehlt eine rechtliche Definition, damit einhergehend auch eine rechtliche Kategorisierung und ein spezifischer rechtlicher Rahmen. Dies zeigt sich auch in den „Fall-zu-Fall“-Regelungen dieser Produktgruppe (Selletti 2011). Im Zusammenhang mit gesetzlichen Unklarheiten stehen Unternehmen daher bei der Entwicklung solcher Grenzprodukte vor mehreren Herausforderungen. Im speziellen Fall von funktionellen Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln fehlt den Produkten eine allgemein akzeptierte rechtliche Definition. Generell können funktionelle Lebensmittel als Träger von funktionellen Inhaltsstoffen mit bestimmten gesundheitlichen Vorteilen interpretiert werden (Bornkessel et  al. 2014). Sie bleiben dabei jedoch Teil eines normalen Ernährungsmusters (Diplock et al. 1999). Nahrungsergänzungsmittel (in Form von Tabletten oder Dragees) sind von der Aufmachung und Verpackung her eher den Arzneimitteln (Präsentationsarzneimittel) zuzuordnen, gelten jedoch laut EU-Regulation (EC) Nr. 178/2002 als Lebensmittel (Europäische Kommission 2002). Diese Verordnung definiert „Lebensmittel“ als alle Stoffe oder Produkte, unabhängig davon, ob sie verarbeitet, teilweise verarbeitet oder unverarbeitet sind, die dazu bestimmt sind oder von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie vom Menschen aufgenommen werden (Regulation [EC] Nr. 178/2002, Europäische Kommission 2002, Artikel 2). Daher gelten neben funktionellen Lebensmitteln auch Nahrungsergänzungsmittel als Lebensmit-

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tel. Sie sind also keine medizinischen Produkte, die in Form eines „Produktclaims“ behaupten, die physiologischen Funktionen des Körpers wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu verändern (Europäische Kommission 2002). Dies veranschaulicht die Unklarheiten gegenüber der Definition von Grenzprodukten an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln. Somit können einhergehende Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Einhaltung der z.  B. genannten Vorschriften für Unternehmen sehr abschreckend sein. Für Unternehmen ist es daher von großer Bedeutung, sich der Herausforderung der Produktkategorisierung zu stellen, indem das Produkt mit seinen Eigenschaften klar positioniert und kommuniziert wird, um den Verbraucher nicht irrezuführen (vgl. Khedkar et al. 2017). Im Rahmen der Regelung von Grenzprodukten an der Schnittstelle zwischen Lebensund Arzneimitteln reguliert die Politik mehrere Aspekte, wie beispielsweise die von Unternehmen gewählten Kommunikationswege. Die Kommunikation zusätzlicher gesundheitlicher Vorteile solcher Produkte (sog. „Credence Attribute“) (Darby und Karni 1973) kann sich in nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben widerspiegeln, die den zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen der Lebensmittel für den Verbraucher hervorheben. Politische Entscheidungsträger könnten derartige Methoden durch die Einführung neuer gesetzlicher Rahmenbedingungen wie der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel der EU steuern. Unternehmen (insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen) verfügen möglicherweise nicht über die erforderlichen Forschungs-, Entwicklungs-, Finanzmittel, um die neuen Verordnungen einzuhalten, was zu mehr Kooperation zwischen den Markenartikeln aus der Lebensmittelindustrie und forschungsstarken Zulieferern der Spezialchemie oder sogar der Pharmaindustrie führen kann. Dies kann sowohl die Innovationsaktivitäten positiv beeinflussen als auch weitere Herausforderungen auf Industrieebene im Zusammenhang mit Grenzprodukten schaffen (vgl. Bröring 2005, 2016; Khedkar 2018). Darüber hinaus erläutern Hardy et al. (2003), dass die Regulierung von Grenzprodukten auf Arzneimittelniveau zu erhöhten Kosten und zur Unterdrückung von Innovationen führen kann. Die zentrale Herausforderung für Firmen ist die Notwendigkeit, Wissen und Kompetenzen aus unterschiedlichen Bereichen zu integrieren. Dies führt zu Kompetenzlücken: Denn ein Lebensmittelhersteller verfügt nicht über die nötige Forschungs- und Entwicklungskompetenz, um bspw. klinische Evidenz von Gesundheitswirkungen darzustellen. Ebenso haben Pharmafirmen oder auch Spezialchemiehersteller keinerlei Markenbekanntheit im Business-to-Consumer-Geschäft. Firmen müssen sich das notwendige Know-how aneignen und Kompetenzlücken frühzeitig mittels Kooperation schließen, um eine erfolgreiche Marktentwicklung neuer Produkte an der Grenze zu Lebensmitteln und Arzneimitteln zu erreichen (Bröring 2005).

22.2.2 Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene Unternehmen sind bestrebt, geeignete Produktpositionierungs- und Kommunikationsstrategien anzuwenden, um den veränderten Verbrauchererwartungen an gesundheitsfördernde Grenzprodukte gerecht zu werden (Bremmers et al. 2013; Bröring und Khedkar

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2018). In diesem Zusammenhang ist es für Unternehmen wichtig, mehrere Aspekte des Konsumverhaltens (Verbeke 2006) wie Wahrnehmung, Akzeptanz und Involvierung zu analysieren. Denn der Erfolg von Grenzprodukten hängt stark davon ab, wie die Verbraucher sie wahrnehmen (Gray et al. 2003). Zu diesem Zweck könnten Unternehmen vor der Herausforderung stehen, die vielfältigen Wahrnehmungen der Konsumenten im Kontext von Grenzprodukten und deren verschiedenen Aspekten zu verstehen (Khedkar 2018; Lähteenmäki et  al. 2010; Mejborn 2007). Im Allgemeinen steht die Funktionalität von Grenzprodukten im Mittelpunkt, die sich direkt auf die Kosten, die Kundenzufriedenheit und die Differenzierungsstrategien der Unternehmen auswirkt. In Hinblick auf die Funktionalität des Produktes beschreibt das Dilution-Modell jedoch, dass das Hinzufügen zusätzlicher Funktionalitäten zu einem Produkt dazu führt, dass mit jeder weiteren hinzugefügten Funktion seine wahrgenommene Wirksamkeit abnimmt (Han et al. 2009; Zhang et al. 2007). Die Anwendung des Dilution-Modells (Han et al. 2009; Zhang et al. 2007) auf den Bereich der Lebens- und Arzneimittel bedeutet, dass Verbraucher im Vergleich zu gesundheitsbezogenen Grenzprodukten, Arzneimittel als leistungsorientierter (d.  h. mit besserer Wirksamkeit) wahrnehmen könnten. In diesem Bezug, wenn Verbraucher mehr Wert auf Funktionalität liegen, könnten sie gewidmete Produkte („Dedicated Products“) wie Arzneimittel (d. h. Produkte für bestimmte Typen von Abnehmern bzw. für Abnehmergruppen) anstelle von Grenzprodukte bevorzugen (vgl. Han et al. 2009; Khedkar et al. 2017; Zhang et  al. 2007). Außerdem kann die Integration von zu vielen verschiedenen Funktionen in ein einzelnes Produkt zur „Feature Fatigue“ des Verbrauchers führen (Gibbert und Mazursky 2009). Folglich erscheint die „Überfrachtung“ eines Produktes – wie teilweise empirisch im Bereich der funktionellen Lebensmittel beobachtbar – mit zu vielen „Health Claims“ (z. B. Vitamin C für das Immunsystem und gleichzeitig Omega 3 für die Herzfunktion etc.) als wenig erfolgsversprechend. Wegen der unklaren Kategorisierungen von Grenzprodukten kann es auch vorkommen, dass Verbraucher den Nutzen von Grenzprodukten unterschätzen, indem sie das Grenzprodukt auf Grundlage einer bereits existierenden Produktkategorie bewerten (Rajagopal und Burnkrant 2009). Daher müssen Unternehmen nicht nur ein Gleichgewicht zwischen Kernfunktionen und zusätzlichen Funktionalitäten finden, sondern auch verbrauchergruppenspezifische Kommunikationsstrategien entwickeln, um den Wert und die Wirksamkeit von Grenzprodukten zu vermitteln. In diesem Zusammenhang könnten Unternehmen analysieren, wie viel Multifunktionalität von den Verbrauchern in Grenzprodukten gewünscht wird. Während die Politik Verbraucherschutz vor irreführenden Behauptungen von Unternehmen anstrebt, ist es für die Unternehmen notwendig zu verstehen, wie die Verbraucher Grenzprodukte wahrnehmen, kategorisieren und akzeptieren, um Renditen für ihre Investitionen in Forschung und Entwicklung zu erzielen (Contini et al. 2015). Die Verbraucher verbinden bestimmte Werte mit bestimmten Produkten (Mittal und Lee 1989), welche ihre Involvierung in der endgültigen Kaufentscheidung beeinflussen. Vor ihren Kaufentscheidungen könnten Verbraucher Informationen aus verschiedenen Informationsquellen wie Zeitschriften, Internet oder Fernsehen sammeln. Im Kontext von Ernährung und Gesundheit wurde festgestellt, dass die Befragten, die über Lebensmittel und Ernährung gut infor-

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miert waren, eher ein gesundes Ernährungsverhalten aufwiesen (Bogue et al. 2005; Mulders et al. 2018). Bei der Kaufentscheidung sind Konsumenten mit den Glaubwürdigkeits­ eigenschaften („Credence Attributes“) der Produkte konfrontiert, d. h. Eigenschaften des Produktes, die sie vor und nach dem Kauf nicht beobachten und prüfen können. Aufgrund der Glaubwürdigkeitseigenschaften und der Werte, welche die Verbraucher mit diesen Produkten verbinden, ist es für eine geeignete Kommunikationsstrategie notwendig, ihre Wahrnehmung gegenüber verschiedenen Aspekten von Grenzprodukten zwischen Lebens- und Arzneimitteln zu verstehen (Cranfield et al. 2011; Darby und Karni 1973; Mittal und Lee 1989). Die vorhandene Literatur unterstreicht, dass die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Verbraucher und/oder den Bedürfnissen und Merkmalen von Grenzprodukten auf dem Markt zum hohen Risiko eines Produktversagens in dieser Produktkategorie beitragen könnte (Hardy 2010; Heasman und Mellentin 2001; Stein und Rodríguez-Cerezo 2008; Urala und Lähteenmäki 2007; van Kleef et al. 2002). Bei der Entwicklung von Produktkommunikationsstrategien müssen Unternehmen daher relevante Aspekte des Konsumentenverhaltens im Zusammenhang mit Grenzprodukten zwischen Lebens- und Arzneimitteln versuchen zu verstehen. Auf der technologischen Ebene haben neue Entwicklungen (z. B. 3D-­Lebensmitteldrucker) das Potenzial, gesunde Lebensmittel zu entwickeln, alternative funktionale Inhaltsstoffe (z. B. Proteinquellen) zu verwenden oder Produkte auf Grundlage des individuellen Ernährungsbedarfs anzupassen, während sie gleichzeitig dazu beitragen könnten, die Überproduktion bzw. die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren, da Lebensmittel dem Bedarf entsprechend (on demand) gedruckt werden (Derossi et al. 2019; Tian et al. 2016). Dennoch müssen solche Technologien von den Verbrauchern akzeptiert werden, um Markterfolge zu erzielen. Unternehmen könnten in diesem Zusammenhang vor Herausforderungen stehen, da die Verbraucher möglicherweise nicht über den technologischen Hintergrund innovativer Grenzprodukte informiert sind. Sie könnten solche Technologien und die daraus resultierenden Produkte als künstlich, unnatürlich und nicht vertrauenswürdig wahrnehmen oder ihren Gesundheits- und Umweltauswirkungen skeptisch gegenüber stehen (Bravi et al. 2017; Brunner et al. 2018; Gayler et al. 2018). Dies kann sich auf die Akzeptanz der Produktinnovation auswirken, was die Bedeutung für Unternehmen unterstreicht, das Verhalten der Verbraucher im Rahmen technologischer Entwicklungen an der Schnittstelle zwischen Lebens- und Arzneimitteln zu analysieren.

22.3 Wahrnehmung durch Verbraucher Im Abschn. 22.2 wurden Herausforderungen aufgezeigt, vor denen Unternehmen in Hinblick auf Grenzprodukte stehen. Nun werden diese Produkte an der Schnittstelle von Lebensmitteln und Arzneimitteln aus Verbrauchersicht diskutiert, wobei insbesondere auf die Verbraucherwahrnehmung von Grenzprodukten auf Ebene der a) Inhaltsstoffe und b) Produkte eingegangen wird.

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22.3.1 Wahrnehmung der Inhaltsstoffe Die Verbraucherwahrnehmung innovativer Produkte ist nicht immer vorhersehbar (Weenen et  al. 2013). So beeinflussen verschiedene Faktoren auch die Verbraucherwahrnehmung und -akzeptanz von Grenzprodukten. Grenzprodukte sind insbesondere gekennzeichnet durch ihren zusätzlichen gesundheitlichen Vorteil, der sich aus einem Inhaltsstoff oder einer Kombination von Inhaltsstoffen, die in dem analogen konventionellen Produkt fehlen oder in kleinen Konzentrationen vorhanden sind, ergibt. Da solche Inhaltsstoffe eine zusätzliche „Funktionalität“ bieten, werden sie als „funktionelle Inhaltsstoffe“ bezeichnet (Plaza et  al. 2008). Somit ist ein Schlüsselfaktor für die Verbraucherwahrnehmung das Bewusstsein der Verbraucher gegenüber funktionellen Inhaltsstoffen. Dabei könnten die Verbraucher mit bestimmten Inhaltsstoffen vertraut sein, ohne sich anderer bewusst zu sein, die für ein reibungsloses Funktionieren des Körpers gleichermaßen oder sogar noch wichtiger sein könnten. Insgesamt kann sich das Bewusstsein der Verbraucher für Inhaltsstoffe auch auf ihre Involvierung („Grad der Ich-Beteiligung im Kaufprozesse“) bzgl. des Grenzprodukts auswirken, die wiederum ein beeinflussender Faktor auf die Aufmerksamkeit (kognitive Informationsverarbeitung von „Health Claims“) und damit den tatsächlichen Kauf eines erklärungsbedürftigen Produktes ist. Eine Studie von Bornkessel et al. (2014) hat das Verbraucherbewusstsein für funktionelle Inhaltsstoffe und dessen Einflussfaktoren anhand von 200 deutschen Verbrauchern untersucht. Dabei fokussiert sich die Studie auf 10 funktionelle Inhaltsstoffe, die unterschiedliche Forschungshintergründe aufzeigen. Die Autoren fanden heraus, dass 96  %, 94 % und 89 % der Verbraucher mit Vitamin C, Kalzium und Ballaststoffen vertraut waren und bezeichnen sie daher als die bekanntesten funktionellen Inhaltsstoffe. Glucosamin, Phytosterin und Xylitol waren nur 18 %, 6 % bzw. 2 % der Verbraucher bekannt und waren somit die am wenigsten bekannten funktionellen Inhaltsstoffe. Was die Einflussfaktoren betrifft, so ergab die Studie, dass die Gesundheitsmotivation der Verbraucher die höchste Relevanz für die Erklärung des Verbraucherbewusstseins hatte. Zudem hatten auch die Faktoren „Informationsstrategien“ und „Verbraucheraufklärung“ einen signifikanten Einfluss auf das Bewusstsein der Verbraucher für Inhaltsstoffe. Weiterhin räumten die Autoren ein, dass die Verbraucherakzeptanz von Grenzprodukten auch davon abhängen kann, ob funktionelle Inhaltsstoffe natürlich vorkommen oder dem Endprodukt zugesetzt ­werden. Im Allgemeinen ist das Bewusstsein für Inhaltsstoffe bei den Verbrauchern sehr unterschiedlich. Da der Durchschnittsverbraucher eher ein begrenztes Wissen über bestimmte funktionelle Inhaltsstoffe besitzt, ist es für Unternehmen von großem Interesse, sicherzustellen, dass die Verbraucher bestimmte funktionelle Inhaltsstoffe, die sie vermarkten möchten, kennen und mit diesen vertraut sind.

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22.3.2 Wahrnehmung der Grenzprodukte Auf der Produktebene kann die Verbraucherwahrnehmung von Grenzprodukten an der Schnittstelle von Lebens- und Arzneimitteln von mehreren Faktoren wie Marke, Preis, Verpackung, Aussehen oder Funktionalität abhängen (Ares 2011). In Hinblick auf gesundheitsbezogene Grenzprodukte ist das Aussehen (lebensmittelähnlich oder pharmazeutisch) ein wichtiger Aspekt, um die Produkte in eine eigene Produktkategorie einzuordnen (Stephan 2013). Hierbei könnten Verbraucher dazu neigen, Grenzprodukte ausschließlich als Lebens- oder Arzneimittel wahrzunehmen, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass diese Produkte nicht ausschließlich zu einer dieser beiden Branchen gehören. Obwohl es sich bei Grenzprodukten nicht direkt um Arzneimittel handelt, könnten sie als Arzneimittel (z. B. in Tablettenform) präsentiert werden. Wenn andere Kategorisierungsaspekte wie pharmakologische Eigenschaften oder Produktzusammensetzung nicht berücksichtigt werden, könnten Verbraucher sie dennoch als Arzneimittel wahrnehmen (im Sinne eines „Präsentationsarzneimittels“) und ihre Funktionalität missverstehen bzw. überschätzen. Eine Studie mit 104 deutschen Verbrauchern, durchgeführt von Khedkar et al. (2017) ergab, dass Verbraucher gesundheitsbezogenen Grenzprodukten im Allgemeinen eher skeptisch gegenüberstehen. Sie empfanden den Konsum von gesundheitsbezogenen Produkten generell als sicher, standen dem gesundheitlichen Nutzen der Produkte allerdings skeptisch gegenüber. Die Autoren beobachteten, dass das Aussehen von Grenzprodukten tatsächlich die Verbraucherwahrnehmung von Grenzprodukten als Lebensmittel oder Arzneimittel beeinflusst. So kategorisierten etwa 61 % bzw. 55 % der Verbraucher in dieser Studie probiotischen Joghurt und Vitamin C-Saft als Lebensmittel (oder traditionelle Lebensmittel), während Knoblauch- und Vitamin C-Tabletten von etwa 50 % bzw. 63 % der Stichprobe als pharmaähnliche Produkte wahrgenommen wurden. Eine weitere Studie zur Wahrnehmung von Grenzprodukten durch Verbraucher (siehe Khedkar 2018, S. 125–143) forderte 512 deutsche Verbraucher auf, sechs Grenzprodukte, die in lebensmittelähnlicher und pharmazeutischer Form präsentiert wurden, als „Lebensmittel“, „Grenzprodukte“ oder „Arzneimittel“ zu kategorisieren. Die Verbraucher wurden gebeten, ihre Kategorisierung aufgrund von Aussehen des Produkts, der Position des Produkts im Vertriebskanal, der Austauschbarkeit durch traditionelle Pendants, die wissenschaftliche Untersuchung der Dosierung des Produkts, die Zusammensetzung des Produkts usw. zu treffen. Die Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass 59 % der Verbraucher Omega-3-Eier als Lebensmittel, Vitamintabletten (60  % der Verbraucher) als Grenzprodukte und Melatonin-Tabletten (54  %) als Arzneimittel wahrnahmen. Aussehen, Positionierung, Austauschbarkeit und Zusammensetzung waren für die Verbraucher die wichtigsten Faktoren, um die Produkte als Lebensmittel zu kategorisieren, während Aussehen, Dosierung, wissenschaftliche Untersuchung und Positionierung die wichtigsten Einflussfaktoren bei der Kategorisierung von Produkten als Arzneimittel waren. Insgesamt ist anzumerken, dass aufgrund der Grauzone, in der Grenzprodukte liegen, die Verbraucher bei der Kategorisierung und Wahrnehmung auf Hürden stoßen könnten. In diesem Zusammenhang sind die Kaufmotive des Verbrauchers für Grenzprodukte zu un-

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tersuchen. Generell ist die Involvierung ein wichtiges Konstrukt, um das Verbraucherverhalten im Zusammenhang mit Lebensmitteln zu analysieren (Kröber-Riel et al. 2009). Bei involvierten Verbrauchern ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie Informationen der Lebensmittelindustrie oder von politischen Entscheidungseinrichtungen lesen, was die Wirksamkeit von Informationsstrategien erhöht. Traditionelle Lebens- und Nahrungsergänzungsmittel unterscheiden sich durch ihre Primärfunktionalitäten, dennoch werden sie unter dem breiten Konzept „Lebensmittel“ geregelt (siehe Europäische Kommission 2002). So erfüllen traditionelle Nahrungsmittel neben sensorischen Aspekten wie Aroma, Geschmack und Textur auch grundlegende Bedürfnisse an Ernährung und Gesundheit. Demgegenüber stehen Nahrungsergänzungsmittel, die dazu dienen, spezifische Ernährungs- und Gesundheitsanforderungen zu erfüllen, welche eine präventive oder teilweise auch heilende Wirkung (z. B. zur Heilung von Vitaminmangel) haben könnten. Wichtig erscheint, dass der Verbraucher „Credence-Attribute“ wie Gesundheitsclaims überhaupt versteht und so eine Präferenz für Innovationen im Grenzbereich Lebens- und Arzneimittel bildet. Dabei kann eine höhere Involvierung den Verbrauchern ermöglichen, komplexe Produktinformationen wie physiologische Auswirkungen oder nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben zu erfassen und effektive Kaufentscheidungen zu treffen (Hansen et al. 2010; Noor et al. 2014). Diese Argumentation wird durch eine Studie von Kamrath et  al. (2019) gestützt, die zusammen mit der höheren Involvierung der Verbraucher an Nahrungsergänzungsmitteln feststellte, dass die gesundheitliche Motivation die Involvierung der Verbraucher an der Kaufentscheidung für diese Produkte beeinflussen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verbraucherakzeptanz von Grenzprodukten sowohl von der Wahrnehmung im Vergleich zu verschiedenen Produktkategorien als auch von Verhaltensaspekten abhängt.

22.4 S  chlussbetrachtung und Ausblick: Möglichkeit der Personalisierung Die Analyse von Herausforderungen und Chancen, die sich durch Grenzprodukte für Unternehmen und Verbraucher ergeben, eröffnet Wege für Innovationsaktivitäten. Die darin gewonnenen Erkenntnisse können auch politischen Entscheidungsträgern dienen, welche den Verbraucherschutz gewährleisten und gleichzeitig Innovationen fördern wollen. Dies könnte durch die Bereitstellung von Leitlinien zur Erleichterung der Erfüllung gesetzlicher Auflagen für Unternehmen, ein besseres Verständnis des Verhaltens der Stakeholder und der beeinflussenden Schlüsselfaktoren sowie durch die Zusammenarbeit mit den Verbrauchern bei der Identifizierung notwendiger politischer Maßnahmen und der Gestaltung künftiger Regulierungsrahmen erreicht werden. Unternehmen könnten im Rahmen eines Lead-User-Ansatzes (von Hippel 2001) von der Zusammenarbeit mit innovativen Verbrauchern profitieren, die sie bei der Entwicklung neuer Produkte unterstützen könnten, um Grenzprodukte mit neuen Funktionalitäten einzuführen (Khedkar 2018). Technische Entwicklungen und verbraucherorientierte Innovationsaktivitäten könnten es Unternehmen

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ermöglichen, Verbrauchern eine personalisierte Ernährung anzubieten. Denn jede Art von Dienstleistung oder Produkt kann nur dann personalisiert werden, wenn entsprechende Informationen über den einzelnen Verbraucher oder eine Bevölkerungsgruppe (z. B. mangelernährte Menschen, Frauen vs. Männer, Diabetiker, ältere Menschen etc.) vorliegen und untersucht werden könnten. Die Personalisierung zielt darauf ab, Kunden als „Co-­ Designer“ oder „Prosumer“ in den Produktionsprozess zu integrieren, sodass diese das integrale Design oder die Konfiguration ihres beabsichtigten Kaufs beeinflussen oder personalisieren könnten mit dem Ziel, um ihre eigenen Bedürfnisse besser erfüllen zu können (Daniel et al. 2016). Personalisierte Ernährung ist wie auch bei anderen Lebensmitteltechnologien mit gewissen Herausforderungen verbunden. Eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Markteinführung personalisierter Ernährung besteht darin, ein für den Zweck geeignetes gesetzliches Umfeld zu schaffen, welches die erforderliche Mischung aus Diagnose-, Ernährungs- und Servicelösungen bietet. Derzeit ist das regulatorische Umfeld nach Sektoren und Dienstleistungen fragmentiert, wobei auch die erzeugten Daten, wie z.  B. personenbezogenen Daten, Daten zum Lebensmittelkonsum und Daten, die von verschiedenen Applikationen (z. B. Ernährungstagebuch-App) erzeugt werden, unterteilt sind. Insgesamt ist es unerlässlich, dass Lebensmittelunternehmen, die ein personalisiertes Produktangebot umsetzen wollen, nicht nur ein gutes Verständnis für die Parameter entwickeln, welche den wahrgenommenen Wert ihrer Produkte für die Verbraucher höchstwahrscheinlich beeinflussen, sondern auch ein gutes Verständnis für die potenziellen Barrieren, die ihren eigenen Produktionsprozessen inhärent sein könnten. Auch die Anforderungen an Verarbeitung, Verpackung, Vertrieb, Qualität, Sicherheit und Verordnungen könnten zwischen den verschiedenen Lebensmittelsektoren sehr unterschiedlich sein und als solche unterschiedliche Herausforderungen an die Umsetzung stellen (Daniel et al. 2016). Die Verwendung datengetriebener Methoden erfordert die Entwicklung eines personalisierten Lebensmittel- und Gesundheitsinfrastruktursystems, das aus fortschrittlichen Computertechnologien mit Datenspeicher-, Verarbeitungs- und Sharingfunktionen besteht (Verma et al. 2018). Im Gegensatz zur Massenproduktion erfordert die Personalisierung eine stärkere Involvierung des Verbrauchers und ein größeres Maß an Wissen über den Verbraucher (Daniel et al. 2016). Eine kürzlich von Rankin et al. (2018) durchgeführte Studie mit 9381 Verbrauchern in 9 EU-Ländern untersuchte die Zusammenhänge zwischen Motiven der Lebensmittelauswahl, der Einstellung und der Absicht eine personalisierte Ernährung zu adaptieren, um so Informationen für eine effektive Kommunikationsstrategie basierend auf Konsumentenprioritäten und Bedenken zu erlangen. Die Autoren fanden heraus, dass personalisierte Ernährungsanbieter davon profitieren könnten, wenn sie die Bedeutung der zugrunde liegenden Einflussfaktoren auf die Lebensmittelwahl von den potenziellen Verbrauchern anerkennen, um die Werbung für die Dienstleistungen und Produkte als auch weitere Kommunikationsstrategien darauf anzupassen. Ausschlaggebende Faktoren sind hierbei insbesondere der Preis des Produktes, der Wunsch nach Gewichtskontrolle sowie die Stimmung, in der sich der Verbraucher befindet. Eine weitere Studie, welche die glei-

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che Stichprobe wie Rankin et al. (2018) analysierte, ergab, dass Vertrauen und Präferenzen die Absicht, eine personalisierte Ernährung zu adaptieren, signifikant vorhersagten. Im Speziellen wurde ein größeres Vertrauen in die lokale Gesundheitsbehörde mit einer geringeren Absicht verbunden, eine personalisierte Ernährung zu adaptieren; Hausärzte waren die vertrauenswürdigsten Informationsanbieter. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass einige der Vorteile potenzieller personalisierter Ernährungsnutzer keine „klassischen“ Gesundheitsfragen sind (z. B. Krankheitsbehandlung), sondern sich auch auf Krankheitsprävention, Fitness und Lebensqualität konzentrieren. Ein hohes Vertrauen in die Gesundheitsbehörde kann daher mit der Gesundheitsmotivation einer Person zusammenhängen. Hierbei kann angenommen werden, dass die Personen, die der klassischen Gesundheitsperspektive folgen und auf die Informationen der Gesundheitsbehörde vertrauen, gegenüber der Einführung nichttraditioneller personalisierter Ernährungsdienste zögerlich auftreten werden. Andererseits könnten Einzelpersonen, die sich auf Themen konzentrieren, die traditionell nicht von den nationalen Gesundheitsbehörden abgedeckt werden, eher eine personalisierte Ernährung wählen (Poínhos et al. 2017). Das von der EU finanzierte Food4Me-Projekt analysierte das Potenzial zukünftiger personalisierter Ernährungsangebote. Dabei wurden Einstellungen und Überzeugungen der Verbraucher zu allen Aspekten der personalisierten Ernährung untersucht. Eine Studie (Stewart-Knox et al. 2015) zu diesem Projekt zeigte, dass die Einstellung zur personalisierten Ernährung offenbar in erster Linie von der Wahrnehmung der Vorteile bestimmt wird. Obwohl die Verbraucher eine positive Einstellung zur personalisierten Ernährung haben, gaben sie Vorbehalte gegenüber der Fähigkeit der Dienstleister, den sicheren Umgang mit Gesundheitsdaten zu gewährleisten, an. Die Autoren stellten weiter fest, dass die technische Innovation das Konzept der personalisierten Ernährung vorangetrieben hat und nun ein weiterer Technologiesprung erforderlich ist, um die Privatsphäre von Online-­ Dienstleistungssystemen zu gewährleisten und die bei der Entwicklung personalisierter Ernährungstherapien gesammelten Daten zu schützen. Im breiteren Kontext von Grenzprodukten an der Schnittstelle zwischen Lebens- und Arzneimitteln als auch den Herausforderungen der Stakeholder könnte sich die zukünftige Forschung auf die Zusammenarbeit zwischen den Stakeholdern konzentrieren, um die verschiedenen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Regulations-, Industrie- und Verbraucherperspektive zu bewältigen und ein gemeinsames Verständnis solcher Produktkonzepte zu entwickeln (Khedkar et  al. 2017; Khedkar 2018). Im Rahmen der Le­ bensmitteltechnologie-­ Implementierung könnten zukünftige Studien Definitionen und Messansätze (Hess et al. 2016; Mogendi et al. 2016) im Kontext der Lebensmitteltechnologieevaluation harmonisieren, um dieses Thema theoretisch fundiert zu analysieren. Unternehmen könnten den Personalisierungsaspekt in ihren Kommunikationsstrategien von Grenzprodukten in Zukunft berücksichtigen, um bestimmte Verbrauchergruppen anzusprechen (Rankin et al. 2018). Weitere Studien könnten das Ernährungswissen und -bewusstsein der Verbraucher in Bezug auf den Kauf von Nahrungsergänzungsmitteln analysieren, da Wissen ein wichtiger Faktor für die Akzeptanz der Verbraucher ist (Lusk et al. 2014; Ronteltap et al. 2007). Insgesamt bleiben Grenzprodukte an der Schnittstelle von

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Lebens- und Arzneimitteln für verschiedene Stakeholder nach wie vor ein Thema von großem Interesse, da ihre Kombination mit den individuellen Bedürfnissen der Verbraucher die Grundlage sowohl für eine personalisierte Ernährung (Mohanty und Singhal 2018), Möglichkeiten der Produktinnovation und -differenzierung als auch für vielversprechende Forschungsrichtungen im Bereich der Ernährung und Gesundheit bietet. Eine neue Entwicklung im Zusammenhang mit personalisierter Ernährung ist der 3D-Druck, auch bekannt als additive Fertigung. Besonders personalisierte bedruckte Lebensmittel auf Basis der Nutrigenomik liegen stark im Fokus der Entwicklung von 3D-­ Lebensmitteldruckern. Dennoch ist die Forschung aus Verbrauchersicht zu dieser Technologie gegenwärtig noch in ihren Anfängen. Es wird erwartet, dass diese Technologie ein breites Spektrum an neuen Möglichkeiten innerhalb der Lebensmittelindustrie eröffnet und damit zu vielen Innovationen in den Bereichen Lebensmittelproduktion, Einzelhandel und Gastronomie führen kann (Brunner et  al. 2018). Der 3D-Lebensmitteldruck ist ein digital gesteuerter, robotergestützter Konstruktionsprozess, der Lebensmittel schichtweise herstellt (Sun et al. 2015), indem er Patronen verwendet, die mit weichem essbaren Material gefüllt sind (z. B. Lebensmittelpasten, Pürees, Pulver, Teige, Schlacken, Flüssigkeiten und Gelee) und aus verschiedenen Rohstoffen (z.  B.  Zucker, Schokolade, Käse, Mehl, Fleisch, Obst oder Gemüse) hergestellt werden (Lupton und Turner 2018). Derzeit werden 3D-Lebensmitteldrucker zur Herstellung von Pizza, Pasta, Keksen, Schokolade und vielen anderen Lebensmitteln eingesetzt (Lipton 2017; Lupton 2017; Sun et  al. 2018). Der 3D-Lebensmitteldruck ist eine vielversprechende Technologie mit vielen Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der nachhaltigen Entwicklung und hat das Potenzial, das Ernährungssystem zu revolutionieren (Portanguen et al. 2019; Sun et al. 2018; Yang et al. 2017). Ausgehend von der bestehenden Literatur über Lebensmitteltechnologien im Allgemeinen (z. B. Brunner et al. 2018; Dobre et al. 2009; Sapp und Downing-Matibag 2009; Siegrist et al. 2008) kann angenommen werden, dass Verbraucher den 3D-Lebensmitteldruck ähnlich wie andere Lebensmitteltechnologien bewerten könnten. Insbesondere die Verbraucherwahrnehmung gegenüber funktionellen Lebensmitteln, die als Lebensmittel mit hohen Nährwerten für bestimmte Verbrauchersegmente vertrieben werden, könnten mit der Verbraucherwahrnehmung gegenüber 3D-Lebensmitteldruck, der u. a. das Ziel hat personalisierte Lebensmittel zu drucken, verglichen werden. So könnten beispielsweise die Faktoren „subjektives Wissen der Verbraucher“, „Vertrauen in Institutionen“, „wahrgenommene Risiken und Vorteile“ ihre Absicht, 3D-gedruckte Lebensmittel zu konsumieren, positiv beeinflussen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch neuartige ­Lebensmitteltechnologien wie 3D-Druck in Kombination mit dem Trend zur Personalisierung/Individualisierung ein immenses Potenzial an Innovationen am Grenzbereich unterschiedlicher Branchen und damit an neuen, schwer regulierbaren Produktkategorien entsteht.

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Prof. Dr. Stefanie Bröring  ist Inhaberin des Lehrstuhls für Technologie-und Innovationsmanagement an der Universität Bonn. Zuvor war sie Assistant Professorin an der Universität Wageningen in den Niederlanden und gleichzeitig Professorin an der Hochschule Osnabrück. Sie promovierte zum Thema „Front-end of innovation in converging industries“ an der Universität Münster und war Visiting Scholar an der University of Quebec in Montreal in Kanada. Ihre Forschungsinteressen umfassen Innovationsmanagement, Entrepreneurship im Kontext von Industriekonvergenz sowie die Akzeptanz und Verbreitung technologieinduzierter Innovationen. Dr. Sukhada Bidkar  ist Postdoktorandin am Lehrstuhl für Technologie- und Innovationsmanagement im Agribusiness an der Universität Bonn. Sie hat am Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomie der Universität Bonn zum Thema Grenzprodukte an der Schnittstelle Lebensmittel und Arznei promoviert. Ihre Forschungsinteressen umfassen Innovationsmanagement im Kontext der Produktkonvergenz sowie die Verbreitung und Akzeptanz von Innovationen im B2B- und B2C-Bereich. Dr. Carolin Kamrath  ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technologie- und Innovationsmanagement im Agribusiness an der Universität Bonn. Sie hat einen Masterabschluss in Agrar- und Lebensmittelwirtschaft. Ihr gesamtheitliches Forschungsthema befasst sich mit der Akzeptanz neuartiger Lebensmitteltechnologien. Insbesondere untersucht sie verschiedene Modelle und Faktoren, die zur Bewertung innovativer Lebensmitteltechnologien entlang der Lieferkette eingesetzt werden.

Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin der Zukunft

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Martin Holderried, Ansgar Höper und Friederike Holderried

Inhaltsverzeichnis 23.1  E  inführung  23.2  Innovationen im Gesundheitswesen  23.3  Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen  23.3.1  Anwendungsbereiche  23.3.2  Datenschutz, Datensicherheit und Datenverfügbarkeit  23.3.3  Aus der Praxis für die Praxis: Online Health Messaging und Teleintensivmedizin in Echtzeit – sektorenübergreifend, sicher und effizient  23.4  Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in der Medizin  23.4.1  Definition  23.4.2  Herausforderungen  23.4.3  Fallbeispiele  23.5  Big Data und personalisierte Medizin  23.5.1  Definitionen  23.5.2  Datenquellen  23.5.3  Herausforderungen  23.6  Schlussbetrachtung: E-Health-Trends für die personalisierte Medizin der Zukunft  Literatur 

 394  396  397  397  399  400  404  404  405  406  407  407  408  410  411  413

Zusammenfassung

Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sind zunehmend integraler Bestandteil in unserem alltäglichen Leben. Damit einhergehend und für die Nutzer nahezu unbemerkt steigen Quantität und Qualität an digitalen Informationen als M. Holderried (*) · A. Höper · F. Holderried Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_23

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Basis für maschinelles Lernen und die künstliche Intelligenz. Auch in der Medizin nehmen Vielfalt und Nutzung digitaler Technologien rasant zu und die sich ständig weiterentwickelnden sogenannten „E-Health-Anwendungen“ haben großes Potenzial, die Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung deutlich zu verbessern. Insbesondere die zunehmend strukturiert vorliegenden digitalen Informationen bilden dabei die Basis für „maschinelles Lernen“ (ML) und die Anwendung von „künstlicher Intelligenz“ (KI) auf dem Weg zu einer zunehmend sektorenübergreifenden „personalisierten Medizin“ (PM). Das sektorenübergreifende Zusammenwirken dieser innovativen Methoden und Technologien ermöglicht von der Prävention über die Diagnostik, Therapie und Nachsorge die individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse der Bevölkerung für eine kontinuierliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung zunehmend integrieren zu können.

23.1 Einführung Patienten bedürfen mit zunehmender Komplexität der Erkrankungen häufig einer sektorenübergreifenden, intensiven, interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit von heimatnahen Versorgungsstrukturen mit Experten aus Medizin und Pflege an einem Zentrum der Maximalversorgung. Dies erfordert ein ganzheitliches, sektorenübergreifendes und insbesondere patientenzentriertes Versorgungsmanagement für eine bestmögliche Gesundheitsversorgung. Noch heute werden für die standortübergreifende Kommunikation in der Medizin überwiegend und regelmäßig analoge Kommunikationsmedien (papiergebundener Arztbrief, Fax) eingesetzt. Dies verursacht hohe Aufwendungen für die Koordination und Durchführung der sektorenübergreifenden Diagnostik und Therapie. Darüber hinaus sind Informationsverluste und zeitliche Verzögerungen regelmäßige Risiken dieser analogen Kommunikation für die Versorgungskontinuität und insbesondere für die Versorgungsqualität (vgl. Abb. 23.1). Lösungsansätze hierfür bestehen in der zunehmenden Integration digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im Gesundheitswesen. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge wird der Einsatz moderner IKT im Gesundheitswesen unter dem Begriff „E-Health“ subsumiert (Kay et al. 2011). Diese Technologien ermöglichen es, medizinische Informationen sowohl strukturiert und damit gut bearbeitbar dokumentieren und speichern zu können als auch die für die sektorenübergreifende Behandlung relevanten medizinischen Informationen standortübergreifend einfach und schnell kommunizieren zu können. Die strukturierte digitale Dokumentation der medizinischen Informationen ist darüber hinaus eine elementare Voraussetzung für die Analysen großer Datenmengen (z. B. im Bereich der Genomik) und bildet damit ein zentrales Element für die Weiterentwicklung einer bestmöglichen, auf die individuellen Gegebenheiten der

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 395

Abb. 23.1  Status quo der standort- und sektorenübergreifenden Kommunikation im Gesundheitswesen. (Quelle: Eigene Darstellung)

­ atienten abgestimmten medizinischen Versorgung. Darüber hinaus bildet dies die Basis P für den zunehmenden Einsatz von „maschinellem Lernen“ (ML) und „künstlicher Intelligenz“ (KI) in der Medizin. Integrale Anforderungen an diese neuen Technologien und deren Anwendungsformen sind der Datenschutz, die Datensicherheit und die Datenverfügbarkeit. Insbesondere aufgrund der Sensibilität persönlicher gesundheitsrelevanter medizinischer Informationen sind diese Aspekte im Kontext der Digitalisierung in der Medizin besonders zu fokussieren. Nur so kann es den handelnden Akteuren im Gesundheitswesen gelingen, sektorenübergreifend digitale Prozesse mit den Patienten im Mittelpunkt zu implementieren, um eine kontinuierliche Verbesserung von Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung zu erreichen.

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M. Holderried et al.

23.2 Innovationen im Gesundheitswesen Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development Statistical Office of the European Communities – OECD) definiert eine Innovation als „Einführung eines neuen oder deutlich verbesserten Produktes (Gut oder Dienstleistung) … oder Prozesses“ (OECD 2005). Standardmäßig wurden Innovationen bisher überwiegend in inkrementell und radikal eingeteilt. Während inkrementelle Innovationen bestehende Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse weiterentwickeln, umfassen radikale Innovationen eine wesentliche Veränderung und Neuerung. Mit der Publikation von „The Innovator’s Dilemma“ ergänzte Clayton M. Christensen die Beschreibung von Innovationen und teilte diese in evolutionäre und disruptive Innovationen ein (Christensen 2016). Evolutionäre Innovationen sind dabei gekennzeichnet durch die Verbesserung eines bestehenden Produktes, einer bestehenden Dienstleistung oder eines bestehenden Prozesses entlang der Anforderungskurve (u. a. Kundennutzen). Disruptive Innovationen hingegen orientieren sich nicht an einer bestehenden Anforderungskurve. Sie stellen bestehende Produkte, Dienstleistungen und Prozesse grundsätzlich infrage. Die disruptiv geschaffenen Innovationen in Form von neuen Produkten, Dienstleistungen und/oder Prozessen werden folglich von den bisher handelnden Akteuren nicht unmittelbar als Verbesserung des Status quo wahrgenommen. Aufgrund der  – zunächst von den Akteuren unerkannten – Vorteile der Innovation gegenüber dem Status quo entsteht nicht selten ein neuer Markt mit neuen Akteuren im Kontext der Etablierung der disruptiven Innovation (Produkt/Dienstleistung/Prozess). Bei ausreichendem Erfolg der disruptiven Innovation werden der bisher existente Markt bzw. die bisher handelnden Akteure zunehmend von der disruptiven Innovation mit ihren neuen Akteuren verdrängt (Christensen 2016). Die digitale Transformation des Gesundheitswesens hat deutliche Eigenschaften einer disruptiven Innovation (Holderried et  al. 2017b). Digitale Systeme zeigen bereits erste Erfolge bei der Erkennung von Krankheiten auf dem Niveau von den bisher handelnden medizinischen Experten und haben in Teilbereichen der Medizin (u. a. Radiologie, Dermatologie, Pathologie, Mikrobiologie) bereits das Potenzial, einzelne Rollen von bisher handelnden Akteuren zu übernehmen (Esteva et al. 2017; Hosny et al. 2018). Interessanterweise sind medizinische Experten teilweise deutlich zurückhaltender als ihre Patienten bezüglich der Anwendung digitaler Technologien im Kontext der sektorenübergreifenden Versorgung (Holderried et al. 2017a, 2018a, b). Vergleichbar mit disruptiven Innovationen außerhalb der Medizin etablieren sich daher im Rahmen der digitalen Transformation derzeit bereits zunehmend neue Akteure mit neuen Dienstleistungen, Produkten und Prozessen (Onlinesprechstunde, Health-Messaging, Gesundheitsapps) im Gesundheitswesen. Aus Sicht der Autoren ermöglicht die digitale Transformation mit ihren disruptiven Innovationen mittel- und langfristig eine Steigerung der Versorgungssicherheit, Versorgungsqualität und Wirtschaftlichkeit. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung der digitalen Transformation in der Gesundheitsversorgung wird sein, dass diese von Experten

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 397

aus Medizin und Pflege federführend geleitet und vorangetrieben werden. Mit dieser professionellen Fachführung können gemeinsam mit Experten aus Informationstechnologie, Medizintechnik, Informationssicherheit, Datenschutz, Medizinökonomie und themenspezifisch weiteren Spezialisten innovative Medizinprodukte und Versorgungsformen in die Regelversorgung integriert werden.

23.3 M  oderne Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen Die Anwendung moderner IKT gewinnt im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Digitalisierung auch im deutschen Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung. Dabei ist der Einsatz dieser Technologien sehr vielschichtig. Übergeordnete Ziele aller verschiedenen Anwendungsfelder für digitale Technologien im Gesundheitswesen sind die Sicherung und Verbesserung von Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung (Fischer und Krämer 2016; Holderried et al. 2018a).

23.3.1 Anwendungsbereiche Moderne IKT können im Gesundheitswesen in vielen Gebieten und auf verschiedene Arten angewendet werden. Aus Sicht der Autoren können die Anwendungsbereiche moderner IKT im Kontext der Gesundheitsversorgung eingeteilt werden in (vgl. Abb. 23.2):

Digitale Zukunftsmedizin Sicherung und Verbesserung von Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit in Prävention, Versorgung und Rehabilitation. Telemedizin

z. B. Telekonsultation (Arzt-Patient) im Rahmen einer akuten Behandlung

Prävention und AdminiGesundheitsstration: z. B. Online-Check-in förderung: z. B. Fitness-Apps

von Patienten ins Krankenhaus vor einem geplanten stationären Aufenthalt

Lernen:

z. B. standortübergreifende Fallbesprechungen für das Personal aus Medizin und Pflege via Telemedizin

Qualitäts- & Risikomanagement:

z. B. automatisiertes Erfassen von Qualitätsindikatoren & Ableiten von Risikopotenzialen

Forschung:

z. B. Analyse großer Datenmengen, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz

Interdisziplinäre, interprofessionelle und intersektorale Vernetzung der Bereiche.

Abb. 23.2  Schematische Darstellung der Anwendungsbereiche und Ziele moderner IKT im Kontext der Gesundheitsversorgung. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Fischer und Krämer 2016)

398

M. Holderried et al.

Telemedizin: Nach Definition der Bundesärztekammer ist „Telemedizin“ ein „Sammelbegriff für verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen (oder zeitlichen Versatz) hinweg erbracht werden“ (Bundesärztekammer 2015). Nach Dorsey und Topol (2016) gibt es gegenwärtig drei miteinander verknüpfte Entwicklungen im Bereich der Telemedizin. Während bisher eine quantitative Steigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung im Mittelpunkt stand, liegt der Fokus nun auf Nutzerfreundlichkeit sowie der Kostenreduktion. Darüber hinaus zeigt sich eine Ausdehnung telemedizinischer Anwendungen von der Adressierung akuter Beschwerden zu chronischen Krankheiten. Als dritter Trend wird die zunehmende Nutzung telemedizinischer Anwendungen auf mobilen Endgeräten beschrieben. Prävention und Gesundheitsförderung Im Vergleich mit den bereits aufgeführten Anwendungsbereichen gibt es hier keinen unmittelbaren Bezug zu einer akuten medizinischen Behandlung. Vielmehr handelt es sich hier um unterstützende Maßnahmen im Rahmen der Prävention oder der individuellen Versorgung im alltäglichen Leben (u. a. für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung). Administration Ziel ist hier, die Qualität, Effektivität und Effizienz administrativer Prozesse im Kontext der Gesundheitsversorgung durch den Einsatz moderner IKT zu verbessern (z. B. möglicher Online-Check-in von Patienten ins Krankenhaus). Lernen Auch im Gesundheitswesen können moderne IKT die Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen im stationären und ambulanten Bereich verbessern (z. B. E-Learning-Module mit medizinischen Inhalten und standortübergreifende Fallbesprechungen für das Personal aus Medizin und Pflege via Telemedizin). Darüber hinaus unterstützen diese modernen Technologien auch die Schulung und damit Lernprozesse von Patienten (z. B. Verhaltensweisen zur bestmöglichen Genesung nach bestimmten Operationen, krankheitsspezifische Ernährungsberatung). Qualitäts- und Risikomanagement Die Potenziale liegen hier u. a. im automatisierten Erfassen und einrichtungsübergreifenden Benchmarking von prädefinierten Qualitätsindikatoren (z. B. nosokomiale Infektionen) sowie dem perspektivischen Ableiten von Risikopotenzialen via prospektiver ­Entscheidungsunterstützungssysteme.

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 399

Forschung Der Fokus moderner IKT liegt hier auf der Datenanalyse, deren zunehmend automatisierter Interpretation mit Unterstützung der Möglichkeiten des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz, insbesondere für die Weiterentwicklung geeigneter Entscheidungsunterstützungssysteme für diagnostische und therapeutische Zwecke.

23.3.2 Datenschutz, Datensicherheit und Datenverfügbarkeit Persönliche gesundheitsrelevante Informationen sind sehr sensibel und bedürfen eines besonderen Schutzes. Elementare Bestandteile des Einsatzes moderner IKT im Gesundheitswesen sind folglich der Datenschutz, die Datensicherheit und die Datenverfügbarkeit. Das Ziel des Datenschutzes ist es, den Einzelnen vor Eingriffen in seine Persönlichkeitsrechte durch missbräuchlichen Umgang mit seinen personenbezogenen Daten zu schützen (Bauer et al. 2018). Damit bezweckt der Datenschutz insbesondere den Schutz der Privatsphäre eines jeden Einzelnen. Im Kontext von E-Health ist damit hauptsächlich der Schutz für persönliche Gesundheitsinformationen von Bedeutung (Holderried et al. 2017a). Die Studienergebnisse von Holderried et al. zeigten, dass unabhängig vom medizinischen Fachbereich die Patienten deutlich größere Bedenken hinsichtlich Datensicherheit beim Onlineaustausch von persönlichen medizinischen Informationen haben, als beim Austausch von allgemeinen medizinischen Informationen (Holderried et al. 2017a). Folgende Grundprinzipien sind hierfür bedeutend: • Transparenz der Datenverarbeitung: Für alle Beteiligten (die verarbeitenden Stellen, die betroffenen Personen und die Kontrollinstanzen) muss zu erkennen sein, welche Daten zu welchem Zweck gesammelt und weiterverarbeitet werden. • Intervenierbarkeit: Alle beteiligten Personen können jederzeit intervenieren, um die Datenverarbeitung zu stoppen oder zu verändern. • Nichtverkettbarkeit (Datensparsamkeit und Zweckbindung): Grundsätzlich darf die Datenverarbeitung nur an einen prädefinierten Zweck, zu dem die Einwilligung vorliegt, gebunden sein. Bei Zweckänderung wird folglich eine neue Einwilligung benötigt. Aus der Zweckbindung lässt sich ableiten, dass auch eine Zusammenführung verschiedener Daten ohne vorherige Einwilligung untersagt ist. Des Weiteren dürfen nur die Daten erhoben werden, die für den angegebenen Zweck benötigt werden. • Verfügbarkeit und Datensicherheit: Der Zugriff muss zweckgebunden und innerhalb einer angemessenen Zeit gewährleistet sein. Das bedeutet, dass eine verlässliche Speicherung sichergestellt sein muss. Darüber hinaus ist eine zweckmäßige Interoperabilität der Systeme für den bedarfsgerechten Datenaustausch sicherzustellen. • Integrität (Schutz vor Angriffen und Manipulation): Während der Verarbeitung der Daten müssen diese aktuell, vollständig und unversehrt bleiben und es darf nicht die Möglichkeit bestehen, diese durch unbemerkte Manipulationen zu verändern.

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M. Holderried et al.

• Vertraulichkeit (Schutz vor Einsicht durch Unbefugte): Unbefugte Personen die nicht mit der Verarbeitung der Daten vertraut sind, dürfen keine unerlaubte Einsicht in die Daten erhalten oder die Möglichkeit erhalten, betroffenen Personen zu identifizieren. Über diese bedeutenden Grundprinzipien (vgl. Bauer et al. 2018) hinaus, sind wichtige gesetzliche Grundlagen für den Datenschutz, die Datensicherheit und die Datenverfügbarkeit für das Gesundheitswesen im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), im Telemediengesetz (TMG) und in der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) geregelt. Darüber hinaus ergeben sich weitere Anforderungen aus speziell im Gesundheitswesen geltenden Rechtsgrundlagen. Dies ist z. B. die Musterberufsordnung für Ärzte, diese regelt u. a. die Schweigepflicht für Ärzte über die Informationen, die sie im Rahmen ihrer Berufsausübung erhalten. Des Weiteren gibt es seit 2016 das „E-Health Gesetz“, indem die Grundlagen für die sichere und digitale Kommunikation im Gesundheitswesen festgelegt sind.

23.3.3 Aus der Praxis für die Praxis: Online Health Messaging und Teleintensivmedizin in Echtzeit – sektorenübergreifend, sicher und effizient Wesentliche Elemente der sektorenübergreifend-individualisierten Patientenversorgung der Zukunft werden Online Health Messaging und Onlinekommunikationen in Verbindung mit der Übertragung von persönlichen medizinischen Informationen in Echtzeit darstellen. Exemplarisch werden diese zwei innovativen Versorgungsformen an konkreten E-Health-Projekten der Autoren aus der Praxis für die Praxis dargestellt. Onlinebehandlungsräume via Health Messaging Onlinebehandlungsräume via Health Messaging ermöglichen insbesondere Patienten mit chronischen und komplexen Erkrankungen einen einfachen und schnellen Zugang zu den medizinischen Experten – sektorenübergreifend und ohne lange Anfahrtswege. Eine innovative Methode zur Verbesserung von Qualität und Effizienz der individuellen Patientenversorgung. Chronische und komplexe Krankheiten sind für Patienten und Angehörige häufig eine große Belastung. Sie erfordern meist eine interdisziplinäre Therapie von Experten aus verschiedenen medizinischen Fachbereichen und insbesondere eine intensive Zusammenarbeit von wohnortnahen Kinder- oder Hausärzten, Physiotherapeuten, Krankenpflege und weiteren Gesundheitsdienstleistern mit den Experten am Zentrum der Maximalversorgung. Hier können moderne Informations- und Kommunikationstechnologien die sektorenübergreifende Behandlung deutlich verbessern. Aktuelle Statistiken zeigen eine deutliche Zunahme der Internetnutzung in allen Altersklassen und für viele Patienten ist die tägliche

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 401

Onlinekommunikation mit Freunden und Verwandten via Messenger-Diensten längst integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Am Universitätsklinikum Tübingen wurde daher eine erste „Social Medical Application Platform“ zur interdisziplinären, interprofessionellen und standortübergreifenden Behandlung von Kindern mit chronischen Atemwegs- und Darmerkrankungen etabliert. Aktuell und mit steigender Tendenz nutzen bereits die überwiegende Anzahl der Patienten bzw. der Patienteneltern die virtuellen Behandlungsräume, um bedarfsorientiert und sektorenübergreifend mit den Behandlern online via Health Messaging zu kommunizieren. Der Austausch über den aktuellen Gesundheitszustand via Onlinechat mit den Behandlern ist dabei ebenso möglich wie das Senden und Empfangen von Untersuchungsbefunden, Arztbriefen und Fotodokumentationen. Wesentliche Erfolgsfaktoren für die Anwendung dieser Onlinekommunikationsplattform von Patienten und Gesundheitsdienstleistern aus Sicht der bisherigen Projekterfahrung der Autoren sind: • • • • • • •

Höchste Standards an Datenschutz, Datensicherheit und Datenverfügbarkeit Systemintegration der Nutzeranforderungen (Patienten und Gesundheitsdienstleister) Einfache Bedienbarkeit und Anwendbarkeit auf mobilen Endgeräten Interoperabilität mit Krankenhausinformations- und Praxissoftwaresystemen Definition von Behandlungspfaden (Kurze) Schulung von Patienten und Behandlern für die Onlinekommunikation Durchgehende „Patientenhoheit“ über die persönlichen medizinischen Informationen

Die Patienten werden nach Aufklärung und Einwilligung via E-Mail zur Onlinekommunikation eingeladen. Mit Annahme der Einladung wird ein virtueller Behandlungsraum angelegt und alle administrativen Rechte für den Datenaustausch auf die Patienten (Patienteneltern) übertragen. Damit definieren die Patienten die künftigen Teilnehmer für das Health Messaging in den virtuellen Behandlungsräumen. Nach Einladung der Behandler durch die Patienten folgt deren Authentifizierung ebenfalls via Aktivierungscode. Dies ermöglicht es den Patienten, deren heimatnahe Behandler und die Behandler am Zentrum gleichermaßen transparent in die Onlinekommunikation zu integrieren. Der Datenaustausch via Ende-zu-Ende-Verschlüsselung dient der Datensicherheit. Selbst Server-­ Administratoren haben dadurch keinen Zugriff auf die im virtuellen Behandlungsraum kommunizierten medizinischen Informationen. Gespiegelte Server in zertifizierten Rechenzentren garantieren den Datenzugriff von allen Teilnehmern zu jeder Zeit – auch von mobilen Endgeräten. Eine intuitive Bedienbarkeit der E-Health-Anwendung via App ist wesentlich für die Akzeptanz der Nutzer. Daher wurden sowohl die prädefinierten Anforderungen der Patienten als auch die der Gesundheitsdienstleister in das System integriert. Aufgrund der inhomogenen IT-Landschaft in Krankenhäusern und Arztpraxen ist die Systemintegration dennoch eine aktuelle Herausforderung. Die Projekterfahrung zeigt, dass hier dingend weitere technische und semantische Standardisierungen erforderlich sind, um die Online-

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M. Holderried et al.

Abb. 23.3  Schema Online Health Messaging in virtuellen Behandlungsräumen. (Quelle: Eigene Darstellung)

kommunikation effizient und effektiv in den Praxis- und Klinikalltag integrieren zu können. Darüber hinaus ist es auch für stationäre Gesundheitsdienstleister unerlässlich, zweckmäßige Vergütungsregelungen für telemedizinische Behandlungen von komplexen Erkrankungen zu etablieren (vgl. Abb. 23.3). Telemedizin in Echtzeit am Beispiel der standortübergreifenden Therapie von Patienten mit hochkomplexen Erkrankungen im Bereich der Intensivmedizin Die Therapie von komplexen Erkrankungen im Bereich der Intensivmedizin erfordert regelmäßig eine interdisziplinäre und interprofessionelle Teamarbeit der Experten aus Medizin und Pflege sowie weiterer Spezialisten (u. a. Physiotherapie). Telemedizin er­möglicht hier einen standortübergreifenden Austausch der Behandler von Grund- und Regelversorgern mit Experten aus Einrichtungen der medizinischen Maximalversorgung in Echtzeit, um gemeinsam ein bestmögliches Behandlungsergebnis für alle Patienten erzielen zu können. Insbesondere im Bereich der Intensivmedizin bietet die Telemedizin das Potenzial sowohl die Qualität und Sicherheit als auch die Wirtschaftlichkeit der sektorenübergreifenden Versorgung zu verbessern (Lilly et al. 2014; Kahn et al. 2016).

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 403

Von den Autoren wird daher aktuell eine standortübergreifende Teleintensivmedizin-­ Plattform auf Basis eines webbasierten Patienten-Daten-Management-Systems (PDMS) implementiert. Dies ermöglicht, dass bereits im Rahmen der primären intensivmedizinischen Diagnostik und Therapie gewonnene Erkenntnisse standardisiert und sicher in die „Teleintensivmedizin Plattform“ integriert und damit standortübergreifend den Behandlern bedarfsgerecht in „Echtzeit“ zur Verfügung stehen. Basis für die Realisierbarkeit der webbasierten Teleintensivmedizin ist die Möglichkeit der elektronischen Datenübertragung der Patienten-Monitoring-Geräte, der Beatmungsgeräte und der Spritzenpumpen an einen zentralen Server. Dies ergänzt um medizinische Panel-PCs am Patientenbett für die Primärdokumentation, HD-Videokamera, Mikrofon und Headset für die Telemedizinkonferenz bilden die von den Gesundheitsdienstleistern einfach zu realisierenden Elemente für die Implementierung der Telemedizin im Bereich der Intensivmedizin. Darüber hinaus sind auf gesicherte Datenleitungen für die verschlüsselte Verbindung zwischen den Einrichtungen sowie redundante Server bzw. Datenhaltung einschließlich der entsprechenden Recovery- und Notfall-Konzepte bei der Realisierung zu achten. Unabdingbar für die teilnehmenden Standorte bzw. Einrichtungen sind ein stabiles internes und externes Netzwerk sowie ein lokal gesichertes WLAN mit ausreichender Kapazität für die Übertragung von medizinischen Informationen. All dies ermöglicht die Übermittlung relevanter medizinischer Informationen in Echtzeit damit bedarfsgerecht eine standortübergreifende teleintensivmedizinische Diagnostik und Therapie (z. B. via Telekonsil oder Televisite) zur Verfügung gestellt werden kann. Für die kontinuierliche Weiterentwicklung der (Tele-)Intensivmedizin ermöglicht die

Abb. 23.4  Schematische Funktionsweise der „Teleintensivmedizin-Plattform“. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Plattform standortübergreifende Teamlernprozesse der Experten aus Medizin und Pflege, z. B. im Rahmen von regelmäßigen standortübergreifenden Fallbesprechungen in Echtzeit (Videokonferenz) und via Chatfunktion (zeitlich versetzte Kommunikationen). Gleichzeitig ist durch ein an Bedarf und Datenschutz ausgerichtetes Berechtigungskonzept jederzeit sichergestellt, dass die Behandlungsdaten nur von Personen eingesehen werden können, die mit der Behandlung des Patienten beauftragt sind (vgl. Abb. 23.4).

23.4 M  aschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in der Medizin Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Künstliche Intelligenz (KI) und ML sind Begriffe, die in den letzten Jahren immer mehr an Popularität gewonnen haben. Einen elementaren Beitrag für die Entwicklung von ML und KI leistet der exponentielle technologische Fortschritt. Nach jahrelanger theoretischer Arbeit ermöglichen die inzwischen erreichten Rechenkapazitäten eine Ausführung und kontinuierliche Weiterentwicklung der komplexen mathematischen Verfahren, die den vorherrschenden Techniken und Algorithmen des ML und der KI zugrunde liegen. Ob wahrgenommen oder nicht hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein jeder regelmäßig Berührungspunkte mit ML und KI. Sei es durch die Nutzung digitaler Assistenz (u. a. Alexa, Siri), durch die Anwendung von webbasierten Sprachübersetzungen oder den Empfehlungen in Onlineshops, Reiseveranstaltern etc. basierend auf bisherigen Käufen und dem individuellen Onlinesuchverhalten. Auch im Gesundheitswesen halten die Methoden und Algorithmen von ML und KI zunehmend Einzug und konnten in unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen erste Erfolge verzeichnen. Insbesondere zeigt sich in der Medizin, dass die KI zunehmend ein Leistungsniveau menschlicher Experten erreichen oder gar übertreffen kann (Esteva et al. 2017; Hosny et al. 2018).

23.4.1 Definition Eine universelle Definition für KI gibt es nicht. Vielmehr lässt sich KI in die Ansätze menschliches Denken, menschliches Handeln, rationales Denken und rationales Handeln unterteilen. Diese repräsentieren die verschiedenen Herangehensweisen an die Thematik, welche sich in der Geschichte der Entwicklung der KI sowohl gegenseitig geschadet als auch unterstützt haben (Russel und Norvig 2012). Resultierend aus dem Ansatz „menschliches Handeln“ entstand eine der am häufigsten beachteten Definitionen Artificial Intelligence (AI) is the study of how to make computers do things which, at the moment, people do better (Rich et al. 2009).

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 405

Abb. 23.5  Schema der KI-gestützten personalisierten Medizin. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Norgeot et al. 2019)

Ein zentraler Bestandteil der KI ist das maschinelle Lernen. Auf Basis vorhandener Daten werden mittels Algorithmen Vorhersagen von Ereignissen getroffen. Primäres Instrument sind dabei künstliche neuronale Netze. Besitzen diese besonders viele Schichten/Verknüpfungen, wird dies als „Deep Learning“ bezeichnet (vgl. Abb. 23.5).

23.4.2 Herausforderungen Für das Training maschineller Lernalgorithmen und einer künstlichen Intelligenz bedarf es einer großen Menge an qualitativ hochwertigen und strukturierten Daten, um eine prädefinierte Fragestellung zu lösen. Dies ist derzeit noch oftmals herausfordernder als die eigentliche Bereitstellung der entsprechenden Algorithmen. Eine weitere Herausforderung in der Medizin besteht in der Interpretierbarkeit der Ergebnisse, da komplexe „Deep-Learning“-Algorithmen zwar ein Ergebnis präsentieren, jedoch ist der Weg zu diesem Ergebnis für bis auf einige wenige nicht nachvollziehbar. In Abb. 23.6 ist die Entwicklung des Leistungsniveaus von künstlicher Intelligenz und menschlicher Intelligenz vom frühen Computerzeitalter mit einem Ausblick in die Zukunft dargestellt. Es ist zu erwarten, dass die KI auch in zunehmenden Bereichen der

406

M. Holderried et al. Bisher:

Heute:

Zukun:

• Einsatz von KI gering • Leistung von KI gering

• Einsatz von KI zunehmend • Leistung von KI zunehmend

• Menschliche Intelligenz lernt von KI

Leistung

Künstliche Intelligenz Menschliche Intelligenz

Zeit Abb. 23.6  Schematische Darstellung Entwicklung künstlicher und menschlicher Intelligenz im zeitlichen Verlauf. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hosny et al. 2018)

Medizin in den kommenden Jahren die menschliche Leistung übertreffen wird. Die Menschen werden künftig potenziell von der Mensch-KI-Interaktion profitieren und dies wird auch bei der Systemkomponente „Mensch“ in der Medizin voraussichtlich zu einem höheren Leistungsniveau führen.

23.4.3 Fallbeispiele Grundsätzlich sind der Anwendung von ML und KI in der Medizin keine Grenzen gesetzt. Besonders fortgeschritten sind derzeit bereits die auf Algorithmen basierten Analysen von Bilddaten und Hautbefunden. So erzielte ein trainiertes neuronales Netz mit der Aufgabe, Hautläsionen zu klassifizieren, Ergebnisse die dem Kompetenzniveau der Vergleichsgruppe von Dermatologen entsprach (Esteva et  al. 2017). Bemerkenswerte Fortschritte sind darüber hinaus in der Radiologie zu verzeichnen (Hosny et al. 2018). Quantitative Bewertungen durch KI-Methoden innerhalb der medizinischen Bildanalyse entwickeln sich zunehmend zu einem integralen Bestandteil von Diagnostik, Behandlung und Erfolgsbeurteilung.

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 407

23.5 Big Data und personalisierte Medizin Im Kontext der digitalen Transformation wird die Verarbeitung großer Datenmengen via ML und KI zunehmend (automatisiert) möglich. Damit wird „Big Data“ zu einem der wichtigsten Schlüsselbegriffe der digitalen Transformation. Insbesondere disruptive Innovationen, die digitale Geschäftsmodelle begründen, sind daher eng mit Big Data verzahnt. Auch in der Medizin nimmt Big Data einen zunehmend zentralen Stellenwert ein. Die Analyse umfangreicher medizinischer Daten bildet das Fundament der zunehmend individualisierten und damit der personalisierten Medizin.

23.5.1 Definitionen „Big Data“ ist derzeit in der Literatur nicht einheitlich definiert. Die am weitesten verbreitete und auch auf für die Medizin relevante Daten anwendbare Definition lieferte Gartner auf Grundlage des 3-V-Modells des Analysten Doug Laney (Gartner 2011). Demnach lassen sich die Herausforderungen und damit einhergehend die zentralen Charakteristika in die drei Dimensionen Volume, Velocity und Variety einteilen. Durch die zunehmende Durchdringung der Digitalisierung entstehen auch in der Medizin zahlreiche neue Datenquellen als ideale Voraussetzung für die Generierung umfangreicher Datenmengen (Volume). Immer mehr und schnellere Datenströme erfordern eine entsprechende Geschwindigkeit (Velocity) der Auswertung, um die erhobenen Daten effizient nutzen zu können. Das Format der Daten variiert zwischen unstrukturiert, teilstrukturiert und strukturiert. Diese Vielfalt (Variety) stellt insbesondere klassische Datenbanksysteme vor große He­ rausforderungen und erschwert eine effiziente Verarbeitung der Daten (Gartner 2011; Ruping 2015; Docherty und Lone 2015). Die Definition von „personalisierter Medizin“ ist in der Literatur ebenfalls uneinheitlich. Aktuelle Definitionen fokussieren sich entweder auf die Verwendung klinischer und biologischer Informationen, einschließlich genetischer Disposition und Biomarker oder auf demografische Kriterien, um eine bestmögliche Versorgung zu erhalten (Di Paolo et al. 2017; National Cancer Institute 2019). Der European Parliamentary Research Service Blog definiert „personalisierte Medizin“ als einen neu entstehenden und in der Entwicklung befindlichen Ansatz für die Medizin, der wissenschaftliche Erkenntnisse über die genetischen und molekularen Grundlagen von Gesundheit und Krankheit, die durch die Sequenzierung des menschlichen Genoms entstehen, nutzt, um Entscheidungen in Bezug auf Vorhersage, Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten abzuleiten. Daher wird das Ziel der personalisierten Medizin allgemein als die „richtige Behandlung für die richtige Person zur richtigen Zeit“ beschrieben (Scholz 2015). Das Zusammenwirken von Big Data und personalisierter Medizin eröffnet das Potenzial bisherige Standardtherapien, die auf gesamte Patientenkollektive angewandt werden,

408

M. Holderried et al.

Abb. 23.7  Medizin heute und in der Zukunft. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Barbeau 2018)

in Zukunft durch eine auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmte Therapie zu ersetzen, um dadurch den Therapieerfolg für das Individuum zu erhöhen (vgl. Abb. 23.7). Die individualisierte Therapie der personalisierten Medizin basiert dabei auf umfangreichen und vielschichtigen Analysen großer Datenmengen (u.  a. genetische ­Diagnostik).

23.5.2 Datenquellen Relevante Daten für Big Data in Medizin und Pflege können einer Vielzahl an Datenquellen entnommen werden. Diese können wie folgt eingeteilt werden (vgl. Ruping 2015 und eigene Ergänzungen): Krankenhausinformationssysteme/elektronische Patientenakte/spezifische medizinische Informationssysteme (u. a. für Radiologie, Kardiologie):

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 409

• Durch die zunehmende Durchdringung digitaler Dokumentationssysteme in den Krankenhäusern steht eine wachsende Anzahl an relevanten medizinischen Informationen von Patienten elektronisch und zunehmend strukturiert zur Verfügung. Geeignete Schnittstellen zwischen den medizinischen Informationssystemen erleichtern den Datenzugriff und ermöglichen eine effiziente Zusammenführung der Daten für deren weitere Verarbeitung. Noch zu überwindende Hürden hierbei sind insbesondere die ­Integration unstrukturierter „Freitexte“ des Personals aus Medizin und Pflege (z. B. Visitendokumentation) sowie die Zusammenführung der Daten aus den unterschiedlichen und parallel in Anwendung befindlichen IT-Systemen mit uneinheitlicher Semantik. Offene Daten: • Eine weitere wichtige Datenquelle sind die frei zugänglichen, sogenannten „offenen Daten“, die überwiegend im Internet allgemeinzugänglich zur Verfügung stehen (u. a. Witterungsverhältnisse, Konsumverhalten der Bevölkerung). Unternehmensdaten: • Verbunden mit der rasanten Zunahme digitaler Anwendungen für Fitness und Gesundheit (u. a. Fitness-Apps) steigt die Speicher- und Verarbeitungsmöglichkeit persönlicher gesundheitsrelevanter Informationen durch die Anbieter dieser Anwendungen kontinuierlich und nahezu unbemerkt für die Bevölkerung. Von Interesse aus Sicht der Big-Data-Analyse ist es, die Daten aus den verschiedenen Datenquellen perspektivisch zusammenzuführen (u. a. für die Analyse von Krankheitsentwicklungen). Daten aus der medizinischen Forschung: • Durch den technischen Fortschritt in der medizinischen Forschung steigt die Anzahl der für Big Data zur Verfügung stehenden Datenmengen und damit auch in diesem Bereich das Potenzial, die generierten Daten zunehmend vollumfänglich für Analysezwecke nutzen zu können. Literaturdatenbanken: • In den Literaturdatenbanken (u. a. PubMed, Google Scholar) steht aktuelles medizinisches Wissen gebündelt zur Verfügung. Hier bietet der Einsatz von KI zunehmend großes Potenzial, die Experten aus Medizin und Pflege bei Diagnostik und Therapie unterstützen zu können. Social Media:

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• Insbesondere in Social-Media-Plattformen werden von den Nutzern zunehmend und meist unbewusst direkt oder indirekt gesundheitsrelevante Informationen digital hinterlegt. Hervorzuheben aufgrund der Sonderstellung aus Sicht der Medizin ist hier „patientslikeme.com“. Die Plattform „patientslikeme“ dient insbesondere zum Austausch von Patienten mit gleichen Erkrankungen untereinander. Darüber hinaus werden mit dieser Plattform Daten der Patienten für weitere Analysen und wissenschaftliche ­Studien zur Verbesserung von Diagnostik und Therapie deren Erkrankungen erhoben. Derzeit hat die Plattform 688.163 Mitglieder (patientslikeme 2019). Quantified Self: • Mit der zunehmenden Verbreitung von Wearables steigt auch die Zahl der erhobenen personenbezogenen Daten aus dem täglichen Leben. Während zunächst Smartphones und Smartwatches Parameter wie Schrittzahl oder Herzfrequenz aufzeichnen wird dies zunehmend ergänzt durch neue Technologien, wie bspw. Smart Clothing. Eine derartige sensorengestützte persönliche Datenerhebung generiert weitere große Datenmengen, die insbesondere im medizinischen Kontext umfangreiche Analysemöglichkeiten bieten. Personalisierte Medizin wird derzeit noch überwiegend in der Onkologie angewandt und weiterentwickelt. Eine zunehmend rasante Ausdehnung von Big Data und damit der personalisierten Medizin auf andere Krankheitsentitäten ist zu erwarten. Denn die Analyse individueller Patientendaten unterschiedlicher Herkunft und deren Verbindung mit weiteren Datenquellen bietet großes Potenzial für die Diagnostik und Therapie in vielen Bereichen (Malek 2017).

23.5.3 Herausforderungen Die Bereiche Big Data und personalisierte Medizin sowie deren Verbindung befinden sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium und stehen einer Reihe von Herausforderungen gegenüber. Insbesondere sei hier der hohe Individualisierungsgrad, die damit einhergehende ausgeprägte Diversifikation der IT-Systeme im stationären und ambulanten Sektor sowie die fehlenden technischen Standards zur strukturierten Kommunikation der medizinischen Information über die Systemgrenzen hinweg aufgeführt. Die Anwendung von „Freitexten“ im Kontext der Dokumentation von Medizin und Pflege sowie die uneinheitliche Semantik im Bereich der Medizin erschweren darüber hinaus die Analyse der medizinischen Informationen im Kontext von Big Data bzw. der personalisierten Medizin. Insbesondere in der Medizin bedarf es zweckmäßiger Algorithmen und eines tiefen Verständnisses der biologischen Prozesse im Kontext der Verknüpfung, Verarbeitung und der Interpretation der Daten. Methodische Standards sind hierfür ebenfalls in einem frü-

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 411 2000 1792

1800

Anzahl der Patienten in Millionen

1600 1400 1200 1000

896

800 600

448

400 224

200 0

0.35

0.64

1.16

2.11

3.84

7

14

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

28

56

2020

2021

112 2022

2023

2024

2025

2026

Jahr

Abb. 23.8  Prognose der weltweiten Nutzung von Telemedizin bis 2026 (in Millionen). (Quelle: Statista 2018; einschließlich eigener Hochrechnung)

hen Entwicklungsstadium, da eine reine Transformation der Standards aus anderen Wirtschaftszweigen hierfür nicht ausreicht. Aus Sicht der Autoren erfordert dies zwangsläufig eine Weiterentwicklung der bestehenden Berufsbilder und Entwicklung neuer Berufsfelder im Kontext der zunehmenden Digitalisierung von Diagnostik, Therapie, Rehabilitation, Forschung und Lehre der Medizin.

23.6 S  chlussbetrachtung: E-Health-Trends für die personalisierte Medizin der Zukunft Globalisierung und Individualisierung  – zwei nur scheinbar gegensätzliche Trends, die sich auch auf die Zukunftsmedizin auswirken. Die Digitalisierung unterstützt sowohl die Globalisierung als auch die Individualisierung und damit die Personalisierung der Medizin. Wesentliche Treiber für die digitale und personalisierte Zukunftsmedizin sind die Telemedizin, die zunehmende Datenintegration medizinisch relevanter Informationen und die Integration von künstlicher Intelligenz. Die Telemedizin wird durch ihre einfache Nutzbarkeit und den ersten Erfolgen künftig weltweit rasant an Bedeutung gewinnen. Aktuelle Statistiken zeigen hier nahezu eine Verdopplung der jährlichen Nutzungszahlen. Legt man die aktuellen Wachstumsraten der

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Abb. 23.9  Schematische Darstellung der sektorenübergreifend digitalen Prozesse für die personalisierte Medizin der Zukunft mit den Patienten im Mittelpunkt. (Quelle: Eigene Darstellung)

künftigen Entwicklung zugrunde, ist schon in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts von einer weltweiten Nutzung der Telemedizin durch mehrere Milliarden Patienten auszugehen (vgl. Abb. 23.8). Aus Sicht der Autoren ist für die bestmögliche Nutzung moderner IKT die personalisierte Medizin der Zukunft, die Schaffung von sektorenübergreifend digitalen Prozessen im Kontext der Gesundheitsversorgung und -prävention unerlässlich. Dafür muss die digitale Transformation von den handelnden Akteuren aktiv und strukturiert integriert werden in: • die stationären, ambulanten und sektorenübergreifenden Behandlungsprozesse; • die Qualifizierung der Mitarbeiter (v. a. Gesundheitsberufe, Medizintechnik, Informationstechnologie, Medizinökonomie); • zunehmend interdisziplinäre und interprofessionelle Forschungs- und IT-Strategien; • die Entwicklung bedarfsgerechter und sektorenübergreifender Finanzierungsmodelle;

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 413

• das medizinische Qualitäts- und Risikomanagement sowie in die Informationssicherheit der Gesundheitsdienstleister. Dies ermöglicht perspektivisch ein patientenzentriertes, ganzeinheitliches und sektorenübergreifendes Versorgungsmanagement mit der Nutzung modernder Informations- und Kommunikationstechnologien und KIT für die Sicherung und Verbesserung von Qualität, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der patientenzentrierten individuellen Gesundheitsversorgung (vgl. Abb. 23.9).

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Dr. med. Dr. oec. Martin Holderried  M.Sc., studierte Humanmedizin an der Harvard Medical School (USA), dem Baylor College of Medicine (USA) der University of Cape Town (Südafrika) und an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Seine Ausbildung zum Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde absolvierte er an der HNO-­Universitätsklinik in Tübingen. Im Jahr 2008 erlangte er einen Master of Science in Gesundheitsökonomie an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Für seine zahlreichen Forschungs- und Implementierungsprojekte in den Bereichen E-Health und IT-gestütztes Teamlernen zur Verbesserung von Qualität, Sicherheit, Effektivität und Effizienz im Gesundheitswesen, erhielt er renommierte Auszeichnungen der Financial Times, der

23  Disruption E-Health: Treiber für die sektorenübergreifend-personalisierte Medizin … 415 Rheinischen Fachhochschule Köln und der Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen (KTQ). Darüber hinaus ist er Dozent der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften am Lehrstuhl für Ökonomik und Management sozialer Dienstleistungen der Universität Hohenheim. Seit 2014 leitet er als Geschäftsführer den Zentralbereich Medizin am Universitätsklinikum Tübingen und verantwortet klinikumsübergreifend die Medizinstrategie, das Qualitätsmanagement und insbesondere die Integration innovativer Telemedizinanwendungen in die sektorenübergreifende Regelversorgung. Ansgar Höper  absolvierte eine kaufmännische Berufsausbildung und ein Studium der Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Krankenhausmanagement an der Hochschule Flensburg. Als Projektleiter im Zentralbereich Medizin am Universitätsklinikum Tübingen ist er mit den Schwerpunkten E-Health und Data Analytics in der Medizinökonomie betraut. Parallel dazu ist er am Institut für E-Health und Management im Gesundheitswesen der Hochschule Flensburg tätig. Seine Themenschwerpunkte liegen in dem Bereich Data Science mit besonderem Fokus auf Machine Learning. Dr. med. Friederike Holderried  MME, studierte Humanmedizin an der Ludwig-­Maximilians-­ Universität München, der University of Queensland (Australien) und an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Im Jahr 2013 erlangte sie einen Master in Medical Education (University of Illinois/Chicago, Universität Bern) und koordiniert neben ihrer klinischen Tätigkeit in der Intensiv- und Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Tübingen zahlreiche Lehr- und Weiterbildungsprojekte der Medizinischen Fakultät sowie des Universitätsklinikums Tübingen. Schwerpunkte sind hierbei die medizindidaktische Begleitung und Evaluation von E-Health-Projekten für die Regelversorgung mit Fokus auf die Qualität und Patientensicherheit. Für ihre Forschungsarbeiten in den Bereichen Qualitätssicherung und medizinischer Lehre wurde sie mit dem internationalen RIME-Award ausgezeichnet.

Dynamische Innovationsnetzwerke als Erfolgsfaktor

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Matthias Schier und Bianca Heinrich

Inhaltsverzeichnis 24.1  E  inleitung  24.2  Herausforderungen definieren den Bedarf von Innovationsnetzwerken  24.2.1  Technologische Einflussfaktoren  24.2.2  Einflussfaktoren aus Regulation und Marktumfeld  24.3  Realisierung von Innovationsnetzwerken  24.3.1  Aufbau von Innovationsnetzwerken  24.3.2  Netzwerkorganisationen als Enabler  24.3.3  Herausforderungen und Grenzen von Innovationsnetzwerken  24.4  Erfolgreiche Innovationsnetzwerke in Praxisbeispielen  24.4.1  Konsortium zur Implementierung von Pflegetechnologien  24.4.2  Kooperative Entwicklung eines Chirurgie-Assistenzsystems  24.4.3  Innovationsprojekt für Patienten mit Bewegungserkrankungen  24.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

 418  420  421  422  427  427  429  429  430  430  431  433  434  435

Zusammenfassung

Das Gesundheitswesen zeichnet sich durch große Komplexität, heterogene Schnittstellen und eine hohe Dynamik hinsichtlich Marktumfeld und Rahmenbedingungen aus. Die Kombination aus technologischen Transformationen und permanenter VerschärM. Schier (*) Forum MedTech Pharma e.V., Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Heinrich IQ MEDWORKS GmbH, Aigenstadl, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_24

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M. Schier und B. Heinrich

fung regulativer Vorgaben macht es Innovatoren zunehmend schwer, die nötige Expertise in allen relevanten Schritten im Innovationsprozess bereitzustellen. Aus dieser Situation ergibt sich die Notwendigkeit für kollaboratives Arbeiten in Form von Innovationsnetzwerken. Diese ermöglichen durch eine projektbezogene und dynamische Zusammensetzung die effiziente Erarbeitung marktfähiger Innovationen, die im Ergebnis dem medizinischen Bedarf entsprechen und vergleichsweise robust gegen Veränderungen des Umfelds sind. Eine wichtige Rolle beim Aufbau von Innovationsnetzwerken stellen Netzwerkorganisationen dar, die als Initiator, aber auch als Vermittler geeigneter Netzwerkteilnehmer fungieren.

24.1 Einleitung Die erfolgreiche Entwicklung und nachhaltige Etablierung von Innovationen hängen wesentlich von der Arbeitsweise, insbesondere von der Art der Interaktion und Kooperation der beteiligten Akteure, ab. Dabei gilt, dass mit steigendem Grad an Komplexität eines Innovationssystems die Notwendigkeit für vernetztes Arbeiten steigt. Auf diese Weise kann die hochspezialisierte Kompetenz unterschiedlichster Experten intelligent kombiniert werden, um das Portfolio an Herausforderungen des komplexen Systems adressieren zu können. Entscheidend ist das Arbeiten im Netzwerk vor allem dann, wenn am Innovationssystem eine Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen, Technologien, Stakeholder und Sektoren beteiligt sind und die Herausforderungen vielschichtig oder gar widersprüchlich sind (Roski 2009). Die Gesundheitsbranche gehört zu den komplexesten und herausforderndsten Innovationssystemen unter den Hightech-Branchen. Einer, der für diese Komplexität ursächlichen Faktoren, ist die Beteiligung unterschiedlichster Akteure aus Versorgung, Industrie, Politik und Forschung. Diese differenzieren sich jeweils hinsichtlich ihres Fachwissens und ihrer Ausbildung sowie durch verschiedene Kommunikationsweisen (Roski 2009) und Interessen. Zusätzlich unterliegen die Akteure sehr unterschiedlichen Zielvorgaben, die teilweise sogar gegensätzlich sind, wenn es z. B. um Kosteneinsparung auf der einen und um Umsatzsteigerung auf der anderen Seite geht. Die Komplexität des Systems unterliegt dabei einem ständigen Umbruch durch politische Entwicklungen (BMWi 2017), wirtschaftliche Faktoren, sich wandelnde ethische Sichtweisen oder technologische Neuerungen. Die Beteiligung der unterschiedlichen Akteure und Stakeholder sorgt für Interessenkonflikte bei der Umsetzung von neuen Möglichkeiten oder veränderten Rahmenbedingungen. Die aktuell gravierendenden Veränderungen in der Gesundheitsbranche durch die digitale Transformation sind ein eindrückliches Beispiel für die tiefgreifenden Implikationen technologischer Neuerungen und die im Innovationssystem entstehenden Herausforderungen. Die Möglichkeiten und Anwendungsfelder digitaler Lösungsansätze für die Gesundheitsbranche sind außerordentlich breit gefächert, haben aber eines gemeinsam: Der Einsatz digitaler Technologien führt nicht per se zu Verbesserungen in der Qualität und Effizienz der Versorgung. So bringt eine digitale Vernetzung noch keine Verbesserung in

24  Dynamische Innovationsnetzwerke als Erfolgsfaktor

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der Kommunikation. Die Potenziale durch das neue Methodenspektrum digitaler Werkzeuge können helfen, Prozesse effizienter zu gestalten – bei einer ungünstigen Implementierung diese jedoch auch mit unnötiger Komplexität versehen. Die durch das Gesundheitssystem in vielen Bereichen vorgegebene Deckelung der Budgets für Gesundheitsausgaben sowie die regulativen Einschränkungen für die Erstattung innovativer Versorgungsansätze kommen als erschwerende Randbedingungen im Innovationssystem der Gesundheitsbranche hinzu. Ungeachtet dieser anspruchsvollen He­ rausforderungen werden von der Gesellschaft berechtigterweise hohe Wirksamkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung gefordert. In diesem sensiblen Bereich sind die Erwartungen an die Versorgungsqualität von Patienten und Betroffenen unabhängig von Veränderungen in den Rahmenbedingungen auf einem sehr hohen Level. Das skizzierte Umfeld, in dem sich die Gesundheitsbranche befindet, unterstreicht die anfangs erwähnte Notwendigkeit für vernetztes Arbeiten in Form von Innovationsnetzwerken. Als Innovationsnetzwerke werden im Folgenden interdisziplinäre und ggf. intersektorale projekt- oder themenbezogene Arbeitsgruppen bezeichnet, die für eine Produktoder Prozessinnovationen kollaborieren (Borchert et  al. 2004). Das Netzwerk erstreckt sich dabei meist über Grenzen von Unternehmen und Institutionen und bildet gewissermaßen ein eigenständiges virtuelles Unternehmen auf Zeit – im Sinne der These: „Netzwerke sind die Unternehmensform der Zukunft“ (Häussermann 2009). Die Verteilung von Kompetenzen und gleichzeitige Bündelung innerhalb eines Innovationsnetzwerkes bewirkt eine Steigerung der Qualität und Effizienz auf dem Weg von der Idee zum Produkt und hilft bei der Erfüllung einzelner Anforderungen. So wird die Chance auf ein markttaugliches und kommerzialisierbares Endprodukt erheblich gesteigert. Praktische Erfahrungen zeigen allerdings gravierende Defizite und Verbesserungspotenziale bei der Gestaltung und Nutzung von Innovationsnetzwerken. Insbesondere im Bereich der interdisziplinären und intersektoralen Kooperation erweisen sich Kommunikation, Verständnis und Interessenkonflikte als große Herausforderungen. Noch immer haben vielen Akteure der Branche nicht erkannt, dass die Involvierung hochspezialisierter Experten für die einzelnen Schritte im Innovationsprozess erhebliches Effizienzpotenzial bietet und in der Regel der komplett eigenständigen Umsetzung eines Projektes weit überlegen ist. Dieser Beitrag befasst sich mit der Entstehung und Nutzung von Innovationsnetzwerken. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Rolle von Netzwerkorganisationen, die den Aufbau und die Umsetzung von Innovationsnetzwerken stimulieren und unterstützen. Netzwerkorganisationen sind Vereine, Verbände und Institutionen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Trends und Herausforderungen der Branche zu identifizieren, die verschiedenen Akteure zusammenzubringen und Wissen ausgewählter Experten gebündelt zugänglich zu machen. Der Zugang zu den Experten aus unterschiedlichen Teilbereichen der Gesundheitsbranche ist die Basis für eine frühe Evaluierung der Markttauglichkeit: Das Feedback der unterschiedlichen Akteure zeigt neue Trends und Bedarfe auf, schärft das Bewusstsein für aktuelle Herausforderungen und gibt Einblicke in den Status quo des Marktumfeldes. Kernkompetenz der Netzwerkorganisationen ist ein möglichst breit gefächertes Wissen und Verständnis des Gesamtsystems. Eine weitgehende Neutralität der Netzwerkorganisa-

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M. Schier und B. Heinrich

tionen ist dabei Voraussetzung für die Akzeptanz als Stimulator und Katalysator von Innovationsnetzwerken. Der Fokus der folgenden Betrachtungen liegt im Bereich der empirischen Analyse von Innovationsnetzwerken. Die Erfahrungen und Praxisbeispiele resultieren dabei schwerpunktmäßig aus der langjährigen Vernetzungsarbeit des Vereins „Forum MedTech Phar­ma“. Theorien zu den Mechanismen und Wechselwirkungen in Netzwerken spielen in diesem Beitrag nur eine untergeordnete Rolle.

24.2 H  erausforderungen definieren den Bedarf von Innovationsnetzwerken Die spezifischen Strukturen und Anforderungen des Innovationssystems Gesundheitsversorgung definieren den Bedarf und gleichzeitig die Ansatzpunkte für die Arbeit von Innovationsnetzwerken. Zum einen sind die Schnittstellen zwischen interdisziplinären und intersektoralen Stakeholder genauer zu betrachten  – ein Aspekt, der besonders hohes Potenzial für Verbesserungen bietet. Des Weiteren stellt die hohe Dynamik, insbesondere die Veränderungsprozesse verschiedener Rahmenbedingungen im Gesundheitssektor, eine große Herausforderung für alle Beteiligten dar. Relevant sind hierbei insbesondere die Bereiche technischer Fortschritt, digitale Transformation, Regulation, Erstattung sowie das Marktumfeld und die öffentliche Wahrnehmung (Abb.  24.1). Durch die detaillierte Beschreibung der wichtigsten Einflussfaktoren werden wirksame Angriffspunkte für Optimierungsprozesse aufgezeigt. Im Ergebnis wird sich aufgrund der Komplexität und Diversität der relevanten Marktaspekte die Notwendigkeit der Stimulation durch Netzwerk­ organisationen herausstellen. Dabei werden auch Grenzen von Innovationsnetzwerken sowie Risiko- und Chancenpotenziale anhand konkreter Beispiele aufgezeigt.

Herausforderungen im Innovationsprozess Technologischer Fortschritt Digitalisierung Schnittstellen Regulation Erstattung Marktumfeld Öffentliche Wahrnehmung

Idee

Entwicklung

Zulassung

Vermarktung Anwendung

Abb. 24.1  Herausforderungen im Innovationsprozess und deren vorrangige Relevanz für die Projektphasen von der Idee bis zur Anwendung. (Quelle: Eigene Darstellung)

24  Dynamische Innovationsnetzwerke als Erfolgsfaktor

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24.2.1 Technologische Einflussfaktoren Als Hightech-Bereich greift die Gesundheitsbranche auf zahlreiche Technologien zurück, die innovative Lösungen für die Gesundheitsversorgung erst möglich machen. Dadurch ergibt sich eine ausgeprägte Wechselwirkung bzw. Abhängigkeit von Trends und Entwicklungen in diesen Technologiebereichen. Diese Herausforderung wird im Folgenden diskutiert, wobei der Bereich der Digitalisierung aufgrund der herausragenden Bedeutung separat beleuchtet wird. Technologischer Fortschritt Die Gesundheitsbranche ist ein Wirtschaftszweig mit überdurchschnittlich hohem Forschungs- und Entwicklungsanteil (efpia 2018). Produkte und Prozesse werden kontinuierlich mit großem Aufwand weiterentwickelt. Gleichzeitig bedient sich die Gesundheitsbranche zahlreicher hochentwickelter Basistechnologien. Jeder Technologiesprung in einer der relevanten Basistechnologien wirkt sich unmittelbar auf die Möglichkeiten medizintechnischer oder pharmazeutischer Lösungen aus. Beispielhaft sind die Technologiefelder Elektronik, Informationstechnologie, Materialtechnik, Fertigungstechnik sowie Genetik und Molekularbiologie als wichtige Treiber zu nennen. Aber auch andere korrespondierende Hightech-Branchen wie Robotik, künstliche Intelligenz oder virtuelle Realität spielen wichtige Rollen als Enabler (Burkhart et al. 2017). Im Ergebnis sind immer wieder faszinierende Technologiesprünge für die Gesundheitsversorgung möglich. Bei Computertomografen wird die Strahlenbelastung bei identischer Bildqualität durch neue Methoden stetig reduziert. Teilweise ergeben sich bei Austausch alter Geräte Reduzierungspotenziale von bis zu 75  % (Brüderkrankenhaus St. Josef Paderborn 2015). Mit künstlicher Intelligenz werden Methoden für Krankheitsdiagnostik effizienter gestaltet. Geräteabmessungen, Gerätevernetzung oder Handhabung können benutzerfreundlicher gestaltet werden. Diese technologischen Entwicklungen bieten hohes Potenzial für eine Effizienzsteigerung bei Abläufen, benötigten räumlichen Ressourcen und der Ausbildung von Fachpersonal. Gleichzeitig resultieren Herausforderungen in Bezug auf die Anpassung an regulatorische Vorgaben, Konzeption der Einsatzpläne sowie die Berücksichtigung ethischer und sozialer Aspekte. Bei den technologischen Entwicklungsfeldern zeigt sich insbesondere die Digitalisierung als Potenzialfeld, auf das im Folgenden näher eingegangen wird. Digitalisierung. Unter dem inflationär verwendeten Begriff „Digitalisierung“ oder „digitale Transformation“ wird im Bereich der Gesundheitsversorgung eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Anwendungsbereiche für innovative Ansätze aus der Informationstechnologie subsummiert. Die Themen umfassen Bereiche wie Big Data Analytics, künstliche Intelligenz, Vernetzung von Devices, digital optimierte Prozesse, E-Patientenakte, web-based und cloud-based Healthcare, Wearables und Apps, Remote-Monitoring oder Therapieüberwachung. Diese umfangreiche und dennoch nicht vollständige Liste an Applikationsgebieten

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macht deutlich, wie vielfältig die Chancen und Herausforderungen durch digitale Innovationen sind und wie breit dadurch auch die Palette an involvierten Akteuren und Stakeholdern ist (Burkhart et al. 2018). Eine wesentliche Herausforderung für die Nutzung digitaler Möglichkeiten liegt in der grundlegenden IT-Infrastruktur. Bei den einzelnen Akteuren hängt diese unter anderem von finanziellen und baulichen Ressourcen ab. Aber auch im Bereich der flächendeckenden IT-Infrastruktur als Datenautobahn für die Übertragung vielfältiger Gesundheitsdaten für E-Health-Anwendungen wird in Deutschland schon seit vielen Jahren auf eine funktionierende Lösung gewartet (vgl. Roland Berger, Spectaris und Messe Düsseldorf Group 2018). Die Einhaltung von Vorgaben im Hinblick auf Datenschutz und Datensicherheit bringen weitere, teils schwer überwindbare Herausforderungen mit sich und, durch die Involvierung von Juristen, eine zusätzliche Akteursgruppe ins Spiel. Aber auch die im Zuge der digitalen Transformation grundlegend veränderten Geschäftsmodelle, die Szenarien der stärker verteilten Wertschöpfung berücksichtigen müssen, sind für viele Beteiligte noch weitgehend unklar. Beispiele für konkrete Einsatzgebiete digital unterstützter Produkte und Prozesse sind: Pflege- und medizinische Dokumentation, Kommunikation innerhalb und zwischen ambulanten, stationären und hybriden Versorgungsbereichen sowie automatisierte Auswertungen von Sensordaten mit Anbindung an Meldesysteme oder Aktuatoren. Für den effizienten und wirksamen Einsatz digitaler Tools in der praktischen Gesundheitsversorgung existieren in Anbetracht der Komplexität und Vielfalt an Schnittstellen erhebliche Verbesserungs- und Einsparpotenziale durch vernetztes Arbeiten. Entscheidend ist eine von Beginn an kooperative Entwicklung unter Einbeziehung von Anwendern und Real-Szenarios (Hehner et al. 2018).

24.2.2 Einflussfaktoren aus Regulation und Marktumfeld Das komplexe System der Gesundheitswirtschaft unterliegt einer Vielzahl von Einflussfaktoren jenseits technologischer Trends. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit, die vielfältigen Aspekte möglichst umfassend zu kennen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das eigene Innovationsprojekt einschätzen zu können sowie auch die Dynamik der Rahmenbedingungen und Marktaspekte einzubeziehen. Eine permanente Beobachtung regulatorischer Änderungen und eine Verfolgung von Markttrends sind unverzichtbare Erfolgsfaktoren. Außerdem ist ein hohes Maß an Flexibilität und Reaktionsfähigkeit auf externe Veränderungen nötig. Im Folgenden werden fünf Einflussfaktoren beleuchtet, die für die Gesundheitsbranche besonders große Relevanz haben und eine hohe Dynamik ­aufweisen. Schnittstellen beteiligter Akteure und Stakeholder Die hohe Komplexität des Gesundheitssystems zeigt sich deutlich bei der Analyse der beteiligten Akteure, die nach unterschiedlichen Gesichtspunkten klassifiziert werden können. Abb. 24.2.

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Anwendungsgebiet • • • • • • •

Profession • • • • • • •

Betriebswirt Informatiker Ingenieur Jurist Mediziner Pfleger Pharmazeut

Allgemeinmedizin Altenpflege Chirurgie Kardiologie Onkologie Orthopädie Rehabilitation

Instanz • • • • • • •

Kostenträger Leistungserbringer Netzwerkorganisationen Produkthersteller Politik Wissenschaft & Forschung Zulieferer und Dienstleister

Abb. 24.2  Einordnung der Akteure der Gesundheitsbranche in drei Klassifizierungsebenen. (Quelle: Eigene Darstellung 2019)

Die starke Heterogenität der Akteure und Akteursgruppen manifestiert sich in einer breiten Palette unterschiedlichster Implikationen. Neben allgemeinen und in der Regel für alle Akteure identischen Zielen wie Ressourceneffizienz, Qualität und Strukturerhalt bestimmen individuelle Ziele das Handeln. So können Individualziele, wie z. B. das Erreichen von Umsatzzahlen seitens der Produkthersteller, die Senkung von Ausgaben für medizinische Hilfsmittel, die Forderung nach Daten zum Nachweis der Evidenz oder die Vermeidung von Wissensabfluss, Raum für Konflikte bieten. Akteure können sich situativ in unterschiedlichen Rollen befinden. So kann in praktischen Situationen die Zuordnung zur Profession relevant sein. Hier zeigen sich insbesondere kommunikative Hürden in der Zusammenarbeit zwischen den Professionen. Steht der Aspekt der Instanzen im Vordergrund, so können die Interessen hinsichtlich Rahmenbedingungen wie Kosten- und Prozessstrukturen, politische Konstellationen oder dem Image der Einrichtungen divergieren. Die beteiligten Akteure können somit situationsabhängig zu unterschiedlichen Stakeholdergruppen gehören bzw. zwischen Kunde, Dienstleister und Stakeholder wechseln. Die Herausforderungen an den Schnittstellen aus Professionssicht lassen sich mit einem Beispiel veranschaulichen: Aufgrund der unterschiedlichen Ausbildung, Hierarchieebene und Kommunikationsweise zwischen Pflegkräften und medizinischem Personal

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kommt es im Versorgungsprozess zu redundanten Anweisungen und daraus resultierendem zeitlichen Mehraufwand (Gerber et al. 2018). Noch gravierender sind die Auswirkungen beim Transfer zwischen Sektoren der Leistungserbringer wie Krankenhaus, Arztpraxis, MVZ, Reha-Einrichtungen und Altenpflege. An den Schnittstellen summieren sich sowohl zeitliche als auch ressourcentechnische Ineffizienzen, beispielsweise im Rahmen der redundanten Dokumentation. Die verschiedenen Anwendungsgebiete in der Gesundheitsversorgung weisen starke Unterschiede in der technischen Ausstattung, IT-Anbindung, den verfügbaren finanziellen Mitteln und der personellen Besetzung auf. So profitiert die Chirurgie beispielweise von überdurchschnittlich hohen Mitteln und technisch weit fortgeschrittenen Lösungen, während die Altenpflege selbst bei der Grundausstattung an IT-Infrastruktur oder spezialisierten digitalen Lösungen für Versorgungsmanagement und Dokumentation dringenden Investitionsbedarf hat. Zum Teil liegt dies in strukturellen Defiziten der Einrichtungen begründet, aber auch politische, ethische und soziale Rahmenbedingung üben einen Einfluss aus. Die unterschiedlichen Einflussfaktoren bei Professionen, Fachgebieten und insbesondere den Rahmenbedingungen der Instanzen bewirken im Innovations- und Versorgungsprozess teilweise künstlich erzeugte Sektorengrenzen. Bedingt dadurch kommt es zu einer gedämpften Entfaltung von Innovationspotenzialen. Die Überwindung dieser aufgebauten Hürden an Schnittstellen und Sektorengrenzen erfordert ein umfassendes Verständnis des gesamten Innovationssystems sowie Zugang zu detailliertem Fachwissen und gesammelten Erfahrungen. Die erfolgreiche Umsetzung eines Innovationsprojektes ist vor diesem Hintergrund von einem einzelnen Akteur kaum leistbar. Innovationsnetzwerke sind demzufolge notwendig, um den aktuellen und zukünftigen Entwicklungen der Gesundheitsbranche gerecht zu werden und gleichzeitig innovative und markttaugliche Lösungen in die Versorgung einzuführen. Regulation Der hohe Grad an Regulation stellt für die Akteure der Gesundheitsbranche eine große Herausforderung dar. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurden immer neue Teilbereiche, Produktkategorien oder Prozessschritte mit gesetzlichen Regelungen erfasst. Durch das historisch gewachsene Portfolio an Regulationen und die vielfältigen Zuständigkeiten auf Landes-, Bundes oder EU-Ebene hat sich ein umfangreiches Gesamtsystem entwickelt, das nur noch von ausgewiesenen Regulatory-Affairs-Experten erfasst und bearbeitet werden kann. Die Regulationsstrategien der unterschiedlichen produktbezogenen Teilbranchen, wie z. B. Arzneimittel, Medizinprodukte oder Diagnostika, haben sich dabei vielfach voneinander separiert und eigenständig weiterentwickelt. Darüber hinaus existieren breit diversifizierte Regelwerke für die Prozesse der Gesundheitsversorgung, von Versorgungsstrukturgesetzen über Regelungen zu Hygiene und Datenschutz oder Verordnungen für Heilberufe bis hin zu Gesetzen über telemedizinische Versorgung. Neben der großen Komplexität und Diversität erzeugt aber vor allem die regelmäßige tiefgreifende Veränderung der Gesetzestexte bei den betroffenen Akteuren erheblichen Aufwand. Ein bekanntes

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Beispiel ist die ab 2020 endgültig in Kraft tretende Medical Device Regulation (MDR), die deutlich mehr als eine Weiterentwicklung der bisherigen Regelungen darstellt. Derart gravierende Änderungen dieser Regularien stellen für die Industrie und Leistungserbringer, aber auch Zulieferer und Dienstleister große Herausforderungen dar (vgl. BVMed 2019). Teilweise sprechen Branchenverbände sogar von Herausforderungen, die gerade für kleine und mittlere Unternehmen von existenzieller Bedeutung sein können. Oftmals sind Übergangsfristen knapp bemessen. Hinzu kommt, dass bei der Gesetzgebung in der Regel nicht alle Implikationen der praktischen Umsetzung berücksichtigt werden, sodass viele Prozesse im Rahmen der Qualitätssicherung und Zertifizierung unklar oder zumindest interpretationsbedürftig bleiben (vgl. Heinrich 2017). Im Rahmen derartiger Gesetzesänderungen steigt der Bedarf an ausgewiesen Experten für Regulation und Qualitätsmanagement rapide an, kann jedoch bei Weitem nicht von entsprechend ausgebildeten und erfahrenen Fachkräften bedient werden. Es entstehen Engpässe aufseiten der Hersteller, ebenso bei den benannten Stellen. Erstattung Im Innovationsprozess auf dem Weg von der Idee bis zur erfolgreichen Anwendung am Patienten hat sich in zunehmendem Maße die Kostenerstattung als eine der zentralen Hürden herauskristallisiert. Ein erheblicher Teil von Produkten oder Prozesslösungen für die Gesundheitsversorgung ist darauf angewiesen, über das Erstattungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die Rückfinanzierung zu erhalten. Da in Deutschland rund 90 % aller Patienten dem GKV-System angehören (vgl. GKV-Spitzenverband 2018), ist die Erstattungsfähigkeit von Produkten erfolgsentscheidend. Für innovative Produkte und neue Methoden in der Gesundheitsversorgung muss diese in vielen Fällen durch entsprechende Gremien, insbesondere dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) genehmigt werden (vgl. BVMed et al. 2017). Dieser Prozess kann langwierig sein und erfordert in der Regel erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen, um die geforderten Daten für den Evidenznachweis zu generieren. Die Aussichten auf eine positive Entscheidung zur Erstattungsfähigkeit sind erfahrungsgemäß relativ gering. Immer wieder wird von der Einstellung von Innovationsprojekten oder sogar der Einstellung des Geschäftsbetriebs von Unternehmen berichtet, die den Weg in die Erstattungsfähigkeit nicht erfolgreich beschreiten konnten. Zusätzlich zeichnen sich beim Blick in die Zukunft neue Ansätze für die Kostenerstattung ab. In anderen Märkten, insbesondere in den USA, wird bereits die Vergütung in Abhängigkeit des medizinischen Behandlungserfolgs bzw. basierend auf Qualitätsindikatoren der medizinischen Versorgung durchgeführt. Dieses als „pay for performance“ oder „outcome based reimbursement“ bezeichnete Prinzip spielt zwar im deutschen GKV-­Sys­ tem noch eine sehr untergeordnete Rolle, könnte sich aber als Folge von Kostendruck und bedingt durch die neuen Möglichkeiten, mittels digital basierter Dokumentation detaillierte Qualitätskriterien zu analysieren, bald als relevant erweisen. Die beteiligten Akteure müssten sich dann auf vielfältige neue Aspekte in der Entwicklung und Kommerzialisierung innovativer Lösungen für die Gesundheitsversorgung einstellen.

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Insofern gilt für diesen Schritt in besonderer Weise, dass nur durch Interaktion und Kooperation in Netzwerken realistische Chancen bestehen, erfolgreich im Innovationssystem Gesundheitsversorgung zu bestehen. Der Zugriff auf Expertise und Erfahrungswerte, der Brückenschlag zu Gremien und politischen Entscheidungsträgern und die Nutzung von Synergieeffekten durch gemeinsame Maßnahmen, z. B. im Verbund mehrerer KMU, können die Chancen auf Erfolg erheblich verbessern. Marktumfeld Bedingt durch vielfältige Einflüsse seitens technologischer Neuerungen, digitaler Transformation aber auch durch den Fokus auf die Finanzierbarkeit neuer Versorgungslösungen wandelt sich das Marktumfeld zunehmend zu einer Prozess- bzw. Lösungsorientierung anstelle einer Produktorientierung. Die Vielzahl an innovativen Möglichkeiten, Tools und Teilsystemen bedeutet für Leistungserbringer einerseits eine Erweiterung der Möglichkeiten, andererseits aber auch großen Aufwand, um den Überblick zu behalten, funktionierende Systeme zu implementieren und klare Strukturen zu entwickeln. Daher wünschen sich Kunden, z. B. Kliniken, zunehmend Systemlösungen mit einer stark reduzierten Anzahl von Ansprechpartnern bis hin zur externen Vergabe kompletter Teilbereiche der Versorgung, z. B. der radiologischen Diagnostik. Daraus ergibt sich per se, gewissermaßen als direkter Marktbedarf, die Notwendigkeit zum Arbeiten in Innovationsnetzwerken. Die engere Abstimmung zwischen Industrie und medizinischer Anwendung ermöglicht eine größtmögliche Praxistauglichkeit von Produkten und Lösungen. Durch die Einbindung von Wissenschaftspartnern und Forschern in den Innovationsprozess sollen zudem sämtliche verfügbaren technischen Lösungsmöglichkeiten berücksichtigt und ergänzend zum bedarfsorientierten Ansatz des „market pull“ auch die stimulierenden Impulse des „technology push“ bestmöglich genutzt werden (vgl. Burkhart et al. 2018). Ebenfalls von großem Einfluss ist der Wandel von einer vorrangig zentralen Gesundheitsversorgung in Kliniken zu dezentraleren Versorgungsansätzen. Medizinische Versorgungszentren bieten eine Vielzahl an Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten an, wie z. B. radiologische Verfahren, und bewirken damit eine Auslagerung von medizinischen Versorgungsschritten aus der Klinik. Noch stärker wird die Dezentralisierung bei mobilen und telematischen Lösungen deutlich. Die Bausteine der Versorgung verteilen sich damit auch auf Hausärzte, Fachärzte, Therapeuten, insbesondere aber auch auf das häusliche Umfeld. Teilweise kommt es dabei zur webbasierten Einbindung von Experten oder Expertennetzen, deren geografische Lokalisation völlig unerheblich ist, die aber mit ihrer Expertise, z. B. zur Befundung oder Therapieempfehlung, zum Versorgungsprozess beitragen. Öffentliche Wahrnehmung Neben den bisher aufgezeigten Einflussfaktoren bildet die Gesellschaft bzw. die Öffentlichkeit einen Stakeholder, dem oft zu wenig Beachtung geschenkt wird. Besonderes Augenmerk muss in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Medien als Informationskanal, aber auch Meinungsbildner gelegt werden. Außerdem spielt hier der Faktor „Image“ der

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Branche, aber auch einzelner Unternehmen oder Produkte eine Rolle. In diesem Rahmen ist die sorgfältige Auseinandersetzung mit ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten erforderlich – eine Analyse, die auch als ELSI-Ansatz („ethical, legal and social implications“) bezeichnet wird. Wie bereits dargestellt, sind am Innovationssystem der Gesundheitsbranche zahlreiche unterschiedliche Akteure entlang der Innovations-, Versorgungs- und Wertschöpfungsschritte beteiligt. In der Außenwahrnehmung durch die Öffentlichkeit wird die Verantwortung für erfolgreiche Gesundheitsversorgung am Patienten bzw. Betroffenen nahezu ausschließlich bei den Gesundheitsleistungserbringern gesehen. Insbesondere die politischen Entscheidungsträger müssen deshalb einen umfassenden Überblick über die Versorgung und Versorgungsstrukturen haben, um umsetzbare Rahmenbedingungen zu schaffen. Sowohl durch Kommunikationsschwierigkeiten als auch durch Überbetonung von Einzelfällen anstelle statistischer Daten entstehen an dieser Schnittstelle immer wieder Probleme. Ausnahmefälle, wie z. B. der PIP-Skandal im Jahr 2011 oder aktuell der „Implant-­Files“Skandal (Korzelius et al. 2018), bewirken in der Folge tief greifende Umstellungen von Rahmenbedingungen, um auf die vor allem medial stimulierte Forderung nach mehr Patientensicherheit zu reagieren. Die Umsetzung von neuen Vorgaben, wie z. B. der Medical Device Regulation, stellt die betroffenen Einrichtungen und Unternehmen allerdings vor gravierende Herausforderungen. Eine Dämpfung der Innovationsdynamik oder in manchen Fällen auch Einschränkungen in der Auswahl verfügbarer Medizinprodukte können die Folge sein.

24.3 Realisierung von Innovationsnetzwerken Die vorausgehende Beschreibung des hochkomplexen und dynamischen Innovationssystems der Gesundheitsbranche macht deutlich, dass Innovationsnetzwerke zunehmend an Bedeutung gewinnen und immer mehr zum entscheidenden Faktor erfolgreicher Innovationstätigkeit in der Gesundheitsbranche werden. Besonders ausgeprägt gilt dies für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) im Bereich der Hersteller, Zulieferer und Dienstleister sowie für Versorgungseinrichtungen kleinerer Träger. Aber auch Großunternehmen erkennen in zunehmendem Maß den Benefit von vernetztem Arbeiten in projektspezifischen Netzwerken. Wie Innovationsnetzwerke aufgebaut und genutzt werden, wird im Folgenden beschrieben. Beleuchtet werden insbesondere auch die katalysatorische Rolle von Netzwerkorganisationen sowie Herausforderungen und Grenzen dieser vernetzten Arbeitsweise.

24.3.1 Aufbau von Innovationsnetzwerken Die Ausgestaltung von Innovationsnetzwerken kann situationsabhängig sehr unterschiedlich erfolgen. Oftmals gilt für Innovationsnetzwerke, dass Akteure von mehreren sehr un-

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terschiedlich gelagerten Unternehmen bzw. Institutionen gemeinsam an einem Innovationsprojekt arbeiten oder ein mehr oder weniger formalisiertes Konsortium bilden, das ein Innovationsprojekt vorantreibt. In der Regel existieren weder institutionelle Strukturen noch eine gemeinsame Rechtsform. Meist gibt es zudem eine zeitliche Begrenzung des Innovationsnetzes  – gegeben durch die Dauer des Projektes bzw. der Projektreihe. Gemeinsame Außenauftritte bis hin zu einer gemeinsamen Marke sind aber durchaus möglich. Manche existierenden Innovationsnetzwerke stellen dabei die gemeinsame Marke so stark in den Vordergrund, dass erst auf den zweiten Blick die beteiligten Unternehmen und Institutionen erkennbar sind. Das kann in bestimmten Produkt- bzw. Dienstleitungsbereichen ein entscheidender Vorteil bei der Vermarktung sein  – wünschen sich doch viele Akteure Lösungen, die sie über einen einzigen Ansprechpartner adressieren können. Die Zusammensetzung ist über die Projektdauer variabel, relevante Experten können für spezifische Fragestellungen für begrenzte Zeit Teil des Netzwerks werden. Durch diese atmende Charakteristik ist ein hohes Maß an Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit gewährleistet. Zudem müssen keine spezialisierten Ressourcen vorgehalten werden, wenn diese in der aktuellen Projektphase keine Relevanz haben. Durch die interdisziplinäre und intersektorale Kooperation ist gewährleistet, dass in jedem Prozessschritt und zu jeder technischen oder prozessoralen Herausforderung ausgewiesene Experten involviert sind, die das jeweilige Thema bestmöglich adressieren können. Trotz der dadurch entstehenden Schnittstellen und dem damit einhergehenden höheren Koordinierungsaufwand ist durch die Konzentration aller beteiligten Akteure auf ihre Kernkompetenzen eine erhebliche Steigerung in Effizienz und Ergebnisqualität zu erwarten. Sehr häufig greifen Akteure bei der Entwicklung von Innovationsprojekten auf staatliche Fördermöglichkeiten zurück. Entsprechend ist auch bei der Arbeit in Innovationsnetzwerken die Förderung ein wichtiges und regelmäßig anzutreffendes Element. Förderprogramme können zwei unterschiedliche Wirkungen entfalten: Die Projektfinanzierung im Rahmen von Förderprogrammen sorgt dafür, dass ausreichende Ressourcen für eine kollaborative Entwicklung sichergestellt sind, die auch Expertise von Hochschulen und anderen nicht erwerbswirtschaftlich tätigen Institutionen einschließt. Zum anderen gibt aber das Förderprogramm den entscheidenden Anstoß zur Initiierung eines Innovationsnetzwerks. Aufgrund der Tatsache, dass Förderprogramme vielfach als Verbundprogramme ausgeschrieben werden, muss sich ein interdisziplinäres und institutionsübergreifendes Konsortium für die Projektbeantragung zusammenfinden. Das bildet den Ausgangspunkt für den Auf- und weiteren Ausbau eines Innovationsnetzwerks. Erfahrungen der Netzwerkorganisation Forum MedTech Pharma zeigen, dass die Beteiligung von staatlicher Förderung bei Innovationsnetzwerken regelmäßig erfolgt. Vor diesem Hintergrund können ­Förderprogramme, sofern sie richtig ausgestaltet sind, als Instrument zum gezielten Anstoß von vernetztem Arbeiten in Innovationsnetzwerken eingesetzt werden.

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24.3.2 Netzwerkorganisationen als Enabler Beim Aufbau von Innovationsnetzwerken können branchenspezifische Netzwerkorganisationen eine wichtige Rolle spielen. Bei der Zusammenstellung passender Experten für das individuelle Innovationsnetzwerk ist ein guter Überblick über Akteure, Experten und Kompetenzen entscheidend. Netzwerkorganisationen, beispielsweise das überregionale Netzwerk „Forum MedTech Pharma“, geben einen Überblick aktueller Branchenstrukturen und Markttrends. Sie besitzen einen umfassenden Blick über passende Partner mit ihrer spezialisierten Expertise sowie zumeist Zugang zu entsprechenden Kontaktpersonen. Außerdem können Branchennetzwerke durch eine objektive Einschätzung der Kompetenz bzw. Passgenauigkeit unterstützen und durch die Anfrage von neutraler Stelle die Kooperationsbereitschaft des Partners erhöhen. Unternehmen, die ein Innovationsnetzwerk initiieren möchten, können auf diese Weise wertvolle Ressourcen einsparen. Vernetztes Arbeiten als Erfolgsmodell für Innovationen steht in zunehmendem Maß im Fokus von Netzwerkorganisationen und Branchenplattformen. Um dies zu stimulieren, stellen Netzwerkorganisationen Expertenrunden und Workshops zusammen, die thematisch tiefgehende Diskussionen zu fachlichen und methodischen Herausforderungen ermöglichen. Fachtagungen und Kongresse informieren in der Breite und zeigen das Spek­ trum der relevanten Erfolgsfaktoren auf. Um dem tatsächlichen Branchenbedarf zu entsprechen und reale Hürden in der Innovationstätigkeit zu erkennen, ist Mitbestimmung und Partizipation durch die Akteure, die ggf. in der Form einer Mitgliedschaft enger angebunden werden, ein wichtiges Wesensmerkmal der Netzwerkorganisationen.

24.3.3 Herausforderungen und Grenzen von Innovationsnetzwerken In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass Innovationsnetzwerke erhebliche Potenziale für effiziente Innovationstätigkeit in einem anspruchsvollen Umfeld haben. Dem stehen Herausforderungen gegenüber, deren sich die Akteure bewusst sein sollten, um Chancen und Risiken beim Betrieb von Innovationsnetzwerken ausbalancieren zu können. Obwohl Innovationsnetzwerke dazu beitragen, die Verluste an den vielfältigen Schnittstellen im Innovations- und Versorgungssystem zu minimieren, entstehen auf der anderen Seite bei dieser Arbeitsweise neue Schnittstellen innerhalb des Netzwerks, die gestaltet und beherrscht werden müssen. Operativ bedeutet das nicht nur erhöhten Aufwand für Informationsfluss und Dokumentation, sondern auch die Notwendigkeit für tragfähige vertragliche Vereinbarungen zwischen beteiligten Institutionen. Solche Vertragswerke sind unverzichtbar, um Entscheidungsprozesse effizient und konfliktarm zu gestalten. Im Zweifelsfall kann es notwendig sein, auf ein hinsichtlich der spezifischen Expertise wichtiges Mitglied im Netzwerk zu verzichten, wenn keine einvernehmlichen Vereinbarungen, beispielsweise zu Entscheidungskompetenzen oder Verwertungsansprüchen, erzielt werden können. Auch Themen rund um Geheimhaltung, Datenschutz beim Informationsfluss

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zwischen Akteuren, Vermeidung von Wissensabfluss, Schnittstellendefinitionen sowie die Verteilung von Risiko und Gewinn sollten bereits zu Beginn einer Kooperation sorgfältig adressiert und vereinbart sein. Generell besteht bei vernetztem Arbeiten immer das Risiko, dass sich die Ziele beteiligter Akteure in unterschiedliche Richtungen entwickeln und es zum Bruch zwischen Partnern und damit zu einer Lücke im Netzwerk kommt. Begrenzungen in Innovationsnetzwerken entstehen unter anderem durch Fachkräftemangel und Ressourcenengpässe in strategisch wichtigen Wissensbereichen. Durch die skizzierten schnell ansteigenden Anforderungen von dynamischen Faktoren ist es nicht immer möglich, das Innovationsnetzwerk mit Experten aus dem relevanten Bereich zu besetzen, da erfahrene Fachkräfte fallweise nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen. Eine mögliche Maßnahme kann ein „Netz von Netzwerken“ darstellen, indem mehrere Innovationsnetzwerke gemeinsame Anforderungen definieren und auf diese Weise Ressourcen teilen. Auch die Dynamik äußerer Rahmenbedingungen kann den Erfolg von Innovationsnetzwerken begrenzen. Wenn veränderte Regularien implizieren, dass Teilziele eines Innovationsprojektes nicht mehr realisierbar sind, können einzelne Akteure ihre Rolle im Projekt verlieren. Die resultierende Verkleinerung oder Umstrukturierung des Netzwerks kann Konflikte im Hinblick auf bereits eingebrachte Ressourcen und Ansprüche an die Wertschöpfung nach sich ziehen.

24.4 Erfolgreiche Innovationsnetzwerke in Praxisbeispielen Wie innovative Lösungen interdisziplinär, intersektoral und mit der Unterstützung von Netzwerkorganisationen erarbeitet werden können, wird am besten anhand konkreter Beispiele deutlich.

24.4.1 Konsortium zur Implementierung von Pflegetechnologien Die Netzwerkorganisation Forum MedTech Pharma initiiert zu vielen unterschiedlichen Bereichen Expertenkreise. Zu den ausgewählten Themen werden etwa 10–20 Experten identifiziert, die aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und Akteursgruppen kommen. Dieser ausgewählte Personenkreis wird eingeladen, Teil des themenspezifischen Expertenkreises zu werden. In den regelmäßigen Treffen werden die aktuellen Chancen und Herausforderungen erarbeitet und Lösungsansätze für eine wirksame Bearbeitung der anstehenden Themen auf den Weg gebracht. Einer der Kreise wurde unter dem Titel „Pflege­ innovationen“ ins Leben gerufen. In den Kreis wurden Experten aus Wissenschaft, Industrie und Anwendung in Pflege und Pflegetechnologien berufen. Zu den diskutierten Herausforderungen zählten Themen wie Implementierungshürden innovativer Pflegelösungen, Erstattungsschwierigkeiten sowie – als besonderer Schwerpunkt – gravierende Defizite in der Kommunikation und Kooperation zwischen Industrie und Anwendung.

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Aus diesem Expertenkreis heraus bildete sich ein Konsortium, das gemeinsam einen Projektantrag für den Cluster „Zukunft der Pflege  – Pflegepraxiszentrum“ des BMBF stellte und einen Zuschlag erhielt. Im Kern geht es in diesem Projekt darum, innovative Produkte und Prozesse für den Pflegebereich im realen Alltagsbetrieb zu evaluieren, um Alltagstauglichkeit, Marktfähigkeit und Verbesserungspotenziale aufzuzeigen. Die Einbindung von drei Praxispartnern aus der Pflege im Konsortium ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis über unterschiedliche Einsatzgebiete und die spezifischen Anforderungen verschiedener Einrichtungen. Die Sichtweisen aller Hierarchieebenen in der Pflege können erfragt, analysiert und verwertet werden. Verschiedene Wissenschaftspartner bringen sowohl Kompetenzen aus der Pflegewissenschaft als auch der Ausbildung von pflegewissenschaftlichen Berufen ein. Der bereits beschriebene ELSI-Ansatz zur Analyse im Bereich Ethik, Recht und Soziales wird hier als ELSI+-Ansatz bezeichnet und um die EPTI-­Aspekte ergänzt: ökonomische, pflegepraktische und technologische. Obwohl das Konsortium bereits mehrere unterschiedliche Anwendungsszenarien abdeckt, stellt sich die Überprüfung einer Übertragbarkeit auf andere Einrichtungen als wichtiger Aspekt dar. Generell ist festzustellen, dass in der Gesundheitsbranche Praxiserfahrungen aus möglichst vielen unterschiedlichen Versorgungseinrichtungen gesammelt werden müssen, um tatsächlich alltagstaugliche Lösungen zu erreichen. Durch die Zusammenarbeit der Akteure entsteht im Pflegepraxiszentrum ein objektives Setting, in dem technologische Innovationen für die Pflegepraxis umfassend erprobt und evaluiert werden können. Als Teil des Konsortiums bringt das Forum MedTech Pharma seine Netzwerkkompetenzen ein und sammelt dabei wertvolle Erfahrungen, die wiederum in andere Vernetzungsaktivitäten einfließen. Das Zentrum stellt somit ein Innovationsnetzwerk dar, in dem die sehr verschiedenartigen Akteure projektbezogen und dynamisch kooperieren. Gleichzeitig bildet das Pflegepraxiszentrum die Keimzelle für weitere Innovationsnetzwerke, die rund um die evaluierten Produkte bzw. Lösungsansätze entstehen. An der Struktur des Pflegepraxiszentrums Nürnberg wird außerdem deutlich, welche Rolle staatliche Fördermaßnahmen für Innovationsnetzwerke spielen. Vermittelt durch die Netzwerkorganisation wurde das Innovationsnetzwerk auf passgenaue Fördermöglichkeiten aufmerksam und konnte diese für ihren Aufbau nutzen. Auf diese Weise ist es möglich, in einem Innovationsnetzwerk Strukturen und Vernetzungswerkzeuge zu etablieren, für die ohne externe finanzielle Unterstützung keine ausreichenden Ressourcen vorhanden wären. Netzwerkorganisationen haben dieses Potenzial erkannt und stellen deshalb als Dienstleistung zur Stimulation von Innovationsnetzwerken umfassende Informationen zu Fördermöglichkeiten auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene innerhalb des jeweiligen Branchenfokus zur Verfügung.

24.4.2 Kooperative Entwicklung eines Chirurgie-Assistenzsystems Ein anderes, eher produktorientiertes Beispiel, verdeutlicht, wie das Arbeiten in einem Innovationsnetzwerk über einen langen Zeitraum zielführend sein kann. Entscheidend ist

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dabei die Dynamik der Netzwerkzusammensetzung, die den Zugriff auf für die jeweilige Innovationsphase erforderliche Experten gewährleistet. Im Rahmen von Relaunches oder Arbeiten an Nachfolgeprodukten können auch manche Schritte im Innovationsprozess immer wieder durchlaufen werden. Das Ingenieurbüro DELTA Engineering GmbH hatte im Jahr 1999 eine Idee für eine medizintechnische Produktinnovation entwickelt. Das angedachte Produkt war ein möglichst einfach zu bedienendes Assistenzsystem für die minimalinvasive Chirurgie in Form eines Roboterarmes zur Führung der Endoskopiekamera. Durch dieses System soll das chirurgische Team vom manuellen Halten der Kamera entlastet und gleichzeitig ein wackelfreies Bild ermöglicht werden. Auf sich allein gestellt hätte das Unternehmen keine realistischen Chancen gehabt, in einem sowohl technologisch komplexen und hochgradig interdisziplinären als auch hochregulierten Marktumfeld erfolgreich zum Produkt für die klinische Anwendung zu kommen (Schier 2019). Zunächst nahm das Unternehmen Kontakt mit dem Branchennetzwerk Forum MedTech Pharma auf, um sich bei der Identifizierung und Kontaktierung der initialen Schlüsselkontakte unterstützen zu lassen. Ein erster wichtiger Schritt war dabei die Vermittlung zu einem Forschungsinstitut einer chirurgischen Universitätsklinik, wo die Idee aus Sicht der operativen Praxis und des medizinischen Bedarfs bewertet und im Austausch weiterentwickelt wurde. Ausgehend von diesem Einstieg in das Umfeld der minimalinvasiven Chirurgie wurde sukzessive ein Innovationsnetzwerk aufgebaut, indem weitere Experten aus der klinischen Praxis, aber auch Forscher und Entwickler für die relevanten Ingenieurfragestellungen aus Robotik und Mechatronik hinzugewonnen wurden. Auch in diesem Beispiel war die Nutzung staatlicher Fördermöglichkeiten eine der Grundlagen für das Vorantreiben des Entwicklungsprojektes und den Aufbau des Innovationnetzwerks. Die zu den jeweiligen Innovationsphasen passenden Förderprogramme auf Landes- und Bundesebene konnten in unterschiedlichen Projektphasen genutzt werden, um gemeinsam mit Netzwerkpartnern das Projekt auf eine nächste Ebene zu heben. Insbesondere in der frühen Projektphase konnte das Projekt im Rahmen der „Hightech-­Offensive Bayern“ gefördert werden. Auf Basis der daraus resultierenden Forschungsergebnisse wurde 2005 das Unternehmen AKTORmed GmbH gegründet, das dieses Projekt in Richtung eines vermarktbaren Produktes weitertreiben sollte. Immer wieder spielte im folgenden Projektverlauf der Zugriff auf das Branchennetzwerk sowie auf andere Organisationen zur Innovationsbegleitung und -förderung, beispielsweise Innovationsfördergesellschaften, wie die Bayern Innovativ GmbH, eine wichtige Rolle als Enabler und Katalysator. Die gezielte Recherche, beispielsweise nach Partnern als Technologiezulieferer oder Experten zur Begleitung der Zulassungsprozeduren, stellte eine effiziente Erweiterung des individuellen Innovationsnetzwerks sicher. Im Rahmen von fachspezifischen Workshops zu Themen wie Innovationsmanagement, ­Medizinproduktezulassung oder klinische Prüfung konnte das Unternehmen den Erfahrungsaustausch und Schulterschluss zu anderen Innovatoren nutzen und fehlende Expertise im eigenen Netzwerk gezielt ergänzen.

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Nach Abschluss der Entwicklungsphase bis zum Prototypen und nach dem Überwinden der Hürde der Zulassung als Medizinprodukt spielte vernetztes Arbeiten weiterhin eine tragende Rolle. Das mittlerweile gewachsene Netz an klinischen Key-Opinion-­ Leaders sowie die zunehmende Zahl internationaler Kontakte erleichterte die Schritte auf dem Weg zur Vermarktung. Die im Netzwerk vorhandenen Experten zur Krankenhausfinanzierung und zu den Prozessabläufen bei der Anschaffung von medizintechnischen Investitionsgütern in Kliniken konnten helfen, Geschäftsmodelle und Vertriebskanäle zu definieren. Nach mehreren Jahren intensiven Arbeitens in einem vielschichtigen Innovationsnetzwerk gelang der Markteinstieg des Assistenzsystems. Für die anschließende Erhebung von Feedback aus dem praktischen Routineeinsatz und die Einspeisung dieser Informationen in Produktverbesserungen bis hin zur Entwicklung einer völlig neu konzipierten zweiten Produktgeneration führte das Unternehmen sein gewachsenes Innovationsnetzwerk kontinuierlich fort (Schier 2019).

24.4.3 Innovationsprojekt für Patienten mit Bewegungserkrankungen In einer noch relativ frühen Phase des Innovationsprozesses befindet sich die Firma Portabiles Healthcare Technologies GmbH, die als drittes Beispiel weitere Charakteristika von Innovationsnetzwerken anschaulich macht. Bereits die Firmengründung im Jahr 2016 war das Ergebnis interdisziplinär vernetzter Forschungsarbeiten im Zusammenspiel zwischen klinisch tätigen Neurologen, Wissenschaftlern aus dem Bereich Machine Learning sowie erfahrener Softwareentwickler. Alle Beteiligten sind aktive Akteure des regionalen Medizintechnikclusters Medical Valley und nutzen als solche sowohl die Vernetzungsangebote dieser Clusterorganisation als auch die ergänzenden Möglichkeiten der überregionalen Netzwerkorganisation Forum MedTech Pharma. Durch den Innovationsansatz, den das Unternehmen verfolgt, sollen Patienten mit chronischen Erkrankungen, die sich auf die Bewegungskoordination, speziell auf den Gang auswirken, dauerhaft analysiert werden. Dazu werden Sensoren in Schuhe integriert, die resultierenden Daten mit selbstlernenden Algorithmen ausgewertet und an ein telemedizinisches Versorgungs- bzw. Expertennetz übertragen. Dadurch lässt sich die Progression von Krankheiten wie Parkinson sensitiv erkennen, außerdem sind Aussagen über die Therapiewirksamkeit möglich. Aufgrund des Betätigungsfeldes im Bereich telemedizinischer Versorgungskonzepte ist mehrdimensionale intersektorale Vernetzung absolute Erfolgsvoraussetzung. Als zentraler Knoten des Innovationsnetzwerks moderiert das Unternehmen die Kommunikationsprozesse zwischen sehr verschiedenartigen Akteuren. IT-Spezialisten und Mediziner müssen lernen, eine gemeinsame Verständigungsebene zu finden. Für die Frage nach der Abrechnung der erbrachten medizinischen Versorgungsleistung müssen Experten für die Erstattung innovativer Medizinprodukte sowie Kontaktpersonen zu Krankenkassen und relevanten Entscheidungsgremien etabliert werden. Wenn wie hier personenbezogene Ge-

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sundheitsdaten verarbeitet werden, ist die Expertise von Juristen und Datenschutzspezialisten dringend erforderlich. Das Unternehmen hat diesen Weg des vernetzten Arbeitens in intensiver Weise beschritten. Strategische Kooperationspartner aus Universität und Universitätsklinikum, den Fraunhofer-Instituten sowie Einrichtungen zur Finanzierung aus öffentlicher und privater Hand bilden die Grundlage. Auf die erfolgreiche Bewerbung um ein erstes Förderprogramm zur Feststellung des „Proof of Principle“ folgte der Zuschlag für ein branchenspezifisches Innovationsförderprogramm auf Landesebene, innerhalb dessen das Produkt bis zum Prototyp gereift ist. Für die nächsten Schritte sieht sich das junge Unternehmen gut gerüstet angesichts des breit gefächerten Netzwerks hochspezialisierter Experten.

24.5 Schlussbetrachtung Es konnte aufgezeigt werden, dass der Bereich der Gesundheitsversorgung außerordentlich komplex ist sowie ein dynamisches und herausforderndes Innovationssystem darstellt. Stärker als in vielen anderen Branchen ist hochspezialisierte Expertise aus völlig unterschiedlichen Disziplinen und Tätigkeitsfeldern erforderlich. Die Anforderungen gehen dabei sowohl in eine extreme thematische Breite  – von technischen über betriebswirtschaftliche, medizinische, ethische oder soziologische Fragestellungen – als auch in eine hohe Detailtiefe in den einzelnen Aspekten. Hinzu kommt, dass in jedem Teilbereich wiederum ein Netzwerk mit Zugang zu Experten oder wichtigen Influencern erforderlich ist, um Projektziele erreichen zu können. In Anbetracht der hohen Zahl beteiligter Akteure und Stakeholder ist nicht nur der Zugriff auf spezialisierte Expertise, sondern auch ein möglichst verlustfreier Informationsfluss und ein gutes Ineinandergreifen der Teilprozesse wichtig. Dazu gehört auch die Notwendigkeit, dass unterschiedliche Professionen ein möglichst gutes Verständnis für die Herausforderungen des jeweiligen Gegenübers entwickeln. Vernetztes Arbeiten in Form von Innovationsnetzwerken ermöglicht, im skizzierten Umfeld mit hoher Effizienz und Qualität zu erfolgreichen Lösungen zu gelangen. Beim Aufbau dieser Netzwerke können Netzwerkorganisationen vielfältig unterstützen, fallweise auch den Aufbau solcher Netze initiieren. Innovatoren, die auf diese Weise vernetzt arbeiten, erlangen einen Wissens- und Kompetenzvorsprung und dadurch Lösungen, die sich als relativ robust erweisen, da potenzielle Risiken und wichtige Marktentwicklungen bereits in der frühen Projektphase berücksichtig werden konnten. Da auch Anwender zu den Beteiligten in einem Innovationsnetzwerk gehören, sind Vorteile im Hinblick auf Akzeptanz und Usability der entwickelten Innovationen zu erwarten. Gerade der aktuell alles dominierende Trend der digitalen Transformation in der Gesundheitsversorgung lässt erwarten, dass das Arbeiten in Innovationsnetzwerken noch stärker zum Erfolgsfaktor wird, um die weiter steigende Zahl an Akteuren und S ­ chnittstellen beherrschbar zu machen. Gleichzeitig hat die Digitalisierung das Potenzial, die Arbeitsweise von Innovationsnetzwerken sukzessive zu verändern. Die herausragende Bedeutung

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direkter persönlicher Kontakte wird unabhängig von digitalen Möglichkeiten unverändert bestehen bleiben. Jedoch bieten Möglichkeiten der virtuellen Kooperation in cloud-basierten Projekträumen die Chance für eine effizientere Gestaltung von Innovationsnetzwerken.

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M. Schier und B. Heinrich

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Dr. Matthias Schier,  Dipl.-Phys. ist Geschäftsführer der Netzwerkorganisation Forum MedTech Pharma e.V. und Projektmanager Medizintechnik bei Bayern Innovativ GmbH. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erwarb er 1995 den Abschluss als Diplom-Physiker. Die Promotion erfolgte 2001 im Bereich der mathematischen Modellierung des Herz-Kreislauf-Systems. Von 1995–2005 konnte er Erfahrung in der Medizintechnikindustrie bei der Firma Biotronik sammeln, wo er in den Bereichen Klinische Forschung und Wissenschaftliches Marketing tätig war. Seit 2005 ist er für das Forum MedTech Pharma e.V. tätig – zunächst als Projektmanager für die Netzwerkarbeit mit den Schwerpunkten Medizinelektronik, Innovationsmanagement und Internationalisierung, seit 2017 als Geschäftsführer des Netzwerks. Bianca Heinrich,  B. Eng., ist Projektmanagerin im Bereich Medizintechnik und Öffentlichkeitsarbeit in der Netzwerkorganisation Forum MedTech Pharma e.V. Zudem ist sie Teilprojektleiterin im „Pflegepraxiszentrum Nürnberg“. Sie besitzt den Bachelorabschluss der Hochschule Ansbach für Angewandte Wissenschaften als Wirtschaftsingenieurin mit der Vertiefung Medizintechnik. Die Veröffentlichung ihrer Studie zum Thema „Die aktuelle Situation der Medizintechnikbranche in Anbetracht der Einführung der neuen europäischen Verordnungen MDR und IVDR“ thematisierte He­ rausforderungen bei der Implementierung von regulatorischen Vorgaben. Sie erlangte Einblicke in die Perspektiven unterschiedlicher Stakeholder während einer Auslandstätigkeit im Bereich Kundenbetreuung eines großen Medizintechnikherstellers.

Zur Parallelität der Vernetzung und zur Nutzung des Innovationspotenzials verknüpfter Daten in Entscheidungsprozessen des Gesundheitswesens

25

Anisa Idris

Inhaltsverzeichnis 25.1  E  inleitung  25.2  Daten-Netzwerk der Selbstverwaltung (Telematik)  25.3  Web-basierte Plattformen der gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen  25.3.1  Das Digitale Gesundheitsnetzwerk der AOK  25.3.2  TK Safe – digitale Gesundheitsakte von TK und IBM  25.3.3  Vivy – Dienstleister für gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherungen  25.4  Netzwerke der Leistungserbringer  25.4.1  Stationäre Leistungserbringer  25.4.2  Ambulante Leistungserbringer  25.5  Freiwillige Vernetzung von Unternehmen und Konsumenten  25.6  Lösungsansätze anderer Nationen  25.6.1  Estland  25.6.2  Kanada  25.6.3  Dänemark  25.7  Bewertung  25.7.1  Vorgefundene Merkmale der Vernetzung  25.7.2  Strategische Konzeption  25.7.3  Operative Begleitung  25.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

 438  441  444  444  446  447  449  450  451  454  456  456  460  462  464  464  468  470  471  471

A. Idris (*) Head Market Access, Ada Health GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_25

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438

A. Idris

Zusammenfassung

Die Digitalisierung des Alltages der Gesellschaft und des Gesundheitswesens führt zu einer wesentlich größeren Verfügbarkeit von Daten. Gleichzeitig werden Entscheidungsprozesse auf der Grundlage von Daten immer weiter automatisiert. Dieser Beitrag schildert die sich abzeichnenden, signifikanten Datennetzwerke zwischen verschiedenen In­ stitutionen und Patienten in Bezug auf die Gestaltung der Vernetzung und potenzielle Anwendungen. Insbesondere sollen das Netzwerk der Selbstverwaltung (Telematik), webbasierte Plattformen der gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen, Datennetzwerke der Leistungserbringer und die freiwillige Vernetzung von Unternehmen und Konsumenten dargestellt werden. Diese komplexe Parallelität der Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen wird der Vernetzung in Ländern, deren digitale Transformation weiter fortgeschritten ist, gegenübergestellt. Der Blick auf die tatsächliche Vernetzung wird ergänzt durch eine Darstellung der vermeintlichen Konsequenzen in Bezug auf Entscheidungsprozesse und einen Ausblick auf die sich abzeichnende Nutzung von Daten als Grundlagen künftiger Innovationen in der Gesundheitsversorgung.

25.1 Einleitung Die Errichtung und Aufrechterhaltung einer bestmöglichen und nachhaltigen Gesundheitsversorgung ist eine permanente, weltweite Herausforderung. Datenbasierte Entscheidungen im Gesundheitswesen werden als eine unabdingbare Voraussetzung sowohl für eine qualitativ hochwertige individuelle Versorgung als auch für eine effektive und effiziente Organisation der Leistungserbringer gesehen. So wird das Prinzip der evidenzbasierten Medizin in allen modernen Gesundheitssystemen in Form von z. B. leitlinienbasierten Behandlungen und Health-Technologies-Assessments angewandt. Darüber hinaus werden Gesundheits-, Krankheits- und Versorgungsdaten auch zur Steuerung der öffentlichen Gesundheit und des Gesundheitssystems sowie zur Forschung und Entwicklung von neuen Behandlungen benötigt (siehe Abb. 25.1). Gerade der mangelhafte Datenaustausch zwischen Patienten, Leistungserbringern der ambulanten und stationären Versorgung sowie Institutionen wie Krankenkassen und anderen Trägern wurde in der Vergangenheit als eine Ursache der konstatierten Über- und Unterversorgung und Fehlbehandlung identifiziert (SVR 2001). Die strukturierte Erfassung sowie die Verfügbarkeit von Gesundheits-, Krankheits- und Versorgungsdaten ist eine wesentliche Voraussetzung für Innovation und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen. Daten werden generell auf Patientenebene geführt. Dabei unterscheidet der Gesetzgeber die elektronische Patientenakte (ePA) zu deren Bereitstellung Krankenkassen ab dem Jahr 2021 gemäß § 291a Abs. 3 Nr. 4 SGB V verpflichtet sind von der ­elektronischen Gesundheitsakte (eGA) nach § 68 SGB V, die Krankenkassen Patienten freiwillig zur Verfügung stellen können. In den Gesundheitssystemen deren digitale Transformation weiterentwickelt ist, bemühen sich die verantwortlichen Akteure um größere Vereinheitlichung und Nutzbarma-

25  Zur Parallelität der Vernetzung und zur Nutzung des Innovationspotenzials …

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Abb. 25.1  Exemplarische Darstellung von verknüpften Daten als Grundlage von Entscheidungsprozessen. (Quelle: Eigene Darstellung unter Verwendung der Definitionen zur künstlichen Intelligenz der Bundesregierung 2018)

chung von verknüpften Daten (siehe Abschn.  25.6). Im Gegensatz dazu schreitet in Deutschland die parallele Vernetzung zwischen verschiedenen Institutionen und Patienten im Gesundheitswesen weiter voran. Diese Parallelität soll zunächst anhand einer Beschreibung des Netzwerkes der Selbstverwaltung (Telematik), von webbasierten Plattformen der gesetzlichen und privaten Krankenkassen, von Datennetzwerken der Leistungserbringer und der freiwilligen Vernetzung von Unternehmen und Konsumenten (siehe Abb. 25.2) vorgestellt werden. Noch wird die Versorgung in Deutschland kaum digitalisiert. So verpflichtet der aktuelle Referentenentwurf zum Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz, DVG) die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik) bis zum 31. März 2021 die technischen Voraussetzungen zur Integration von Daten zum Impfausweis, Mutterpass, Untersuchungsheft für Kinder sowie Zahn-Bonusheft in die elektronische Patientenakte zu schaffen (BMG 2019). In Anbetracht der Verbreitungsgeschwindigkeit der Vernetzung von Gerätschaften (englisch: Internet of Things, IoT) erscheint dieser Anspruch nicht sachgerecht. Die Interessensvertretung der Europäischen Telekommunikationsunternehmen (ETNO) prognostiziert, dass die Anzahl der im Jahr 2016 870.000 aktiven IoT-Geräte in der medizinischen Versorgung in der Europäischen Union zum Ende des Jahres 2019 auf 2,79 Mio. Geräte und im Jahr 2025 auf mehr als 10 Mio. Geräte anwächst (ETNO 2019). Diese vernetzten IoT-Geräte werden nicht nur Patientenmonitore, bildgebende Diagnostikgeräte und Wearables umfassen, sondern höchstwahrscheinlich auch kluge Verbände, die über den Status der ab-

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Abb. 25.2 Schematische Darstellung der potenziellen Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen. (Quelle: Eigene Darstellung)

gedeckten Wunden informieren (Mostafalu et al. 2018) sowie biologische Roboterpillen, die den Stand der Absorption in den Körper erfassen (FierceBiotech 2019). Ein vernetztes Gesundheitswesen sollte diese Daten strukturiert erfassen und verarbeiten können. In Anbetracht der kleinteiligen gesetzlichen Regelung von einzelnen Datenkategorien (siehe Vorgaben zur Integration von Mutterpassdaten) ist von einer sehr langen Umsetzungszeit bis zur Integration aller potenziellen IoT-Datenkategorien auszugehen. Jenseits der IoT-Entwicklung wird auch die Verbindung von Sensorik und digitale Lösungen, die im weitesten Sinne der künstlichen Intelligenz, dem Machine Learning und den Big-Data-Ansätzen zugerechnet werden, zu einem großen Vernetzungsdruck im Gesundheitswesen führen. So entwickelt beispielsweise Sopris Health eine Stimmen-­ Erkennungssoftware, die die Gespräche zwischen Arzt und Patienten analysiert und in der elektronischen Patientenakte dokumentiert (Wired 2018). Eine Weiterentwicklung in Richtung automatisierte Diagnose- und Therapievorschläge ist denkbar. Auch Amazon erarbeitet mithilfe von Partnern Softwarelösungen, die auf dem Sprachassistent Alexa beruhen und aufgrund von Schwankungen der Stimme, Wortwahl und anderen Parametern Nutzern z. B. helfen sollen, ihren Diabetes zu kontrollieren (Dameff et al. 2019). Die Konzerngruppe Alphabet arbeitet über die Tochterunternehmen Verily und DeepMind mit britischen Krankenhausgruppen des National Health Service (NHS) zusammen, um Assistenzsoftware zu entwickeln, die die elektronischen Patientenakten der Krankenhäuser automatisch auf patientenindividuelle Diagnosen (z.  B.  Diabetes) oder Warnmeldungen (z. B. wahrscheinlich Tod) prüft (The Economist 2018). Allen diesen Anwendungen gemeinsam ist die Voraussetzung der Verfügbarkeit von verknüpften Gesundheits- und Krankheitsdaten des Versicherten, daher soll in Abschn. 25.7 der Stand der Vernetzung des Gesundheitswesens bewertet werden. Dieser Beitrag schließt

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mit einem Ausblick auf die benötigte Vernetzung, um künftigen Anwendungen gerecht zu werden.

25.2 Daten-Netzwerk der Selbstverwaltung (Telematik) Der Deutsche Bundestag beschloss im Jahr 2003 die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (§ 291a SGB V) und beauftragte die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens mit der Umsetzung. Diese übertrug im Jahr 2005 die operative Umsetzung auf die von ihren Spitzenorganisationen gegründete Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte, kurz gematik (gematik 2019a). Seit der Forderung einer leicht zugänglichen Patientenakte für alle gesetzlich Versicherten durch den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Juli 2018 hat sich das Vorhaben konkretisiert (FAZ 2018). Die gematik, die seit April 2019 federführend vom Bundesgesundheitsministerium gelenkt wird, hat zur schnellen und nutzerfreundlichen Implementierung noch Ende Dezember 2018 eine erste Version der Spezifikation herausgegeben (gematik 2018a) und am 15. Mai 2019 eine revidierte Fassung veröffentlicht (gematik 2019b). Alle gesetzlichen Krankenkassen werden durch das am 14. März 2019 verabschiedete Terminservice und Versorgungsgesetz (TSVG) dazu verpflichtet, ihren Versicherten spätestens zum 01. Januar 2021 eine elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen (Bundesgesetzesblatt 2018). Gestaltung der Vernetzung Die gematik sieht als Teilnehmer ihres Datennetzwerks die Versicherten, niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (gematik 2019b, 2.4.1 Fachliche Rollen) vor, wobei letztere nur Daten zur Verfügung stellen und nicht lesend zugreifen dürfen. Zur Nutzung der elektronischen Patientenakte ist ein Schlüssel notwendig, der Versicherten in Form der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) bereitgestellt wird. Die Teilnahme von Krankenhäusern ist zwar prinzipiell möglich, jedoch eher unwahrscheinlich. Der Zugang zur gematik elektronische Patientenakte setzt für Leistungserbringer nämlich zwingend den Zugang zur Telematikinfrastruktur voraus (gematik 2019b, 2.2.3 Zugang zur Fachanwendung). Da es aber heute noch keine zugelassene Variante der Zugangshardware (Konnektor) für den Betrieb in Krankenhäusern gibt, erscheint es mehr als fragwürdig, dass in naher Zukunft eine Integration der Krankenhäuser gelingen wird. Die Versicherten sollen über ihre Mobilgeräte Zugriff auf die elektronische Patientenakte erhalten. Ärzte sollen wiederum über ihre bestehenden Informationssysteme und den Konnektor zugreifen können. Als Haupteinsatzzweck der elektronischen Patientenakte erwartet die gematik die Nutzung durch Ärzte zur Einsicht von Vordokumentationen. Der Austausch von Dokumenten im Rahmen des aktuellen Behandlungsfalls soll stattdessen ohne direkte Einbeziehung des Patienten über die Fachanwendung „Sichere Kommunikation zwischen Leistungserbringern“ (KOM-LE) realisiert werden (gematik 2018b).

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Auch wenn die elektronische Patientenakte prinzipiell versichertengeführt ist, ist an einigen Stellen die inhaltliche Hoheit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Spezifikationsprozess klar erkennbar. Das Berechtigungssystem unterscheidet nur zwischen Dokumenten, die vom Leistungserbringer, von den Versicherten oder von der Krankenkasse eingebracht wurden. Versicherte können Ärzte nur auf eine oder mehrere dieser drei Dokumentenquellen berechtigen. Eine Unterscheidung, welche Art von Dokumenten der Hausarzt, welche der Zahnarzt und welche der Chirurg sehen darf, ist nicht möglich. Bezeichnend ist, dass nur Ärzte die Möglichkeit haben, Dokumente umzudeklarieren und somit die Sichtbarkeit von einzelnen Dokumenten zu beeinflussen. Konkret bedeutet dies z. B., dass ein Arzt die hochgeladenen Gewichtsdaten oder Schrittzählerdaten eines Patienten zu behandlungsrelevanten Informationen umdeklarieren und somit für alle anderen Leistungserbringer sichtbar machen kann. Neben der aktiven Berechtigung in der Mobilanwendung durch die Versicherten wird auch eine Berechtigungsvergabe durch Einlesen der elektronischen Gesundheitskarte beim Besuch einer Arztpraxis unterstützt. Dies erlaubt eine passive Aktennutzung durch die Versicherten, bei der sie die eigenen Akten praktisch nie selbst an einem Gerät öffnen, sondern nur Dritten die Nutzung ermöglichen. Für technisch weniger versierte Versicherte könnte dies eine angemessene Option sein. Auch das Fehlen eines echten Benachrichtigungsmechanismus, der in anderen Akten genutzt wird, um passive Nutzer bei Bedarf aktiv einzubinden, deutet auf eine konzeptionell primär geplante passive Nutzung hin. Die technische Umsetzung erfolgt in Form einer Erweiterung der Konnektoren („Fachmodul ePA“) bei den Leistungserbringern, eines Serversystems pro Krankenkasse, das in die Telematikinfrastruktur eingebunden wird („ePA-Aktensystem“), sowie einer Mobilanwendung auf dem Gerät des Versicherten („Frontend des Versicherten“). Die technischen und semantischen Anforderungen an die medizinischen Daten werden von den ärztlichen Spitzenorganisationen Kassenärztliche Bundesverwaltung und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung im Benehmen mit den anderen Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung auf Basis internationaler Standards festgelegt (KBV 2018a, b). Potenzielle Nutzung der Daten Inhaltlich ist die elektronische Patientenakte auf den Austausch von Dokumenten und ihren Metadaten beschränkt. Strukturierte medizinische und administrative Daten, wie z. B. Diagnosen, Medikationen und Arztbesuche, werden somit nicht direkt unterstützt. Wie in jedem dokumentenbasierten Austausch können sich Teilnehmer zwar darauf einigen, solche Daten in bestimmten Dokumenten maschinenlesbar zu kennzeichnen, jedoch bietet die Akte keinerlei Unterstützung bei der punktuellen Aktualisierung einzelner Werte oder beim Zugriffsschutz für besonders sensible Diagnosen, Laborwerte oder Prozeduren. Zusätzlich zu den dargestellten Funktionalitäten der elektronischen Patientenakte möchte die gematik mittelfristig folgende Elemente integrieren: E-Rezept, Kommunikation Leistungserbringer (KOM-LE), Medikationsplan (eMP) und Notfalldaten (NFDM).

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Bewertung Der Geschäftsführer des Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg), Sebastian Zilch, bewertet die Spezifikation der gematik zur elektronischen Patientenakte wie folgt: In ihrer momentanen Ausgestaltung hilft die ePA weder Patienten noch Leistungserbringern wirklich, da sie lediglich ein Speichermedium für Dokumente darstellt. Ziel muss es sein, dass in der Arztpraxis datenbasiert gearbeitet werden kann und nicht hunderte PDF gelesen werden müssen (bvitg 2019).

Auch die Bereichsleiterin des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, Julia Hagen besorgt die alleinige Zuweisung der Verantwortung für die inhaltliche Ausgestaltung an KBV und KZBV, da diese weder über die notwendige fachliche Expertise verfügen noch einem Gremium verpflichtet wären und schlussfolgert daher: KI-Anwendungen in der Gesundheit als Grundlage für eine verbesserte Versorgung und eine innovative Forschung Made in Germany rücken so in weite Ferne (BITKOM 2019).

Diese Einschätzungen decken sich mit den Erfahrungen in anderen Gesundheitssystemen (siehe Abschn. 25.6). Der Mangel an strukturierten Daten erlaubt keine automatisierten Analysen oder andere digitale Entscheidungshilfen. Insofern ist zu erwarten, dass sowohl Ärzte und Krankenkassen als auch Versicherte weitere digitale Lösungen zur Dokumentation und Analyse von Gesundheits- und Versorgungsdaten nutzen werden. Dies gilt insbesondere für Leistungserbringer, da sie eine umfassende Dokumentation von Diagnostik und Behandlung auch als Nachweis für evtl. juristische Verfahren benötigen. Das Datennetzwerk der Telematik wird einen sehr hohen Sicherheitsstand für Versicherte bieten, jedoch werden aufgrund der damit einhergehenden Verifizierungsprozesse und Festlegungen von technischen Spezifikationen, die von internationalen Standards abweichen, den Versicherten und Leistungserbringern nur eine sehr begrenzte Anzahl an Funktionalitäten zur Verfügung stehen. Dieser Mangel wird durch drei Aspekte verschärft: • Da keine zugelassene, nutzbare Variante der Zugangshardware (Konnektor) für den Betrieb in Krankenhäusern definiert ist, kann die Einbindung der Krankenhäuser mittelfristig noch nicht konkretisiert werden, sodass die Daten existierender Krankenhausnetze nicht zugänglich sind. • Ambulante Leistungserbringer, die von Patienten autorisiert wurden, können zwar die elektronische Patientenakte einsehen und ergänzen, sich aber kein Bild zur Vollständigkeit der elektronischen Patientenakte machen. Da der Aufbau der elektronischen Patientenakte keine strukturierten Daten vorsieht und in Deutschland vielfältige ambulante Praxissysteme verwendet werden (vergleiche Abschn.  25.4), ist eine automatische, komplette Aktualisierung und Verfügbarmachung von vorhandenen Daten ausgeschlossen. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft Daten zu einem Patienten in mehreren Systemen vorgehalten werden.

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• Die Spezifikationen der gematik hat international akzeptierte Standards, sogenannte Integrating-the-Healthcare-Enterprise(IHE)-Profile, so verändert, dass gerade die Nutzung von existierenden Lösungen ausgeschlossen ist (bvitg 2019). Es bleibt abzuwarten, ob Softwareunternehmen der Gesundheitsbranche, die in der Regel international agieren müssen um nachhaltig zu wirtschaften, ihre Produkte für den deutschen Markt adaptieren werden. Die gematik verlangt sehr umfangreiche technische Sicherheitsmechanismen, die nicht nur Angriffe von außen, sondern auch jegliche Zugriffe durch die Krankenkassen selbst (bzw. ihre Betreiber) technisch unmöglich machen sollen. Dies vervielfacht die Entwicklungs- und Betriebskosten. Alternativ könnten organisatorische und rechtliche Ansätze (wie in Estland und Dänemark praktiziert; vgl. Abschn. 25.6) genutzt werden, um solche Angriffe zu verhindern. Aktuell werden die Kosten einer einmaligen gematik-Zertifizierung einer elektronischen Patientenakten-Lösung bzw. -Anwendung mit ca. 200.000 € beziffert, wobei Aktualisierungen der Software womöglich re-zertifizierungspflichtig sind (bvitg 2019). Verglichen mit den 300.000  € Entwicklungskosten der E-Rezept-Anwendung in Estland (Mikk 2018; vgl. Abschn. 25.6) erscheint diese Kostenschätzung erheblich und wird sich sicherlich auf die Anzahl der verfügbaren gematik-Anwendungen auswirken.

25.3 W  eb-basierte Plattformen der gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen Die gesetzlichen Krankenkassen sind nur zur Bereitstellung der elektronischen Patientenakte nach § 291 SGB V verpflichtet. Sie können Versicherten eine elektronische Gesundheitsakte (eGA) nach § 68 SGB V zur Information zur Verfügung stellen. Ärzte sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, eine elektronische Gesundheitsakte zu befüllen und zu analysieren bzw. zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie die Daten nicht zur Verfügung gestellt haben. Nichtdestotrotz investieren die gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen vermehrt in elektronische Gesundheitsakte-Lösungen. Im Folgenden sollen drei prominente Projekte zur elektronische Gesundheitsakte exemplarisch für diese Entwicklung vorgestellt werden.

25.3.1 Das Digitale Gesundheitsnetzwerk der AOK Die AOK-Gemeinschaft hat damit begonnen die E-Health-Aktivitäten der regionalen AOKen zu bündeln. Die Inhalte bestehender Projekte, wie z. B. der gerichtete Dokumentenversand in Baden-Württemberg oder die Akte der AOK Nord-Ost, sollen dabei in das neue Projekt „Digitales Gesundheitsnetzwerk“ (DiGeN) des AOK-Bundesverbands einfließen (AOK 2019). Auch wenn die konkrete Umsetzung des Projekts noch aussteht, lassen sich anhand der vorhandenen Beschreibungen schon interessante Schlüsse ziehen.

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Gestaltung der Vernetzung Teilnehmer des DiGeN sollen neben dem Versicherten mit seiner Familie sowohl niedergelassene Ärzte wie auch stationäre Einrichtungen, genauso wie weitere Gesundheitsdienstleister (u. a. Pflege, Therapeuten) als auch die Krankenkasse selbst sein (AOK 2018). Ein wichtiges Element des DiGeN-Ansatzes ist die dezentrale Datenhaltung beim Leistungserbringer (AOK 2018). Alle Daten sollen soweit wie möglich dort verbleiben, wo sie erstellt wurden. Das „Digitale Gesundheitsnetzwerk“ versucht diese dezentralen Datenspeicher miteinander und mit dem Versicherten zu verknüpfen. Der Fokus des DiGeN liegt sowohl auf der aktiven Einbindung des Versicherten wie auch auf dem Austausch zwischen Leistungserbringern. Der Versicherte soll dabei „absolute Datenhoheit“ genießen, d. h. Informationen sperren oder bestimmten Ärzten „vorenthalten“ können (AOK 2018) – ein häufiger Kritikpunkt an patientengeführten Akten aus der Ärzteschaft. Ob dadurch wirklich die Patientensicherheit untergraben wird oder ob es sich hier eher um einen Versuch handelt, das Konzept des „mündigen Patienten“ anzugreifen, sollte im Rahmen der Implementierung wissenschaftlich evaluiert werden. Leistungserbringer sollen die ihnen vertrauten Systeme nutzen können, um mit dem DiGeN zu interagieren. Auch wenn viele Aktenprojekte diese Zielsetzung haben, hat die AOK mit ihrem Projekt eine realistische Erfolgsaussicht. Im Gegensatz zu anderen Aktenanbietern sind die AOKen mit ihren ca. 26 Mio. Mitgliedern ein attraktiver Anbindungspartner. Auch verspricht das DiGeN einen weitgehenden Einsatz internationaler Interoperabilitätsstandards wie IHE, HL7 FHIR und HL7 CDA (AOK 2018), dies könnte gerade im stationären Bereich einige Widerstände entkräften. Da die IT-Systeme im ambulanten Sektor diese Standards nur sehr begrenzt unterstützen und zudem hochgradig fragmentiert sind (siehe Abschn. 25.4), ist dort eine andere Strategie notwendig. Jüngst teilte die AOK mit, die CompuGroup Medical als Partner für die DIGeN gewonnen zu haben (AOK 2019). Ob die AOK die wenigen anderen dominanten Hersteller wie medatixx, Psyprax und HASOMED von einer Integration des DiGeN in ihre Praxissoftware überzeugen kann, wird sich noch zeigen. Potenzielle Nutzung der Daten Die über das DiGeN auszutauschenden Daten scheinen sehr heterogen. Im Gegensatz zu anderen Aktensystemen scheint Dokumentenaustausch nur ein Thema unter vielen zu sein (AOK 2018). Es sollen neben Dokumenten sowohl administrative Daten (Termine, Zuzahlungsstatus etc.) wie auch detaillierte medizinische Daten (Medikationen, Notfalldaten etc.) ausgetauscht werden. Der Versicherte soll auch eigene Daten, wie z. B. Messwerte seiner Geräte, einbringen (AOK 2019). Bewertung Das Vorhaben der AOK ist sehr ambitioniert. So betont Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK Bundesverbandes, im IX-Forum: „Das Konzept unseres Digitalen Gesundheitsnetzwerkes geht in vielerlei Hinsicht über die Lösungen für digitale Gesundheitsakten hi­ naus, mit denen die Techniker Krankenkasse und der Anbieter ‚Vivy‘ in den letzten Wochen an die Öffentlichkeit gegangen sind: Es beinhaltet zwar auch eine digitale ­Gesundheitsakte,

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über die Versicherte medizinische Dokumente oder Informationen abrufen oder bereitstellen können. Doch wir gehen weiter, indem wir tatsächlich alle Leistungserbringer sektorenübergreifend vernetzen.“ (Litsch 2018). Um erfolgreich zu sein, müssen diese Integrationen in die Systeme der Leistungserbringer auch gelingen. Im stationären Bereich ist dies nicht unwahrscheinlich. Der Ansatz, bestehende Kliniknetze als dezentrale Datenspeicher anzubinden, verspricht den Krankenhäusern größere Teilhaben und vermeidet den Eindruck, dass mühsam befüllte und qualifizierte Datenbanken der Leistungserbringer ohne Gegenwert an eine Krankenkasse übertragen werden sollen. Für einen Erfolg des Projekts spricht auch die Marktmacht der AOKen. Am riskantesten erscheint die Integration in die Systeme der Niedergelassenen. Deren Hersteller müssen zuerst die Integration der gematik elektronische Patientenakte sicherstellen, da der Patient einen Anspruch auf die Befüllung dieser Akte hat. Ob diese Hersteller dann noch Bereitschaft zu und Interesse an einer tief greifenden AOK-spezifischen Anbindung haben, ist fraglich.

25.3.2 TK Safe – digitale Gesundheitsakte von TK und IBM Die Techniker Krankenkasse (TK) entwickelt seit Februar 2017 zusammen mit IBM Deutschland eine elektronische Gesundheitsakte (eGA) und stellte diese im April 2018 der Öffentlichkeit als TK Safe vor (TK 2018). Der Fokus der Akte liegt auf der Sammlung von Gesundheitsdaten durch den Versicherten und auf der Nutzung von digitalen Gesundheitsservices mithilfe der gesammelten Daten. Gestaltung der Vernetzung Als primäre Quellen für die TK Safe eGA sind die Krankenkassensysteme, der Versicherte selbst und ärztliche Leistungserbringer vorgesehen. Die TK stellt aus ihren eigenen Systemen Daten zu Arztbesuchen, Diagnosen, Impfungen und Medikamenten auf Basis von Abrechnungsdaten bereit (TK 2018). Der Versicherte kann abfotografierte Dokumente einstellen und soll zukünftig auch Messwerte und verschiedene primäre, digitale Daten aus anderen Apps einstellen können. Es ist auch geplant, dass kooperierende Einrichtungen ihren Patienten, die TK Safe nutzen, die Behandlungsdokumentation direkt elektronisch zur Verfügung stellen. Hierfür konnte die TK Kooperationszusagen einiger großer Klinikketten und Universitätskliniken gewinnen (TK 2018). Für die Anbindung niedergelassener Ärzte wurde eine Nutzung des E-Mail-basierten Austauschdienstes „KV-­Connect“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vereinbart (TK 2019a). Für die Anbindung von TK Safe im stationären Bereich arbeitet IBM mit der niederländischen Philips-Tochter Forcare zusammen, die die notwendige Expertise zu internationalen Datenaustauschstandards (vor allem für IHE XDS) mitbringt (IBM 2019). Neben dem dokumentenbasierten Austausch sollen strukturierte Daten zu Impfungen und Diagnosen über moderne HL7-FHIR-Standards ausgetauscht werden. Entsprechend der Konzeption der elektronischen Patientenakte der gematik sollen auch bei TK Safe technische Schutzmaßnahmen sicherstellen, dass nur der Versicherte Zugriff auf seine Gesundheitsdaten erhält, die bei der TK-Safe-Akte zentral gespeichert werden. Ein Kernaspekt dieser Maßnahmen ist eine Inhaltsverschlüsselung al-

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ler Dokumente und Gesundheitsdaten, die häufig als Ende-­zu-Ende-Verschlüsselung bezeichnet wird (TK 2019b). Hierbei ist der Einsatz einer nativen Mobilanwendung anstelle einer Webanwendung ein wichtiges Mittel, um eine sichere Entschlüsselung auf dem Gerät des Benutzers praktikabel zu implementieren (TK 2019b). Potenzielle Nutzung der Daten Als elektronische Gesundheitsakte soll TK Safe es Versicherten prinzipiell ermöglichen, Gesundheitsdaten mit ihren Behandlern zu teilen. Der Fokus liegt aber ganz klar auf der Bereitstellung von Daten für den Versicherten, nicht auf der Unterstützung von Versorgungsprozessen. So nutzt der Versicherte eine App, um Zugriffsrechte zu verwalten und um Zugang zu seinen Gesundheitsdaten sowie Gesundheitscoaching zu haben (TK 2018). Künftig soll die App auch Funktionalitäten wie ein Patiententagebuch inkl. Vitaldaten und Dienste zum Impfpass, Zahnbonusheft, Notfalldaten, Vorsorgeuntersuchungen, Arztterminvereinbarungen, Zweitmeinungsverfahren und Medikamentenwechselwirkungsprüfungen ermöglichen (TK 2018). Bewertung Die TK-Safe-Akte setzt auf eine zentrale Datenspeicherung. Dies hat den Vorteil, dass der Versicherte volle Kontrolle über die Daten ausüben kann und z.  B. die Löschung oder Sperrung von Daten nicht in Fremdsystemen durchgesetzt werden muss. Im ambulanten Bereich wird dieser Ansatz regelmäßig verfolgt, da Praxissysteme häufig nicht verfügbar sind, wenn beispielsweise abends der Strom ausgestellt wird. Andererseits könnte das Speichermodell in Kombination mit der Ausrichtung als reine eGA zu Widerständen bei den Krankenhäusern und Klinikketten führen. Stationäre Leistungsanbieter verfügen regelmäßig über eigene Rechenzentren, die jederzeit verfügbar sind. Da die Datenerhebung/-beisteuerung unvergütet ist und die Leistungserbringer kein Mitspracherecht zur Verwendung der Daten haben, besteht für stationäre Leistungserbringer nur ein geringer Anreiz sich an der Vernetzung zu beteiligen. Für eine erfolgreiche Anbindung der Leistungserbringer sprechen neben der KV-Connect-Anbindung, 18 bereits angeschlossenen Krankenhäusern sowie die Zahl der „Letters of Intent“ (d. h. nichtbindende Kooperationszusagen) mit Krankenhäusern und Klinikketten (TK 2018). Am wahrscheinlichsten erscheint zurzeit eine breite, aber flache Integration in Leistungserbringersysteme, bei der die meisten Einrichtungen nur einen Entlassbrief für die TK Safe elektronische Gesundheitsakte des Versicherten bereitstellen. Um auch die wertvolleren, strukturierten medizinischen Daten in TK Safe zu übertragen, fehlt den Kliniken ein Prozessoptimierungs- oder ein finanzieller Anreiz.

25.3.3 Vivy – Dienstleister für gesetzliche Krankenkassen und private Krankenversicherungen Vivy ist ein Produkt der Berliner Vivy GmbH, einem Unternehmen, das zu 70 % der Allianz SE gehört (Vivy 2019). Die Vivy GmbH hat im Jahr 2018 den Zuschlag des Dienst-

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leistungsunternehmen BITMARCK zur Bereitung einer elektronischen Gesundheitsakte erhalten (Vivy 2019). BITMARCK hatte die Ausschreibung im Auftrag von mehr als 90 gesetzlichen Krankenkassen (darunter auch die DAK) und privaten Krankenversicherungen mit mehr als 25 Mio. Versicherten durchgeführt. Für die Versicherten dieser Krankenkassen ist die Nutzung von Vivy ohne zusätzliche, direkte Gebühren möglich. Gestaltung der Vernetzung Vivy kann über ein Webportal und per App aufgerufen werden. Datenzugriff hat nur der Versicherte per PIN-Eingabe, aufgrund der Zwei-Faktor-Authentizitätsprüfung ist ein Smartphone Voraussetzung für die Nutzung. Alle Daten werden zentral und größtenteils unstrukturiert als Dokumente gespeichert. Der Datenumfang wird von den Versicherten bestimmt. Vorhandene Daten können Leistungserbringer zurzeit per E-Mail oder Fax an das Vivy-System senden, während der Versicherte in der Lage ist, einem Angehörigen oder Arzt den Zugriff auf abgespeicherte Informationen zu erlauben. Dafür bekommt der Mediziner einen gesicherten Link zugeschickt, unter dem er das Dokument herunterladen kann (Vivy 2019). Dieser Prozess soll künftig für bestimmte Leistungserbringer automatisiert werden, da die Vivy GmbH und medatixx, ein Anbieter von Praxisverwaltungssoftware (PVS), eine entsprechende Kooperation vereinbart haben. So wird medatixx seine Software mxx-PVS erweitern, sodass die KV-Connect-Verbindung für einen verschlüsselten, sicheren Austausch mit der Vivy-Gesundheitsakte von den ca. 22.300 mxx-PVS Praxen genutzt werden kann (medatixx 2018). Potenzielle Nutzung der Daten Die Funktionalitäten umfassen ein Leistungserbringerverzeichnis zur Arztsuche und die Möglichkeit, Dokumente mit Ärzten und anderen Nutzern zuteilen bzw. abzufragen (Vivy 2019). Zudem ermöglicht Vivy verschiedene Übersichten: digitaler Impfpass, digitaler Notfallpass inkl. Notfallsticker, digitaler Medikationsplan inkl. Tagebuchfunktion sowie individualisierte Vorsorgeuntersuchungsplan (Vivy 2019). Darüber hinaus bietet Vivy den Nutzern einen Chatbot zur Organisation (Vivys „persönliche Gesundheitsassistentin“), die Möglichkeit Aktivitätsdaten zu dokumentieren und die Überprüfung der eigenen körperlichen Verfassung mittels eines sog. Gesundheitschecks an (Vivy 2019). Bewertung In der Öffentlichkeit ist die Plattform Vivy ein vielseitig diskutiertes Projekt. Nicht nur, weil diese Technologieplattform sowohl von privaten Krankenversicherungen als auch von gesetzlichen Krankenkassen für ihre Versicherten ausgesucht wurde, sondern auch wegen zahlreicher Sicherheitsbedenken. Freundlich gesinnte Hacker haben die Plattform über mehrere Monate getestet und dabei u. a. 15 Sicherheitslücken, die als mittel bis hoch risikoreich klassifiziert worden (z. B. Preisgabe vertraulicher Daten im Cache, System-Log und der mit dem Arzt geteilten Dokumenten und Metadaten, Export des privaten Schlüssels im Klartext und Überschreiben öffentlicher Schlüssel), festgestellt (modzero 2018). Darüber hinaus bestehen auch für Vivy die zuvor beschriebenen Herausforderungen im

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Hinblick auf die Integration aller Leistungserbringerdaten und die Verfügbarkeit von klugen Anwendungen bei großteils unstrukturierter Datensammlung. Abschließende Bemerkung zur elektronischen Gesundheitsakte Für alle vorgestellten Lösungen gilt, dass der Datenaustausch zur elektronischen Gesundheitsakte freiwillig und gesetzlich nicht sanktioniert ist. Im Rahmen der Verhandlungen zum jüngsten Letter of Intent zur elektronischen Patientenakte (KBV 2018a) haben der AOK Bundesverband, die Techniker Krankenkasse und die BITMARCK vereinbart, ein „Mischmodell“ zur zentralen und dezentralen Datenspeicherung zu verfolgen (AOK Bundesverband 2018): Die AOK wird auch im DiGeN einen zentralen Ablageort für Versichertendaten aufbauen, während die Techniker Krankenkasse und die Bitmarck auch für TK Safe und Vivy ein Berechtigungsmodell für dezentrale Datenspeicherung hinzufügen (AOK Bundesverband 2018). Es bleibt abzuwarten, ob diese Vereinbarung auch umgesetzt wird und ob Marktteilnehmer alle oder nur ein elektronischen Gesundheitsaktensystem einer Krankenkasse bzw. Krankenversicherung unterstützen werden. Für alle Leistungserbringer gilt ständig der Zweifel an der Vollständigkeit der Akten, da durch die patientenzentrierte Führung der Akten durchaus die Möglichkeit der Unvollständigkeit besteht. Auch hier bedarf es weiterer Erfahrungswerte, um zu sehen, inwieweit Patienten und Leistungserbringer die gleichen Interessen wie die Krankenkassen verfolgen. Zumal von ärztlicher Seite berechtigte Forderungen an einer sachgerechten Vergütung des Aufwands in der Bereitstellung von Behandlungsdaten bestehen. Die KVNO betont zwar, dass Ärzte von Patienten Kosten für Kopien und Ausdrucke ihrer Behandlungsdaten nach Maßgabe des Gerichtskostengesetzes von 50 ct je Dokument einfordern dürfen, betont aber zugleich die Notwendigkeit einer befriedigenden Finanzierung des Aufwands (KVNO 2018). Weiterhin ist geplant, die bestehenden Lösungen zur elektronischen Gesundheitsakte in elek­ tronische Patientenakten zum Jahr 2021 zu überführen. Dazu hat die gematik gemeinsam mit Vertretern der Krankenkassen eine Arbeitsgruppe zur Migration und Konzeption des Zertifizierungsprozesses gegründet (Grätzel von Grätz 2019). In Anbetracht der internationalen Erfahrungen zur Vernetzung verschiedener elektronischer Aktensysteme erscheint dieses Vorhaben sehr ambitioniert (siehe Abschn. 25.6).

25.4 Netzwerke der Leistungserbringer Exemplarisch aus der vielseitigen Gruppe der Leistungserbringer im Sinne des SGB V soll im Folgenden die Vernetzung in der stationären und ambulanten Versorgung betrachtet werden. Die Digitalisierung von Prozessen und Dokumentationssystemen ist eine ­elementare Voraussetzung für digitale Vernetzung von Institutionen und Patienten. Jedoch besteht schon bei der internen Digitalisierung der Organisation der Leistungserbringer in Deutschland ein Rückstand im Vergleich zu der Entwicklung in anderen Gesundheitssystemen. Der Electronic Medical Record Adoption Model (EMRAM) ist ein international häufig verwendeter Indikator für den Digitalisierungsgrad in der stationären Versorgung

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auf einer Skala von 0–7. Anschaulich wird die Stufe 0 als „nicht bzw. kaum digitalisiert“ und die Stufe 7 als „papierloses Arbeiten“ beschrieben (Stephani et al. 2019). Die letzte internationale Befragung aus dem Jahr 2017 zeigte, dass in Deutschland ca. 40 % der befragten Krankenhäuser der Stufe 0 zugeordnet wurden. In Dänemark hingegen traf dies für kein Krankenhaus und im europäischen Durchschnitt nur auf 11,4 % der Häuser zu (Stephani et al. 2019). Für die Stufe 6 konnten sich in Deutschland nur das Medius Klinikum Nürtingen und das Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg erfolgreich klassifizieren (Stephani et al. 2019). So verwundert es auch nicht, wenn jüngst Nutzenpotenziale der Digitalisierung für den stationären Sektor in Deutschland von 16,1 Mrd. € und 15,1 Mrd. € für den ambulanten Sektor ermittelt worden sind (McKinsey 2018).

25.4.1 Stationäre Leistungserbringer Die Netzwerke der Leistungserbringer im stationären Bereich sind sehr heterogen. Einige Netzwerke sind ursprünglich interne Vernetzungsprojekte von Klinikverbünden oder Universitätskliniken, die nun auch nach außen geöffnet werden. Dies trifft beispielsweise auf die Vivantes IHR-Akte zu, deren Entwicklung im Jahr 2014 begann (Pressebox 2014) und die nun mit den elektronischen Gesundheitsakten der Techniker Krankenkasse und der AOK vernetzt werden soll (Vivantes 2018). Andere Netzwerke wurden von ihrem Träger von Anfang an für die externe Kommunikation konzipiert, wie z. B. die PEPA des Universitätsklinikums Heidelberg (UK Heidelberg 2018) oder die nachfolgend vorgestellte Helios.bridge der Helios Kliniken (Herzberger et al. 2018). Zusätzlich gibt es noch regionale Vernetzungsprojekte ohne dominante Träger, z. B. Westdeutscher Teleradiologieverbund (MedEcon Telemedizin 2019); I/E-Health NRW (2016), sowie Forschungs- bzw. translationale Netzwerke. So werden aktuell im Rahmen der Medizininformatikinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vier Universitätskliniknetze entwickelt: DIFUTURE, HiGHmed, MIRACUM, SMITH (TMF 2019). Gestaltung der Vernetzung am Beispiel von Helios.bridge Die Helios.bridge ist ein cloudbasiertes Patientenportal, das mit dem Klinikinformationssystem (KIS) der Helios Kliniken verbunden ist (Herzberger et al. 2018) und auf internationalen Standards der Interoperabilität basiert. Generell verbleiben die Daten in der dezentralen Speicherung (lokales Archivsystem) und werden erst beim Zugriff angefordert (Herzberger et al. 2018). Vorhandene strukturierte Daten zu Fallinformationen, Diagnosen, Prozeduren und Laborwerten werden entsprechend abgelegt, um die Nutzung für künftige Anwendungen zu ermöglichen (Herzberger et al. 2018). Die Datenhoheit liegt beim Patienten, sodass Einverständniserklärung, Zugriffsrechte und Account-Löschung im Portal selbst verwaltet werden können (Herzberger et al. 2018). Potenzielle Nutzung der Daten am Beispiel von Helios.bridge Der Patient erhält über Helios.bridge Zugriff auf Befunde und Arztberiefe (Herzberger et al. 2018). Das Portal soll laufend weitere Funktionalitäten erhalten (Schuster 2017): So

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soll die Planung von Reha-Aufenthalten in Häusern der Helios-Gruppe (hello Portal), kontinuierliche Patientenrückmeldungen zu onkologischen Behandlungen (KaikuHealth) sowie Zugang zu digitalen Sprechstunden und Erhebung langfristiger Behandlungsergebnisse (heartbeat One) ermöglicht werden. Bewertung Die strukturelle Heterogenität der Krankenhäuser spiegelt sich auch in der Gestaltung der Vernetzungsprojekte wider. Einige Vernetzungsprojekte sind initial eher auf strukturierte und unstrukturierte Dokumente fokussiert, wie beispielsweise Vivantes (2018), UK Heidelberg PEPA (UK Heidelberg 2018) und I/E-Health NRW (2016). Während andere Projekte einen starken Fokus auf Bilddaten legen, z. B. der Westdeutsche Teleradiologieverbund (MedEcon Telemedizin 2019). Gerade neuere Projekte wie Helios.bridge (Herzberger et al. 2018) und die vier Konsortien der Medizininformatikinitiative (DIFUTURE, HiGHmed, MIRACUM, SMITH; TMF 2019) rücken immer häufiger strukturierte Daten in den Mittelpunkt. Aufgrund von unterschiedlichen Gründungsmotivationen, Finanzierungsquellen und federführenden Organisationen existieren oft mehrere Vernetzungsprojekte innerhalb eines einzigen Klinikums. So sind an der Charité in Berlin über ein Dutzend Vernetzungsprojekte zur gleichen Zeit in verschiedenen Abteilungen für diverse Zielgruppen und mit unterschiedlichen Technologien aktiv, z.  B.  CGM Jesajanet (CGM 2019), SAP EMR/ MACSS (Charité – Universitätsmedizin Berlin 2016), Midata (Grätzel von Grätz 2018), Klinische Datenintelligenz (BMWi 2019), HiGHmed (TMF 2019) etc. Selbst weniger föderal organisierte Einrichtungen unterstützen zum Teil redundante Vernetzungsansätze wie das Universitätsklinikum Heidelberg mit PEPA (UK Heidelberg 2018), Translate-­ NAMSE (UK Heidelberg 2017) und HiGHmed (GBN 2017). Dies wird häufig mit komplexen Finanzierungsregeln im Forschungsbereich begründet, die eine Teilfinanzierung benötigter Vernetzungskomponenten erschweren. Auch die vom Datenschutzrecht verlangte Zweckbindung der Daten hat häufig einen signifikanten Einfluss. Wenn Patientendaten für einen bestimmten Zweck erhoben wurden, z.  B. die Regelversorgung eines Krankheitsfalls oder für ein bestimmtes Forschungsprojekt, können diese nicht ohne weiteres für Folgeprojekte mit dem gleichen Patientenstamm eingesetzt werden. Selbst die erneute Kontaktierung von Teilnehmern muss schon in der ursprünglichen Einwilligung abgedeckt sein.

25.4.2 Ambulante Leistungserbringer Die Vernetzung in der ambulanten Versorgung ist sehr vielseitig und nur rudimentär administrativ und wissenschaftlich dokumentiert. Die Leistungserbringer in der ambulanten Versorgung sind zu einem Großteil selbstständig organisiert. Es gibt nur in vereinzelten Fachrichtungen größere MVZ- und andere Netzwerkverbunde. Da die Leistungserbringer kaum Vorgaben im Hinblick auf die Organisation und Administration ihrer Praxen haben, hat sich über die Jahre in Deutschland eine große Vielfalt

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Abb. 25.3  Marktanteil der Top-Praxisverwaltungssysteme über alle Fachgruppen sowie Marktanteil der Hersteller zum 30.06.2018. (Quelle: Eigene Darstellung 2019; gemäß Informationen der KBV 2018c)

an sogenannten Praxisverwaltungssystemen (PVS) etabliert. Die PVS werden von der Dachorganisation der Vertretung der niedergelassenen Ärzte, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, für den Abrechnungsdatentransfer (ADT) zugelassen. In der Regel sind die Systeme nicht miteinander kompatibel. Die Installationsstatistik der KBV zeigt über alle Fachgruppen, dass kein System einen Marktanteil von über 20 % aufweisen kann und weiterhin kein Hersteller über 30 % Marktanteil hat (siehe Abb. 25.3). Gestaltung der Vernetzung Um die flächendeckende Vernetzung der ambulanten Versorgung zu ermöglichen, betreibt die KBV das sogenannte „Sichere Netz“. Dieses Netz ist zunächst eine geschlossene Austauschplattform, die einen sog. Punkt-zu-Punkt-sicheren-Austausch von Dokumenten zwischen vorrangig niedergelassenen Ärzten ermöglicht. Es gibt keine zentrale Datenspeicherung oder übergeordnete Auswertungsmöglichkeit. Das Sichere Netz soll in Zukunft an das Telematiknetz der gematik angeschlossen werden. Es dient aktuell primär dem Zweck, die Versendung der Abrechnung online zu ermöglichen bzw. mit Kollegen Befunde auszutauschen und andere Anwendungen (KBV 2019a).

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Abb. 25.4  Onlinedienste KV. (Quelle: Eigene Darstellung gemäß KBV Angaben KBV 2019b)

Potenzielle Anwendung Die Übersicht in Abb. 25.4 enthält eine Auswahl der möglichen Dienste basierend auf dem Datenaustausch im Sicheren Netz der KBV. Bewertung Nach eigener Darstellung wird dieses Netz von mehr als 110.000 Ärzten und Psychotherapeuten genutzt, wobei diese Angabe nicht differenziert gemäß der Nutzung der einzelnen Anwendungen veröffentlicht wird (KBV 2019a). Im Widerspruch mit der beeindruckenden Reichweite stehen die (existierenden und geplanten) Anwendungen des Sicheren Netzes der KVen. Fast alle Anwendungen sind digitale Versionen von existierenden, analogen Lösungen. Kaum eine der Anwendung versucht, das Potenzial der Digitalisierung in der Analyse und Bewertungen von Daten zu nutzen und die Versorgung grundlegend zu erneuern. Dies ist aufgrund der derzeitigen technischen Ausgestaltung auch nicht möglich. Darüber hinaus existieren schon heute in der Ausgestaltung der Teilnahmeberechtigung am Sicheren Netz Differenzen zwischen den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen. So lassen manche KVen nur Ärzte als natürliche Personen als Teilnehmer zu, während andere KVen auch Praxisgemeinschaften und Gemeinschaftspraxen berechtigen (KBV 2017a; KVHH 2018). Grundlegende Inkonsistenzen in der Netzgestaltung führen zu He­ rausforderungen und zusätzlichen Investitionen im Anwendungsdesign, Wartung der Anwendungen und Analyse der Daten. Weitere, parallele Vernetzung Eine wichtige Rolle in der Versorgung übernehmen auch sogenannte Praxisnetze. Die Art und Weise der Vernetzung ist dabei nicht gesetzlich definiert, sodass Praxisnetze zur Rea-

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lisierung unterschiedlicher Ziele wie Verbesserung der Versorgungsqualität, Optimierung der Abrechnung und Vergütung, aber auch Steigerung der Effizienz und Effektivität der Organisationen gebildet werden. Einige etablierte Netze, wie z. B. Gesundes Kinzigtal, das mit seinen ärztlichen Partnern fast die Hälfte der Bevölkerung in einer Region mit ca. 71.000 Einwohner versorgt, suchen eigene Lösungen (Gesundes Kinzigtal 2019). So hat das Gesunde Kinzigtal gemeinsam mit einem Dienstleister eine eigene Software zur Vernetzung entwickelt, die mit allen gängigen Praxisverwaltungssystemen vernetzt werden kann (Gesundes Kinzigtal 2019). Generell schätzt der Verein Deutsche Ärztenetze, dass zurzeit 400 Praxisnetze mit rund 30.000 Ärzten existieren (Deutsche Ärztenetze 2019). Die ärztliche Selbstverwaltung veröffentlicht regelmäßig Statistiken zur Förderung von Praxisnetzen nach § 87b SGB V. Da diese Förderung (u. a. Kriterien) für Netze mit 2–200 vertragsärztlichen und psychotherapeutischen Praxen zur Verfügung steht (KBV 2015, S. 12), gibt diese Statistik nur Hinweise auf das Vorkommen von Praxisnetzen in der ambulanten Versorgung und stellt keine repräsentative Erhebung dar. Die Förderung unterscheidet dabei drei Stufen der Vernetzung (Basis, Stufe 1 und Stufe 2), wobei nur die letzte Entwicklungsstufe auch ein gemeinsames IT-System zum Austausch von elektronischen Patientenakten vorsieht. Aktuell listet die KBV 72 anerkannte Praxisnetze auf, wobei nur zwei Praxisnetze auch eine Förderung der Stufe 2 erhalten haben. Die Prüfung der öffentlichen Informationen zu diesen Praxisnetzen legt die Schlussfolgerung nah, dass die Praxisnetze eher eine Vernetzung jenseits eines regelmäßigen elektronischen Datenaustausches auf Patientenebene verfolgen (KBV 2017b). Jenseits dessen gibt es mittlerweile auch einige privatwirtschaftliche Dienstleister, die selbstständigen Ärzten eine Vernetzung auf Patientenebene anbieten. Zu diesen Dienstleistern gehören beispielsweise Health Data Space für web-basierte Lösungen (Telepaxx Medical Data 2019) und Axaris, die mit der Software „extrax“ direkt Praxisverwaltungssysteme verbinden (Axaris 2019). Jedoch gibt es noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die verlässliche Aussagen zur Art und Weise der Nutzung des Datenaustausches zulassen.

25.5 Freiwillige Vernetzung von Unternehmen und Konsumenten Das Angebot an Dienstleistungen im Bereich der Speicherung, Verwaltung, Analyse und Auswertung von gesundheitsbezogenen Daten und den entsprechenden Beratungen ist in den vergangenen Jahren auf sehr vielseitige Art und Weise weiterentwickelt worden (Global Market Insights 2019). Technologieunternehmen wie Microsoft und Alphabet, die Muttergesellschaft von Google und Unternehmen wie Verily, haben bereits vor 10 Jahren Plattformen wie HealthVault (2007) und Google Health (2008) zur Verwaltung persönlicher Gesundheitsdaten eingeführt. Die Unternehmen haben mittlerweile umfangreiche Erfahrungen sammeln können und ihre Anwendung immer wieder an die Bedürfnisse der Kunden angepasst bzw. auch teilweise eingestellt (The Economist 2018). So hat beispielsweise Alphabet im Jahr 2011 die Plattform Google Health aufgrund der geringen Nutzer-

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akzeptanz wieder vom Markt genommen (The Economist 2018). Diese Erfahrung hat den Konzern aber nicht zu einem Rückzug aus der Gesundheitsversorgung veranlasst, sondern nur zu anderen Strategien geführt. Derzeit arbeitet Alphabet über seine Töchtergesellschaften Verily und DeepMind intensiv mit dem britischen Gesundheitsservice NHS zusammen (siehe Abschn.  25.1). Aufgrund der großen Vielfältigkeit der Dienstleistungen sollen hier exemplarisch nur ein amerikanisches und ein deutsches Angebot dargestellt werden. Gestaltung der Vernetzung Apple Electronic Health Records: Das Unternehmen Apple verfolgt im Gesundheitsbereich die Strategie, sowohl Hardware als auch Software zu entwickeln. So umfassen relevante Produkteinführungen der letzten Jahre nicht nur die Apple Watch, iPhone, iPad (Apple 2019a), sondern auch die Anwendung EKG-App und die Mitteilungsfunktion bei unregelmäßigen Herzrhythmus (Apple 2019b). Im Januar 2019 hat Apple veröffentlicht, dass allen iPhone-Nutzern demnächst die Funktion Health Records zur Verfügung gestellt wird. Nutzer können damit ihre Krankenakten verwalten und verteilen (Apple 2019c). Zusätzlich unterhält Apple mit mehr als 250 amerikanischen Krankenhäusern und Versicherungen Partnerschaften. Nutzer können so ihre Behandlungsdaten und Versicherungsdaten mit ihren anderen Daten, die sie mit Health Records verwalten, zusammenführen (Stand April 2019; Apple 2019d). In Deutschland ist diese Funktion noch nicht verfügbar. Da die Übertragung aber den von deutschen Krankenhäusern häufig verwendeten Standard FHIR nutzt, ist eine Einführung denkbar. Über weitere von Apple betriebene Plattformen wie das Research Kit können Nutzer ihre Gesundheitsdaten nicht nur verwalten, sondern bewusst zu ihrer Versorgung bzw. für die Forschung einsetzen (Apple 2019e). Smartpatient – MyTherapy: Im Bereich der digitalen Gesundheitsdienstleistungen hat sich in den letzten Jahren eine beachtliche Start-up-Szene in Deutschland gebildet. So arbeitet das Münchner Unternehmen Smartpatient intensiv an Softwarelösungen, um Menschen mit chronischen Krankheiten bei der Einnahme ihrer Medikation und einem gesunden Lebenswandel zu unterstützen. Die web-basierte Plattform MyTherapy ermöglicht es Teilnehmern nicht nur die eigenen Daten, sondern auch für Angehörige (z. B. Kinder oder pflegebedürftige Verwandte) sämtliche Medikation übersichtlich zu verwalten. MyTherapy bietet dazu Funktionen wie einen QR Reader zur schnellen Dokumentation von Medikationen und eine umfassende Tagebuchanwendung zur Erfassung von Symptomen und Behandlungen an (Smartpatient 2019a). Berichte, Auswertungen sowie tägliche Datenstände können auch mit behandelnden Ärzten zur Verfügung gestellt werden. Die Plattform hat nach eigenen Angaben mehr als 1 Mio. Nutzer mit ca. 20 Interaktionen pro Woche (Smartpatient 2019b). Bewertung Viele dieser Lösungen werden Patienten und Nutzern zurzeit kostenlos zur Verfügung gestellt, falls sie einer Nutzung ihrer Daten zustimmen. Dies soll die Verbreitung und auch

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die schnelle Optimierung der Dienstleistungen unterstützen. Die stringente Ausrichtung der Vernetzung an die Bedürfnisse des Nutzers ist naheliegend und wird sich in einigen Segmenten (wie z. B. Adhärenz-Unterstützung schwerwiegender Erkrankungen) sicherlich durchsetzen. Insgesamt erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass die freie Vernetzung von Unternehmen und Konsumenten die gesetzlich gewünschte Vernetzung im Alltag ersetzt.

25.6 Lösungsansätze anderer Nationen An dieser Stelle sollen exemplarisch ausgesuchte Aspekte von Lösungsansätzen anderer Nationen vorgestellt werden, ohne dem Anspruch eines wissenschaftlich vollwertigen Systemvergleiches gerecht zu werden. Zur Auswahl relevanter Lösungsansätze wurde eine Google-Scholar-Abfrage mit den Stichworten „Health Information Exchange“ sowie „National Electronic Health Records“ unter Berücksichtigung von Veröffentlichungen seit dem Jahr 2016 durchgeführt. Die nachfolgend vorgestellten Lösungsansätze beruhen auf den Ergebnissen der Studie #SmartHealthSystems der Bertelsmann Stiftung (2018). Im Rahmen dieser Studie wurden nationale Gesetzgebungen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens, die vorhandene Digitalisierung des Gesundheitswesens sowie die tatsächliche digitale Datennutzung von 17 Nationen untersucht. Die Studie enthält einen Vergleich der Reifegrade der nationalen Lösungen, basierend auf einem sogenannten Digital-­Health-­ Index. Die Skala reicht von 0–100, wobei ein hoher Indexwert einem hohen Reifegrad entspricht. Der Mittelwert des Digital-Health-Indexes aller 17 untersuchten Länder beträgt 59 Indexpunkte bei einer Standardabweichung von 16,9. Der Stand der Entwicklung in Deutschland wurde mit 30 Indexpunkten beurteilt. Damit wurde die digitale Transformation des Gesundheitswesens in Deutschland auf Rang 16 von 17 untersuchten Gesundheitssystemen eingestuft und gilt in Europa als unterentwickelt. Alle drei der im Folgenden dargestellten nationalen Ansätze wurden der Gruppe der am weitesten entwickelten Gesundheitssysteme (mindestens 70 Indexpunkte) zugeordnet. Die Abb.  25.5 fasst die Ergebnisse zu den fünf höchstbewerteten Lösungsansätzen zusammen.

25.6.1 Estland Die Digitalisierung des estnischen Gesundheitssystems wurde in der Studie der Bertelsmann Stiftung (Digital-Health-Indexwert von 81,9; siehe Tab. 1.1; Bertelsmann Stiftung 2018) wie auch in Expertenbefragungen (vgl. HIMSS Europe 2018) als sehr weit entwickelt beurteilt. Die estnische Regierung arbeitet seit mittlerweile ca. 20 Jahren an der konsequenten Digitalisierung des Gesundheitswesens (Bertelsmann Stiftung 2017). Diese Bemühungen sind Bestandteil einer übergeordneten Anstrengung, die gesamte staatliche Verwaltung des Landes zu digitalisieren. Diese Ambition wird durch sieben Prinzipien strukturiert, die zu

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Abb. 25.5  Vergleich und Parameter zur Vernetzung in Estland, Kanada, Dänemark, Israel und Spanien. (Quelle: Eigene Darstellung der Ergebnisse von Bertelsmann Stiftung 2018) und WHO 2016)

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einem harmonisierten und geordneten Ansatz in der Digitalisierung der Verwaltung führen (e-Estonia Briefing Centre 2018): • Prinzip der Dezentralisierung von Informationen  – jeder Akteur wählt seine eigene Datenbank. • Prinzip der Interkonnektivität – jedes Systemelement ist verknüpft und tauscht Daten aus. • Prinzip der Integrität  – alle Formen des Datenaustausches erfolgen unabhängig und sind nachvollziehbar unter Nutzung von Blockchain-Ansätzen. • Prinzip der „Open Source and Platform“ (offene Systeme) – jede Institution kann die vorhandene Infrastruktur nutzen. • Prinzip „keine Altlasten“ („no legacy“) – der Rechtsrahmen und Technologie wird kontinuierlich überarbeitet. • Prinzip der Einmaleingabe („once-only“) – eine Dateneingabe, die einmal von einem Bürger erfolgt ist, wird von keiner anderen Stelle der Verwaltung nochmal abgefragt. • Prinzip der Transparenz – jeder Bürger kann jederzeit seine persönlichen Daten abrufen und erhält Einsicht in jede Abfrage seiner Daten bezogen auf Inhalt und Abfragenden. Hinzukommt, dass jedem Bürger ein Auskunftsrecht gegenüber der abfragenden Institution bzw. Person zusteht. Unberechtigte Abfragen von Ärzte können weitgehend sanktioniert werden, z. B. mit Zulassungsverlust (Ärzte Zeitung 2019).

Gestaltung der Vernetzung Im Jahr 2003 führte die estnische Regierung die sog. X-Road ein (Bertelsmann Stiftung 2018). Die X-Road ist eine Open-Source-Software zwischen den einzelnen Leistungserbringern und staatlichen Institutionen sowie insgesamt 800 weiteren IT-Systemen zur Verwaltung und Organisation staatlicher Aufgaben zum Austausch von ca. 2500 Nachrichtentypen (Mikk 2018). Die X-Road ist u. a. auch mit dem estnischen Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk (ENHIS) verbunden, welches die medizinischen Daten der estnischen Bevölkerung enthält (Bertelsmann Stiftung 2018). Die elektronischen Softwaresysteme zur Dokumentation von Behandlungsdaten der Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzten sind vollständig mit der X-Road vernetzt und geben, sofern möglich, stets internationale Klassifikationssysteme wie ICD-10 (International Classification of Diseases revision 10), ATC (anatomisch – therapeutisch – chemikalisch), LOINC (Logical Observation Identifiers Names and Codes), NCSP (Nomesco Classification of Surgical Procedures) zur Eingabe von Daten vor (Mikk 2018). Potenzielle Nutzung der Daten Die verknüpften Daten werden zur individuellen medizinischen Versorgung genutzt. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2018 die X-Road zum Austausch von mehr als 3,5 Mrd. Datensätzen genutzt wurde (Mikk 2018). Vielfältige, digitale Dienstleistungen wie das elektronische Rezept, Telehealth-Dienste und Onlineterminbuchungen stehen zur Verfügung und werden auch genutzt (Bertelsmann Stiftung 2018). Ein innovativer Aspekt der estni-

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schen E-Rezept-Lösung ist die automatische Prüfung der neuen Verordnung im Hinblick auf potenzielle Wechselwirkungen mit bestehender Medikation (Mikk 2018). Die Vernetzung im Gesundheitswesen wird auch zur besseren Organisation und Koordination der Leistungserbringer genutzt. So wurden im Jahr 2012 Telekonsile zwischen Hausärzten und 17 verschiedenen Facharztgruppen eingeführt, damit Fachärzte mit dem Hausarzt auf der Basis einer standardisierten Anamnese gemeinsam entscheiden können, ob eine Überweisung des Patienten angemessen ist (Mikk 2018). Der Dringlichkeitsgrad wird wiederum bei der Terminvergabe berücksichtigt. Die Vernetzung wird aber auch zur Steuerung des Gesundheitssystems und der Verwaltung genutzt. Dies kann exemplarisch an der Geburt eines Kindes im Krankenhaus gezeigt werden. Die Dokumentation der Geburt in der Krankenhaussoftware führt zu einer automatisierten Meldung im Populationsregister von Estland. Dem Kind wird im System der Hausarzt der Mutter zugewiesen (bis zur möglichen Korrektur durch die Eltern), während parallel den Eltern unmittelbar die Kindergeldberechtigung zugeordnet wird (Mikk 2018). Bewertung Die Vernetzung des Gesundheitswesens ist in Estland hochgradig entwickelt und wird für Entscheidungsprozesse zur individuellen medizinischen Versorgung, Organisation und Koordination von Leistungserbringern sowie zur Steuerung des Gesundheitssystems genutzt. Inhalte v. a. in Bezug auf Medikationen und Laborwerte sowie die Art und Weise der Dokumentation in ENHIS ist für Leistungserbringer und andere Dienstleister des Gesundheitssystems verbindlich gesetzlich geregelt, wobei in der tatsächlichen Umsetzung die Dokumentationsstandards regelmäßig nicht eingehalten werden (Bertelsmann Stiftung 2018). So gaben angestellte Ärzte im Krankenhaus und niedergelassene Hausärzte in Befragungen an, dass es ihnen im Alltag schwerfällt, sich schnell einen Überblick zu dem Gesundheitszustand eines Patienten zu verschaffen und spezifische Patienteninformationen zu ergänzen (Mikk 2018). Als Ursachen für den erhöhten Zeitbedarf wurde die ­Vielzahl der vorhandenen digitalen Dokumente und die umständliche Bedienung des IT-­Systems angeführt (Mikk 2018). Aus Sicht der Bürger scheint das Patientenportal zufriedenstellende Transparenz über die eigenen Gesundheitsdaten zu geben und die Verwaltung der Zugriffsrechte von Leistungserbringern sowie die Dokumentation abgerufener Gesundheitsdaten einfach und bequem zu ermöglichen (Mikk 2018). Aufgrund der soliden und durchdachten digitalen Infrastruktur der Vernetzung scheinen die Einführungen von Anwendungen kostengünstig und schnell umsetzbar zu sein. So wurde die Anwendung „Elektronisches Rezept“ nach drei Jahren Planung mit einer Investition von 300.000 € innerhalb von 15 Monaten nach Systemeinführung mit einer Erfassung von 85 % aller Rezepte fast vollständig umgesetzt (Ärzte Zeitung 2017). Es überrascht daher auch nicht, dass Estland und Finnland die ersten beiden europäischen Länder sind, die ein EU-weites elektronisches Rezept für ihre Bürger einführen (Europäische Kommission 2019a). Ausblick Jenseits dieser Erfolge in der Vernetzung arbeitet die estnische Verwaltung an der Verbesserung der Verfügbarkeit vorhandener Daten für Verwaltung- und Analysezwecke

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(Mikk 2018). Dies möchte die estnische Administration einerseits durch die bessere Strukturierung und Erhöhung der Datenqualität erreichen (Mikk 2018), andererseits sollen aber auch notwendige Institutionen und Rechtsgrundlagen für die anonyme und aggregierte Verwertung durch Dritte geschaffen werden (Ross 2019). Schließlich soll das nationale Gesundheitssystem weiter mit den Gesundheitssystemen anderer EU-Mitgliedsstaaten vernetzt werden, um der Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb der EU gerecht zu werden (Europäische Kommission 2019b).

25.6.2 Kanada Ungeachtet der Tatsache, dass das kanadische Gesundheitssystem weitestgehend dezen­ tralisiert ist, ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Kanada hoch entwickelt und wird mit einem Indexwert von 74,7 Punkten als vorbildlich bewertet (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Vernetzungsplanung und die Vorgabe von Interoperabilitätsstandards wird durch das öffentlich-rechtliche, bundesweite Unternehmen Canada Health Infoway geleistet. Regionale Verwaltungen reichen bei Canada Health Infoway Projekte ein, die von der Gesellschaft nicht nur anhand der Investitionsplanung genehmigt, sondern auch mitfinanziert werden (Bertelsmann Stiftung 2018). Gestaltung der Vernetzung Es bestehen mehrere, parallele regionale Netzwerke zu elektronischen Patientenakten, die eine fast vollständige Abdeckung aller Behandlungsfälle ermöglichen (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Ausgestaltung kann voneinander abweichen, jedoch wird zu 10 nationalen Datenbanken, wie z. B. „Stationäre Daten der Psychiatrie“, „Daten aus der ambulanten Versorgung“, „Krebsregisterdaten“ und „Formale Langzeitpflegedaten“, ein standardisierter, jedoch nicht automatisierter Austausch ermöglicht (Bertelsmann Stiftung 2018). Gesundheitsdaten werden generell mit Ausnahme der nationalen Datenbanken zu Laborwerten, Medikationen und Bildarchivierungssystemen nicht strukturiert erfasst. Digitale Anwendungen, wie beispielsweise elektronische Rezepte (PrescribelT) und Telehealth-­ Dienstleistungen, sind teilweise verfügbar, aber nicht systematisch auf nationaler Ebene etabliert (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Zahl der klinischen Telemedizinsitzungen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. In 2015 wurden ca. 600.000 Telehealth-­ Sitzungen durchgeführt. Dies entspricht einem Wachstum von 46  % im Vergleich zum Vorjahr (Digital Health Canada/COACH 2015). Wesentliche Gestaltungsparameter der Vernetzung, wie z.  B.  Datenschutzvorgaben oder Authentifizierungssysteme für Fachpersonal und Patienten werden in der Regel in regionalen Gremien festgelegt. Canada Health Infoway unterstützt durch Koordination von entsprechenden Ausschüssen mit regionalen Vertretern die Konsensbildung zu den wichtigen Regelungsaspekten, die dann auf regionaler Ebene unterschiedlich in Gesetzgebungsverfahren umgesetzt werden.

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Potenzielle Nutzung der Daten Verknüpfte Daten werden hauptsächlich zur individuellen Gesundheitsversorgung genutzt. Versicherte haben die Möglichkeit, über Patientenportale ihre Daten und Zugriffe zu verwalten (Bertelsmann Stiftung 2018). Jedoch sind der Bekanntheitsgrad und die Nutzung dieser Option regional unterschiedlich verbreitet (Bertelsmann Stiftung 2018). In Bezug auf Leistungserbringer konnte gezeigt werden, dass mehr als 75 % der niedergelassenen Ärzte und Fachärzte Patientendaten elektronisch nachhalten, aber nur 42 % der niedergelassenen Ärzte und 75 % der Krankenhäuser auch mit einem regionalen Datennetzwerk vernetzt sind (Bertelsmann Stiftung 2018). Bis zu 75  % der Leistungserbringer tauschen untereinander regelmäßig Gesundheitsdaten ihrer Patienten aus, wobei niedergelassene Hausärzte im Schnitt mehr Daten austauschen bzw. abrufen als Fachärzte (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Vernetzung wird folglich auch zur Organisation und Koordination von Leistungserbringern genutzt. Die 10 nationalen Datenbanken bzw. Krankheitsregister bestehen zur Systemsteuerung. Bewertung Die weitgehende Digitalisierung der Versorgung ist in Anbetracht des hohen Maßes an regionaler Diversität in Bezug auf Gesetzgebung und Gestaltung der Vernetzung ­beachtlich. Jedoch wird diese Entwicklung auch durch signifikante Investitionen ermöglicht. So schätzen die Autoren der Bertelsmann-Studie, dass Canada Health Infoway über das weltweit höchste Pro-Kopf-Budget für Digital Health verfügt (Bertelsmann Stiftung 2018). Da die Implementierung der strategischen Vorgaben von Canada Health Infoway dezentral ausgeführt wird, ist das Potenzial der Interoperabilität der anvisierten technischen Infrastruktur auch noch nicht ausgeschöpft. Nichtsdestotrotz sind die Anwendungsoptionen von unterschiedlichen elektronischen Aktensysteme, deren Vernetzung nur einen vernachlässigbaren Austausch von strukturierten Daten vorsieht, begrenzt. Ausblick Die Vernetzung des Gesundheitswesens in Kanada soll derart weiterentwickelt werden, dass bis zum Jahr 2022 mindestens die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu telemedizinischen Dienstleistungen hat (Canada Health Infoway 2019). Darüber hinaus sollen im Jahr 2022 5 Mio. Kanadier in Patientenportalen eingeschrieben sein und 17.300 Ärzte sowie 4800 Apotheken die digitale Lösung zur elektronischen Verordnung, PrescribelT, nutzen (Canada Health Infoway 2019). Jenseits der praktischen Weiterentwicklung der Vernetzung förderte die kanadische Regierung den Ausbau von drei nationalen KI Instituten: Alberta Machine Intelligence Institute (AMII) in Edmonton,  Mila  in Montreal und das Vector Institute in Toronto (CIFAR 2019). Insbesondere das AMII ist auf die Erforschung von Fragestellungen zur Gesundheitsversorgung spezialisiert und soll zur Nutzung von verknüpften Daten im Gesundheitswesen beitragen (Amii 2019).

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25.6.3 Dänemark Auch die Digitalisierung des dänischen Gesundheitssystems gilt in Fachkreisen als beispielhaft. So wurde Dänemark am häufigsten als Vorbild in Bezug auf E-Health-­ Innovationskraft von europäischen Experten aus der staatlichen Verwaltung, IT-Sektor, Leistungserbringern und Beratungsbranche genannt (HIMSS Europe 2018) und erzielte auch im Rahmen der #SmartHealthSystems-Studie eine hohe Bewertung mit 72,5 Digital-­ Health-­Indexpunkten (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Digitalisierungsstrategie des dänischen Gesundheitssystems wird dabei von einem allgemeinen Rahmenplan zur Digitalisierung der dänischen Wirtschaft und einer Erhöhung der Bürger- bzw. Patientenbeteiligung flankiert (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Vernetzung des Gesundheitswesens wird dabei maßgeblich durch das staatliche Unternehmen MedCom geplant und gesteuert (Bertelsmann Stiftung 2018). Gestaltung der Vernetzung Es bestehen 4 parallele elektronische Patientenaktensysteme in 5 Regionen. Nachdem bereits im Jahr 2002 wesentliche Anwendungen (Laborwerte, Erstattungen, Patientendaten) digitalisiert zur Verfügung standen (Henriksen 2019), wurden in der Zeit von 2006–2014 große Anstrengungen unternommen, um die vorhandenen Daten systematisch nutzbar zu machen (Bertelsmann Stiftung 2018). Um die Interoperabilität der Systeme zu erhöhen, wurden in diesem Zeitraum die geschätzten 26 verschiedenen IT-Systeme zur elektronischen Patientenakte auf 4 verschiedene reduziert (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Vernetzung des Gesundheitswesens in Dänemark wurde parallel zu Strukturreformen der Verwaltung (Neuordnung der Verantwortlichkeiten für Finanzierung und Umsetzung) durchgeführt (Bertelsmann Stiftung 2018) und systematisch mit einer allgemeinen Digitalisierung der Verwaltung verquickt (Henriksen 2019). Die Datenbank Nationale Service Platform (NSP) enthält die Daten der Leistungserbringer sowie zahlreicher lokaler und regionaler Datenbanken zum Gesundheitswesen. Der Zugang zur Nationale Service Platform wird über eine Public-Key-Infrastruktur ermöglicht, die auch für den Austausch von Bank- und Steuerinformationen genutzt wird (Henriksen 2019). Weiterhin steht das Portal sundhed.dk allen Dänen zur Einsicht ihrer persönlichen Daten und Verwaltung des Datenzugriffes zur Verfügung. Auch Ärzte und andere Personenkreise mit berechtigten Interessen können die Daten des Portals nutzen. Potenzielle Nutzung der Daten Verknüpfte Daten stehen zur individuellen Versorgung zur Verfügung und können einfach von Versicherten eingesehen werden. Die Vernetzung des dänischen Gesundheitssystems ist sehr hochentwickelt, auch wenn die Angaben zur Nutzung stark schwanken: So wird der Anteil aller Patienten, die im Jahr 2017 das Portal sundhed.dk zur Dateneinsicht und Verwaltung aufgesucht haben auf höchstens 75 % geschätzt (Bertelsmann Stiftung 2018). Der Anteil der Hausärzte, die Daten mit Fachärzten oder Krankenhäusern austauschen, wird zwischen 75 % (Bertelsmann Stiftung 2018) und bis zu 100 % (OECD 2018) ge-

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schätzt. Auch führt die weitgehende Vernetzung zu einem hohen Digitalisierungsgrad der Leistungserbringer. So zeigte eine aktuelle Befragung aus dem Jahr 2017 zur Implementierung des EMRAM Models (siehe Abschn. 25.4), dass in Dänemark ca. 95,8 % der befragten Krankenhäuser der Stufe 5 und 4,2 % der Stufe 6 (weitestgehend digitalisiertes, papierloses Krankenhaus) zugeordnet wurden (Stephani et al. 2019). Fast alle Überweisungen, Rezepte und Befunde werden digital zwischen den Leistungserbringern ausgetauscht (Bertelsmann Stiftung 2018). Andererseits können Daten auch als Grundlage zur Steuerung, Verwaltung und Forschung genutzt werden. Zur Steuerung des Gesundheitssystems und Versorgungsforschung werden auf nationaler Ebene die Versorgungsdaten der Bevölkerung in 3 Auswertungen konsolidiert: Das sogenannte e-Journal aggregiert die Diagnosedaten, Behandlungspläne und Notizen der stationären Versorgung. Das p-Journal enthält die Patientenakten der niedergelassenen Ärzte. Die dritte Datenbank mit konsolidierten nationalen Informationen ist die Shared Medication Record (SMR), die alle verschreibungspflichtige ambulante und stationäre Arzneimitteldaten erfasst (Bertelsmann Stiftung 2018). Die Daten dieser drei Datenbanken wurden ebenfalls für die komplette Neugestaltung der stationären Versorgung verwendet. Bewertung Verknüpfte Daten werden in Dänemark systematisch und sehr weitgehend für alle relevanten Entscheidungsprozesse zur individuellen medizinischen Versorgung, Organisation und Koordination der Leistungserbringer sowie zur Steuerung des Gesundheitssystems genutzt. Die ausgeprägte Digitalisierung erlaubt mittlerweile auch Entlastungseffekte in der Organisation und Koordination der Leistungserbringer. Ein Aspekt der technischen Entwicklung ist z. B. die effiziente Dokumentation in elektronischen Patientenakten, die in Dänemark regelmäßig durch Spracherkennung unterstützt wird (Henriksen 2019). Allerdings gibt es keine verbindlichen Dokumentationsstandards, sodass geschätzt wird, dass höchstens die Hälfte aller Datensätze auf einheitlichen terminologischen Standards basieren (Bertelsmann Stiftung 2018). Dies ist eine hohe Hürde für die Einführung von semantischen Anwendungen. Zur Sicherheit der Vernetzung ist wenig bekannt, jedoch fällt auf, dass trotz der langjährigen und intensiven Nutzung der digitalen Infrastruktur keine größeren Fälle von Verstößen gegen Datenschutzbestimmungen bzw. Cyberattacken bekannt sind. Ausblick Die vorhandenen Daten wurden im Jahr 2007 zu einer ambitionierten Restrukturierung der Krankenhaus- und Notfallversorgung genutzt, die im Jahr 2025 abgeschlossen werden soll (Henriksen 2019). Die Planung sieht nicht nur die Schließung und Zusammenlegung von kleineren Einheiten vor, sondern beinhaltet auch den Neubau von 16 digitalisierten Krankenhäusern. Die digitalisierten Krankenhäuser sollen viel stärker als traditionelle Häuser in eine komplementäre Gesundheitsversorgung eingebunden werden. Ziel der Neuausrichtung ist es, nur unmittelbar notwendige Leistungen stationär erbringen zu lassen, während alle anderen notwendigen Untersuchungen, Behandlungen und Nachbehandlungen ambulant erbracht werden sollen (Henriksen 2019). Auch soll ab dem Jahr

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2020 eine telemedizinische Gesundheitsversorgung v. a. chronisch erkrankten Patienten flächendeckend zur Verfügung stehen (Henriksen 2019). Abschließende Bemerkung zu internationalen Lösungsansätzen Interessanterweise steht nur in Estland ein vollständig integriertes elektronisches Aktensystem Patienten und Ärzten zur Verfügung. Alle anderen im Rahmen der Bertelsmanns Studie untersuchten Gesundheitssysteme (Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Israel, Italien, Kanada, England, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien) verwenden mehrere Systeme und arbeiten nicht nur an der Interoperabilität von Daten, sondern auch an der Übertragbarkeit der Daten bei Wechsel eines Patienten zwischen den unterschiedlichen Systemen (Bertelsmann Stiftung 2018). Auch basieren aktuell nur wenige nationale, elektronische Aktensysteme auf strukturierten, kodierten Datensätze. Dies ist nur der Fall für Israel, den NHS in England und Schweden (Bertelsmann Stiftung 2018). Darüber hinaus fällt auf, dass alle Lösungsansätze aus der Gruppe, der am weitesten digitalisierten Gesundheitssysteme stets strafrechtliche und organisatorische, aber keine technischen Maßnahmen zur Vermeidung unberechtigten Datenzugriffe vorsehen (Bertelsmann Stiftung 2018). Oft gelingt es, verknüpfte Daten zur individuellen medizinischen Versorgung nutzbar zu machen, während wesentlich seltener bzw. nur sehr eingeschränkt diese Daten auch zur Organisation und Koordination der Leistungserbringer bzw. zur Steuerung des Gesundheitswesens genutzt werden. Dies ist oft nur in den sehr hochentwickelten Lösungsansätzen der Fall.

25.7 Bewertung Galt lange Zeit für Deutschland, dass sich das Gesundheitswesen nur sehr zögerlich digital verbindet, erscheint die Vernetzung nun beschleunigt sowie ungeordnet über alle Versorgungsstufen und alle Teilnehmer der Gesundheitsversorgung stattzufinden. Im Folgenden soll die Bewertung der Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen anhand der vorgefundenen Merkmale, der benötigten Konzeption und Begleitung diskutiert werden (siehe Zusammenfassung Abb. 25.6).

25.7.1 Vorgefundene Merkmale der Vernetzung Versorgungsablauf Die Vernetzung findet in Deutschland über alle Versorgungsstufen (siehe Abb. 25.1 – Diagnostik, Therapie, Rehabilitation, Pflege und Prävention) parallel und ungeordnet statt. So arbeiten alle Gruppen der Selbstverwaltung (Krankenkassen, stationäre und ambulante Leistungserbringer sowie Unternehmen und Konsumenten  – siehe Abschn.  25.2, Abschn. 25.3, Abschn. 25.4, und Abschn. 25.5) – an einer (Teil-)Vernetzung, während der Aufbau des Telematiknetzes parallel vorgenommen wird. Gesetzlich geregelt ist zurzeit

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Abb. 25.6  Bewertung der Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen. (Quelle: Eigene Darstellung)

nur die elektronische Patientenakte als Anwendungsfall des Telematiknetzes. Jeder weiteren Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen fehlt ein gesetzlich vorgegebener Orientierungsrahmen, sodass wesentliche Gestaltungsaspekte von den Akteuren frei gewählt werden können und nun unvollständige, inkompatible Teillösungen für begrenzte Anwendungsbereiche entstehen. Dabei beanspruchen fast alle Netzwerke der einzelnen Akteure der Selbstverwaltung eine Führungsrolle in dem Sinne, dass der Patient sich über das jeweils angebotene Portal einloggen soll, um auf die Daten der anderen Organisationen der Selbstverwaltung zugreifen zu können. So planen Krankenhausanwendungen eine Übersicht über die eigene Behandlung, aber auch Einsicht in Daten der einweisenden Ärzte und benutzereigene Geräte. Die Krankenkassen wiederum planen, dass der Patient bei Zugriff über das Portal seiner Versicherung seine Daten aus allen Versorgungsbereichen sieht. Der gleiche Anspruch gilt für das Telematiknetz und auch in der Wirtschaft. Apple arbeitet mit der Anwendung der Health Records an einem möglichst breiten Zugang zu Krankenhausdaten und anderen Daten (siehe Abschn. 25.5). Es bleibt abzuwarten, ob diese Entwicklung dazu führt, dass Patienten Zugang zu allen Daten durch unterschiedliche Portale haben oder ob Patienten nur inkomplette oder anwendungsspezifische Daten im jeweiligen Netz zur Verfügung gestellt werden. Zur Veranschaulichung der Konsequenzen des letztgenannten Szenarios soll folgendes Gedankenexperiment dienen: Man stelle sich eine vierköpfige Familie mit zwei pflegebedürftigen Elternteilen vor, in der ein Partner die Rolle des Care Managers der Familie übernimmt und beispielsweise für Terminvereinbarungen zu Gesundheitsleistungen, aber auch Entscheidungen zu Prävention und Therapie zuständig ist. Falls die Familie jeweils nur einen Leistungserbringer aus den stationären und ambulanten Sektor sowie eine kommerzielle Dienstleistung pro Person in Anspruch nimmt, dann hätte der zuständige Partner fünf parallele Netzwerke (Telematiknetz, Krankenkassennetze, ambulantes und stationäres Leistungserbringernetz, kommerzielle Dienstleistung zur Verwaltungen von Gesundheitsdaten) mit insgesamt 30 (fünf Netzaccounts

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für jedes der sechs Familienmitglieder) unterschiedlichen Datensätze zu verwalten. Enthalten die jeweiligen Netzwerke nur einen Teil der vorhandenen, persönlichen medizinischen Daten, müsste der familiäre Care Manager stets Überblick über 30 Datensätze behalten, um bestmöglich an Entscheidungen zur Versorgung teilzunehmen.

Die unstrukturierte, parallele Vernetzung könnte somit Patienten in der Verwaltung ihrer Gesundheitsdaten überfordern und verhindern, dass Patienten einen Mehrwert der Digitalisierung ihrer Daten gegenüber der aktuellen Situation wahrnehmen. Ob die angedachte Zertifizierung der elektronischen Gesundheitsakten der Krankenkassen und Krankenversicherungen als elektronische Patientenakte der gematik technisch gelingt, bleibt in Anbetracht der internationalen Erfahrungen bzgl. Interoperabilität abzuwarten (Grätzel von Grätz 2019; Bertelsmann Stiftung 2019). Die Akzeptanz der Versicherten für ein elektronisches Patientenaktensystem zu gewinnen, indem Ärzte und nicht sie selbst berechtigt sind, die Behandlungsrelevanz und somit Sichtbarkeit von Daten festzulegen, stellt eine weitere Herausforderung für die erfolgreiche Implementierung der Telematiklösung da (siehe Abschn. 25.2). Andererseits besteht für alle beteiligten Körperschaften, Organisationen und Unternehmen des Gesundheitswesens ein hohes Risiko von Fehlinvestitionen bzw. benötigten Mehrfachinvestitionen, um Systeme interoperabel zu halten. Jenseits von Investitionen in Informationssysteme und Software entsteht auch zusätzlicher Aufwand in der Pflege, Komplementierung, Prüfung und Nutzbarmachung von Datensätzen. Da medizinische Daten aus dem individuellen Behandlungsgeschehen als Grundlage für zahlreiche Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen genutzt werden sollen, werden in jedem Vernetzungsprojekt Leistungserbringer zur Bereitstellung der Behandlungsdaten aufgefordert. Die Ärzteseite bemängelt hier zu Recht die fehlende Vergütung (Abschn.  25.3, KVNO 2018), da sie folglich auch die Hauptlast der Datenbereitstellung zu tragen hat. Entscheidungsprozesse Im Versorgungsablauf werden vielfältige Daten generiert, die nicht nur für Entscheidungsprozesse in Bezug auf die individuelle medizinische Versorgung genutzt werden können, sondern auch für Entscheidungsprozesse im Bereich der Systemsteuerung und der internen Organisation von Leistungserbringern und Koordination entlang der Versorgungskette (siehe Abschn. 25.1). Interessanterweise folgen alle untersuchten Netze ausschließlich dem Dogma, den Patienten und seine individuelle Versorgung in den Mittelpunkt zu stellen. Den Patienten eine optimale Therapie zu bieten, die es ihm erlaubt sein persönliches Genesungspotenzial voll auszuschöpfen, ist sehr wünschenswert und nicht zu beanstanden. Jedoch sollten auch die beiden anderen grundlegenden Entscheidungsprozesse zur Organisation und Koordination von Leistungserbringern sowie zur Steuerung des Gesundheitswesens in die Planung der Vernetzung einbezogen werden. Das deutsche Gesundheitssystem ist aufgrund zahlreicher Faktoren (demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Innovationsdruck) einem Effizienz- und Effektivitätsdruck ausgesetzt. Das Robert-Koch-Institut benennt in der

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jüngsten Berichterstattung zur Gesundheit der Bevölkerung vielfältige Herausforderungen, die von der Reduktion von gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland, der Gewährleistung der Versorgung auf dem Land, der besseren Versorgung von seltenen Erkrankungen, der nachhaltigen Versorgung von chronischen und mentalen Erkrankungen und der angemessenen Versorgung einer alternden Bevölkerung reichen (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, RKI 2016). Es ist kaum vorstellbar, dass sinnvolle Lösungen für diese Herausforderungen gefunden werden können, die nicht einer soliden digitalen Infrastruktur bedürfen. Zudem gibt es schon heute vielfältige Verantwortungsbereiche in der Gesundheitsversorgung, die durch stringentes datenbasiertes Management, wesentlich verbessert werden können. Ein nicht alltäglicher, aber wichtiger Bereich ist hier z. B. Patientensicherheit und Patientenschutz vor Gewalttaten in der Pflege und im Krankenhaus. So setzen eine Empfehlung des Niedersächsischen Landtags, der im Rahmen der Mordserie an Patienten in Krankenhaus Oldenburg einen Sonderausschuss gebildet hat, ein datenbasiertes Frühwarnsystem durch Einführung von Unit-Dose-Verfahren zur individuellen Medikamentendosierung für jeden Patienten und retrospektive Kontrolle im Form von Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken im Krankenhaus voraus (Niedersächsischer Landtag 2016, S. 15 und S. 26–27). Nutzung verknüpfter Daten Verknüpfte Gesundheitsdaten im deutschen Gesundheitswesen werden unabhängig von dem Initiator der Vernetzung für typische Anwendungen genutzt, wie beispielsweise digitaler Impfpass, Notfallpass inklusive Notfallsticker, E-Rezept und Medikationsplan, Tagebuchfunktionen zur Dokumentation der Krankheits- und Therapieentwicklung (siehe Abschn. 25.2, Abschn. 25.3, Abschn. 25.4 und Abschn. 25.5). In Anbetracht dieser Nutzungsabsichten scheint Vernetzung mit der alleinigen Intention durchgeführt zu werden, die derzeitige Versorgung möglichst exakt in eine digitalisierte Zukunft zu übertragen. Derzeitige analoge bzw. semiautomatisierte Prozesse werden vollständig digitalisiert (siehe Abschn. 25.3 Einwilligungsdokumentation des Versicherten oder auch Abschn. 25.4 Versendung Arztbrief als PDF-Dokument per E-Mail). Der begrenzte Anspruch kann anhand der geplanten Lösungen zum Medikationsmanagement verdeutlicht werden. In der Regel sehen Vernetzungsprojekte aktuelle Anwendungen zu digitalen Verordnungen und Medikationsplänen vor, jedoch nicht zur besseren Information und Aufklärung des Patienten im Hinblick auf das Konzept der gemeinsamen Therapieentscheidungsfindung bzw. zur automatisierten Wechselwirkungsprüfung, Einnahmenerfassung oder gar personalisierten Dosierung bzw. Medikation. Zudem wird die Verknüpfung regelmäßig nur für spezielle Anwendungen geschaffen, sodass künftige weitere Anwendungen jeweils einer erneuten Aufbereitung und Verknüpfung von Daten bedürfen. Dieses Vorgehen verlangsamt nicht nur die Geschwindigkeit mit der Innovation implementiert wird, sondern erhöht auch den notwendigen Investitionsbedarf, da verknüpfte Daten nur begrenzt verwendet werden können. Zudem sollte die Erfahrung aus Estland beachtet werden. Denn Ärzte, die im Alltag überfordert sind und sich durch zahlreiche Menüs klicken, um den Gesundheitsstand des Patienten zu erfassen bzw. um die Patientenakte sinnvoll zu ergänzen, können

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kaum Vorteile aus der Digitalisierung der Versorgung ziehen. Die aufgezeigte Absicht der Regierung in Estland in Bezug auf Standardisierung der Dokumentation und Ausweitung der verfügbaren strukturierten Daten verdeutlicht (siehe Abschn.  25.6), dass eine reine anwendungsorientierte Vernetzung ohne langfristigen Aufbau einer tragfähigen Datenstruktur Qualitätssteigerungen und Effizienzgewinne in der Versorgung limitieren.

25.7.2 Strategische Konzeption Offene Standards, Semantische Vernetzung Die Gesundheitsversorgung und das Gesundheitswesen werden zudem in der jüngsten strategischen Positionierung der Bundesregierung zur Künstlichen Intelligenz prominent berücksichtigt. So sieht die Bundesregierung ein großes Potenzial für die individuelle Krankenversorgung, Digitalisierung und Automatisierung der Pflege mit robotischen Systemen sowie die Verbesserung von Versorgungsprozessen (Bundesregierung 2018). Um diese Entwicklungen in Deutschland zu fördern, möchte die Bundesregierung einen entsprechenden juristischen Ordnungsrahmen für die digitale Gesundheitswirtschaft schaffen. Indem u. a. • die Entwicklung von Standards für Datenformate und Schnittstellen gefördert und eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene forciert wird (Bundesregierung 2018), • die Forschung an modernen Pseudonymisierungs- und Anonymisierungsverfahren sowie die Forschung zur  Erstellung synthetischer Trainingsdaten („differential privacy“) und zur Bereitstellung von Daten der öffentlichen Hand und der Wissenschaft ermöglicht werden (Bundesregierung 2018), • die datenschutzkonforme Erschließung der durch Zusammenführung aus unterschiedlichen Quellen entstehenden Daten unterstützt werden sollen unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Patientinnen und  Patienten (Bundesregierung 2018), • regulatorische Expertise frühzeitig in KI-Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten eingebunden wird (Bundesregierung 2018), • Förderung von Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogrammen in Bezug auf Künstliche Intelligenz für Mitarbeiter des Gesundheitswesens (Bundesregierung 2018). In Anbetracht solcher potenziellen Anwendungen erscheint es dringend angemessen, auch die semantische Vernetzung des Gesundheitswesens in Deutschland zu prüfen und aktiv im Sinne der gewünschten Versorgung zu steuern. Dies bedarf nicht nur einer grundlegenden Überprüfung von Dokumentationsvorgaben und Klassifikationssysteme, wie z. B. ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und SNOMED (Systematized Nomenclature of Human and Veterinary Medicine  – Clinical Terms), sondern auch eine Erhöhung der verpflichtenden Anwendung dieser Vorgaben und Systeme. Darüber hinaus sind offene Standards in Bezug zur Vernetzung unterschiedlicher

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IT-Systeme notwendig. Diese Notwendigkeit wird mittlerweile von der Industrie anerkannt und auch eingefordert (vgl. offener Brief Amazon, Google, IBM, Microsoft, Oracle und Salesforce – Thun und Lehne 2019). International Vernetzen Die bisherige Konzeption der Vernetzung in Deutschland berücksichtigt vorhandene internationale Erfahrungen zur digitalen Transformation nur sehr limitiert. So lässt die estnische Erfahrung schlussfolgern, dass ein einmal gut durchdachtes Konzept zur Vernetzung mit einer stringenten, staatlichen Steuerung zu einer zügigen und sehr kosteneffizienten Transformation führen kann (siehe Abschn. 25.6). Die Entwicklungen in Kanada und Dänemark zeigen wiederum, dass auch anfängliche Schwierigkeiten und ein starkes, föderales System nicht unvereinbar mit einer dauerhaft erfolgreichen Transformation sind (Abschn. 25.6). Allerdings erscheint eine parallele, nicht interoperable Vernetzung nachteilig, sodass auch Dänemark die Anzahl der verschiedenen elektronischen Patientenaktensysteme begrenzt hat, während in Kanada die Investitionen in die Digitalisierung ­aktuell zu den höchsten der Welt gehören (siehe Abschn.  25.6; Bertelsmann Stiftung 2018). Auch haben die betrachteten Länder häufig organisatorische und disziplinarische Lösungen zur Gewährung von Datenautonomie und Schutz vor unberechtigten Datenzugriff entwickelt. Im Rahmen des Telematiknetzes werden jedoch häufig aufwendige, technische Lösungen für die gleichen Fragestellungen angestrebt. Weiterhin wird durch zusätzliche Anforderungen eine direkte Übertragung ausländischer Lösungen verhindert (siehe Abschn. 25.2). Im Sinne einer nachhaltigen, effektiven und innovativen Entwicklung wäre es jedoch förderlich, direkt an internationalen Innovationen partizipieren und auch zu internationalen Innovationen beisteuern zu können. Das Vernetzungsprojekt der Europäischen Union, genannt eHealth Digital Service Infrastructure (eHDSI), soll bis zum Jahr 2022 zum Austausch von elektronischen Patientenkurzakten und elektronischen Verordnungen zwischen 18 Mitgliedsstaaten führen (EU Kommission 2019c). Es ist zu erwarten, dass dies auch zu einer Festigung von Standards führen wird. Der Implementierungsplan von eHDSI sieht aktuell vor, dass Deutschland den Austausch elektronischer Patientenkurzakten im Jahr 2020 ermöglicht. Die Beteiligung am Austausch elektronischer Rezepte auf europäischer Ebene ist für Deutschland nicht mehr im Rahmen des aktuellen Implementierungsplans bis zum Ende des 2021 vorgesehen (EU Kommission 2019c). Leitbild Digitalisierung Gesundheitswesen und Verwaltung Die Analyse der Vernetzung in Deutschland (Abschn. 25.2, Abschn. 25.3, Abschn. 25.4, und Abschn. 25.5) hat gerade im Vergleich zur internationalen Erfahrung den Mangel an einem differenzierten, digitalen Leitbild und Ziele der Vernetzung für das deutsche Gesundheitswesen offenbart. Aufgrund des generellen Fehlens einer Vision sowie konzeptionellen Infrastruktur zur digitalen Verwaltung in Deutschland, können nur wenige vorhandene Grundlagen auf die Vernetzung im Gesundheitswesen übertragen werden. So gibt es keinen allgemeinen Standard zur System-Anmeldung (Log-in) von deutschen Bürgern zur

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Nutzung von staatlichen, digitalen Serviceleistungen. Dies ist in anderen Ländern bereits gegeben (vgl. Abschn. 25.6, Estland und Dänemark).

25.7.3 Operative Begleitung Governance – Strukturen für kontinuierliche Entscheidungsfindung und Überprüfung Die internationale Erfahrung aus Estland, Kanada und Dänemark hat gezeigt, dass erfolgreiche Gesundheitssysteme entscheidungsfähige Institutionen und solide Prozesse zur Begleitung der Implementation benötigen. In Deutschland fehlt eine Institution, die Zielsetzungen für alle Ansätze der Vernetzung im Gesundheitswesen festlegt und die Umsetzung prüft. Jedoch ist aufgrund der ständigen technischen Weiterentwicklung und der absehbaren, mangelhaften Vernetzung eine ständige Begleitung der Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen notwendig. Administrative und wissenschaftliche Begleitung der Vernetzung Zu den vorgestellten Vernetzungsansätzen in Deutschland (Telematik, Krankenkassen, Leistungserbringer, Unternehmen und Konsumenten; siehe Abschn.  25.2, Abschn.  25.3, Abschn. 25.4, und Abschn. 25.5), ist einzig die Vernetzung der Telematik ausführlich dokumentiert. Jedoch ist das Netz der Telematik noch nicht implementiert, sodass sich Analysen zurzeit nur auf die Planungsvorgaben beziehen können. Alle anderen beschriebenen Varianten der Vernetzung sind nur rudimentär wissenschaftlich erforscht. Vorhandene Analysen beruhen oft auf Expertenbefragungen. Dies führt zu deskriptiven und nur in seltenen Fällen auch zu analytischen Veröffentlichungen, aufgrund der mangelnden Vergleichbarkeit der Expertise und der Nachvollziehbarkeit des Zahlenmaterials. Trotz der zuvor beschriebenen Herausforderungen bleibt zu hoffen, dass die Vernetzung im Gesundheitswesen künftig intensiv von zahlreichen Fachbereichen wissenschaftlich begleitet wird, da sowohl die operative Vernetzung selbst, als auch potenzielle Anwendungen zu wesentlichen Fragestellungen führen. Die große Bandbreite des fehlenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konsenses kann anhand der folgenden Fragen verdeutlicht werden: • Sollen Mehrkosten aufgrund von wiederholten Untersuchungen Patienten, die keine Einwilligung zur Einsicht Ihrer Daten gegeben haben, in Rechnung gestellt werden? • Wie kann der Einfluss der Art und Weise der Vernetzung auf die Qualität der Versorgung nachgewiesen werden und Patienten nachvollziehbar vermittelt werden? • Stellen verhaltensbeeinflussende Maßnahmen Eingriffe in die Souveränität des Einzelnen dar und wie kann Diskriminierung auf Basis von Algorithmen vermieden werden? Welche Nachweise sollten Hersteller erbringen müssen? Jenseits der wissenschaftlichen Begleitung der Vernetzung, ist auch eine öffentlich zugängliche administrative Begleitung notwendig. Jedoch führt auch hier die geringe Erfah-

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rung im Bereich der digitalen Verwaltung dazu, dass Steuerungsmöglichkeiten der Vernetzung seitens der Selbstverwaltung und anderen staatlichen Akteuren nur limitiert mitgedacht werden. Dies wird durch fehlende Vorgaben in Bezug auf Berichtsverpflichtungen (z. B. zu Cyberangriffen oder schlicht Nutzungsdaten) und verbindlichen Messkriterien deutlich.

25.8 Schlussbetrachtung In Deutschland findet die Vernetzung des Gesundheitswesens in vielen parallelen Netzwerken, mit unterschiedlichen Folgen für die Patienten, Krankenkassen, Leistungserbringer und andere Teilnehmer im Gesundheitswesen statt. Generell scheint Vernetzung mit der Intention durchgeführt zu werden, die derzeitige Versorgung möglichst exakt in eine digitalisierte Zukunft zu übertragen. Es geht also häufig darum, analoge bzw. semiautomatisierte Prozesse vollständig zu digitalisieren (siehe Abschn. 25.3 Einwilligungsdokumentation des Versicherten oder auch Abschn.  25.4 Versendung Arztbrief als PDF-­ Dokument per E-Mail). Diese Ambition erscheint gemessen an dem Potenzial der Digitalisierung kurzfristig und gering. Das Gesundheitssystem ist aufgrund zahlreicher Faktoren (demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Innovationsdruck) einem Effizienzund Effektivitätsdruck ausgesetzt und muss – auch bei einem guten allgemeinen Versorgungsniveau  – adäquate Antworten auf komplexe Aufgabestellungen finden. Allein die Bandbreite der gegenwärtig diskutierten Herausforderungen des Gesundheitswesens in Deutschland wie die Reduktion von gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland, die Gewährleistung der Versorgung auf dem Land, die bessere Versorgung von seltenen Erkrankungen, die nachhaltige Versorgung von chronischen und mentalen Erkrankungen, die angemessene Versorgung einer alternden Bevölkerung ist beachtlich (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, RKI 2016). Verknüpften Daten im Gesundheitswesen als Grundlage für den Einsatz von künstlicher Intelligenz wird eine große Bedeutung zur Lösung dieser Aufgaben zugeschrieben (Bundesregierung 2018). Es bedarf einer durchdachten Konzeption der Vernetzung unter Beachtung der internationalen Entwicklung sowie einer kontinuierlichen Begleitung der Vernetzung, um verknüpfte Daten künftig zur Lösung dieser Herausforderungen einzusetzen (Abschn. 25.7).

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Anisa Idris,  Dipl.-Kff., M.Sc. Economics & Business Administration, M.Sc. Public Health, LL.M., ist als Head of Market Access bei der Ada Health GmbH für die weltweite Planung und Durchführung der Erstattung zuständig. . Sie verfügt über 15 Jahre Erfahrung im Pharmamanagement. Zuvor hat sie als Director for Digital Innovation & Performance die strategische Ausrichtung aller digitalen Aktivitäten der einzelnen Novartis Pharma Landesgesellschaften in der Region Europa der Novartis Pharma AG verantwortet sowie u.a. das Healthcare-Management-Vertragswesen der Novartis Pharma in Deutschland geleitet. Anisa Idris hat ein betriebswirtschaftliches Studium an der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung in Vallendar, Deutschland, absolviert und mit einem Aufbaustudium Öffentliches Gesundheitswesen an der University of London/London School of Hygiene & Tropical Medicine ergänzt. Zuletzt absolvierte Anisa Idris einen Masterstudiengang Medizinrecht an der JurGrad gGmbH der Universität Münster.

Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten innovativen Behandlung am Beispiel des Diabetes mellitus Typ 1 und 2

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Astrid Loßin und Birte Schöpke

Inhaltsverzeichnis 26.1  Einleitung  26.2  Diabetes mellitus  26.3  Vernetzung bei Diabetes  26.4  Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte  26.5  Der Beitrag der Gesundheitskarte zur Vernetzung bei Diabetes mellitus  26.6  Kritik  26.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung mit hoher Komplikationsrate. Deshalb ist es meist unabdingbar, dass verschiedene Leistungserbringer bei der Behandlung Betroffener zusammenarbeiten. Eine große Anzahl an Behandlern ist allerdings einhergehend mit einer großen Anzahl an Schnittstellen, die die Behandlungsqualität negativ beeinflussen können. Um Schnittstellenprobleme zu minimieren und Vernetzung voranzutreiben, werden verschiedene Maßnahmen getroffen. Hervorzuheben sind hier integrierte Versorgung und die Disease-Managementprogramme für Diabetes mellitus Typ 1 und 2. Einen weiteren Beitrag zur Vernetzung könnte die elektronische Gesundheitskarte mit ihren vielfältigen bisher ungenutzten Funktionen liefern. Zusammen mit dem bestehenden Disease-Managementprogramm könnte sie eine standardisierte und gut vernetzte Behandlung unterstützen. Datenschutzbedenken und mangelnde Akzeptanz bei Leistungserbringern verhindern dies jedoch bisher. A. Loßin (*) · B. Schöpke APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft GmbH, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_26

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26.1 Einleitung Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte galt einst als Flaggschiff der digitalen Innovationen in der Gesundheitswirtschaft und wurde jahrelang erwartet. Damit verbunden war und ist die Hoffnung, dass sich die Bündelung von Patientendaten positiv auf die Versorgung der Patienten auswirkt, da Mehrfachuntersuchungen vermieden werden und sich Wechsel- und Nebenwirkungen bei der Medikation vermeiden ließen, wenn alle an der Behandlung eines Patienten beteiligten Leistungserbringer Zugriff auf alle Daten hätten. Dies ist mit der elektronischen Gesundheitskarte möglich. Ergänzend könnten auf diese auch darüberhinausgehend Daten gespeichert werden, die die Lebensweise des Erkrankten betreffen. Diabetes Typ 2 lässt sich durch eine gesunde Lebensweise beeinflussen. Hierbei können auch technische Neuerungen wie Wearables genutzt werden, um die Betroffenen zu einer gesünderen Lebensweise, d. h. zu mehr Bewegung und gesünderem Essen, zu animieren. Dies wiederum kann zu einer Reduzierung der benötigten Medikamente führen (Andelfinger 2016). Auch können Daten von Blutzuckermessgeräten an den behandelnden Arzt weitergegeben werden, der dadurch ergänzende Informationen erhält (Schumacher 2016), wie es z. B. beim telediabetischen System ESYSTA® der Fall ist (Burchert et al. 2013, 2017). Der vorliegende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die chronische Erkrankung Diabetes mellitus und über bereits bestehende Möglichkeiten zur Vernetzung von Leistungserbringern zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Diabetespatienten. Nach einem kurzen historischen Abriss zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte werden die Funktionen dargestellt, die technisch möglich sind, um die Versorgung von Diabetespatienten zu verbessern. Den Abschluss bildet ein kritisches Resümee zu Hinderungsgründen.

26.2 Diabetes mellitus Der Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, die medizinisch und volkswirtschaftlich mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei rund 10 % (Tamayo et al. 2016). Es handelt sich um eine endokrine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse, bei der die insulinproduzierenden β-Zellen der Langerhans’schen Inseln in der Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion ganz oder teilweise einstellen oder die Körperzellen auf das Insulin nicht mehr reagieren. Insulin setzt an Zellrezeptoren an und ermöglicht dadurch den Übertritt von Glukose aus dem Blut in die Körperzellen. Sind diese insulinresistent oder wird von den β-Zellen zu wenig oder kein Insulin produziert, sammelt sich die Glukose in den Blutgefäßen und führt zu massiver Erhöhung des B ­ lutzuckerspiegels. Handelt es sich um einen autoimmun bedingten Niedergang der β-Zellen, spricht man von einem Diabetes mellitus Typ 1. Von einem Diabetes mellitus Typ 2 spricht man, wenn die Insulinproduktion schleichend nachlässt, oft aufgrund von zusätzlichen Belastungen,

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denen der Körper ausgesetzt ist, wie z. B. Fehlernährung, Übergewicht, Herz-­Kreislauf-­ Erkrankungen, Bewegungsmangel. Auch eine Insulinresistenz der Körperzellen fällt unter den Oberbegriff des Diabetes mellitus Typ 2. Nur eine geringe Bedeutung – gemessen an der Häufigkeit des Diabetes mellitus – haben andere Entstehungsgründe des Diabetes mellitus, so z. B. ein Diabetes mellitus durch eine Überdosierung mit Steroiden. In Deutschland leiden rund 90 % der Diabetiker an einem Diabetes mellitus Typ 2 (Lenzen 2011). Er kann zwar grundsätzlich schon in jüngeren Jahren entstehen, hat seinen Erkrankungsgipfel aber im Alter von ca. 80 Jahren und wird daher vielfach als „Altersdiabetes“ bezeichnet. Der Diabetes mellitus Typ 1 dagegen macht rund 10 % der Diabeteserkrankungen aus und manifestiert sich meist im Kinder- oder Jugendalter. Die Inzidenz steigt bei Kindern je Lebensjahr um ca. 3  % an. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen 13 und 19 Jahren (Badenhoop et al. 2011). Der volkswirtschaftliche Schaden, den diese Erkrankung anrichtet, ist immens. Sie macht allein 2,4 % der Krankheitskosten (Der Begriff „Krankheitskosten“ beinhaltet hier gemäß der Definition von RKI und Statistischem Bundesamt die gesamten direkten Krankheitskosten sowie den Anteil der indirekten Krankheitskosten, der durch Erwerbsunfähigkeit oder Minderung der Erwerbsfähigkeit des Erkrankten hervorgerufen wird. Opportunitätskosten pflegender Angehöriger beispielsweise bleiben bei diesem Ansatz unberücksichtigt.) in Deutschland aus und verschlingt damit mindestens 5,6 Mrd. € jährlich (RKI 2009). Umso wichtiger ist es, dass die Institutionen, die die Erkrankten therapieren und betreuen, Hand in Hand arbeiten, um die Behandlungsqualität zu optimieren und wirtschaftlichen Schaden durch Doppelbehandlungen und Schnittstellenprobleme zu vermeiden. Eine wesentliche Rolle spielt hier der Diabetes Typ 2, der aufgrund der Zunahme des metabolischen Syndroms in der Bevölkerung einen immer höheren Stellenwert erreicht. Der Diabetes kann daher zu Recht als Volkskrankheit bezeichnet werden. Mit stetigem Fortgang des medizinisch-technischen Fortschritts entstehen ständig neue Behandlungsoptionen für die Erkrankung selbst und für die mannigfaltigen Komplikationen, die von der Grunderkrankung hervorgerufen werden. Gemäß einer Studie von King et al. (1998) wird sich die Anzahl der Diabetespatienten weltweit von ca. 150 Mio. im Jahr 2000 auf ca. 300 Mio. im Jahr 2025 verdoppeln. Die weltweite Prävalenz stiege damit unter Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung von 4  % auf 5,4  %. Laut neueren Schätzungen der International Diabetes Federation (2017) sind im Jahr 2017 415 Mio. Diabetespatienten im Alter zwischen 20 und 79 Jahren zu verzeichnen, also noch deutlich mehr Menschen als 1998 von King et al. angenommen, mit weiter steigender Tendenz.

26.3 Vernetzung bei Diabetes Die Vielzahl von möglichen Komplikationen – wie Nephropathie, Angiopathie, Polyneuropathie, Retinopathie, diabetisches Fußsyndrom etc. – und die vielen verschiedenen Therapieoptionen machen das Krankheitsbild des Diabetes mellitus unübersichtlich. Wenn meh-

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rere Leistungserbringer an der Behandlung und Pflege eines Patienten beteiligt sind, ergeben sich zusätzlich Schnittstellenprobleme bezüglich der durchzuführenden Diagnostik und Therapie. Vielschichtige Krankheitsbilder führen zur Konsultation verschiedener Ärzte und anderer Gesundheitsinstitutionen durch den Patienten. Ein besonderes Problem stellen in diesem Zusammenhang unerwünschte Wechselwirkungen der durch unterschiedliche Institutionen verschriebenen Medikamente dar (Griese et al. 2006). Außerdem erfolgen Doppeldiagnostik und Doppelmedikation, die dem Patienten oft selbst nicht auffällt, wenn derselbe Wirkstoff unter verschiedenen Präparatenamen von verschiedenen Ärzten verschrieben wird. Einerseits ist es bei schlechter Stoffwechsellage und/oder vielen Komplikationen notwendig, dass Ärzte verschiedener Fachrichtungen und Gesundheitsinstitutionen zusammenarbeiten, andererseits gilt wie sooft der Spruch: „Viele Köche verderben den Brei.“ Um die Schnittstellenprobleme abzufedern, gibt es verschiedene Ansätze der integrierten Versorgung, deren Grundgedanke eine Verbesserung der Vernetzung von Leistungs­ erbringern ist. Die Idee der integrierten Versorgung folgt den Grundsätzen von ameri­ kanischen Managed-Care-Programmen. „Bei Managed Care wird der Patient bei der Versorgung mit Gesundheitsleistungen durch ein Netz von Leistungsanbietern, unter Beachtung von Aspekten der Qualität, der Kosteneffizienz und der Integration der Leistungserbringung geführt“ (Haubrock et  al. 2000). Ebenso soll die integrierte Versorgung die fragmentierte Patientenversorgung durch eine bessere Verzahnung von Leistungserbringern ablösen. Dies soll über Direktverträge zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern geschehen (Sterly und Hasseler 2015). Für integrierte Versorgungsverträge war bis 2008 eine Anschubfinanzierung vorgesehen, die diese ökonomisch interessant machte, weil sie außerhalb des Budgets gezahlt wurde. Die Teilnahme der Versicherten an der integrierten Versorgung ist freiwillig (Rachold 2000; Sterly und Hasseler 2015). „Die Kommunikation der Leistungserbringer wird durch die Vernetzung und die Vereinbarung eines verbindlichen Handlungsrahmens vereinheitlicht und transparenter, sodass alle an der Versorgung beteiligten Disziplinen und Sektoren über die Gesundheitsversorgung der eingeschriebenen Versicherten informiert sind“ (Sterly und Hasseler 2015). Insbesondere in der Anfangszeit wurden integrierte Versorgungsverträge abgeschlossen, die das Prädikat „integriert“ nicht verdienten. Es waren oftmals nur bilaterale Selektivverträge, deren einziger Sinn es war, die Vergütung aus der Anschubfinanzierung zu erhalten. Integrierte Versorgungsformen teilen sich in die indikationsspezifische integrierte Versorgung und in die nichtindikationsspezifische integrierte Versorgung. „Die indikationsspezifische Versorgung bezieht sich auf Patienten mit speziellen chronischen Erkrankungen und versorgungsintensiven Krankheiten“ (Sterly und Hasseler 2015). Die nachfolgend behandelten Disease-Managementprogramme sind Bestandteil der indikationsspezifischen integrierten Versorgung. Nicht indikationsspezifische integrierte Versorgung ist meist regional ausgerichtet und soll eine (möglichst) umfassende medizinische Versorgung der Bevölkerung eines bestimmten Gebiets sichern. Eine weitere Differenzierung ist möglich zwischen horizontaler und vertikaler inte­ grierter Versorgung. Die vertikale integrierte Versorgung umfasst mehrere Leistungserbringer über verschiedene Sektoren, wie z. B. ambulante und stationäre Behandlung, Rehabi-

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litation, Pflege. Sie ist die häufigste Form der integrierten Versorgung und soll im besten Fall ganze Versorgungsketten bereitstellen (Sterly und Hasseler 2015). Die horizontale integrierte Versorgung hingegen soll die prozessorientierte Versorgung innerhalb eines Sektors gewährleisten. Ein Beispiel eines regionalen indikationsspezifischen vertikalen integrierten Versorgungsprogramms ist das „Netzwerk Diabetischer Fuß Köln und Umgebung e.  V.“. „In Köln und Umgebung haben sich im Jahre 2002 Ärzte aus Kliniken und Praxen mit dem Ziel der besseren Behandlung und Prophylaxe des diabetischen Fußsyndroms zu einem Netzwerk zusammengeschlossen. Die Therapie erfolgte nach einer gemeinsamen, am europäischen Konsensus angelehnten Leitlinie. Stationäre Aufenthalte wurden häufig vermieden oder abgekürzt. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass ein Netzwerk für Menschen mit diabetischem Fußsyndrom in der Lage ist, ungünstige Krankheitsverläufe und teure Behandlungen zu reduzieren“ (Hochlenert et al. 2006). Das Netzwerk existiert auch heute noch (Netzwerk diabetischer Fuß Köln und Umgebung e. V. 2019). Disease-Managementprogramme können als indikationsbezogene integrierte Versorgungsprogramme verstanden werden (Richter 2015). Sie eignen sich besonders für schwerwiegende, chronische und sehr kostenträchtige Erkrankungen und bieten den eingeschriebenen Patienten eine standardisierte Behandlung mit festen Qualitätsanforderungen und Ausrichtung an evidenzbasierten Leitlinien. Die Teilnahme der Versicherten an Disease-Managementprogrammen ist freiwillig. Die Krankenversicherungen erhalten für jeden Teilnehmer eine Programmkostenpauschale pro Versicherten (KBV 2019) aus dem Gesundheitsfonds zusätzlich zu den morbiditätsorientierten Zahlungen für Versicherte mit Diabetes mellitus. Diverse Krankheitsdaten der Teilnehmer werden regelmäßig erfasst und als flächendeckende unkontrollierte Kohortenstudie ausgewertet. Die Evaluation wird kassen- und regionenspezifisch durchgeführt. Es gibt deshalb für jedes Disease-Managementprogramm eine Vielzahl nur begrenzt kompatibler Evaluationsberichte (van Lente 2011). Zusätzlich existiert eine Dokumentation und Evaluation krankheitsspezifischer Daten. Beispielsweise werden hier Spätfolgen und sogenannte „relevante Ereignisse“ dokumentiert und anschließend evaluiert. So lässt sich feststellen, ob das Disease Managementprogramm zu einer Abnahme der Komplikationen im Zeitverlauf führt (Köhler et al. 2012). Auch wenn Disease-Managementprogramme zur Vernetzung der Diabetesbehandlung beitragen sollen, ist es vor allem die strukturierte und standardisierte Behandlung, die diese Programme ausmacht. Sie können nicht verhindern, dass die Leistungserbringer sich zwar ­leitliniengerecht verhalten und ihre Evaluationen abgeben, aber ansonsten jeweils „ihr eigenes Süppchen kochen“. Der Beitrag zur Vernetzung ist deshalb hierbei bisher leider begrenzt.

26.4 Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte Nach langem Ringen und ständigem Verschieben des Einführungstermins sind seit dem 1. Januar 2015 alle Krankenversichertenkarten durch elektronische Gesundheitskarten ersetzt worden. Die Projektleitung der Konzeption der Gesundheitskarte liegt bei der Gesellschaft

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A. Loßin und B. Schöpke

Tab. 26.1  Fahrplan für die Gesundheitskarte. (Quelle: Eigene Zusammenstellung) 2003

Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung als Basis für die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte 2005 Gründung der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik) 2008/2009 Ausgabe der ersten Kartenterminals und der ersten elektronischen Gesundheitskarten in der Durchstichregion Nordrhein (Duttke und Dochow 2009; Krüger-Brand 2009) 2011 Erstmalige reguläre Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte durch die Krankenkassen, die gemäß GKV-Finanzierungsgesetz dazu verpflichtet werden, bis Ende 2011 mindestens 10 % ihrer Mitglieder mit der elektronischen Gesundheitskarte auszustatten, ansonsten droht Kürzung der Verwaltungskostenerstattung 2012 Gemäß GKV-Versorgungsstrukturgesetz Verwaltungsausgabenkürzung für alle gesetzlichen Krankenkassen, die zum Jahresende nicht mindestens 70 % ihrer Mitglieder mit einer elektronischen Gesundheitskarte versorgt haben 2015 Flächendeckende Einführung der elektronischen Gesundheitskarte 2016 E-Health-Gesetz tritt in Kraft und bestärkt die Bedeutung der Telematik in der Medizin und Gesundheitswirtschaft 2018 Elektronische Gesundheitskarten der ersten Generation werden gegen elektronische Gesundheitskarten der zweiten Generation ausgetauscht 2019 Erste Anwendung von elektronischem Medikationsplan, elektronischer Speicherung von Notfalldaten und elektronischer Patientenakte geplant (Deutscher Bundestag 2018)

für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (gematik). Als Pflichtdaten sind auf der Gesundheitskarte alle administrativen Daten sowie ein Lichtbild gespeichert. Derzeit ist geplant, weitere Speicherfunktionen nach und nach einzuführen, wie Tab. 26.1 zeigt. Bisher sieht es nicht so aus, als käme die Anwendung von elektronischem Medikationsplan, elektronischer Notfalldatenspeicherung und elektronischer Patientenakte gut voran. Das im Dezember 2018 im Bundestag vorgestellte Terminservice- und Versorgungsgesetz (2018) sollte dieses Anliegen voranbringen. Es soll die gesetzlichen Krankenversicherungen verpflichten, ihren Versicherten ab spätestens 2021 die lang geplante Innovation einer elektronischen Patientenakten anzubieten, in denen ihre Patientendaten gespeichert werden können und auf die sie mithilfe ihrer elektronischen Gesundheitskarte Zugriff haben. Es bliebe dann abzuwarten, inwiefern Ärzte und Patienten die elektronische Patientenakte nutzen werden, deren praktische Einführung ohnehin wegen Datenschutzbedenken verschoben wurde. Gemäß einer gemeinsamen Studie von Hartmannbund und Bitkom (Hartmannbund 2017) ist die Affinität der niedergelassenen Ärzte zu digitalen Vernetzungsformen nicht sehr groß, wie Abb. 26.1 zeigt. Grund dafür dürfte nicht in jedem Fall nur mangelndes Interesse an digitalem Datenaustausch sein, sondern vor allem auch in vielen Fällen die Notwendigkeit zügiger Abklärung von Diagnosen und Therapien für die Patienten. Die Antwort auf eine Frage an einen mitbehandelnden Arzt erhält man am Telefon sofort und möglicherweise noch während der Anwesenheit des betroffenen Patienten. Auf die Antwort auf eine an den mitbehandelnden Arzt versendete E-Mail muss unter Umständen mehrere Tage gewartet werden.

26  Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten … 485 Kontaktaufnahme mit … durch … in Prozent

60 50 40 30 20 10 0

Krankenkassen

Arztpraxen Brief

Fax

Pa enten Mail

Apotheken

An 100 fehlende Prozent: Telefon oder k.A.

Abb. 26.1  Digitale und analoge Kontaktaufnahme durch niedergelassene Ärzte. (Quelle: Hartmannbund 2017)

Insgesamt 34 % der befragten niedergelassenen Ärzte gaben zudem an, ihre Patientenakten noch in Papierform (als Karteiklappkarten) zu führen. Immerhin schätzen aber 69 % der befragten niedergelassenen Ärzte, dass aus ihrer Sicht die Chancen der Digitalisierung gegenüber deren Risiken überwiegen.

26.5 D  er Beitrag der Gesundheitskarte zur Vernetzung bei Diabetes mellitus Auf der elektronischen Gesundheitskarte können neben den Personendaten noch viele weitere Daten gespeichert werden: Arztbriefe, Medikamentenlisten, Diagnosen. Sie eröffnet zudem den Zugang zur kompletten elektronischen Patientenakte (vgl. Abb. 26.2). Datenschützer misstrauen der Sicherheit dieser Daten. Aufgrund fehlender Konnektoren, mangelnder Kompatibilität der Daten und mangelnder Teilnahmebereitschaft der Leistungserbringer wird diese Speicher- und Abruffunktion bisher nicht genutzt. Sie böte tatsächlich die Möglichkeit, die kompletten Patientendaten allen behandelnden Ärzten (nach Autorisation durch den Patienten) zugänglich zu machen und könnte damit entscheidend zur Vernetzung der Leistungserbringer beitragen, wenn sie von allen konsequent genutzt würde. Das elektronische Patientenfach, zu dem die elektronische Gesundheitskarte Zugang gewährt, böte Diabetikern die Möglichkeit, die Ergebnisse eigener Blutzuckermessungen und Ernährungstagebücher zu archivieren und den behandelnden Ärzten zugänglich zu machen. Erhoben werden könnten diese mithilfe eines Blutzuckermessgerätes und einer Ernährungstagebuch-App, welche die Daten im Smartphone speichert und regelmäßig an die behandelnden Ärzte überträgt. Diese hätten dann über einen Zugriff auf das Datennetz

486

A. Loßin und B. Schöpke

Leistungserbringer kann mit Heilberufeausweis auf elektronische Pa entenakte zugreifen Versicherter kann auf elektronischer Gesundheitsakte Zugriffsrechte auf seine Daten festlegen

Zugriff Krankenhaus auf elektronische Pa entenakte

Zugriff ärztlicher Leistungserbringer auf elektronische Pa entenakte

Zugriff Apotheke auf elektronische Pa entenakte

Sicheres Datennetz Versicherter hat Zugriff auf seine eigenen Daten im Sinne einer elektronischen Gesundheitsakte

In sein elektronisches Posach kann der Versicherte eigenständig Daten hochladen.

Zugriff Pflege- und Reha-Einrichtungen

Abb. 26.2  Zusammenspiel einzelner Lösungen im digitalen Gesundheitswesen. (Quelle: In Anlehnung an Siemens Betriebskrankenkasse 2018)

die Möglichkeit, Blutzuckerdaten und Ernährung des Patienten miteinander abzugleichen, ohne dass der Patient tatsächlich physisch anwesend sein muss. Außerdem könnten sich verschiedene Ärzte untereinander über diese Patientendaten digital absprechen. Es bestünde außerdem die Möglichkeit, im elektronischen Patientenfach seitens des Patienten Fragen an die behandelnden Ärzte abzulegen, für deren Klärung keine Inaugenscheinnahme des Patienten nötig ist. Das Herzstück der Telematikinfrastruktur der elektronischen Gesundheitskarte ist die elektronische Patientenakte. Bei Einführung dieser Innovation böte diese allen behandelnden Ärzten einen Zugriff auf die Daten aller anderen behandelnden Ärzte eines Patienten. Diabetes mellitus Typ 2 ist eine Erkrankung, die oftmals in höherem Alter gemeinsamen mit weiteren Erkrankungen  – insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen  – einhergeht und viele Komplikationen nach sich zieht. Die Patienten unterliegen daher meist einer Polypharmakotherapie (Coca und Nink 2010), die Wechselwirkungen und Nebenwirkungen nach sich zieht (vgl. Tab. 26.2). Diese entstehen oft ungewollt durch Fehl- und Doppelmedikation bzw. durch Verordnungen, die untereinander kontraindiziert sind. Auf die Medikamentenlisten der elektronischen Patientenakte hätten alle behandelnden Ärzte Zugriff. Vor Verordnung eines neuen Medikamentes könnten Ärzte dort nachsehen, ob bereits eines mit ähnlichem oder gleichem Wirkstoff oder ein kontraindiziertes Präparat anderweitig verschrieben wurde. Technisch ist auch denkbar, dass bei Eingabe eines neuen ­Medikaments ein Abgleich mittels einer Medikamentendatenbank durchgeführt wird und der eingebende Arzt auf mögliche Wechsel- und Nebenwirkungen sowie vorliegende Doppelmedikation automatisch hingewiesen wird. Diabetespatienten würde daher die Patientenakte sehr zugute kommen. Die Problematik der Doppeldiagnostik und -medikation sowie der Verabreichung von wechselwirkungsträchtigen Medikamenten ließe sich durch

26  Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten … 487 Tab. 26.2  Beispiele für Wechselwirkungen mit oralen Antidiabetika. (Quelle: Griese et al. 2006) Wirkstoff A Glitazone Repaglinid Metformin Antidiabetikum Antidiabetikum Glinid

Wirkstoff B Insulin Gemfibrozil

Jodierte Röntgenkontrastmittel Salicylat Systemisches Glucocorticoid Nicht-kardioselektiver Beta-­ Blocker Antidiabetikum ACE-Hemmer Sulfonylharnstoff Tetrazyklin Antidiabetikum Calciumantagonist

Wechselwirkung Gefahr für Herzinsuffizienz steigt Blutzuckerspiegel sinkt, Hypoglykämiegefahr Lektatazidosegefahr Blutzuckerspiegel sinkt Blutzuckerspiegel steigt Verstärkung von Hypoglykämien Blutzuckerspiegel sinkt Blutzuckerspiegel sinkt Blutzuckerspiegel steigt

die Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte als Speicher von und Zugriffsmedium auf Patientendaten komplett vermeiden. Die elektronische Patientenakte gäbe allen behandelnden Ärzten die Möglichkeit, den Krankheitsverlauf über die Zeit und bezüglich aller möglichen Komplikationen nachzuvollziehen und die Therapie dementsprechend immer passgenau auf die Erkrankung des Patienten einzustellen. Die fortschreitende Entwicklung von Mikro- und Makroangiopathie beispielsweise könnte durch Speicherung der radiologischen Gefäßuntersuchungen auch für den behandelnden Diabetologen jederzeit nachvollzogen werden. Dabei ermöglicht die elektronische Patientenakte nicht nur allen behandelnden Ärzten den Zugriff auf alle relevanten Krankheitsdaten des Patienten, sondern bietet auch eine Plattform für den Austausch der beteiligten Ärzte untereinander. Zusammen mit den Disease-Managementprogrammen für Diabetes mellitus Typ 1 und 2 böte die elektronische Gesundheitskarte weitere Möglichkeiten, die Leistungserbringer zu vernetzen und damit die Versorgung der Patienten zu verbessern. Die in Tab. 26.3 genannten krankheitsspezifischen Parameter werden neben zusätzlichen nichtkrankheitsspezifischen Parametern bereits seit Jahren im Rahmen der Disease-Managementprogramme erhoben. Würden diese in der elektronischen Patientenakte hinterlegt, ergäbe sich die Möglichkeit der zentralen Auswertung der Patientendaten über die verschiedenen Krankenkassen hinweg. Auswertungen beispielsweise über den Zusammenhang zwischen Medikation und akuten Krankheitsereignissen (sogenannten relevanten Ereignissen) ­ könnten zur Ermittlung neuer Behandlungspfade genutzt werden, von denen die Patienten profitieren. Zudem hätte die Kombination des Disease-Managementprogramms mit der elektronischen Gesundheitskarte den Vorteil, dass jegliche behandelnden Ärzte von Diabetespatienten auf eine standardisierte Dokumentation ihrer Patienten zurückgreifen könnten. So könnten auch Fachärzte, die nicht durch den Diabetes bedingte Erkrankungen bei Diabetikern behandeln, auf deren Disease-Managementdokumentation zurückgreifen und da­ raus z. B. auf deren allgemeinen Gesundheitszustand und deren Compliance etc. schließen.

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Tab. 26.3  Parameter in der Dokumentation von Disease-Managementprogrammen für Diabetes mellitus. (Quelle: Verband der Ersatzkassen 2017) Anamnese- und Befunddaten HbA1c-Wert, Pathologische Urin-Albumin-Ausscheidung, Fußstatus, Spätfolgen Relevante Ereignisse Schwere Hypoglykämien seit der letzten Dokumentation, nur bei Diabetes mellitus Typ 1: Stationäre Aufenthalte wegen Nichterreichens des HbA1c-Wertes seit der letzten Dokumentation, stationäre notfallmäßige Behandlung wegen Diabetes mellitus seit der letzten Dokumentation, sonstige relevante Ereignisse Medikamente Insulin oder Insulin-Analoga, nur bei Diabetes mellitus Typ 2: Glibenclamid, Metformin oder sonstige orale antidiabetische Medikation, Thrombozytenaggregationshemmer, Betablocker, ACE-Hemmer, HMG-CoA-Reduktase-Hemmer, sonstige antihypertensive Medikation, Diuretika Schulung Schulung empfohlen (bei aktueller Dokumentation), empfohlene Schulung(en) wahrgenommen Behandlungsplanung Zielvereinbarung HbA1c, Ophthalmologische Netzhautuntersuchung, diabetesbezogene Überbzw. Einweisung veranlasst

26.6 Kritik Derzeit mehren sich Stimmen, die davon ausgehen, dass aufgrund der datenschutzrechtlichen Bedenken und der ständigen Verzögerungen in der Umsetzung die Ausweitung der weiteren Funktionen und Einsatzmöglichkeiten der elektronischen Gesundheitskarte von der Bundesregierung fallen gelassen wird. Die elektronische Gesundheitskarte böte die Möglichkeit eines kompletten Informationsaustausches zwischen allen an der Behandlung eines Patienten Beteiligten. Dafür müssten die auf ihr zur Verfügung stehenden Funktionen konsequent genutzt werden und die für den Datenaustausch nötige elektronische Kompatibilität unter den Leistungserbringern hergestellt werden. Auf der elektronischen Gesundheitskarte könnte dann jeder Leistungserbringer jederzeit alle Diagnosen und Therapien anderer an der Behandlung beteiligten Leistungserbringer ablesen und in seine Entscheidungen einbeziehen. Zu Ungunsten der Vernetzung wird aber derzeit über die Abschaffung dieser Gesundheitskartenfunktion diskutiert. Der Grund ist ein Trade-off zwischen Vernetzung und Datenschutz. Je höher der Vernetzungsgrad der Behandlung ist, desto mehr Schnittstellen gibt es und desto mehr Personen haben Zugriff auf die Daten des Patienten und nutzen diese. Damit steigt auch die Gefahr, dass sensible Gesundheitsdaten in falsche Hände geraten (Schneider 2016; Bauer et al. 2018). Allerdings würden durch die Reduzierung des Vernetzungsgrades einige Annehmlichkeiten für die Patienten wegfallen. Das telediabetologische System ESYSTA®, welches den Nutzern ermöglicht, gemessene Blutzuckerwerte digital zu speichern und an einen Server übertragen zu lassen und dem behandelnden Arzt einen Zugriff auf die Daten zu erlauben, würde dann weniger Patienten einen

26  Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten … 489

Vorteil bringen. Das handschriftliche Notieren der Blutzuckerwerte und deren Besprechung in der Praxis in Anwesenheit des Patienten ist durch den Einsatz des Systems nicht mehr unbedingt nötig. Hierdurch kann zum einen die Versorgung des Patienten verbessert werden, da mehr Blutzuckerwerte mit genauer Zeitangabe zur Verfügung stehen und unnötige Wartezeit in der Arztpraxis reduziert werden kann. Zum anderen können die benötigten Insulinmengen und Blutzuckerteststreifen reduziert und anhand der tatsächlichen Verbrauchsmengen verordnet werden (Burchert et  al. 2017; Ickrath 2016). Würde die ­Vernetzung zum behandelnden Arzt wegfallen, bliebe die digitale Speicherung der Daten, auf die nur der Patient selbst Zugriff hat. Letztlich wäre es möglicherweise eine Lösung, die Patienten selbst entscheiden zu lassen, ob sie ihre diabetesbezogenen Daten auf der Gesundheitskarte speichern lassen wollen oder nicht. Diese Option wird zumindest diskutiert. Aber je weniger Personen sich dazu bereit erklären sollten, ihre Daten freizugeben, desto geringer wäre der – ohnehin schon nicht vorhandene – Anreiz der Leistungserbringer, in die Dokumentation auf der elektronischen Gesundheitskarte und in die Lesbarkeit der Daten Zeit und Geld zu investieren. Sobald aus Sicht der Leistungserbringer nicht mehr gewährleistet ist, dass die elektronische Gesundheitskarte bzw. die elektronische Patientenakte tatsächlich alle patiente­ nrelevanten Daten verlässlich enthält und für die Ärzte zugänglich macht, ist diese weitgehend wertlos. Denn mangels Vertrauen in die Vollständigkeit der über die elektronische Gesundheitskarte für Leistungserbringer zugänglich gemachten Daten, bliebe den Leistungserbringern so auch nach Einführung der Gesundheitskarte nur der Griff zum Telefon, um sich bei mitbehandelnden Ärzten über den gemeinsamen Patienten zu erkundigen. An der unzureichenden Vernetzung der Institutionen in Deutschland bei der Behandlung von Diabetespatienten würde sich so vermutlich bis auf Weiteres nichts ändern.

26.7 Schlussbetrachtung Aufgrund der erwarteten zunehmenden Alterung der Bevölkerung ist damit zu rechnen, dass die Anzahl der an Diabetes Typ 2 erkrankten Personen zukünftig zunehmen wird. Mithilfe von Ansätzen der integrierten Versorgung und Disease-Managementprogrammen wurde in der Vergangenheit die Versorgung von Diabetespatienten verbessert. Da an der Versorgung jedoch mehrere behandelnde Ärzte und Leistungserbringer beteiligt sind, können Mehrfachuntersuchungen ebenso wie Doppelmedikation vorkommen. Die elektronische Gesundheitskarte bietet technisch die Möglichkeit zum Austausch und Bündeln der Daten verschiedener an der Behandlung eines Patienten beteiligten Leistungserbringer. Doch auch Jahre nach dem Beschluss zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte wird diese lediglich als Krankenversichertenkarte genutzt. Eine darüberhinausgehende Speicherung von Behandlungsergebnissen, vom Patienten selbst erhobenen Daten – wie durch Wearables generierte Bewegungsdaten, in einem digitalen Ernährungstagebuch gespeicherte Ernährungsgewohnheiten und mittels Blutzuckermessgerät gemessene Blutzuckerwerte – erfolgt nicht.

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Da es sich bei allen Gesundheitsdaten um sensible Daten handelt, spielen der Datenschutz und die Datensicherheit dabei eine große Rolle. Auch wenn die elektronische Gesundheitskarte als gut gemeinte Innovation zu einer Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Diabetes beitragen kann, wird derzeit nur ein Bruchteil dessen, was mit ihr möglich ist, genutzt.

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26  Die elektronische Gesundheitskarte und ihr möglicher Beitrag zu einer vernetzten … 491 KBV (2019) Programmkostenpauschale, Kassenärztliche Bundesverbeinigung (KBV). http://www. kbv.de/media/sp/Programmkostenpauschale.pdf. Zugegriffen am 19.02.2019 King H, Aubert R, Herman W (1998) Global Burden of Diabetes 1995–2025: Prevalence, Numerical Estimates and Projections. Diabetes Care 21(9):1414–1431 Köhler T., Leinert J., Südhof S. (2012) Ergebnisse der AOK-Bundesauswertungen zur gesetzlichen Evaluation der DMP für die Indikation Diabetes mellitus Typ 2, Monitor Versorgungsforschung, 5(1)S. 34–37 Krüger-Brand H (2009) Karte mit Gesicht. Deutsches Ärzteblatt 106(36):A1706–A1708 van Lente E (2011) Erfahrungen mit strukturierten Behandlungsprogrammen (DMPs) in Deutschland. In: Günster C, Klose J, Schmacke N (Hrsg) Versorgungs-Report. Schattauer, Stuttgart, S 55–83 Lenzen H (2011) Regionale Versorgungsunterschiede bei der Therapie des Diabetes mellitus. In: Repschläger U, Schulte C, Osterkamp N (Hrsg) Gesundheitswesen aktuell 2011. Barmer GEK, Düsseldorf, S 296–313 Netzwerk Diabetischer Fuß Köln und Umgebung e. V. (2019) Netzwerk Diabetischer Fuß Köln und Umgebung e. V. http://www.fussnetz-koeln.de/. Zugegriffen am 19.02.2019 Rachold U (2000) Neue Versorgungsformen und Managed Care. Kohlhammer, Stuttgart Richter ML, Suwelack K (2015) Disease management. In: Thielscher C (Hrsg) Medizinökonomie 1. Springer, Wiesbaden, S 613–632 RKI (2009) Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, Heft 48: Krankheitskosten. Robert Koch-­ Institut (RKI), Berlin Schneider UK (2016) Einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakten: Zwischen Datenschutz und Gesundheitsschutz. Springer Fachmedien, Wiesbaden Schumacher F (2016) Von Quantified Self zur Gesundheit der Zukunft. In: Andelfinger VP, Hänisch T (Hrsg) eHealth: Wie Smartphones, Apps und Wearables die Gesundheitsversorgung verändern werden. Springer Fachmedien, Wiesbaden, S 39–29 Siemens Betriebskrankenkasse (2018) Begriffsverwirrung im digitalen Gesundheitswesen  – über was reden wir eigentlich? Siemens Betriebskrankenkasse. https://www.sbk.org/uploads/media/ themendienst-egk-18052018-sbk.pdf. Zugegriffen am 29.01.2019 Sterly C, Hasseler M (2015) Integrierte Versorgung. In: Thielscher C (Hrsg) Medizinökonomie 1. Springer, Wiesbaden, S 663–684 Tamayo T, Brinks R, Hoyer A, Kuß O, Rathmann W (2016) Prävalenz und Inzidenz von Diabetes mellitus in Deutschland. Deutsch Ärztebl 113(11):177–182 Terminservice- und Versorgungsgesetz (2018) Entwurf eines Gesetzes für schnellere Termine und bessere Versorgung vom 07.12.2018, Bundestagsdrucksache 19/6337. Deutscher Bundestag, Berlin Verband der Ersatzkassen (2017) Anlage 8: Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 – Dokumentation. Verband der Ersatzkassen (VDEK). https://www.vdek.com/vertragspartner/Aerzte/DMP/diabetes/_jcr_content/par/download_6/file.res/DM1_2_Dokudatensatz_Stand_19.10.2017.pdf. Zugegriffen am 02.04.2019

Prof. Dr. rer. pol. Astrid Loßin,  geb. 1976 in Langenhagen, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover und promovierte ebenda. Sie ist seit 2018 Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der APOLLON Hochschule in Bremen und Studiengangsleiterin des dortigen Bachelorstudiengangs Gesundheitsökonomie.

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A. Loßin und B. Schöpke

Dipl.-Volksw. Birte Schöpke,  geb. 1977 in Bremen, ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dekanat Gesundheitswirtschaft an der APOLLON Hochschule in Bremen und seit 2016 Studiengangsleiterin für den Masterstudiengang Angewandte Gerontologie (M.A.). Nach ihrem Diplom in Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta im Institut für Gerontologie.

Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der Dienstleistungsgestaltung

27

Marco A. Gardini und Raija Seppälä-Esser

Inhaltsverzeichnis 27.1  P  roblemstellung  27.2  Zur(m) Erlebnis- und Erfahrungskontext des Dienstleistungskonsums  27.2.1  Vom Konsumieren zum Erleben  27.2.2  Hedonie und Eudaimonie als Motivansätze für Erlebnisse  27.2.3  Höherer Kundennutzen durch Erlebnisse  27.3  Customer Experience Management im Dienstleistungsbereich  27.4  Konzeptioneller Bezugs- und Gestaltungsrahmen des Experience Designs  27.4.1  Philosophie des Design Thinkings  27.4.2  Phasen des Experience Designs  27.4.3  Prinzipien des Experience-Designs  27.4.4  Instrumente des Experience Designs  27.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

 494  495  496  497  498  499  503  503  505  507  510  511  511

Zusammenfassung

In der Unternehmenspraxis geht es immer mehr um das Management von Kundenerlebnissen, das sogenannte Customer Experience Management bzw. Service Experience Management. Zentrale Zielsetzung dieser Managementkonzepte ist dabei die Schaffung einzigartiger und außerordentlicher Kundenerlebnisse („Experiences“) entlang sämtlicher Kundenkontaktpunkte eines Anbieters. Wie solche Kundenerlebnisse bzw. Kundenerfahrungen insbesondere im Dienstleistungskontext systematisch und zielorientiert zu entwickeln sind, wird in jüngerer Zeit unter dem Stichwort des Experience M. A. Gardini (*) · R. Seppälä-Esser Hochschule Kempten, Kempten, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_27

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M. A. Gardini und R. Seppälä-Esser

Designs bzw. Service Designs in Wissenschaft und Praxis immer stärker thematisiert. Zielsetzung des Beitrages ist es, den Zusammenhang zwischen Customer Management, Customer Experience und Experience Design als innovative Methode der Dienstleistungsgestaltung aufzuzeigen.

27.1 Problemstellung Produkte, Dienstleistungen und Marken unterliegen ebenso wie das organische Leben dem biologischen Gesetz des Werdens und Vergehens und so tickt spätestens, wenn eine Leistung in den Markt eingeführt wird, bildlich gesprochen, die „biologische Uhr“. Entsprechend ist die Entwicklung neuer oder besserer Marken, Produkte und Dienstleistungen einer der wichtigsten unternehmerischen Tätigkeiten und stellt damit einen strategischen Eckpfeiler des unternehmerischen Erfolgs dar, ganz im Sinne des amerikanischen Managementdenkers Peter Drucker: „The purpose of business is Marketing and Innovation, all the rest is cost!“ Entsprechend wird eine innovationsgetriebene Leistungs- und Produktpolitik auch als „Herzstück“ einer kundenorientierten Unternehmensführung bezeichnet, da die kontinuierliche Entwicklung neuer Marken, Produkte oder Dienstleistungen bzw. deren permanente Optimierung und Modifikation sowie auch die Elimination leistungsschwacher Marken, Produkte oder Dienstleistungen für die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens im Wettbewerb von zentraler Bedeutung ist (Meffert et  al. 2012; Homburg und Krohmer 2009). Auf die Notwendigkeit, den Fokus einer kundenorientierten Leistungs- und Produktpolitik im Dienstleistungssektor dabei nicht nur auf das „Was“ sondern auch auf das „Wie“ des Dienstleistungsangebots zu richten, wurde bereits frühzeitig von zahlreichen Autoren hingewiesen (anstatt vieler Shostack 1982; Grönroos 1984; Zeithaml et al. 1992). Um in diesem Sinne ein holistisches und wettbewerbsfähiges Leistungsangebot anzubieten, reicht es denn auch nicht aus, einzelne Teilleistungen des Angebots zu optimieren, sondern die einzelnen Leistungselemente der spezifischen Dienstleistungs- bzw. Wertkette müssen zusammenspielen und sich ergänzen, um von den Kunden als einzigartiges Erlebnis- bzw. Erfahrungsbündel wahrgenommen zu werden, ein Tatbestand, der dem verstärkten Drang des Kunden nach speziellen Erfahrungen, Erlebnissen und Emotionen im Dienstleistungskontext Rechnung trägt (Gröppel-Klein 2012; Gardini 2009; Brunner-Sperdin 2008). Insbesondere die Arbeiten von Shostack und anderen zum Service Blueprinting bzw. Service Mapping (Shostack 1982, 1984; Kingmann-Brundage 1989, 1993) finden ihre jüngere Fortentwicklung in der Thematisierung der Customer Journey (Edelmann und Singer 2015; Nenonen et  al. 2008) sowie der Customer Experience bzw. Service Experience (Groth et al. 2019; McColl-Kennedy et al. 2015; Bruhn und Hadwich 2012; Schmitt 2003; Berry et al. 2002; Harris et al. 2003). Aufbauend auf den theoretischen Erkenntnissen in diesen Themenbereichen geht es in der Unternehmenspraxis immer mehr um das Management von Kundenerlebnissen, das

27  Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der … 495

sogenannte Customer Experience Management oder Service Experience Management (CEM/SEM), Ansätze die in der Literatur als Managementstrategie, -prozess oder -konzept zur Gestaltung des Kundenerlebnisses verstanden werden. Zentrale Zielsetzung des Customer Experience Managements bzw. Service Experience Managements ist dabei die Schaffung einzigartiger und außerordentlicher Kundenerlebnisse („Experiences“) entlang sämtlicher Kundenkontaktpunkte eines Anbieters (Bruhn und Hadwich 2012). Wie solche „Customer Experiences“ insbesondere im Dienstleistungskontext systematisch und zielorientiert zu entwickeln sind, wird in jüngerer Zeit unter dem Stichwort des Service Engineerings (Leimeister 2012), des Service Designs (Stickdorn und Schneider 2011; Zomerdijk und Voss 2010; Mager und Gais 2009), der Service Excellence (Gouthier et al. 2012; Johnston 2004) und nicht zuletzt der Service Experience (Collier et  al. 2018; Jaakkola et al. 2015; Fließ et al. 2012) in Wissenschaft und Praxis immer stärker thematisiert. Das Konstrukt Service Experience wird an dieser Stelle als ein dienstleistungsspezifischer Anwendungsfall des Konstrukts Customer Experience verstanden, liegt doch beiden Konzepten das gleiche theoretische Fundament zugrunde (Mayer-Vorfelder 2012), sodass für den vorliegenden Beitrag die Begrifflichkeiten des Experience Designs bzw. Service Designs weitestgehend synonym verwendet werden, handelt es sich doch bei beiden Ansätzen um nahezu identische inhaltliche und methodische Zugänge im Kontext des Innovationmanagements von Unternehmen. Zielsetzung des Beitrages ist es daher, den Zusammenhang zwischen Customer Management, Customer Experience und Experience Design als innovative Methode der Dienstleistungsgestaltung aufzuzeigen. Hierzu werden in Abschn. 27.2 und Abschn. 27.3 die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen zum Erlebniskonstrukt aus Kundensicht sowie dem Customer-Experience-Management-Ansatz im Dienstleistungskontext gelegt, bevor in Abschn. 27.4 der konzeptionelle Rahmen des Experience-­DesignAnsatzes beschrieben wird. Zum Abschluss wird ein Fazit gezogen und ein kurzer Ausblick gegeben.

27.2 Z  ur(m) Erlebnis- und Erfahrungskontext des Dienstleistungskonsums Der Futurist Alvin Toffler hat schon im Jahre 1970 prognostiziert, dass die Menschen künftig anstatt Dinge zu besitzen, leidenschaftlich Erlebnisse und damit auch Erfahrungen sammeln werden. Gemäß Toffler führt dieser Wertewandel zur Entstehung einer Erlebnisindustrie, für die nun Erlebnisdesigner Produkte entwickeln und simulierte Umgebungen schaffen (Toffler 1970). Das Verständnis der Kundenbedürfnisse und das Eingehen auf individuelle Kundenwünsche sind in der „Erlebnisökonomie“ (Pine und Gilmore 1998) also von entscheidender Relevanz (Özlem 2016). Um dem verstärkten Drang des Kunden nach speziellen Erfahrungen, Erlebnissen und Emotionen zu entsprechen, ist es für eine innovations- und erlebnisgetriebene Leistungs- und Produktpolitik von Unternehmen in Zukunft von großer Bedeutung, Motive und Wirkungseffekte von Erlebnissen im Kontext des Dienstleistungskonsums zu verstehen und damit die notwendige Entwicklung von ei-

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ner rein merkmalsorientierten Produktentwicklung, zu einer erfahrungs- und emotionsbasierten Gestaltung von Kundenerlebnissen nachzuvollziehen.

27.2.1 Vom Konsumieren zum Erleben Die Auffassung, dass der Konsument in der Rolle als rationaler Entscheider, logischer Denker und Problemlöser zielgerichtet nach Informationen sucht und diese dann verarbeitet, hat für Jahrzehnte die Konsumentenforschung bestimmt. Diese Erklärungsansätze zum Kundenverhalten vernachlässigen allerdings, dass Konsumenten sich oft auf der Suche nach Spaß, Unterhaltung, Erregung, Fantasie, sensorischer Stimulation oder Genuss befinden (Holbrook und Hirschman 1982). Hedonistische Komponenten, Ästhetik und symbolische Bedeutungen des Angebots spielen oft eine wichtige Rolle bei der Kaufentscheidung (Holbrook und Hirschman 1982) und so rückt seit den 1990er-Jahren die Betrachtung des Konsums aus der Erlebnisperspektive verstärkt in den Mittelpunkt (Pine und Gilmore 1998, 2011). Dabei handelt es sich um eine Reaktion auf neue Wertesysteme, wie sie sich beispielsweise in den europäischen Gesellschaften entwickelt haben. Demzufolge wurden Konformität, Zurückhaltung und Pflichterfüllung als gesellschaftliche Leitwerte zunehmend durch Individualismus und Hedonismus abgelöst. In der so entstandenen „postmaterialistischen Erlebnisgesellschaft“ sind die Grundbedürfnisse der Menschen weitestgehend befriedigt und so rückt die Erfüllung von höheren Motivbedürfnissen wie Glück, Wohlbefinden und Selbstverwirklichung in den Vordergrund und das Bedürfnis nach Reizen, die positive Emotionen hervorrufen (Mutz und Kämpfer 2013; Schulze 2005) nimmt zu. Der Konsument sucht also nicht mehr allein nach funktionalen Problemlösungen, sondern erwartet auch einen emotionalen Mehrwert. Diesen Mehrwert können Produkte und Dienstleistungen bieten, wenn sie positive Gefühle auslösen, angenehm überraschen oder mental stimulieren (Pine und Gilmore 2011; Schmitt 1999; Tarssanen und Kylänen 2007). Wenn das Erlebnisangebot sich demzufolge an den Bedürfnissen der Kunden orientiert und dabei die Entstehung von einprägsamen und sinnstiftenden Erlebnissen begünstigt, also einen hohen emotionalen Wert anbietet, hilft das Unternehmen ihr Angebot von Wettbewerbern zu differenzieren, Kunden zufriedenzustellen und langfristig an das Unternehmen zu binden und so Umsatz, Gewinn und Rentabilität zu verbessern (Adhikari et al. 2013; Bolton et al. 2014; Boswijk et al. 2007b; Bruhn 2015; Kroeber-Riehl und Gröppel-Klein 2013; Maklan und Klaus 2011; Pine und Gilmore 2011; Verhoef et al. 2009). Erlebnisse können entsprechend als ein eigenständiges wirtschaftliches Angebot aufgefasst werden (Pine und Gilmore 2011) bzw. können Produkte und Dienstleistungen auch durch Erlebnisse ergänzt und emotionalisiert werden (O’Sullivan und Spangler 1998; Snel 2011). O’Sullivan und Spengler (1998) kategorisieren die Erlebnisanbieter in Experience Makers, Experience Enhancers und Experience Infusers: „Experience Maker“ sind Unternehmen, welche die Schaffung von Erlebnissen als Kern ihres Dienstleistungsangebots betrachten. Das Ziel ihrer Tätigkeit ist insbesondere, außergewöhnliche Erlebnisse für die

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Kunden zu schaffen. Dazu zählen beispielsweise Unternehmen der Freizeitparkbranche, der Unterhaltungs- und Freizeitindustrie sowie bestimmte Segmente der Tourismuswirtschaft. Ein „Experience Enhancer“ setzt Erlebnisse in seinem Angebot nicht in den Mittelpunkt, sondern nutzt diese, um seine Leistungen zu verbessern und diese für Kunden attraktiver zu machen. Enhancers sind in der Regel in der Dienstleistungsbranche in denjenigen Bereichen tätig, die ihren Kunden einen personalisierten und individualisierten Service anbieten können (z. B. Krankenhäuser, Einkaufszentren und Fluggesellschaften). Dagegen ist ein „Experience Infuser“ in erster Linie ein Hersteller von Produkten, der diese mit Erlebniselementen ergänzt, um seinen Umsatz zu steigern, die Kundenbindung zu verstärken und sein Angebot von dem der Konkurrenz zu differenzieren. Hier liegt die Intention darin, das Produkt mit einem von Kunden erwünschten Erlebnis zu verbinden, um dadurch einen emotionalen Mehrwert zu schaffen (O’Sullivan und Spangler 1998).

27.2.2 Hedonie und Eudaimonie als Motivansätze für Erlebnisse Die Essenz eines guten Lebens hat den Menschen schon seit der Antike beschäftigt. Traditionell wird das Konzept des Wohlbefindens unter Berücksichtigung von zwei unterschiedlichen Sichtweisen, Hedonismus und Eudaimonie, erforscht. Aus der Sicht des Hedonismus führt Vergnügen sowie das Erleben genussvoller und sorgloser Momente Menschen zum Wohlbefinden und Glück (Deci und Ryan 2008; Huta und Ryan 2010; Waterman 1993). Die eudaimonistische Tradition dagegen postuliert, dass das Wohlbefinden aus der Führung eines erfüllten und zutiefst befriedigendem Leben erfolgt, in dem man seine Potenziale verwirklicht und auslebt (Deci und Ryan 2008; Snel 2011; Waterman 1993). Mutz und Kämpfer (2013) haben einen Zusammenhang zwischen der Erlebnisorientierung der Gesellschaften und dem Wohlbefinden der Bevölkerung hervorgehoben. Gemäß ihrer Studie, die auf den Daten der European Social Survey basiert (European Social Survey 2019), führt die Erlebnisorientierung einer Gesellschaft zu einer höheren Lebenszufriedenheit der Bevölkerung. In einer Erlebnisgesellschaft sind Menschen bemüht, Ereignisse herbeizuführen, die positive emotionale Erlebnisse mit sich bringen (Kroeber-Riehl und Gröppel-Klein 2013). Welchen Zielzustand sie dabei anstreben, entscheiden die Motive, die wiederum die Richtung des Verhaltens bestimmen (Huta und Waterman 2014; Kroeber-Riehl und Gröppel-­ Klein 2013). Eudaimonie und Hedonismus können als Erklärungsansätze angewendet werden, um zu einem besseren Verständnis der Motive der Erlebenden zu gelangen (Huta und Ryan 2010; Huta und Waterman 2014). Hedonistische Motive reichen vom körperlichen Wohlergehen bei verschiedenen Aktivitäten bis hin zu kognitiven und emotionalen Glücksgefühlen bei der Rezeption von Kunst oder bei sozialen Kontakten. Hedonistisch orientierte Personen möchten sich während der Ausübung einer Tätigkeit wohlfühlen und dabei eine positive Gemütsbewegung erleben. Das positive Gefühl kann aber auch durch Entspannung oder die Sinne stimulierende Ereignisse entstehen (Huta und Ryan 2010). Eudaimonistische Effekte des Konsums tragen ebenfalls zum Wohlbefinden, aber auch zur

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allgemeinen Lebensqualität des Einzelnen bei (Dolnicar et al. 2012; Huta und Ryan 2010; Knobloch et al. 2017). Eine eudaimonistisch motivierte Person ist auf der Suche nach Erlebnissen, die einen tieferen Sinn verleihen, ein geistiges Wohlergehen und ein gesteigertes Erleben versprechen. Sie möchte etwas erleben, was sie staunen lässt, sie inspiriert und ein Gefühl von Verbundenheit vermittelt. Die Tätigkeit soll dem Erlebenden dabei helfen, sich als Person zu entwickeln und sich zu verwirklichen (Huta und Ryan 2010; Snel 2011). Die Effekte einer eudaimonistischen Erfahrung können verzögert eintreffen, beispielsweise erst nach dem das für die Tätigkeit anvisierte Ziel erreicht wurde (Huta und Ryan 2010; Knobloch et al. 2017). Sogar negative Emotionen oder unangenehme Erfahrungen während der Ausübung einer Aktivität (z. B. Angst vor einem Bungeesprung, Nervosität vor einer medizinischen Behandlung, unerwartet auftauchender Probleme während einer Aktivität) können später zu positiven, sinnvollen Erfahrungen führen (Knobloch et  al. 2017). Anders als ein rein hedonistisches Vergnügen scheint das eudaimonistische Erleben einen stärkeren Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen zu haben und kann das Wohlbefinden langfristig über den tatsächlichen Konsum hinaus beeinflussen (Huta und Ryan 2010; Knobloch et al. 2017). Weil Erlebnisse und Erfahrungen nicht nur individuell und subjektiv sind, sondern auch unterschiedliche Motive bei der Teilnahme an Tätigkeiten zugrunde liegen, führt dieselbe Aktivität, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfindet, wahrscheinlich nicht zum gleichen Erlebnis bei jedem Teilnehmenden (Huta und Ryan 2010; Knobloch et  al. 2017). Folglich ist es möglich, dass dieselbe Tätigkeit bei den Erlebenden sowohl zu hedonistischen als auch eudaimonistischen Effekten führt (Huta und Ryan 2010; Knobloch et al. 2017; Snel 2011). Aktivitäten und Verhalten können deshalb im Vorfeld meist nicht als eindeutig hedonistisch oder eudaimonistisch klassifiziert werden (Huta und Ryan 2010). Gemäß Studien von Huta und Ryan (2010) wird das größte Wohlbefinden tatsächlich durch das Zusammenwirken von Hedonie und Eudaimonie erreicht. Erlebnisanbieter fokussieren sich häufig allein auf das Management der Bedürfnisse von hedonistisch motivierten Konsumenten. Ein zu eingeschränkter Fokus auf hedonistische Erlebnisse übersieht jedoch die Vorteile, die Menschen über den Konsum hinaus gewinnen können (Knobloch et al. 2017). Für einen Anbieter von Produkten und Dienstleistungen ist das Verständnis darüber, welche Motivationen dem Verhalten des Konsumenten zugrunde liegen, essenziell: ob der Kunde eher nach kurzfristigem Vergnügen und Komfort strebt oder ob sein Ziel ist, langfristig das Beste aus sich zu holen und sich als Mensch zu entwickeln.

27.2.3 Höherer Kundennutzen durch Erlebnisse Ausgehend von den genannten menschlichen Motivkonfigurationen umfasst das Konsumverhalten gemäß Holbrook und Hirschman (1982) sowohl utilitaristische als auch hedonistische Komponenten. Die Informationsverarbeitung des Kunden vor, während und nach dem Kauf zeichnen diese Komponenten des Verhaltens sowohl aus funktionaler Sicht als

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auch aus der Sicht der erstrebten Zweckerfüllung aus. Die hedonistische Komponente oder der Erlebniswert eines Angebotes bestimmt jeder Kunde subjektiv und individuell. Des Weiteren ist der wahrgenommene Erlebniswert kontextabhängig und so bestimmen geweckte Emotionen, sinnliche Erfahrungen und die Befriedigung von höheren Bedürfnissen, ob ein Kunde ein Produkt oder eine Dienstleistung erneut kaufen wird (Holbrook und Hirschman 1982; Jensen et al. 2015). Der direkte Kontakt mit Kunden ermöglicht es Unternehmen – wenn strategisch gewünscht –, gemeinsam mit dem Kunden einen höherwertigen Kundennutzen zu generieren (Co-Creation), indem Ressourcen und Prozesse zielgruppenorientiert eingesetzt werden, um dadurch das künftige Kaufverhalten spezifischer Kundensegmente zu beeinflussen (Grönroos und Voima 2013). Kundenerlebnisse werden dabei allerdings nicht nur im Zusammenspiel zwischen Kunde und Leistungsanbieter generiert, sondern auch durch die Mitwirkung anderer Akteure. Dazu zählen beispielsweise andere Kunden, die das spezifische Kundenerlebnis durch ihr Verhalten positiv oder negativ beeinflussen können (Carù und Cova 2015; Grönroos und Voima 2013; Kandampully et al. 2018). Das Kundenerlebnis bzw. die Kundenerfahrung ist laut Lemon und Verhoef (2016, S. 71) „a multidimensional construct focusing on a customer’s cognitive, emotional, behavioral, sensorial, and social responses to a firm’s offerings during the customer’s entire purchase journey“. Aus phänomenologischer Sicht wird ein Erlebnis sowohl mit den Sinnen wahrgenommen als auch bewusst erlebt, durchlebt und durchgeführt. Der Fokus dabei liegt auf dem persönlichen, menschlichen Erlebnis (Smith 2018), wobei die Interaktion und Reaktion des Kunden sowohl aus einem direkten als auch aus einem indirekten Kontakt mit einem Unternehmen resultieren kann (Meyer und Schwager 2007). Kundenerfahrung aus prozessualer Sicht bedeutet eine longitudinale Betrachtung der gesamten Customer Journey eines Konsumenten (Helkkula 2011). So kann beispielsweise ein positives Erlebnis vor dem eigentlichen Konsum ein späteres Kundenerlebnis in der Customer Journey positiv begünstigen (Chen et al. 2018). Der Wert des Kundenerlebnisses kann ferner aus der Sicht der erzielten Ergebnisse betrachtet werden. Dabei können beispielsweise der kundenspezifische Mehrwert der Kunden, die Zufriedenheit und die Wiederkauf- und Weiterempfehlungsbereitschaft evaluiert werden (Carù et al. 2016; Helkkula 2011).

27.3 C  ustomer Experience Management im Dienstleistungsbereich Bei zunehmender Wettbewerbsintensität verschärft sich für jedes Unternehmen die Notwendigkeit, verteidigungsfähige Profilierungsfelder zu identifizieren und zu besetzen. Das kann aus Sicht der Marketingwissenschaften heute und in Zukunft im Wesentlichen auf drei Arten geschehen (Gardini 2017; Hennig-Thurau et al. 2014; Kotler 2008): über eine einzigartige Produkterfahrung, die besondere Qualität der Kundenbeziehung sowie über die wettbewerbs- und kundenspezifische Stärke und Relevanz der Marke. Folglich kann ein Unternehmen nur über ein kundenzentriertes Produkt-, Marken- oder Kundenmanage-

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ment Werte schaffen. Im Kontext personenbezogener und interaktiver Dienstleistungsangebote, wie er für viele Branchen des Dienstleistungssektors konstitutiv ist, kann das Produkt-, Marken- und Kundenmanagement allerdings nur dann Kunden einen hohen Nutzen bieten, wenn – im Sinne des Customer-Experience-Management-Ansatzes – die interne und externe Orchestrierung von Mensch, Prozess und Technologie einem Führungsverständnis unterliegt, das sich ganz am Kunden ausrichtet und die Organisation als ein marktorientiertes Wertschöpfungsnetzwerk begreift (Hennig-Thurau et al. 2014; Meffert et al. 2012; Homburg und Krohmer 2009). Den Modellen und Denkansätzen des Customer Experience Managements, des Experience Designs/Service Designs oder des Service Engineerings ist gemein, dass sie Unternehmen systematisch dabei unterstützen, sich über das eigentliche Kernprodukt bzw. die Basisleistung hinaus auf das wesentliche Ziel eines Dienstleistungsangebots zu besinnen, nämlich im Zusammenspiel zwischen Mensch, Technologie und Prozess spezielle Dienstleistungen anzubieten, die aus Kundensicht ein einzigartiges und außerordentliches Erlebnisangebot darstellen und damit einen kundenspezifischen Mehrwert erbringen. Dieser Mehrwert entsteht in der Regel aus einer kundenorientierten Gestaltung aller sinnlich wahrnehmbaren Aspekte einer Leistung, mit denen der Kunde an den verschiedenen Kontaktpunkten (Moment of Truth, Touchpoints) während des Dienstleistungsprozesses, der sogenannten Customer Journey, in Berührung kommt. Die mangelnde Differenzierungsfähigkeit zahlreicher Produkte und Dienstleistungen und die Austauschbarkeit zahlreicher Leistungsmerkmale bzw. Hardwareelemente der Leistungs- und Produktgestaltung (z. B. im Krankenhaus, Pflegeheim oder Hotel in Bezug auf Design, Zimmergröße, Architektur etc.) spielen dabei im Verhältnis zu den komplexeren, personen- oder technologiebasierten Serviceelementen der Dienstleistungsinteraktion zumeist eine untergeordnete Rolle in der ganzheitlichen Qualitätswahrnehmung und -bewertung des Kunden (Customer Experience/Service Experience). Eine erlebnisorientierte Leistungsstrategie wird umso relevanter, je ähnlicher und austauschbarer sich die entsprechenden funktionalen Leistungsassoziationen im Wettbewerb darstellen und je immaterieller, abstrakter und unkonkreter die zugrunde liegende Dienstleistung aufgrund fehlender objektiver bzw. dominierender, sozioemotionaler Qualitätskomponenten vom Kunden wahrgenommen wird (Stauss 2001; Bekmeier und Konert 1994). Entsprechend reflektiert die aktuelle Entwicklung in Wissenschaft und Praxis im Kontext des Customer Experience Managements die Erkenntnis, dass die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Produkten, Marken oder Dienstleistungen eine Konzentration auf die drei E‘s des Marketings erfordert (Gardini 2009), d. h. die Qualität der Erlebnisse, der Emotionen und der Erfahrungen werden Kundenentscheidungen, Kundenverhalten und Kundenloyalität zukünftig stärker beeinflussen als rein funktionale Leistungsmerkmale, wie ein bestimmtes Produktkonzept, ein standardisiertes Qualitätsniveau oder eine konkrete Preisstellung (Gentile et al. 2007; Williams 2006; Schmitt 2003; Pine und Gilmore 2011). Für die Hotellerie hat der renommierte französische Designer Philipp Starck dieses Erlebnisphänomen mit den Worten „a hotel has to be an experience engine“ auf den Punkt gebracht.

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Die Zielgröße des Customer Experience Managements und damit auch des Experience Designs ist es demzufolge, das im Wettbewerbskontext beste oder das bessere Kundenerlebnis zu schaffen. Ein Kundenerlebnis resultiert dabei aus einem individuellen und psychologischen Prozess, der wiederum von unterschiedlichen Stimuli ausgelöst wird. Leistungsanbieter können deshalb Erlebnisse, die bei Konsumenten positive Emotionen hervorrufen, nicht direkt erzeugen, sondern sie müssen im Kontext ihres Customer Experience Managements Rahmenbedingungen schaffen, die im besten Fall positive und unvergessliche Erlebnisse auslösen. Um das Erlebnisumfeld gemäß den Bedürfnissen und Wünschen des Kunden gestalten zu können, ist ein fundiertes Kundenwissen Grundvo­ raussetzung. Was sind die Beweggründe eines Kunden, ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung zu erwerben? Ist er auf der Suche nach Vergnügen („pleasure seeker“), treibt ihn die Suche nach Sinn in seinem Leben („meaning seeker“) oder sind es andere Motive und Bedürfnisse? Die gestaltbaren Rahmenbedingungen des Experience Managements beziehen sich im Wesentlichen auf das physische und das soziale Erlebnisumfeld. Das physische Erlebnisumfeld ist eine Quelle von Emotionen. Es lenkt das Verhalten der Gäste und steigert die Antizipation. Gleichzeitig ist es ein Raum, wo sich Kunden und Servicemitarbeiter treffen (Voss und Zomerdijk 2007). Die räumliche Gestaltung soll funktional und ästhetisch sein, eine angenehme und einladende Atmosphäre schaffen (Pizam und Tasci 2019; Prebensen et  al. 2018) und ein Gefühl von Sicherheit vermitteln (Hemmington 2007; Müller und Scheurer 2004). Schmitt (1999) nennt die Gestaltung des physischen Raums als eines der taktischen Instrumente der Erlebnisgestaltung. Seiner Ansicht nach können sogenannte Erlebnistreiber benutzt werden, um die Umwelt nach Kundenbedürfnissen und Erwartungen so zu gestalten, dass sie das Erlebnis verstärken. Dazu können Architektur, das Design der Einrichtung, die Beleuchtung oder andere sensorische Elemente zum Einsatz kommen. In ihrer Umgebung nehmen Menschen besonders Unterschiede wahr (Weidenhammer 2011). Weil Kontraste die Entstehung einprägsamer Erlebnisse begünstigen (Grötsch 2006; Weidenhammer 2011), sollte das physische Erlebnisumfeld einen Gegensatz zum Alltag des Kunden bilden, um ihn etwas Neues erleben zu lassen (Ariffin und Maghzi 2012; Kroeber-Riehl und Gröppel-Klein 2013; Weiermair 2006). Kontrast, der den Erlebenden emotional berührt, intensiviert sein Erlebnis (Vester 2004). Serviceumgebungen geben Anreize für mehrere Sinne (Hultén 2017) und sollten sensorisch so gestaltet sein, dass sie vom Kunden möglichst mit allen Sinnen wahrgenommen werden können. Die physiologische Wahrnehmung der Umwelt mit mehreren Sinnen weckt Emotionen und kann das Erlebte intensivieren (Gelter 2007; Grötsch 2006; Müller und Scheurer 2004), was wiederum Kundennutzen erzeugt (Hultén 2011). Bei der Gestaltung der „Experience Environments“ wird die physische Umwelt mit den im Raum agierenden Menschen verbunden und harmonisiert (Pine und Gilmore 2011). Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Kunden erzeugen bei den Letztgenannten kognitive und emotionale Reaktionen. Sie beeinflussen nicht nur deren Verhalten (Barker und Härtel 2004; Edvardsson 2005; Hemmington 2007), sondern haben einen

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starken Einfluss auf die Qualitätswahrnehmung der Kunden. Zudem können sie einen bleibenden mentalen Eindruck im Langzeitgedächtnis hinterlassen (Edvardsson 2005). Jeder direkte Kontakt zwischen einem Erlebnisanbieter und Kunden ist ein sogenannter „Moment of Truth“, ein Moment der Wahrheit, welcher darüber entscheidet, ob das Kundenerlebnis verstärkt oder sogar vernichtet wird. Eine hohe Qualität der Interaktionen ist daher eine Voraussetzung zur Entstehung positiver und einzigartiger Erlebnisse. Die Mitarbeiter des Leistungsanbieters spielen also eine entscheidende Rolle dabei, ob der Kunde ein positives und einprägsames Erlebnis hat (Grönroos 1998; Grötsch 2006; Schmitt und Mangold 2004; Voss und Zomerdijk 2007). Kunden, die ihr Erlebnis selbst mitgestalten können („Co-Creation“), nehmen einen höheren erworbenen Nutzen für sich wahr. Die aktive Beteiligung führt auch zu einem einprägsameren Erlebnis. Laut Verlye bringt die Mitgestaltung des Erlebnisses für Kunden vielerlei Vorteile. Sie erfahren Genussvolles („hedonic benefits“), erwerben neues Wissen und neue Fähigkeiten („cognitive benefits“), haben die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten („social benefits“) und bekommen Anerkennung für ihr persönliches Engagement („personal benefits“). Außer den Kunden selbst und den Mitarbeitern gehören auch andere Kunden bzw. Miterlebende zum Erlebnissystem. Sie können durch ihre Aktivitäten das Kundenerlebnis erheblich beeinflussen (Boswijk et al. 2007b; Snel 2011; Tarssanen und Kylänen 2007; Wu 2007). Die Interaktion findet sowohl verbal als auch nonverbal (z.  B. durch Mimik, Gestik, Blickkontakt, Präsenz im zwischenmenschlichen Raum, Stille/Schweigen) statt (Matsumoto und Takeuchi 1998). Begegnungen dieser Art sind wichtige Quellen für Emotionen und dadurch auch für das Erleben (Boswijk et al. 2007a; Brandstätter et al. 2013; Meriläinen 2006; Müller und Scheurer 2004). Beim Design des physischen Erlebnisumfeldes muss also darauf geachtet werden, dass es die Interaktion und sozialen Kontakte zwischen den Akteuren unterstützt (Tarssanen und Kylänen 2007). Aarts und Marzano (2003, S. 46) beschreiben daher die Rolle des Experience Designs im Rahmen des Customer Experience Managements „as the practice of designing products, processes, services, events, and environments with a focus placed on the quality of the user experience and culturally relevant solutions, with less emphasis placed on increasing and improving functionality of the design.“ Die Leistungs- und Produktgestaltung eines Dienstleistungsunternehmens stellt sich – im Sinne des Experience Managements – demzufolge als multidimensionale Problemstellung dar, die unter Berücksichtigung der spezifischen Dienstleistungsbesonderheiten nicht nur differenzierten Kundenansprüchen in Bezug auf Funktionalität, Ästhetik und Symbolik des Leistungsangebots im engeren Sinne genügen muss, sondern auch das Zusammenspiel zwischen Mensch, Technologie und Prozess im Sinne des Designs kundengerechter und ganzheitlich gestalteter Dienstleistungserlebnisse orchestrieren muss (Abb. 27.1). Infolge müssen Serviceprozesse und Serviceerlebnisse so gestaltet sein, dass sie aus der Sicht des Kunden nützlich, nutzbar und begehrenswert sind und aus der Sicht der jeweiligen Anbieter effektiv, effizient und anders (Mager und Gais 2009; Stickdorn und Schneider 2011).

27  Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der … 503 • Sl • Form • Design • Farbe • Sauberkeit • Pflegezustand • Harmonie • Anmut • Ambience • ...

• Authenzität • Idenfikaon • Aktualität • Gedankliche Assoziaon • Status • Presge • Extravaganz • Exok • ...

Mensch

Produktkern (Grundfunkon wie „Schlafen, Essen, Trinken, Fahren, Fliegen, Einkaufen etc.“) Technologie

Erfahrung Funkonalität

Prozess • Zuverlässigkeit • Zweckmäßigkeit • Handlichkeit • Bequemlichkeit • Sicherheit • Bewegungsfreiheit • ...

Abb. 27.1  Leistungs- und Produktgestaltung als multidimensionale Problemstellung. (Quelle: Gardini 2017, S. 18)

27.4 K  onzeptioneller Bezugs- und Gestaltungsrahmen des Experience Designs Die Suche nach innovativen Konzepten, Produkten und Dienstleistungen bedarf eines systematischen Managementprozesses. Der Bezugs- und Gestaltungsrahmen des Experience-­ Design-­Ansatzes beinhaltet dabei die idealtypischen Phasen eines entscheidungsorientierten Managementansatzes im Sinne der Analyse, Planung, Umsetzung und Kontrolle aller mit der Entwicklung, Durchsetzung und Einführung von neuen Dienstleistungen verbundenen Aktivitäten. Der damit zusammenhängende Prozess und die damit verbundene grundlegende Philosophie des Design Thinkings soll entsprechend im Folgenden beschrieben werden.

27.4.1 Philosophie des Design Thinkings Design Thinking stellt eine systematische Denk- und Herangehensweise dar, um Lösungen für komplexe Problemstellungen aus verschiedensten Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu entwickeln. Im Gegensatz zu alternativen Herangehensweisen im

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Kontext von Innovationsprozessen und -projekten in Wissenschaft und Praxis, steht hier nicht eine bestimmte Technik, Technologie oder technische Machbarkeit im Fokus, sondern der Mensch bzw. der konkrete Anwender. Das Nachdenken darüber, wie die Funktionalität, die Form und der Stil von Produkten, Prozessen oder Dienstleistungen aus der Perspektive von Kunden („human-centric point of view“) gestaltet werden kann, ist dementsprechend ein besonderes Kennzeichen des Design-Thinking-Ansatzes. Experience Designer bzw. Service Designer beobachten, analysieren und interpretieren Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Menschen. Sie visualisieren, formulieren und entwickeln Lösungen für kundenspezifische Problemstellungen und transformieren sie in mögliche zukünftige Dienstleistungen (Brown 2008; Stickdorn und Schneider 2011; Uebernickel et al. 2015). Design Thinking als Philosophie bzw. systematische Denk- und Herangehensweise ist in der Literatur durch drei Merkmale gekennzeichnet (hierzu und zum folgenden Plattner et al. 2011; Grots und Pratschke 2009; Moritz 2005): • Die Betonung der Kollaboration und Multidisziplinarität. • Die Schaffung kreativer, freier und offener Denkräume sowohl im intellektuell-­experi­ mentellen als auch im architektonisch-räumlichen Sinne. • Iterative und interaktive Denk- und Lernprozesse aller Beteiligten im Kontext der verschiedenen Phasen des gewählten Vorgehensmodells. Grundlage eines erfolgreichen Design-Thinking-Prozesses ist ein Team, das sich aus verschiedenen Disziplinen, Abteilungen und Hierarchieebenen zusammensetzt. Das Team kann neben internen – im Sinne des Open-Innovation-Ansatzes – auch externe Mitglieder umfassen. Die Stärke solcher Teams liegt dabei nicht nur in der Vervielfältigung des jeweiligen fachspezifischen und analytischen Wissens, sondern auch in den verschiedenen Blickwinkeln und Erfahrungen, die jedes Mitglied einbringt. Entscheidend für den kreativen Prozess bzw. das Ergebnis ist hierbei die Offenheit aller Mitglieder gegenüber anderen Disziplinen, eine Neugier gegenüber der Welt und den Menschen sowie die Fähigkeit und der Wille, das eigene Wissen mit dem der anderen Mitglieder zu teilen und zu vernetzen. Diese besonderen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale sind mit Blick auf die iterative Vorgehensweise des Design-Thinking-Ansatzes von großer Bedeutung, werden doch durch die vorgesehenen Rückkopplungsschleifen und Lernprozesse fachliche ­Wissensbestände, inhaltliche Gewissheiten sowie persönliche Perspektiven und Sichtweisen permanent hinterfragt. Das hat zur Folge, dass der Bildung und Führung solcher Teams eine erfolgskritische Relevanz im Design-Thinking-Prozess zukommt. Zur Unterstützung der oben genannten Offenheit im konkreten Arbeitsablauf und um Kommunikation und Kreativität der Teammitglieder bestmöglich zu fördern, ist aus der Perspektive des Design-­ Thinkings die Gestaltung der räumlichen Arbeitsumgebung ein wesentliches Erfolgselement. Verwendung finden hier flexible Raumkonzepte im Sinne von Werkstätten, Denkräumen/-laboren, Ateliers oder Rückzugsorte, ausgestattet mit analogen und digitalen Materialien zur Visualisierung der Herstellung von Prototypen von Ideen. Im Hinblick auf

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die Ausgestaltung des konkreten Design-Thinking-Prozesses hält die Literatur zum Innovationsmanagement bzw. zum Design Thinking, wie nachfolgend skizziert, zahlreiche Vorgehens- und Prozessmodelle bereit.

27.4.2 Phasen des Experience Designs Der Experience-Design-Ansatz lehnt sich strukturell und prozessual wie angedeutet an klassische Ansätze der Neuproduktplanung bzw. des Innovationsmanagements an (hierzu Meffert et al. 2012; Kotler 2000), ist allerdings in seinem Vorgehensmodell weniger als linearer denn als iterativer Entwicklungsprozess angelegt, d. h. die einzelnen Phasen werden nicht sequenziell abgearbeitet, sondern werden in der Regel mehrfach durchlaufen. Die Literatur zum Experience Design bzw. Service Design respektive Service Engineering schlägt in Abhängigkeit vom Detaillierungsgrad und der Granularität der jeweiligen Betrachtungsperspektive verschiedenste Vorgehensmodelle vor (anstatt vieler, Scheuing und Johnston 1989; Bullinger und Scheer 2006; Stickdorn und Schneider 2011; Leimeister 2012; Uebernickel et  al. 2015). Diese sind nicht nur durch eine jeweils sehr unterschiedliche Zahl von Phasen bzw. Prozessschritten gekennzeichnet (zwischen 3 bis 15), sondern unterscheiden sich auch hinsichtlich der zur Prozessbeschreibung angewandten Terminologie. Da an dieser Stelle nicht im Detail auf die relative Vorteilhaftigkeit der verschiedenen Konfigurationen eingegangen werden kann, soll exemplarisch anhand des vierphasigen Vorgehensmodell von Stickdorn und Schneider ein idealtypischer Ansatz für eine systematische Entwicklung von Dienstleistungen aus der Design-Thinking-Schule vorgestellt werden (Abb. 27.2). In der Explorationsphase werden Kunden mit Blick auf ihre dienstleistungsspezifischen Bedürfnisse und Verhaltensweisen beobachtet, befragt und analysiert. Zudem werden Trends und Frühwarnsignale vom Markt erfasst sowie die Informationen aus internen und externen Quellen zu Rate gezogen, um potenzielle Optimierungspotenziale oder Pro-

Exploraon

Kreaon

Reflekon

Implemenerung

Abb. 27.2  Experience- und Service-Design als iterativer Prozess. (Quelle: Stickdorn und Schneider 2011, S. 122–123)

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blembereiche in kundenrelevanten Prozessen zu identifizieren. Die zentralen Fragen dieser Phase lauten in Abhängigkeit von der Ausgangssituation (Innovation oder Modifikation): Wer ist bzw. wer soll mein Kunde sein? Welches Problem will er wie gelöst haben? Und welche Erfahrungen hat er bislang in dieser Hinsicht gemacht? Es geht also in dieser Phase um nichts weniger, als die konkrete Erlebnis- und Wahrnehmungswelt aktueller respektive potenzieller Kunden zu analysieren und zu verstehen (Schmitt 2003). In der zweiten Phase liegt der Schwerpunkt auf der Ideengenerierung. Ziel ist es ein möglichst breites Spektrum an Ideen zuzulassen, denn je mehr verschiedene Ideen und Ansätze erarbeitet werden, desto wahrscheinlicher wird es, einen optimalen Lösungsansatz zu finden. In der Phase der Ideensuche gilt es, verschiedenste interne und externe Quellen für neue Produktideen oder kontinuierliche Verbesserungen von bestehenden Produkten zu identifizieren und systematisch auszuschöpfen. Dabei zeigen Untersuchungen, dass circa eine Hälfte der Vorschläge und Ideen für Entwicklungen von Produkt- und/oder Prozessinnovationen von Mitarbeiterseite initiiert werden, während die andere Hälfte zu etwa gleichen Teilen durch Kundengespräche und -beobachtungen oder Analysen der Wettbewerbsprodukte zustande kommt (Meffert et al. 2012). Die Notwendigkeit, insbesondere die Kunden deutlich stärker als in der Vergangenheit in Innovationsprozesse einzubinden (z.  B. durch Lead-User, Kundenbeiräte, Idea-­ Communities etc.), hat durch das Paradigma der Service Dominant Logic und dem damit zusammenhängenden Konzept der Value Co-Creation eine neue Dringlichkeit gewonnen (Vargo und Lusch 2008; Grönroos 2011). Das gilt insbesondere im Kontext des Experience-­ Design-­Prozesses oder Service-Design-Prozesses als unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung besserer bzw. neuer Problemlösungen. Darüber hinaus können auch externe Quellen aus dem Beratungs- oder Forschungsbereich, Ideenwettbewerbe oder ein branchenübergreifendes Benchmarking im Sinne des Open-Innovation-Ansatzes Impulse der Ideengenerierung liefern (Chesbrough 2006; Gassmann und Enkel 2006). Zur Unterstützung sollten unterschiedlichste qualitative und quantitative Methoden und Techniken genutzt werden, um Lösungsansätze für die konstatierten Probleme zu finden. Diese Ideen können dann innerhalb der Reflexionsphase im Sinne eines Service Prototypings umgesetzt werden. Grundidee ist es, die vielversprechendsten Ideen entweder onund/oder offline zu visualisieren oder auch als Testprozesse in den laufenden Betrieb einzugliedern bzw. in Testbetrieben auszuprobieren. Die Visualisierung der Ideen ermöglicht eine Diskussion zwischen allen relevanten Stakeholdern (z. B. Mitarbeiter, Kunden, Management, Lieferanten etc.) und schafft somit die Möglichkeit, Lösungsalternativen zu evaluieren bzw. mit diesen weiter zu experimentieren. In Literatur und Praxis gibt es dabei zahlreiche Methoden, um Prototypen zu entwickeln und zu testen, die von Storyboards, Szenarien, Papier- bzw. digitalbasierten Prototypen über Soft- oder Hardwareprototypen differenzierte Visualisierungsoptionen enthalten. Diese können je nach Anspruch und Projektphase von einer groben Skizze mit ersten Darstellungsmöglichkeiten, einer Idee bis hin zu einer realistischen Simulation mit allen Anwendungsfunktionalitäten reichen (Leimeister 2012).

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In der Implementierungsphase geht es dann darum, eine als positiv bewertete Dienstleistung in den Markt einzuführen. Dabei ist nicht nur eine vorläufige Marketingstrategie und Wirtschaftlichkeitsanalyse zu entwickeln, sondern hier es gilt es  – im Sinne eines Change-Management-Prozesses  – insbesondere darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das neu entwickelte Angebot auch ausreichend Akzeptanz innerhalb der Organisation erhält. Dazu ist es notwendig, einen Umsetzungsplan zu erstellen und die genaue zukünftige Prozessorganisation festzulegen. Konkret bedeutet dies, dass alle relevanten Stakeholder, die im Kontext der Erstellung und Vermarktung des neuen Produkt-/ Dienstleistungskonzeptes betroffen sind, mit Blick auf das übergeordnete Ziel des einzigartigen Kundenerlebnis und der Steigerung der Kundenzufriedenheit, frühzeitig und in ausreichendem Maße im Kontext der Entwicklung und Implementierung neuer oder optimierter Produkte und Dienstleistungen zu involvieren sind (Gould 2012; Stickdorn und Schneider 2011; Grots und Pratschke 2009). Wenn die Ergebnisse nach der Piloteinführung nicht zufriedenstellend sind, müssen einzelne Entwicklungsschritte oder ganze Phasen erneut durchlaufen werden. Erst wenn alle Anforderungen erfüllt sind, wird mit der anschließenden Markteinführung der Entwicklungsprozess abgeschlossen. Das Management und der Betrieb der neuen oder optimierten Dienstleistung führen dann über das Performance Management zur langfristigen Qualitätssicherung.

27.4.3 Prinzipien des Experience-Designs Der Gesamtverlauf ist, wie oben beschrieben, ein iterativer Prozess, denn ein Experience-­ Design-­Prozess bzw. ein Service-Design-Prozess wird normalerweise nicht nur einmal, sondern öfter durchlaufen, damit über eine permanente Aktions-/Reflektionsschleife das Design eines Produktes oder einer Dienstleistung Schritt für Schritt aufgrund der Evaluierungsergebnisse immer weiter verfeinert werden kann. Damit wird am Ende eine höhere Qualität erzielt. Design Thinking kennt dabei fünf Prinzipien, die für die Entwicklung und Optimierung von Produkten, Marken und Dienstleistungen im Kontext der verschiedenen Phasen und Prozessschritte des Experience Designs bzw. des Service Designs von Bedeutung sind. Sie fließen in den oben genannten Ansatz ein (hierzu und zum Folgenden Stickdorn und Schneider 2011; Moritz 2005): Kundenfokus (User-centred) Experience Design betont die Notwendigkeit, Dienstleistungen vom Markt her zu entwickeln. Das bedeutet nicht nur, Dienstleistungsprozesse mit den Augen des Kunden zu sehen („Slip into your customers shoes!“), sondern insbesondere die wahrgenommenen Stärken und Schwächen der jeweiligen Dienstleistung aus Kundensicht zu identifizieren und zu analysieren. Die Integration des Kunden in den Leistungserstellungsprozess sowie der Zusammenfall von Produktion und Konsum einer Dienstleistung sind Dienst-

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leistungscharakteristiken, die für weite Teile des Dienstleistungssektors typisch sind. Diese Charakteristiken verschärfen die Notwendigkeit eines expliziten Fokus auf die Bedürfnisse und die Wahrnehmungswelt des Kunden. Das Wissen über den Kunden sollte dabei über simple soziodemografische Merkmale der Kunden hinausgehen, denn der Experience-­Design-­Ansatz verlangt nichts weniger, als den Kunden ganzheitlich als individuelle Persönlichkeit mit all seinen Wünschen, Bedürfnissen und Erwartungen zu erfassen. Wichtig ist nicht nur, den soziokulturellen und den Wettbewerbskontext zu verstehen, in dem sich ein Kundenerlebnis vollzieht. Dies ist beispielsweise bei Wahrnehmungen und Bewertungen von Wartezeiten der Fall, die stark kulturell geprägt sind. Hier es gilt insbesondere, die spezifische Konsumsituation in ihrer funktionalen und emotionalen Ausprägung im Detail zu analysieren, um die individuellen gefühls-, wahrnehmungs- und verhaltensbezogenen Kundenreaktionen besser verstehen und einordnen zu können (Mayer-Vorfelder 2012; Schmitt 2003): Was macht aus Kundensicht ein schönes Konzerterlebnis aus? Was genau erlebt der Kunde in einem Fast-Food-Restaurant? Wie genau erleben Patienten den Umgang mit ihnen in einer Arztpraxis? Wie fühlen sie sich dabei? Je fortgeschrittener hier die unternehmensspezifischen Systeme zur Erfassung qualitativer und quantitativer kundenrelevanter Daten sind (CRM, Data Science, Big Data Solutions, künstliche Intelligenz etc.), desto leichter gelingt es, im Sinne des Experience Designs kundenspezifische Mehrwerte zu schaffen und Kundenbedürfnisse in zufriedenstellende Kundenerlebnisse zu verwandeln. Prozessorientierung (Sequencing) Ohne ein dezidiertes Verständnis der konkreten Kundenerfahrung ist jedoch eine Optimierung von Dienstleistungsprozessen kaum möglich. Die sogenannte Customer Journey versucht diese Kundenerfahrung entlang der verschiedenen Kundenkontaktpunkte („Customer Touchpoints“) nachzuzeichnen, um die Wahrnehmungswelt des Kunden systematisch zu erfassen. Die Erfassung der kundenbezogenen Sequenzen und Episoden wird im Experience bzw. Service Design mittels Instrumenten wie dem Service Blueprinting, dem Service Mapping, der Customer Journey oder der Customer Experience Map visualisiert, um dann mithilfe der Critical Incident Technique (Bitner et al. 1990) oder der sequentiellen Ereignismethode (Stauss und Weinlich 1997) analysiert zu werden. Anhand dieser grafischen Ablaufdiagramme wird der Kunde dann im Zuge eines qualitativen Interviews durch den Dienstleistungsprozess geführt und gebeten, den Ablauf gedanklich und emotional zu rekapitulieren, um so Hinweise auf besonders positive oder relevante („gain points“) bzw. negative oder irrelevante Leistungsmerkmale bzw. Schlüsselerlebnisse („pain points“) zu erhalten. Die visuelle Zerlegung des Dienstleistungsprozesses in einzelne Kontaktsequenzen respektive Kontaktpunkte ist aber nicht nur für den Kunden von Bedeutung. Hier spielen insbesondere auch die prozessspezifischen Stakeholder eine Rolle, um zu einem besseren Verständnis der Konfiguration und des Zusammenspiels der relevanten Touch­ points und ihren jeweiligen High-Tech- und High-Touch-Elementen zu kommen. Handelt es sich eher um Mensch/Mensch-Interaktionen (z.  B.  Service im Restaurant, Pflege im Gesundheitssektor), Mensch/Maschine-Interaktionen (z. B. Check-in/out-Automat, Chat-

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bot, Pflegeroboter) oder Maschine/Maschine-Interaktionen (z. B. RFID, NFC, IoT)? Sind fremde Dienstleister beteiligt? Sind die Touchpoints real oder virtuell? Diese Fragen und viele weitere Aspekte können mittels einer sequentiellen Darstellung im Hinblick auf Kosten- und Qualitätsgesichtspunkte hinterfragt werden. Materialisierung (Evidencing) Viele Dienstleistungsbranchen, wie beispielsweise die Unternehmensberatung, der Tourismus oder die Medizinbranche, sind in ihrer Leistungscharakteristik durch ein hohes Maß an Immaterialität gekennzeichnet. Entsprechend spielt die Materialisierung von Dienstleistungen auch im Service Design eine wesentliche Rolle („Tangibilize the Intangible“). Den eigentlichen Dienstleistungsprozess und das Serviceerlebnis greif- und erlebbarer zu gestalten und durch demonstrative Leistungs- und Qualitätsbeweise die relative Güte der angebotenen Dienstleistung für den Kunden gleichsam auch materiell erfahrbar zu machen, sind gewichtige Aspekte des Entwicklungsprozess von Dienstleistungen. So sind die Betonung der dienstleistungsbegleitenden materiellen Bestandteile, wie etwa Material, Komfort, Design, Beduftung, Beschallung und Sauberkeit, neben den konkreten Problemlösungsfähigkeiten eines Fitnessstudios, eines Hotels oder eines Pflegedienstleisters durch möglichst aussagekräftige Bilder, eine bildhafte Sprache, sonstige Qualitätssurrogate (Website, Fotos, Videos, Webcams, virtuelle Rundgänge, eine konkrete Unternehmensphilosophie) und nicht zuletzt auch die Personalisierung der Dienstleistungsqualität und der ihr entsprechenden Philosophie eines Betriebs über konkrete Ansprechpartner aus Fleisch und Blut („die Seele des Hauses“) wesentliche Bausteine, die im Zuge von Experience-­ Design-­Projekten entlang der Servicekette in die Wahrnehmungswelt der Kunden eingebunden werden müssen. Kollaboratives Denken (Co-Creative) In den meisten Dienstleistungskontexten sind zufriedenstellende Kundenerlebnisse nicht nur das simple Ergebnis eines bilateralen Zusammentreffens zwischen einem Mitarbeiter und einem Kunden. Der einzelne Augenblick der Wahrheit („Moment of Truth“) ist vielmehr oftmals die finale Phase eines komplexen Zusammenspiels zwischen verschiedenen Personen, Technologien und den damit zusammenhängenden Prozessen. In Krankenhäusern gilt das beispielsweise für Ärzte, Pflegepersonal, Medizintechnik, Service, Küche, Verwaltungspersonal und Abrechnungssysteme. Geht es um die Neuentwicklung oder Optimierung von Serviceprozessen ist es daher ratsam, alle relevanten Stakeholder eines solchen Prozesses mit in die Ideengenerierung und Prozessentwicklung einzubeziehen. S ­ takeholder in der Hotellerie können z.  B. der Hoteldirektor, die Marketing- oder Sales-Verantwortlichen, die IT-Experten, die Front-Office-Mitarbeiter, Housekeeping, die Kunden, Lieferanten oder andere mehr sein. Verschiedene Perspektiven zu integrieren und zu berücksichtigen, ist im Hinblick auf die jeweilige Kosten-/Nutzen-Abwägung von Dienstleistungsinnovationen von essenzieller Bedeutung. So sollen die neuen Prozesse, wie oben gefordert, aus Sicht des Kunden nützlich, nutzbar und begehrenswert sein, sich aber auch gleichzeitig als ökonomisch sinnvoll aus der Sicht des jeweiligen Unternehmens darstellen.

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Integratives Denken (Holistic) Interne oder externe Dienstleistungsprozesse eines Unternehmens sind keine Insellösungen, sondern in der Regel Teil eines in sich kohärenten Dienstleistungssystems. Kohärenz heißt in diesem Zusammenhang, dass Optimierungen und Neuentwicklungen immer auf das große Ganze abzielen. Sie müssen sich zum einen in eine übergeordnete Prozesslandschaft einfügen, zum anderen den Kontext der Unternehmensphilosophie, der Unternehmensziele und der strategischen Grundausrichtung des betreffenden Unternehmens widerspiegeln (Martin 2009). Entsprechend sind im Zuge des Experience Designs und Service Designs hier nicht nur die operativen Akteure des jeweiligen Prozesses oder Prozessschrittes gefragt, sondern auch die Kooperation und Integration aller Stakeholder und Funktionsbereiche eines Unternehmens mit Blick auf die strategische Gesamtentwicklung des Unternehmens: „Keep the big picture!“

27.4.4 Instrumente des Experience Designs Die Instrumentenvielfalt im Experience Design bzw. Service Design ist beeindruckend und bedient sich verschiedenster interdisziplinärer Methoden und Verfahrensweisen aus der Marktforschung, dem Konsumentenverhalten, der Psychologie, der Anthropologie oder auch der empirischen Sozialforschung (Moritz 2005; Mager und Gais 2009; Stickdorn und Schneider 2011) (Abb. 27.3). Dabei gibt es Instrumente, die eher zur Exploration von Kundenbedürfnissen geeignet sind. Andere machen mehr Sinn in den Phasen der Kreation, Reflexion oder Umsetzung, während wiederum andere in verschiedensten Phasen anwendbar sind. Auch die Grade der Komplexität und der Funktionalität sind unter-

Exploration (Inspiration and Insights)

Kreation (Ideation and Refinement)

Reflektion (Prototyping and Evaluation)

Implementierung (Finalization and Delivery)

Trend Scouting Mystery Shopper Benchmarking Ethnography Shadowing Interviews Cultural Probes Workshops Service Safari Costumer Journeys Touchpoint matrices Personas Voice Analysis Facial Coding …

Brainstorming Co-creation Workshops Morphological Box Group Sketching Mind Mapping Blueprint Mood Board Role Play Storyboard Camera Journal …

Szenarien Storyboard Bodystorming Experience prototyping Enactment/Service walkthrough Desktop Walkthrough Wizard of Oz Performance Testing Simulation Role Scripts Usability Test …

Costumer Journeys Blueprints Personas Guidelines Specifications Business Model Canvas Business Plan …

Abb. 27.3  Ausgewählte Instrumente im Experience Design und Service Design. (Quelle: Stickdorn und Schneider 2011, S. 146–215)

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schiedlich. Während beispielsweise das Brainstorming, Personas oder die Stakeholder Map relativ schnell, umkompliziert und kostengünstig eingesetzt werden können, sind die teilnehmende Beobachtung („Shadowing“), die Simulation oder eine offene und unstrukturierte Markt- und Wettbewerbsbeobachtung („Service Safari“) in Bezug auf Zeit, Methodenkompetenz und Budget deutlich anspruchsvoller. Entsprechend ist die Instrumentenvielfalt des Experience Designs und Service Designs auch mehr im Sinne eines Baukastens zu verstehen, der Unternehmen inspirieren und befähigen soll, vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Unternehmenssituation kreativ, ressourcenorientiert und zielbezogen an das Thema Design und Innovation heranzugehen.

27.5 Schlussbetrachtung Der Harvard-Professor Theodore Levitt wurde einmal mit den Worten zitiert, dass es nicht die großen revolutionären Geistesblitze sind, die Unternehmen den Erfolg bescheren, sondern dass anhaltender Erfolg größtenteils damit zu tun hat, sich beständig auf die richtigen Dinge zu konzentrieren und jeden Tag eine Vielzahl unspektakulärer kleiner Verbesserungen zu machen. Innovationen sind in vielen Dienstleistungsunternehmen denn auch eher ein Prozess- als ein Produktthema. Dennoch besteht ein großer Nachholbedarf beim Thema systematisches Management von Dienstleistungsinnovationen. Innovativ sein heißt denn auch, nicht mehr zu imitieren, was der Kollege um die Ecke macht. Letzteres kennzeichnet viele Branchen leider viel zu stark. Beim Design Thinking bzw. dem Experience Design geht es jedoch vielmehr darum sich – im besten Sinne des Marketings als Konzept kundenorientierter Unternehmensführung – dem Kunden und seiner ganz speziellen Erlebnis- und Erfahrungswelt zu öffnen, ausgetretene Pfade zu verlassen, neue Wege zu gehen und die Dinge anders und ganzheitlich zu denken, um so die Philosophie des Design Thinkings zu einem wesentlichen Element der Unternehmenskultur und zukünftiger Wettbewerbsstärke zu machen (Kolko 2015; Martin 2009). Experience Design als Konzept und Denkart kann hierzu zahlreiche Anstöße liefern. Wie gut oder wie schlecht man dies beherrscht, wird dann für die jeweilige Zukunft entscheidender sein als eine trendige Farbe in der Lobby, ein bestimmter Technologiestandard oder blumige Leistungsversprechen. Bill Clinton war in den der 1990er-Jahren im Wahlkampf sehr erfolgreich mit dem Slogan: „It's the economy, stupid!“ Zahlreichen Akteuren aus allen Bereichen der Wirtschaft auf ihrer Suche nach zukünftigen Wettbewerbsvorteilen möchte man in Anlehnung daran denn auch zurufen „It's the experience, stupid!“

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27  Vom Produkt zum Kundenerlebnis: Experience-Design als innovative Methode der … 517 Prof. Dr. Raija Seppälä-Esser  ist seit 2008 Professorin für Tourismusmanagement an der Hochschule Kempten. Vor ihrer Professur arbeitete sie in der Werbebranche und war langjährig im Marketing und in leitenden Positionen der nationalen Tourismusorganisation Finnlands tätig. Sie leitete deren Auslandsvertretungen für Deutschland, die Schweiz und Österreich (in Hamburg und Frankfurt am Main), für Nord-Amerika (in New York) und für Skandinavien (in Stockholm). Sie studierte Betriebswirtschaft an der Universität Tampere in Finnland, Tourismus an der George Washington University (Washington, D.C.) und ist Certified Travel Counselor (The Travel Institute, Boston). Sie promovierte in Tourismusmanagement an der University of Surrey in Guildford, UK.

Ein engagierter Begleiter – Potenziale mobiler Erreichbarkeit am Beispiel eines Reha-Klinikverbundes

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Angela Bittner-Fesseler und Cindy Grant

Inhaltsverzeichnis 28.1  Einleitung  28.2  Kommunikation in einer besonderen Situation  28.3  Klinik-Patient: Kommunikation als Berührungspunkt  28.4  Hürden und Potenziale der Klinik-Patient-Kommunikation  28.5  Die Chance: mobile Applikationen im Gesundheitsbereich  28.6  App mit Potenzial: Befragung an einer onkologischen Rehabilitationsklinikgruppe  28.7  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Klinik-Patient-Kommunikation ist eine besondere Kommunikationsform. Patienten, z.  B. mit einer onkologischen Erkrankung, befinden sich in einer physisch wie psychisch extremen Situation. Sowohl in der Akut-Therapie als auch bei Rehabilitationsmaßnahmen fordern sie schnelle Hilfe und umfangreiche Information im Umgang mit ihrer Krankheit ein. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den aktuellen Herausforderungen und Innovationspotenzialen der Klinik-Patient-Kommunikation. Anhand eines Praxis-Cases wird die Einführung einer App als innovativer Kommunikationskanal diskutiert. Ziel ist es, sowohl potenziell erreichbare ­Verbesserungschancen A. Bittner-Fesseler (*) SRH Fernhochschule, Riedlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Grant Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG, Bad Soden-Salmünster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_28

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A. Bittner-Fesseler und C. Grant

für Klinik und Patient als auch mögliche Risiken der Kommunikation zu analysieren und zu bewerten. Dabei stützt sich der Beitrag zum einen auf eine Befragung onkologischer Patienten und zum anderen auf die Einschätzungen von Medizin- und Management-Rehabilitationsexperten.

28.1 Einleitung Mobil sein. „Always on – always in touch“. Schon seit 2013 nähert sich die Mobilfunknutzung in Deutschland der Vollabdeckung. Die Autoren einer Studie gingen bereits vor 5 Jahren davon aus, dass sich die Internetabdeckung auf 100 % zubewegen wird (IEB 2013; Koch und Frees 2017). Eindeutiger Vorteil dieser Entwicklung ist das transmediale Informiert-­sein ohne räumliche bzw. zeitliche Grenzen. Diese technologische Innovation hat die bestehende Kultur und die Verhaltensnormen bereits verändert, neue soziale Phänomene sind entstanden: „Digitale Technologien verändern die Art und Weise, wie wir denken, fühlen und handeln. Auch auf die nichtdigitale Welt wirken sich diese Änderungen aus. Beispiele wären wachsende Abneigung gegen das Lesen langer Texte und flachere Hierarchien in Anrede und Umgang auf Augenhöhe in der Geschäftswelt. Möglicherweise wird eine neue Wertschätzung physischer Treffen die Frage beantworten, wie digitale Kommunikationsmedien in sozialen Situationen zu verwenden sind“ (IEB 2013). Dass Menschen ihr Smartphone permanent bei sich tragen, eröffnet im Gesundheitsbereich sowohl neue Möglichkeiten als auch neue Ansprüche an die professionelle Kommunikation in Kliniken. Gerade im Bereich der Gesundheit hat das Informationsbedürfnis stark zugenommen (Reifegerste und Baumann 2018). Fragen wie „Auf welche Krankheit deuten meine Symptome hin? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es und welche Klinik ist am besten für mich?“ werden verstärkt in „Dr. Google“ oder Wissensplattformen wie „Wikipedia“ recherchiert. Dennoch entsteht aus der umfangreichen, zur Verfügung stehenden Information oft kein erhöhtes medizinisches Wissen, sondern eine Verunsicherung aus der zugleich stattfindenden Informationsüberlastung (Clasen und Wichelhaus 2018). So kann der neue Konflikt zwischen dem permanenten Informationsbedürfnis auf der einen und der Informationsüberlastung – dem sogenannten Digital Information Overload – auf der anderen Seite als Phänomen beschrieben werden. „Je höher entwickelt die Technologie, umso höher auch das Kontaktbedürfnis“, formulierte der US-amerikanische Autor, Trend- und Zukunftsforscher John Naisbitt diese Wechselwirkung vor einigen Jahren (Naisbitt 1984). Selbst immer erreichbar zu sein, sich Informationen in Sekundenschnelle beschaffen zu können, ruft zugleich die Forderung an alle Kommunikationsbeteiligten hervor, ebenfalls ständig erreichbar zu sein. Die mobilen internetfähigen Medien intensivieren dieses Phänomen als verfügbare Erreichbarkeits- und Rechercheumgebung zur dauerhaften Informationsbeschaffung (Aichele und Schönberger 2016). Ausgehend von dieser Entwicklung stellt sich insbesondere für Menschen in besonderen Lebenssituationen, wie bspw. einer onkologischen Erkrankung, die Frage, wie sich ein derartiger Widerspruch lösen lässt.

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Daher wurde in einer Studie untersucht, ob sich durch die innovative Einführung eines klinikeigenen mobilen Verständigungs- und Informationskanals in Form einer App die Klinik-Patient-Kommunikation für die genannte Personengruppe erleichtern ließe. Dabei spielt noch eine weitere Besonderheit eine Rolle: Unternehmen im Gesundheitswesen sind sowohl Teil des Sozialsystems als auch zugleich betriebswirtschaftlicher Akteur (Roski 2009). Somit verfolgen Unternehmen der Branche sozialmedizinische, politische und ökonomische Ziele. Einen weiteren Handlungsrahmen bilden behördliche Regelungen und Vorschriften bis hin zu Gesetzen (Roski 2009). Das bedeutet, dass einerseits die Gesundheit der Menschen gefördert wird und der Behandlungserfolg im Vordergrund stehen soll. Andererseits sollte das Unternehmen wirtschaftlich handeln und mit knappen Ressourcen wie Mitarbeitern und Medikamenten sorgfältig umgehen, um zu bestehen (Roski 2009).

28.2 Kommunikation in einer besonderen Situation Der Begriff „Kommunikation“ stammt von dem lateinischen Wort „communis“ ab, welches „gemeinsam“ bedeutet. Damit dieser Prozess „gemeinsam“ abläuft, sind mindestens zwei Kommunikationsparteien erforderlich. Kommunikation wird als Informationsaustausch mit dem Ziel der Verständigung angesehen (Ziemann 2007). Im Sinne des im vorliegenden Beitrag bearbeiteten Cases der onkologischen Rehabilitationskliniken ist das geplante Ziel der Kommunikation, den Zustand des „Informiert-seins“ aufseiten der Patienten zu erreichen. In Kliniken findet dies bis heute überwiegend in Form des persönlichen Gespräches – der Ursprungsform der zwischenmenschlichen Kommunikation und medial reichhaltigsten Form (Media Richness-Theorie, vgl. Trepte und Reinecke 2013) – statt. Sie kommt dann zustande, wenn sich Sender und Empfänger einer Botschaft von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und erfordert eine Übereinstimmung von Ort und Zeit beider Kommunikationspartner (Gierl und Hüttl 2009). In Kliniken ist dies klassischerweise das Arzt-Patienten-Gespräch, aber auch die Gespräche Patient/Therapeut/Empfang/Pflege usw. Diese Gespräche können als essenzieller Bestandteil des Rehabilitationsklinikaufenthaltes gelten. Diese Klinik-Patient-Kommunikation nimmt hierbei eine Sonderrolle in der klassischen internen Public Relations (interne Kommunikation) ein, da sowohl der Status des Patienten als auch die Kommunikation mit ihm eine Mischform zwischen interner und externer Kommunikation ist (Baller und Schaller 2017). In erwerbswirtschaftlichen Unternehmen wie Kliniken trägt die interne und externe Unternehmenskommunikation zudem zur Aufgabendefinition und -erfüllung als gewinnorientierte Wirtschaftseinheit, zur internen und externen Handlungskoordination sowie zur Interessensklärung zwischen Unternehmen und ihren internen und externen Bezugsgruppen (Stakeholdern) bei (Zerfaß 2014). Die interne Unternehmenskommunikation befasst sich hierbei bspw. mit fachlichen und sozialen Themen, um das Ziel mitarbeiterorientierter Motivation und Aktivierung oder einer positiven Außenwirkung durch die Mitarbeiter als Botschafter zu erreichen (Mast 2014).

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Die Klinik-Patient-Kommunikation kann dabei wie erwähnt persönlich stattfinden oder medial vermittelt werden. Wenn Kommunikation über Medien wie etwa das Telefon oder die (digitale) E-Mail realisiert wird, wird sie als „medial“ und damit als „nichtpersönlich“ verstanden (Gierl und Hüttl 2009). Diese digital vermittelte Kommunikation besitzt als Vorteile vor allem in der zeit- und ortsunabhängigen Verfügbarkeit der Information sowie ihrer Verbreitung in Echtzeit (Grimm und Delfmann 2017). Insbesondere mobile Endgeräte geben ihren Nutzern eine hohe Flexibilität. Die Vervielfältigungskosten digitaler Informationen tendieren dabei gegen Null und sind für Unternehmen aus diesem Grunde auch kostentechnisch interessant (Sack und Meinel 2009). Außerdem bieten die digitalen Kommunikationskanäle seit Beginn der Web 2.0Ära ihren Nutzern die Möglichkeit der einerseits persönlichen und zielgruppengerechten und der andererseits schnellen und unkomplizierten Interaktion zwischen dem Unternehmen und seinen Stakeholdern bzw. Zielgruppen, die somit über User Generated Content selbst aktiv werden (Münker 2015). Zugleich haben digitale Medien jedoch ein erhöhtes Glaubwürdigkeitsproblem: Geprägt durch die Zeiten der „Fake News“ (insbesondere in Bezug auf die Massen- bzw. soziale Medien; SevenOne Media GmbH Oktober 2017). Lediglich drei Prozent bezeichneten in einer Befragung soziale Medien wie Twitter und Facebook als seriöse Nachrichtenquellen (vgl. Media Activity Guide der ProSiebenSat1-Gruppe in SevenOne Media GmbH Oktober 2017).

28.3 Klinik-Patient: Kommunikation als Berührungspunkt Im Zentrum von Gesundheitsunternehmen als Dienstleistungsbranche steht zu jeder Zeit der Patient als Dienstleistungsempfänger. Kommunikationssituationen zwischen Patienten und Gesundheitsunternehmen wie Akut- und Reha-Kliniken sowie Praxen können in die Phasen vor, während und nach der eigentlichen Behandlung unterteilt werden. Der Kommunikationsprozess setzt ein, bevor ein potenzieller Patient einen Aufenthalt in der Klinik verbringt: Die Klinik (hier: Reha-Klinik) muss ihn „überzeugen“, dass sie „die Richtige“ für ihn ist. Im klassischen Sinne gehen auch Kliniken in diesem Prozess nach dem AIDA-­ Prinzip der Werbewirkungsforschung vor, in dem sie über verschiedene Kommunikationskanäle (A) auf sich aufmerksam machen, (I) das Interesse potenzieller Patienten wecken, (D) bestenfalls den Wunsch (engl. desire) in ihm entfachen, die Rehabilitation (kurz: Reha) in dieser Klinik zu verbringen sowie (A) diesen Wunsch auch in die Tat (engl. action) umzusetzen und den entsprechenden Antrag zu stellen. Ist die Kommunikationsstrategie erfolgreich, entstehen weitere, serviceorientierte Kommunikationssituationen zwischen Klinik und Patienten: Die Klinik kann bei der Beantragung eines Rehabilitationsaufenthaltes unterstützen und unmittelbar vor Reha-Antritt als Ansprechpartner für eventuell aufkommende Patientenfragen zur Verfügung stehen (Hamm-­Kliniken 2018b, d). Wird aus dem Interessenten ein Patient, setzt sich der Kommunikationsprozess in anderer Form fort. Bei den während des Rehabilitationsaufenthaltes entstehenden Kommuni-

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kationssituationen zwischen Patienten und Klinik(-mitarbeitern), ist die Koordination der Therapien (Terminplan für den Patienten) besonders wichtig (Hamm-Kliniken 2018c). Immer wieder gibt es auch Kontakt bei Terminverschiebungen, diese finden in Abstimmung mit der Terminplanung der Klinik statt, um einerseits den Patienten bestmöglich zu informieren und andererseits eine optimale Auslastung der Therapeuten zu gewährleisten (Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG 2017). Organisatorisch spielt die Verwaltungs- und Rezeptionsabteilung einer Klinik während der Rehabilitation eine wichtige Kommunikatorenrolle für alle anderen Fragen (bspw. Anmeldung von Begleitpersonen, bezüglich der Abreise, dem Freizeitprogramm sowie für Probleme oder Beschwerden; Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG 2017). Zugleich sind alle Mitarbeiter der Klinik Kommunikationspartner für den Patienten – von der Reinigungskraft und dem Servicepersonal, über die Therapeuten und Pflegekräfte bis hin zu den Ärzten sowie der Klinikleitung. Sie stehen in täglichen Kommunikationssituationen mit den Patienten und leisten einen wichtigen Beitrag zu seiner Zufriedenheit (Frommeyer 2012). Nach der Reha findet ein Rollenwechsel statt: Der Patient übernimmt eine für die Klinik wichtige Kommunikatorrolle, in dem er den Aufenthalt bewertet: in seinem persönlichen Umfeld, über Bewertungsportale etc. (Papenhoff und Platzköster 2010). Die Praxis zeigt, dass bei den Patienten in dieser Phase weiterhin ein hohes Informationsbedürfnis besteht – bspw. nach Informationsmaterial wie Trainingsübungen oder Kochrezepten, die der Patient während der Reha erhalten kann und von welchen er noch nach dem Aufenthalt profitiert. Dies kann langfristig zur positiven Erinnerung an die Klinik beitragen (Degemed 2018). Durch die Aufrechterhaltung des Kontakts zwischen Klinik und Patient kann außerdem ein Wiederholungsaufenthalt – als Patient oder Privatperson – ausgelöst werden. Die große Bedeutung der Kommunikation mit dem Patienten deutet darauf hin, dass die Klinik-Patient-Kommunikation, wie später am Beispiel einer onkologischen Rehabilitationsklinik gezeigt wird, eine Rolle als Serviceleistung hinsichtlich der Patientenzufriedenheit spielt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Kommunikation einen wesentlichen Beitrag zur Patientenzufriedenheit leistet.

28.4 Hürden und Potenziale der Klinik-Patient-Kommunikation Dass im Zuge der digitalen Kommunikation im Gesundheitswesen einige Besonderheiten berücksichtigt werden müssen, soll nachfolgend diskutiert werden. Lange Zeit war die externe Marketingkommunikation in der Gesundheitsbranche ein Tabu, da die Annahme vorherrschte, eine gute Praxis oder eine gute Klinik brauche kein Marketing, um Patienten zu gewinnen (Papenhoff und Platzköster 2010). Seit einigen Jahren unternimmt fast jede Klinik Marketinganstrengungen, wenn auch im gesetzlich vorgegebenen Rahmen (Papenhoff und Platzköster 2010). Wenn auch die Heilung einer Krankheit laut dem H ­ eilmittelwerbegesetz (Heilmittelwerbegesetz  – HWG 20. Dezember 2016) nicht beworben werden darf, so werden bspw. Klinikausstattung oder ein besonderer

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Service kommuniziert und können in die sog. Word of Mouth gelangen (dem Marketing zugeordnet, vgl. Papenhoff und Platzköster 2010). Tatsächlich findet aber seit fast 10 Jahren die überwiegende Kommunikation über eine(n) Klinik(-aufenthalt) auch im Gesundheitswesen nicht mehr über Weitererzählen statt, sondern digital, bspw. über Bewertungsportale (Papenhoff und Platzköster 2010). Zugleich besteht gerade im Bereich der Digitalisierung in deutschen Gesundheitsunternehmen Nachholbedarf (Heitz 2018). Die Hürden für die Kliniken liegen vor allem in der Finanzierung von Digitalisierungsprojekten (Degemed 2018), auch da diese Projekte nur selten eine direkte Erlössteigerung auslösen, wenn auch langfristige Erlössicherung zu erwarten wären (Clasen und Wichelhaus 2018). Eine weitere Hürde für die Weiterentwicklung der Digitalisierungsprojekte in der Gesundheitsbranche ist der Datenschutz (Degemed Juli 2018). Im Gesundheitswesen werden häufig sensible Daten ausgetauscht – eine digitale Interaktion erfordert somit höchste Sicherheitsvorkehrungen. Durch Cyberkriminalität und die neue Datenschutzverordnung sind Unternehmen verunsichert und präferieren weiterhin die Kommunikationslösungen über herkömmliche Kanäle (Heitz 2018). Trotz steigender Sensibilität in Bezug auf eigene Daten und deren Nutzung durch Dritte zeigen sich die Nutzer laut einer Studie von Bitkom (2017) allerdings in Hinsicht auf die Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten an gesundheitliche Einrichtungen eher „entspannt“ (Wellner 2017). Insgesamt 91 % der Befragten gaben an, ihre Daten über eine digitale Gesundheitsanwendung ohne Probleme mit Ärzten zu teilen (Braun 2016; Wellner 2017). Zugleich steigen die Ansprüche (potenzieller) Patienten: Patienten informieren sich heutzutage zunehmend im Internet über eigene Krankheitssymptome, mögliche Diagnosen, Therapien und Kliniken und bereiten sich auf Arztbesuche vor (Clasen und Wichelhaus 2018; Papenhoff und Platzköster 2010). Gesundheitsthemen gehören mittlerweile sogar zu den meistgesuchten Suchbegriffen im Internet (Scherenberg et al. 2018). Dabei suchen Nutzer, die bereits an einer Krankheit leiden, vor allem nach Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten, aber auch nach ergänzenden Informationen zur Meinung ihres Arztes, um diese besser evaluieren zu können und Entscheidungshilfen zu erhalten (Reifegerste und Baumann 2018; Scherenberg et al. 2018). Antworten auf gesundheitsspezifische Fragen sind umfangreich im Internet zu finden und verleihen dem Patienten ein gewisses Selbstbewusstsein und Mündigkeit. Allerdings kann die Fülle der Daten auch zu seiner Verunsicherung führen (Clasen und Wichelhaus 2018; Hahn und Schreiber 2018). Der sogenannte „Digital Information Overload“ tritt ein, wenn ein Nutzer durch den Umfang der Informationen überfordert ist und nicht mehr zwischen relevant und irrelevant unterscheiden kann (Clasen und Wichelhaus 2018; Flade 2017). Hinzu kommt, dass Patienten sich zumeist bei „Google“ und allgemeinen Onlinelexika, wie z. B. „Wikipedia“, informieren (Kuhn et al. 2018). In diesen Quellen befinden sich jedoch auch unkorrekte medizinische Angaben und harmlose Symptomnennungen stehen neben lebensbedrohlichen Diagnosen, was die Verunsicherung des Patienten erhöhen und im Ergebnis zu Halbwissen führen kann (Hahn und Schreiber 2018; Kuhn et al. 2018).

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Dies birgt für Gesundheitsunternehmen eine Chance: Ein potenzieller Zweifel an der Glaub- und Vertrauenswürdigkeit kann von Kliniken oder Praxen genutzt werden, indem diese eigene, leicht verständliche und vertrauenswürdige – weil fachlich basiert und überprüfbare – Informationen für ihre Zielgruppe im Internet veröffentlichen, um mit den Patienten in Kontakt zu bleiben und positive „Berichterstattung“ durch persönliche gute Erfahrung auszulösen (Degemed 2018). Größte Hürde für die digitalbasierte Kommunikation im Gesundheitswesen bestehen aufseiten der Kliniken in der Finanzierung, dem Datenschutz sowie unverständlicher, weil zu komplizierter Information. Dennoch wird von Experten empfohlen, den digitalen Wandel mitzugehen und zu gestalten, da die Patienten mit großer Selbstverständlichkeit diese Medien nutzen und zusätzliche, indirekte Kommunikationseffekte für Kliniken und Praxen auftreten können (Kathmann 2017).

28.5 Die Chance: mobile Applikationen im Gesundheitsbereich Bereits 1991 hat Mark Weiser vorhergesehen, dass diejenige Technologie den größten Einfluss auf uns hat, die vor unseren Augen verschwindet und sich vollständig ins alltägliche Leben integriert. Heute greifen wir täglich auf Smartphones, Tablets, Uhrencomputer und demnächst Datenbrillen zurück. Seit dem Auftauchen der ersten App vor mehr als 10 Jahren gehören Gesundheits-Apps heute zum Alltag der Menschen. Rund 1,2  Mio. zum Download verfügbare Gesundheits-Apps waren bereits 2016 im App Store nachweisbar (vfa 2017). Jeder zweite Deutsche nutzt sie (BITKOM 2017). Mobile Endgeräte, z. B. wie Smartphones und Tablets, haben sich in kürzester Zeit zum zentralen Medium für Onlineaktivitäten und digitale Kommunikation entwickelt (Aichele und Schönberger 2016). Von den 62,4 Mio. Internetnutzern in Deutschland nutzten 2017 laut dem Statistischen Bundesamt 81 % auch das mobile Internet (ARD und ZDF 2017; Statistisches Bundesamt 2017). Die hohe Erreichbarkeit vereint mit einer präzisen Lokalisierbarkeit und einer hohen Ortsunabhängigkeit sind die zentralen Eigenschaften der mobilen Endgeräte (Aichele und Schönberger 2016). Weiterhin zeichnen sich die Geräte durch ihr breites Portfolio unterschiedlichster Anwendungsmöglichkeiten aus (Denker et al. 2013). Erleichtert wird der Wechsel zwischen den einzelnen Anwendungsmöglichkeiten durch „mobile Software Applikationen“ – sogenannte „Apps“ (Pleil 2017). Grundsätzlich ist unter einer App eine Software zu verstehen, die speziell für die Ausführung auf mobilen Endgeräten konzipiert ist (Maske 2012): als Unterhaltungsmedium, als Informationsquelle oder als Kommunikationsplattform etc. Gleichzeitig sind Apps auf den mobilen Endgeräten immer und überall verfügbar, denn durch die Einführung von Datenflats und WLAN ist es möglich, jederzeit online sein zu können (Denker et al. 2013). Eine Besonderheit von Apps sind neben der ständigen Nutzbarkeit der User auch die Möglichkeit der sogenannten „Push-Nachrichten“, die in Echtzeit an die App-Nutzer versendet werden, um ihn auf die gewünschte Seite der App zu leiten und die Aktivität, wie etwa eine

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Nachricht zu lesen oder einen Kaufabschluss zu tätigen, auszuführen (Kamps und Schetter 2018). Damit ist die App auch dann aktiv, wenn der Nutzer es gerade nicht ist. Push-­ Nachrichten kommen vor allem von Terminkalender-Apps, Chat-Plattformen und sozialen Netzwerken vor, können aber auch als Newsletterkanal von Shopping Apps dienen, über die Angebote informieren. Nutzer einer App müssen sich bei deren Installation aktiv für den Erhalt von Push-Nachrichten entscheiden (Kamps und Schetter 2018). Fast jeder zweite Deutsche nutzt heute bereits Gesundheits-Apps. Vor allem die Fitness-­ Apps erfreuen sich großer Beliebtheit. Zudem werden Ernährungs-Apps, Apps zur Körpervermessung sowie Meditations- und Achtsamkeitsanwendungen laut der Studie des Onlinestatistikportals Statista.de genutzt (Statista 2018). Insgesamt 7  % der Befragten gaben an, Patienten-Apps von Arztpraxen, Krankenhäusern oder Rehabilitationskliniken zu nutzen. In einer anderen Studie gaben 17 % der Befragten an, Gesundheits-Apps zu nutzen, um die Genesung einer Krankheit zu fördern (BitKom 2017). Die Durchdringung des Alltags mit Smartphones, Tablets und Wearables hat zur Folge, dass Gesundheits-Apps in sämtlichen Lebensbereichen zur Anwendung kommen. Diese Akzeptanz bietet auch in der Klinikumgebung eine Chance. Doch im Behandlungsumfeld und insbesondere im onkologischen Behandlungsbereich ist dies noch überwiegend Neuland. Bei der Differenzierung wird im vorliegenden Beitrag von dem besonderen Aspekt einer App mit nutzerorientierter Unterstützung bei gesundheitsbezogenen Aspekten ausgegangen (Information einer Patientengruppe im besonders informationsbedürftigen Kontext), die unterstützen, ohne in eine Behandlung einzugreifen (vgl. Die Differenzierung der Anwendungsfelder und -kontexte im Mobil-Health(mHealth)-Bereich nach der CHARISMHA-­ Studie, Albrecht 2016, S. 53–54). Gesundheits-Apps können sowohl die Mündigkeit von Patienten und gesunden Menschen als auch ihre Handlungsfähigkeit steigern. Generell unterschieden sich Apps im Bereich Gesundheit in sogenannte Health/Gesundheits-­Apps, Medical- und MPG-Apps, wobei es in der frühen Phase der Apps keine Definition im Gesundheitsbereich gab. Ein Definitionsvorschlag stammt daher von der GKV 2016. Die GKV geht davon aus, dass Health/Gesundheits-Apps mobile Anwendungen für Menschen mit dem Ziel der Gesundheitsförderung sind; Medical-Apps ihrerseits mobile Anwendungen für Leistungserbringer zur Unterstützung des Berufsalltags sowie für Patienten zum besseren Selbstmanagement meist chronischer Erkrankungen sind und MPG-Apps u.  a. Software zum Zweck des Erkennens, Überwachens, Behandelns bzw. Linderns von Krankheiten darstellen (Gregor 2016). Unter der Prämisse der Allgegenwärtigkeit von Apps im Alltag moderner Menschen wurde in einer Studie überprüft, ob Apps auch den Alltag von Patienten einer onkologischen Rehabilitationsklinik erleichtern oder verändern können. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die speziellen Kommunikationsbedürfnisse von Patienten einer onkologischen Rehabilitationsklinik durch eine App (also digitalbasierter, mobiler Kommunikation) befriedigt werden können und inwieweit eine derartige Kommunikation im sensiblen Gesundheitsbereich sowohl bei Patienten als auch im Verwaltungs- und Medizinbereich Akzeptanz finden kann.

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28.6 A  pp mit Potenzial: Befragung an einer onkologischen Rehabilitationsklinikgruppe Im Mittelpunkt standen die Hamm-Kliniken, ihre Patienten und Experten aus der Verwaltung und dem ärztlichen Bereich. Bei der Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG handelt es sich um eine Fachklinikengruppe für onkologische Rehabilitation und Anschlussrehabilitation. Die Klinikgruppe besteht aus vier Fachkliniken, deren Standorte deutschlandweit verteilt sind und die insgesamt über rund 700 Betten und 550 Mitarbeiter verfügt (Hamm-Kliniken 2018e). Das Ziel einer onkologischen Rehabilitationsmaßnahme ist eine allgemeine Verbesserung der Lebensqualität von Menschen nach einer Krebstherapie, die beispielsweise in Form einer Operation, einer Bestrahlung oder einer Chemotherapie durchgeführt werden kann (Hamm-Kliniken 2018g). Die Therapiemaßnahmen der onkologischen Reha reichen von sport- und physiotherapeutischen Maßnahmen zum Wiederaufbau von körperlicher Fitness, über ergotherapeutische Anwendungen wie Gedächtnistraining oder Greifübungen, bis hin zur Ernährungstherapie und psychologischen Behandlungsmöglichkeiten wie Gesprächskreisen oder Entspannungstherapien (Hamm-­ Kliniken 2018c). Laut der Unternehmensphilosophie verfolgen die Hamm-­Kliniken das Ziel, „die onkologische Rehabilitation und Anschlussrehabilitation (AHB) auf höchstem Niveau und richtungsweisend zu gestalten“ (Hamm-Kliniken 2018f). Dazu gehört laut der Geschäftsführung auch die Digitalisierung (Grant 2019). Die Motivation der Hamm-Kliniken, die Potenziale einer App-Einführung zu untersuchen, besteht demnach einerseits darin, sich von der Konkurrenz abzuheben und andererseits die ökonomischen Vorteile technischer Verschlankungen qualitativ zu nutzen (Grant 2019). Zunächst wurde erhoben, dass das aktuelle App-Angebot für Patienten mit einer onkologischen Erkrankung vor allem auf Informations-Apps beruht. Diese zielen darauf, Informationsdefizite der Betroffenen zu verringern und wichtige Informationen wiederholt nachlesbar zu gestalten (Kramer 2019; Verclas und Linnhoff-Popien 2012). Die Kategorie „onkologische Rehabilitation“ beinhaltet derzeit keine klinikeigene App, die über eine reine Informationsbereitstellung hinausgeht (App Store, Google Play Store als Referenzplattformen). Um die Potenziale mobiler Erreichbarkeit und der Einführung einer App zu untersuchen, wurde ein umfangreicher Analyseprozess angestoßen: Zu Beginn wurden im Unternehmen bestehende Kommunikationsprobleme im Rahmen einer papiergestützten Umfrage bei Patienten in den Kliniken abgefragt und identifiziert. Anschließend wurde mithilfe einer Onlineumfrage die Akzeptanz onkologischer Patienten in Bezug auf die Nutzung einer Reha-App sowie präferierte Nutzungsfunktionen einer solchen App erfragt. Insgesamt nahmen 520 Personen innerhalb 12 Tagen an der über Facebook verbreiteten und als E-Mail an ehemalige Patienten versendeten Umfrage teil. Teilnahmevoraussetzung war eine akute oder vergangene onkologische Erkrankung. Zwei Drittel der Befragten waren zwischen 50 und 70 Jahre alt, was dem Altersdurchschnitt der Patienten in den Hamm-Kliniken von 62,5 Jahren entspricht (Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG 2018).

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Zum Einstieg in die Thematik einer Hamm-Kliniken-App wurde zunächst nach einer präferierten Nutzungsweise für eine potenzielle Hamm-Kliniken-App gefragt. Zur Auswahl standen die Nutzungsphasen vor, während und nach dem Rehabilitationsaufenthalt sowie die Homepage im App-Format zur schnelleren Aufrufmöglichkeit und der Verwendung der App als Nachschlagewerk für onkologische Fragestellungen. Den Teilnehmern war es dabei möglich, mehrere Antworten zu wählen. Die meisten Teilnehmer konnten sich ein Nachschlagewerk der Hamm-Kliniken für onkologische Fragestellungen vorstellen, dicht gefolgt von der Nutzung einer App nach der Reha (58,5 % und 57,1 %). Die Nutzungspräferenzen vor und während der Reha waren einander ähnlich (52,7 % und 52,9 %). Nicht wichtig war den meisten Befragten (18,3 %) die Klinik-Homepage im App-Format. Im weiteren Verlauf der Umfrage wurden die Nutzungsphasen vor, während und nach der Rehabilitation präzisiert und Funktionswünsche in vierstufigen Ratingskalen abgefragt: 1. Vor der Reha: Die Funktion einer digitalen Reha-Vorbereitungscheckliste wurde am stärksten nachgefragt (Mittelwert 1,7 auf einer Skala von 1,0 als Bestwert bis 4,0 als schlechtester Wert). 2. Während der Reha: Die Abbildung eines digitalen Therapieplans wurde am stärksten gefordert (Mittelwert 1,5 bei gleichbleibender Bewertungsskala). 3. Nach der Reha: Den größten Wunsch hegten die meisten Befragten nach Sport- und Entspannungsübungen für zu Hause sowie Ernährungstipps und Rezeptvorschläge (Mittelwert 1,8 bei gleichbleibender Bewertungsskala). Die Onlineumfrage schloss mit einer allgemeinen Einschätzung zur Nutzungs- und Installationsbereitschaft einer Hamm-Kliniken-App. Hierbei konnten die Teilnehmer die Frage „Würden Sie sich eine Hamm-Kliniken-App auf Ihrem mobilen Endgerät installieren?“ nur mit Ja oder Nein antworten. Insgesamt 100 % der Befragten zwischen 31 und 40 Jahren stimmte mit Ja. Mit zunehmendem Alter sank allerdings die Installationsbereitschaft, von 86 % bei den 41–50-Jährigen auf rund 82 % bei den 51–60-Jährigen (75 % bei 61–70 Jahre) und immerhin noch 58 % bei Menschen über 70 Jahren. Im Mittelwert aller Altersgruppen lag die Installationsbereitschaft zum Messzeitpunkt bei 76 %, wodurch sie eine grundsätzliche Akzeptanz der App-Nutzung bei den befragten onkologischen Patienten bestätigt (Grant 2019). In Ergänzung zum obligatorischen Entlassfragebogen wurde in zwei der vier Hamm-Kliniken jeweils über eine Entlassungsperiode von 7 Tagen eine Zusatzbefragung zur aktuellen Kommunikationszufriedenheit durchgeführt. Die Befragung erhob das Informationsbedürfnis (Wissensdelta) bei den ausscheidenden Patienten. Insgesamt nahmen 101 von 103 Befragten an der Umfrage teil. Die Befragung war in drei Kategorien unterteilt und als Einfachauswahl auf einer Vier-Stufen-Skala konzipiert. Insgesamt ergab die Befragung einen recht hohen Zufriedenheitsgrad, nur 3 Kriterien wurden schlechter als Note 1,3 bewertet (wodurch auf aktuelle Kommunikationsprobleme geschlussfolgert wurde). Hierzu zählten die „zeitliche Verfügbarkeit der Klinikmitarbeiter“, die „Öffnungs-

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zeiten der Rezeption“ sowie die „Menge an bereitgestellten Informationen“. Bei einer ergänzenden Fragenkategorie zu offenen Wünschen an die Kommunikation herrschte eine hohe Nachfrage danach, „mehr Informationen zu den Therapien oder Vorträge noch einmal nachlesen zu können“. In einem letzten Untersuchungsschritt wurden interne Experten (Management und ärztlicher Bereich) zu den Chancen und Risiken einer App-Einführung befragt – auch hinsichtlich des wahrgenommenen Informationsbedürfnisses sowie des medizinischen Vorwissens der Patienten. Gerade sie sind es, die bei Realisierung einer App sowohl in der Mitarbeiterschaft für Akzeptanz und Durchsetzung dieses zusätzlichen Kanals werben als auch gegenüber Patienten verargumentieren müssten. Korreliert wurden die Befragungsergebnisse mit Experteninterviews. Bei den 6 Interviewpartnern handelte es sich um Vertreter der kaufmännischen Leitung, leitendes Personal aus dem ärztlichen Bereich sowie auf Gesellschafterebene und dem Qualitätsmanagement der Klinikgruppe mit hoher Rehabilitations- und Managementexpertise. Es wurden so drei relevante Perspektiven (ärztlich, Management und Einzelklinik sowie Management und gruppenübergreifend) erhoben. Hierbei kristallisierten sich relevante Unterschiede zwischen der medizinischen und ökonomischen Perspektive heraus (siehe Tab. 28.1): Insgesamt überwogen für die Befragten der ökonomischen Perspektive eindeutig die Vorteile einer App-Einführung. Die Mediziner schätzten eine App ebenfalls als grundsätzlich sinnvoll ein, waren jedoch wesentlich skeptischer. Die Ergebnisse der drei Befragungen aus Perspektive der Betroffenen und der des Dienstleisters bestätigen die Kommunikationssituation im Gesundheitsbereich am Beispiel einer onkologischen Rehabilitationsklinik: 1. Der Wunsch nach ständiger Information: Der Wunsch nach Information zu Öffnungszeiten sowie die zeitliche Verfügbarkeit von Mitarbeitern für Rückfragen spiegeln die Erwartungshaltung schneller Reaktionen und kurzer Antwortzeiten wider – ein Phänomen, das durch die Digitalisierung verstärkt wird, jedoch mit ihrer Hilfe befriedigt werden kann (Pleil 2017). Die App kann eine Erleichterung für den Patienten darstellen. Sie ist ein digitales Kommunikationsmittel und somit ständig verfügbar und flexibel einsetzbar (Aichele und Schönberger 2016; Grimm und Delfmann 2017). Sie kann damit ein spontanes Informationsbedürfnis auch dann befriedigen, wenn die Rezeption geschlossen ist, alle Mitarbeiter des Patientenmanagements in Telefongespräche verwickelt sind oder sich eine Frage außerhalb der ärztlichen Sprechstundenzeiten stellt. 2. Das verstärkte Unterstützungspotenzial mittels Technologie: Als Unterstützung bei der Rehabilitationsantragserstellung beim Hausarzt oder bei einem Termin mit der Sozialberatung, erfährt ein Patient mithilfe der App die Erleichterung, schnell und unkompliziert gewünschte Informationen zur Klinik abzurufen. Nicht selten verfügen Allgemeinmediziner über ein nur begrenztes Wissen im onkologischen Bereich und ziehen bei speziellen Fragestellungen das Internet zurate (Kuhn et al. 2018). Zwar sind Reha-Antragshilfen und Musterformulare bereits auf der Hamm-Klini-

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Tab. 28.1  Vergleich der medizinischen und ökonomischen Perspektiven auf einer Reha-App. (Quelle: Eigene Darstellung) Thema 1: Informationsbedürfnis und medizinisches Vorwissen von Patienten

Thema 2: Chancen einer App-­ Einführung für Patienten und Klinik

Thema 3: Risiken

Medizinische Perspektive:  ‐ Problem der Information zum falschen Zeitpunkt; zu viel Information (z. B. noch während der Akuttherapie im behandelnden Krankenhaus)  ‐ D  urch das Internet verstärktes Problem eines möglichen Information Overload  ‐ P  roblem der Desinformation durch Falschinformationen im Internet Ökonomische Perspektive:  ‐ Internet als große Informationsplattform, die hilfreich für die Patienten und ihr medizinisches Vorwissen sein kann und das Bedürfnis nach kommunikativer Selbstbestimmung befriedigen kann Medizinische Perspektive und ökonomische Perspektive:  ‐ App als Unternehmenschance durch einen Werbeeffekt  ‐ App als positiver Kanal der Informationsvermittlung zwischen Klinik und Patienten  ‐ Vorteile in der Prozessoptimierung für die Klinik (Flexibilität bei Botschaftsvermittlungen steigern und zeitliche Ressourcen einsparen) Ökonomische Perspektive:  ‐ F  inanzielle Einsparungsmöglichkeiten in Form von Papiereinsparungen  ‐ Nachkommen der Kostenträgerforderung nach Reha-­ Nachhaltigkeit Medizinische Perspektive  ‐ Datensicherheit  ‐ Ersatz persönlicher Kommunikation  ‐ Unbeaufsichtigte Durchführung von Bewegungsübungen  ‐ Auftreten von Unzufriedenheit durch Fehleranfälligkeit oder Bedienungsschwierigkeiten.  ‐ Risiko von Zusatzaufwänden bei Mitarbeitern, die Patienten im Umgang mit der App unterstützen müssten  ‐ E  lektronikausfall: Patienten bekommen keine Information (Therapieplan) Ökonomische Perspektive:  ‐ Zweiteilung der Patienten, wenn App-Patienten besser informiert wären als die ohne App (vgl. zu diesem Thema auch die 2016 erste mehrdimensionale und unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden erhobene Bestandsaufnahme zum Thema Gesundheits-Apps, CHARISMHA-Studie (Albrecht 2016))

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ken-Homepage hinterlegt, jedoch kann die Bündelung aller Informationen in einer mobilen App als ständig verfügbares und griffbereites Medium zur effizienteren und erfolgreicheren Reha-Vorbereitungs-Interaktion zwischen Hausarzt und Patienten beitragen. 3. Der dauerhafte Zugriff auf vertrauenswürdige Information: Sowohl der in der papiergestützten Kurzumfrage identifizierte Wunsch „mehr Informationen … noch einmal nachlesen zu können“ als auch die Ergebnisse der Onlinebefragung ergeben eine hohe Nachfrage nach zusätzlichen Informationen, auf die auch nach der Rehabilitation weiter zugegriffen werden kann. Die meisten der Experteninterviews bestätigen das wachsende Informationsbedürfnis aufseiten der Patienten. Die Hamm-Kliniken als bekannte Institution stellen für die Patienten eine vertrauenswürdige Datenquelle dar, die auch in der digitalen Form der Informationsweitergabe den Patienten Sicherheit durch glaub- und vertrauenswürdige Information bieten kann. Zwar sind auch auf der Hamm-Kliniken-Homepage umfassende Informationen zu finden, doch die gelernte und bequeme Nutzung von mobilen Endgeräten kann einer der wesentlichen Auslöser dafür sein, dass die Patienten laut der Onlinebefragung eine App als Informationskanal und Nachschlagewerk bevorzugen würden (Hamm-Kliniken 2018a). 4. Eine einfache Unterstützung durch Serviceangebote: Im Sinne der Patientenbindung und seinem Wohlergehen nach der Reha kann über eine App auch die nachhaltige Sicherung der Rehabilitationseffekte abgebildet werden (siehe Abb. 28.1). Von den Patienten wurden in der Onlineumfrage vor allem sporttherapeutische Übungen, Entspannungsübungen und Ernährungstipps für zu Hause nachgefragt. Die Übungen könnten durch die Vermittlung über das mobile Endgerät ortsungebunden abgerufen und durchgeführt werden – ob im Urlaub, im Wohnzimmer oder an der frischen Luft. Diese Einfachheit kann die Patienten dazu motivieren, die während der Rehabilitationsphase erlernten Übungen und Verhaltensweisen fortzuführen und so die Behandlungserfolge langfristig zu sichern, was zudem Anforderung der Kostenträger ist, um Patienten möglichst lange vor einer Erwerbsunfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu bewahren (Degemed 2018; Kowalewski 21.03.2017).

Abb. 28.1  Screenshot der Patienten-App. (Quelle: Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG)

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5. Eine Akzeptanz angesichts des Entlastungspotenzials zwischen Patient und Klinik: Auch vor und während der Reha können durch die Einführung einer App für den Patienten kommunikative Erleichterungspotenziale entstehen. Vor der Reha wurde vor allem eine vorgefertigte Reha-Antragscheckliste in der Onlineumfrage nachgefragt (siehe Abb. 28.1). Diese könnte einerseits den Patienten die Angst vor der Reha nehmen und ihnen die Sicherheit geben, gut auf den mehrwöchigen Aufenthalt vorbereitet zu sein, andererseits wären dadurch auch Prozessoptimierungs- und Entlastungspotenziale aus Kliniksicht möglich, wenn etwa die Patientenaufnahme an der Rezeption schneller und reibungsfreier erfolgen könnte und weniger Nachfrageanrufe im Patientenmanagement landen würden. Ein in den Interviews sehr häufig angesprochenes und durch die Ergebnisse der Onlineumfrage bestätigtes Thema ist weiterhin die Prozessoptimierung der Terminplanung. Mithilfe einer App könnten Terminänderungen direkt auf das Smartphone oder Tablet versendet werden, womit Zeitaufwände für Patienten eingespart und Prozessoptimierungen für die Kliniken ausgelöst werden würden. Mit sinkendem Alter nahmen die Installationsbereitschaft und die durchschnittliche Mehrwerteinschätzung zu. Daraus kann auf die hohe Onlineaffinität junger Menschen geschlossen werden, die mit der Digitalisierung bereits aufgewachsen sind. Die Vermutung liegt demnach nahe, dass sich diese Affinität und die dementsprechende Wertschätzung digitaler und mobiler Kommunikationsangebote in Zukunft auf alle Altersgruppen ausbreiten wird und die Nachfrage nach digitalen Therapieplänen und anderen Kommunikationsfunktionen weiter steigt. Auf dieser Basis gilt es nun bei der App-Entwicklung  – aufbauend auf den bisherigen Überlegungen und Erfahrungen im Arbeitsgebiet der Apps im Gesundheitsbereich (s. die umfassende Untersuchung bei CHARISMHA, Albrecht 2016), die wesentlichen Aspekte und Kriterien der Entwicklung wie Content und Funktionalität, Nutzerorientierung, Design und Benutzerfreundlichkeit, Zuverlässigkeit, Datensicherheit und Patientenschutz einzubeziehen und mit dem gesamten Potenzial von Visualisierung und einfacher Bedienbarkeit zu kombinieren. Doch das ist nicht alles: „Meiner Auffassung nach ist der Mensch nicht bloß Information und daher halte ich die Reduktion des Menschen auf eine Speicherplatte für unmöglich“, sagte der berühmte Forscher und Computerwissenschaftler am Massachusetts Institut of Technology, Joseph Weizenbaum, im Jahr 2001. Dass die Kommunikation zwischen Klinik und Patient gerade in der onkologischen Reha nicht nur auf Information beruht, ist zu Beginn herausgestellt worden. Dieser Grundgedanke sollte auch nach einer App-­ Einführung weiterhin in allen Kontakten zwischen Klinik und Patient Beachtung finden.

28.7 Schlussbetrachtung Im Beitrag wurde untersucht, ob sich die aktuelle Akzeptanz von Apps im alltäglichen Lebensumfeld von modernen Menschen auch auf eine besondere Lebenssituation und -umgebung erstreckt. Dies wurde an einer onkologischen Rehabilitationsklinik untersucht

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und bestätigt. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Patienten in der gesellschaftsweit hohen Akzeptanz von Apps auch bei einer besonderen, nicht einfachen Lebenssituation keine Ausnahme machen. Aus Sicht der Patienten konnten vor allem die ständige Verfügbarkeit an Informationen und die Vereinfachung von Reha-Prozessen während und nach dem Klinikaufenthalt als kommunikative Erleichterungspotenziale einer App-Einführung identifiziert werden. Für die Kliniken entstünden durch die Einführung des neuen Kommunikationskanals vor allem positive Werbeeffekte, Prozessoptimierungspotenziale und die Möglichkeit einer nachhaltig gestalteten Rehabilitation. Da im Handlungsfeld onkologischer Rehabilitationskliniken derzeit keine vergleichbare App existiert, wäre eine Einführung ein innovativer Schritt für die Branche, könnte bei Patienten positive Assoziationen auslösen und die Attraktivität des Unternehmens steigern. Die Einführung eines neuen Kommunikationskanals könnte im hochkompetitiven Gesundheitsbereich zu einem kommunikativen Wettbewerbsvorteil führen. Die theoretischen Überlegungen zeigten zugleich deutlich, dass in diesem jungen Arbeitsfeld abgesichert werden sollte, dass ein Novum – auch angesichts einer hohen Akzeptanz – in Abwägung von Transparenz und Privatheit, Autonomie und Kontrolle realisiert wird und sich in der Gemeinschaft von Patient und Klinikpersonal beidseitig positiv auswirkt. Die Identifikation zielführender Ausprägungen von Apps in diesem Tätigkeitsbereich sollte in zukünftigen wissenschaftlichen Studien erhoben werden. Hierzu zählen Aspekte, wann Menschen Apps in der Reha als hilfreich empfinden sowie was diese Apps leisten müssen. Dies ist aus Nutzersicht bisher unzureichend analysiert.

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Angela Bittner-Fesseler  ist Professorin für Medien- und Kommunikationsmanagement an der SRH Fernhochschule. Zuvor arbeitete sie als Journalistin, PR-Beraterin und Pressesprecherin für Unternehmen, KMUs und Wissenschaftsorganisationen. Bittner-Fesseler lehrt, forscht und arbeitet in den Bereichen Digitale Kommunikation, Kommunikation von Start-ups sowie Hochschulkommunikation. Cindy Grant  verantwortet die interne und externe Unternehmenskommunikation der Hamm-Kliniken GmbH & Co. KG.  Sie studierte International Business/Intercultural Management an der DHBW Mosbach und der University of North Florida. Seit 2016 arbeitet sie in der Fachkliniken­ gruppe für onkologische Rehabilitation und Anschlussrehabilitation. Ihr Arbeitsfokus liegt auf dem Ausbau und der Weiterentwicklung digitaler und mobiler Informations- und Kommunikationskanäle. Zeitgleich studierte sie Medien- und Kommunikationsmanagement im Master an der SRH Fernhochschule und schloss das Studium 2019 ab.

Innovationsmanagement für Medizintechnik-Unternehmen in einem VUCA-Umfeld: Innovationssystem & Fallbeispiel

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Kurt Gaubinger, Michael Rabl und Susanna Sulzer

Inhaltsverzeichnis 29.1  E  inleitung  29.2  Theoretische Grundlagen  29.2.1  Innovationsmanagement als Erfolgsfaktor  29.2.2  Innovationssysteme  29.2.3  Besonderheiten des Innovationsmanagements in Medizintechnikunternehmen  29.2.4  VUCA – Die Welt im Wandel  29.2.5  Management in der VUCA-Welt – theoretische Ansätze und Modelle  29.3  VUCA-Innovationssystem  29.3.1  Strategischer Zyklus  29.3.2  Operativer Zyklus  29.4  Fallbeispiel  29.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Steigende Volatilität, Unsicherheit, Komplexität sowie Mehrdeutigkeit des Unternehmensumfelds machen es für Medizintechnikunternehmen immer herausfordernder, innovative Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Vor dieK. Gaubinger (*) · M. Rabl Fachhochschule Oberösterreich, Wels, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] S. Sulzer Greiner Bio-One GmbH, Kremsmuenster, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_29

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K. Gaubinger et al.

sem Hintergrund wird in diesem Beitrag basierend auf grundlegenden Ausführungen zu den Themen Innovationssysteme und VUCA-Management ein Innovationssystem beschrieben, welches als Referenzframework für das Management von Innovationen in einem VUCA-Umfeld herangezogen werden kann. Dieses von den Autoren als „Gyro Innovation Model“ bezeichnete System geht von der Prämisse aus, dass in einem VUCA-­Umfeld sowohl die strategischen als auch operativen Aktivitäten des Innovationsmanagements in hohem Maße agil, anpassungsfähig, flexibel und beschleunigt durchgeführt werden müssen. Hieraus ergibt sich die kreisförmig-zirkulierende Grundstruktur des Modells, welche die laufend notwendigen Iterationen und Rückkopplungen auf allen Ebenen des Innovationsmanagements gewährleistet. Im Anschluss an die Beschreibung des Frameworks wird die Implementierung und Anwendung desselben in einem Medizintechnikunternehmen dargestellt.

29.1 Einleitung Politik, Wirtschaft, Technologie und Gesellschaft verändern sich in immer kürzeren Zeitabständen und beeinflussen damit auch die Rahmenbedingungen und Herausforderungen der Institutionen des Gesundheitssektors. Hierbei sind insbesondere folgende Entwicklungen zu beobachten (Bain und Company 2018; Zukunftsinstitut 2012): • • • • • • • •

Wandel vom Patienten zum Konsumenten, Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, künstliche Intelligenz und softwaregestützte Diagnosen, neue Gesundheitsservices und onlinebasierte Gesundheitsdienstleister, Individualisierung der Medizin, verschärfte Regelwerke und Regulierungen, Zunahme moderner Zivilisationskrankheiten und demografischer Wandel sowie wachsender Effizienzdruck bei Krankenhäusern und Ärzten.

Aufgrund dieser Entwicklungen sehen sich insbesondere auch Medizintechnikunternehmen zunehmend mit dem Problem konfrontiert (Schmid und Demuth 2018), dass alleine eine verbesserte Ingenieurleistung für den Kunden in vielen Fällen kaum noch einen relevanten Mehrwert darstellt und hybride Leistungsbündel bzw. veränderte Geschäftsmodelle in immer kürzeren Zeitabständen entwickelt werden müssen. Ein durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit gekennzeichnetes Umfeld ­(„VUCA-­Umfeld“; VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe „volatility“ – Volatilität, „uncertainty“ – Unsicherheit, „complexity“ – Komplexität, „ambiguity“ – Mehrdeutigkeit.) erschwert jedoch den Unternehmen, die geforderten Innovationen hervorzubringen und erfolgreich zu vermarkten (Gaubinger et al. 2015). Daher ist eine Adaption bestehender Innovationsstrategien und Innovationsprozesse als auch der Innovationskultur notwendig. Hierbei ist es von größter Relevanz, dass alle Maßnahmen im Rahmen dieser Adaptionsaktivitäten im

29  Innovationsmanagement für Medizintechnik-Unternehmen in einem …

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Hinblick auf die Erfordernisse eines VUCA-Umfelds ausgerichtet sind, damit in weiterer Folge die Effektivität als auch die Effizienz der Innovationsaktivitäten signifikant erhöht werden kann, um letztendlich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nachhaltig sicherzustellen. Vor dem dargestellten Hintergrund wird im ersten Teil dieses Beitrags, basierend auf grundlegenden Ausführungen zu den Themen Innovationssysteme und VUCA-Management, ein Innovationssystem konzeptioniert, welches als Referenzframework für das Management von Innovationen in einem durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit gekennzeichnetem Umfeld herangezogen werden kann. Im Anschluss daran wird die Implementierung und Anwendung dieses Frameworks in einem Medizintechnikunternehmen dargestellt.

29.2 Theoretische Grundlagen Im Abschn. 29.2 werden im ersten Teil die Spezifika agiler Stage-Gate-Modelle erläutert und daran folgend die Besonderheiten des Innovationsmanagement von Medizintechnikunternehmen beschrieben. Im zweiten Teil werden verschiedene Managementansätze und Modelle dargestellt, die den Herausforderungen in einem VUCA-Umfeld gerecht werden.

29.2.1 Innovationsmanagement als Erfolgsfaktor Eine Analyse gängiger Innovationsdefinitionen zeigt (Van de Ven 1986; Hauschildt 2004), dass das Kriterium der Neuheit ein zentrales Spezifikum von Innovationen ist. Dabei ist festzulegen, aus welcher Perspektive die Neuartigkeit einer Leistung, eines Prozesses oder eines Geschäftsmodells beurteilt wird. Eine breite Zustimmung findet der Ansatz, dass vor allem jene Leistungen und Prozesse als innovativ bezeichnet werden sollten, die innerhalb eines Unternehmens erstmalig eingeführt werden (Betriebsneuheit). Um die Innovation von der Invention (Erfindung) abzugrenzen, ist darüber hinaus der marktwirtschaftliche Verwertungsaspekt bzw. der innerbetriebliche Nutzungsaspekt für eine Innovation charakterisierend (Stippel 1999). So hat eine Innovation die (Markt-)Einführung (Innovation im engeren Sinn) und die (Markt-)Bewährung (Innovation im weiteren Sinn) der zugrunde liegenden Invention in Form einer neuen Leistung oder eines neuen Verfahrens zum Ziel (Tushman und Nadler 1996; Vahs und Burmeister 2005). Des Weiteren grenzen sich Innovationen von Inventionen dadurch ab, dass diese nicht zeitpunktbezogen, sondern prozessbezogen sind. Bezüglich der Strukturierung von Innovationsprozessen findet sich in der Literatur und in der betrieblichen Praxis eine Vielzahl von Konzepten und Modellen (Wheelwright und Clark 1992; Rothwell 1994; Pleschak und Sabisch 1996), die den Gesamtprozess überschau- und steuerbar machen sollen. Ein wesentliches Ziel derartiger Modelle besteht unter anderem darin, typische Aufgaben der jeweiligen Prozessstufen darzustellen, um einen gezielten Methodeneinsatz zu gewährleisten.

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Entsprechend dem Neuheits- bzw. Innovationsgrad können sprunghafte (radikale) bzw. schrittweise (inkrementelle) Innovationen unterschieden werden (Burgelman et al. 2009). Der Innovationsgrad stellt dabei ein multidimensionales Kriterium dar, für den bislang noch kein allgemein anerkanntes und überprüftes Messmodell entwickelt wurde. Generell gilt jedoch, dass der Innovationsgrad mit zunehmender Ausprägung folgender Dimensionen steigt: technologische Unsicherheit, Marktunsicherheit, organisatorische Veränderung sowie innovationsbedingte Veränderung des Innovationsumfelds (Salomo et al. 2007). Innovationen mit hohem Neuigkeitsgrad sind in den vier Dimensionen stark ausgeprägt. Leistungsvariationen bzw. Leistungsverbesserungen werden dagegen in den einzelnen Dimensionen eine schwache bzw. mittelmäßige Ausprägung aufweisen. Zur zielorientierten Steuerung und Gestaltung der Innovationsaktivitäten in einem Unternehmen bedarf es, sowohl bei geringen als auch bei hohem Innovationsgrad, strukturierter und aufeinander abgestimmter Aktivitäten, welche die erfolgreiche Markteinführung bzw. innerbetriebliche Nutzung einer Innovation zum Ziel haben. Diese Aktivitäten werden unter dem Begriff Innovationsmanagement subsumiert und umfassen ein Set an strategischen und operativen Aufgaben zur Planung, Organisation und Kontrolle von Innovationsprozessen sowie der Schaffung der dazu erforderlichen internen Rahmenbedingungen. In diesem Kontext zählen folgende Aufgaben zu den Kernaufgaben des Innovationsmanagements (Pleschak und Sabisch 1996; Vahs und Burmeister 2005): • Definition von Innovationszielen und -strategien • Planung, Steuerung und Kontrolle der Innovationsprozesse • Aufbau und Pflege eines Informationssystems, das die Grundlage für ein zielorientiertes Innovationscontrolling darstellt • Aufbau einer innovationsfördernden Organisationsstruktur • Schaffung und Pflege einer innovationsfreundlichen Unternehmenskultur Neben diesen Aufgaben liegt das übergeordnete Ziel des Innovationsmanagements in der Sicherung bzw. im Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, um dadurch den wirtschaftlichen Erfolg und letztendlich den Fortbestand des Unternehmens zu sichern (Ahmed und Shepherd 2010).

29.2.2 Innovationssysteme Lange Zeit galt, dass Unternehmen, deren Entwicklungsaktivitäten entsprechend einem in klare Abschnitte gegliederten Innovationsprozess durchgeführt werden, signifikant erfolgreicher sind als jene, die dies nicht tun. Wichtig hierbei war auch, dass bereits die der eigentlichen Entwicklung vorgelagerten Schritte, wie beispielsweise Ideenfindung, Ideenbewertung und Vorentwicklung, systematisch durchgeführt werden. Auch Salomo (2008) bestätigte in einer Studie die essenzielle Bedeutung der systematischen Durchführung der frühen Phasen des Innovationsprozesses, dem sogenannten „Front End of Innovation“. Aufgrund des bereits zitierten VUCA-Umfelds gelten diese Aussagen nicht mehr unein-

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geschränkt, da in diesem Kontext agile und flexible Ansätze des Innovationsmanagements zunehmend an Bedeutung gewinnen. Uneingeschränkt gilt jedoch, dass neben einer ausgeprägten Orientierung an den Bedürfnissen aktueller und potenzieller Kunden das grundlegende Verständnis der Wettbewerbssituation und der Entwicklungen im Makro- und Mikroumfeld des Unternehmens zentral auf den Innovationserfolg einwirken. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese sogenannte Outside-in-Orientierung das gesamte Innovationsprojekt von der Ideenauswahl bis zur Markteinführung bzw. Implementierung bestimmt. Wie eingangs erwähnt, wird in diesem Kontext die Innovationsforschung seit Jahrzehnten durch Phasenmodelle geprägt, die den Innovationsprozess in einzelne Phasen und Subphasen aufteilen und ihn somit zeitlich strukturieren (Schewe und Becker 2008). Die entwickelten Modelle unterscheiden sich jedoch gravierend im Hinblick auf Schwerpunkt und Detaillierungsgrad. Bis in die 1960er-Jahre waren lineare Modelle gängige Praxis, bei denen die Entwicklungsaktivitäten in sequenziell ablaufende Phasen gegliedert wurden und nach jeder Phase ein Management-Review erfolgte (Hughes und Chafin 1996). Darüber hinaus wiesen diese Modelle eine starke Technologieorientierung (Technology Push) auf und Marketingaspekte fanden darin keine Berücksichtigung (Ahmed und Shepherd 2010). Rothwell (1994) bezeichnet diese Modelle entsprechend seines 5-stufigen Klassifizierungsschemas als Prozessmodelle der ersten Generation. Als sich Mitte der 1960er-­ Jahre aufgrund intensiver werdenden Wettbewerbs und voranschreitender Diversifikation die Marktbedingungen änderten, gewannen lineare Modelle an Bedeutung, die eine fokussierte Market-Pull-Orientierung aufwiesen und als Modelle der zweiten Generation bezeichnet werden. Dieser Ansatz verfolgte eine konsequente Ausrichtung aller Entwicklungsaktivitäten hinsichtlich der Kundenbedürfnisse und es erfolgte im Regelfall keine proaktive Forschungs- und Entwicklungsaktivität mehr, wodurch in vielen Unternehmen lediglich inkrementelle Innovationen vorzufinden waren (Ahmed und Shepherd 2010). Aufgrund der angeführten Mängel waren auch die Modelle der zweiten Generation nur eingeschränkt geeignet, die Innovationsfähigkeit der Unternehmen in dem sich ändernden Unternehmensumfeld der 1970er-Jahre auszubauen, welches häufig durch Marktsättigung und hohe Angebotskapazitäten gekennzeichnet war. Um die zentralen Erfolgsfaktoren der Neuproduktentwicklung in diesem veränderten Umfeld zu identifizieren, wurden in dieser Dekade zahlreiche empirische Studien durchgeführt und publiziert, die die Identifikation zentraler Erfolgsfaktoren der Neuproduktentwicklung zum Inhalt hatten (Rothwell 1994). Die Studienergebnisse zeigten unter anderem auf, dass die Implementierung von integrierten Modellen, die die beiden bisherigen Ansätze Technology Push und Market Pull gleichermaßen berücksichtigten, sich positiv auf den Unternehmenserfolg auswirken. Ein grundlegendes Modell stellt hierbei das gekoppelte Modell (Push Pull Model) von Rothwell (1994) dar, bei dem der Anstoß für Innovationsaktivitäten sowohl von Angebots- als auch von Marktseite kommen kann. Einen weiteren zentralen Meilenstein in der Entwicklung von Innovationsprozessmodellen stellt das Stage-Gate-Modell von Cooper und Kleinschmidt dar. Aufbauend auf ihre umfangreichen Erfolgsfaktorenstudien entwickelten die beiden Autoren ein holistisches Prozessmodell, das im Gegensatz zu bisherigen Modellen interdisziplinär ausgerichtet ist

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und den operativen Innovationsprozess in fünf Abschnitte unterteilt (Cooper 1983, 2002). Jeder Abschnitt (Stage) wird durch ein Tor betreten (Gate), welches als Checkpoint für die Qualitätskontrolle dient und bei dem jeweils über Abbruch bzw. Fortsetzung des Projekts entschieden wird. Entsprechend diesem Modell wird der Innovationsprozess in die 5 Abschnitte Ideengewinnung & -bewertung, Produktkonzept, Entwicklung, Test & Validieren sowie Markteinführung unterteilt. Wichtig ist anzumerken, dass keine Abteilung im Unternehmen einen Abschnitt für sich alleine beansprucht, sondern dass der Prozess bereichsübergreifend organisiert sein muss. Darüber hinaus wird auch bei jedem Tor funktionsübergreifend anhand definierter Kriterien über Fortführung oder Abbruch des Projektes entschieden (Cooper 1994). Trotz alledem weisen auch Stage-Gate-Prozesse grundsätzlich einen sequenziellen Charakter auf, d. h. ein neuer Abschnitt darf erst dann begonnen werden, wenn die gesamten für den jeweiligen Abschnitt definierten Aufgaben erfolgreich durchgeführt wurden und am dazwischen liegenden Gate eine entsprechende Go-Entscheidung getroffen wurde. Ab den späten 1980er-Jahren wurden kurze Entwicklungszeiten (Time to Market) aufgrund des immer intensiveren globalen Wettbewerbs und angesichts immer kurzlebigerer Produkte zu einem immer entscheidenderen Wettbewerbsvorteil. Dies hatte zur Folge, dass zu Beginn insbesondere japanische Unternehmen ihre Innovationsgeschwindigkeit erhöhten, indem sie Entwicklungsaktivitäten zu einem hohen Grad parallelisierten und darüber hinaus bereits in die frühen Innovationsphasen verstärkt Zulieferer in die Entwicklungsaktivitäten miteinbezogen (Rothwell 1994). Diese beiden Aspekte (Parallelität und Inte­ gration) sind das zentrale Charakteristikum von Prozessmodellen der vierten Generation und deren Beherrschen markiert in vielen Branchen bis heute einen zentralen Erfolgsfaktor des Innovationsmanagements. Aufgrund der Entwicklungen in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) konnte die Leistungsfähigkeit und Effizienz paralleler und integrativer Entwicklungsprozesse weiter gesteigert werden. Der Einsatz vernetzter CAD-Systeme, Simulations- und Rapid-Prototyping-Technologien sowie umfassender Informationssysteme führt bis heute zu einer stetigen Verkürzung der Entwicklungszeiten als auch zu einer Reduktion der Entwicklungskosten. Die „Elektronifizierung“ der Innovationsprozesse stellt somit ein wesentliches Merkmal von Innovationsmanagementsystemen der fünften Generation dar. In diesem Zusammenhang erweiterte Cooper sein Modell zum Stage-Gate-Modell der dritten Generation, welches durch „vier fundamentale Fs“ charakterisiert ist (Cooper 1994). Hierbei sind die Übergänge zwischen den einzelnen Abschnitten fließend und Tätigkeiten können im verstärkten Ausmaß parallel durchgeführt werden („fluiditiy“). Ein Projekt kann im Rahmen einer Gate-Entscheidung auch bedingt fortgeführt werden, ohne dass alle Kriterien des jeweiligen Abschnitts erfüllt wurden. Cooper spricht in diesem Zusammenhang von „fuzzy gates“. Überdies können bereits Arbeitsaufgaben eines folgenden Abschnitts durchgeführt werden, ohne dass eine Gate-Entscheidung erfolgt ist. Gate-Entscheidungen werden darüber hinaus auch verstärkt im Hinblick auf eine optimale Ressourcenzuteilung zu den übrigen Innovationsprojekten getroffen („focused“). Des Weiteren müssen bei Stage-Gate-Modellen der dritten Generation Projekte entsprechend ihrem Risikograd nur bestimmte Prozessstufen durchlaufen („flexibility“). Prozesse sollten so-

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mit skalierbar sein und so können Projekte mit einem geringen Risikograd entsprechend „leaner“, d. h. im Rahmen von wenigen Prozessabschnitten und -Gates abgewickelt werden. Kritsch ist zu Modellen der dritten Generation anzumerken, dass die Erhöhung der Flexibilität meist zu Lasten der Robustheit geht und Projekte auch Gefahr laufen, aufgrund der bedingten Fortführung nicht rechtzeitig abgebrochen zu werden. Die nächste „Evolutionsstufe“ von Innovationsprozess-Managementsystemen subsumiert Cooper unter dem Begriff „NexGen Systems“ (Cooper 2008). Neben einer erhöhten Skalierbarkeit und Flexibilität sind diese Modelle vor allem durch ihre Öffnung im Sinne des Open-Innovation-Ansatzes charakterisiert. Dies wird vor allem in einem dynamischen, hyperkompetitiven und globalen Umfeld erforderlich, will ein Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit halten bzw. ausbauen. In einem derartigen Umfeld bekommen aber insbesondere auch agile Entwicklungsmethoden eine hohe Relevanz (Cooper 2014). Ursprünglich gewannen agile Methoden in Softwareunternehmen eine zentrale Bedeutung. Scrum ist in diesem Zusammenhang ein weit verbreitetes Vorgehensmodell. Dabei wird die Entwicklung in Iterationen gegliedert, die als Sprints bezeichnet werden. Eine gleichmäßige Sprintlänge gibt dabei dem Projektteam einen Rhythmus und dauert im Regelfall zwischen einer und vier Wochen. Im Laufe der Zeit gewannen agile Methoden aber auch für die Entwicklung physischer Produkte eine zentrale Bedeutung. Elemente agiler Softwareentwicklungsmethoden werden dabei in einzelne oder alle Phasen etablierter Stage-­ Gate-­Prozesse integriert und ersetzen dabei in vielen Fällen traditionelle Projektmanagementtools (Cooper und Sommer 2018). Cooper spricht in diesem Zusammenhang von Agile Stage Gate Hybrids, welche die Vorteile beider Ansätze integrieren (Cooper 2016). Zu den Vorteilen gehören dabei ungleich schnellere Produktfreigaben, eine bessere ­Reaktion auf sich ändernde Kundenanforderungen sowie eine verbesserte Teamkommunikation und -moral. Abb. 29.1 stellt zusammenfassend die Evolutionsstufen von Innovationsmanagementsystemen im Hinblick auf ihre zeitliche Einordnung sowie auf deren jeweilige Schwerpunkte dar.

Abb. 29.1  Entwicklung der Innovationsmanagementsysteme. (Quelle: Rothwell 1994; Cooper 1994, 2008, 2014, 2016)

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29.2.3 Besonderheiten des Innovationsmanagements in Medizintechnikunternehmen Medizintechnikunternehmen bewegen sich in einem Markt, der durch hohe Innovationskraft und Wachstumsdynamik gekennzeichnet ist. Dies zeigt sich an der Anzahl an Patentanmeldungen sowie der hohen Investitionsaufwendungen der Branche in Forschung und Entwicklung. Dieser Fortschritt bedingt, dass immer bessere Produkte mit immer kürzeren Produktlebenszyklen entwickelt und am Markt eingeführt werden. So soll sichergestellt werden, dass durch innovative Leistungen die Diagnose- und Behandlungsqualität und damit der Nutzen für Patienten und Anwender kontinuierlich gesteigert werden. Dafür entwickelten die Hersteller in den letzten Jahren diverse Innovationsstrategien, wie bspw. Open Innovation, die zu einer Verkürzung der Entwicklungszeiten führen sollen (Zippel 2016). Dazu ist es von hoher Bedeutung, die Besonderheiten im Entwicklungs- und Innovationsprozess von Unternehmen der Medizintechnikbranche zu kennen und berücksichtigen. Zum einen betrifft dies Regulierungsinhalte. In der Inventionsphase sprechen wir dabei beispielsweise von Patentschutz und Markenzulassung, in der Innovationsphase von der systematischen und transparenten Bewertung von Medizinprodukten (kurz: HTA für „Health Technology Assessment“). Diese Regulierungsinhalte können sich sowohl innovationsfördernd als auch -hemmend auswirken (Reimers 2009). Zum anderen beziehen sich die Besonderheiten auf den Anwendungsgrad der Produkte. Bevor ein Produkt am Markt zugelassen werden und breit am Markt eingeführt werden kann, ist eine klinische Erprobung der Produkte experimentell am Markt und/oder an einer größeren Patientenzahl erforderlich (Kage 2005). Die folgende Abb. 29.2 zeigt schematisch die Phasen des Innovationsprozesses in der Medizintechnik. Ein innovatives Medizinprodukt durchläuft im Rahmen des medizinisch-technischen Innovationsprozess 4 Phasen. Die erste Phase stellt die Invention im Rahmen der Forschung und Entwicklung dar. Darauf folgt die Markteinführung mit vorerst klinischen Tests, die für die vollständige Anwendung des Produktes erforderlich sind. Nach Erlangen aller Zulassungen und Abschluss der Regulierungsinhalte findet in der Diffusionsphase erst die Einführung in Krankenhäusern im stationären Sektor und anschließend die volle Nutzung durch Fachärzte im ambulanten Sektor statt (Knappe et al. 2000).

29.2.4 VUCA – Die Welt im Wandel Wie zu Beginn dieses Beitrags bereits erläutert, führen essenzielle Veränderungen im politischen, ökonomischen, sozialen sowie technologischen Unternehmensumfeld zu einer erhöhten Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit, was unter dem Begriff „VUCA“ subsumiert wird (Sarkar 2015). Der Begriff VUCA wurde ursprünglich vom US Army War College nach dem Ende des Kalten Krieges eingeführt, um die Herausforderun-

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Abb. 29.2  Phasen des medizinisch-technischen Innovationsprozesses. (Quelle: Zippel 2016)

gen der volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt zu beschreiben und fand nach den Terroranschlägen vom 11. September 2011 auch Verbreitung im wirtschaftlichen Kontext (Kotas und Pietrzak 2017). Das Akronym VUCA ist heute ein Sammelbegriff, welcher unvorhersehbaren Wandel und permanente Veränderung beschreibt. Um die damit verbundenen Herausforderungen zu verstehen und die Managementpraktiken entsprechend anpassen zu können, ist in einem ersten Schritt ein grundlegendes Verständnis der einzelnen Teilbegriffe notwendig (Bennett und Lemoine 2014). In Tab. 29.1 werden daher die einzelnen Teilbegriffe von VUCA genauer erläutert.

29.2.5 Management in der VUCA-Welt – theoretische Ansätze und Modelle Der radikale Wandel des Unternehmensumfelds führt dazu, dass Methoden und Arbeitsweisen von gestern heute nicht mehr zum gewohnten Erfolg führen. Das folgende Zitat bringt dies prägnant zum Ausdruck:

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Tab. 29.1  Definitionen der VUCA-Dimensionen. (Quelle: Bennett und Lemoine 2014) V Volatility Die Dimension Volatilität steht für Unbeständigkeit und Dynamik im Hinblick auf Geschwindigkeit und Ausmaß von Veränderungen (Mack et al. 2016). Bennett und Lemoine (2014) beschreiben eine volatile Situation als instabil und unvorhersehbar, das bedeutet: Die Situation ist bekannt (keine Unsicherheit), wird verstanden (geringe Komplexität), Ergebnisse von Schlüsselaktivitäten können bestimmt werden (keine Ambiguität), jedoch können unvorhersehbare Veränderungen eintreten. Man möchte damit zum Ausdruck bringen, dass Perioden der Stabilität der Vergangenheit angehören. Fluktuationen und schnelle und unerwartete Veränderungen sind die neue Konstante (Garrow und Varney 2015). Treiber der Volatilität sind zum Beispiel Digitalisierung, Konnektivität, Handelsliberalisierung, globaler Wettbewerb oder Geschäftsmodellinnovation. U Uncertainty Unsicherheit beschreibt die fehlende Vorhersehbarkeit von Ereignissen aufgrund von fehlender Information (Mack et al. 2016). Es ist gewiss, dass eine Aktivität ein jeweiliges Ereignis herbeiführt bzw. ein Ereignis eintreten wird, ungewiss ist jedoch, in welcher Ausprägung es sein wird (Bennett und Lemoine 2014). Dies bedeutet, dass bei Unsicherheit die Entscheidungsalternativen bekannt, hingegen Auswirkungen, Eintrittswahrscheinlichkeit oder Eintrittszeitpunkt unbekannt sind. Mitschuld daran ist die Volatilität, die es für Führungskräfte erschwert, Erfahrungswerte für Prognosen zu nutzen, was Prognosen zu machen und Entscheidungen zu treffen, schwierig macht (Sullivan 2012). C Complexity Digitalisierung und Globalisierung schaffen die Möglichkeit, sich mit Menschen weltweit zu verbinden und somit Kommunikationswege und Feedbackschleifen wie noch nie zuvor zu etablieren (Garrow und Varney 2015). Der Begriff Komplexität steht für die Vielzahl an zusammenhängenden Sachverhalten mit zum Teil unbekannten Variablen (Mack et al. 2016). Innerhalb dieser Netzwerke können Aktivitäten und Veränderungen verschiedenste Auswirkungen haben (Garrow und Varney 2015). Viele, verschiedene Einflussfaktoren und Zusammenhänge müssen für Entscheidungen und Aktivitäten berücksichtigt werden. Dabei gilt es, sie zu kennen und zu verstehen (Kotas und Pietrzak 2017). A Ambiguity Mack et al. (2016) bezeichnen die gegebene Mehrdeutigkeit und die Interpretierbarkeit von Informationen als Ambiguität. Dadurch besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Missverständnissen. Für sich eindeutige Fakten können durch verschiedene Personen mit unterschiedlichem Hintergrund mehrdeutig interpretiert werden, sodass Entscheidungen jeweils anders ausfallen. Somit können Aussagen und Entscheidungen für die Zukunft nicht eindeutig getroffen werden (Kotas und Pietrzak 2017). Sullivan (2012) beschreibt es damit: „causes and the ‚who, what, where, how, and why‘ behind the things that are happening (that) are unclear and hard to ascertain.“

Während wir früher mit einer Reihe schicker Managementtools berechnen konnten, was passiert, wenn Ereignis A eintritt oder Wettbewerber B den Preis senkt, müssen heute viele Führungskräfte vor der Flut an Informationen kapitulieren (Hofert 2016).

Bedingt durch diese Dringlichkeit werden im Rahmen des Abschn. 29.2.5 diverse Ansätze sowie ganzheitliche Modelle erläutert, die für das Management in der heutigen „VUCA“-Welt maßgebend sind.

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Kundenzentriertheit Consumer Centricity lautet ein Stichwort für das Management in der VUCA-Welt. Die Art, wie Kunden kaufen und konsumieren verändert sich durch VUCA ebenso in hohem Ausmaß. Daher müssen die sich verändernden Bedürfnisse der Kunden noch früher identifiziert und in den Mittelpunkt der Geschäftstätigkeit gestellt werden. Es gilt daher, verborgene, tiefer liegende Bedürfnisse wahrzunehmen, um letztendlich Mehrwert für den Kunden, und daraus resultierend für das Unternehmen, zu schaffen (Brandes et al. 2014). Dies bildet die Grundlage für ein kundenzentriertes Unternehmen, wo beispielsweise ein Produktportfoliomanagement durch ein Kundenportfoliomanagement abgelöst wird und statt Produktstrategien kundenbasierte Strategien erstellt werden (Parniangtong 2017). Viele Unternehmen kämpfen aber immer noch mit der ganzheitlichen Umsetzung des Konzeptes. Neue Innovationsansätze Neue Innovationsansätze müssen die Nähe zum Kunden durch Kundenintegration oder -partizipation in den Mittelpunkt stellen (Brandes et  al. 2014). Beim sogenannten Co-­ Creation-­Ansatz können Kunden bzw. Nutzer in Co-Creation-Labs unter Einbindung professioneller Designer ihre Leistungen selbst erfinden (Brandes et al. 2014). Ein weiterer Ansatz ist in diesem Zusammenhang der Lean-Start-up-Ansatz, der insbesondere auf das Vermeiden von Verschwendung bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle abzielt. Im Rahmen dieses 4-stufigen Prozesses gilt es, sich beim Entwickeln, Umsetzen und Validieren von Hypothesen für neue Geschäftsmodelle zentral am Nutzer zu orientieren sowie durch Vermeidung von Verschwendung die Time to Market zu reduzieren und damit disruptive Innovationen zu schaffen (Kawohl 2017). Ein weiterer Ansatz stellt das Design Thinking dar. Dieser Ansatz fordert entsprechend eines 6-stufigen Prozesses eine stetige Rückkopplung zwischen dem Unternehmen und seiner Zielgruppe und nimmt dabei den Nutzer genau unter die Lupe. Das zentrale Ziel ist es hierbei, Ideen in Form von Prototypen möglichst früh sichtbar sowie kommunizierbar zu machen, um hierdurch sowohl das Marktrisiko der Innovation als auch die Time to Market drastisch reduzieren zu können (Kawohl 2017). Darüber hinaus ermöglicht Rapid Prototyping durch neue Technologien günstig und schnell Modelle von neuen Ideen zu erstellen, um einen ersten Eindruck des Produktes zu bekommen und daraus zu lernen (Kawohl 2017). Für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle eignet sich die sogenannte Business Model Canvas. Der damit ­verbundene Prozess ermöglicht es, ein gemeinsames Bild der wesentlichen Aspekte und Zusammenhänge eines neuen Geschäftsmodells zu generieren. Strategie 4.0 Auch im Hinblick auf Strategie wird sich die Arbeit im Hinblick auf die VUCA-Welt zukünftig verändern. Es werden neue Ansätze und Herangehensweisen benötigt. Bottom-­up-­ Strategieprozesse oder hierarchisch übergreifende Teams zur Strategieentwicklung ge­ winnen an Bedeutung, für die geeignete Kommunikations- und Kollaborationskanäle geschaffen werden müssen. Um das Schaffen neuer Komplexität zu vermeiden, ist es wichtig, die Mitarbeiter des Unternehmens im Boot zu haben, relevanten Input für die

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Strategiearbeit zu sammeln und dabei trotzdem den Fokus auf die Entwicklung einer langfristig erfolgreichen Strategie nicht aus den Augen zu verlieren. Im Hinblick des zeitlichen Horizonts ist zu beachten, dass traditionelle Jahresplanungen häufig bei Fertigstellung bereits von der Realität überholt sind und daher mit regelmäßiger Adaption der Strategie zu rechnen ist (Kawohl 2017). In Bezug auf diverse Analysen, wie beispielsweise Umwelt- oder Unternehmensanalyse zur Visions-, Missions- und Zieldefinition und der Ableitung von Strategien sind in einer VUCA-Welt intuitiv-kreative Verfahren wie die Szenarioanalyse oder Trendscouting eine essenzielle Ergänzung zu daten- und faktenbasierten Tools und Methoden (Kawohl 2017). Portfoliomodelle, wie z. B. die BCG-Matrix oder das McKinsey-Portfolio, sind heute noch die am häufigsten eingesetzten strategischen Planungsinstrumente. Derartige Modelle werden jedoch aufgrund der raschen Veränderungen der Planungsgrundlagen nur noch begrenzt Erfolg stiften. Ein weiterer strategischer Ansatz, der in einer VUCA-Welt neben diversen Managementkonzepten wie Qualitäts- oder Risikomanagement als Ergänzung implementiert werden kann, ist das Options- und Chancenmanagement nach Vieweg (2015). Hierbei werden Chancen identifiziert und daraus ein sogenannter „Optionsbestand“ geschaffen. Das hierbei generierte Optionsportfolio bietet die Möglichkeit, auf verschiedene Umweltveränderungen gut vorbereitet reagieren zu können und die Veränderung so selbst beeinflussen zu können. Der Ansatz basiert auf den Annahmen, dass einerseits Visionen, Strategien und Budgets in einer VUCA-Welt lediglich begrenzt nutzbar sind, da sie kaum noch verlässlich sind sowie andererseits schnelles Reagieren und Entscheiden nicht immer erfolgreich ist. Agiles Management In vielen Unternehmen wird versucht, neue Herausforderungen mit alten Managementmethoden zu begegnen; zum Teil aus Unkenntnis neuer Methoden, aus Gewohnheit oder aber auch aus Angst der Führungskräfte, die Kontrolle zu verlieren (Kissel 2017). Auch Petrie (2014) bestätigt dies mit der Aussage, dass sich die Herausforderungen für Manager heute in großem Ausmaß verändern und sie diese vergeblich mit den traditionellen Methoden zu bewältigen versuchen. Hofert (2016) bezeichnet agile Ansätze als eine „Reaktion der Anpassung von Organisationen auf veränderte Umweltbedingungen, in denen hierarchische Systeme mit Command- und Order-Strukturen nicht mehr funktionieren.“ Es entstehen Gegenbewegungen zum klassischen Projektmanagement, die anstatt auf ­langfristige Planung, Aufgabenstrukturierung und regelmäßige Budgetrunden auf Interaktion und Kommunikation setzen (Hofert 2016). Ein weitbekanntes Framework des agilen Managements ist Scrum, welches auf empirischem Vorgehen basiert. Es eignet sich, um komplexe Produkte zu entwickeln und zu erhalten und definiert Rollen, Events, Artefakte und Regeln zur Zusammenarbeit. Es handelt sich nicht um einen definierten Ablauf, sondern um ein Set an Vorgehensweisen und Tools. Selbstorganisierende und interdisziplinäre Teams entwickeln iterativ und inkrementell Produkte. Im Fokus steht Flexibilität, Kreativität und Produktivität. Der Product Owner verantwortet den Produkterfolg und definiert daher die zu erbringende Leistung. Ein Scrum Master sorgt dafür, dass die Spielregeln eingehalten werden. Sprints sind Zyklen, in welchen ein gewisses Teilergebnis, das vorab definiert

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wird, erarbeitet werden soll. Daily Scrums sind tägliche kurze Meetings, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten (Schwaber und Sutherland 2017). Brandes et al. (2014) unterstreichen, dass Scrum nicht nur in der Softwareentwicklung, sondern auch für komplexe Ingenieurleistungen angewendet werden kann, wie z. B. bei der Entwicklung von Autositzen, um ein perfektes Zusammenspiel von Hardware, Mechanik, Software und Zulieferteilen zu gewährleisten. Dieses Experiment benötigte anfangs viel Zuversicht, dass komplexe Leistungen mit weniger Druck und Kontrolle besser zu bewältigen sind. Als Unterstützung dienten dabei die Prinzipien des Lean Development wie Value Stream, Flow, Tact und Line Balancing. Kanban stellt eine mögliche Ergänzung zu Scrum dar. Das Konzept stammt aus der Lean Production und wurde von David Anderson auf die Softwareentwicklung umgelegt. Dabei geht es darum, den Workflow einzelner Arbeitspakete zu visualisieren und die Menge an Workload je Phase damit zu begrenzen. Ziel dabei ist es, die Durchlaufzeit zu verkürzen und somit Kosten zu sparen (Brandes et al. 2014). Eine von Scrum und Kanban unabhängige aber in dieselbe Richtung gehende Methode, um aus Ideen Erfolge zu machen und das Engagement von Mitarbeitern und Kollegen zu nutzen ohne „Dienst nach Vorschrift“ zu machen, ist das Blueboard. Das Blueboard gibt Mitarbeitern die Möglichkeit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung zu zeigen und einen persönlichen Beitrag zu leisten. Nach der Generierung erster Lösungsideen durch beispielsweise Brainstorming oder andere Methoden schlagen Mitarbeiter auf großen weißen „Initiativkarten“ konkrete Vorhaben vor und ergänzen auf kleinen blauen „Beitragskarten“ ihren eigenen Beitrag zu dem Vorhaben. Jene Initiativen, die ausreichend Unterstützungszusagen erhalten, werden schließlich weiterverfolgt. Das Blueboard kann einmalig erstellt werden oder auch als laufendes Monitoring-Tool verwendet werden (Brandes et al. 2014). Moderne Organisationsformen Organisationsdesign war in der Vergangenheit ein Mittel, um Probleme zu lösen. Heute wird es benötigt, um immer komplexere Aufgaben zu lösen, um Organisationen agiler zu machen und an sich verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Formelle Organisationsstrukturen und Organigramme können die wahre Dynamik einer Organisation kaum mehr abbilden. Zukünftig ist es essenziell, die informelle Organisationsstruktur mit ihren Beziehungen zwischen den Menschen in den Fokus zu rücken (Garrow und Varney 2015). Schnelligkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gewinnen immer mehr an Bedeutung. Um schneller Innovationen auf den Markt zu bringen, kundenspezifische Anforderungen so schnell wie möglich zu erfüllen, eine größere Variantenvielfalt mit je kleineren Stückmengen anzubieten und wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln, muss das Unternehmen fähig sein, sich schnell dem Markt anzupassen. Dies gelingt anstatt mit traditioneller funktionaler Arbeitsteilung, Spezialisierung und Zentralisierung durch Arbeitsteilung nach Prozessen und Produkten (beispielsweise Mini-Factories, Fertigungsinseln oder Auftragscenter). Dies soll zum einen Transparenz schaffen und zum anderen durchgängige Verantwortung in die Hand eines jeweils interdisziplinären Teams legen. Zudem soll durch Autonomie und Dezentralisierung den Mitarbeitern das Recht und die Pflicht eingeräumt werden, unsichere und mehrdeutige Zustände durch Kreativität und Intuition zu bewälti-

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gen. Dies soll qualifizierte Mitarbeiter motivieren, ihre individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen einzubringen. Selbstorganisation, Selbststeuerung und Eigenverantwortung stehen somit im Mittelpunkt (Korge 2017). In der Schwarmorganisation, auch als virtuelle Organisation bezeichnet, können durch das Vernetzen von Mitarbeitern mit externen Crowd­ workern Chancen schnell und kompetent wahrgenommen werden. Dabei werden wiederum agile und lernende Methoden, wie beispielsweise Scrum oder Design Thinking, eingesetzt (Korge 2017). Hierarchiefreiheit und Gleichstellung aller Teammitglieder sind essenziell. Kreative Arbeitsräume mit Platz für Nahaufnahmen, Post-its, Whiteboards usw., um gesammelte Eindrücke festzuhalten, sind dabei ein wichtiger Aspekt (Brandes et al. 2014). Aumayr (2016) identifiziert auch bezogen auf das Produktmanagement dieses Phänomen. Er sieht Produktmanager gezwungen, in interdisziplinären Teams zu arbeiten, um eine schnelle Reaktion auf Veränderungen und Herausforderungen sicherstellen zu können. Der Produktmanager allein kann die verschiedenen Wissensgebiete, die immer komplexer und größer werden, nicht mehr abdecken, weshalb er beim Finden der richtigen Lösung auf ein Team mit Expertise aus allen Fachbereichen zurückgreifen können muss. Zudem wirkt sich die aktive Einbindung aller Funktionen in sowohl strategische als auch operative Tätigkeiten des Produktmanagements sehr positiv aus. Neues Verständnis von Führung und Kultur Um in der VUCA-Welt erfolgreich zu sein, ist ein hohes Maß an Führungskompetenz erforderlich und Mitarbeiterkompetenzen, Prozesse, Technologie und Strukturen müssen von den Führungskräften kontinuierlich angepasst werden. Unternehmen müssen sowohl ihre Geschäftsmodelle als auch ihre Führungsfähigkeiten verändern, um in dieser Welt zu bestehen (Lawrence 2013). In der Zukunft wird die Führungskraft zum Enabler und Coach der Mitarbeiter, der geeignete Bedingungen zum Nutzen für alle schafft. Mitarbeiter handeln eigeninitiativ und tragen die Verantwortung (Korge 2017). Führungskräfte benötigen mehr strategische, komplexe und kritische Denkfähigkeiten (Lawrence 2013). Ein weiterer Ansatz für moderne Führung ist Art of Hosting oder auch „die Kunst, Gespräche zu ermöglichen“. Dabei geht es darum Raum zu schaffen, um gute Gespräche zwischen Personen mit starkem Interesse zu fördern und damit komplexe Probleme kollaborativ zu lösen. Dabei muss eine klare Zielsetzung formuliert und ein Hosting-Team z­ usammengestellt werden, das sich um die Vorbereitung und den Ablauf des Events kümmert. Durch das Verwenden von Methoden wie World Café, Open Space oder Pro Action Café können Gespräche in unterschiedlichen Gruppenzusammensetzungen und mit unterschiedlichem Ablauf organisiert werden (Brandes et al. 2014). VUCA Prime (Bob Johansen) VUCA Prime war ein Versuch von Bob Johansen, den negativen Begriff VUCA durch Handlungsempfehlungen in einen positiven Begriff zu verwandeln. Es ist ein Set an Fähigkeiten, das Führungskräfte haben sollten, um die Herausforderungen der VUCA-Welt zu bewältigen. Es wird als Rahmen verwendet, um in HR und Talentmanagement Ausbildungsprogramme für Führungskräfte zu entwickeln. Wie in Abb. 29.3 dargestellt und in Tab. 29.2

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Abb. 29.3  Der Weg von VUCA zu VUCA Prime. (Quelle: In Anlehnung an Livingston 2014) Tab. 29.2  VUCA Prime. (Quelle: Livingston 2014) V In VUCA Prime ist die Antwort auf Volatility die „Vision“. Führungskräfte mit einer klaren Vorstellung, wo sie ihre Organisation in 3–5 Jahren sehen, können besser mit unvorhersehbaren Ereignissen in volatilen Märkten umgehen. So können Priorisierungen vorgenommen und kurzfristige Entscheidungen getroffen werden, ob auftuende Aktivitäten oder Möglichkeiten im Hinblick auf die Vision sinnvoll erscheinen. (Lawrence 2013; Raghuramapatruni und Kosuri 2017). U Uncertainty wird bei VUCA Prime mitUnderstanding entgegengewirkt. Dies bedeutet, die Fähigkeit einer Führungskraft anzuhalten, zuzusehen und zuzuhören. Nur so können z. B. durch Gespräche mit Mitarbeitern aller Ebenen wichtige Informationen „hinter den Kulissen“ in Erfahrung gebracht und Teamarbeit entwickelt werden (Lawrence 2013). Es ist wichtig, dass jeder denselben Informations- und Verständnislevel von Angelegenheiten hat. Einholen und Verstehen anderer Sichtweisen sowie Gefühle und Hintergründe zu Tätigkeiten von Mitarbeitern und das Umgehen mit Widersprüchen zählen ebenso zu wichtigen Fähigkeiten von Führungskräften, um mit Unsicherheit umzugehen. Dies schafft Vertrauen und hilft in schwierigeren Zeiten, dass Mitarbeiter Entscheidungen der Führungsperson akzeptieren und schätzen (Raghuramapatruni und Kosuri 2017). C Complexity wird mit Clarity entgegengewirkt. Dabei wird versucht, das Chaos sinnvoll zu ordnen, um bessere, auf ausreichend Information gestützte Entscheidungen treffen zu können (Lawrence 2013). Ebenso für Klarheit zählen Aussagen über das Fehlen von Informationen, d. h. sich bewusst zu sein, was bekannt und unbekannt ist und was kontrolliert und nicht kontrolliert werden kann. Somit sollte keine Energie mehr in Situationen gesteckt werden, die ohnehin nicht kontrollierbar sind. Einfache und logische Prozesse tragen ebenfalls zur Klarheit bei (Raghuramapatruni und Kosuri 2017). A Der letzten Dimension Ambiguity wird mit Agility begegnet. Um Ambiguität entgegenzuwirken, ist es essenziell, über Unternehmensgrenzen hinweg zu kommunizieren, kritisch und agil zu denken, die richtigen Fragen zu stellen, um Hintergründe und Konsequenzen zu verstehen und schnell Lösungen für Probleme umzusetzen (Raghuramapatruni und Kosuri 2017).

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näher beschrieben, steht dabei jeder Dimension von VUCA ein Pendant gegenüber und jede Dimension von VUCA wird im selben Ausmaß adressiert (Lawrence 2013). Unternehmen sollten sich zum Ziel setzen, das derzeitig herausfordernde VUCA in das neue VUCA Prime zu verwandeln (Livingston 2014). Ansatz nach Bennet und Lemoine Eine etwas andere Antwort auf VUCA geben Bennett und Lemoine (2014). Sie stellen ebenso für jede Dimension von VUCA Handlungsempfehlungen auf, die sich jedoch etwas von VUCA Prime unterscheiden. Wie in Tab. 29.3 ersichtlich, behandeln sie jede Dimension mit jeweils Definition, Beispiel und Lösungsansatz. Der Ansatz nach Bennet & Lemoine stellt ebenso wie VUCA Prime einen ganzheitlichen Ansatz dar, der jede Dimension von VUCA gleichmäßig behandelt. BEVUCA (Saleh und Watson) BEVUCA ist ein von Saleh und Watson (2017) entwickelter konzeptioneller Rahmen und Leitfaden, um durch die Integration von Qualitäts- und Risikomanagement definierte Erfolgskriterien und somit Business Excellence zu erreichen. Mit BEVUCA wird versucht, trotz der permanenten Veränderung der Unternehmensumwelt durch eine systematische Herangehensweise Business Excellence zu erreichen. Es stellt ein integriertes Managementsystem dar, welches zahlreiche Vorteile, wie z. B. bessere interne Kommunikation, Unterstützung des Managements, Steigerung der Produktivität und des Umsatzes sowie der Mitarbeiterzufriedenheit und -motivation, Ressourcenoptimierung und Reduktion des Dokumentationsaufwandes mit sich bringt. Saleh und Watson (2017) hinterfragen dabei VUCA Prime und finden es hinsichtlich zweier Punkte nicht korrekt. Nach Meinung der Autoren erfolgt der richtige Umgang mit Volatilität nicht durch eine Vision, sondern durch die Analyse historischer Daten, das Verstehen von zukünftigen Trends und der Schaffung der notwendigen Agilität, um darauf reagieren zu können. Sie sehen die Vision hingegen als Maßnahme gegen Ambiguität, um ein gemeinsames Ziel zu haben, wenn es darum geht Möglichkeiten auszuwählen. Des Weiteren identifizieren Saleh und Watson (2017) im Rahmen der Studie für jede Dimension kritische Erfolgsfaktoren, die beim Umgang mit VUCA zum Einsatz kommen sollten (siehe folgende Abb. 29.4). Diese Faktoren wurden von Saleh und Watson nach ihrem Effekt auf das Erreichen von Agilität, Verständnis, Klarheit und Vision im Rahmen einer qualitativen Studie bewertet und ausgewählt. Einzelne Faktoren können Auswirkungen auf mehrere Dimensionen als nur eine haben. Sie sind jeder Dimension zugeordnet, in welcher der größte Effekt vorhanden ist. In den leeren Zellen konnte bisher kein kritischer Erfolgsfaktor identifiziert werden und besteht daher weiterer Forschungsbedarf (Saleh und Watson 2017). Saleh und Watson (2017) führten daraufhin eine Makroanalyse durch, um zu prüfen, inwieweit die beiden Managementsysteme Qualitäts- oder Risikomanagement zum Erreichen von BEVUCA beitragen. Die Analyse zeigte, dass mit keinem der beiden Systeme allein BEVUCA erreicht werden kann. Lediglich bei Integration beider Systeme und ihrer

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Tab. 29.3  Ansatz nach Bennet und Lemoine. (Quelle: Bennett und Lemoine 2014) Dim. Volatilität

Definition Relativ instabile Veränderung; Information ist verfügbar und die Situation ist verständlich, aber es gibt regelmäßig Veränderungen, die manchmal unvorhersehbar sind Unsicherheit Ein Mangel an Wissen darüber, ob ein Ereignis sinnvolle Auswirkungen haben wird; Ursache und Wirkung werden verstanden, aber es ist nicht bekannt, ob ein Ereignis eine signifikante Veränderung bewirken wird Komplexität Viele miteinander verbundene Teile bilden ein ausgeklügeltes Netz von Informationen und Verfahren; oft vielgestaltig und verworren, aber nicht unbedingt mit Veränderungen verbunden Ambiguität

Beispiel Rohstoffpreise sind oft volatil; so waren es beispielsweise die Kosten für Flugtreibstoff im 21. Jahrhundert

Lösungsansatz Agilität ist der Schlüssel zur Bewältigung der Volatilität. Die Ressourcen sollten aggressiv auf die Schaffung von Spielraum und zukünftiger Flexibilität ausgerichtet sein

Anti-Terrorismusinitiativen sind im Allgemeinen mit Unsicherheit behaftet; wir verstehen viele Ursachen des Terrorismus, aber nicht genau, wann und wie sie Angriffe auslösen könnten

Informationen sind entscheidend für die Verringerung der Unsicherheit. Unternehmen sollten über bestehende Informationsquellen hinausgehen, um neue Daten zu sammeln und sie aus neuen Perspektiven zu betrachten

Die Umstrukturierung der internen Unternehmensabläufe, um der externen Komplexität gerecht zu werden, ist der effektivste und effizienteste Weg, diese zu bewältigen. Unternehmen sollten versuchen, ihre eigenen Abläufe und Prozesse so aufeinander abzustimmen, dass sie die Komplexität der Umwelt widerspiegeln. Experimente sind notwendig, Der Übergang von Fehlendes Wissen um Mehrdeutigkeiten zu gedruckten zu digitalen über die reduzieren. Nur durch Medien war sehr „Grundregeln des Spiels“; Ursache und ambivalent. Unternehmen intelligentes Experimentieren können Geschäftsführer lernen immer noch, wie Wirkung werden bestimmen, welche Strategien nicht verstanden und Kunden auf Daten und Unterhaltungen mit neuen in Situationen, in denen die es gibt keinen Technologien zugreifen und früheren Geschäftsregeln Präzedenzfall für nicht mehr gelten, vorteilhaft Vorhersagen darüber, diese erleben können sind und welche nicht was zu erwarten ist

Dim. = Dimension

Das Bearbeiten ausländischer Märkte ist oft komplex; Geschäfte in neuen Ländern erfordern oft die Navigation durch ein komplexes Netz von Tarifen, Gesetzen, Vorschriften und Logistikfragen

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Abb. 29.4  BEVUCA Erfolgsfaktoren. (Quelle: Saleh und Watson 2017)

Tools (z. B. PDCA, Balanced Scorecard, Change Management, Szenarioplanung) resultieren daraus Vorteile und die Erfolgsfaktoren werden erreicht. Ebenso wie VUCA-Prime und beim Ansatz nach Bennet und Lemoine behandelt auch BEVUCA alle 4 Dimensionen von VUCA in gleichem Ausmaß.

29.3 VUCA-Innovationssystem Basierend auf den vorangegangen Ausführungen zu agilen Stage-Gate-Systemen sowie zu Managementansätzen in einem VUCA-Umfeld entwickeln die Autoren ein grundlegendes Innovationssystem, dessen Struktur und Inhalt in Abb. 29.5 überblicksmäßig dargestellt ist. Das von den Autoren als „Gyro Innovation Model“ bezeichnete System geht von der Prämisse aus, dass in einem VUCA-Umfeld sowohl die strategischen als auch operativen Aktivitäten des Innovationsmanagements in hohem Maße agil, anpassungsfähig, flexibel und beschleunigt durchgeführt werden müssen. Daraus folgt die zirkulare Grundstruktur des Modells, welche die laufend notwendigen Iterationen und Rückkopplungen auf allen Ebenen des Innovationsmanagements gewährleistet. Die phasenspezifische Struktur des Modells auf der Makroebene (Cooper 2016) basiert dabei auf dem von Gaubinger et al. (2015) entwickelten integrierten Prozessmodell des Innovations- und Produktmanage-

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Abb. 29.5  VUCA Innovationssystem (Gyro Innovation Model). (Quelle: Eigene Darstellung)

ments und zeichnet sich insbesondere auf der Projekt- bzw. Mikroebene durch die Inte­ gration agiler Ansätze aus.

29.3.1 Strategischer Zyklus Bereits Ansoff (1975) forderte in den 1970er-Jahren flexible und reaktionsschnelle Managementsysteme, um in einem von Diskontinuitäten gekennzeichneten Unternehmens-

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umfeld langfristig erfolgreich zu sein. Der sich durch das frühzeitige und systematische Erkennen von Chancen und Risiken ergebende Zeitvorteil stellte schon damals einen zentralen Wettbewerbsvorteil dar. Dies gilt in verschärfter Form auch heute, wo die Unternehmen zunehmend mit dem bereits beschriebenen volatilen, unsicheren, komplexen und  mehrdeutigen Umfeld konfrontiert sind. Aus diesem Grund muss ein umfassendes Umweltüberwachungssystem (Strategic Analyses) die Grundlage eines VUCA-Innovationssystems bilden. Hierbei sollte durch Scanning relevanter Umfeldbereiche überall und jederzeit analog einem „360-Grad-Radar“ nach unternehmensrelevanten starken und insbesondere auch nach schwachen Signalen gesucht werden. Darüber hinaus sollten durch Monitoring klar definierter Suchfelder unternehmensrelevante Entwicklungen identifiziert werden (Gaubinger 2000). Um zu gewährleisten, dass alle relevanten Bereiche des Unternehmens beobachtet und analysiert werden, empfiehlt sich für ein Unternehmen in einem kollaborativen Prozess ein Analyseraster zu definieren, das zum einen spezifische Suchfelder innerhalb der jeweiligen Dimensionen der PESTEL-Analyse beinhaltet und zum anderen auch aktuelle und potenzielle Marktakteure miteinschließt. Zur Analyse dieser Bereiche kommen dabei sowohl qualitative als auch quantitative Methoden der empirischen Forschung zur Anwendung. Beispielhaft seien hier Experteninterviews, Lead-User-Analysen, Trendanalysen sowie bibliometrische Analysen angeführt. Auch onlinebasierte Methoden wie Google Alerts oder Google Trends können in diesem Zusammenhang effizient eingesetzt werden. Die Ergebnisse dieser Analysen bilden die Grundlage für die daran anschließende strategische Planung im Unternehmen (Strategic Planning). In dieser Phase kommen ausgewählte Foresight-Methoden zum Einsatz (Rohrbeck 2014). Die SWOT-Analyse ermöglicht es hierbei auf effiziente Weise, zentrale positive sowie negative umfeldbezogene Entwicklungen sowie Trends den Unternehmensgegebenheiten gegenüberzustellen und dabei auf strukturierte Weise strategische Handlungsoptionen abzuleiten (Werani und Prem 2009). Aufbauend auf den Entwicklungen im Makro- und Mikroumfeld des Unternehmens können in weiterer Folge mittels Szenarioanalyse ganzheitliche Zukunftsbilder entwickelt werden. Im Regelfall werden hierbei ein extrem positives, ein extrem negatives sowie ein Szenario, welches die gegenwärtige Situation fortschreibt, entwickelt und im sog. Szenariotrichter dargestellt. Dies bildet wiederum die Grundlage für die zukunftsgerichtete Entwicklung von Strategien und Maßnahmen (Vahs und Brem 2015). Roadmapping stellt ein weiteres Verfahren dar, das es ermöglicht, Entwicklungspfade von Produkten, Dienstleistungen und Technologien zu analysieren, zu prognostizieren und zu visualisieren. Diese Methode basiert auf einer systematisierten Erfassung und Bündelung von Expertenwissen und ist somit in seinem Vorgehen der Delphi-Technik verwandt. Sie ermöglicht ebenso die Ableitung konkreter Handlungsoptionen, welche in der eigentlichen Roadmap visualisiert werden (Ahmed und Shepherd 2010). Die Ergebnisse der oben angeführten Methoden bilden letztendlich die Grundlage für die Definition von Innovationsportfolios. Dieses Instrument dient dazu, die Gesamtheit potenzieller Innovationsprojekte zu bewerten und zu visualisieren, um damit eine trans-

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parente Bestimmung eines ausgewogenen Innovationsportfolios zu ermöglichen. Die Elemente des Portfolios werden dabei häufig anhand der Kriterien Marktunsicherheit, technische Unsicherheit, Erfolgspotenzial oder auch Realisierungsaufwand bewertet (Vahs und Brem 2015). Es sei auch angemerkt, dass gewisse Entwicklungen im Unternehmensumfeld auch eine Anpassung des Unternehmensleitbilds (Mission Statements) notwendig machen, da hierin Aussagen über den Grundzweck der Unternehmenstätigkeit (vor allem die Produkt-­ Markt-­Kombinationen), die obersten Ziele des Unternehmens sowie dessen grundsätzliches Verhalten gegenüber den wesentlichen Stakeholdern festgelegt sind.

29.3.2 Operativer Zyklus Die im strategischen Zyklus definierten Strategien und identifizierten Handlungsoptionen bilden den Trigger und den Rahmen für die Aktivitäten innerhalb der operativen Zyklen des Modells. Immer komplexer werdende Kundenbedürfnisse führen dazu, dass viele dieser Bedürfnisse durch physische Produkte alleine nicht mehr befriedigt werden können und somit gleichzeitig mit der physischen Produktentwicklung auch begleitende Dienstleistungen bzw. vereinzelt sogar neue Geschäftsmodelle entwickelt werden müssen (Gaubinger et al. 2015). Daher sollte ein umfassendes Innovationssystem gewährleisten, dass diese interdependenten Bestandteile eines neuen Leistungsangebots auch parallel und in enger Abstimmung zueinander entwickelt werden. Diese Aspekte werden beim vorliegenden Modell durch die einzelnen Zyklen auf vertikaler Ebene berücksichtigt. Neben diesen drei Zyklen wird im Modell auch die Technologieentwicklung berücksichtigt. Technologieprojekte sind in vielen Fällen als Vorstufe zur Produktentwicklung notwendig und „nähren“ somit in vielen Fällen die Produktentwicklungsprozesse. Aufgrund der Spezifika derartiger Projekte müssen diese gesondert durchgeführt und somit auch in einem holistischen Innovationssystem berücksichtigt werden (Gaubinger et al. 2015). Die horizontale Ebene der operativen Zyklen gliedern sich beim VUCA-Innovationssystem in die klassischen Prozessabschnitte operativer Innovationsprozesse Ideation, Concept, Development & Test sowie Launch und wird durch den Lebenszyklusabschnitt (Life­ cycle) ergänzt, der vom Launch bis zur Elimination des Angebots reicht. Entsprechend den Grundprinzipien agiler Stage-Gate-Modelle werden bei den operativen Zyklen agile Arbeitsweisen in die klassischen Prozessabschnitte operativer Innovationsprozesse integriert (vgl. hierzu Abschn. 29.2.2), die das traditionelle Projektmanagement zu großen Teilen ersetzen. Scrum ist in diesem Kontext ein weit verbreiteter Ansatz des agilen Projektmanagements und zeichnet sich durch regelmäßige und wiederholbare Arbeitsabläufe aus, die als Sprint bezeichnet werden. Jeder Sprint hat dabei zum Ziel, ein funktionsfähiges Zwischenprodukt zu entwickeln (Modell oder Prototyp), das in weiterer Folge den Projektbeteiligten und auch den Kunden zur Validierung präsentiert werden kann (Schwaber und Sutherland 2017). Diese schnelle, iterative und inkrementelle Frei-

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gabe von Konzepten, Designs und Prototypen bietet ein schnelles Feedback, das im nächsten Sprint berücksichtig werden kann. Die Stimme des Kunden kann somit zu einem dynamischen Treiber während des gesamten Projektes werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich das Scrum-Team aufgrund der zeitlichen Beschränkung eines Sprints somit nur auf die Weiterentwicklung der grundlegenden Funktionalität des Zwischenprodukts und auf die kurzfristigen Ziele des Sprints konzentrieren kann (Cooper und Sommer 2018). Zur Gewährleistung der strategischen Orientierung der gesamten Entwicklungsaktivitäten bieten aber weiterhin Gates essenzielle Go/Kill-­Entscheidungspunkte, an denen immer wieder die Projekte im Hinblick auf den strategischen Fit und die Erfolgswahrscheinlichkeit hin unter Einbezug des Topmanagements überprüft werden. Die im Vorfeld für jedes Gate jeweils spezifizierten Ergebnisse sind jedoch weniger granular und flexibler als bei klassischen Stage-Gate-Modellen aber auch konkreter und tangibler. Neben Scrum eignen sich in der Ideation-Phase insbesondere auch Design-­Thinking-­ Methoden sowie der Einsatz von Open-Innovation-Instrumenten, wie bspw. der Integration von Lead Usern. Der Übergang zur anschließenden Konzeptphase kann entsprechend der eingesetzten Methoden fließend verlaufen und somit kommen hier neben Scrum ebenso Design-Thinking-Methoden zum Einsatz. Skizzen, CAD-Entwürfe, Computeranimationen sowie Simulationen ermöglichen in dieser Phase frühzeitig ein fundiertes Feedback seitens potenzieller Kunden und des Managements (Cooper und Sommer 2018). Zur Erstellung eines Konzepts für ein neues bzw. adaptiertes Geschäftsmodell eignet sich naturgemäß auch hier das Business Model Canvas. Darüber hinaus kommen in der Development- & Testphase Rapid-Prototyping-Verfahren, wie bspw. 3D-Printing, verstärkt zum Einsatz und helfen damit einerseits, wiederum wertvolle Feedback-Loops in den Entwicklungsprozess zu integrieren und verkürzen andererseits auch essenziell die Time to Market. Neben der agilen Entwicklung physischer Produkte bzw. immaterieller Dienstleistungen stellen die frühzeitige Planung der Markteinführung und die davon abgeleitete Entwicklung adäquater Marketingmaßnahmen weitere zentrale Erfolgsfaktoren des Innovationsmanagements dar (Gaubinger et al. 2015). Idealerweise erfolgt die Marketingplanung parallel und in enger Abstimmung mit dem eigentlichen Entwicklungsprozess und es sollten hierbei ebenso die bereits zitierten agilen Entwicklungsmethoden Scrum und Design Thinking zum Einsatz kommen. Aufgrund des VUCA-Umfelds muss somit insbesondere auch während der Planung der Marketingaktivitäten neben dem naturgemäßen Fokus auf die Zielgruppe eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gewährleistet werden. Neben dem laufenden direkten Feedback der Zielgruppe während der Entwicklung der Marketingmaßnahmen können durch die gezielte Nutzung digitaler Medien und sozialer Netzwerke (z. B. Forenbeiträge) Veränderungen am Markt effizient identifiziert und rückgekoppelt werden. Auch wenn bei den bisherigen Entwicklungsmaßnahmen prozessimmanent eine Reihe von Feedbackloops und Tests integriert sind, müssen vor der finalen Markteinführung der entwickelten Leistungen entsprechend ihrer Komplexität und strategischen Bedeutung im

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Regelfall abschließende Tests durchgeführt werden. Das Spektrum reicht hier von klassischen technischen Produkttests bis hin zu umfangreichen Markttests (Schweitzer und Gaubinger 2009). In weiterer Folge müssen die am Markt eingeführten Leistungen entlang des gesamten Lebenszyklus laufend überwacht und analysiert werden. Treten dabei Abweichungen zwischen dem angestrebten Soll-Zustand und dem erreichten Ist-Zustand auf, sind umgehend Anpassungsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen. Das Spektrum reicht dabei von der Änderung bzw. Verbesserung des bestehenden Leistungsangebots, über die Einführung einer zusätzlichen Variante der Leistung bis hin zur Elimination einer bestehenden Leistung und der damit gegebenenfalls verbundenen Entwicklung eines Nachfolgeprodukts. Auch bei geplanten Leistungsvariationen und -differenzierungen sind dabei die oben angeführten Stufen des agilen Innovationsprozesses von der Ideengenerierung bis hin zur Markteinführung im Regelfall zu durchlaufen und die angeführten Methoden anzuwenden. Entsprechend dem Innovationsgrad der geplanten Änderungen kann jedoch das Ausmaß bzw. die Intensität der Aktivitäten in den einzelnen Stufen des Prozesses dabei variieren. Die erfolgreiche Anwendung agiler Prozesse und Methoden bedingt aber auch eine Anpassung der Unternehmenskultur und der Führung. Führungskräfte müssen zum Enabler und Coach der Mitarbeiter werden, damit diese eigeninitiativ handeln und Verantwortung tragen können (Korge 2017). Brandes et al. (2014) definieren in diesem Kontext die folgend anführten Aspekte einer vitalen, zukunftsfähigen Organisation: • Klarheit: Beantwortung von diversen Fragen zur Daseinsberechtigung des Unternehmens, zum Erfolg als auch zu aktuellen Problemen • Menschenbild: Förderung von intrinsischer Motivation und Übernehmen von Verantwortung • Potenzialentfaltung: Schaffen von Begeisterung und Wachstum • Unterschiede wertschätzen: Vielfalt der Herkunft, Meinungen und Lebensformen • Mut zu heiklen Diskussionen: offener Umgang mit Bedenken, kein Ausnutzen von Verletzlichkeit durch ehrliche Argumentation Die Anwendung agiler Innovationssysteme erfordert in vielen Fällen auch eine Anpassung etablierter Organisationsstrukturen in den Unternehmen. Anstatt traditioneller funktionaler Arbeitsteilung und Spezialisierung gewinnen Prozess- und Projektorganisationsformen zentrale Bedeutung. Hierdurch wird vermehrt Verantwortung in die Hand interdisziplinärer Teams gelegt. Durch diese Autonomie und Dezentralisierung wird den Mitarbeitern das Recht aber auch die Pflicht eingeräumt, unsichere und mehrdeutige Zustände durch Kreativität und Intuition eigenständig zu bewältigen. Selbstorganisation, Selbststeuerung und Eigenverantwortung sind die leitenden Prinzipien und eine Hierarchiefreiheit und Gleichstellung aller Teammitglieder sind dabei essenziell für den Erfolg (Korge 2017). Ergänzend sei angemerkt, dass den Teams kreative Arbeits- und Projekträume zur Verfügung gestellt werden sollten (Brandes et al. 2014).

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29.4 Fallbeispiel Wie eingangs erwähnt, wird abschließend das dargestellte Referenzframework an einem praktischen Fallbeispiel der Greiner Bio-One International GmbH dargestellt. Die Greiner Bio-One International GmbH mit Sitz in Kremsmünster (Oberösterreich) ist ein Unternehmen der Greiner Gruppe, die im Eigentum der Familie Greiner steht. Als innovativer Systempartner der diagnostischen und pharmazeutischen Industrie sowie der Biotechnologie ist das Unternehmen weltweit in mehr als 100 Ländern mit über 2057 Mitarbeitern erfolgreich tätig. Greiner Bio-One ist auf die Entwicklung, die Produktion und den Vertrieb von Qualitätsprodukten aus Kunststoff für den Laborbedarf spezialisiert. Das Unternehmen ist Technologiepartner für Krankenhäuser, Labore, Universitäten, Forschungseinrichtungen, die diagnostische und pharmazeutische Industrie sowie die Biotechnologie. Im Jahr 2017 erzielte die Greiner Bio-One International GmbH mit über 2200 Mitarbeitern, 26 Standorten in 19 Ländern und zahlreichen Vertriebspartnern in mehr als 100 Ländern einen Umsatz von 473 Mio. Euro. Um ein starkes und unverwechselbares Markenimage aufzubauen, setzt die Greiner Bio-One International GmbH auf eine klare Differenzierungsstrategie gegenüber Mitbewerbern: Aus dem Produzenten von Medizin- und Labortechnikprodukten wird sich das Unternehmen zukünftig zu einem Anbieter von innovativen System- und Sicherheitslösungen entwickeln und zudem zum Technologie- und Know-how-Partner für die pharmazeutische und diagnostische Industrie sowie für die Biotechnologie. Bisher wurden präanalytische Produkte von Greiner Bio-One für die Entnahme und Weiterverarbeitung von Probenmaterial (Blut, Harn, Speichel etc.) zu Analysezwecken hergestellt. Mit der jungen Geschäftseinheit Greiner eHealth Technologies (GeT) geht Greiner Bio-One noch einen Schritt weiter. Greiner eHealth Technologies ist eine Geschäftseinheit der Greiner Bio-One GmbH, welche sich intensiv mit der Digitalisierung der Präanalytik beschäftigt und ist spezialisiert auf digitale Systemlösungen für Krankenhäuser, Blutentnahmezentren, Ärzte, Pflegepersonal, Tierärzte und Laboratorien. Das zentrale Leistungsangebot stellt hierbei das System „GeT“ dar, welches perfekt aufeinander abgestimmte Hard- und Softwareprodukte sowie begleitende Dienstleistungen beinhaltet und damit die Effizienz und Sicherheit präanalytischer Arbeitsabläufe im diagnostischen Prozess signifikant erhöht. Damit wird die Patientenbehandlungsqualität nachhaltig verbessert, präanalytische Fehler reduziert sowie eine 100 %ige Nachverfolgbarkeit und Transparenz im gesamten Prozess gewährleistet. Im Rahmen dieses Prozesses werden bereits vom Hersteller die Entnahmebehälter mit einem eindeutigen Barcode versehen. Das bisher weltweit gängige manuelle Etikettieren der Röhrchen sowie viele weitere administrative Prozessschritte durch das Pflegepersonal sind mit GeT nicht mehr notwendig. Am Beginn der Blutabnahme steht die Identifikation der Patienten. Diese erfolgt neben der verbalen Kommunikation zudem mittels Scan der ID auf dem Identifikationsarmband. Der Name des Patienten ist hierbei nicht mehr auf dem Röhrchen vermerkt – dies garantiert 100 %igen Datenschutz. Wurde das Armband

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gescannt und ins System übernommen, öffnet sich am Bildschirm auch die Laboranforderung automatisch und die abzunehmenden Probenbehälter werden angezeigt. Bei der Blutabnahme sieht das Pflegepersonal auf einen Blick, welche Röhrchen in welcher Reihenfolge abzunehmen sind. Zudem sind alle relevanten Daten und Informationen zum Patienten verfügbar. Das Barcoderöhrchen wird direkt nach der Abnahme gescannt und so mit dem Patienten verknüpft und im System gespeichert. Es ist ab sofort nachvollziehbar, wer welche Probe wann abgenommen hat. Auch der Laboreingang wird wiederum mittels Barcode-Scan dokumentiert, die Proben werden analysiert und abschließend gescannt und archiviert. Ein integriertes „Blood Management“ sorgt dafür, dass mit der vorhandenen Blutmenge möglichst viele Laborparameter untersucht werden können und nicht unnötig viel Blut abgenommen werden muss. Ist das Probenmaterial ungeeignet, wird dies im System vermerkt und es erfolgt automatisch die direkte Rückübertragung des betroffenen Auftrages in eine neuerliche Laboranforderung. Durch die automatische Erfassung all dieser Daten ist die vollständige Turnaround Time bekannt. Verwechslungen und Falschanalysen können durch diesen standardisierten Prozess ausgeschlossen werden. Die Entwicklung dieses innovativen Systems und des damit zusammenhängenden Geschäftsmodells erfolgte dabei in Anlehnung an das im Abschn. 29.3 dargestellte Referenzframework und ermöglichte damit Greiner in weiterer Folge, vom „Röhrchenproduzenten“ zum digitalen Systemanbieter zu werden. Strategic analysis and planning Eine laufende strategische Analyse und Planung ist die Grundvoraussetzung für erfolgreiche Innovationen. Im Fallbeispiel von Greiner Bio-One wurde im Zuge der strategischen Analyse des Unternehmensumfelds erkannt, dass Trends wie die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, softwaregestützte Diagnosen sowie neue Gesundheitsservices und onlinebasierte Gesundheitsdienstleister große Wachstumspotenziale für Greiner darstellen und das Leistungsportfolio des Unternehmens entsprechend erweitert werden soll. Dies stellte den Ausgangspunkt für das „GeT-Projekt“ bei Greiner Bio-One dar. Die wesentliche Informationsgrundlage dafür bildete eine umfassende Situationsanalyse (SWOT), die eine Adaption der Vision und Mission der Geschäftseinheit zur Folge hatte und die Ideenfindung initiierte. Ideation Nach der Entscheidung von Greiner Bio-One, die Idee zu einer umfassenden Systemlösung im Bereich der Labordiagnostik aufzugreifen, wurde das Vorhaben auf die nächste Stufe gehoben. Dies erfolgte mittels des Open-Innovation-Ansatzes in einem Kooperationsprojekt des Medizintechnik-Clusters der oberösterreichischen Wirtschaftsagentur Business Upper Austria gemeinsam mit einem Entwickler für Laborinformationssysteme sowie Vertretern führender Krankenhäuser. In enger Zusammenarbeit mit diesen Lead Usern und Lead Experts wurden dabei im Rahmen von Workshops eine Vielzahl von Ideen für die einzelnen Systemmodule in iterativen Zyklen generiert, visualisiert und evaluiert.

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Concept Im Rahmen der Konzeptionierung wurden wiederum gemeinsam mit den Kooperationspartnern der Workflow, die Hardwarekomponenten, Dienstleistungen, Softwaremodule sowie das Geschäftsmodell weiterentwickelt. Dabei kam als Grundlage insbesondere die Use-Case-Methode zur Anwendung, bei der User Stories zu den einzelnen Anforderungen erstellt werden. Zudem wurden regelmäßig wiederum Lead-User-Workshops durchgeführt. Bei der Entwicklung des Geschäftsmodells kam das Business Model Canvas zum Einsatz, das auch die Basis für die Definition des Businessplans bildete. Development und Test Bei der Entwicklung der Leistungen stand Scrum als Projektmanagementtool im Zentrum. Dabei wurde bei Greiner Bio-One ein Scrum Master etabliert, der sich um die agile Projektabwicklung im Rahmen von vierwöchigen Sprints kümmerte. Um die Qualität der zahlreichen Iterationsschleifen möglichst hoch zu halten, wurden neue Softwarelösungen (z. B. Ticketsysteme) für die Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungspartnern implementiert. Um die Anforderungen und gewünschten Änderungen besser abbilden und stets unter Einbeziehung von Lead Usern aus definierten Zielmärkten direkt testen zu können, kamen die Methoden Rapid Prototyping und Mockups verstärkt zum Einsatz. Durch diese Vorgehensweise konnte zum einen das technologische als auch marktseitige Risiko sowie die Time to Market deutlich reduziert werden. Parallel zur Entwicklung der Soft- und Hardwarekomponenten erfolgte auch die Entwicklung von klassischen sowie digitalen Kommunikationsinstrumenten. Launch Auch vertriebsseitig änderte das GeT-Projekt einiges bei Greiner Bio-One. So mussten sich bestehende Vertriebsmitarbeiter nun Wissen in den verschiedenen Bereichen des Systems aneignen. Aus diesem Grund wurden GeT-Experten im bestehenden Vertriebsnetz in den einzelnen Ländern etabliert. Da sich der Vertriebsprozess für derartige Systemlösungen wesentlich vom Vertriebsprozess des Produktverkaufes unterscheidet, wurde ein ­Vertriebstool, genannt „Fragentrichter“, erstellt. Dabei werden im Zuge von Kundengesprächen in mehreren Stufen das Potenzial und die Anforderungen des Kunden im Hinblick auf das System identifiziert. Je nach Einstufung des Kunden wird der nationale GeT-­ Experte oder das internationale GeT-Core-Team herangezogen. Die nationalen Experten werden außerdem laufend vom GeT-Core-Team in der Zentrale von Greiner Bio-One bei der Durchführung ihrer Vertriebsaktivitäten unterstützt. Zudem wurde eine strategische Partnerschaft mit einem Krankenhaus abgeschlossen, im Rahmen derer an der Weiterentwicklung der neuen digitalen Systemlösung der Blutabnahme für Krankenhäuser gearbeitet wird. Bei der Implementierung von Kundenprojekten finden regelmäßige Reviews statt. Greiner Bio-One hat außerdem mit einem Netzwerkpartner ein Support-Center eingerichtet, an welches Kunden sich jederzeit wenden können.

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Lifecycle Um in der VUCA-Welt Schritt halten zu können, ist die jährliche Adaption der definierten Strategie und Maßnahmen essenziell. Neben dem regelmäßigen Strategie-Review sind bei Greiner agile Anpassungen der Strategie auch während des Jahres durchaus Teil des Tagesgeschäftes. Dabei ist es von hoher Bedeutung, Änderungen zu dokumentieren und die getroffenen Entscheidungen regelmäßig an alle Beteiligten zu kommunizieren. Ein konkretes Beispiel in diesem Zusammenhang stellt die laufende Anpassung der Marketingmaterialien dar. Während der Wachstumsphase ist Greiner Bio-One immer wieder mit neuen Kunden und Partnern im Gespräch. Dank dieser Kontakte erhalten die Mitarbeiter wiederholt Feedback zur gewählten Positionierung, zum Systemangebot sowie zu den Marketingmaterialien. Organisational Structure Das GeT-Projekt beeinflusste nicht nur die Ablauf- sondern vor allem auch die Aufbauorganisation auf vielen Ebenen. Es wurde erstmals ein agiles Team geschaffen, das äußerst eigenständig agierte und direkt an die Geschäftsführung berichtete. Das interdisziplinäre Team bestand dabei aus Entwicklern sowie Vertriebsmitarbeitern und Projektmanagern. Wichtig waren hierbei, klare Rollen und Verantwortlichkeiten zu definieren und festzulegen, wer wann und wie agiert, um klare Prozesse sicherstellen zu können. Organisational Culture Auch auf die Unternehmenskultur hatte der neue Geschäftsbereich eine große Auswirkung. Bei der Integration einer softwareentwickelnden, jungen Geschäftseinheit in einem kunststoffverarbeitenden Konzern mit langer Tradition prallen unterschiedliche Unternehmenskulturen aufeinander. Dieser sogenannte „Culture Clash“ brachte einige Herausforderungen mit sich, die es zu bewältigen galt. Die Aufgabe der Führung eines agilen Teams sowie die Schaffung einer neuen Art der Teamarbeit bildeten den Anfang eines umfassenden Kulturwandels innerhalb der Organisation. Dabei musste ein Weg gefunden werden, um zu verhindern, dass die schnelle, flexible Geschäftseinheit durch die Integration in eine loyale Regelkultur seine Innovationskraft und damit seinen Wert verliert. Eine Maßnahme hierbei stellt die flache Hierarchie und das hier dargestellte agile Innovationssystem dar.

29.5 Schlussbetrachtung In diesem Beitrag wird ein vom Autorenteam entwickeltes Innovationssystem beschrieben, welches von Medizintechnikunternehmen als Referenzframework für das Management von Innovationen in einem durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit gekennzeichnetem Umfeld herangezogen werden kann. Als Grundlage hierfür sind im theoretischen Fundament des Beitrags sowohl die Spezifika von agilen Stage-Gate-Systemen als auch Managementansätze angeführt, die das effektive und effiziente Management in

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einem zunehmend volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Unternehmensumfeld ermöglichen. Kundenzentriertheit, agiles Management, Strategic Foresight sowie ein neues Verständnis von Führung und Organisation sind hierbei zentrale Schlüsselfaktoren. Daran anschließend erfolgt die Darstellung des von den Autoren konzeptionierten und als „Gyro Innovation Model“ bezeichneten Innovationssystems. Dieses Modell basiert auf der Annahme, dass in einem VUCA-Umfeld sowohl die strategischen als auch operativen Aktivitäten des Innovationsmanagements in hohem Maße agil, anpassungsfähig, flexibel und beschleunigt durchgeführt werden müssen. Daraus folgt die rotierende und kreisförmige Grundstruktur des Modells, welche auch die Bezeichnung des Modells begründet. Im strategischen Zyklus des Modells bildet ein umfassendes Umweltüberwachungssystem die Grundlage für die daran anschließenden strategischen Planungsaktivitäten, wo die SWOTund Szenarionanalyse sowie das Roadmapping als auch Innovationsportfolios zentrale In­ strumente darstellten. Die im strategischen Zyklus definierten Strategien und identifizierten Handlungsoptionen bilden in weiterer Folge den Trigger für die operativen Aktivitäten innerhalb der operativen Zyklen des Modells. Dabei werden die einzelnen Dimensionen der Innovationsaktivitäten, beginnend von der Technologieentwicklung über die Produkt- und Serviceentwicklung bis hin zur Geschäftsmodellentwicklung, in gesamtheitlicher Weise berücksichtigt. Die horizontale Ebene der operativen Zyklen gliedern sich beim Gyro Innovation Model in die klassischen Prozessabschnitte operativer Innovationsprozesse Ideation, Concept, Development & Test sowie Launch, ergänzt durch die sogenannte Lifecycle-Phase. Entsprechend den Grundprinzipien von „Agile Stage Gate Hybrids“ werden dabei agile Arbeitsweisen in die einzelnen Prozessabschnitte integriert.

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Kurt Gaubinger  ist Professor für Innovationsmanagement an der Fachhochschule Oberösterreich. Er ist Leiter der Masterstudiengänge Mechatronik & Wirtschaft sowie Automotive Mechatronics & Management und darüber hinaus Vizedekan der Fakultät für Technik und angewandte Naturwissenschaften. Er promovierte im Jahr 2000 in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz, Österreich. Nach Lehrtätigkeiten an den Fachhochschulen Burgenland und Salzburg wurde Kurt Gaubinger 2005 Professor an der Fachhochschule Oberösterreich und 2009 zum Leiter des Fachbereichs für Innovation, Design und Industriemarketing ernannt, bevor er 2013 zum Studiengangsleiter berufen wurde. Vor seiner akademischen Laufbahn arbeitete er als Medizintechniker für die Siemens AG Österreich und anschließend für einen österreichischen IT-Dienstleister als Business Unit Manager. Er präsentierte seine Forschungsergebnisse auf zahlreichen Konferenzen und veröffentlichte mehrere Bücher und Artikel. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen strategisches Innovations- und Produktmanagement, Frontend of Innovation, Kommerzialisierung von Innovationen sowie IT-­basiertes Innovationsmanagement. Michael Rabl  ist Professor für Sensorik und Mechatronik an der Fachhochschule Oberösterreich. Seit 2003 ist er Leiter des Bachelorstudiengangs Innovation Engineering & Management sowie des internationalen Masterstudiengangs Innovation and Product Management. Im Jahr 2018 wurde er zum Dekan der Fakultät für Technik und angewandte Naturwissenschaften berufen. Darüber hinaus ist er als unabhängiger Sachverständiger für die Europäische Kommission für Forschung und technologische Entwicklung tätig. Als Senior Researcher war er Teil einer internationalen Forschungsgruppe an der University of California Los Angeles, die sich mit der Entwicklung von Methoden zur Kultivierung von Algen als Rohstoff für Biokraftstoffe beschäftigt. Im Jahr 2000 promovierte er in Elektrotechnik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Jahr 2013 erwarb er seinen MBA in Innovation and Business Creation an der Technischen Universität München. Von 1999 bis 2002 arbeitete er für die Siemens AG in München, zunächst als Entwicklungsingenieur und später als Produktmanager. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten Mechatronik, Innovationsmanagement und der Entwicklung internationaler Studiengänge. Susanna Sulzer  ist Projekt- und Kampagnenmanagerin der Greiner Bio-One GmbH, einem internationalen Unternehmen der diagnostischen und pharmazeutischen Industrie und Biotechnologie mit Sitz in Kremsmünster in Oberösterreich. Im Jahr 2015 schloss Susanna Sulzer ihr Studium in Innovation Engineering & Management ab, im Zuge dessen sie zahlreiche Einblicke in die Geschäftstätigkeit führender Unternehmen erhielt. In der Zeit von 2015 bis 2017 war sie vorerst im Produktmarketing und schließlich als strategische Produktmanagerin bei der Fronius International GmbH beschäftigt. Im Jahr 2018 erwarb Susanna Sulzer mit der Abschlussarbeit zum Thema „Erfolgsfaktoren für das Innovations- und Produktmanagement in Industriegüterunternehmen in einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität („VUCA“) geprägten Unternehmensumfeld“ ihren DI in Mechatronik & Wirtschaft.

Patentbasierte Exploration von Innovationen durch Digitalisierung in der Medizintechnik

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Kathi Eilers

Inhaltsverzeichnis 30.1  Einleitung  30.2  Digitalisierung und Medizintechnik  30.3  Einführung in semantische Patentanalysen  30.4  Einführung in die Methodik  30.5  Erster Schritt: Festlegung eines Untersuchungsrahmens  30.6  Zweiter Schritt: Charakterisierung von Ankerpunkten der Digitalisierung  30.7  Dritter Schritt: Messung semantischer Ähnlichkeiten  30.8  Vierter Schritt: Auswertung der Ergebnisse  30.9  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag nimmt Chancen und Risiken der Digitalisierung zum Anlass, Innovationspfade und Entwicklungen von Digitalisierung in der Medizintechnik zu untersuchen. Dazu werden Patentanalysen verwendet, die bereits zur Untersuchung der Bewegungsbahnen anderer Technologien eingesetzt werden. Dies geschieht über semantische Ähnlichkeiten in Patentdokumenten, wobei eine wachsende semantische Ähnlichkeit als das Verschmelzen der Technologien gedeutet wird. Hier setzt der Beitrag an und identifiziert semantische Ähnlichkeiten zwischen der Medizintechnik und der Digitalisierung. Dabei werden Innovationen und Weiterentwicklungen bestimmten Zeiträumen zugeordnet und inhaltliche Schwerpunkte von der Datenaufzeichnung über

K. Eilers (*) Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_30

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K. Eilers

die Speicherung bis hin zur Verarbeitung aufgezeigt. Dadurch lassen sich anhand der vorgestellten Methode der Anfang und die Entwicklungspfade von Innovationen nachzeichnen und daraus Implikationen für Theorie und Praxis ableiten.

30.1 Einleitung „Kein Unternehmen wird der Digitalisierung ausweichen können“, schreibt Brauckmann (2019, S. 5) und bringt mit dieser Aussage die Herausforderung der „digitalen Transformation“ (vgl. Vormbusch 2019, S. 177) im 21. Jahrhundert auf den Punkt. Während die Digitalisierung allgegenwärtig thematisiert wird und in vielen Bereichen Innovationen hervorruft, bleiben Umfang, Zeitpunkt und Geschwindigkeit ungewiss. Umfasste Digitalisierung zu Beginn lediglich die Umwandlung analoger Daten in digitale Informationen, betreffen hiesige Innovationen nun die Speicherung, Übermittlung und Kombination der Daten. Im Gesundheitswesen stoßen Innovationen durch Digitalisierung allen voran auf das Problem, dass digitale Informationen meist höchstsensible, persönliche Patientendaten betreffen (Pontefract und Wilson 2019). Aufgrund der Risiken, die mit der Speicherung und dem Austausch der Daten einhergehen, wird Innovationen durch Digitalisierung ein vergleichsweise langsamer Fortschritt im Gesundheitswesen zugeschrieben. Ein Beispiel hierfür ist die elektronische Gesundheitskarte, mit deren Einführung 2015 der Austausch patientenbezogener Daten, bspw. zwischen behandelnden Ärzten, vereinfacht und beschleunigt werden sollte. Doch auch in jüngster Vergangenheit zeigt sich ein zögernder Umgang in Bezug auf die Gesundheitskarte, da die elektronische Gesundheitskarte noch immer nicht vollumfänglich zur Speicherung und Verbreitung von Patientendaten genutzt wird (Giebichenstein und Thomas 2017). Dabei bietet die Digitalisierung nicht nur beim Informationsaustausch unter Ärzten eine Unterstützung, sondern erleichtert auch die Datensammlung als Vermittler zwischen Patienten und Ärzten. Sind Behörden in Deutschland noch vorsichtig, nutzen Patienten privat bereits Smartphones oder sogenannte Wea­ rables und halten ihre Aktivitäten sowie Nahrungsaufnahme fest (Vormbusch 2019; Sinnapolu und Alawneh 2018). Wearables sind bspw. als Fitnessarmbänder bekannt, die Daten sammeln und dem Anwender Aufschluss über ihren Puls, die tägliche Bewegung und somit den Gesundheitszustand geben. Die gesammelten Daten der Wearables könnten, bei integrierter Verwendung in ärztlichen Behandlungen, Echt- und Langzeitdaten liefern und zu schnelleren Diagnosen führen (Sinnapolu und Alawneh 2018). Smarte Geräte haben dadurch das Potenzial, den Wettbewerb in der Medizintechnik grundlegend zu verändern und Instrumente wie das Blutdruckmessgerät langfristig zu ersetzen. Die Wearables werden meist von Unternehmen angeboten, die bislang in anderen Branchen als der Medizintechnik tätig waren. Diese Unternehmen treten aber zunehmend in diese Branche ein und erhöhen den Wettbewerbsdruck. Durch den einerseits schleppenden Fortschritt von Innovationen durch Digitalisierung aufgrund sensibler Daten und den andererseits großen Chancen und erheblichen Risiken, die sich für Patienten, Ärzte und Unternehmen daraus ergeben, stellt sich der vorliegende Beitrag die Fragen, wie weit die Digitalisierung in der Medizintechnik fortgeschritten ist,

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wo die Anfänge liegen und ob Innovationspfade oder -schwerpunkte identifiziert werden können. Zur Beantwortung der Fragen werden Informationen aus Patenten genutzt. Sie haben die Vorteile, online verfügbar zu sein und einen Einblick in die Forschungsaktivitäten großer Unternehmen zu liefern (Walter und Schnittker 2016). Dadurch bieten sie eine umfangreiche Grundlage zur Analyse langer Zeiträume. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst wird der Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und der Medizintechnik dargelegt. Es folgen die Grundlagen der semantischen Patentanalyse und es wird dargelegt, wie diese zur Messung technologischer Bewegungsbahnen verwendet werden kann. Darauf aufbauend wird die Methodik der patentbasierten Exploration zu Entwicklungen der Digitalisierung in der Medizintechnik in den einzelnen Schritten vorgestellt und diskutiert. Der letzte Schritt enthält zudem die Auswertung der Ergebnisse, die anhand einzelner Zeiträume präsentiert werden. Eine Schlussbetrachtung mit Implikationen für Theorie und Praxis rundet den Beitrag ab.

30.2 Digitalisierung und Medizintechnik Ein dominierender Trend der letzten Jahre ist, wie eingangs von Vormbusch (2019) kon­ statiert, die Digitalisierung. Ganz gleich, welche Branche betrachtet wird, Innovationen, die durch den Einzug der Digitalisierung entstehen, rücken überall in den Vordergrund und werden als größte Herausforderung der heutigen Zeit angesehen, wobei sich die Anwendungsfelder der Digitalisierung ebenso rasch verbreiten wie die Digitalisierung selbst (Neugebauer 2018). Ursprünglich umfasst die Digitalisierung die binäre Repräsentation von Texten, Bildern, Filmen und Tönen und funktioniert dabei wie ein „Universalübersetzer“ (Hippmann et  al. 2018, S.  9): Mittlerweile ist das Verständnis von Digitalisierung durch die allumfassende Vernetzung digitaler Ökosysteme (Arbeit, Wohnung, Auto etc.) gekennzeichnet und umschließt die Kombination und Weiterverarbeitung gesammelter Daten. Diese werden durch Computer erfasst und in einen Zusammenhang gebracht. Durch die Kombination werden sie „enriched“ (dt. angereichert), sodass weiteres Wissen gewonnen wird (Hamidian und Kraijo 2013). Vormbusch (2019) fügt der Definition eine gesteigerte Konnektivität durch digitale Plattformen hinzu und spricht von einem weitreichenden Wandel der Technologien durch die Digitalisierung. Dabei reicht der Einfluss von intelligenten Herstellungsprozessen über verbesserte Logistikprozesse in der Industrie bis hin zu den Wearables in den Alltag der Menschen hinein (Vormbusch 2019; Bauer et al. 2018). In der Medizintechnik führt der Einfluss der Digitalisierung dazu, dass Wettbewerbsvorteile nicht mehr einzig über Produktionsfaktoren bestimmt werden, sondern auch aus den Kundenversprechen und der Serviceorientierung einzelner Unternehmen (und Ärzte) resultieren, welche die Kosten der reinen Produktion übersteigen (Brauckmann 2019). Unbestritten hat die richtige Integration digitaler Dienstleistungen auch in der Medizintechnik ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis (Phillips et  al. 2017). Ein Hemmnis für den Fortschritt und die Verbreitung von Innovationen durch Digitalisierung ist die

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Vielzahl strenger Regularien aufgrund der Verarbeitung personenbezogener Daten und den damit verbundenen Risiken. Durch die Regularien sind die Kosten für Forschung und Entwicklung im Bereich der Medizintechnik hoch; medizinische Geräte sind sehr teuer und gelangen oftmals nur in den Handel, wenn Dritte ebenfalls einen Nutzen am Einsatz der Technik haben. Dies betrifft etwa Krankenkassen, die ein Interesse an sinkenden Behandlungskosten haben, Ärzte, die auf einen Wettbewerbsvorteil hoffen, oder Patienten, die eine schnelle Behandlung und eine verständliche Übersicht über ihren Zustand wünschen (Durfee und Iaizzo 2019a, b). Durch die Vernetzung der Geräte mit Produkten, wie bspw. Smartphones oder Wearables, ließen sich patientenbezogene Daten sammeln, übermitteln und auswerten, und entsprechende Handlungsempfehlungen für den Patienten ableiten (Pontefract und Wilson 2019; Giebichenstein und Thomas 2017). Die Digitalisierung senkt dadurch die Kosten einzelner Behandlungen und trägt zu einem positiven Kosten-Nutzen-Verhältnis bei (Sinnapolu und Alawneh 2018). Die Hemmnisse bei der Digitalisierung im Bereich der Medizintechnik überwiegen letztlich nicht die Vorteile, die sich den Stakeholdern bieten. Eine schnellere Erfassung der Daten, ein verlässlicher und zügiger Informationsaustausch, die selbstständige Überwachung der eigenen Gesundheit, ein sinkendes Risiko durch eine umfassende Überwachung körperlicher Signale – all dies sind Gründe für Patient, Arzt und Unternehmen, die Digitalisierung in der Medizintechnik voranzutreiben. Dabei sind Produkte wie die elektronische Gesundheitskarte oder die Wea­ rables Indikatoren dafür, dass die Digitalisierung – wenngleich langsam – Einzug in den Bereich der Medizintechnik erhält. Wie eingangs angeführt, sind die Kosten für Entwicklungen und Innovationen in der Medizintechnik aufgrund der verschiedenen Regularien vergleichsweise hoch. Dies beginnt bereits damit, dass eine Vielzahl an Prozessen existiert, die durchlaufen werden, bis Geräte auf dem Markt zugelassen werden. Ohne den Schutz der Entwicklungen durch Patente gehen Unternehmen das Risiko ein, die Kosten nicht zu decken und keinen optimalen, wirtschaftlichen Nutzen aus ihrer Erfindung zu generieren (Durfee und Iaizzo 2019b). Der Jahresbericht des European Patent Office (kurz EPO) von 2017 zeigt, dass sowohl die Medizintechnik als auch die Digitalisierung gemessen an der Anzahl der Patentanmeldungen die meisten Forschungsaktivitäten aufweisen. Der Bereich der Medizintechnik verteidigt dabei seine Führung gegenüber dem Jahr 2016. Die darauffolgenden Plätze belegen die digitale Kommunikation und die Computertechnologie (EPO 2017).

30.3 Einführung in semantische Patentanalysen Um zu überprüfen, welche Zusammenhänge zwischen der Medizintechnik und der Digitalisierung bestehen, wie groß gegebenenfalls der Fortschritt der Digitalisierung ist und welche Innovationspfade sich aufgreifen und fortführen lassen, wird im Folgenden der Bereich der Medizintechnik mittels semantischer Patentanalysen explorativ untersucht. Gründe und Vorteile des Vorgehens werden nachstehend erörtert.

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Patente werden in nahezu allen Ländern zum Schutz des geistigen Eigentums vergeben und beruhen auf der Idee, dem Erfinder eine zeitweise Monopolstellung im Austausch zur Offenlegung der Erfindung zu gewährleisten (Gassmann und Bader 2017; Walter und Schnittker 2016). Weltweit besitzen Patente einen standardisierten, dreigliedrigen Aufbau, der aus bibliografischen Angaben (bspw. Erfinder, Anmelder oder Anmelde- und Erteilungsdaten), textuellen Daten (bspw. Titel, Zusammenfassung oder Patentansprüche) sowie rechtlichen Informationen (Rechtsbeständigkeit des Patentes) besteht. Jede Patentanmeldung durchläuft einen mehrjährigen Anmeldeprozess, der eine Offenlegungsfrist der Erfindung nach 18 Monaten einschließt. Diese Frist hat zur Folge, dass eine Patentanmeldung, unabhängig von der Erteilung, nach 1,5 Jahren offengelegt wird und sich die Öf­ fentlichkeit dann über technische Erfindungen und damit über den Stand der Technik informieren kann (Walter und Schnittker 2016). Im Gegenzug zur Patenterteilung sind Patentanmeldungen hinsichtlich der bibliografischen Daten nicht zwangsläufig vollständig, da Patentklassifikationen und -zitationen erst bei der Erteilung nachzutragen sind (Niemann 2015). Dennoch bietet die Offenlegung einen frühen Einblick in Innovationsaktivitäten von Unternehmen. Durch ihren Schutzumfang sind Patente ein beliebtes Mittel, sich gegenüber dem Wettbewerb abzusichern (Gassmann und Bader 2017). Zudem bieten Patente eine Reihe weiterer Funktionen, wie bspw. der Reputations- und Signalfunktion zu Marketingzwecken oder als Gütesiegel für Produkte des Unternehmens (Frischkorn 2017; Gassmann und Bader 2017; Burr et al. 2007; Blind et al. 2003). Daneben werden Patente auch als Grundlage explorativer Analysen von Technologiefeldern, Wettbewerbern oder technologischer sowie unternehmerischer Vorausschau genutzt (Kronemeyer et al. 2020; Eilers et al. 2019; Passing 2017; Frischkorn und Möhrle 2015). In der Analyse werden bibliographische sowie textuelle Abschnitte aus den Patenten verwendet. Die textuellen Patentabschnitte werden auch als „unstrukturierte Daten“ (vgl. Hippner und Rentzmann 2006, S.  287) bezeichnet. Mittels spezifischer Software werden die Texte aufbereitet und auf der Grundlage verschiedener Berechnungen miteinander verglichen und in einen Kontext gesetzt (Walter und Schnittker 2016). Der Vergleich erfolgt bspw. anhand textueller Elemente, wobei eine Überschneidung der Elemente eine inhaltliche Ähnlichkeit der Patente unterstellt. Die Elemente werden von Moehrle und Gerken (2012) als n-Gramme bezeichnet, wobei n die Anzahl einzelner Terme in einem Element beschreibt. Somit bezeichnet bspw. ein Uni-­Gramm einen einzelnen Term, wohingegen ein BiGramm zwei Terme umfasst. Die n-­Gramme werden anhand unterschiedlicher Maßzahlen miteinander verglichen, die einen Ähnlichkeitswert der Patente zueinander ausgeben. Moehrle (2010) erörtert verschiedene Maßzahlen unter Berücksichtigung des zugrunde liegenden Forschungszwecks. Passing (2017) nutzt semantische Patentanalysen, um Technologiekonvergenz zu messen und vorauszusagen. Technologiekonvergenz beschreibt die Kombination bestehender Technologien, sodass ein neues Technologiefeld entsteht. Dabei bewegt sich eine Technologie auf eine weitere zu (oder beide nähern sich gleichermaßen an), wobei die vorherigen

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Technologiefelder nicht notwendigerweise bestehen bleiben (Passing 2017; Curran 2013; Curran und Leker 2011; Hacklin et al. 2009; Hacklin 2008). Zur Messung verwendet Passing (2017) sogenannte semantische Ankerpunkte. Diese werden als Ansammlung textueller Elemente definiert und sind damit eine spezifische Auswahl von n-Grammen (Passing 2017). Die n-Gramme werden dahingehend zusammengestellt, dass sie eine bestimmte Technologie repräsentieren. Dabei wird ein Ankerpunkt gegen eine Technologie gemessen, um etwaige Überschneidungen auszumachen. Diese Überschneidungen – sogenannte semantische Ähnlichkeiten – wertet Passing (2017) dann als Anzeichen für Technologiekonvergenz.

30.4 Einführung in die Methodik Den Erkenntnissen von Passing (2017) folgend, eignen sich semantische Ankerpunkte, um Technologiekonvergenz und somit Bewegungsbahnen von Technologien nachzuzeichnen. Im Zuge der Digitalisierung ist die Technologiekonvergenz ins Zentrum von Entscheidungsträgern, Strategen und Analysten gerückt (Hacklin 2008), da immer mehr Technologien miteinander verschmelzen und neue Technologiefelder und Anwendungen entstehen. Nachstehend wird untersucht, inwiefern sich die semantischen Ankerpunkte nach Passing (2017) zum Nachweis von Technologiekonvergenz eignen, um die Digitalisierung und deren Entwicklungen im Bereich der Medizintechnik nachzuweisen. Dazu wird ein Ankerpunkt erstellt, der charakteristische Begriffe zur Beschreibung der Digitalisierung enthält. Der Ankerpunkt wird mit Patenten aus der Medizintechnik verglichen und wann immer hohe Ähnlichkeiten gemessen werden, wird dies als Überschneidung der Technologien gewertet. Die identifizierten Patente werden im letzten Schritt genauer untersucht, um Schwerpunkte und Entwicklungen über mehrere Jahre hinweg auszumachen. Bei dem methodischen Vorgehen nach Passing (2017) werden die Erweiterungen von Kronemeyer et al. (2020) und Eilers et al. (2019) ergänzt. Die Gliederung der hier

Abb. 30.1  Methodisches Vorgehen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Passing 2017)

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a­ ngewandten Methode ist Abb. 30.1 zu entnehmen und lehnt sich an das Vorgehen der Autoren an.

30.5 Erster Schritt: Festlegung eines Untersuchungsrahmens Im ersten Schritt werden Patente aus der Medizintechnik recherchiert, an denen die Entwicklungen der Digitalisierung untersucht werden. Dazu gibt es nach Alberts et al. (2011) in Abhängigkeit der Zielsetzung verschiedene Möglichkeiten, ein Patentdatenset zu generieren. Generell lassen sich diese Verfahren anhand der Nutzung der bibliografischen und textuellen Daten unterscheiden. Patentrecherchen, welche die bibliografischen Daten nutzen, basieren auf Angaben wie dem Anmelde- und Erteilungsdatum, Anmeldern, Zitationen oder Klassifikationen. Daneben bieten textuelle Daten, bspw. Titel, Zusammenfassung oder Ansprüche, die Möglichkeit, einen stichwortbasierten Patentpool zu generieren (Walter und Schnittker 2016). Beiden Verfahren obliegen Vor- und Nachteile. Beispielsweise lassen sich Erfindungen nicht immer eindeutig Patentklassen zuordnen. Das führt dazu, dass Patente bisweilen zu vielen oder im Gegenteil zu wenigen Patentklassen zugeordnet werden, zumal diese Zuordnung dem subjektiven Empfinden des Patentprüfers unterliegt. Diese Unschärfe der Patentklassifikation überwindet die stichwortbasierte Suche, indem anhand einzelner Begriffe in den Volltexten der Patente recherchiert wird. Dabei werden die Begriffe entsprechend des Forschungsziels ausgewählt und kombiniert (Walter und Schnittker 2016). Ein Nachteil der stichwortbasierten Suche ist die aufwendige Berücksichtigung von Synonymen und unterschiedlichen Schreibweisen. In Abhängigkeit der Anzahl der Patentklassen oder Stichworte werden breitere oder spezifischere Treffer generiert (Walter und Schnittker 2016). Diese Unterscheidung gliedert Egghe (2008) in Recall und Precision. Beide Kriterien dienen der Bewertung der Güte des generierten Patentpools: Die Precision bewertet die Genauigkeit der relevanten Treffer, während der Recall die Vollständigkeit eben dieser angibt. Van der Drift (1991) empfiehlt je nach Forschungsziel, das ein oder andere Kriterium höher zu gewichten. Generierung des Suchstrings Im vorliegenden Beitrag wird der Einfluss der Digitalisierung auf die Medizintechnik untersucht. Dabei wird im ersten Schritt ein Patentdatenset recherchiert, das die Medizintechnik umfassend umschreibt, um jegliche Einflussmöglichkeiten der Digitalisierung identifizieren zu können. Das bedeutet, in Bezug auf die Parameter Recall und Precision, dass ein hoher Recall einer hohen Precision gegenüber bevorzugt wird. Aus diesem Grund ist eine Recherche basierend auf einer Patentklasse für das Vorgehen zulässig und es ist eine Entscheidung für eine Patentklassifikation zu treffen. Aufgrund der internationalen Vergleichbarkeit wird im Folgenden die Internationale Patentklassifikation (IPC) verwendet. Zudem wird ein Patentamt festgelegt, bei dem die Patente recherchiert werden. Nach EPO (2017) gehören sowohl die Medizintechnik als auch die Digitalisierung zu den Bereichen, in denen im Jahr 2017 die meisten Patentanmeldungen bei dem europäischen ­Patentamt

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zu verzeichnen sind. Eine Patentrecherche beim EPO (engl. European Patent Office) führt jedoch zu Treffern, die in den verschiedenen Amtssprachen des Patentamtes, Deutsch, Englisch oder Französisch, vorliegen können. Um ein Rauschen in den Ergebnissen aufgrund der unterschiedlichen Sprachen zu vermeiden, wird entschieden, die Recherche bei einem Patentamt durchzuführen, das eine einheitliche Sprache verwendet. Da auch in den USA eine Vielzahl jährlicher Patentanmeldungen, insbesondere aus dem Bereich Medizintechnik, zu verzeichnen ist, wird im Folgenden als Basis die Datenbank des USPTO (engl. United States Patent and Trademark Office) verwendet. Nach Angaben des EPO (2017) umfasst die Medizintechnik 12 verschiedene IPC-­ Unterklassen, denen sich die Erfindungen zuordnen lassen. Eine Patentrecherche, welche alle vom EPO genannten IPCs inkludiert, führt beim USPTO zu 366.574 US-Patenterteilungen seit 1976. Um eine bessere Handhabung der verwendeten Software im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung zu gewährleisten, wird die Methodik zunächst an der in den Patenten erstgenannten IPC-Unterklasse getestet, der A61B  – „Diagnostik; Chirurgie; Identifizierung“ (DPMA 2019; EPO 2017). Um einen vollständigen Patentdatensatz zu generieren, wird folglich die Patentklasse A61B mit Trunkierung als Suchkriterium zugrunde gelegt. Die Trunkierung wird eingesetzt, um alle Untergruppen bei der Patentrecherche einzuschließen. Der Suchstring lautet demnach: ICL/(A61B*) AND ISD/19760101-20171231 AND APD/19760101-20171231 Der Operator ICL (engl. International Patent Classification) grenzt die Patentklassifikation auf die Untergruppe A61B ein. Durch die Operatoren APD (engl. Application Date) und ISD (engl. Issue Date) wird die Trefferliste auf Patenterteilungen begrenzt, die zwischen 1976 und 2017 sowohl angemeldet als auch erteilt worden sind. Die Recherche startet im Jahr 1976, da seitdem die Patente des USPTO online verfügbar sind, und sucht nach Patenterteilungen in der Datenbank des USPTO. Mit diesen Restriktionen führt die Suche zur 150.162 Patenterteilungen. Abb. 30.2 zeigt die Verteilung der Patente über den gesamten Suchzeitraum. Die Ränder sind jeweils differenziert zu betrachten, da aufgrund der Restriktionen im Suchstring (Patentanmeldungen und -erteilungen) Patente ausgeschlossen werden, die in dem älteren Zeitraum zwar erteilt, aber noch nicht angemeldet und in dem jüngeren Zeitraum zwar angemeldet, aber noch nicht erteilt worden sind. Die Zahl der Patentanmeldungen und -erteilungen ist über die Jahre gestiegen. Der leichte Abschwung der Patenterteilungen zwischen 2004 und 2009 lässt sich mit einem generellen Rückgang der Patenterteilungen beim USPTO in diesen Jahren erklären (USPTO 2015). Dennoch zeigt der Verlauf einen steigenden Trend der Patentierungen in der IPC A61B. Validierung des Datensets Die Validierung des Datensets dient der Überprüfung, ob das recherchierte Patentdatenset einen ausreichenden Umfang besitzt, die Medizintechnik zu repräsentieren und die Technologieanalyse durchzuführen (Frischkorn 2017). Dazu werden erneut die Kennzahlen

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Abb. 30.2  Zeitlicher Verlauf der Patentanmeldungen und -erteilungen des Patentdatensets A61B. (Quelle: Eigene Darstellung)

Recall und Precision von Egghe (2008) verwendet. Diese bestimmen im vorliegenden Kontext, wie vollständig und präzise das gewählte Datenset ist. Nach Egghe (2008) und Stock (2007) berechnet sich der Recall aus dem Verhältnis gefundener, relevanter Patente und der Summe aus relevanten, gefundenen und nichtgefundenen Patenten. Letztere Menge wird im vorliegenden Untersuchungsvorhaben von denjenigen Patenten abgebildet, welche durch das Weglassen eines Kriteriums im Suchstring die nächstgrößere Patentmenge bilden (Frischkorn 2017). Wird dies auf den obigen Suchstring angewendet und die Eingrenzung auf Patenterteilungen (ISD) entfernt, werden 166.724 Patente gefunden. Aus dem Verhältnis zu den 150.162 Patenterteilungen im Patentdatenset ergibt sich folglich ein Recall von 0,9. Das bedeutet, dass das Patentdatenset nahezu alle Treffer umfasst und somit für die folgende Analyse geeignet ist.

30.6 Z  weiter Schritt: Charakterisierung von Ankerpunkten der Digitalisierung Wie eingangs dargelegt, erhält die Digitalisierung in nahezu jedem Unternehmen und somit in nahezu jeder Technologie Einzug. Diese breite Streuung ist auch in den IPCs erkennbar und führt dazu, dass sich die Digitalisierung nicht eindeutig einer IPC zuordnen lässt. Zwar führt die Schlagwortsuche im Stichwortverzeichnis der IPCs unter dem Begriff „Digitalisierung“ zu Treffern, bspw. zur G02F. Diese umfasst jedoch lediglich die „Vorrichtungen oder Anordnungen, deren optische Arbeitsweise durch Änderung der optischen Eigenschaften des Mediums der Vorrichtungen oder Anordnungen geändert wird zum Steuern der Intensität, Farbe, Phase, Polarisation oder der Richtung von Lichtstrahlen“

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(DPMA 2019) und geht der obigen Definition folgend nicht weit genug, um alle Patente, die sich auf die Digitalisierung beziehen, zu umschließen. Auch die Kombination verschiedener Patentklassen führt zu keinem trennscharfen Ergebnis, da die Vereinigung verschiedener Technologien, denen Digitalisierung unterstellt wird, zu einem Rauschen in den Begrifflichkeiten führt. Aus diesem Grund wird Digitalisierung anhand der Patente eines einzelnen Unternehmens ausgemacht. Auswahl eines Vergleichsdatensets Ein beliebtes Beispiel zu den Anfängen der Digitalisierung ist die Markteinführung von Smartphones. Dabei wird der Beginn der beliebten Mobiltelefone der Einführung des ersten iPhones zugeschrieben. Zwar brachte Nokia Oyj 1998 weltweit das erste Smartphone auf den Markt, konnte sich jedoch mit seiner Produktneuheit in den Folgejahren nicht behaupten. Im Jahr 2007 überholte Apple, Inc. (im Folgenden Apple) mit dem iPhone das Unternehmen und erreichte als Erster mit dem Smartphone den Massenmarkt (West und Mace 2010). Aus diesem Grund wird unterstellt, dass Apple erfolgreicher im Umgang mit der und dem Wandel durch die Digitalisierung war. Aus dem Anmelder (AN) und dem Zeitraum zwischen der Einführung des Nokia 9000 Communicator 1998 und der Einführung des iPhone 2007, ergibt sich der Suchzeitraum für den zugrunde liegenden Suchstring: APD/19980101-20071231 AND ISD/19980101-20071231 AND AN/apple Die Operatoren APD und ISD grenzen die Trefferliste auf Patenterteilungen ein, die zwischen 1998 und 2007 sowohl angemeldet als auch erteilt worden sind. Diese Restriktion beruht auf der Annahme, dass Apple durch die Einführung des Nokia 9000 Communicator zur Forschung und Patentierung motiviert wird und diese mit der Einführung des ersten iPhone 2007 abgeschlossen wurde. Als weiteren Indikator für Forschungsaktivitäten im Bereich der Digitalisierung innerhalb des Suchzeitraumes wird die Einführung der Software iTunes gewertet. iTunes ist die Verwaltungssoftware von Apple, die den Austausch digitaler Inhalte zwischen appleeigenen Produkten gewährleistet (Bergvall-­ Kåreborn und Howcroft 2013; Jacobsen 2014) und somit zur Konnektivität der Geräte beträgt. Da die Software 2003 eingeführt wurde (Waldfogel 2010), stützt dies die These der Digitalisierung des Unternehmens in diesem Zeitraum. Somit führt der Suchstring zu 611 US-Patenterteilungen. Filterung und Einstellungen im PatVisor® Zur Erstellung des Ankerpunktes werden n-Gramme benötigt, welche die Digitalisierung abbilden. Es werden im Folgenden Bi-Gramme verwendet, da diese sich schon bei der Analyse der Technologiekonvergenz in anderen Anwendungsfeldern als geeignet erwiesen haben (Eilers et  al. 2019; Passing 2017). Bevor die Bi-Gramme mithilfe der Software PatVisor® aus dem Apple Patentdatenset extrahiert werden, bleibt zu überprüfen, ob technologiespezifische Filter notwendig sind (Der PatVisor® ist eine eigens entwickelte

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­ oftware zur Patentanalyse des Instituts für Projektmanagement und Innovation der UniS versität Bremen; Walter und Schnittker 2016). Ein technologiespezifischer Filter löscht Begriffe, die keinen Mehrwert liefern (Walter und Schnittker 2016). Daneben wird ein Filter erstellt, der Synonyme harmonisiert, indem er Terme sucht und ersetzt. Dazu wird zunächst eine Term-Dokument-Matrix (kurz TDM) mit dem PatVisor® extrahiert. Danach wird jeweils der Term mit der geringeren Häufigkeit durch den Term mit der höheren Häufigkeit ersetzt. So werden bspw. die Terme computerreadable (998 Treffer) und machinereadable (402 Treffer) unter dem Begriff computerreadable mit 1400 Treffern zusammengefasst. Ohne diese Harmonisierung würde der PatVisor® Patente, die jeweils einen der Terme verwenden, als unähnlich ausgeben. Mithilfe der Filterung der Begriffe, erkennt die Software die Ähnlichkeit. Eine exemplarische Auswahl der Terme im Suchen-und-­ Ersetzen-­Filter zeigt Abb. 30.3. Nachdem die Filter erstellt und im PatVisor® implementiert werden, erfolgt der Auswertungslauf zur Extraktion von Bi-Grammen. Dazu wird erneut eine TDM generiert, deren Erstellung weiterer Einstellungen bedarf. Zum einen ist die Länge eines einzelnen Terms von Bedeutung, um erneut Terme, die keinen inhaltlichen Beitrag leisten, auszuschließen. Gleichzeitig ist zu verhindern, dass Restriktionen in Bezug auf die Länge der Terme relevante Begriffe ausschließen. Die Extraktion der Uni-Gramme dient demnach nicht nur zur Erstellung der Filter, sondern unterstützt ebenfalls bei der Festlegung der Wortlänge, die in der vorliegenden Untersuchung auf 3 gesetzt wird. So werden einzelne Buchstaben, z. B. bei römischen Aufzählungen, ausgeschlossen, kurze Begriffe wie „air“,

Abb. 30.3  Exemplarischer Auszug aus dem Suchen-und-Ersetzen-Filter im PatVisor®. (Quelle: Eigene Darstellung)

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aber in der Trefferliste belassen. Da Bi-Gramme extrahiert werden, beträgt die n-Gramm-­ Größe 2. Moehrle und Gerken (2012) empfehlen eine Fenstergröße von n+2, weshalb diese auf 4 festgesetzt wird. Zusätzlich wird die Extraktion der Bi-Gramme durch standardmäßig eingestellte Filter zur Löschung von Satzzeichen und Zahlen unterstützt. Zusätzlich bietet der PatVisor® die Möglichkeit, relevante Patentabschnitte ein- und irrelevante Abschnitte auszuschließen. In Anlehnung an Passing (2017) und Eilers et al. (2019) werden im Folgenden die Abschnitte „Titel“, „Zusammenfassung“ und „Ansprüche“ verwendet. Extraktion relevanter Bi-Gramme Nachdem die Patente mithilfe der obigen Vorgehensweise gefiltert und harmonisiert werden, erfolgt die Extraktion von Bi-Grammen in einer TDM.  Mithilfe dieser lassen sich Bi-Gramme zusammenstellen, die als Charakterisierung der Digitalisierung im Ankerpunkt verwendet werden. Hierbei gibt es verschiedene Algorithmen zur Priorisierung der einzelnen Bi-Gramme in Bezug auf den zu beschreibenden Gegenstand. Neben der Verwendung der absoluten Häufigkeiten werden auch Algorithmen wie die Dokumentenfrequenz, der Information Gain oder der tf-idf (kurz für Termfrequenz – inverse Dokumentfrequenz) verwendet (vgl. bspw. Feldman und Sanger 2007; Salton und Yang 1973). Letzterer gibt an, inwiefern ein Bi-Gramm ein Patent im Vergleich zu den übrigen Patenten repräsentiert. Der tf-idf ist insbesondere dann sinnvoll, wenn die Relevanz der Bi-­ Gramme hinsichtlich eines (oder mehrerer) Vergleichsdatensets bestimmt wird (Eilers et al. 2019). Da die angewandte Methode nicht mehrere Patentdatensets vergleicht, wird von der Verwendung des tf-idf abgesehen. Für das vorliegende Apple Patentdatenset priorisiert der Information Gain die Bi-­ Gramme in identischer Reihenfolge wie die Dokumentenfrequenz. Da diese Priorisierung mittels Dokumentenfrequenz ungleich leichter ist, wird sich im Folgenden darauf beschränkt. Die Dokumentenfrequenz (df) gibt die Anzahl jener Patentdokumente an, in denen ein betrachtetes Bi-Gramm vorkommt (Salton und Yang 1973). Eine Priorisierung der Bi-Gramme mittels df gibt also an, wie wichtig ein Bi-Gramm in Bezug auf das Patentdatenset ist, ungeachtet der absoluten Häufigkeit (H). Folglich ist ein Bi-Gramm mit einer hohen absoluten Häufigkeit unwichtig, wenn alle Nennungen in einem einzigen Patent erfolgen. Die Dokumentenfrequenz hebt also jene Begriffe hervor, die in vielen Patenten genannt werden und liefert generische Terme. Um zu überprüfen, ob die Dokumentenfrequenz oder die absolute Häufigkeit für die vorliegende Untersuchung geeignet ist, werden anhand beider Priorisierungen die Ankerpunkte Adf und AH gebildet und deren Ähnlichkeit zum Patentdatenset gemessen (siehe Tab. 30.1). Passing (2017) schlägt vor,

Tab. 30.1 Ähnlichkeitswerte der Ankerpunkte Adf und AH zum Apple Patentdatenset. (Quelle: Eigene Darstellung)

Ankerpunkt Ähnlichkeitswert 0,128 Adf 0,143 AH

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die Anzahl der Bi-Gramme je Ankerpunkt zu begrenzen, weshalb die Ankerpunkte jeweils aus 600 Bi-Grammen erstellt werden (Es gibt verschiedene Stellschrauben, einen Ankerpunkt und die Treffermenge zu verfeinern oder auszuweiten. Vgl. bspw. Kronemeyer et al. 2020; Passing 2017), da in diesem Forschungsvorhaben untersucht wird, ob sich die Patentdaten eines Unternehmens generell dazu eignen, einen Ankerpunkt zu charakterisieren, wird sich auf den Vergleich von zwei Ankerpunkten beschränkt). Bei der Berechnung einer Ähnlichkeitsmatrix gibt der PatVisor® erneut eine Excel-­ Datei aus. In dieser wird ein Ähnlichkeitswert je Patent zum jeweiligen Ankerpunkt wiedergegeben. Die Ähnlichkeitswerte in der Tab.  30.1 geben die mittlere Ähnlichkeit des Apple Patentdatensets zum jeweiligen Ankerpunkt an. Die Entscheidung, welcher Ankerpunkte zur Exploration verwendet wird, erfolgt im vierten Schritt.

30.7 Dritter Schritt: Messung semantischer Ähnlichkeiten Im nun folgenden Schritt werden die Ankerpunkt Adf und AH mit den Patenten der Medizintechnik verglichen und Ähnlichkeitswerte berechnet. Dazu werden die Zählweise und der Ähnlichkeitskoeffizient bestimmt. Moehrle (2010) liefert Beispiele und Handlungsempfehlungen bei der Wahl beider Parameter in Abhängigkeit des Untersuchungsziels. Auf der Grundlage verschiedener Durchläufe in der praktischen Anwendung hat sich für die vorliegende Untersuchung der Ähnlichkeitskoeffizient Double Single Sided Inclusion (kurz DSS Inclusion) und die Zählweise Complete Linkage als zielführend erwiesen. Diese Kombination deckt sich mit den Empfehlungen von Moehrle (2010), der DSS Inclusion nahelegt, sofern untersucht wird, wie viele n-Gramme ci aus dem Dokument i in Dokument j zu finden sind (ci(j)) und umgekehrt (cj(i)). Der Zusatz DSS besagt, dass diese Überschneidung in beide Richtungen gemessen und der höhere Wert ausgegeben wird:



æ ci ( j ) c j (i ) DSS Inclusion = max ç ; ç ci c j è

ö ÷. ÷ ø

Nach Tests in der praktischen Anwendung wird zur Berechnung der Ähnlichkeitswerte die Zählweise Complete Linkage herangezogen. Diese Zählweise arbeitet ohne Modifikation der Terme, insbesondere hinsichtlich der Reduktion doppelter n-Gramme. Während andere Zählweisen mehrfach aufkommende n-Gramme zusammenfassen, bestimmt Complete Linkage die Überschneidungsmenge aller übereinstimmenden n-Gramme. Analog zur Ähnlichkeitsberechnung der Ankerpunkte zum Apple Patentdatenset, sind auch hier Einstellungen im PatVisor® festzulegen. Folglich werden erneut Bi-Gramme mit der minimalen Wortlänge drei und der Fenstergröße vier miteinander verglichen. Das Ergebnis ist eine Excel-Datei je Ankerpunkt (die sogenannte Ähnlichkeitsmatrix), die den Ankerpunkt Adf (bzw. AH) mit den 150.162 US-Patenterteilungen aus dem Patentdatenset „A61B Medizintechnik“ vergleicht.

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30.8 Vierter Schritt: Auswertung der Ergebnisse Im vierten Schritt wird zunächst ein Ankerpunkt ausgewählt, dessen Treffermenge genauer untersucht wird. Dazu wird in iterativen Erprobungen ein Schwellenwert bestimmt, der zwischen Treffern und Nichttreffern differenziert. Anhand der Treffermenge werden dann Schwerpunkte und Entwicklungspfade in der Medizintechnik untersucht. Bestimmung des Schwellenwertes Die Ähnlichkeitsmatrix gibt Ähnlichkeitswerte der Patente zwischen 0 und 1 zum jeweiligen Ankerpunkt wieder. Je Ankerpunkt ergibt sich dabei eine Ähnlichkeitsmatrix der Größe 1 × 150.162. Es bleibt zu bestimmen, wie hoch ein Ähnlichkeitswert sein muss, um zur explorativen Untersuchung der Digitalisierung in der Medizintechnik in Betracht gezogen zu werden. Dazu wird ein Schwellenwert S schrittweise verringert, beginnend beim höchsten Ähnlichkeitswert. Die Reduktion des Schwellenwertes zeigt, dass im direkten Vergleich der Ankerpunkt Adf eine höhere Trefferanzahl bei einer geringeren Anzahl an Fehlern aufweist. Tab. 30.2 stellt diese Beobachtung exemplarisch für den Schwellenwert ≥ 0,2 dar. Aus der Anzahl der unzutreffenden Patente im Vergleich zur Treffermenge lässt sich schließen, dass Ankerpunkt Adf geeigneter ist, Patente mit Bezug zur Digitalisierung auszugeben. Das lässt darauf schließen, dass generische Begriffe eher geeignet sind, Digitalisierung in Patenten eines fremden Technologiefeldes zu identifizieren. Wird der Schwellenwert für Adf herabgesetzt (0,15; 0,1), erhöht sich die Treffermenge jeweils um das 4-Fache (2035 und 8417 Patente). Die Treffer des Schwellenwertes S0,15 weisen bei der stichprobenartigen Untersuchung weiterhin eine vernachlässigbare Anzahl unzutreffender Patente auf, weshalb dieser Schwellenwert als geeignet erachtet wird, der folgenden Untersuchung zu dienen. Exploration der Ergebnisse Im Rahmen der Exploration der Ergebnisse wird zunächst der Verlauf der Ähnlichkeitswerte in Bezug auf den Ankerpunkt über die Zeit betrachtet. Dabei werden die Patente aus der Medizintechnik in Zeitscheiben à 14 Jahre unterteilt (siehe Abb. 30.4). Dabei weisen die Zeitscheiben 1–3 je 20, 402 und 1613 Treffer auf. Der Verlauf der Patenterteilungen in der Treffermenge ähnelt dem des Patentdatensets der Medizintechnik; das mittlere, prozentuale Wachstum der Patenterteilungen ist in beiden Patentdatensets gleich (2,38  %). Die Treffermenge weist ebenfalls einen Knick im

Tab. 30.2  Treffermenge der Ankerpunkte Adf und AH im Vergleich. (Quelle: Eigene Darstellung) Patente mit Ähnlichkeitswert ≥ 0,2 Davon unzutreffend Precision

Ankerpunkt Adf 467 9 0,98

Ankerpunkt AH 226 7 0,97

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Abb. 30.4  Zeitreihe der 2035 Treffer zu Ankerpunkt Adf und Schwellenwert S0,15 mit Markierung der Zeitscheiben 1–3. (Quelle: Eigene Darstellung)

Jahr 2004 auf, was ebenfalls über den Rückgang von Patenterteilungen beim USPTO erklärt wird. Die Ähnlichkeit im zeitlichen Verlauf ist ein erster Indikator dafür, dass, entgegen der theoretischen Annahmen, die Entwicklungen im Bereich Digitalisierung und Medizintechnik gleichsam voranschreiten wie die Entwicklungen im Technologiefeld Medizintechnik insgesamt. Daneben ist ein Anstieg der Patenterteilungen zu verzeichnen, der insbesondere ab 2010 zunimmt. Zu diesem Zeitpunkt hat das Smartphone bereits den Massenmarkt erschlossen und die Digitalisierung hält Einzug in das Privatleben. Diese These wird von der Untersuchung der Patentanmelder gestützt. Während in den Zeitscheiben 1 und 2 bekannte Wettbewerber der Medizintechnik zu finden sind, weist die 3. Zeitscheibe auch Wettbewerber auf, deren hauptsächlicher Markt nicht in der Medizintechnik liegt. Darunter befinden sich neben Patentanmeldern wie Nike, Fitbit und Volvo auch Patente von Apple. Um nachzuzeichnen, wie und mit welchen inhaltlichen Schwerpunkten sich die Digitalisierung im Suchzeitraum verbreitet, werden im Nachfolgenden beispielhafte Patente vorgestellt. Digitalisierung zwischen 1976 und 1989 Mit dem Schwellenwert 0,15 werden in der ersten Zeitscheibe 20 Treffer generiert. Dabei werden bereits Themen wie der Datenaustausch, portable Geräte und Entscheidungsfindung via Datenabgleich behandelt, wobei der Fokus auf die Interaktion zwischen medizinischen Geräten gelegt wird. Ein Beispiel dafür bietet das Patent US 4.553.254, das im Jahr 1988 erteilt wurde und sich auf die Digitalisierung der Bedienfläche von Röntgenapparaten bezieht. Dabei wird bemängelt, dass bei unterschiedlichen medizinischen Untersuchungen verschiedene Vorrichtungen eines Röntgenapparates notwendig sind. Die patentierte Erfindung der Siemens AG schafft durch ein digitales Display Abhilfe. Besonders

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Abb. 30.5  Titelblatt von US 4.553.254. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an USPTO 2019)

hervorzuheben ist, dass das Patent lediglich der IPC A61B zugeordnet wird. Ein Hinweis auf die Digitalisierung durch die Patentklassen wird somit nicht gegeben. Abb. 30.5 zeigt die bibliografischen Daten des Patentes, dem die Angaben entnommen werden. Das Patent US 4.715.385 aus dem Jahr 1987 besitzt als Gegenstand einen tragbaren Monitor mit einem Konnektor, welcher beim Patiententransport eingesetzt wird. Dadurch wird die kontinuierliche Überwachung des Patienten und seiner physiologischen Verfassung gewährleitet. Dazu werden die gesammelten Daten auf einem Konnektor gespeichert, der nach dem Transport mit den stationären Geräten verbunden werden kann, sodass keine Daten verloren gehen und eine nahtlose Überwachung ermöglicht wird. US 4.865.043 (Erteilungsjahr 1989) hingegen nutzt und kombiniert mittels Datensammlung und -abgleiches Informationen eines Elektrokardiogramms, um Auffälligkeiten des Herzrhythmus zu erkennen. Die 3 Beispiele zeigen, dass sich die Medizintechnik die Digitalisierung bereits vor der Entwicklung der Smartphones zunutze gemacht hat. Die Patente zeigen jedoch auch, dass sich diese Erfindungen in der ersten Zeitscheibe auf Weiterentwicklungen medizinischer Geräte beziehen. Zusätzlich liefert die geringe Trefferanzahl

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einen Indikator dafür, dass die wirkliche Beachtung der Digitalisierung erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet. Digitalisierung zwischen 1990 und 2003 Die zweite Zeitscheibe umfasst 402 Treffer. Für diese Treffermenge wird erneut eine TDM mit Bi-Grammen erstellt, um schnell zu einer ersten, thematischen Einordnung zu gelangen. Der Schwerpunkt, der anhand der TDM erkennbar ist, zeichnet sich insbesondere durch die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von (Bild- und Patienten-)Daten aus, aber auch durch deren Kombination und Verwendung. Ein Beispiel für Letzteres ist das Patent US 5.291.400 des amerikanischen Unternehmens Spacelabs, Inc., das die Analyse von physiologischen Daten (hier: Herzrhythmusdaten) eines Patienten umfasst. Die gesammelten Diagramme, welche die Grundlage von Diagnosen darstellen, bedürfen zudem einer Speicherung, die von US 6.047.204 patentiert wird, ebenso wie Informationen über die medikamentöse Einstellung der Patienten (bspw. US 5.833.599). Dabei liegt allen identifizierten Erfindungen die Gemeinsamkeit zugrunde, dass die patentierten Erfindungen hauptsächlich seitens der Ärzte und Krankenhäuser Verwendung finden. Der Schwerpunkt der 2. Zeitscheibe ist die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von Bilddaten. Insgesamt 142 Patenterteilungen und somit über 30 % der Treffer umfassen diesen Themen. Dabei liegt der Fokus ebenfalls auf dem Arzt als Anwender, wie bspw. US 6.669.633 zeigt (siehe Abb. 30.6). Die Patenterteilung von 2003 ist im Besitz der TeraTech Corporation (im Folgenden TeraTech) und umfasst ein mobiles Ultraschallgerät. Üblicherweise bestehen Ultraschallgeräte aus tragbaren Sonden, die mit einem Computer und einem Bildschirm verbunden sind (linke Seite). Die Regler am Computer bieten dabei die Möglichkeit zur Änderung der Aufnahmen über Verarbeitungsparameter und zur

Abb. 30.6  Darstellung eines üblichen und eines tragbaren Ultraschallgerätes gemäß US 6.669.633. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an USPTO 2019)

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­ peicherung von Bildern und Sequenzen. Ein Nachteil üblicher Ultraschallgeräte liegt S darin, dass der Nutzer seinen Blick von der Sonde abwendet, wenn er die Ultraschallbilder auf dem Display betrachtet. Dies hat zur Folge, dass die Sonde in dem Moment nicht überwacht wird und somit die Gefahr besteht, sie könne verrutschen und ungenaue oder falsche Aufnahmen liefern. Um dies zu verhindern und die Ultraschallsonde als auch den Bildschirm zeitgleich in einem Blickfeld zu haben, dient die vorliegende Erfindung (rechte Seite). Sie umfasst ein tragbares Display an einer Halterung für den Kopf, an der auch ein Mikrofon angebracht ist. Aus dem Display werden dem Anwender Echtzeitaufnahmen angezeigt; das Mikrofon findet in den Beschreibungen keine Beachtung. In der rechten Hand hält die Person auf der Abbildung die Ultraschallsonde zur Aufnahme der Ultraschallbilder. Das Gerät in der linken Hand ersetzt die Steuerung, die zuvor am Computer angebracht war, zur Auswahl von Bildern und Sequenzen. Über die Verbindungskabel werden die Daten an einen tragbaren Computer geschickt, der am Gürtel des Anwenders befestigt ist. Der Computer ist in der Lage, Ultraschallbilder unter Berücksichtigung der gewählten Verarbeitungsparameter zu speichern, zu verarbeiten und anschließend an einen stationären Computer zu übermitteln. TeraTech hält in der 2. Zeitscheibe 12 Patenterteilungen, wovon 6 mithilfe des Ankerpunktes Adf und dem Schwellenwert 0,15 identifiziert werden (siehe Tab. 30.3, Nr. 4 und 8–12, fett hinterlegt). Vier weitere Patente liegen mit ihren Ähnlichkeitswerten so nah am Schwellenwert, dass sie mit der nächsten Abstufung erfasst würden (2, 5–7, grau hinterlegt). (Die testweise Abstufung der Schwellenwerte erfolgt in 0,05er-Schritten.) Lediglich 2 Treffer weisen sehr geringe Ähnlichkeitswerte auf, wenngleich sie ebenfalls das tragbare Ultraschallgerät betreffen. Beide Treffer wurden vor 1997 angemeldet und folglich vor der Veröffentlichung des ersten Smartphones, das als Startpunkt der Digitalisierung betrachtet wird. Hier ist anzunehmen, dass sich die Begrifflichkeiten danach weiterentwickelt haben, weshalb die Ähnlichkeit zu Beginn noch sehr gering ist. Daneben wird in beiden Patenten die Gestaltung und Bildaufnahme der Ultraschallsonde betrachtet, jedoch nicht der Austausch und die Vernetzung mit dem stationären Computer, was eine weitere Erklärung der geringeren Ähnlichkeitswerte ist. Das Beispiel TeraTech dient sowohl als Hinweis für die sprachliche Veränderung über den Zeitraum als auch zur Analyse des thematischen Schwerpunktes zwischen 1990 und 2003. Wie die Entwicklungen bis heute aussehen, zeigt der folgende Abschnitt. Digitalisierung zwischen 2004 und 2017 In der dritten Zeitscheibe werden 1613 Patente gefunden, die einen Ähnlichkeitswert über 0,15 aufweisen. Erneut wird eine TDM mit Bi-Grammen erstellt, um die Treffermenge thematisch einzuordnen. Zweifelsohne sind weiterhin die Themen vorheriger Jahre relevant, was durch Bi-Gramme wie „data image“, „display image“ oder „image process“ signalisiert wird. Auffallend ist dennoch, dass unter den häufigsten Bi-Grammen auch Treffer zu finden sind, welche die Terme „patient“ oder „user“ enthalten, was ein erster Indikator für einen Wechsel der anwendenden Person ist. Zusätzlich werden in den Metadaten der Treffermenge Unternehmen identifiziert, deren üblicher Markt nicht die

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Tab. 30.3  Patente des Unternehmens TeraTech in Zeitscheibe 2. (Quelle: Eigene Darstellung) /IG 3DWHQW 1U QXPPHU

7LWHO

$QPHOGH MDKU

(UWHLOXQJV MDKU

†KQOLFKNHLWV ZHUW



86

3RUWDEOHXOWUDVRXQGLPDJLQJ V\VWHP









86

3RUWDEOHXOWUDVRXQGLPDJLQJ V\VWHP









86

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86

8OWUDVRXQGVFDQFRQYHUVLRQZLWK VSDWLDOGLWKHULQJ









86

3RUWDEOHXOWUDVRXQGLPDJLQJ V\VWHP









86

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86

3RUWDEOHXOWUDVRXQGLPDJLQJ V\VWHP









86

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86

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86

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86

8OWUDVRXQGLPDJLQJV\VWHP









86

8QLWDU\RSHUDWRUFRQWUROIRU XOWUDVRQLFLPDJLQJJUDSKLFDOXVHU LQWHUIDFH







­ edizintechnik ist. Somit gibt es in den Jahren 2004–2017 grundlegende Unterschiede zu M den vorherigen Ergebnissen. Einige davon werden nachfolgend exemplarisch vorgestellt. Ein Beispiel für ein Patent, welches sich noch auf die Bildaufnahme und Verarbeitung bezieht, jedoch durch einen anderen Anwender kennzeichnet, ist US 9.560.968 des Unternehmens Nucleus Dynamics Pte Ltd. (im Folgenden Nucleus Dynamics). Das Patent umfasst die Wundaufnahme mit dem Smartphone (siehe Abb. 30.7), wobei insbesondere die Aufnahme und der Abgleich der Farben genannt wird. Die Aufnahme der Wunde wird an einen Computer weitergeleitet, der Daten abgleicht und auf der Grundlage vorhandener Informationen durch Kombination der Daten eine Empfehlung an den Anwender zurückgibt. Die Erfindung zeigt exemplarisch, wie sich die Digitalisierung weiterentwickelt. Nachdem zu Beginn zunächst die Bildqualität verbessert wurde, zeichnen sich die folgenden Jahre durch die Weiterverarbeitung und Kombination der Aufnahmen aus, woraus neues Wissen für die Anwender bereitgestellt wird. Die Anwender sind zunächst die b­ ehandelnden

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Abb. 30.7  Wundaufnahme mit dem Smartphone nach US 9.560.968. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an USPTO 2019)

Personen, bspw. Ärzte, werden in der letzten Zeitscheibe jedoch zunehmend durch behandelte Personen, also Patienten, ersetzt. Das Patent von Nucleus Dynamics vereint diese Entwicklungen. Zum einen werden die Bilder mittels des Smartphones aufgenommen und über einen Farbabgleich angepasst (Bildaufnahme und Verarbeitung), danach werden sie kontaktlos an einen Computer weitervermittelt, der die Daten mit vorhandenen Informationen abgleicht (Kombination) und Empfehlungen ableitet. Diese werden daraufhin an den Anwender (Patienten) zurückgesendet. Unter den Treffern in der dritten Zeitscheibe sind zudem Unternehmen zu finden, deren ursprünglicher Markt nicht die Medizintechnik ist. Über Erfindungen, die den Patienten betreffen, gelingt ihnen dennoch der Markteintritt. Tab. 30.4 fasst eine exemplarische Auswahl der Treffer zusammen. Darunter sind Unternehmen zu finden, die über die Überwachung und Aufzeichnung von Bewegungsdaten in den Markt finden (bspw. Adidas AG; Fitbit, Inc.; FitSense Technology, Inc. oder Nike, Inc.). Bei den Treffern fällt auf, dass bspw. US 8.136.943 von Nike, Inc. oder US 8.200.323 von der Adidas AG lediglich in der A61B klassifiziert sind, wenngleich die Erfindungen sich einer Vielzahl unterschiedlicher

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Tab. 30.4  Patenterteilungen von Unternehmen, die zwischen 2004 und 2017 in den Markt eintreten. (Quelle: Eigene Darstellung) Lfd. Nr. Patentnummer Titel 1 US 6.882.955 Monitoring activity of a user in locomotion on foot 2 US 8.136.943 Testing/training visual perception speed and/or span 3 US 8.200.323 Program products, methods, and systems for providing fitness monitoring services 4 US 8.475.367 Biometric device having a body weight sensor, and methods of operating same 5 US 9.049.983 Ear recognition as device input 6

US 9.101.313

7

US 9.154.554

8

US 9.327.190

9

US 9.495.787

10

US 9.613.515

11

US 9.623.30

12

US 9.643.091

13

US 9.683.847

Anmelde-­ Erteilungs-­ jahr jahr 2000 2005

Anmelder FitSense Technology, Inc. Nike, Inc.

2009

2012

Adidas AG

2009

2012

Fitbit, Inc.

2012

2013

Amazon 2011 Technologies, Inc. Volvo Car Corp., 2012 System and method for Volvo Technology improving a performance estimation of an operator of a Corp., vehicle Calibration technoques for Apple Inc. 2008 activity sensing devices Nintendo, Co., 2013 Storage medium having Tohoku stored thereon information University processing program, and information processing device Emotive text-to-speech Ford Global 2008 system and method Technologies, LLC Method and apparatus for Ford Global 2005 occupant customized Technologies, wellness monitoring LLC Nintendo, Co., 2009 Storage medium having Tohoku stored thereon information University processing program, and information processing device Personal items network, and Apple Inc. 2014 associated methods Performance monitoring Adidas AG 2014 systems and methods

2015

2015

2015 2016

2016

2017

2017

2017 2017 (Fortsetzung)

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Tab. 30.4 (Fortsetzung) Lfd. Nr. Patentnummer Titel 14 US 9.819.754 Methods, systems and devices for activity tracking device data synchronization with computing device 15 US 9.848.335 Visualization of athletic activity

Anmelder Fitbit, Inc.

Anmelde-­ Erteilungs-­ jahr jahr 2015 2017

Nike, Inc.

2015

2017

Aus Gründen der Übersichtlichkeit befinden sich von den 64 Treffern lediglich die erste und letzte Patenterteilung in der Tabelle

Technologien zuordnen lassen. Dies wird damit begründet, dass über eine spärliche Zuordnung das Auffinden des Patentes durch Wettbewerber erschwert wird. Die Beispiele der Sportartikelhersteller zeigen das Aufkommen der sogenannten Wearables. Diese sammeln im Schuh oder am Handgelenk Daten über die Bewegungsabläufe und den physiologischen Zustand des Anwenders und senden diese an ein mobiles Gerät, wo die Daten verarbeitet und durch die Kombination Handlungsempfehlungen an den Benutzer gesendet werden. Dadurch wird eine eigenständige Überwachung der Patienten ermöglicht, die in Teilen die Behandlung durch einen Arzt ersetzt. Das US-Patent 9.643.091 von Apple greift noch weiter und vernetzt sämtliche Wearables in einem individuellen, personenbezogenen Netzwerk, das bei Verlust eines Gerätes (in Abb.  30.8 als Mauer visualisiert) eine Neubestellung auslöst. Dabei umfasst das Patent sämtliche smarte Geräte, von der Überwachung im Sportschuh über die Handgelenke bis hin zur Nahrungsaufnahme der Benutzer. Insgesamt befinden sich 4 Apple-Patente unter den Treffern in Zeitscheibe 3. Das Auffinden der Apple-Patente bekräftigt die Verwendung des Ankerpunktes. Adf wird aus Begriffen erstellt, die Apple bei dem Beginn der Digitalisierung im Bereich der Smartphones verwendet. Das Auffinden der Apple-Patente im Patentdatenset der Medizintechnik zeigt, dass die Bi-Gramme beim Beginn der Digitalisierung im Bereich der Medizintechnik ähnlich sind. Somit wird die Nutzung des Apple-Patentdatensets als Charakterisierung des Ankerpunktes als zielführend bewertet. Weitere Unternehmen, die über Patenterteilungen zwischen 2004–2017 in den Markt eintreten, sind die Automobilhersteller Volvo Car Corporation und Volvo Technology Corporation sowie Ford Global Technologies LLC. Die drei Unternehmen patentieren auf unterschiedliche Weise die Überwachung der Leistungsfähigkeit des Fahrzeugführers durch die Kombination der gesammelten Daten im Auto. Beispielsweise lassen sich über das frühzeitige Erkennen der Müdigkeit des Fahrers Empfehlungen für eine Pause zum Schlafen, Bewegen oder zur Nahrungsaufnahme ableiten. Auch Nintendo Co Ltd. wagt als Hersteller von Videospielen und Spielekonsolen den Eintritt in die A61B mit einem Controller, der über Bewegungssensoren verfügt. Die Controller zeichnen die Haltung und Bewegung der Spieler auf und übermitteln diese über eine kabellose Übertragung an die

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Abb. 30.8  Individuelles Netzwerk von Apple nach US 9.643.091. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an USPTO 2019)

Spielekonsole, sodass Spielfiguren und -elemente im Fernseher die Bewegungen umsetzen (US 9.327.190 und US 9.623.330, je in Kooperation mit der Tohoku Universität). Die Beispiele zeigen, welche Vielseitigkeit Technologiefelder durch die Digitalisierung erhalten. Herkömmliche Wettbewerber und Anwendungen werden erweitert, sodass sich nicht nur die Qualität der Geräte verbessert, sondern auch die Flexibilität und Anwendbarkeit. Durch die Ausweitung der Anwendung auf die Nutzer entsteht eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die Unternehmen verschiedener Branchen in den Markt zieht.

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30.9 Schlussbetrachtung Der vorliegende Beitrag nimmt die Chancen und Risiken, die aus Innovationen durch Digitalisierung entstehen, zum Anlass, deren Einfluss auf die Medizintechnik zu unter­ suchen. Die Digitalisierung wird in der Medizintechnik als besonders erachtet, weil aufgrund sensibler Daten und einer Vielzahl an Stakeholdern viele Regularien und An­ forderungen existieren, welche die Verbreitung scheinbar verlangsamen und erschweren. Gleichwohl sind Entwicklungen wie kabellose, medizinische Geräte Anzeichen dafür, dass die Digitalisierung die Medizintechnik erreicht hat. Folglich widmet sich dieser Beitrag den Fragen, wie weit die Digitalisierung in der Medizintechnik fortgeschritten ist und ob Schwerpunkte und Innovationspfade auf der Grundlage von Patentanalysen erkennbar sind. Zur Beantwortung der Fragen werden semantische Ankerpunkte nach Passing (2017) genutzt und versucht, mittels charakteristischer Begriffe in einem Ankerpunkt die Digitalisierung in der Medizintechnik nachzuweisen. Die charakteristischen Begriffe entspringen dabei Patenten, die das Unternehmen Apple zwischen 1998 und 2007 angemeldet hat. Anhand von Ähnlichkeitswerten, die aus dem Vergleich des Ankerpunktes zum Patentdatenset der Medizintechnik entstehen, werden Patente identifiziert, die sich der Digitalisierung und Medizintechnik gleichermaßen zuordnen lassen. Bei der Unterteilung des Untersuchungszeitraumes in die Zeitscheiben 1 bis 3 sind einzelne, thematische Schwerpunkte der Innovationen auszumachen: (1) der Datenaustausch und die Weiterverarbeitung über unterschiedliche Geräte hinweg; (2) die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung großer (Bild-)Datenmengen sowie die Kombination der Daten zur Verbesserung der Ergebnisqualität und (3) die Sammlung personenbezogener Daten mittels smarter Geräte und der Wechsel vom Arzt als Anwender hin zum Patienten. Der Beitrag zeigt, dass sich Ankerpunkte nach Passing (2017) nicht nur zur Messung von Bewegungsbahnen innerhalb eines Technologiefeldes und deren Anwendungen verwenden lassen, sondern auch dazu geeignet sind, die Dynamik zwischen unterschiedlichen Technologien nachzuzeichnen. Dabei wird nachgewiesen, dass ein einzelner Ankerpunkt ausreichend ist, eine Technologie zu charakterisieren. Somit ist es Wissenschaftlern möglich, die Dynamik und das Zusammenspiel bei der Entwicklung unterschiedlicher Technologien zu verfolgen und zu beschreiben, um daraus Rückschlüsse auf die Bewegungsbahnen zu ziehen. Zusätzlich zeigt die Verwendung des Ankerpunktes, dass die Dokumentenfrequenz dazu genutzt werden kann, grundlegende Begriffe zur Charakterisierung einer Technologie aus einem Patentdatenset zu extrahieren. Das bedeutet ebenso, dass generische Begriffe eher geeignet sind eine Technologie ausreichend genau zu beschreiben, sodass sie innerhalb eines anderen Technologiefeldes identifiziert werden kann. Die Ergebnisse der patentbasierten Exploration sind gleichermaßen praxisrelevant. Sie geben dem Unternehmen die Möglichkeit, aufkommende Technologien zu erkennen und Entwicklungen und Innovationspfade nachzuverfolgen, um Technologietrends und neue Wettbewerber frühzeitig zu entdecken. Gegenüber bestehenden Methoden bietet das Vorgehen eine Erweiterung, da der Einfluss neuer technologischer Trends einer zweiten Tech-

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nologie auf das eigene Technologiefeld gemessen wird. Es ist folglich ausreichend, Technologietrends in anderen Märkten zu erkennen, um dann den Einfluss auf den eigenen Markt zu untersuchen. Dabei sind Unternehmen mittels des aufgezeigten Vorgehens in der Lage, Erkenntnisse über bisherige Entwicklungen und den bisherigen Wissensstand zu gewinnen. Ebenso werden anhand der Treffermenge Wettbewerber detektiert, die mit der neuen Technologie in den Markt eintreten. Zudem dient die Bestimmung der inhaltlichen Schwerpunkte der Zeitscheiben den Unternehmen in der Praxis auf unterschiedliche Weise. Zum einen kann das gefundene Patentwissen genutzt werden, um die eigenen Forschungsaktivitäten daran auszurichten. Zum anderen können Unternehmen prüfen, wie sie selbst hinsichtlich der Schwerpunkte aufgestellt sind und wo gegebenenfalls Bedarf besteht, externes Wissen zu erlangen. Dies kann auf unterschiedliche Weise passieren, z. B. durch das Anwerben neuer Mitarbeiter oder durch einen Zusammenschluss mit neuen Kooperationspartnern. Letztere lassen sich direkt in der Treffermenge des jeweiligen Schwerpunktes finden. Diese Unternehmen sind üblicherweise nicht in der eigenen Branche tätig, wie es insbesondere die Ergebnisse in der dritten Zeitscheibe zeigen. Entgegen den Annahmen der Theorie scheinen die Regularien die Innovationsaktivitäten der Unternehmen hinsichtlich der Digitalisierung nicht zu verlangsamen. In allen Zeitscheiben sind Anzeichen der Digitalisierung zu erkennen. Insbesondere in den Jahren nach der Markteinführung der Smartphones, sind Erfindungen hinsichtlich Bildaufnahme, Datenaustausch und Vernetzung der Geräte zu verzeichnen. Wenngleich der Einsatz und die Kombination der gesammelten Daten in ärztlichen Behandlungen, bspw. in Bezug auf Wearables, regulatorisch noch nicht eingebettet ist, setzen Unternehmen sich bereits mit den Technologien auseinander und grenzen sich gegenüber aufkommenden Wettbewerbern ab. Dies lässt sich aus der steigenden Anzahl der Patentanmeldungen in der letzten Zeitscheibe schließen. Daneben lassen sich sowohl die Patentierung von Wearables als auch der Eintritt neuer Wettbewerber aus anderen Branchen als Anzeichen werten, dass die Digitalisierung ein starker Treiber für Innovationen im Bereich der Medizintechnik ist. Dies bestätigt zudem, dass die Innovationsaktivitäten trotz fehlender Regularien in Bezug auf die Verwendung gesammelter Daten hoch sind. Wenngleich die patentbasierte Exploration einen geeigneten Aufschlag bietet, Innovationen, die durch die Digitalisierung entstehen, aufzuspüren, hat sie auch Limitationen. Diese liegen zum einen in der Begrenzung des Patentdatensets der Medizintechnik. Aufgrund der hohen Anzahl an Patentierungen im Bereich Medizintechnik musste das Patentdatenset im vorliegenden Beitrag durch die Patentklasse A61B* auf 150.162 Treffer eingegrenzt werden. Demnach erheben die Ergebnisse keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da durch die Erweiterung des Patentdatensets bspw. weitere Schwerpunkte der Zeitscheiben hinzukommen können. Zum anderen bleibt bislang ungeachtet, inwiefern sich die Begrifflichkeiten zwischen den Jahren 1976 und 2017  in Bezug auf die Digitalisierung geändert haben und welchen Einfluss die sprachlichen Veränderungen auf das Ergebnis ausüben. Dies ist insbesondere für die erste Zeitscheibe interessant, da das Auffinden von Wearables in der letzten Zeitscheibe zeigt, dass der Ankerpunkt durchaus geeignet ist,

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Weiterentwicklungen nach 2007, und somit nach Einführung des iPhones, zu identifizieren. Es bleibt zu überprüfen, inwiefern auch die Vorläufer der Digitalisierung in der Medizintechnik vollständig erfasst werden. Dies bietet sogleich den Ausgangspunkt für anschließende Forschungsvorhaben. Hinsichtlich der sprachlichen Entwicklungen über den großen Zeitraum hinweg, bleibt zu prüfen, inwiefern ein dynamischer Schwellenwert geeignet ist, diese Veränderungen auszugleichen. Hier ist denkbar, den Schwellenwert vor und nach den Jahren 1998–2007 herabzusetzen, um Abweichungen in den Messungen zu nivellieren. Darüber hinaus gilt es einen Schwellenwert zu erreichen, der eine maximale Anzahl an Treffern bei einer minimalen Anzahl fehlerhafter Treffer ausgibt. Des Weiteren können die bisherigen Ergebnisse als Teil eines iterativen Prozesses betrachtet werden, bei dem aus den Patenten in der Treffermenge ein weiterer Ankerpunkt erstellt wird. Der neue Ankerpunkt hat gegenüber dem Ankerpunkt des Apple-Patentdatensets den Vorteil, bereits die Semantik von Medizintechnik und Digitalisierung gleichermaßen zu berücksichtigen. Hier bleibt zu prüfen, inwiefern dieser Zusammenhang einen positiven Effekt auf das Ergebnis ausübt.

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Kathi Eilers,  M.Sc., forscht und promoviert am Institut für Projektmanagement und Innovation der Universität Bremen. Das Institut ist bekannt für Forschungsarbeiten basierend auf Patentdaten, insbesondere im Hinblick auf semantische Patentanalysen. Kathi Eilers erlernte die Durchführung semantischer Patentanalysen insbesondere in einem Projekt mit der FU Berlin und dem „Konsortium Advanced UV for Life“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen vorwiegend in der Analyse von Technologiedynamiken und der Wettbewerbsanalyse. Sie besitzt einen Master of Science im Bereich „Wirtschaftsingenieurwesen“ mit dem Schwerpunkt „Systementwicklung und I­ nnovation“.

Innovation und Imitation – zur Diskussion einer nachhaltigen Implementierung

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Eine Betrachtung am Beispiel von technischen Innovationen im Pflegemarkt Jürgen Zerth

Inhaltsverzeichnis 31.1  I nnovation in der Pflege und Implementierung von Technik: die Motivation  31.2  Die Bedeutung von Implementierungsperspektiven  31.3  Implementierung als methodische und empirische Herausforderung  31.3.1  Ökonomische Theorie revisited: die Bedeutung der Implementierung  31.3.2  Ansätze zur Implementierungsprädiktion: Was lässt sich ableiten?  31.4  Implikationen für eine Implementierungsprädiktion Pflege  31.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Technische Innovationen gelten als ein möglicher Lösungsbeitrag im Bereich der Langzeitpflege, sowohl auf Angebots- als auf der Bedarfs- und Nachfrageseite. Die Implementierung von Pflegetechnologien in der Praxis scheitert häufig an nichttechnischen, personalen, organisatorischen wie ökonomischen Gründen. Eine systematische Auseinandersetzung mit Adoptions- und Diffusionsbedingungen, sprich mit der Beförderung imitativer Strukturen im Quasi-Markt Pflege, könnte zur Verbesserung der Durchdringung und zur Auswahl effektiver wie effizienter technologischer Pflegelösungen führen. Technologien im Kontext der Sorge- und Interaktionsbeziehungen in der Pflege müssen sich immer an ihrem Beitrag zum Outcome für Gepflegte und im Sinne einer Verbesserung der Produktivität und Akzeptanz von Pflegenden darstellen lassen. Eine methodische Auseinandersetzung mit systematischen AnsätJ. Zerth (*) Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_31

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J. Zerth

zen der ­Technikimplementierung kann als Ansatzpunkt für eine Gestaltung einer sozialen Infrastruktur für die Pflege wirken.

31.1 I nnovation in der Pflege und Implementierung von Technik: die Motivation Innovationen gelten als wesentlicher Treiber der Veränderung im Gesundheits- und Sozialektor (vgl. Serra-Sastre und McGuire 2012). Gerade vor dem Hintergrund sich verändernder Morbiditätsentwicklungen und den durch technologische Entwicklungen beförderten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sowie sich weiterentwickelter Präferenzmustern von Patienten und Patientinnen gewinnt die Auseinandersetzung mit Umfang und Reichweite von Innovationen zunehmend an Bedeutung. (vgl. hier etwa Cutler 2010 oder auch Lux et al. 2013). Die explizite Auseinandersetzung mit Innovationsprozessen im Bereich der (Alten-)Pflege ist jedoch sowohl in der (gesundheitsökonomischen) Literatur als auch in der praktischen Anwendung im Vergleich zur traditionellen Gesundheitsversorgung erst mit Verzögerung diskutiert und systematisch analysiert worden (vgl. hier Sunghee et al. 2010 und vgl. auch Zinn et al. 2007). Angesichts der Frage, wie sich Pflege sowohl hinsichtlich der Angebotsstrukturen  – insbesondere Entwicklung der formalen wie informellen Pflegekapazität – als auch nachfrageseitig – Entwicklung von Pflegerisiken und -prävalenzen – gestalten wird, gewinnt die Auseinandersetzung mit (technischen) Innovationen im Versorgungsfeld der Pflege zusehends an Bedeutung (vgl. etwa Fachinger 2017). Gleichwohl zeigt der Blick auf die Umsetzung in der Praxis, dass die Implementierung von Technologien nur unzureichend erfolgt und häufig vielfältige Faktoren eine breite Anwendung und Verbreitung von Pflegetechnologien beeinflussen (vgl. Peek et al. 2014). Digitalisierungsentwicklungen, wo verschiedenste Anwendungen außerhalb herkömmlicher Gesundheits- und Pflegekontexte einwirken, beschleunigen noch diese Entwicklung (vgl. Wolf 2019). Verschiedene Untersuchungen zu Implementierungsbedingungen zeigen, dass vornehmlich Hemmnisse auf der Akteurs- und Organisationsebene relevant sind und weniger unmittelbare technisch Einflüsse für eine erfolgreiche Implementierung ursächlich sind (vgl. hier Peek et al. 2014 oder auch Ploch und Werkmeister 2017). Beispielsweise werden in der ePflegestudie Hemmnisse in der Akzeptanz von Technologien in der Pflege beschrieben, die stark mit unzureichendem Wissen und Kenntnissen in der Einbindung von Technologien korrespondieren bzw. die Bedeutung adäquater Re-Finanzierungsmöglichkeiten für den zielgerichteten Einsatz von Technologien betonen (siehe Abb. 31.1, vgl. Hülsken-Giesler et al. 2017). Ein Blick auch auf die Förderung von Innovationsprozessen im Bereich der Pflege, wobei explizit der Bereich der Langzeitpflege gemeint ist, macht deutlich, dass sowohl bei der Analyse als auch bei der Förderung von Innovationsprozessen häufig zu voreilig eine Analogie an üblichen privatwirtschaftlichen Produktmärkten herangezogen wird (vgl. Bratan und Wydra 2013, S. 32). Allein die Bedeutung der „Quasi-Marktsituation“ (vgl. etwa Rodriguez et al. 2014), in denen Pflegemärkte eingebettet sind, wird häufig zu un-

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Prozent (n=63) Fehlende Technikakzeptanz in der Organisaon

37

Fehlende Technikompetenz in der Organisaon

37

Interessenskonflikte in der Organisaon

37

Fehlende Erfolgsbeispiele

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Aspekte der Datensicherheit

38 40

Fehlende Standards Mangelnde Bekanntheit

42

Unklare Entscheidungsstruktrukturen

45

Mangelnde Vernetzbarkeit

46

Mangelnde Informaons- und Beratungsangebote

46 55

Unklare Geschäsmodelle

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Mangelndes Wissen über Wirkungen des Technikeinsatzes

0

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20

30

40

50

60

70

Abb. 31.1  Hemmnisse für Technologieimplementierung in der Pflege. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hülsken-Giesler et al. 2017, S. 33)

genau reflektiert. Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend die Frage der Implementierung im Sinne von allgemeinen Mustern in methodischer als auch institutioneller Ebene diskutiert werden. Ziel ist eine Verallgemeinerung im Sinne einer Prädiktion geeigneter Ansatzpunkte sowie Methoden sowohl der Technologieentwicklung als auch der Umsetzung von Technologien in der praktischen Anwendung zu unterstützen.

31.2 Die Bedeutung von Implementierungsperspektiven In Abb. 31.1 werden aus der ePflege-Studie bereits exemplarisch und enumerativ Aspekte von Implementierungshürden skizziert. Dabei stellen sich jedoch zwei wesentliche Fragen: Welche prädiktiven Implikationen etwa für gesundheits- und pflegepolitische Gestaltungen (Rahmen für Innovationen) sind zu erwarten? Welche Implikationen für die Umsetzung von Implementierungskonzepten (etwa Geschäftsmodellen) von (technischen) Innovationen für die Pflege lassen sich festhalten? An dieser Stelle können ohne Einschränkung der Allgemeinheit zwei wesentliche Aspekte, etwa wiederum aus der ePflege-­Studie aber auch aus der Untersuchung von Ploch und Werkmeister (2017), abgleitet werden: cc

Als erster Aspekt gilt es festzuhalten, dass die technischen Innovationen in der Pflege notwendigerweise den Interaktionszusammenhang bzw. den Sorgebezug von Pflegehandlungen tangieren (vgl. Schmidt und Wahl 2016), und zwar direkt in der primären Interaktion oder auch indirekt in sekundären Bezügen, etwa Dokumentationshandeln, welches jedoch wieder auf den Primärprozess einwirkt. (Langzeit-) Pflege kann gesundheitsökonomisch daher als eine Ausprägung von personenbezogener sozialer Dienstleistung beschrieben werden, die unmittelbar von den Interak-

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J. Zerth

tionsbeziehungen zwischen dem Pflegenden und dem Gepflegten geprägt ist (vgl. hier Böhle 2011 oder auch Zerth 2017, S. 248–249). Diese Sorgebeziehung ist aber selbst wiederum relational in dem Sinne, dass ein großer Teil der Sorgebeziehung sich organisationstheoretisch als Teamproduktion rekonstruiert, in dem etwa die Pfleganamnese als auch die Pflegedurchführung zeitgleich und in einer Beziehungsstruktur erfolgt. Davon zu trennen sind autonome, selbstbestimmte Komponenten der Pflege, etwa pflegevorbereitende Tätigkeiten wie Pflegeplanung, z. B. Tourenplanungen in der ambulanten Pflege und natürlich auch die Dokumentation. Als zweites Argument ist zu bedenken, dass pflegerische Tätigkeiten letztendlich auf die Selbstpflegefähigkeit – angeleitete oder heteronome Kompetenzen bei dem Gepflegten bzw. der zu umsorgenden Person – adressiert sind, sodass Pflegebeziehungen sich ökonomisch gut in die Idee eines „Service-­Dominant-­Logic-Modells“ (Lusch und Nambisan 2015) einordnen lassen. Gerade durch die Digitalisierung in der Pflege gewinnen die Beziehungsebenen zwischen autonomer, relationaler und heteronomer Beziehungsarbeit neues Gewicht, etwa durch die stärkere Vorplanungsmöglichkeit durch Daten aus einem Aktivitätsmonitoring oder auch die Integration von Dokumentationstätigkeiten in dem relationalen Prozess durch digitale Dokumentationserfassung etwa während der Pflegeanamnese und -durchführung (vgl. etwa Schneider et  al. 2017, S. 216–220). Dabei gilt es festzuhalten, dass die Interaktionsarbeit Langzeitpflege noch eingebettet ist in einen heterogenen Skill-Mix aus professioneller, ehrenamtlicher Pflege und Selbstpflege (vgl. etwa Ponthiere 2014). In der Folge, dass technische Innovationen somit in den Workflow von Pflegeinteraktionsbeziehungen integriert werden müssen, sind Betrachtungen der Nutzerimplementierbarkeit bei der Erfassung von Innovationswirkungen sehr relevant. Somit ist die Fokussierung etwa auf Prädiktionsmodelle aus den Akzeptanztheorien eine hilfreiche und häufig unter dem Fokus der Notwendigkeit nutzerzentrierter Betrachtungen von Technologien in komplexen Organisationskontexten zweckmäßige Herangehensweise (vgl. hierzu etwa Peek et al. 2014 oder Morris et al. 2013 oder auch Roth und Groß 2018). Erweiterte Modelle der Akzeptanzforschungen, etwa aus der TAM-Familie oder etwa das UTAUT-Modell, verknüpfen akteursbezogene, personale Faktoren der Einstellung und der Technikwahrnehmung mit kontextualen, settingbezogenen Faktoren und versuchen, das konkrete Akzeptanzobjekt – Pflegetechnik – mit den Akzeptanzsubjekten Pflegende und Gepflegte in einem definierten Workflow zu untersuchen, um damit eine Form einer Prädiktion eines „Akzeptanztestes“ zu erlangen (vgl. Schäfer und Keppler 2013, S. 16–17). Diese Herangehensweise kann für die Implementierung im organisatorischen Workflow etwa einer stationären Pflegeinrichtung notwendig sein, um die organisatorische Implementierung vorzubereiten und eine prädiktive Empfehlung für die Einbindung der dann handelnden Nutzer zu erlangen (vgl. hier den Überblick von Behkami und Daim 2016).

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601

Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass etwa professionelle Pflegekräfte zwar in weiter Analogie an traditionelle ökonomische Kontexte die Nutzer, aber nicht die Käufer bzw. die Nachfrager einer Technologie darstellen, weil hier Einrichtungsleitungen bzw. Entscheider von Pflegeunternehmen zu berücksichtigen sind und somit eine Prinzipal-­ Agenten-­Beziehung entsteht (vgl. hier analog Zerth und Bronnhuber 2015). Im Bereich ambulanter Pflege wird der organisatorische Kontext zwar weniger umfänglich wirksam wie in der stationären Altenpflege, doch können auch hier die Rollen zwischen Nachfrager, Anwender, Nutznießer – „Wer profitiert von einer Technologie?“ – und letztendlich Finanzierungsverantwortlicher divergieren. Der Akzeptanzbegriff, der insbesondere bei der sozialwissenschaftlichen Bewertung von Technologien häufig Verwendung findet, gerät gerade vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit der Stakeholderrollen, die für Quasi-­ Märkte wie den Gesundheits- und Pflegemarkt üblich sind, an eine natürliche Grenze. Auch eine Ableitung einer positiven Akzeptanzprädiktion in einem organisatorischen Kontext einer stationären Pflege oder in einem Beziehungsmodell der ambulanten Altenpflege muss nicht gleichbedeutend mit einer Schlussfolgerung hinsichtlich der Handlung, d.  h. des tatsächlichen Gebrauchs der Technologie durch die relevanten Akteure sein. Schäfer und Keppler (2013) haben in dieser Hinsicht darauf hingewiesen, dass positive Akzeptanz mit einer positiven Handlungsprädiktion verknüpft sein kann, dies aber nicht zwingend sein muss (vgl. Abb. 31.2) Diese Ungleichheit gilt sowohl hinsichtlich der Bedeutung bezüglich der Kauf- und Investitionsentscheidung als auch im Hinblick auf die Ex-Post-Akzeptanz der handelnden Bewertung/Einstellung gegenüber Akzeptanzobjekt positiv

Befürwortung

Unterstützung Engagement Aktive Akzeptanz

Indifferenz passiv

aktiv Duldung

negativ

Ablehnung

Handlung (Prä- und Posteinführung) Widerstand

Abb. 31.2  Akzeptanz und Handlung als notwendige Perspektiven. (Quelle: Eigene Darstellung in enger Anlehnung an Schäfer und Keppler 2013, S. 13)

602

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Nutzer nach Kaufentscheidung. Somit gewinnt der Blick auf die Bedeutung der Stakeholderbeziehungen im setting- bzw. organisationsbezogenen und letztendlich regulatorischen Raum für die Ableitung von Implementierungsbedingungen an Bedeutung. Sekhon et al. (2017) erweitern die Betrachtung von Akzeptanz zu einem umfänglicheren Akzeptabilitätsblick, um Leistungserbringer, Nachfrager und Nutznießer aus einer Effektivitätsbetrachtung einzuordnen, in dem für die Akzeptabilität sowohl die Einstellungen und Erwartungen der Nutzer  – traditionelle Akzeptanzmethoden  – mit den empirischen Erfahrungen aus der Nutzung verknüpft werden können. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Stakeholderbeziehungen im Sinne einer Prinzipal-Agenten-Beziehung soll ein expliziter Blick auf die (gesundheits-) ökonomische Innovationstheorie genommen werden, um einen möglichen Orientierungsrahmen für eine umfänglichere Implementierungssicht nutzen zu können. Dies gilt insbesondere, wenn Beziehungs- und Interaktionsebenen, die charakteristisch sowohl für den traditionellen Gesundheitsmarkt als auch für den Pflegesektor sind, zu wenig systematisch analysiert bzw. in Innovationsentscheidungen eingebaut werden (vgl. in Analogie Cutler 2010).

31.3 I mplementierung als methodische und empirische Herausforderung Im Abschn. 31.3 wird auf ökonomische Grundlagen der Innovationsbeschreibung Bezug genommen. Einerseits geht es darum, eine Einordnung zwischen traditioneller Innovations- und Implementierungsbegründung zu erlangen, andererseits auch um Verknüpfungen zwischen akteursbezogenen Akzeptanzperspektiven und ökonomisch-begründeten Wahlentscheidungsmodellen begründen zu können. In der Folge daraus können dann Verknüpfungen zum Pflegesujet – als Interaktions- und Sorgebeziehung – wieder aufgegriffen werden.

31.3.1 Ökonomische Theorie revisited: die Bedeutung der Implementierung Die traditionelle ökonomische Innovationsliteratur unterscheidet zunächst zwischen Invention und Exploitation (vgl. Roberts 2007, S.  36). Wohingegen der erste Begriff die Ideenfindung und -generierung in den Blick nimmt, adressiert der zweite Begriff die ökonomische Verwertung und Umsetzung. So lassen sich dann etwa Produkt-, Prozess- oder Organisationsinnovationen und gleichzeitig im Sinne von Henderson und Clark Innovationstypen gemäß dem Neuigkeitscharakter unterscheiden (vgl. etwa Henderson und Clark 1990 oder im Überblick Picot et al. 2012, S. 474–476). Wettbewerbstheoretische Traditionen würden dagegen stärker Invention, Innovation und Imitation als Teil einer Beschreibung der Veränderungen des dynamischen Wettbe-

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werbsbildes in den Fokus nehmen, um somit die Entwicklung des Marktes zu beschreiben (vgl. etwa Oberender 1973, S. 33–35). Die Blickrichtung der überwiegenden Innovationsliteratur mündet aber auf den Beförderungs- und Förderungsaspekt von Innovationsprozessen und nimmt auch in Modellen der sequenziellen Innovationsentwicklung vor allem die Entwicklung hin zum Markteintritt in den Blick (vgl. Picot et al. 2012, S. 478–479). Etwas stärker den organisatorischen Zusammenhang adressieren Modelle, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Integrationsversuche technologischer Entwicklungen im organisatorischen Zusammenhang umsetzbar sind und insbesondere die Aufnahme in einen organisatorischen Kontext und somit die Adoption von Innovationen ausgestaltet sein kann. Hier lässt sich unmittelbar das Promotorenmodell aufführen (vgl. etwa Hauschildt und Kirchmann 2001), das bewusst macht, dass die Umsetzung (Implementierung) einer Innovation als Prozess zwischen den verschiedenen Akteuren innerhalb des organisatorischen Settings ausgestaltet werden muss. Die Unterscheidung zwischen Macht-, Prozess- und Fachpromotoren in diesem Sinne weist nicht nur auf hierarchische Zuordnungen hin, sondern adressiert auch die Bezugnahme auf Handlungs- und Umsetzungswissen und lässt das Promotorenmodell in die Nähe der eher soziologisch begründeten Wissensmodelle von Diffusionsprozessen im Sinne von Rogers erscheinen (hier zitiert nach Dibra 2015, S. 1457). Da Pflegeprozesse wie oben formuliert als Interaktionsbeziehungen mit unterschiedlichen Skill-Mix und im Kontext der Fallschwere und des umgebenden Settings zu definieren sind, kann eine Verknüpfung von Promotorenmodell und einer Weiterentwicklung des wissensbasierten Diffusionsmodels von Rogers zur Beschreibung des Adoptionsverhaltens in der Pflege dienlich sein: Der Prozess der Diffusion (D) – zunächst innerhalb eines definierten (Pflege-)Settings – lässt sich als Zusammenspiel von Wissen, Überzeugung/ Haltung (Awareness) und befördernden Bedingungen (Conditions) und unterstützenden Fähigkeiten (Capabilities) und somit als der Summe der akteursbezogenen Adoptionen (A) modellieren (vgl. Behkami und Daim 2016, S. 38–39).

D = å Ai ; Ai = f ( Awareness + Condition + Capabilities )

(31.1)

In diesem Sinne kann auch die Bezugnahme zur ökonomischen Diffusionstheorie hergestellt werden, wo üblicherweise mit Diffusion die Durchdringung im Markt, d. h. als die kumulierte Wahrscheinlichkeit der Adoption, beschrieben wird (vgl. etwa Adler und Kowalczuk 2018). Orientiert an einer Modellskizzierung nach Adler und Kowalczuk (2018, S. 11–13) umfasst ein Diffusionsmodell eine Adoptionsrate/Adopterzahl a(t) zu einem definierten Zeitpunkt und gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass ein zufälliger Käufer zum Zeitpunkt t adop­ tiert und somit den Imitationsprozess weiterbefördert. Im Sinne von Bass und dargestellt nach Adler und Kowalczuk (2018, S. 12–14) lässt sich als Prädiktion der Diffusion die Adopterzahl als Differenzialgleichung in Bezugnahme auf eine definierte Marktgröße M (als Annäherung an die Marktsättigung) beschreiben. Die Adoptionsate a(t) berücksichtigt eine extern zu begründende Innovationsvariable p, die etwa Aspekte zur Marktentwick-

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lung oder möglichen Netzwerkeffekten o.  ä. abbildet. Somit umfasst die Adoptionsrate zum Zeitpunkt t den Anteil der Erstinnovatoren pM mit der bereits erfolgten Menge an Adoptionen (q − p)MF(t). Die Variable F(t) skizziert die kumulierte Zahl der Imitatoren bis zum Zeitpunkt t und es gilt (in enger Anlehnung an Adler und Kowalczuk 2018, S. 13):



31.2

Die Adoptionsneigung – Variable q – lässt sich somit als Annäherung an die organisationalen und in Anlehnung an die obig geführte Diskussion zur Akzeptanz personaler Umsetzungsbedingungen innerhalb eines definierten Settings einordnen. Die Diffusion als kumulierte Zahl der Adoptoren verknüpft somit die Frage der Skalierung (Marktbetrachtung) von Innovationen mit der ersten Implementierungsebene der Handlungsadoption, etwa bei „Early Adoptern“ und verknüpft im Sinne von Behkami und Daim somit Unternehmens- und Marktebene. Ohne Einschränkung der Allgemeinheit soll diese Überlegung nun auf den regulierten Pflegemarkt übertragen werden, und zwar in einer sequenziellen Form: Die Implementierung einer Pflegetechnologie erfolgt ohne Einschränkung der Allgemeinheit, anfangs in einem definierten Pflegearrangement und muss dort von den handelnden Akzeptanzsubjekten, beispielsweise den professionell Pflegenden im stationären Setting, übernommen werden. Die Passung der Technologie innerhalb des definierten Settings benötigt neben der akteursbezogenen Akzeptanz gleichsam die Passung in den organisatorischen Rahmen und beschreibt somit – grobe Annäherung an die Variable q – eine erste Annäherung an eine Adoptionsprädiktion und gibt Hinweise für mögliche Nachahmer, dass die Technologie geeignet erscheint. Hier setzt nun die Frage nach Methoden und Fallbeispielen adäquater Implementierungsprädiktion an, die helfen können, die eingangs skizzierten Implementierungshürden zu antizipieren und bereits im Innovationsprozess Hinweise für die Gestaltung von innovationsförderlichen Bedingungen – Variable p – sowie imitationsförderlichen Bedingungen – Variable q – zu geben. Dabei gilt es festzuhalten, dass Technologien in der Pflege im Sinne von Produkt-Dienstleistungs-Kombinationen zu betrachten sind und nicht aus sich heraus wirken, sondern vielmehr im Vergleich einer veränderten pflegerischen Dienstleistung (vgl. etwa Jaensch et al. 2019). So wird beispielsweise der Wertbeitrag einer App zur Förderung der Kommunikation zwischen Pflegekräften und Angehörigen nicht in erster Linie in der Benutzbarkeit und Handhabbarkeit der App liegen, sondern sich nach dem Impact zur Verbesserung der Kommunikationsbeziehungen von Pflegekräften zu Angehörigen ausrichten. Beispielsweise hat eine Studie von Vimarlund und Keller (2014) zur Vorbedingungen der erfolgreichen Einführung von IT-basierten Innovationen gezeigt, dass fast die Hälfte der untersuchten Implementierungsversuche scheiterten, weil sie ohne ein leitendes Verständnis zur Identifikation der Mehrwertpotenziale der Technologien für die involvierten

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Stakeholder in den Markt gegangen sind. Darüber hinaus kann häufig eine Lücke zwischen dem technisch erwarteten Nutzenversprechen und den Antizipationsbedingungen auf der Ebene der handelnden Akteure konstatiert werden. Lassen sich nun Hinweise für eine methodische Implementierungsprädiktion für Pflegetechnologien ableiten?

31.3.2 Ansätze zur Implementierungsprädiktion: Was lässt sich ableiten? Wie beschrieben würde die traditionelle ökonomische Theorie den Innovationsprozess als Wechselspiel zwischen Innovation, Imitation und Akkumulation, letztgenanntes als Veränderung des Technologieniveaus, umreißen (vgl. etwa Oberender 1973, S. 33–35). Pflegemärkte als regulierte Quasi-Märkte sind jedoch insbesondere im Sinne der vielfältigen Interaktionsbeziehungen und der dazugehörigen organisatorischen Passung zu betrachten (vgl. etwa Cutler 2010). Vor allem durch die Entwicklung der Digitalisierung werden Anknüpfungspunkte im Sinne von guter Praxis zur Implementierung und organisatorischen Einbettung von Technologien innerhalb strukturähnlicher Pflegearrangements relevant (vgl. etwa Dranove et al. 2014). Peek et al. (2014) rekapitulieren in ihrem systematischen Review zur Akzeptanz von Technologien in der Pflege sowohl eine Heterogenität in der „Vor-Implementierungs-­ Prädiktion“ mit der Nach-Implementierungs-Akzeptanz, was den Blick auf die organisatorische Passung und die zu differenzierende Betrachtung von Akzeptanz und Handlung (vgl. Abb. 31.2) wieder deutlich macht. Ein Blick auf die breitere Implementierungsliteratur mag an dieser Stelle hilfreich sein: In einer Untersuchung von Jacobs et al. (2015) wird beispielsweise der Versuch unternommen, Prädiktoren für die Implementierung von Innovationen in der Gesundheitsversorgung, insbesondere im Sinne von Healthcaremanagement-Programmen im Kontext onkologischer Versorgung, zu erheben (Querschnittsanalyse von über 481 Ärzten im Jahr 2011). Ziel war die Güte eines Modells zu erheben, das die Aktivität von Ärzten erklären soll, Patienten zur Teilnahme an ausgesuchten Healthcare-Programmen zu gewinnen (Effektivitätsmaß). Als erklärende Variablen für die Effektivität zeigen sich in der Untersuchung von Jacobs et al. (2015) sowohl die akteursbezogenen Einstellungen und Haltungen, ähnlich den üblichen Modellen zur Einstellungsakzeptanz. Als wesentlicher Erklärungsbeitrag wird aber insbesondere die Interaktion der akteursbezogenen Eigenschaften im Zusammenspiel von der organisatorischen Unterstützung in materieller wie in kultureller Hinsicht deutlich. Hier zeigt sich, dass im Sinne eines direkten wie indirekten Effektes sowohl die unmittelbare organisatorische Unterstützung – organisatorische Effektivität – als auch die Erwartungen der Akteure über die organisatorische Unterstützung und einem beförderlichen Klima zur Einführung einen wesentlichen Erklärungsbeitrag liefern (Jacobs et al. 2015, S. 7–13).

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Auch wenn beim Blick auf technologische Prozesse in der Pflege nicht jede neue Technik als umfänglicher Veränderungsprozess gekennzeichnet werden muss, so hilft doch die Beschreibung von Sunghee et al. (2010), dass Technologien in der Pflege im Sinne eines Ökosystems gedacht werden müssen. Sunghee et al. (2010) formulieren, dass Technologien in der Pflege entweder an der Person ansetzend sind, etwa personenbezogene Sensorik, oder eingebettet sind in ein Informations- und Datensystem und letztendlich eingepasst in den Kontext der Lebensbedingen sein müssen. Sunghee et al. (2010, S. 2) schreiben explizit „The technology products can be worn ... embedded ... and placed in the person’s environment“. Es lässt sich in der Konsequenz festhalten, dass nicht nur aus der Beziehungsstruktur zwischen Pflegenden und Gepflegten, sondern aus der Notwendigkeit Pflege als Teil eines soziotechnischen Systems zu interpretieren Technik betrachtet werden muss. In diesem Sinn kann eine Bezugnahme auf Omachonu und Einspruch (2010, S. 14) hilfreich sein, die in ihrem Beitrag die Notwendigkeit adressieren, Innovationen im Gesundheitswesen in der Parallelität der Umgebungs- bzw. Einbettungsfaktoren sowie den darin involvierten Organisationsperspektiven zu analysieren, die sich selbst wieder sich in die Akteurs- und Settingfaktoren unterteilen lassen. In diesem Sinne lassen sich Innovationen im Gesundheitssystem als Verknüpfung von Umgebungsprozessen (Environmental Dimensions) und Umsetzungsprozessen (Operational Dimensions) sowie den akteursbezogenen sowie organisatorischen Faktoren (Akzeptanz, Organisationskultur) beschreiben. An dieser Stelle soll der Blick nochmals auf die Studie von Vimarlund und Keller (2014) gerichtet werden, die Implementierungen in unterschiedlichen Politikfeldern und Anwendungsbereichen untersuchen und deren gemeinsame Klammer die Beschreibung von Implementierungshandlungen ist, die sich als Veränderungsprozesse von komplexen, organisatorischen Prozessen darstellen lassen (vgl. in weiter Interpretation Vimarlund und Keller 2014, S. 8 ff.). In besonderer Weise wird bei Vimarlund und Keller der Versuch unternommen, Prädiktionsempfehlungen vor Implementierung auch mit der Analyse von fördernden oder hindernden Faktoren nach der Implementierung zu vergleichen. In diesem Sinne kann die Untersuchung einerseits als weiterer Baustein im Sinne der verschiedenen Studien zu Gründen für unzureichende Implementierung interpretiert werden (vgl. Abschn. 31.1), andererseits aber auch einen systematischeren und im Vorher-Nachher-Vergleich anzuordnenden Ansatz zu Bedingungsfaktoren für eine erfolgreiche Implementierung bilden. Nachfolgender Überblick verdeutlicht die aus der systematischen Literaturanalyse systematischen Treiber für eine tragfähige Implementierung von komplexen Interventionen, dabei wird versucht, ausgesuchte Aspekte aus der Studie von Vimarlund und Keller aufzugreifen und diese mit Interpretationen aus Perspektive der Langzeitpflege – mit Perspektive auf die deutsche Situation – zu ergänzen: Mit Blick auf die Tab. 31.1 kann die Bezugnahme auf die ökonomische Diskussion um Adoptions- und Diffusionsbeziehungen in Abschn. 31.3.1 nochmals aufgegriffen werden. Im Sinne einer Abschätzung der adoptionsförderlichen, aufnehmenden Faktoren – „Warum sollte eine Pflegeeinrichtung die Technologie ebenfalls einführen?“ – lässt sich der

Nach der Innovationseinführung

(8) Mangelnde nachhaltige Finanzierung über „Projektanschub“ (9) (Unmittelbare) Nutzer ziehen keinen „Mehrwert“ aus der Technikimplementierung

(7) Organisationskultur

(5) Change Management/ Prozesstransformation (6) Organisatorischen Insellösungen

(3) Unzureichende technische Konfiguration und Systemintegrität (4) Implementierung in Leistungsbeziehungen und Re-Finanzierung

(2) Führungskonzept

Implementierungskategorien Inhalt Allgemein (Auszüge) (1) Eindeutige Governance

Spezifikationen für die Pflege Z. B. klare Standards für die Einordnung von Technologien in dem Pflegehilfsmittelkatalog Organisatorische Implementierung Klare Integration von „Technikwissen“ in ein „Expertenhandeln“ Pflege (z. B. Expertenstandard) Robustheit und Implementierung Datenschnittstellen etwa zur in den Standardworkflow Pflegedokumentation sowie Akzeptanz der handelnden Pflegeakteure Technologien als Wertbeitrag zu Im Bereich der Altenpflege etwa die Frage, pflegerelevanten Leistungen/ inwiefern die Finanzierung aus den Re-Finanzierung Pflegesätzen umlage-relevant von Gepflegten getragen werden müssen oder aus Quer-­ finanzierungen gestemmt werden Implementierungsstrategie/ Schulungskonzept/Implementierung in die Promotoren Technikkompetenz der Pflegeakteure Klare Transformationsstrategie Einführung in Referenzstationen, mit der innerhalb von Möglichkeit der Partizipation und Organisationsmodellen organisatorischem Lernen für andere Stationen Bedeutung der personalen Auseinandersetzung mit Akzeptanzfaktoren/Einstellungen Professionalitätsbildern/Sorgen um De-­ Professionalisierung Bedeutung eines Produkt-­ Welchen Beitrag soll die Technologie für den Dienstleistungs-­Bildes dauerhaften Betrieb haben/Klarheit im Service- und Geschäftsmodell (vgl. Nr. 4)? Orientierung an einer Stakeholder-­ Technologien können im Idealmodell sowohl orientierung, Wer ist Nutzer, für Gepflegte als auch für Pflegende einen Nutznießer und Nachfrager? Mehrwert bieten, etwa Einführung von sensorgestützter Dokumentation mit positiven Einfluss auf die Selbstwirksamkeit/Care-Giver-­ Burden

Notwendigkeiten Rechtliche Klarheit

Tab. 31.1  Implementierungskategorien. (Quelle: Eigene Darstellung aufbauend und in enger Anlehnung an Vimarlund und Keller 2014, S. 31–32)

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608

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formelhafte Faktor q nun in grober Analogie an die Diffusionstheorie von Rogers und im Bewusstsein von Prinzipal-Agenten-Beziehungen in den Interaktionsbeziehungen Pflege in zwei Teilbausteine untergliedern: Zunächst gilt es die (1) akteurs- oder personenbezogene Abschätzung einer Einstellung/Haltung/Entscheidung bezogen auf eine definierte Technologie zu prüfen, wo sowohl Information, Wissen und Erfahrung mit der Nutzung und dem Gebrauch einfließen und etwa das erweiterte, sequenzielle Akzeptanzmodell nach Kollmann greifen kann (vgl. Kollmann 1998, S. 73 ff.). In diesem würde etwa im Sinne einer Abschätzung von Implementierungsfaktoren die Techniknutzung zunächst vor der unmittelbaren Einführung  – Messung der Einstellungsakzeptanz  – dann nach einer Erfahrung mit der Nutzung im Realbetrieb – Handlungsakzeptanz – und letztendlich als Prognose für eine weitere, dauerhafte Nutzung nach Testbetrieb – Nutzungsakzeptanz – unterschieden werden. Jedoch ist die Ermittlung der Akzeptanz für eine Technologie, etwa aus Blick der Zielgruppe Pflegende, zu ergänzen um die (2) Abschätzungen der Alternativenbewertung von Pflegetechnologien hinsichtlich ihrer Funktionseigenschaften im jeweiligen Setting. Exemplarisch würde etwa bei Technologien zum Sturzmonitoring ein personenorientiertes Sensorsystem– beispielsweise angebracht durch ein Pflegepflaster – im Vergleich zu einem raumgebundenen Sturzmonitoringsystem zu betrachten sein. Eine derartige kombinierte Betrachtung lässt sich beispielsweise in primär ökonomisch ausgelegten Abschätzungen von Eigenschaftsvariationen darstellen, wie sie etwa im Sinne von Conjoint-Analysen oder am Ende von Discrete-Choice-Experimenten abbildbar sind (vgl. etwa Gervès et al. 2013 oder allgemein Tinelli et al. 2016). Ein erweitertes Diffusionsbild im Sinne von Rogers (hier zitiert nach Behkami und Daim 2016, S.  38–40), das sowohl den personen- und akteursbezogenen Lernentwicklungsprozess im Umgang mit Veränderung  – hier im Sinne der Implementierung neuer Pflegetechnologien – umreißt als auch sich den personalen wie kapazitativen Bedingungen und Fähigkeiten der Nutzer der Technologie bewusst ist, kann somit verknüpft werden mit der Idee einer phasenorientierten Vorgehensweise im Sinne von Kollmann (vgl. hier die Interpretation von Schäfer und Keppler 2013, S. 38–40). Diese Idee ergänzt um das Bewusstsein und den Impuls aus der Prinzipal-Agenten-­ Betrachtung, nach der die Nutzer in der Agentenrolle sind und gleichzeitig die Anreizbedingungen der Nutzer mit der Diese Idee ergänzt um das Bewusstsein und den Impuls aus der Prinzipal-Agenten-Betrachtung, nach der die Nutzer in der Agentenrolle sind, gleichzeitig die Anreizbedingungen der Nutzer mit der Entscheiderperspektive des Prinzipals verknüpft werden müssen, erlaubt einen erweiterten Blick auf Implementierungsbewertungen in der Pflege. Es gilt personale und organisatorische Faktoren der Nutzung von Technologien mit den Kontexten möglicher Opportunitätskostenüberlegungen bei der Anschaffung derselben zu verbinden. In diesem Sinne kann der Ansatz von Schäfer und Keppler ergänzt und erweitert als Schablone für eine Prädiktion von Pflegeinnovationen Verwendung finden (vgl. Abb. 31.3).

31  Innovation und Imitation – zur Diskussion einer nachhaltigen Implementierung

I. Knowledge

II. Persuasion

Characteriscs of the decisionmaking unit

Perceived characteriscs of the innovaon

1 .Socioeconomic characteriscs 2. Personality variables 3. Communicaon and shared values

1. Relave advantage 2. Compability 3. Complexity 4. Trialability 5. Observability

AcceptanceModels/tension

Choice, WTA

III. Decision

IV. Implementaon

1. Adopon

2. Rejecon

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V. Confirmaon

Connued adopon Later adopon Disconnuance Connued rejecon

Abb. 31.3  Phasenorientiertes Adoptions- und Implementierungsmodell. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schäfer und Keppler 2013, S. 39 sowie Behkami und Daim 2016, S. 39)

31.4 Implikationen für eine Implementierungsprädiktion Pflege Welche Implikationen sowohl für die methodische Perspektive als auch für die institutionelle Perspektive lassen sich nun ableiten? Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Implementierung von Pflegetechnologien unmittelbar als Ergänzung oder Veränderung der Interaktions- oder Sorgearbeit „Pflege“ zu verstehen ist, die sich in unterschiedlichen Pflegearrangements und -settings definiert und wie oben formuliert als Produkt-Dienstleistungs-Beziehung sich häufig gut beschreiben lässt (vgl. Jaensch et al. 2019). Somit gilt es sowohl zu unterscheiden, ob eine Technologieimplementierung innerhalb eines definierten Settings oder eine Prädiktion für strukturund prozessähnliche andere Settings vorgesehen ist. Im ersten Fall  – Implementierung einer Technologie innerhalb eines definierten Settings– etwa stationäre Altenpflege – könnte das oben skizzierte Phasenmodell die einrichtungsspezifischen Besonderheiten für die Erörterung der Akzeptanz der potenziellen Nutzer, hier professionelle Pflegende, zunächst als gegebene Größe interpretieren und gemäß dem oben skizzierten Phasenmodell ein wachsendes Modell einer erweiterten Akzeptanz, im Sinne von Sekhon et al. (2017) als Akzeptabilität darstellen. So wäre es möglich, die Umsetzungspromotoren, etwa die Pflegenden als handelnde Akteure innerhalb der Organisation stationäres Pflegeheim, die auf die Nutzung der Technologie fokussiert sind, mit den Entscheidern der Organisation über die Investitions- und Kaufentscheidung zu verknüpfen. Das Phasenmodell nach Abb. 31.3 versucht Wissen über Technologien im realen Pflegeeinsatz und Erfahrung im Sinne von erlebter Umsetzungserprobung sowohl aus der Wahrnehmungsperspektive der handelnden Akteure – ungerichtet auf eine Technologie im Sinne einer Technikbereitschaftsmessung (vgl. etwa Neyer et al. 2012) und gerichtet

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mit verschiedenen Akzeptanzansätzen – methodisch darzustellen, gleichzeitig auch die mögliche Alternativenwahl bei möglichen unterschiedlichen Produkt-Dienstleistungs-­ Kombinationen zu verbinden. Insofern liegt eine grobe Annäherung am Struktur- und Kontextmodell nach Picot, Freudenberger und Gaßner (zitiert nach Picot et  al. 2012, S. 554–558) vor, das umsetzungsrelevante Stakeholder identifiziert, nach dem notwendigen Prozesswissen differenziert und die damit verbundenen Präferenz- und Machtkompatibilitäten auslotet. Ein wesentlicher Baustein stellt in dieser Hinsicht die Bedeutung der klaren Analyse der Prozess- und Stakeholderbeziehungen im Hinblick auf die erwarteten Ziele der Implementierung – bei der Pflege etwa Erhöhung pflegerelevanten Outcome – dar. Die Unterscheidung etwa zwischen den Rollenzuschreibungen von Nutzern, Nutznießern und Nachfragern im Hinblick auf die zu untersuchende Technologie ist an dieser Stelle relevant zu betonen. Je nach Setting resultieren beispielsweise unterschiedliche Konstellationen von Nutzern der Technologie, aber auch Nutznießern derselben. Exem­ plarisch kann diese Überlegung an einem Fallbeispiel aus dem im BMBF-Förderprojekt „Pflegepraxiszentrum Nürnberg (FKZ: 16SV7898, www.ppz-nuernberg.de)“ projektierten Initialprojekt „polylinguale Kommunikation via App“ im Kontext diversitätsorientierter Pflegearbeit dargestellt werden. Unmittelbarer Nutzer der App zur polylingualen Kommunikation wären in diesem Szenario unterschiedliche Angehörige des medizinischen/ pflegerischen Personals (Ärzte, Pflegekräfte), Nutznießer könnten sowohl diese aber auch unmittelbar die Patienten sein, was sich dann etwa in einer höheren (wahrgenommenen) Pflegequalität ausdrücken dürfte. In einem weiteren Sinn sind auch möglicherweise Angehörige Nutznießer der Produkt-Dienstleistungs-Beziehung, gerade wenn es gelingt, patientenbezogene Informationen und Kommunikation strukturierter zu gestalten. Von der Nutzer- und Nutznießerrolle ist in der Pflege – jedenfalls bei institutionellen Settings – die Nachfragerrolle zu trennen. Somit würde gemäß dem Phasenmodell insbesondere die Akzeptanz bei professionell Pflegenden – einschließlich weiterer medizinisch-pflegerischer Professionen  – zu erheben sein. Die Frage der Investitionsentscheidung und somit die Entscheidung über die Produkteinführung würde aber hingegen beispielsweise bei einer Einrichtungsleitung und/oder der Pflegedirektion liegen (vgl. hier in Analogie Picot et al. 2012, S. 556). Die bisherigen Ausführungen haben die Implementierungsprädiktion einschließlich der Abschätzung von Kaufentscheidungen in einem definierten Pflegesetting adressiert. Vor dem Hintergrund, dass Pflegebeziehungen im Zusammenspiel unterschiedlicher Pflegeakteure, mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus und über das Zusammenspiel unterschiedlicher institutionell verantworteter Akteure und Pflegearrangements miteinander verknüpft sind – zu denken etwa an Pflegeüberleitungsphänomene von Akutversorgung in pflegerische Settings  – gewinnen Aspekte der verknüpfenden infrastrukturellen Gestaltung von Pflege und pflegerelevanten Wissen an Bedeutung (vgl. zu verknüpfenden Settings etwa Heberlein und Heberlein 2017). In diesem Sinne kann auch eine Implementierungsprädiktion ein Beitrag zu einer pflegerischen sozialen Infrastruktur sein, deren Ziel

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es ist, Best-Practice-Beispiele guter Implementierung auf vergleichbare pflegerische Settings und Akteurszusammenhänge zu übertragen. Hier gilt es auf methodische Schwierigkeiten und Limitationen der Übertragbarkeit bei komplexen Interventionen Bezug zu nehmen (vgl. etwa Schrappe und Pfaff 2016), wozu die Implementierung von technischen Lösungen in der Pflege, gerade bei starker Verknüpfung mit Veränderungen im arbeitsteiligen Workflow, gezählt werden können. Zur Sicherstellung der Abbildung geeigneter Kriterien und deren Übertragbarkeit im Sinne einer komplexen Intervention gilt es, das settingbezogene Zusammenwirken von Kontext (im engeren Sinne), Implementation von Techniken innerhalb dieses Kontextes sowie die dazu gehörenden handelnden Personen (Stakeholder) zu identifizieren und eine Morphologie der Interaktionsbeziehungen zu beschreiben. Eine Orientierung an UTOS-Kriterien (Unit, Treatment, Observations, Setting) kann als erste Annäherung zur Abbildung der Morphologie für die Weiterentwicklung der komplexen Intervention hilfreich sein (Cronbach 1982). Weiterhin gilt es den Zusammenhang zwischen Kontext, Implementierung und handelnden Personen dann genauer auf die Produkt-Dienstleistungs-Wirkungen durch eine Pflegetechnologie auszurichten und beispielsweise eine Morphologie der Interaktionsbeziehungen im Sinne eines Throughput-Modells (vgl. Neugebauer et al. 2008) – angereichert durch Elemente qualitativer Forschung (Experteninterviews/teilnehmende Beobachtung)  – zu entwickeln. Diese Morphologie müsste den Zusammenhang zwischen Intervention, Kontext und Implementierung in einem Wirkmodell auf einen Output, im Idealfall quantitativ messbar, beschreiben. Im Beispiel der polylingualen Kommunikation könnten etwa die Kommunikationsfähigkeit des Leistungserbringers oder die Informiertheit des Patienten relevante Outcomeparameter sein. Hier würden sich akteursbezogene Akzeptanzwerte ermitteln, aber auch Veränderungen der Informiertheit der Patienten erheben lassen. Als weitläufigste Bewertungsperspektive und damit verbundener Implementierungsprädiktion wäre eine Abschätzung der Eignung der Technologie als Teil des regulierten Gesundheits- und Pflegemarktes im Sinne einer Abschätzung der Diffusionswirkung auf den Gesamtmarkt zu betrachten. Hier gilt es die Abschätzung der Adoption der Technologie von ähnlichen Pflegeakteuren mit einer Abschätzung etwa der Durchdringung im Versorgungsmarkt (Diffusion im eigentlichen Sinne) zu verknüpfen. In dieser Hinsicht wäre gemäß Gleichung die Interaktion zwischen Adoptionswahrscheinlichkeit im gegebenen Setting mit Abschätzungen zur Adoptionsrate als Maß der Diffusionsentwicklung zu analysieren. Letztgenannter Aspekt ist aber wesentlich abhängig von den Bedingungsfaktoren des Markteintritts und der Gegenfinanzierung in regulierten Quasi-Märkten (vgl. hier Koerber et  al. 2016). Als notwendige Bedingung der gesellschaftsbezogenen ­Adoptionsfähigkeit wäre etwa die Prüfung der Passung in den Hilfsmittel- oder Pflegehilfsmittelkatalog zu prüfen (notwendige Bedingung), um darauf aufbauend etwa eine mögliche Abschätzung von Kosten-Nutzen-Potenzialen getesteter Technologien im Hinblick auf definierte gesellschaftlich relevante Outcomeziele abzubilden.

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31.5 Schlussbetrachtung Technische Innovationen in der Pflege scheitern häufig an der mangelnden kulturellen, organisatorischen, prozessualen und professionellen Passung. Dabei greifen bisherige methodische Ansätze zur systematischen Analyse und Bewertung von Implementierungshürden häufig zu kurz, da sie etwa nur Technikbereitschafts- und Akzeptanzaspekte von Pflegenden adressieren, somit die Handlung nach Investitionsentscheidung fokussieren, ohne den Zusammenhang zwischen Kauf- und Nutzungsentscheidung ausreichend zu differenzieren. Adoptions- und Diffusionsmodelle aus der traditionellen ökonomischen Theorie können mit sozialwissenschaftlichen Akzeptanzmodellen, etwa einem Phasenmodell der Akzeptanz verknüpft werden, um dabei insbesondere die Bedeutung der Akteursperspektive auf eine Technologie – Einstellung und Haltung – von der Perspektive der Bewertung der Eigenschaften der Technologie selbst zu unterscheiden. Ein erweitertes Prädiktionsmodell, das sowohl innerhalb eines gegebenen Pflegesettings Hinweise auf gelungene Implementierung liefern kann als auch darüber hinaus bei strukturähnlichen Settings die Skalierbarkeit von Technologien in der Pflege befördern würde, wäre als Teil einer hilfreichen sozialen Infrastruktur für die Pflege zu interpretieren.

Literatur Adler J, Kowalczuk P (2018) Abbildung der Diffusion von Innovationen anhand des Bass-Modells: Möglichkeiten der Parameterschätzung. WiST 47(9):10–17 Behkami N, Daim T (2016) Methods and Models. In: Daim T, Behkami N, Basoglu N, Kök O, Hogaboam L (Hrsg) Healthcare technology innovation adoption. Electronic health records and other emerging health information technology innovations. Springer, Heidelberg, S 37–81 Böhle F (2011) Interaktionsarbeit als wichtige Arbeitstätigkeit im Dienstleistungssektor. WSI Mitt 9:456–461 Bratan T, Wydra S (2013) Technischer Fortschritt im Gesundheitswesen: Quelle für Kostensteigerungen oder Chance für Kostensenkungen, Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Arbeitsbericht Nr. 157. TAB, Berlin Cronbach L (1982) Designing evaluations of educational and social program. Jossey-Bass Inc Pub, San Francisco Cutler D (2010) What are the health care entrepreneurs? The failure of organizational innovation in health care. Innov Policy Econ 11(1):1–28 Dibra M (2015) Rogers theory on diffusion of innovation – The most appropriate theoretical model in the study of factors influencing the integration of sustainability in tourism businesses. Soc Behav Sci 195(3):1453–1462 Dranove D, Forman C, Goldfarb A, Greenstein S (2014) The trillion dollar conundrum: complementarities and health information technology. Am Econ J Econ Pol 6(4):239–270 Fachinger U (2017) Technikeinsatz bei Pflegebedürftigkeit. In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg) Pflege-Report 2017. Schwerpunkt: Die Versorgung der Pflegenden. Schattauer, Stuttgart, S 83–93 Gervès C, Bellanger M, Ankri J (2013) Economic analysis of the intangible impacts of informal care for people with Alzheimer’s disease and other mental disorders. Value Health 16(5):745–754

31  Innovation und Imitation – zur Diskussion einer nachhaltigen Implementierung

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Prof. Dr. Jürgen Zerth  studierte Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Gesundheitsökonomie und Sozialpolitik und war u. a. an der Universität Bayreuth über 10 Jahre Geschäftsführer der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-­Nürnberg hat er 2010 das Forschungsinstitut der Diakonie Neuendettelsau übernommen, das er bis zur Gründung der Wilhelm Löhe Hochschule (WLH) in Fürth 2012 geleitet hat. Seit 2012 hat Zerth die Professur Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Gesundheitsökonomie an der WLH inne und leitet gleichzeitig das Forschungsinstitut IDC. Bevorzugte Forschungsgebiete sind Gesundheits- und Institutionenökonomie, Ökonomie der Prävention und der Langzeitpflege, Wettbewerbs- und Industrieökonomie im ­Gesundheitswesen.

Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur anlassinduzierten Pflege

32

Michael Schneider, Jürgen Besser und Silke Geithner

Inhaltsverzeichnis 32.1  M  angelnde Diffusion von Technologien in der Pflege  32.2  Technologien in der Pflege  32.2.1  Systematisierung von Technologien in der Pflege  32.2.2  Besonderheiten der Pflege und des Pflegemarktes  32.2.3  Innovationsbarrieren von Technologien in der Pflege  32.3  Pflege 4.0 verändert den Pflegeprozess und die Pflegeorganisation  32.3.1  Pflege 4.0: Eine Begriffsbestimmung  32.3.2  Pflege 4.0: Auswirkungen auf den Pflegeprozess  32.3.3  Einfluss von Pflege 4.0 auf das Berufsbild und die Organisation der Pflege  32.4  Pflege 4.0 am Beispiel von moio.care  32.4.1  moio.care: das intelligente Pflegepflaster  32.4.2  moio.care: der Weg zur anlassinduzierten Pflege  32.4.3  Innovationsbarrieren und Implementierungsvoraussetzungen am Beispiel moio.care  32.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

 616  617  617  618  619  621  622  622  625  625  626  626  627  628  629

M. Schneider (*) Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Besser MOIO GmbH, Fürth, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Geithner Evangelische Hochschule Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_32

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616

M. Schneider et al.

Zusammenfassung

Technologischen Innovationen wird ein hohes Potenzial für die Weiterentwicklung von Pflege und Betreuung zugeschrieben. Sie können helfen, Pflegekräfte und pflegende Angehörige bei ihrer Arbeit zu entlasten und menschliche Zuwendung als Zentrum der Pflegearbeit zu fördern. Dadurch kann sich die Lebensqualität der zu Pflegenden verbessern. Dennoch werden bislang Technologien nur vereinzelt in den pflegerischen Alltag integriert. Dabei ist es häufig nicht die technische Innovationshöhe, die Innovationen in der Anwendung scheitern lässt, sondern bspw. die Akzeptanz der Akteure sowie die Passung in organisatorische und institutionelle Kontexte. Technologische Innovationen in der Pflege verändern Prozesse, Arbeitsabläufe, erforderliche Kompetenzen und möglicherweise sogar Berufsbilder. Am Beispiel eines sensorgestützten Monitoringsystems – dem intelligenten Pflegepflaster – wird in diesem Beitrag dargestellt, wie sich die Pflegearbeit, orientiert am Pflegeprozess, von einer routinebasierten zu einer anlassinduzierten Pflege entwickeln kann.

32.1 Mangelnde Diffusion von Technologien in der Pflege Die Versorgungslücke in der Pflege wächst. Die Nachfrage nach Pflegeleistungen steigt kontinuierlich, während das Angebot an Pflegekräften sinkt. Bis zum Jahr 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland um etwa die Hälfte von 2,9 Mio. in 2015 auf 3,4 Mio. in 2030 ansteigen (vgl. StatBA 2010, S. 28). Das liegt hauptsächlich an der verlängerten Lebenserwartung sowie der Zunahme der über 80-Jährigen um fast 60  % bis zum Jahr 2030 (Referenzjahr 2011 und Bertelsmann Stiftung 2011). Mit steigendem Alter nehmen auch Mehrfacherkrankungen zu. Ältere Menschen sind daher verstärkt auf die Hilfe professionell Pflegender (Krankenpflege, Altenpflege) und nicht professionell Pflegender (z. B. Angehörige) angewiesen. Die Folge ist ein steigender Personalbedarf in der Pflege. Gleichzeitig sinkt aufgrund der demografischen Alterung die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter. Bis zum Jahr 2030 entsteht ein zusätzlicher Fachkräftebedarf in der Pflege von über 400.000 ambulanten und stationären Pflegekräften. Zudem sinkt das familiäre Pflegepotenzial durch zunehmende Einpersonenhaushalte und veränderte Familienkonstellationen (vgl. Rothgang et al. 2012, S. 10 und S. 28–62). Die Digitalisierung und Technisierung in der Pflege wird daher von politischen und wirtschaftlichen Akteuren als ein Baustein eines Lösungsansatzes dargestellt, die bevorstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Intelligente und vernetzte Robotik, vernetzte Hilfs- und Monitoringsysteme sowie Informations- und Kommunikationstechnologien sind zentrale Zukunftsfelder der Mensch-Technik-Interaktion im Pflegebereich. Durch den Einsatz innovativer Technologien kann Pflege im Sinne der Gepflegten substanziell verbessert werden. Technologien können helfen, die Selbstständigkeit der zu Pflegenden zu bewahren. Pflegende können in ihrer täglichen Pflegearbeit unterstützt und entlastet werden (vgl. Daum 2017, S. 2–3 und S. 47). Der Einsatz technologischer Innovationen hat

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das Potenzial, die Interaktionsarbeit in der Pflege hin zu einer stärkeren anlassinduzierten Pflege verändern. Allerdings werden verfügbare innovative Technologien bisher kaum in der Pflege eingesetzt. Dies liegt zumeist nicht an der technischen Innovationshöhe, sondern v. a. an der unzureichenden Akzeptanz durch die Akteure sowie der inadäquaten Passung in organisatorische und institutionelle Kontexte. Um zu verstehen, wie Technologien die Interaktionsarbeit von einer routinebasierten hin zu einer anlassinduzierten Pflege verändern, wird zunächst grundlegend auf Technologien in der Pflege eingegangen.

32.2 Technologien in der Pflege In einem ersten Schritt wird eine an der Versorgung orientierte Systematisierung von Technologien in der Pflege erläutert. Danach werden Besonderheiten der Dienstleistung Pflege sowie des Pflegemarktes skizziert. In einem nächsten Schritt werden Innovationsbarrieren auf Mikro-, Meso- und Makroebene diskutiert.

32.2.1 Systematisierung von Technologien in der Pflege Technologien in der Pflege werden traditionell anhand von „Technologietypen“ unterschieden. In der 2017 erschienenen Studie „Pflege 4.0 – Einsatz moderner Technologien aus Sicht professionell Pflegender“ wurde zwischen (1) elektronischer Dokumentation, (2) Telecare, (3) technischer Assistenz sowie (4) Robotik differenziert (vgl. Merda et al. 2017, S. 25–78). Daum (2017, S. 14) wählt eine ähnliche Einteilung zur Einordnung der zukünftigen Trends in der Digitalisierung und Technisierung in der Pflege und unterscheidet zwischen (1) Informations- und Kommunikationstechnologien, (2) intelligente und vernetzte Robotik sowie (3) vernetzte Hilfs- und Monitoringsysteme. Diese Kategorien sind allerdings nicht trennscharf. Ein intelligenter Sensor, der am Körper getragen wird, kann potenziell in mehrere Kategorien eingeordnet werden: Handelt es sich um einen Sensor, der bspw. Stürze erkennt, könnte man ihn den vernetzten Hilfs- und Monitoringsystemen zuordnen. Sammelt der Sensor darüber hinaus Daten und ist zu Dokumentationszwecken direkt an die Heimsoftware angebunden, hat er auch Eigenschaften von Informations- und Kommunikationstechnologien. Kann der Sensor Bewegungsprofile erstellen und ist mit einem Bett verbunden, das sich selbstständig dreht, wäre es denkbar, das System als Kombination von Sensorik und Aktorik als robotisches System einzuordnen. Vor dem Hintergrund der Diskussion von Pflege 4.0 und einer damit einhergehenden Veränderung der Interaktionsarbeit erscheint daher eine stärker an der Versorgungsrealität orientierte, zweidimensionale Einordnung von Technologien in der Pflege sinnvoll. In der ersten Dimension ist für die Akzeptanz von Technologien entscheidend, wie pflegenah Technologien eingesetzt werden. Technologien können in Primär-, Sekundär- oder Tertiär-

618

M. Schneider et al.

prozessen zum Einsatz kommen. Es macht aus Sicht einer Pflegekraft einen großen Unterschied, ob eine Technologie die unmittelbare Interaktions- und Pflegearbeit (Primärprozess) mit dem Patienten oder Heimbewohner verändert oder ob eine Technologie diese Interaktionsarbeit lediglich unterstützt. Ein intelligenter Pflegewagen, der eine Pflegekraft bei der Ausführung von wertschöpfenden Tätigkeiten unterstützt, wäre ein Beispiel für eine Technologie, die in einem Sekundärprozess eingesetzt wird. Logistik oder der Bereich der Hauswirtschaft wären Beispiele für Tertiärprozesse. In einer zweiten Dimension kann zwischen nicht autonomen, teilautonomen und autonomen Technologien unterschieden werden. Der traditionelle Hebelifter wäre ein Beispiel für ein nichtautonomes System. Ein Lifter, der sich bspw. auf Basis von Sensorinformationen selbstständig an geeigneter Stelle am Bett positioniert, die Patientenaufnahme aber weiterhin durch eine Pflegekraft gesteuert wird, ist ein Beispiel für ein teilautonomes System. Bei teilautonomen Systemen kann die Pflegekraft weiterhin individuell auf die Bedürfnisse und Empfindungen des Pflegebedürftigen eingehen (vgl. z. B. des Lifters Kehl 2018, S. 72). Übernimmt der Lifter auch die Patientenaufnahme sowie die Mobilisation, handelt es sich um ein autonomes System. Ein solches System wäre bspw. im Kontext der ambulanten Pflege denkbar, bei der kein Pflegender ständig präsent ist. Es sei hier angemerkt, dass autonome Systeme, die durch eine Verknüpfung von Sensorik und Aktorik gekennzeichnet sind und die in Primärprozessen eingesetzt werden, bei Pflegenden häufig mit Substitutions- und Deprofessionalisierungsängsten einhergehen. Abb. 32.1 visualisiert die beiden Möglichkeiten zur Einteilung von Technologien in der Pflege.

32.2.2 Besonderheiten der Pflege und des Pflegemarktes Im Zentrum der Pflegearbeit steht menschliche Zuwendung, sorgendes Denken und Handeln (vgl. Hellige et al. 2018, S. 115). Pflege ist eine komplexe personenbezogene Beziehungs- und Fürsorgearbeit, die durch eine hohe Individualität, eine hohe Integrativität und eine hohe Verhaltensunsicherheit geprägt ist. Die daraus ableitbare Qualitätsunsicherheit Techniktypenorientierte Einteilung von Technologien in der Pflege 1. 2. 3. 4.

Informations- und Kommunikationstechnologien Intelligente und vernetzte Robotik Vernetzte Hilfs- und Monitoringsysteme TeleCare

Versorgungsorientierte Einteilung von Technologien in der Pflege Nicht Teilautonom autonom autonom Primärprozess Sekundärprozess Tertiärprozess

Abb. 32.1  Techniktypenorientierte und versorgungsorientierte Einteilung von Technologien in der Pflege. (Quelle: Eigene Darstellung)

32  Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur …

619

seitens des Gepflegten und des Pflegenden kann die Bereitschaft, assistive Technologien zu nutzen, sowohl befördern als auch hemmen. Friesacher (2010, S. 318) bezeichnet das Verhältnis zwischen Technik und Pflege als spannungsreich und ambivalent. Bei der Integration von Technologien in den Pflegemarkt muss außerdem die Einbettung in die regulativen Umgebungsfaktoren des Quasi-Marktes Pflege berücksichtigt werden. Die Leistungserbringung in der Pflege findet in unterschiedlichen Settings statt, wie bspw. im Krankenhaus, im Pflegeheim, der Kurzzeit- oder der Tagespflege. Je nach Setting sind unterschiedliche Akteure (z. B. Pflegekräfte und Angehörige) und unterschiedliche Professionen (z. B. Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege) beteiligt. Soll bspw. ein Sensor zum Sturzmonitoring in der Pflege eingesetzt werden, sind die Konsequenzen für die Arbeitsorganisation und -teilung im ambulanten Kontext andere als in einem stationären Kontext, weil in der ambulanten Pflege anders am stationären Kontext die Pflegekräfte nicht permanent vor Ort bei den Pflegebedürften sind. Finanzierungsseitig bewegt sich die Pflege zwischen dem SGB V und dem SGB XI. Die soziale Pflegeversicherung (SPV) ist das jüngste der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) handelt es sich bei der SPV um eine „Teilkaskoversicherung“, die die Ausgaben für die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung übernimmt. Die Ausgaben für Unterkunft und Versorgung liegen komplett in der finanziellen Verantwortung des Pflegebedürftigen. In den Bereich der Kostenübernahme durch die Kranken- und Pflegeversicherung fallen in der Regel auch Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel. Soll ein Produkt in die Erstattungsfähigkeit aufgenommen werden, so ist zu prüfen, ob das Produkt als Hilfsmittel oder Pflegehilfsmittel in den entsprechenden Verzeichnissen anerkannt werden kann. Beide Ver­ zeichnisse haben eine starke marktsteuernde Wirkung. Viele neuartige Hilfsmittel und insbesondere Pflegehilfsmittel werden in dem Kontinuum von „Allgemeiner Lebensunterstützung“ bis zu „Unterstützung bei Pflegebedürftigkeit“ entwickelt. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Aufnahme in das Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelverzeichnis sowie die Leistungsübernahme nur in wenigen Fällen oder gegebenenfalls nur anteilig stattfindet (vgl. Weiß et al. 2017, S. 9). Letztlich fehlt im Status quo eine Rechtsgrundlage, die zu einer Leistungslücke bei den sozialen Versicherungssystemen führt. Abb. 32.2 stellt schematisch die Komplexität der Finanzierungsmöglichkeiten von Pflegehilfsmitteln dar.

32.2.3 Innovationsbarrieren von Technologien in der Pflege Der Gesundheits- und Sozialmarkt zeigt im Branchenvergleich bisher einen sehr niedrigen Digitalisierungsgrad (vgl. Baierlein 2017, S. 3–5). Gleichzeitig werden die Potenziale von Pflege 4.0 hoch eingeschätzt, weshalb für technische und digitale Innovationen in der Kranken- und Altenpflege bereits viele Fördermittel bereitgestellt wurden (z. B. Pflegeinnovationen I, II, III; KMU-innovativ; SmartSensor). Dennoch werden Technologien ­bislang nur vereinzelt in den pflegerischen Alltag integriert (vgl. Weiß et al. 2017, S. 16).

620

M. Schneider et al. Finanzierung Regulierte Finanzierung

HVM

(SGB V, Verordnung, Krankenbehandlung)

Stationäre Pflege

PHVM

ggf. Medizinproduktegesetz (MPG)

Ambulante Pflege

Stationäre Pflege

Nicht-regulierte Finanzierung

Selbstzahler (Eigenanteil)

Pflegekasse (Individueller Antrag) Pflegekasse (Individueller Antrag)

Selbstzahler (individuell)

Ambulante Pflege

Selbstzahler

Keine Pflege

Selbstzahler

Allgemeine Lebensunterstützung

Funktionstauglichkeit

(SGB XI, Pflegebedürftigkeit)

Pflegekasse (Pflegesatz)

Krankenbehandlung/ Pflegebedürftigkeit

Zulassung

Abb. 32.2  Finanzierung von Pflegehilfsmitteln. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Häufig ist es nicht die technische Innovationshöhe, die eine Produkt-Dienstleistungs-Kombination auf dem Markt scheitern lässt. Der bislang kaum stattgefundene Transfer von Technologien in die Versorgungsrealität liegt an einer Vielzahl von möglichen Innovationsbarrieren auf Makroebene, Mesoebene und Mikroebene. Der Einsatz von Technologien auf Mikroebene der handelnden Personen kann dabei nicht losgelöst von Einflussfaktoren auf der Mesoebene (Unternehmen) und Makroebene (Staat, Verbände) diskutiert werden (vgl. Schneider et al. 2019, S. 137–138, vgl. Abb. 32.3). Auf der Makroebene werden Gesetze und Richtlinien bspw. bezüglich Angebotsplanung, Vergütung, Finanzierung und Leistungserstellung erlassen. Vergütungs- und Finanzierungregelungen auf der Makroebene beeinflussen über Anreize das Verhalten der Akteure auf Meso- und Mikroebene und haben deshalb einen erheblichen Einfluss auf die Leistungserbringung. Wird bspw. der Einsatz eines Serviceroboters im Nachtdienst in der -

Vergütungsregelungen Finanzierungsregelungen weitere gesetzliche Regularien (z. B. MPG) Akzeptabilität (Zustimmung auf gesellschaftlicher Ebene)

Mesoebene

-

Unternehmenskultur Arbeitsstrukturen und -teilung Technische Infrastruktur Investitionsentscheidung (Nachfrager)

Mikroebene

-

Technikbereitschaft Einstellungsakzeptanz Handlungs-& Nutzungsakzeptanz Handlungskompetenz

Makroebene

Abb. 32.3  Innovationsbarrieren auf Mikro-, Meso-, und Makroebene. (Quelle: Eigene Darstellung)

32  Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur …

621

stationären Versorgung diskutiert, muss berücksichtigt werden, dass bundeslandspezifisch in Abhängigkeit der Erfüllung bestimmter Kriterien feste Mindest-Nachtwachenschlüssel existieren, die eingehalten werden müssen (Bayern 1:30–1:40) (vgl. Marberg und Lange 2015, S. 30). Der Anreiz aus Sicht eines Pflegeheimbetreibers, einen Serviceroboter zur Teilsubstitution von Aufgaben einzusetzen, ist derzeit schlichtweg nicht gegeben. Der steigende Evaluationsbedarf für die Nutzen- und Kostenbewertung von technologischen Innovationen ist auch auf der Makroebene einzuordnen, genauso wie gesellschaftlich relevante ethische Aspekte, bei denen es bspw. um Fragestellungen wie Gerechtigkeit, Selbstbestimmung oder auch Sicherheit geht. Auf der Mesoebene finden sich Faktoren wie Innovationsbereitschaft und -fähigkeit einer Organisation oder die vorhandene Unternehmenskultur. Diese beinhalten nicht Strukturen, die Innovationen selbst auslösen, sondern vielmehr Strukturen, die auf Innovationen geschmeidig reagieren können (vgl. Witte 1988, S. 145). Auch die technische Infrastruktur, professions- oder institutionenspezifische Qualifikations- oder Qualitätsstandards oder die Veränderung der Arbeitsteilung innerhalb einer Profession können der Mesoebene zugeordnet werden. Auf der Mikroebene (Individualebene) müssen einzelne am Pflegeprozess beteiligte Mitarbeiter oder Angehörige die neuen Technologien beherrschen und akzeptieren. Akzeptanz in einem weiteren Sinne ergibt sich aus einem Prozess der Wahrnehmung, Bewertung und Entscheidung mit drei bestimmbaren Einflussgrößen: einem Akzeptanzsubjekt (z. B. Pflegefachkraft), das ein bestimmtes Akzeptanzobjekt (z. B. Pflegeroboter) innerhalb eines gegebenen Kontextes (z. B. stationäre Langzeitpflege) akzeptiert (vgl. Hüsing et  al. 2002, S.  24–25 und Schäfer und Keppler 2013, S.  16–23). Faktoren, die auf das Akzeptanzsubjekt Einfluss haben, sind bspw. die individuelle Einstellung, Normen und Wertvorstellungen, soziodemografische Faktoren oder Erfahrungen. Einflussgrößen, die vom Akzeptanzobjekt abhängen, sind bspw. Faktoren wie Kosten und Nutzen, Risiken oder Bedienfreundlichkeit. Im Akzeptanzkontext spielen Faktoren wie die Arbeitsaufgabe, das unternehmensorganisatorische Umfeld oder auch gesamtgesellschaftliche Kontexte eine Rolle. Erst durch ein positives Zusammenspiel von Akzeptanzsubjekt, Akzeptanzobjekt und Akzeptanzkontext wird ein Akzeptieren einer Technologie ermöglicht (vgl. Zettl und Trübswetter 2018, S. 326; Schäfer und Keppler 2013, S. 23).

32.3 P  flege 4.0 verändert den Pflegeprozess und die Pflegeorganisation Im Pflegekontext muss im Rahmen von Pflege 4.0 immer von der Integration komplexer soziotechnischer Interaktionssysteme ausgegangen werden, die ggf. Prozesse, das Berufsbild, die Arbeitsteilung sowie das Selbstverständnis der Pflege verändern werden (vgl. Hamm und Schneider 2019, S. 3–5).

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M. Schneider et al.

32.3.1 Pflege 4.0: Eine Begriffsbestimmung Um die Idee Pflege 4.0 verstehen zu können, soll zunächst der Leitgedanke von Industrie 4.0 skizziert werden. Die erste industrielle Revolution hatte die Einführung mechanischer Produktionsanlagen mithilfe von Wasser- und Dampfkraft zur mechanischen Produktion zum Ursprung. In der zweiten industriellen Revolution wurde die arbeitsteilige Massenproduktion durch die Inbetriebnahme von Fließbändern eingeleitet. In der dritten indus­ triellen Revolution wurde durch den Einsatz von Elektronik im Zusammenhang mit Informationstechnik eine weitere Automatisierung der Produktion ermöglicht. Ihr war die Zentralisierung von Strukturen und Entscheidungsprozessen immanent. In der vierten industriellen Revolution wird ein weiterer Schritt in Richtung Automatisierung gegangen. Aufgrund der Masse und Komplexität der zu verarbeitenden Informationen müssen einzelne Akteure stärker als bislang autonom und selbstorganisierter handeln. Akteure und auch Maschinen werden selbstbestimmt Informationen aufnehmen, verarbeiten und weitergeben. Die Folge ist eine Dezentralisierung von Entscheidungen. Auf dieser Basis können Geschäftsprozesse flexibler gestaltet und eine Individualisierung in der Massenproduktion vorangetrieben werden (vgl. Wibbeling et al. o. J, S. 4). Im Gegensatz zur Industrie 4.0 stehen in der Pflege keine Produktions- und Automatisierungstechniken im Vordergrund, sondern die Beziehungs- und Fürsorgearbeit im Rahmen des Pflegeprozesses. Die Mensch-Mensch-Interaktion steht im Mittelpunkt der hoch individuellen Dienstleistung Pflege. Auch in der Pflege werden durch den Einsatz von Technologien, bspw. im Rahmen einer elektronischen Patientenakte oder durch den Einsatz von Sensoren, Datenmengen entstehen, die für die Versorgung von Patienten und Bewohnern genutzt werden können. Die generierten Daten kann potenziell jeder Akteur für seine Arbeitsprozesse dezentral nutzen. Die Mitarbeiter stehen also noch mehr als bislang im Mittelpunkt und müssen eigenständig Entscheidungen treffen. Eine optimale Verarbeitung der Daten setzt voraus, dass die anfallenden Daten aufgenommen, verarbeitet und weitergegeben werden können. Pflege 4.0 hat also unmittelbar Auswirkungen auf die Arbeitsteilung.

32.3.2 Pflege 4.0: Auswirkungen auf den Pflegeprozess Der eigentliche Kernprozess in der Pflege, der Pflegeprozess (siehe Abb. 32.4), lässt sich in Anlehnung an das Strukturmodell verkürzt in 4 Schritten darstellen (vgl. Beikirch 2015, S. 7). Im Pflegeprozess werden in einem ersten Schritt, bspw. bei der Aufnahme eines Bewohners oder Patienten (im Folgenden nur noch Bewohner) sowie bei regelmäßig stattfindenden Assessmentverfahren, für den Pflegeprozess relevante Informationen gesammelt (Pflegeanamnese). Entscheidend hierbei sind die Fachkenntnis der Pflegekraft bezüglich evidenzorientierter Risikoanalyseinstrumente sowie die Fähigkeit, die individuelle Situation des Gepflegten zu beobachten und wahrzunehmen. Eine zeitnahe und voll-

32  Technologische Innovationen in der Pflege: von der routinebasierten zur … Abb. 32.4 Verkürzter Pflegeprozess in Anlehnung an das Strukturmodell. (Quelle: Beikirch 2015)

623

1. Strukturierte Informationssammlung

4.

2.

Evaluation

Individuelle Maßnahmenplanung

3. Durchführung der Pflegemaßnahmen

ständige Informationssammlung ist die notwendige Voraussetzung, um pflegerelevante Probleme des Bewohners zu erkennen, Pflegeziele daraus abzuleiten und eine effektive und effiziente Pflegeplanung (Schritt 2) zu erstellen. Es ist offensichtlich, dass sowohl der Bewohner als auch der Mitarbeiter einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Informationssammlung und damit den gesamten Pflegeprozess haben, der letztlich die Qualität der zu erbringenden Pflege determiniert. Bei der Durchführung der Pflegemaßnahmen (Schritt 3) fallen Produktion und Absatz zusammen, die Integrativität kann als hoch bezeichnet werden. Diese hohe Integrativität wiederum befördert die Informationsgewinnung. Die Beurteilung der Wirkung der Pflege auf den Patienten (Evaluation, Schritt 4) ist im Status quo äußerst komplex und aufwendig, weil wenig standardisierte Instrumente existieren und kaum auswertbare Routinedaten erfasst werden. Die Informationsnutzungskosten sind dementsprechend hoch. Orientiert man sich am traditionellen Pflegeprozess, ist erkennbar, dass ein Technologieeinsatz, wie bspw. von sensorgestützten Monitoringsystemen, den gesamten Pflegeprozess verändert, sowohl in (1) Durchführungskomponenten als auch in (2) Planungskomponenten, zu denen in einem erweiterten Sinne auch die Evaluation gezählt werden kann (vgl. Schneider et al. 2017, S. 209–216). (1) Die Pflege eines Pflegebedürftigen ist nach Geraets und Selbmann (2014, S. 613) selten ein bewusst geplanter und transparenter Prozess (vgl. auch Bensch 2018, S. 315). Pflegeroutinen als Folge individueller Pflegeplanung werden im Status quo meist durch Pflegekräfte angestoßen. Beispiele hierfür sind die routinemäßige nächtliche Lagerung eines immobilen Bewohners nach einem Lagerungsplan oder die Kontrolle und Dokumentation der Trinkmenge eines Bewohners. Aus Sicht einer Pflegekraft ist dieses routinemäßige Vorgehen notwendig, weil nicht ersichtlich ist, ob erstens der Bewohner sich zwischenzeitlich ausreichend eigenbewegt hat (vgl. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege 2017, S. 19) und zweitens ein Zwang zur

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Dokumentation besteht. Das Tragen körpernaher Sensorik verändert dagegen die Prozessinformation. In einer künftig sensorgestützten Pflege kann der Pflegende verstärkt auf konkrete Anlässe hin tätig werden. Die bisherigen Pflegeroutinen, die zu großen Teilen einer statischen Pflegeplanung folgen, können durch eine anlassinduzierte Pflege zielgerichtet ergänzt werden. Dadurch ergeben sich jedoch umfassende Veränderungen in der Dienstleistungs- und Interaktionsarbeit. Im Fall der Dekubitusprophylaxe wird z.  B. die Pflegehandlung nur dann aktiviert, wenn sich der Gepflegte nicht ausreichend eigenbewegt hat. Die Pflegekraft hat dadurch die Möglichkeit, stärker bedarfs- und weniger routinebasiert zu handeln. Diese Form der sensorgestützten Pflege hat direkte kapazitative Effekte, da sich die nichtanlassinduzierte Kontrolle damit erheblich reduzieren lässt. Dieses Beispiel lässt sich auf weitere Anwendungskontexte, wie z. B. die Sturzerkennung (z. B. nächtliches Überprüfen, ob ein Bewohner aus dem Bett gefallen ist), die Ortung oder die Dehydration, übertragen. Für die Gepflegten sind daraus erhebliche positive Effekte für die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit zu erwarten. Es kann die Schlafphase verbessert, das subjektive Sicherheitsempfinden erhöht sowie die Selbstständigkeit gefördert werden. Für den Pflegenden bedeutet der Einsatz körpernaher Sensorik beim Bewohner zunächst nur, dass ggf. Freiräume entstehen. Diese können bspw. dazu genutzt werden, andere Teilleistungen im Pflegeprozess zu individualisieren, sodass der Technologieeinsatz letztlich das Potenzial hat, bedarfsgerechter und individueller zu pflegen (vgl. Schneider et  al. 2017, S. 217–219). ( 2) Hülsken-Giesler (2010, S. 331) sieht als zentrales Motiv, Pflegetechnologien in den Pflegealltag zu integrieren neben der demografischen Entwicklung und der damit verbundenen Herausforderungen, v. a. den erhöhten Bedarf von Steuerungsdaten für die Versorgung. Sensorgestützte Monitoringsysteme können während der Pflegearbeit Daten erfassen, die sowohl die Quantität als auch die Qualität der zu verarbeitenden Daten in der Informationssammlungsphase erhöhen. Denkbar sind bspw. Aktivitätsund Bewegungsprofile, mit denen über die Zeit hinweg ein Lernen über den Versorgungszustand des Gepflegten ermöglicht wird. Diese Daten ergänzen die unmittelbar durch die Pflegekraft gewonnenen Daten. Diese verbesserte Informationsgrundlage erhöht letztlich das Potenzial der zur erbringenden Pflegeleistung. Die systematische Auswertung der im Pflegeprozess gewonnenen Daten erleichtert die Evaluation der Pflegearbeit und senkt die Informationsnutzungskosten. Auch im Rahmen der Pflegeplanung und Evaluation kann der Einsatz von Technologien letztlich dazu beitragen, die Pflege eines Bewohners bedarfsgerechter und individueller zu gestalten. Erweitert man die Perspektive über die Versorgung eines einzelnen Patienten hinweg, können sensorgestützte Systeme im Rahmen von Data-Mining-Strategien auf einer Meta-­ Ebene einen Beitrag zur Erforschung eines effektiven, evidenzbasierten Pflegeprozesses im Sinne einer Output- und Outcome-Forschung leisten und bspw. Pflegestandards voranbringen (vgl. grundsätzlich Groves et al. 2013, S. 6–8; Schneider et al. 2017, S. 219–220).

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32.3.3 Einfluss von Pflege 4.0 auf das Berufsbild und die Organisation der Pflege Das Substitutionspotenzial der komplexen und feinmotorischen auf einem hohen Grad sozialer Intelligenz beruhenden Pflegearbeit wird als gering eingeschätzt (Merda et  al. 2017, S. 99). Vielmehr wird sich eine Art komplementäre Beziehung zwischen Technik, Pflegendem und Gepflegtem entwickeln, die den Pflegeprozess unterstützt (vgl. Bräutigam et al. 2017, S. 38). Mit der Einführung neuer Technologien werden sowohl im In­ ventions- als auch im Innovationsprozess neue Kompetenzen seitens der Pflegekräfte verlangt, aus denen neue Aufgabenfelder und Berufsbilder entstehen werden. Diese Entwicklung kann zu einer gleichzeitigen Professionalisierung und Deprofessionalisierung führen. Einerseits werden zukünftig verstärkt Pflegekräfte benötigt, die den Umgang mit neuen Technologien beherrschen (vgl. hierzu bspw. Fachinger und Mähs 2019, S. 122) sowie die dazugehörigen Veränderungsprozesse (z. B. personelle, rechtliche und ethische Kompetenzen) mitgestalten können. Im Zentrum von Pflege 4.0 und der damit einhergehenden möglichen Dezentralisierung von Entscheidungen, steht letztlich die Frage nach dem Umgang mit Verantwortung im Pflegeprozess (vgl. hierzu grundlegend Tewes 2014). Die Beantwortung dieser Frage wird neue Modelle der Arbeitsteilung nach sich ziehen, die andererseits auch mit einer Deprofessionalisierung aus Sicht der professionellen Pflegekräfte einhergehen kann. Denkbar ist bspw. eine stärkere Trennung in planende und durchführende Pflegekräfte, wie sie bspw. in Formen des Primary Nursing angedacht ist und die aktuelle Diskussion um Vorbehaltsaufgaben in der Pflege aufgreifen würde. Sowohl für die planende Pflegekraft als auch für die durchführende Pflegekraft könnte der Einsatz von körpernahen Sensoren dazu führen, dass auf Berührung und körperliche Präsenz aufbauende Pflegearbeit abnimmt und stärker „überwachende“ Aufgaben zunehmen. Der Einsatz von neuen Technologien verändert Arbeits- und Kommunikationsprozesse in der Pflege tief greifend. Die Folge ist, dass sich Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie die dazugehörigen Kompetenzprofile verändern. Es kann sein, dass Pflegekräfte in ihrem beruflichen Selbstverständnis berührt werden (vgl. Hülsken-Giesler 2010, S. 333). Neue Bildungsbedarfe im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung, die sich aus dem Einsatz von Technologien in der Pflege ergeben, müssen erkannt und benannt werden.

32.4 Pflege 4.0 am Beispiel von moio.care Die allgemeine Darstellung der Veränderung der Interaktionsarbeit in der Pflege durch den Einsatz von Technologien wird im Folgenden anhand eines Beispiels aus dem Bereich der Sensorik veranschaulicht.

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32.4.1 moio.care: das intelligente Pflegepflaster Das moio.care-System besteht aus einem dünnen, weichen, flexiblen Sensormodul, das mithilfe spezieller Pflaster von Pflegebedürftigen in der unteren Rückenlordose getragen wird. Durch die besondere Form wird es kaum als störend wahrgenommen, sodass gerade Menschen mit Demenz der Impuls fehlt, es zu entfernen. Die Position am Körperstamm ermöglicht es der integrierten Bewegungssensorik, sehr verlässliche Daten zu erfassen und zu interpretieren. Bluetooth, GPS und Mobilfunktechnologie lassen den höchst mobilen Einsatz in allen Versorgungsettings zu. Die aktive Tragekontrolle über kapazitive Sensoren kontrolliert den Körperkontakt. Darüber hinaus stellt das System sicher, dass es rund um die Uhr vom Gepflegten getragen wird und validiert die Sensorinformation, sodass bspw. ein Sturz vom Herunterfallen des Sensors unterschieden werden kann. Für jeden Gepflegten sind zwei Sensormodule vorgesehen, sodass 24/7 ein Sensor am Körper getragen werden kann, während der Akku des anderen auf dem Ladegerät geladen wird. Die Zuverlässigkeit der generierten Informationen in den Kategorien Inhalt, Ort und Zeit ist das entscheidende Kriterium, um wirkliche Entlastungseffekte erzielen zu können. Nur wenn gewährleistet werden kann, dass die unterstützenden Funktionen lückenlos bereitgestellt werden, besteht das Potenzial, relevante physische und psychische Effekte zu erzielen. Die Auswertungsintelligenz liegt beim moio.care-System auf dem Sensormodul. Für jeden Gepflegten wird ein individuelles Profil erstellt, in dem die Funktionalitäten des moio.care-Systems einzeln, entsprechend der Risikobewertung im Pflegeprozess aktiviert und konfiguriert werden können. Diese Einstellungen werden auf den Sensor gespielt, wonach dieser nur relevante Sensorinformationen an die moio.cloud überträgt. Von dort können Informationen an verschiedene Benutzerschnittstellen wie die moio.app oder an Drittsysteme wie die digitale Pflegedokumentation, KIS-Systeme oder Rufanlagen übergeben werden.

32.4.2 moio.care: der Weg zur anlassinduzierten Pflege Das moio.care-System generiert Informationen, die für die Pflegedokumentation von Relevanz sind. Über die technische Integration können diese objektiv gemessenen Werte automatisch und ohne manuellen Mehraufwand in die Dokumentation übertragen werden und dort Informationsqualität wie -gehalt erhöhen. Gleichzeitig kann das moio.care-­ System konkreten Handlungsbedarf erkennen und Pflegende in Kenntnis setzen. Am Beispiel der Lagerungsüberwachung und des Lagerungsalarms soll dieser Mechanismus exemplarisch erklärt werden: Bei einem Pflegeheimbewohner wird im Zuge der Risikoanalyse die Gefahr eines Dekubitus festgestellt. Als Maßnahme zur Prophylaxe sind in der Nacht alle 180 min Umlagerungen vorzunehmen. Diese Lagerungen werden von der Nachtschicht nach festen Zeitroutinen

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durchgeführt. Dies ist zielführend, bedeutet aber einerseits Pflegeaufwand und andererseits wird bei jeder Maßnahme der Schlaf des Heimbewohners empfindlich gestört. Als alternative Maßnahme wird nun das moio.care-System eingesetzt. Der Lagerungsalarm wird für diesen Heimbewohner auf 180 min eingestellt. Das moio.care-System detektiert während des Schlafens die Bewegungen des Bewohners und identifiziert sie als ausreichende Lagerungsbewegung, wenn > 30° Achsenveränderung stattfinden. Tritt ein solches Ereignis ein, wird es mit Angabe vor Richtung und Gradzahl automatisch übermittelt und in das Lagerungsprotokoll der digitalen Pflegedokumentation geschrieben. Der Lagerungsalarm wird ausgelöst, sobald das 180 Minutenintervall ohne ausreichende Bewegung verstrichen ist. Für den Pflegeprozess hat der Einsatz des moio.care-Systems mehrere Implikationen: Zum einen wird ein sehr detailliertes, objektiv gemessenes Bewegungsprofil für alle längeren Liegephasen generiert, sodass für die Risikobewertung eine wesentlich bessere Entscheidungsgrundlage vorhanden ist. Darüber hinaus kann die Pflegekraft unnötige Umlagerungen vermeiden und damit die physische Belastung, v. a. während der Nachtschicht reduzieren. Gleichzeitig wird die Pflegequalität erhöht, da der Bewohner in seinem Schlaf nicht unnötig gestört wird, solange er ausreichend Eigenbewegungen zeigt. Er erhält aber genau zum richtigen Zeitpunkt – anlassinduziert – die Pflegeleistung, wenn das Intervall bewegungslos verstrichen ist.

32.4.3 Innovationsbarrieren und Implementierungsvoraussetzungen am Beispiel moio.care Das moio.care-System verändert Pflegeroutinen auf der Mikroebene, die bspw. veränderte Modelle der Arbeitsteilung auf Unternehmensebene (Mesoebene) nach sich ziehen. Auf der Makroebene agiert moio.care in dem hoch regulierten Pflegemarkt, in welchem disruptive Innovationen besonders schwierig sind, da die beteiligten Akteure nicht frei nach ihren Präferenzen agieren, sondern sich stets mit regulierten Anreizen aller beteiligten Stakeholder auseinandersetzen (Makroebene) müssen. Es lassen sich deshalb auf allen drei Ebenen Innovationsbarrieren und Implementierungsvoraussetzungen identifizieren. Innovationsbarrieren: • Markteintritt durch Medical Device Directive (MDD) und Medical Device Regulation (MDR) erschwert, deutliche Mehrkosten bei Entwicklung, kein „Reifen beim Kunden möglich“. • Langer Prozess für die Aufnahme in den ersten Gesundheitsmarkt. Innovationen bleiben lange im Bereich des Selbstzahlermarktes. • Mehrkosten durch Anschaffung ohne direkte Kapitalrentabilität (ROI) durch „Einsparungen“. Sparpotenziale nur indirekt bspw. durch Entlastungseffekte (weniger Krankheit, weniger Fluktuation), weniger Dekubiti oder Stürze oder niedrigeren Suchkosten von Pflegekräften.

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• „Akzeptanz“ der automatisch generierten Information durch die Überwachungsorgane (MDK, Heimaufsicht etc.). • Beschränkte Einsatzmöglichkeiten für Cloudlösungen (in bayerischen Krankenhäusern bspw. untersagt). • Unterschiedliche Rechtsprechung der Vormundschaftsgerichte bspw. zum Einsatz von Ortungstechnologien (Grauzone). Implementierungsvoraussetzungen: • Technische Infrastruktur: WLAN, Smartphone, Tablets, digitale Dokumentation. Ein Mindestmaß an EDV muss vorhanden sein, um Digitalisierung möglich zu machen. • Interoperabilität zur Reduktion von Pfadabhängigkeiten. Die verschiedenen Systeme müssen Stand-Alone, aber v. a. miteinander funktionieren. • Pflegeprozess und Pflegeorganisationsform (Funktionspflege, Bereichspflege, Primary Nursing) müssen unter Berücksichtigung der Spezifika von ambulanten und stationären Settings angepasst werden. • Schulungen für die Nutzer sind zwingende Bedingung, weniger für den korrekten Umgang mit dem Produkt als vielmehr, um die Einbindung in den Arbeitsalltag zu gewährleisten. Es erscheint daher zielführender, im Sinne eines evolutionären Vorgehens die bestehenden Kernprozesse der Pflege zu verstehen, technologische Innovationen partizipativ zu entwickeln und die Pflege bei der Implementierung, bspw. zur Herstellerschulungen und Support, eng zu begleiten.

32.5 Schlussbetrachtung Innovationen in der Pflege bieten große Chancen für eine Steigerung der Effektivität und Effizienz der Leistungserstellung. Dennoch werden technische Innovationen in den pflegerischen Alltag bislang nur punktuell integriert. Die Ursachen hierfür liegen in einer Vielzahl von Einflussfaktoren auf Makro-, Meso- und Mikroebene. Neben bspw. komplexen Vergütungs- und Finanzierungsregelungen und hohen Qualitäts- und Evaluationsanforderungen verändern Technologien, die in der Pflege eingesetzt werden, die Arbeitsabläufe, Kompetenzregelungen und ggf. sogar Berufsbilder und müssen deshalb als soziotechnische Innovationen verstanden werden. Wenn in Zukunft von Pflegenden gesprochen wird, werden Berufsbilder mit unterschiedlichen Qualifikationsstufen und Arbeitsinhalten gemeint sein. Durch den Einsatz moderner Technologien in der Pflege wird eine weitere Spezialisierung des Berufsbildes forciert. Der Einsatz körpernaher Sensoren, wie das moio.care-System, verändert den Pflegeprozess. Pflegende können einerseits von nichtbedarfsgerechten Pflegeroutinen absehen und die gewonnenen zeitlichen Ressourcen in andere Teilbereiche der Fürsorgearbeit

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i­nvestieren. Die Pflegekraft hat dadurch die Möglichkeit, stärker bedarfs- und weniger routineorientiert zu handeln. Andererseits ermöglichen die zusätzlich durch die Sensorik gewonnen Daten eine verbesserte Pflegeplanung und -evaluation auf der Grundlage einer erweiterten Informationsbasis. In der Literatur gibt es einen Konsens darüber, dass Technologien die Pflegearbeit verändern werden, unklar ist allerdings, an welchen Stellen und in welchem Ausmaß. Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland ist dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in der ethische, rechtliche und soziale Fragestellungen besondere Berücksichtigung finden. Insgesamt besteht weiterhin enormer Forschungs- und Gestaltungsbedarf bis die Potenziale soziotechnischer Innovationen in der Pflege umfassend genutzt werden können.

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Prof. Dr. Michael Schneider  studierte nach abgeschlossener Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth und der Universitat Politècnica de València. Er promovierte bei Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Oberender zum Thema „Wertschöpfungsorientierte Arbeitsteilung im Krankenhaus“. Nach Abschluss seines Studiums war er am Institut für angewandte Gesundheitsökonomie in Bayreuth als Geschäfts- und Studienleitung tätig, bevor er mehrere Jahre in der strategischen Unternehmensplanung eines freigemeinnützigen Krankenhausverbundes arbeitete. Von 2013 bis 2019 war er Lehrbeauftragter an der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth und Mitarbeiter am Forschungsinstitut IDC. Seit August 2019 ist er Professor für Pflegewirtschaft und Pflegeinnovation an der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth und Mitarbeiter im Forschungsprojekt Pflegepraxiszentrum Nürnberg. Jürgen Besser  hat Abschlüsse in Sportwissenschaften, Gerontologie und Healthcaremanagement. Seit 2010 war er Mitarbeiter am Forschungsinstitut IDC der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth und betreute Projekte im Themenbereich „Technische Assistenzsysteme für Menschen im Alter“. Der Fokus seiner Arbeit lag hierbei stets auf der Nutzereinbindung und der Erstellung von Geschäftsmodellen. Seit 2014 leitete er die SimA(Selbstständig im Alter)-Geschäftsstelle der Diakonie Neuendettelsau. Seit 2017 ist er Gründer und Geschäftsführer der MOIO GmbH. Prof. Dr. Silke Geithner  studierte Wirtschaftspädagogik an der TU Chemnitz und war anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Professuren Personal und Führung der TU Chem-

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nitz sowie BWL, insbesondere Organisation, der TU Dresden (dort 2012 Promotion zum Wandel von Arbeit und Lernen) sowie als Professorin für Personalmanagement an der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth tätig. Seit 2018 ist sie Professorin für Führung und Organisation in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden (ehs) und zugleich Geschäftsführerin des Zentrums für Forschung, Weiterbildung und Beratung der ehs Dresden. Ihre Forschungsthemen umfassen die Veränderungen von Arbeit, neue Arbeitsformen und die Konsequenzen für das Personal- und Organisationsmanagement, die demografische Entwicklung und ihre Folgen für Organisationen, individuelles und kollektives Lernen im Prozess der Arbeit, Macht und Mikropolitik in Veränderungsprozessen sowie Konzepte des metaphorischen, modellbasierten Lernens und ernsthaften Spielens, wie z. B. LEGO® Serious Play®.

Eventisierte Zwischenzeiten Technologien im pflege- und betreuungsfreien Alltag von Personen mit Demenz

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Thomas Beer, Julian Hirt und Helma M. Bleses

Inhaltsverzeichnis 33.1  E  inleitung  33.2  Wenn nichts passiert: betreuungsfreie Zeiten von Personen mit Demenz  33.2.1  Systematische Literaturrecherche  33.2.2  Ergebnisse  33.3  Technisierung der Lebenswelt von Personen mit Demenz  33.3.1  Eventisierende Technologien  33.3.2  Betreuungsfreie Situationen und ihre ethischen Dimensionen  33.4  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag setzt sich mit den betreuungs-, beschäftigungs-, kontakt-, personen- und begegnungsfreien Zeiträumen im institutionalisierten Pflegesetting auseinander. Diese Zeiträume der Inaktivität erleben Personen mit Demenz oft als langweilig. Zudem scheinen solche Zeiten das Phänome der gemeinsamen Einsamkeit zu fördern. Es gilt daher zu prüfen und zu diskutieren, ob situationserkennende und impulsgebende ­Technologien ein Innovationspotenzial bzw. einen eventisierenden Charakter aufweisen, der zur Erweiterung des kommunikativen Austauschs bzw. der sozialen Interaktion beiträgt und T. Beer (*) · J. Hirt FHS St.Gallen, St.Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] H. M. Bleses Hochschule Fulda – University of Applied Sciences, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_33

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die Bewältigung des pflege- und betreuungsfreien Alltags von Personen mit Demenz unterstützt. Damit verbunden ist auch der gesellschaftliche und ethische Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen der Technisierung von Pflege- und Lebenswelten.

33.1 Einleitung Das Thema Demenz nimmt seit mehreren Jahren einen enormen Stellenwert in der politischen, gesellschaftlichen und (pflege-)wissenschaftlichen Diskussion ein. Auch der Aspekt der Technisierung und Digitalisierung von Lebens- und Pflegewelten von und bei Personen mit Demenz und ihren formellen bzw. informellen Pflegenden gelangt zunehmend in den Fokus der Forschung und der Öffentlichkeit (Alzheimer Disease International 2018; BMFSFJ und BMG 2018). Gleichzeitig ist jedoch weiterhin eine Marginalisierung des Demenzphänomens auf verschiedenen Ebenen zu erkennen. Die Pathologisierung von Personen mit Demenz als „Demenzkranke“ führt dazu, dass sie zu Randakteuren werden. Denn: Mit, trotz und wegen ihres unterschiedlich starken Verlustes an kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten werden sie immer weniger in das gesellschaftliche Leben im Sinne einer sozialen Teilhabe eingebunden (Beer et  al. 2015). Ihre Betreuung erfolgt zunehmend in einem „sozialen Schutzbereich“ (Schockenhoff und Wetzstein 2005, S. 263), beispielsweise in einer familiären, dyadischen Pflegeabhängigkeit oder in einer Pflegeeinrichtung. Durch diesen sozialen, restriktiv wirkenden Schutzbereich, der überwiegend aus einer fürsorglichen Motivation resultiert, werden Personen mit Demenz zu ortsfixierten, immobilen und somit isolierten Randakteuren (vgl. auch Zegelin 2010; Bourret et al. 2002). Sie geraten durch eine inadäquate kognitive, emotionale sowie sensorische Stimulation in eine Abwärtsspirale, die sich negativ auf den Demenzverlauf, die Entwicklung herausfordernder Verhaltensweisen, die Gestaltung der Beziehungsarbeit mit ihrem Umfeld und ihrer Umwelt, vor allem aber auf die physische, kognitive und emotionale Mobilität auswirkt (Scherder et al. 2010). Denn Personen mit Demenz werden – geradezu konzeptionell begründet und somit gesellschaftlich legitimiert – isoliert und immobilisiert (Striffler 2015; Cohen-Mansfield et al. 2012). Die damit verbundene „Produktion“ bzw. Potenzierung von Pflegebedürftigkeit bezeichnet Gronemeyer (2013, S. 21) als „Caregenese“. Das Ergebnis einer aktuellen wissenschaftlichen Übersichtsarbeit lässt verstärkt annehmen, dass ein Zusammenhang zwischen der subjektiv empfundenen Einsamkeit und dem Risiko einer Demenzerkrankung besteht (Lara et  al. 2019). Es ist demnach davon auszugehen, dass das Gefühl der Einsamkeit auch die Progression der Demenz verstärkt. Personen mit Demenz leiden unter ihrer Einsamkeit und ihrer Langeweile. Hierzu liegen zahlreiche empirische Hinweise vor, die aufzeigen, dass bei Personen mit Demenz in in­ stitutionellen Pflegesettings lange Perioden von Langeweile, Inaktivität und damit verbundene Phasen der Einsamkeit bestehen (Christov 2016; Striffler 2015; den Ouden et  al. 2015; El Haj et al. 2016; Theurer et al. 2015; Cohen-Mansfield et al. 2015; Nyqvist et al.

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2013; Moyle et  al. 2011; Harper Ice 2002). Ferner halten Buettner und Fitzsimmons (2003) in ihrer explorativen Forschung fest, dass Aktivierungsangebote in stationären Pflegesettings nur reduziert stattfinden. Wood et al. (2009) beobachteten, dass Personen mit Demenz im Durchschnitt 5 Tagesstunden verschlafen oder komplett inaktiv sind. Diese institutionalisierte Inaktivität bestätigen auch van Alphen et al. (2016) in ihrer niederländischen Studie zu körperlichen Aktivitäten in der institutionalisierten Langzeitpflege. Personen mit Demenz werden in diesen institutionalisierten und isolierten Schutzzonen zusätzlich mit betreuungs-, beschäftigungs-, kontakt-, personen- und begegnungsfreien Zeiträumen konfrontiert, in denen (vermeintlich) nichts passiert. Es stellt sich die grundlegende Goffmansche Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1980, S. 16). Somit gilt es zu erkunden, ob diese Räume als zeitlich und sozial transzendierende Ausdehnung sinnhaft eingrenzbarer Handlungszeiträume gelten. Entsprechen sie einer (sozialen) Situation oder fungieren sie als sinnfreie Zeiträume, deren Nichtsinn destruktiv auf das Wohlbefinden und die Pflegebedürftigkeit wirkt? Im Rahmen eines interpretativen Forschungsdesigns ist es das Ziel, die Situationsrahmungen und die damit einhergehenden Verhaltens- bzw. Handlungsweisen von Personen mit Demenz zu erschließen. Es gilt zu prüfen, ob sich Phänomene des gemeinsamen Langeweilens, des Schweigens und der Einsamkeit im institutionellen Pflegesetting durch die Verknappung personeller Ressourcen im formellen und informellen Pflegewesen verstärken. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich das derzeitige politische und gesellschaftliche Sorgeverständnis im Sinne einer Care-Revolution (Winker 2015) verändert und sich somit das pflegerische Humanvermögen noch weiter reduzieren wird. Somit ist auch nicht zu erwarten, dass ein bisher nicht identifizierter bzw. „abgedeckter“ Betreuungs- und Unterstützungsbedarf eine humane Kompensation erfährt. Möglicherweise könnten bestehende oder innovative und assoziative Technologien zu einer inszenierten Eventisierung und somit zur Vergesellschaftung von isolierten Lebenssituationen von Personen mit Demenz beitragen. Dieser Beitrag möchte daher der Frage nachgehen, ob eine „eventisierende Technologie“ ein Innovationspotenzial für den pflegeund betreuungsfreien Alltag von Personen mit Demenz offenbaren könnte.

33.2 W  enn nichts passiert: betreuungsfreie Zeiten von Personen mit Demenz Hinsichtlich des aktuellen Forschungs- und Themenstands zu betreuungs-, beschäftigungs-, kontakt-, personen- und begegnungsfreien Zeiträumen von Personen mit Demenz ist ein übersichtlicher Status zu konstatieren. Die hier dargestellten Ergebnisse basieren auf einer Literaturarbeit, die sich mit der konzeptionellen Erkundung der betreuungsfreien Zeiten von Personen mit Demenz auseinandersetzt. Folgende erste Fragen standen im Fokus der initiierenden Recherche:

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Fragen

Was sind und was kennzeichnet betreuungsfreie Zeiten von Personen mit Demenz? Was passiert in betreuungsfreien Zeiten von Personen mit Demenz? Wie erleben Personen mit Demenz (ihre) betreuungsfreie(n) Zeiten? Wie gestalten Personen mit Demenz (ihre) betreuungsfreie(n) Zeiten? Wie verbringen Personen mit Demenz (ihre) betreuungsfreie(n) Zeiten? Wie erleben Pflegende und Betreuende betreuungsfreie Zeiten von Personen mit Demenz?

33.2.1 Systematische Literaturrecherche Im März 2019 erfolgte eine systematische Literaturrecherche in 8 deutschsprachigen und internationalen Fach- und Forschungsdatenbanken ohne Limitation des Publikationszeitraums. Hierbei waren Studien von Interesse, in denen im Langzeitpflegebereich beobachtende Forschungsmethoden zur Anwendung kamen. Neben Synonymen zu Demenz, Pflegeheim und Begriffen zur Beschreibung der Studienmethodik (Dementia Care Mapping, Beobachtung, Exploration, Ethnografie) wurden die folgenden Suchbegriffe für die Literaturrecherche verwendet: Rückzug, betreuungsfreie Zeit, Isolation, Langeweile, Monotonie, allein, Inaktivität (vollständige Dokumentation der Literaturrecherche auf Anfrage). In Datenbanken, in denen keine sehr hohe Treffermenge zu erwarten war oder die Funktionalität für eine mehrere Komponenten umfassende Suche nicht gegeben ist, wurde der Suchstring in angepasster Form mit weniger Suchkomponenten bedient oder in allen Suchfeldern eingegeben. Die Suche erfolgte in CINAHL, MEDLINE via PubMed, Web of Science Core Collection, bibnet.org, SSOAR, BASE, GeroLit, CORDIS. In Fachdatenbanken fand ergänzend eine freie Recherche via Google und Google Scholar statt, ebenso eine Ähnlichkeitssuche in PubMed sowie eine vorwärts- und rückwärtsgerichtete Suche der eingeschlossenen Studien mithilfe von Scopus.

33.2.2 Ergebnisse Um die Fragestellung zu beantworten, liessen sich im Rahmen der systematischen Literaturrecherche aus den initial 2255 gefundenen Titeln die folgenden Arbeiten identifizieren. Brooker und Duce (2000) untersuchten die Auswirkung aktivierender Interventionen für Personen mit Demenz in zwei Gruppen (Reminiszenztherapie und verschiedene Übungen bzw. Spiele) gegenüber „unstructured time“ in Tageskliniken. Hierbei waren Personen mit Demenz sich selbst überlassen. Es fanden keine geplanten Maßnahmen statt. Die Zeit war gekennzeichnet durch wenige Interaktionspunkte mit den Betreuenden. Drei Tageskliniken boten in 2 aufeinanderfolgenden Wochen alle 3 Aktivitäten an. Zu je 2 Beobachtungszeitpunkten fand eine Datenerhebung mittels Dementia Care Mapping statt. Die Ergeb-

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nisse zeigen, dass das Wohlbefinden (Dementia Care Mapping, WIB von − 5 bis + 5) in den beiden Interventionsphasen gegenüber Personen in der Gruppe der (beinahe) kontaktfreien Zeit im Mittel statistisch signifikant höher war. Die beiden Beobachtungszeitpunkte wurden dabei summiert. Gleichzeitig zeigt die deskriptive Darstellung der einzelnen WIB-­ Scores, dass der Wert + 1 am häufigsten in derjenigen Gruppe vorkam, in der Personen mit Demenz sich selbst überlassen waren. Während der beobachteten Zeitfenster ließen sich im Rahmen des Dementia Care Mappings mehrheitlich weder positive noch negative Anzeichen für Kontakt und Affekt der beobachteten Personen mit Demenz feststellen. Des Weiteren waren aus dem Studienbericht keine inhaltlichen Informationen über Phasen rekonstruierbar, in denen Personen mit Demenz sich selbst überlassen waren. (Die Qualität der Untersuchung leidet unter dem unklaren Rekrutierungsprozess der Tageskliniken, der nicht beschriebenen Reihenfolge der Interventionsphasen in den Tageskliniken, der fehlenden Ausgangserhebung im Vorfeld der Interventionen, der Auswertung derjenigen Teilnehmenden, bei denen die Datenlage nicht vollständig war und der nicht durchgeführten Nachbeobachtung für die Bestimmung der Langzeitwirkung.) Es lässt sich festhalten, dass nur begrenztes Wissen besteht hinsichtlich der Zeiträume, in denen Personen mit Demenz betreuungs-, beschäftigungs-, kontakt-, personen- und begegnungsfrei sind. Im Rahmen der systematischen Literaturrecherche fand sich eine ethnografische Studie, die sich explizit dieser Frage widmete. Die Ethnografie von Tove Harnett (2014) beschreibt sehr eindrücklich die Dynamiken, die auf die Lebenswelt von  Menschen mit Demenz im Wohnbereich eines schwedischen Pflegeheims einwirken. Ihr ethnografisches Vorgehen war davon geprägt, dass sie sich intensiv mit den Bewohnern beschäftigte, mit ihnen Ruhephasen teilte und Momente der Beschäftigung erlebte. Bei ihrem Vorhaben ging sie davon aus, dass sich Verantwortliche in  Pflegeheimen in einem Zwiespalt befinden. Einerseits möchten sie (a) möglichst vielen Personen ein gemeinsames Zuhause bieten und (b) andererseits dem Einzelnen Privatheit ermöglichen. Mit ersterem geht einher, dass organisierte Abläufe sowie festgelegte Zeiten und Prozesse erforderlich sind. Somit verläuft für den Einzelnen ein Übergang zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Die interessierende Frage für Harnett war, wie Personen mit Demenz diese Phasen zwischen organisierten Abläufen und institutionalisierten Routinen gestalten. Der Fokus lag hierbei auf kommunikativen Praktiken der Bewohner. Harnett plädiert für die Untersuchung ­sogenannter „Zwischenzeiten“, da diese aus Sicht der Personen mit Demenz den größten Anteil in deren Leben einnehmen: Zeiten, in denen Bewohner nicht mit dem Personal kommunizieren bzw. interagieren und nicht in pflegerische Interventionen bzw. routinierte Abläufe eingebunden sind. Der Wert der Untersuchung lag darin, das Alltagswissen und Alltagserleben aus Sicht von Personen mit Demenz in Pflegeheimen ergründen zu können. Harnetts heuristischen Annahmen zufolge ist davon auszugehen, dass sich Personen mit Demenz nicht nur passiv dem institutionellen Geschehen fügen, sondern dieses aktiv − und unter Verwendung kommunikativer Strategien − gestalten und in Kontakt miteinander treten. Personen mit Demenz scheinen demnach in ihren „Zwischenzeiten“ eine − intersubjektiv geteilte − Lebenswirklichkeit zu konstruieren (vgl. hierzu auch Honer 2011).

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Im Rahmen einer weiteren ethnografischen Studie widmeten sich Andersen et  al. (2019) der Beobachtung des Geschehens im Gemeinschaftsraum eines Wohnbereichs für Personen mit Demenz in Dänemark. Das Ziel war die Untersuchung der sozialen und interaktionalen Attribute des Raumes, in dem eine Person mit Demenz auf das Pflegepersonal, andere Bewohner sowie Besucher trifft. Die Analysen zeigen, dass die Person mit Demenz die Verantwortung für den Gemeinschaftsraum dem Pflegepersonal zuschreibt. Darüber hinaus wird offenkundig, dass das Ziel darin besteht, Personen mit Demenz dazu zu bewegen, möglichst ruhig sitzen zu bleiben und sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Eine Nichteingebundenheit von Personen mit Demenz manifestiert sich durchaus auch in weiteren Untersuchungen. Eine beschreibende Querschnittstudie in 5 Pflegeheimen für Personen mit Demenz in Irland resultierte in einem durchschnittlichen prozentualen Anteil nicht eingebundener Phasen von Personen mit Demenz von knapp 60 % über alle Beobachtungssequenzen hinweg. In den einzelnen 5 Pflegeheimen lag der Anteil sogar zwischen 55 und 83 % (Morgan-Brown et al. 2019). Harper Ice (2002) kommt anhand seiner jeweils 13-stündigen Beobachtung von 27 Personen mit Demenz in einem amerikanischen Pflegeheim zu dem Schluss, dass Personen mit Demenz etwa 65 % ihrer Zeit wenig oder nichts tun. Sie verbringen diese Zeit zumeist in ihrem Zimmer sitzend und alleine. Eine Untersuchung aus den Niederlanden mit 3282 Beobachtungssequenzen von 723 Personen mit Demenz in 7 Pflegeheimen kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Demnach wurden Personen mit Demenz hauptsächlich – zwischen 45 und 77 % der beobachteten Zeitanteile – schlafend, nichts tuend oder vor dem Fernseher vorgefunden (den Ouden et al. 2015). Bei zwei weiteren Untersuchungen kam Dementia Care Mapping zum Einsatz. Im Rahmen von 5-minütigen Beobachtungszeitfenstern wurde u. a. das beobachtete Verhalten von Personen mit Demenz anhand von verschiedenen Verhaltenskategorien erfasst. Smit et al. (2014) konnten bei der Beobachtung von 57 Personen mit Demenz in 10 niederländischen Pflegeheimen feststellen, dass sich die Personen in mehr als 30 % der beobachteten Zeitanteile passiv verhalten bzw. nicht aktiv eingebunden sind, ruhen, dösen oder schlafen. Tessa Perrins Beobachtung von 109 Personen mit Demenz in 9 englischen Pflegeheimen resultierte darin, dass Personen mit Demenz die Hälfte ihrer Zeit nicht aktiv eingebunden sind, die Augen geschlossen haben oder sich aus der Beobachtungsphase zurückziehen (Perrin 1997). Aus forschungsmethodischer Sicht ist es mit Herausforderungen verbunden, sich im Rahmen einer Literaturrecherche den zur Verfügung stehenden Untersuchungen anzunähern. Diese These entspringt der Erfahrung der Forschenden, dass möglicherweise relevante Ergebnisse (auch) fragmentarisch und verdeckt dargestellt werden (können), beispielsweise im Rahmen von Untersuchungen, die nicht primär das Ziel verfolgen, herauszufinden, was Personen mit Demenz nicht machen oder wobei sie nicht eingebunden sind. Dies kann eine Identifikation mit den Möglichkeiten der systematischen Evidenzsynthese erschweren.

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33.3 Technisierung der Lebenswelt von Personen mit Demenz Technische und robotische Artefakte kommen zunehmend in unserer Lebens- und Arbeitswelt zum Einsatz. Die Annahme, dass diese technischen Akteure pflegerisches Handeln unterstützen, erweitern bzw. ersetzen könn(t)en, ist jedoch nicht unumstritten (Fehling und Dassen 2017; Beer et al. 2018; Becker 2018; Baisch et al. 2018; Remmers 2018). Derzeit wird überwiegend ein kapitalistisch motivierter Technikdiskurs geführt, der die Technik für die Pflege der Zukunft bestimmt und von einem „Substitutionsmoment“ ausgeht. Die Annahme, technische und robotische Artefakte könnten pflegerisches Handeln ersetzen, ist nahezu naiv. Die professionelle Pflege gehört zu jenen Berufsfeldern, die sich eben nicht „robotisieren“ lassen. Denn die individualisierte Pflege und Sorge um fremde, andere soziale Leiber und Körper lässt sich nicht durch Algorithmen abbilden. Jede noch so banal wirkende Pflegesituation ist aufgrund ihres „Spiels“ zwischen Wahrnehmen, Beobachten, Deuten und pflegerischem (sozialen) Handeln so komplex, dass sie einmalig und (vermutlich) unprogrammierbar bleibt. Sogenannte „Pflegeroboter“ sind lediglich eine Fiktion und werden Pflegefachpersonen – ausgehend von unserem derzeitigen Pflegeund Sorgeverständnis – nicht ersetzen können (Beer et al. 2018). Vielmehr wird die Technisierung am Beispiel der Robotisierung der Pflegesituation – ob sinnvoll oder nicht – zu einer Verkomplizierung des Komplexen beitragen. Denn in der Pflegesituation ist nun ein „Dritter im Bunde“ (Pfadenhauer und Dukat 2014, S. 125), der auch (mit)handelt. Dieser „Dritte“ kann vielleicht Pflegesituationen unterstützen, mitgestalten und zur lebensweltlichen Krisenbewältigung beitragen, jedoch nur dann, wenn die Nutzenden ein sinnhaftes Innovationspotenzial im (zusätzlichen) künstlichen Artefakt bzw. Gefährten sehen. Die zukünftigen Herausforderungen bestehen mitunter darin, diese triadischen Strukturen zu erkunden und die damit einhergehenden Schnittstellen in der Mensch-Technik-(Mensch)-Interaktion zu gestalten. Dennoch: Es ist unstrittig, dass Personen – und auch Personen mit Demenz – mit technischen bzw. robotischen Artefakten kommunizieren oder interagieren und dass diese Artefakte Emotionen und Reaktionen auslösen (Rosenthal-von der Pütten et al. 2013; Moyle et al. 2013; Robinson et al. 2013; Šabanović et al. 2013). In ihrer fokussierten Pflegeethnografie beschreiben Ziegler und Bleses (2017) das Explorationsvermögen von Personen mit Demenz bei der Begegnung mit robotischen Assistenzsystemen. Nach ihrer Lesart konstruieren Personen mit Demenz ein Modell bzw. eine Idee robotischer Systeme. Personen mit Demenz scheint es zumindest zeitbzw. teilweise bewusst zu sein, dass es sich dabei um technische Artefakte handelt. Gleichzeitig fallen die Zuschreibungen, Identifikationsmuster bzw. Bezeichnungen der Systeme und der Umgang mit ihnen unterschiedlich und oftmals mehrdeutig aus. Die Systeme werden als (irritierendes) eventisierendes, unterhaltsames Moment, als nutzbringendes Instrumentarium bzw. Kommunikationsmedium sowie als Funktionsträger wahrgenommen und beschrieben.

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Von großer Bedeutung scheint dabei zu sein, ob dem jeweiligen System Reziprozitätsfähigkeit unterstellt wird − und falls ja, um welche Art von Reziprozitätsfähigkeit es sich dabei handelt (Ziegler und Bleses 2017). Hier scheint sich die These von Pfadenhauer und Dukat (2014) zu bestätigen, dass robotische Systeme für Personen mit Demenz eben „ein integrales und interpretationsbedürftiges Moment sozialen und kommunikativen Handelns“ sind. Auch die ersten Forschungen und Heuristiken zu telepräsenten Kommunikations- und Interaktionsformen zeigen auf, dass Personen mit Demenz diese Technologien nutzen und eben zur Verbesserung der sozialen Verbundenheit („social connectedness“) (Moyle et al. 2017) bzw. zu einem Präsenzerleben beitragen (Bleses und Dammert 2019). Zudem scheint insbesondere aus Sicht der hilfebedürftigen Personen mit Demenz ein Vorzug telepräsenter robotischer Interventionen auch darin zu liegen, dass diese Technik Freiheitsgrade ermöglicht und in bestimmten Situationen dazu beiträgt Komplexität zu reduzieren, indem ein eindeutigeres Situationsverstehen vorliegt (Bleses und Dammert 2019). Hinsichtlich der Bedürfnisse von Personen mit Demenz und informell Pflegenden in Bezug auf assistive Technologien liegen nun Kenntnisse vor, die im Rahmen einer aktuellen Übersichtsarbeit zusammengetragen wurden (Hirt et al. 2019). Die Ergebnisse aus 24 qualitativen und quantitativen Studien sind in 11 Themen kategorisiert, die sich 3 Bereichen zuordnen lassen: (i) benötigte Technologien, (ii) Charakteristika der benötigten Technologien sowie (iii) Informationen für den Einsatz und die Nutzung dieser Technologien. Der Einsatz von Technologien kommt aus Sicht von Personen mit Demenz und ihren Angehörigen für verschiedene Bereiche des täglichen Lebens in Frage, beispielsweise Erinnerungs- und erinnernde Technologien sowie Interaktionstechnologien, Assistenztechnologien und Technologien zur Unterstützung der sozialen Teilhabe, Nahrungsaufnahme, Mobilität und Orientierung. Weitere Felder für den möglichen Einsatz von Technologien sehen Personen mit Demenz und ihre Angehörigen im Bereich Monitoring und Sicherheit sowie in der Erkennung von körperlich und psychisch veränderten bzw. beunruhigenden Zuständen, etwa Situationen nach Sturz oder Phasen herausfordernden Verhaltens. Im Bereich der Charakteristika benötigter Technologien nannten Personen mit Demenz und ihre Angehörigen Wünsche hinsichtlich des Designs, der Anwendungsmöglichkeiten, des Individualisierungsgrades, der Funktionen sowie der finanziellen Aspekte. Eine zen­ trale Forderung der Personen mit Demenz und ihrer Angehörigen besteht darin, ­Möglichkeiten der Information, Anleitung und Beratung zu verfügbaren Technologien zu schaffen, um auf diese Weise einen (niederschwelligen) Zugang zu diesen zu ermöglichen. Nach Ansicht der Autoren ist es wünschenswert, dass sich die Entwicklung, das Design sowie die institutionelle Nutzung von assistiven Technologien an den identifizierten Bedürfnissen orientiert. Zudem wird anhand der Arbeit deutlich, dass es wichtig ist, die (sich möglicherweise verändernden) Bedürfnisse im Rahmen weiterer empirischer und literaturbasierter Forschungsarbeiten zu explorieren und zu monitorisieren.

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Konversationsgesteuerte Assistenzsysteme weisen in dieser Hinsicht möglicherweise ein Potenzial auf, denn sie vermögen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht nur bei der Bewältigung ihres Alltags zu unterstützen, sondern können auch soziale bzw. kommunikative Bedürfnisse und Erwartungen erfüllen. Systeme wie „Siri“ von „Apple“oder „Alexa“ von Amazon finden zunehmend Verbreitung und ermöglichen im Vergleich zur Nutzung von Eingabegeräten wie Keyboard und Maus eine natürliche Interaktion mit Computern. „Robin“ (Caroll et al. 2017) ist ein erstes Beispiel für die Nutzung von „Amazon Alexa“ zur Unterstützung von Personen mit Demenz. Der derzeit als konzeptueller Prototyp verfügbare „Robin“ fokussiert die Aufzeichnung aktueller Tätigkeiten sowie die spätere Abfrage („Was mache ich gewöhnlich um diese Zeit?“) und Assistenzdienste („Ich benötige Hilfe beim Kochen.“). Aufgrund noch fehlender Erfahrungswerte wissen wir derzeit jedoch sehr wenig über die Möglichkeiten konversationsgesteuerter digitaler Assistenten für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und wie diese gestaltet werden sollten (vgl. Borg et al. 2015 und Johansson et al. 2015). Aus dem Vorangestellen lässt sich jedoch ableiten, dass Personen mit Demenz neben dem natürlichsprachigen Zugang vor allem die soziale Komponente solcher Sprachassistenten schätzen. Sie versprechen sich von ihnen unter anderem Unterhaltung und Austausch.

33.3.1 Eventisierende Technologien Angemessene (zusätzliche) Stimulierungs- und Aktivitätsangebote, die sich als eventisierte Stimuli für Engagement und Freude eignen und zur Unterbrechung des eintönig und langweilig empfundenen Pflegealltags führen, erscheinen  – wie einleitend dargelegt  – eminent notwendig, damit sich Personen mit Demenz in den erlebten „Zwischenzeiten“ gegenseitig bei der Konstruktion ihrer alltäglichen Lebenswelten unterstützen und sich somit vergesellschaften, um die fragile Sozialität in der Gemeinschaft der „Dementen“ zu stabilisieren. Als Event wird hier  – in Anlehnung an den Definitionsvorschlag von Betz (2017, S. 1) – ein technisch indiziertes und inszeniertes Ereignis verstanden, welches den daran teilnehmenden Personen mit Demenz ein „verdichtetes Erlebnis verspricht“, welches lebensweltorientierte Bezüge aufgreift und den (gemeinsamen) Lebensraum nutzt. Die technische Intervention eventisiert somit Alltagssequenzen dergestalt, dass „positiv bedeutsame Alltagssituationen“ (Berendonk und Schönit, 2009 S.  4) als „zeitlich eingrenzbare Kontexte, in denen Personen mit Demenz in dem, was für sie individuell ­wesentlich ist, angesprochen werden und in denen diese Menschen Sinn erfahren“ (Berendonk und Schönit, 2009, S. 4). Diese zunächst ad personam adressierten Impulse sollen zur Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit beitragen und die Einsamkeit in der Gemeinschaft während den betreuungsfreien Zeiten „aufbrechen“. Dies setzt voraus, dass die Betreuung von Personen mit Demenz – mit oder ohne technische Unterstützung – nicht auf eine passiv konsumierende und unpersönlich adressierte (technische) Unterhaltung ausrichtet ist. Ein eventisierend wirkender Betreuungsansatz

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soll zur Förderung des Engagements beitragen, indem (auch) Personen mit Demenz aktiv in die Betreuung eingebunden werden und somit ihre soziale Identität sowie die gegenseitige Beziehungsgestaltung eine Förderung erfahren (Theurer et al. 2015). Bisher gibt es keine Erfahrung und keine (vor allem pflege-)wissenschaftliche Erkenntnis darüber, welche technischen Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote in pflegeund betreuungsfreien Zeiten für die Lebensqualität von Personen mit Demenz eventisierend und förderlich sind. Es gilt daher zu prüfen, ob eine situationserkennende Technologie eine kommunikations- bzw. interaktionsfördernde Atmosphäre konstruieren kann und somit zur lebensweltlichen Situiertheit der betreuungsfreien Pflegesituation beiträgt. Die damit einhergehende Entwicklung von (individuellen) komplexen Interventionen zur Mensch-Technik-Interaktion steht jedoch noch aus. Sie bedarf einer grundlagenorientierten und interdisziplinären Forschung, die auf ethnografische Erkenntnisse zur betreuungsfreien Pflegesituation rekurriert.

33.3.2 Betreuungsfreie Situationen und ihre ethischen Dimensionen Es ist 9:30 Uhr morgens. Im Speisesaal einer Senioreneinrichtung herrscht geschäftiges Treiben. Eine Mitarbeiterin des Reinigungsdienstes ist im Speisesaal unterwegs, eine andere Mitarbeiterin wäscht den Kühlschrank in der offen angelegten Küche aus, eine Pflegekraft läuft mit einer offensichtlich benutzten Inkontinenzeinlage in ihrer behandschuhten Hand über den Flur, um sie in den Abfall zu bringen. Der Fernsehmoderator verkündet in voller Lautstärke das aktuelle Tagesgeschehen und aus dem angrenzenden Zimmer eines Bewohners ist Udo Jürgens’ „Ich war noch niemals in New York“ zu vernehmen. Eine Bewohnerin sitzt im Rollstuhl neben dem Küchentresen und zum Fernseher gerichtet. Sie weint in Intervallen laut auf, hustet und versucht lautstark mit gepresster, weinerlicher Stimme, Worte zu formen. Aus dem Off des Kühlschranks ist in gleichen, jeweils antwortenden Intervallen die Stimme der Mitarbeiterin zu hören: „Frau D., alles gut. Al---le--s--- gut Frau D.“ Frau D. wird mit schriller Tonlage noch lauter. Aus den hinteren Räumen kommt die zuvor erwähnte Pflegekraft. Sie hat einige neue Inkontinenzeinlagen unter ihren rechten Arm geklemmt und wählt ihren Weg an der Küchenzeile vorbei, um etwas zu trinken. Für wenige Sekunden beugt sie sich zu Frau D. mit den Worten: „Frau D., alles gut. Ist ja alles gut – ja, ja, alles gut“. Dann setzt sie ihren Weg geschäftig fort. Frau D. beruhigt sich, um sich Momente später in gleicher Weise zu „äußern“. Ein anderer Bewohner, Herr H., sitzt noch immer am gleichen Ort, an dem er schon vor zwei Stunden sein Frühstück eingenommen hat und schaut dem Treiben zu. Ihm gegenüber ist Frau P. im Rollstuhl „positioniert“, ein Buch auf dem Tisch, einen Becher mit Saft daneben. Langsam aber sicher reißt sie aus dem Bildband die Seite mit der Fotografie eines Bergpanoramas in Stücke und lautiert stimmgewaltig im Halbminutentakt, um dann tonlos und mit ruhiger Hand, in Zeitlupentempo und genau beobachtend einen Becher Saft auf den Bildband zu entleeren. Sowohl die vorbeieilende Pflegekraft als auch die kühlschrankreinigende Mitarbeiterin reagieren auf die Aktivitäten der Frau P. mit einem: „Oh nein ...!“

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Derweil verändert sich der Gesichtsausdruck von Herrn H. von zunächst entspannter lächelnder zu offenbar wütender Mine mit angespannter Mundpartie und steilstehender Stirnfalte. Im Moment der Kontaktaufnahme der Pflegekraft mit Frau D. springt Herr H. auf, stößt seinen Stuhl wütend in den Raum und ruft empört: „Jo, jo, jo … Das ist mir jetzt aber zu viel. Ich lasse mich hier nicht weiter festhalten. Ich hatte immer viel zu tun … und ich lasse mich doch hier nicht so behandeln.“ Inzwischen (es ist jetzt 9:45 Uhr) räumt die Mitarbeiterin den Kühlschrank wieder ein und ruft über den Tresen und 5 Tische hinweg: „Herr H., es gibt gleich Mittagessen. Danach sehen wir weiter.“ Wutschnaubend verschwindet Herr H. in seinem Zimmer, während Frau B. gerade in den Speisesaal kommt, zu derselben Mitarbeiterin geht, auf ihren Kopf deutet und sagt: „Ich hab’ da mal eine höfliche Frage: Haben Sie einen neuen Kopf für mich? Ich kann mit dem hier nicht mehr denken“. Lachend antwortet diese, während sie noch ein Glas Marmelade in den gesäuberten Kühlschrank stellt: „Ach, Frau B., ich finde ihr Kopf passt wunderbar zu Ihnen, Sie brauchen keinen neuen.“ Frau B. lächelt resigniert, dreht sich kopfschüttelnd um, geht und sagt: „Ach Gott, sie hat mich nicht verstanden.“ Mehr als eine Stunde ist vergangen. Inzwischen hat die Reinigungskraft das auf den Fußboden tropfende Werk der Frau P. aufgewischt und die Buchseite entsorgt. Die vom Saft in Mitleidenschaft gezogene Hose hat eine hinzugerufene Mitarbeiterin mit einem Handtuch abgetrocknet und mit den ermahnenden Worten „Frau P., das dürfen Sie aber nicht machen“ eilt sie sogleich davon. (Feldnotiz 20190105).

Das Beschriebene gibt eine Alltagssituation wieder, die so oder in anderer Konstellation beobachtbar ist und wirft die Frage auf, ob Frau P., Herr H. und Frau D. auf ihre je eigene Art und Weise „gemeinsam einsam“ und „verloren im System“ sind. Faktisch passiert viel und es herrscht ein „geschäftiges Treiben“. Dennoch stellt sich die Frage, ob und wie die Personen in ihren jeweiligen Situationen die Ansprachen als persönlich erleben. Verändern nur beiläufige Ansprache das Gefühl von Gemeinsamkeit bzw. Einsamkeit? Handelt es sich um Wohlbefinden, Autonomie, Selbstbestimmung (Zerreißen des Buches, Empört-­Sein und den Raum verlassen, lautes Weinen, Versuch der Ansprache) oder haben wir es mit – in ihrem Ansatz gut gemeinten – bagatellisierenden Beschwichtigungen und Fehleinschätzung von Anliegen (beiläufige Beruhigungsrituale, Vermeidungsstrategien, Vertröstung auf einen späteren Zeitpunkt oder Verkennung der Botschaft zum Gedächtnisverlust) zu tun? Könnte und darf eventisierende Technologie hier zum Einsatz kommen und zur Förderung von Wohlbefinden, Sicherheit und Autonomie bei Personen mit Demenz beitragen? Welcher Art könnten diese Interventionen sein und welche ethischen Implikationen ergeben sich daraus? Ausgehend von der Annahme, dass generell jede Person eine sog. Baseline-­Vulnerabilität hat, müssen bei Personen mit Demenz Situationen „auf einem Kontinuum zwischen ‚totaler Vulnerabilität‘ und ‚Invulnerabilität‘“ (Resch und Aumayr 2011, S. 130) in Betracht gezogen werden. cc „Als vulnerabel sind Personen zu bezeichnen, deren Selbstbestimmtheit durch besondere Lebensumstände, ihre gesundheitliche Situation, ihr Alter, ihre kognitiven Möglich-

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keiten leicht eingeschränkt werden könnte oder bereits eingeschränkt ist. Sollte eine Einschränkung vorliegen (z. B. Kinder, Menschen mit fortgeschrittener Demenz), muss nicht nur bei dem gesetzlichen Vertreter/Betreuer eine Einwilligung in ein Projekt erlangt werden, sondern bei den Teilnehmenden selbst fortlaufend gesichert werden, dass keine Ablehnung zur Teilnahme vorhanden ist (ongoing consent).“ (Stemmer 2017, S. 372) Die besondere Herausforderung in Forschungsvorhaben mit Personen mit Demenz besteht darin, eine „belastbare“ bzw. justiziable und die Personen in ihrer Selbstbestimmung, ihrer Würde, in ihren Rechten und vor Schaden schützenden Zustimmung zu Innovationen mit technischen Systemen zu erreichen. Ziel und Voraussetzung für ethisches Denken und Handeln ist es, Informationen, Wertvorstellungen und Normen der zu involvierenden Personen zu ermitteln, einzuordnen und diese gegebenenfalls gegeneinander abzuwägen. Einen Rahmen hierfür bieten die 4 – grundsätzlich gleichwertig nebeneinanderstehenden – bioethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress (2013). Die ursprünglich in der Medizinethik verorteten Prinzipien (1) Respektierung der Autonomie, (2) Wohltun, (3) Nichtschaden und (4) Gerechtigkeit sind auf pflegeethische Problemstellungen übertragbar (Körtner 2016). Sie bilden die Grundlage für einen prinzipienorientierten Zugang zu relevanten ethischen Fragestellungen (Beauchamp und Childress 2013; Hahne 2011; Beauchamp 2005 und Großklaus-Seidel 2002) und wahren den Ermessensspielraum jener Personen, die Entscheidungen abzuwägen und zu treffen haben (siehe hierzu ausführlicher Ziegler und Bleses 2017). Im Fokus ethischer Überlegungen steht hier nicht nur die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie, in welcher Art und Weise und inwieweit es Personen mit Demenz zuzumuten ist, mit technischen Systemen konfrontiert zu werden. Ebenso zentral ist die Frage, warum diesem Personenkreis eventisierende Technik nicht unterbreitet und damit vorenthalten werden sollte bzw. darf. Andreas Kruse lenkt den Blick auf eine „Verletzlichkeits- und … Reife- oder Potenzialperspektive“ in der „Lebensphase hohes Alter“. Er schlägt vor, nicht nur „in einer anderen, sensibleren Art und Weise über die Verletzlichkeit im Alter [zu] sprechen und praxisnahe Konzepte [zu] entwickeln, damit einzelne Formen der Verletzlichkeit vermieden, verringert, überwunden oder kompensiert werden“, sondern gleichermaßen die bedeutsamen „seelisch-geistigen Potenziale im hohen Alter und deren Beitrag zum Humanvermögen (nicht: Humankapital)“ (Kruse 2017, S. VII) zu berücksichtigen. Zudem stellt er fest, dass es ein großer „ethischer Fehler“ wäre, trotz der erhöhten Verletzlichkeit im hohen Alter eben diese „seelisch-geistigen Entwicklungsprozesse (Reifeprozesse) auszuschließen“ und weist einerseits auf die Notwenigkeit von „Gelegenheitsstrukturen“ für soziale Teilhabe und andererseits auf gegenseitige „Sorgestrukturen“ (Kruse 2017, S. VI; Kruse et al. 2019, S. 252), die ihrerseits auch die Sorge von Personen im hohen Alter für andere anspricht und fördert. Bietet ein solcher Perspektivwechsel auch eine Basis für eventisierende Technologie? Technische Entwicklungen in der professionellen Pflege umfassen vorwiegend in stationä-

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ren Einrichtungen und zunehmend auch in der außerklinischen Intensivpflege (Hielscher et al. 2015) Überwachungs- und/oder Therapieapparaturen, welche die Pflegearbeit verändern, ebenso elektronische Patientendokumentationen und Ambient-Assisted-Living-­ Technologien (AAL), welche eine möglichst langfristige Versorgung im häuslichen Umfeld fördern, Sicherheit vermitteln und die Aufrechterhaltung der Lebensqualität älterer Menschen zum Ziel haben (Manzeschke et  al. 2013; Friesacher 2010; und Hülsken-­Giesler 2010). Nur am Rande wird darauf verwiesen, dass technische Systeme, beispielsweise Roboter, „Unterhaltungsfunktionen“ übernehmen können bzw. sollen (vgl. Becker 2018; Graf et al. 2004, 2012; Compagna 2011; Bahadori et al. 2003; Pollack 2005) und eventisierenden Charakter haben könnten. So war auch eine Vermittlung und Stimulation von persönlicher „Ansprache“ und emotionaler Zuwendung durch virtuelle oder körperliche Avatare lange Zeit so gut wie kein Diskussionsthema (Beer et al. 2015). Gerade hier setzen jüngste Forschungsprojekte an, die robotische (Telepräsenz-)Systeme in der Häuslichkeit von Personen mit Demenz und in stationären Pflegeinrichtungen einsetzen. Das Projekt „Telepräsenz-Roboter im häuslichen Lebens- und Pflegearrangement von Personen mit Demenz im ländlichen Raum – RoboLand“ (mit einer Laufzeit von 12/2016 bis 07/2020) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ (SILQUA-FH) gefördert. Verbundpartner sind die Hochschule Fulda (Förderkennzeichen 13FH008SA6) und die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (Förderkennzeichen 13FH006SA3). Hochschulpartner sind die Technische Universität Dortmund und die Fachhochschule St. Gallen/ Schweiz sowie 2 Praxispartner (eine Gemeinde in Nordhessen sowie ein Landkreis in Hessen). Projekte wie „RoboLand“ haben das Potenzial der eventisierenden Technologie. Ziel war und ist es, unter anderem Aussagen zur (potenziellen) Eignung derartiger Systeme für die Förderung von Wohlbefinden, Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Sicherheitsempfinden von Personen mit Demenz zu generieren und daraus (auch) Anforderungsprofile für die technische Weiterentwicklung der Robotik ableiten zu können (Ziegler und Bleses 2017). Gleichzeitig dienten und dienen personenbezogene Erhebungen und das Anlegen von personengebundenen Studienskripten dazu, Profile und Bedarfe von Personen mit Demenz zu erheben und technische Interventionen zu planen. Und dennoch: Das methodische Vorgehen der Forschergruppe – eine fokussierte Ethnografie – ist geradezu prädestiniert dafür, vor der Herausforderung der (un)möglichen „Planbarkeit des Unplanbaren“ zu stehen und auf ethische Dilemmata zu stoßen. Heuristischen Annahmen aus dem Projekt „RoboLand“ zufolge, müssen  – mehr als angenommen – neben der Person mit Demenz auch deren (professionell) pflegende (erwerbstätige) Angehörige in Überlegungen und Entscheidungen zu ethischen Fragen in zweifacher Weise eingebunden werden. Erstens als Verantwortliche  – besonders dann, wenn sie die gesetzliche Betreuung innehaben – sowie als Informations- bzw. Ratgeber, als Ansprechpartner für das Forschungsteam und als Koordinatoren. Zweitens als Nutzer von technischen Systemen und als Akteure in Interventionen. Sie selbst stehen – so die

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T. Beer et al.

Erkenntnis – als Person der ethischen Klärung zunehmend im Fokus. Auch hier spielen Fragen der Zumutbarkeit, der Belastbarkeit und der Verletzlichkeit ebenso eine Rolle wie Fragen in Bezug auf „Wachstumspotenziale“ (Kruse 2017). Gleiches gilt für professionell Pflegende und Mitarbeitende in Situationen wie sie oben dargestellt sind. Stehen sie in einem ethischen Dilemma zwischen der Aufgabenerfüllung in ihren jeweiligen Rollen (als Pflegende, als Reinigungspersonen, als Mitarbeitende mit Servicefunktion) und dem Erfordernis der menschlichen Zuwendung für bedürftige Personen? Ein Kühlschrank muss regelmäßig ausgewaschen werden, um den hygienischen Anforderungen (nach Hygieneplan) zu entsprechen. Die Zeit kann kaum geteilt werden mit der weinenden Frau D., die vermutlich Bedürfnisse nach Zuwendung hat. Es besteht wenig Spielraum für die Auseinandersetzung mit Frau B., die auf der (letztlich erfolglosen) Suche „nach Ersatz für ihren nicht mehr funktionierenden Kopf“ ist. Die Zeit kann auch nur für Momente dem Unwohlsein des Herrn H. gewidmet werden, der sich offenkundig in einer Zwangssituation des „Festgehaltenwerdens“ wähnt und dem die kurzfristige Perspektive auf das bevorstehende Mittagessen keineswegs zu helfen scheint. Und in welchem Dilemma befindet sich eine Pflegende, die auf ihrem Weg zurück zum Ausgangspunkt „rasch“ etwas trinken will (also für sich selbst sorgt und damit ihre Arbeitskraft erhält) und an einer offenbar bedürftigen Person „vorbeikommt“. Auch ihre Zeit scheint zu begrenzt zu sein, um sich dem Anliegen der Frau D. umfassend zu widmen. Allen Bewohner scheint eines gemeinsam zu sein: Sie „beschäftigen“ sich auf ihre je eigne Art und Weise (Sitzen am selben Platz bis zu einem mehr oder weniger von ihnen bestimmten Zeitpunkt; lautes Weinen, bis jemand spricht oder kommt; Zerreißen oder Begießen des Buches; Ansprache von Personen im Vertrauen auf Unterstützung). Wie könnte und sollte eventisierende Technologie hier zum Einsatz kommen und zur Teilhabe und Beschäftigung (z. B. mittels Telepräsenz aus einem Buch vorlesen, Reden über den nicht mehr funktionierenden Kopf, Zuhören etc.) sowie – wie oben angesprochen – zur Förderung von Wohlbefinden, Sicherheit und Autonomie bei Personen mit Demenz beitragen? Welcher Art könnten diese Interventionen sein und welche ethischen Implikationen ergeben sich daraus? Gäbe es hier Gelegenheit zur Potenzialentwicklung auf allen Seiten?

33.4 Schlussbetrachtung Eventisierende Technologien, die zur lebensweltlichen Situiertheit der betreuungsfreien Pflegesituationen bei Personen mit Demenz in der institutionalisierten Pflege beitragen, stellen bisher eine Fiktion dar. Es gilt daher zu prüfen, ob eine so verstandene Technologieentwicklung eine mögliche und ethisch vertretbare Möglichkeit, eine reale Fiktion, darstellt und somit gegebenenfalls Innovationspotenzial offenbart. Die Pflegewirtschaft, die Pflegeprofession und die Gesellschaft sind gefordert, dem stetig abnehmenden pflegerischen Humanvermögen entgegenzutreten und zukunftsweisende Lösungsansätze zu dis-

33  Eventisierte Zwischenzeiten

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kutieren bzw. zu entwickeln. Es gilt pflegewissenschaftlich fundierte Aussagen über Anforderungen, Einsatzmöglichkeiten und Nutzen einer eventisierenden Technologie zu treffen, die für die Weiterentwicklung der rehabilitativen, kommunikativen, partizipativen und sozial unterstützenden Technologien bei Personen mit Demenz von erheblicher Bedeutung sein dürften. Die zentralen Fragen sind dabei, welche besonderen Schwerpunkte bei der Entwicklung der technischen Systeme aus pflegewissenschaftlicher Sicht relevant, erfolgversprechend und aus technischer Sicht realisierbar sind. Zudem sind Erkenntnisse bezüglich der Ausgestaltung dieser technisch induzierten komplexen Interventionen notwendig. Mittel- und langfristig sollte es möglich sein, auf dieser Grundlage technische Artefakte bzw. Anwendungen zu entwickeln, die für den gezielten Einsatz in häuslichen und stationär-pflegerischen Settings zur Gestaltung betreuungsfreier Pflegesituationen geeignet erscheinen.

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33  Eventisierte Zwischenzeiten

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Thomas Beer  Dr., rer. medic, ist examinierter Krankenpfleger, Pflege- und Gesundheitswissenschaftler und Professor für Pflegewissenschaft an der FHS St. Gallen. Sein Lehr und Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Dementia Care. Julian Hirt,  MSc, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachstelle Demenz am Institut für Angewandte Pflegewissenschaft der FHS St. Gallen, Schweiz, und Doktorand am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der medizinischen Fakultät an der Martin-­Luther-­Universität Halle-Wittenberg. Im Rahmen seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der Frage, wie assistive Technologien in der Begleitung, Betreuung und Pflege von Personen mit Demenz eingesetzt werden könnten. Er ist Co-Autor eines Manuals zur Literaturrecherche in Fachdatenbanken (RefHunter) und verfügt über Expertise zur Anfertigung systematischer Literaturrecherchen. Helma M.  Bleses,  Dr. rer. cur., ist Professorin für Pflegewissenschaft und Klinische Pflege am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda, University of Applied Sciences. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten Q ­ ualitätsentwicklung, Organisations-/ Personalentwicklung, Personorientierung, Netzwerkforschung sowie im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion und Robotereinsatzes in der Pflege von Personen mit Demenz.

Einführung humanoider Roboter in eine Demenz-WG – Herangehensweise an eine technische Innovation

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Heiko Naß, Jens Lüssem und Hannes Eilers

Inhaltsverzeichnis 34.1  34.2  34.3  34.4  34.5 

Einführung   artizipative Entwicklung  P Grundaussagen über den Menschen  Technischer Imperativ  Datenschutz und Transparenz der Algorithmen  34.5.1  Datenschutz-Grundverordnung  34.5.2  Haftungsfragen  34.6  Kommunikation und Emotionalität – Wahrhaftigkeit in der Interaktion  34.7  Aufgabe für den ethischen Diskurs  34.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Wir geben in diesem Kapitel einen Erfahrungsbericht seitens der Diakonie Schleswig-­ Holstein und der Fachhochschule Kiel über die Einführung eines humanoiden Roboters in einer Demenz-Wohngemeinschaft in Kiel. Wir schildern die Herangehensweise, berichten über Leitlinien des gemeinsam beschrittenen Weges, über Schwierigkeiten und gefundene Lösungen. Wir stellen dar, auf welche Fragen wir auf dem bereits ­gegangenen

H. Naß (*) Diakonisches Werk Schleswig-Holstein, Rendsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Lüssem · H. Eilers Fachhochschule Kiel, Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_34

653

654

H. Naß et al.

Weg bislang noch keine Antworten finden konnten und geben einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungslinien.

34.1 Einführung Der humanoide Roboter Emma des Typs Pepper ist seit gut 2 ½ Jahren regelmäßiger Gast im Kieler Gustav-Schatz-Hof in der dortigen Demenz-Wohngemeinschaft der Diakonie Altholstein. Im Laufe dieser Zeit hat sich das Anwendungsspektrum von Emma kontinuierlich erweitert. Am Anfang ist der Roboter tatsächlich nur ein wenig mehr als eine selbstfahrende Musicbox gewesen. Heute erkennt Emma die Bewohner wieder, begrüßt sie mit Namen, fragt sie persönlich, ob sie mittanzen oder ein Memory-Spiel mit ihr spielen möchten. Dann hat sich Emma gemerkt, auf welche Bilder – meistens Kiel-Bilder – die Bewohner ganz besonders reagiert haben und spricht sie erneut auf die Geschichte zu diesen Bildern an. Im Laufe der Monate konnten so für den Einsatz von angewandter Robotik in der Altenpflege mittlerweile ganz realistische Szenarien mit klarer therapeutischer Zielstellung entwickelt werden. Zum Beispiel leistet Emma im Rahmen des Memory-Spiels einen Beitrag zur kognitiven Aktivierung der Bewohner und durch das Gedächtnistraining einen Beitrag zum Erhalt der Alltagsfähigkeiten. Die Aufforderungen zum Mitsingen oder Mittanzen sind evidenzbasierten Trainingsprogrammen entnommen, fördern die koordinativen Fähigkeiten sowie die Ausdauer der Betroffenen und leisten einen Beitrag zur physischen und psychosozialen Aktivierung. Der Roboter ist in der Rolle des Assistenten des Betreuungspersonals. Hierbei bietet er dem Betreuer auch Hintergrundinformationen zu den Trainingsinhalten und Bewohnern an. Aufbauend auf diesen bereits sehr realistischen Szenarien in der Altenpflege lässt sich nun eine Reihe von weiteren ebenfalls sehr realen Szenarien entwickeln, in denen die Anwendung eines Roboters infrage kommt. Infolge des demografischen Wandels wächst der zusätzliche Bedarf in der Pflegeerbringung kontinuierlich. Im Blick darauf, dass der Pool an potenziellen Beschäftigten aufgrund der schrumpfenden nachwachsenden Gesamtkohorte gleichzeitig zurückgeht, haben neue technikbasierte Lösungen im Bereich der Pflege nicht nur das Potenzial ­einer Entlastung im Arbeitsalltag, sondern können auch die Attraktivität des Berufsbildes steigern und so einen Baustein zur Bewältigung eines zunehmenden Fachkräftemangels liefern. Es entspricht dem überwiegenden Wunsch über die Gestaltung eines guten Lebens im Alter, solange wie möglich in eigener Selbstständigkeit verbleiben zu können und so wenig wie möglich dabei den eigenen Familienmitgliedern oder anderen Nächsten zur Last fallen zu wollen. Wenn durch neue technische Errungenschaften Leid minimiert und die Lebensqualität durch z.  B. einen längeren Erhalt der Selbstständigkeit erhöht werden kann, sind nach ethisch-utilitaristischen Gesichtspunkten solche Systeme zu bejahen (vgl. Remmers 2016, S. 8; BMVI 2017, S. 15). Aus diakonischer Sicht ist diese Option sowohl

34  Einführung humanoider Roboter in eine Demenz-WG – Herangehensweise an eine … 655

als individuelle wie gesellschaftliche Perspektive für ein gutes Leben im Alter ohne Einschränkung zu unterstreichen.

34.2 Partizipative Entwicklung Die derzeitige Kooperation zwischen der Fachhochschule Kiel und der Diakonie und auch die weiteren Schritte basieren auf fundamentalen Voraussetzungen, die für beide Projektpartner grundlegend sind. Diese Voraussetzungen sind: • die Einbeziehung aller relevanten Akteure von Anbeginn an, • die Beachtung möglicher Widerstände und Ambiguitäten • die Reflexion ethischer Werte. Die Fachhochschule ist von Anfang an an den Praxisort gegangen (vgl. Müller et al. 2014) und hat auf Vorstadien in der Laborentwicklung verzichtet. Dabei war der Dialog mit den Pflege- und Assistenzkräften zu suchen und u. a. auf die sorgenvolle Frage von Mitarbeitenden zu reagieren, ob der Roboter die Arbeit ersetzten sollte und könnte. Daneben hatten Mitarbeitenden auch immer die Qualität der Pflegearbeit vor Augen und beurteilten die Arbeitsschritte unter dem Gesichtspunkt einer Qualitätssicherung bzw. Qualitätsverbesserung. Genauso wurde das Gespräch mit den Angehörigen und Betreuungskräften insbesondere in Bezug auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte und des Datenschutzes gesucht und die Bewohner langsam an die neue Technik gewöhnt. Die Entwicklung von situationsangemessenen Cases muss vom Ansatz her die Erwartungen und Befürchtungen aller Akteure einer Pflegesituation einbeziehen. Da noch keine Normierung für die Anwendung von Robotik in der Altenpflege vorliegt, sind parallel zur Entwicklung und Erprobung der Szenarien Diskurse über die ethischen Grundlagen für einen vertrauenswürdigenden Einsatz zu initiieren. In dem Projekt wurden daher mehrere Techniken zur Anforderungsermittlung – eingebettet in kürzere Workshops – eingesetzt: • • • •

Brainstorming Brainstorming-Paradox Interviewtechniken Szenario-basierte Techniken

Die Workshops wurden vor Ort in der Pflegeeinrichtung i. d. R. mit den Personen durchgeführt, die später auch den Einsatz des Roboters begleiten sollten und auch haben. Aufgrund der Rahmenbedingungen vor Ort wurde hierzu eine Reihe kurzer Workshops durchgeführt. Es hat sich dann im Verlaufe des Projektes erwiesen, dass kontinuierliche Ge­spräche zum Einsatz des Roboters in der Pflegeeinrichtung nicht nur das Verständnis

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Abb. 34.1  Partizipative Entwicklung. (Quelle: Eigene Darstellung)

für Bedürfnisse und Wünsche gefördert, sondern auch geholfen haben, ein gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, Die Brainstorming-Techniken wurden verwendet, um zunächst eine größere Anzahl von Ideen zu einem möglichen Einsatz humanoider Roboter in der Pflege zu generieren. Nachdem gemeinsam einige dieser Ideen ausgesucht wurden (Kriterien: Relevanz und technische Umsetzbarkeit), wurden diese Ideen detailliert und in Form (positiver) Einsatzszenarien (siehe Abb. 34.1) dokumentiert. Um insbesondere ethische Belange sowie auch Anforderungen des Datenschutzes und der IT-Sicherheit möglichst explizit aufzunehmen, wurden die Ermittlungstechnik „Brainstorming-­Paradox“ wie auch „Szenario-basierte Techniken“ in Form negativer (verbotener) Einsatzszenarien verwendet. Bei der Verwendung von „Brainstorming-Paradox“ interessieren wir uns insbesondere für die Fähigkeiten, die ein System (hier: das intelligente robotische System) nicht haben soll. Diese Funktionen werden in Brainstorming-Sessions erarbeitet und dann gegebenenfalls in Form von Negativszenarien weiter detailliert. Von negativen Einsatzszenarien sprechen wir, wenn ein gewünschtes Ergebnis von dem System nicht erreicht wird. Hier unterscheiden wir erlaubte von verbotenen Negativszenarien. Ein erlaubtes Negativszenario wäre beispielsweise, dass der Roboter mitten in der Interaktion mit einem Bewohner aufgrund einer Fehlfunktion seiner Berührungssensoren nicht mehr auf Berührungen reagiert. Ein verbotenes Negativszenario hingegen wäre, dass der Roboter unerlaubterweise Daten aufzeichnet und diese dann unverschlüsselt über das Internet versendet. Das Explizieren dieser unerwünschten Fähigkeiten ist für die Entwicklung von großem Belang, dienen diese doch – gemeinsam mit den gewünschten Fähigkeiten des robotischen

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Systems – der Bestimmung der sogenannten Systemgrenze, deren genaue Kenntnis ein Scoping des Projektes erst ermöglicht. So gesehen stellen damit ethische Belange wie auch die Anforderungen des Datenschutzes und der IT-Sicherheit Leitlinien der Entwicklung dar und werden nicht als Entwicklungshemmnis gesehen (siehe Abb. 34.1). An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass es sich bei der Einführung des robotischen Systems um eine Innovation handelt: Zum einen um eine technische Innovation, zum anderen um eine arbeitsorganisatorische Innovation, da die Pflegekraft das robotische System in Form einer teilautonomen Assistenz einsetzen kann, um Ziele zu erreichen (Rammert 2010, S. 28). Vor diesem Hintergrund können die kontinuierlichen Gespräche über die Einsatzfelder des robotischen Systems als Innovationsdiskurse gewertet werden (Rogers 2003, S. 168–179).

34.3 Grundaussagen über den Menschen Diakonische Ethik setzt am christlichen Bild vom Menschen an. Diese Ethik fußt auf der jüdisch-christlichen Überlieferung und hat die Aufgabe, so kommensurabel zu sein, dass sie auch für Menschen, die eine intrinsische Glaubensmotivation nicht teilen, dennoch einen wertvollen Beitrag im Diskurs darstellen kann. Eine solche Ethik beginnt mit der Grundaussage, dass jeder Mensch ein einzigartiges und besonderes Individuum ist. Der Schlüsselbegriff, der diese Aussage maßgeblich für alle gegenwärtigen ethischen Diskussionen definiert, ist der der Begriff der Menschenwürde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es dazu im Artikel 1 des Grundgesetzes. Menschenwürde ist eine der zentralen Leitvorstellungen sozialen Handelns, die sich auch normierend in den Sozialgesetzbüchern niederschlägt (SGB XII, § 1, Abs. 2; § 90 BTHG). Für die Begründung der Menschenwürde, so wie der Begriff heute seine Anwendung findet, ist der Philosoph Immanuel Kant maßgeblich geworden. Er hat den Begriff der Menschenwürde philosophisch begründet, in dem er deutlich gemacht hat, dass ein jeder Mensch individuell und nicht durch irgendetwas anderes ersetzbar wäre. In seinen Worten heißt das: „der Mensch hat keinen Preis, sondern eine Würde“ (Kant 1984, S. 87). Aus Sicht einer christlichen Ethik ist der Mensch durch die Beziehung, die Gott zu ihm eingeht, qualifiziert. Das bedeutet: Der Mensch verwirklicht seine Grundbestimmung in einer Sozialität. Diese Beziehung ist vom Menschen her sowohl für sich selbst wie auch in Bezug auf andere nicht relativbar. Gerade im Bereich der Pflege, insbesondere mit demenzkranken Menschen ist der Gedanke, dass die besondere Qualifikation des Menschen durch die Beziehung, die Gottes zu ihm eingeht und nicht daran gebunden ist, dass der Mensch auch aktiv Beziehungen eingehen kann, bedeutsam. In christlich ethischer Perspektive steht jeder Mensch in der Beziehung zu Gott, selbst wenn diese Beziehung von seiner Seite rein passiv ist. Auch Menschen mit einer schweren Demenz, die aktiv keine Beziehung mehr eingehen können, sind und bleiben Ebenbilder Gottes, weil Gott sie aus seiner Beziehung, die er zu ihnen eingeht, nicht fallen lässt. Eine solche Grundaussage stellt eine erhebliche Anforderung an eine angemessene Kommuni-

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kation. Die Bedeutung des Menschen als Ebenbild Gottes hat zur Folge, dass in dem Zugehen auf diesen Menschen eine Haltung innewohnt, die in ihm diese von Gott zugesprochene Würde respektiert. Zu einer solchen Haltung gehören Achtsamkeit und die Akzeptanz dieses Menschen trotz nachlassender körperlicher oder kognitiver Fähigkeiten. Dazu gehört die konkrete pflegerische Ausrichtung auf die leiblichen, seelischen und spirituellen Bedürfnisse der zu Pflegenden und  – so weit wie möglich  – die Berücksichtigung und Förderung seiner Selbstbestimmung (Knoll 2015). In Korrespondenz dazu ist vonseiten der Pflegenden ein hohes Maß an Empathiefähigkeit zu erwarten, ein Denken vom Anderen her, das sich als ethisches Gut vom christlichen Gebot der Nächstenliebe ableitet. Die ethische Herausforderung ist dann, ob ein Roboter – insbesondere, wenn er einmal solitär und ohne begleitende Kraft auftreten sollte – zu einem derartigen Vermittlungsprozess fähig ist. Inwieweit können Roboter unterstützend wirken? Inwieweit dringen sie auch in Interaktionen ein, einschließlich derer mit besonderer emotionaler Qualität, die einer Vermittlung von Person zu Person vorbehalten sein sollten?

34.4 Technischer Imperativ Es ist derzeit davon auszugehen, dass mehr und mehr KI-Techniken in gesellschaftlich relevanten Bereichen Einzug halten. Diese intelligenten Systeme können in absehbarer Zeit in einem erheblichen Umfang zur Sicherheit und Erhalt der Selbstständigkeit von zu Pflegenden beitragen. Das gilt nicht allein für die Erfassung der wichtigsten Vitalwerte, wenn ein Roboter den Kontakt mit einer Pflegeperson aufnimmt. Durch eine zeitgenaue Ansprache kann z. B. auch eine pünktliche bei kognitiv-leistungsfähigen Menschen eine Medikamentengabe sichergestellt oder zur regelmäßigen Flüssigkeitsaufnahme ermuntert und damit der Dehydrierung vorgebeugt werden. Allerdings wird die Herbeiführung solcher erlangten Sicherheit dann ethisch bedenklich, wenn damit die Unterwerfung unter technische Imperative verbunden ist (Verbot der Degradierung des Subjekts zum bloßen Netzwerkelement) (BMVI 2017, S. 10). Wenn z. B. Roboter im ambulanten Kontext die Möglichkeit haben, Türen zu öffnen, um nachsehen zu können, dass die Person im Haus nicht gestürzt ist, dann kann es sein, dass Versicherung zukünftig verlangen können, dass genau diese Roboter nicht abgeschaltet werden können, um jederzeit jede Tür öffnen können, damit die Sicherheit zu Hause zu gewährleistet werden kann. Werden andernfalls evtl. Versicherungen bei Stürzen von Patienten nicht mehr zahlen, weil sie diese Hilfesysteme ausgeschlossen oder abgelehnt haben? Kann der permanente Onlinestatus der Roboter zur Voraussetzung eines verantworteten Verbleibens in den eigenen vier Wänden gemacht werden? Der Gewinn an Lebensqualität durch ein längeres Verbleiben zu Hause wird dann eingeschränkt, wenn der Grad der individuellen Selbstbestimmung über die tatsächliche Nutzung dieser Systeme eingeschränkt wird. Daher ist aus ethischer Sicht abzuwägen, ob

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a­ lles, was durch ein solches System möglich ist, auch umgesetzt werden sollen. Etwas zu können, heißt noch lange nicht, dass man dieses auch tun sollte. Ethische Verantwortung besteht auch darin, dass man Nein sagt zur Anwendung von etwas, was möglich ist. Wenn dieses „Nein-Sagen“ argumentativ einleuchtet, dann wird es notwendig sein, dass man dieses auch gesetzgebend normiert. Dieses Abwägen und auch die Schwierigkeiten einer Grenzziehung erleben beide Kooperationspartner insbesondere in den Diskussionen um die Ausgestaltung konkreter Einsatzszenarien.

34.5 Datenschutz und Transparenz der Algorithmen Einen Kern der Privatsphäre zu haben, gehört wesentlich zur Konzeption einer Individualität. Aus Sicht einer evangelischen Ethik gibt es auch ein Recht auf Fragmentarität, Scheitern, letztlich – in freiheitlicher Annahme auch auf Krankheit und Leid. Durch die Robotik könnte gegen dieses Menschenbild auch ein Optimierungsdruck entstehen. Hier kann sich ein wesentliches Leitkriterium gegen die Durchleuchtung des Menschen und Sammlung seiner Persönlichkeitsdaten ein Recht auf den Kern einer Privatsphäre erschließen (Buttarelli 2018, S. 222). Es bedarf Grenzen, die eine Diskretion wahrt. Ein an Pflegebedürftigen operierender und mit Pflegebedürftigen interagierender Roboter sammelt ständig neue Daten und kann diese Daten an zentrale Server senden, die wiederum mit anderen Servern vernetzt sind. Dieses kann positiv dazu führen, dass z. B. gesundheitliche Gefährdungen rechtzeitig erkannt und behandelt werden können sowie die Medikation akut auf die veränderte Situation eingestellt wird, die wiederum automatisiert durch den Roboter erfolgt. Anderseits entgrenzt sich damit auch die Privatsphäre eines Menschen  – und hier geht es um hochgradig vulnerable Menschen  – in eine nicht mehr zu steuernde virtuelle Öffentlichkeit hinein. Diese Vernetzung fordert eine neue ethische Reflexion über die Bestimmung vom Menschen, weil dieser damit nicht mehr nur allein in seiner Sozialität, sondern seiner Konnektivität mit nicht mehr transparenten Akteuren begriffen werden müsste (Gorski 2018, S. 276).

34.5.1 Datenschutz-Grundverordnung Der Gesetzgeber hat – zumindest auf dem Feld des Schutzes personenbezogener Daten – den neuen technischen Entwicklungen (Stichworte: Big Data, künstliche Intelligenz, Machine Learning) in Form der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) Rechnung getragen. So ist in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union explizit ausgeführt, dass eine Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten hat. Die Umsetzung dieser Forderung wurde in die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ­gegossen:

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Grundsätze (Kapitel II, Art. 5) Personenbezogene Daten müssen derart verarbeitet werden, dass die folgenden Grundsätze eingehalten werden, wobei ein entsprechender Nachweis auf Einhaltung der verantwortlichen Stelle obliegt: • • • • • •

Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz Zweckbindung Datenminimierung Richtigkeit Speicherbegrenzung Integrität und Vertraulichkeit

Die Gewährleistung der Grundsätze „Zweckbindung“ und „Datenminimierung“ ist vor dem Hintergrund des Datenhungers und des häufig explorativen Charakters von Verfahren des Machine Learnings problematisch. Rechtmäßigkeit der Verarbeitung (Kapitel II, Art. 6) Die Verarbeitung von Daten ist dann rechtens, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zu der (zweckgebundenen) Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten erteilt hat. Für unser Projekt bedeutet dies, dass vor dem ersten Einsatz des robotischen Systems eine Einwilligung von der zu pflegenden Person (bzw. von deren gesetzlichem Betreuer) vorliegen und eine umfassende Information über die aufgezeichneten Daten (Stichwort: Transparenz) gegeben werden muss. Datenschutz-Folgenabschätzung (Kapitel IV, Abschnitt 3, Art. 35) Die DSGVO sieht vor, dass vor dem Einsatz neuer Technologien, die ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen bergen könnten, eine Datenschutz-Folgenabschätzung durchgeführt werden muss. Eine Datenschutz-Folgenabschätzung ist u. a. dann erforderlich, wenn eine systematische Bewertung persönlicher Aspekte z. B. auf Basis eines Profiling vorgenommen wird und als Grundlage für Entscheidungen dient, die eine Person ggf. in erheblicher Weise beeinträchtigt. Entsprechendes gilt für eine systematische und umfangreiche Überwachung öffentlich zugänglicher Bereiche. Für unser Projekt bedeutet dies, dass insbesondere bei Szenarien, in denen ein Einsatz von Verfahren des Machine Learnings unabdingbar ist, geprüft werden muss, ob obige Voraussetzungen für eine Erstellung einer Datenschutz-Folgenabschätzung gegeben sind. Rechtmäßigkeit der Verarbeitung (Kapitel IV, Abschnitt 1, Art. 27f) Um robotische Systeme in die Lage zu versetzen, pflegebedürftige Personen über einen längeren Zeitraum zu begleiten, werden diese Systeme viele Daten erzeugen und (temporär) speichern müssen. Eine langfristige Speicherung wie auch Weiterverarbeitung ­dieser Daten erscheint aus heutiger Sicht unabdingbar, wenn Verfahren des Machine Learnings

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eingesetzt werden sollen. Diese Datenmengen lassen sich auf den derzeit verfügbaren robotischen Systemen aufgrund hardwaretechnischer Limitierungen weder speichern noch weiterverarbeiten, sodass eine Auslagerung dieser Daten auf weitere Systeme notwendig erscheint. Eine derartige Auslagerung stellt aus Sicht der DSGVO eine weitere Herausforderung dar.

34.5.2 Haftungsfragen Bei für das robotische System komplexeren Einsatzszenarien, in denen das robotische System eine höhere Entscheidungsautonomie zugesprochen bekommt, kann sich die Frage nach der Haftung stellen. Folgendes Beispiel soll dies illustrieren: Das robotisches System erkennt eine zu pflegende Person, schätzt ihre mentale und physische Konstitution ein und fordert die zu pflegende Person auf, bei einem Bewegungsspiel mitzumachen (Stichwort: physische Aktivierung). Die zu pflegende Person stürzt – der Roboter kann die Person nicht auffangen – und verletzt sich. Wer haftet in einer derartigen Situation? Der Hersteller des Roboters? Der Hersteller der eingesetzten Software? Die Pflegekraft, die das robotische System womöglich falsch trainiert hat? Die zu pflegende Person, die eine Funktionalität des Roboters genutzt hat (Neuhäuser 2014, S. 284–286)? Wir sehen auch an dem prominenten Beispiel des autonomen Fahrens, dass Haftungsfragen nicht einfach zu beantworten sind und dass Gesellschaft und Politik hierzu eine geeignete Position einnehmen.

34.6 K  ommunikation und Emotionalität – Wahrhaftigkeit in der Interaktion Menschen mit Demenz sind meist auf einer emotionalen Beziehungsebene sehr präsent (Roy 2013, S. 167–169). Oft spüren sie bei einem Gegenüber beispielsweise, wenn verbale und nonverbale Kommunikation nicht übereinstimmen. Grenzverletzend wird es, wenn bei einem Einsatz eines Roboters in der Pflege, insbesondere in der Gestalt eines Androiden, dem Gegenüber verschwiegen wird, dass es sich um einen Roboter handelt. Eine dialogische Kommunikation lebt von dem Vertrauen, das die Kommunikationspartner gegenseitig investieren. In der Praxisanwendung ist immer wieder beobachtet worden, wie Menschen mit Demenz in der Kommunikation Emotionen auf den humanoiden Roboter übertragen. In der Forschung ist darauf zu achten, wann und warum Emotionen in der Mensch-Technik-­ Interaktion erwünscht bzw. diese als störend empfunden werden (Manzeschke et al. 2016, S.  124). Wesentlich für eine in die Interaktion eingetragene Emotionalität ist dabei der Grad humanoider Ähnlichkeit (Nijssen et al. 2019).

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Kann zwischen positiven und negativen Emotionen unterschieden werden? Wirken Roboter in ihrem Agieren eher entängstigend, weil sie eine zusätzliche Kontroll- und Schutzfunktion übernehmen können, oder können sie nicht auch umgekehrt zusätzliche Ängste auslösen, weil sie nicht oder nur unzureichend auf emotionale Schwankungen reagieren können? Ein Beispiel: Es ist gut, Menschen mit Demenz bei der Aktivierung, z. B. dem Hinausgehen an die frische Luft, zu unterstützen. Da könnte es hilfreich sein, wenn ein Roboter in zuverlässiger Weise durch freundliche Ansprache eine Ermutigung zum Hi­ nausgehen ausspricht. Gleichzeitig aber verändert sich das Krankheitsbild bei Demenz in Wellen. Etwas, was gestern noch für den demenzkranken Menschen selbstverständlich war, wie etwa das Hinausgehen in einen vertrauten Bereich, kann von einem Tag auf den anderen angstauslösend sein. Eine geschulte Pflegefachkraft wird diese Veränderung bemerken. Aber bemerkt sie auch ein Roboter? Oder wird er, da so programmiert, weiterhin versuchen, zum Hinausgehen zu stimulieren und damit Druck aufbauen und Angst auslösen? Jedes Szenario ist deshalb auf seine einzelnen Entscheidungssituationen zu operationalisieren, auf seine ethische Relevanz zu beleuchten und nach ethischen Kriterien zu entscheiden (Anderson und Anderson 2018, S. 91–94). Es ist eine hohe Anforderung an die Technik, dass eine (intelligente) Maschine auf individuelle Gefühle wie Angst, Scham, Überforderung, Einsamkeit reagieren soll. Zudem kann der Einsatz von KI-Techniken dazu führen, dass Entscheidungen des robotischen Systems nicht mehr einfach aus dem Programmcode abzuleiten sind. Diese mangelnde Transparenz kann dann insbesondere nach Fehlentscheidungen des Systems zu einem Verlust an Vertrauen in diese Technik führen. Grundsätzlich gelten aber auch hier die ethischen Grundsätze, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine, zwischen Realität und Virtualität, immer geboten und in jeder Situation transparent gegeben sein muss. Das bedeutet, dass ein die Emotionen stimulierender Einsatz von Robotern nicht als Ersatz fehlender menschlicher Zuwendung angeboten werden darf. Ein Roboter ersetzt keine menschliche Zuwendung. Eine Begegnung von Mensch zu Mensch verändert immer beide in dieser Situation handelnden Menschen. Es ist eine dialogische Situation, die von einem gegenseitigen Vertrauen der Akteure lebt. Eine Interaktion mit Robotern, selbst wenn es lernende Roboter sind, operiert immer innerhalb der von den Informatikern programmierten Codes. Die Situation ist daher nur scheinbar dialogisch. In Wahrheit ist sie aber asymmetrisch. Wahrhaftigkeit in der Interaktion sollte aber ein entscheidendes Kriterium in der Anwendung dieser neuen Technologie sein. Vielleicht ist also der wichtigste Unterschied zwischen Robotern und Menschen, dass Roboter keine echten Beziehungen eingehen können. In dieser Perspektive ist es umso wichtiger, das Ethos der Wahrhaftigkeit und das Verbot der bewussten Täuschung zu unterstreichen (vgl. Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018, S.  128–132). Einen Menschen, der aufgrund seiner Krankheit nicht mehr zur Unterscheidung von Realität und Virtualität in der Lage ist und dem ein humanoider Roboter zugeführt wird, den er nicht als Roboter erkennt, der aber mit ihm spricht, eventuell sogar Emotionen provoziert und dieses nicht transparent macht, missachtet den Menschen in seiner Würde, weil er die Autonomie des Nutzers dieser Systeme missachtet.

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Folgerichtig gilt das soeben Gesagte auch für die Frage, ob und wie ein Roboter auf die spirituellen Bedürfnisse einer zu pflegenden Person reagieren soll. Denkbar ist eine Situation, in der ein Roboter mit der Pflegeperson allein agiert und auf eine bestimmte religiöse Phrase, z. B. den Text eines religiösen Liedes oder ein Gebet agiert. Zu unterscheiden ist dann, ob der Roboter lediglich die Rezeption des Textes unterstützt oder ob er darüber hinaus Zuwendung simuliert. Daher liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen der Situation, in der durch einen Roboter ein Gebet abgerufen wird zu der Situation, in der 2 Personen eine Begegnung eingehen, der eine transzendentale Dimension innewohnen kann, wie z. B. einem Segenszuspruch seitens der Pflegekraft zu der zu pflegenden Person. In dem Respekt davor, dass eine positive Gebetserfahrung außerhalb menschlicher Steuerungsmöglichkeit liegt, sollte daher aus christlich-ethischen Gründen die Situation eines stimulierenden religiösen Zuspruches durch einen Roboter zu den verbotenen negativen Szenarien gehören. Vor diesem Hintergrund erscheint uns eine langsame, schrittweise Einführung intelligenter robotischer Systeme geboten, die einer Diskussion konkreter Szenarien einen ausreichenden Raum lässt. Gerade die Transparenz über die Einsatzszenarien und deren Interpretationen durch verschiedene fachliche Disziplinen fördert die Akzeptanz angewandter Robotik und deren Innovationspotenzial.

34.7 Aufgabe für den ethischen Diskurs Das Kooperationsprojekt der Fachhochschule Kiel und der Diakonie macht es sich zum Anliegen, den Einsatz von Robotern in der Pflege nicht nur abstrakt, sondern in concreto zu erforschen, um für den jeweiligen Einzelfall eine Abschätzung des Szenarios und eine Technikfolgeabwägung unter Berücksichtigung ihres Wertebezuges vorzunehmen. Weil es noch keine normativen Beschreibungen des Einsatzes von Robotik, insbesondere auch für den Bereich der Pflege gibt, sind die Berücksichtigung von humanen Rahmenbedingungen und ein konsequenter Wertebezug unabdingbar, um die Voraussetzungen für eine Akzeptanz innovativer Technologien zu schaffen. Dabei ist insbesondere auf die Merkmale der Wahrhaftigkeit, der Datenschutzfolgeabwägung und des Vertrauens in der Kommunikation abzuheben, die sich insbesondere im Dialog mit besonders vulnerablen Gruppen zu bewähren hat.

34.8 Schlussbetrachtung Wir haben in diesem Beitrag aufgezeigt, wie ein humanoider Roboter peu-à-peu in eine Demenz-Wohngemeinschaft eingeführt wurde. Der bisherige Erfolg der Einführung dieser Innovation ist der starken Beteiligung der wichtigsten Personengruppen (insbesondere der Pflegekräfte vor Ort) zu verdanken, die einerseits die Einsatzszenarien entwickelt und konkretisiert und andererseits eine kontinuierliche Evaluierung (auch unter ethischen und

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datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten) und damit die Weiterentwicklung dieser Szenarien vorgenommen haben. Derzeit werden in dem Projekt Einsatzszenarien entwickelt, die von dem robotischen System eine stärkere (Entscheidungs-)Autonomie verlangen. Insbesondere hier gilt es, die Mensch-Maschine-Interaktionen konkret zu erfassen und damit ethischen Überlegungen zugänglich(er) zu machen.

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34  Einführung humanoider Roboter in eine Demenz-WG – Herangehensweise an eine … 665 Heiko Naß  ist Landespastor und Sprecher des Vorstandes des Diakonischen Werkes Schleswig-Holstein. Im Rahmen seiner Aufgaben setzt er sich für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Pflege ein. Dazu gehören Beiträge über die ethischen Implikationen diakonischer Arbeit. Dr. Jens Lüssem  ist Professor für Intelligente Informationssysteme und Robotik an der Fachhochschule Kiel. Er hat eine Reihe von Forschungsprojekten in diesen Bereichen initiiert und geleitet. Seine aktuellen Interessen umfassen Anwendungen intelligenter Roboter in gesellschaftlich relevanten Bereichen, wie bspw. der Pflege. Hannes Eilers  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Kiel und maßgeblich am Aufbau der Robotikaktivitäten an der Fachhochschule Kiel beteiligt. Seine aktuellen Interessen fokussieren auf Anwendungen intelligenter Roboter in der Pflege.

Digitalisierung im Krankenhaus: Nutzerakzeptanz als Voraussetzung für digitale Innovationen

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Inhaltsverzeichnis 35.1  E  inleitung  35.2  Das Informationssystem als Kernstück der Krankenhaus-IT  35.3  Akzeptanzforschung  35.3.1  Grundlagen der Akzeptanzforschung  35.3.2  Definition von Akzeptanz  35.3.3  Technologieakzeptanzmodelle  35.3.4  Nutzung von Akzeptanzmodellen im Rahmen der Krankenhaus-IT  35.3.5  Managementtools zur Erhöhung der Nutzerakzeptanz  35.4  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Investitionen der Krankenhäuser in digitale Innovationen haben in den letzten Jahren stark zugenommen und werden aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungen voraussichtlich auch in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Um die knappen Ressourcen der Krankenhäuser möglichst optimal einzusetzen, ist es notwendig sicherzustellen, dass die innovativen Systeme auch von den Mitarbeitern der Krankenhäuser genutzt werden. Voraussetzung für die Nutzung ist dabei die Akzeptanz aufseiten der Mitarbeiter, die bei oft disruptiven Innovationen nicht gleich gegeben ist. Als „Kerntechnologie“ kommt dem Krankenhausinformationssystem dabei eine tragende Rolle zu, da es Aufsatzpunkt für die meisten digitalen Erneuerungen im Krankenhaus

T. Schmidt-Logenthiran (*) · M. Stephan Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_35

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ist. Das Management kann bei der Implementierung solcher Innovationen durch bestimmte Aktivitäten die Nutzerakzeptanz erhöhen und so zum erfolgreichen digitalen Wandel im Krankenhaus beitragen.

35.1 Einleitung Das deutsche Krankenhauswesen steht vor großen Herausforderungen. Die Digitalisierung ist dabei eine der Kernherausforderungen für die Betreiber von Gesundheitseinrichtungen. Ein im Rahmen des Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen (E-Health-Gesetz) derzeit intensiv diskutierte Innovation und zentraler Baustein ist die sogenannte sektorenübergreifende elektronische Patientenakte. Sie soll als personalisiertes, intern wie extern zugängliches Dokument allen am Behandlungsprozess beteiligten Institutionen einen vollumfänglichen Informationsstand zum Patienten bieten. Wie auch in anderen Sektoren bedarf es zur erfolgreichen Realisierung der Einführung und des Betriebs eines solchen Vorhabens der Beachtung unterschiedlicher Punkte. Ein momentan viel beachteter Faktor stellt dabei vor allem der rasche Anschluss der einzelnen Krankenhäuser an die Telematikstruktur dar. Die innerbetriebliche Bereitstellung der Daten für die elektronische Patientenakte, die Grundlage einer jeden Innovation, die auf dem Krankenhausinformationssystem fußt, ist in den gegenwärtigen Diskussionen selten Thema und wird in Wissenschaft und Politik implizit als gegeben angesehen (Behrendt et  al. 2009, S. 185). Um die Qualität der Daten einer digitalen Innovation wie in der elektronischen Patientenakte zu gewährleisten, bedarf es funktionierender innerbetrieblicher Systeme, welche die wachsende Datenflut der immer komplexer werdenden Medizintechnik- und Verwaltungssysteme subsumiert. Auch wenn einige dieser innovativen Hochleistungssysteme bereits selbstständig Daten der Patientenbehandlung erfassen, so müssen Nutzer, selbst wenn die manuelle Dokumentation abnimmt, weiterhin mit den Systemen arbeiten. Die effiziente Nutzung dieser Kerntechnologie und weiterer komplementärer Systeme durch die Anwender ist somit eine unmittelbare Voraussetzung für die qualitativ hochwertige Patientenbehandlung und somit auch Voraussetzung für alle weiteren digitalen Innovationen (Haas und Kuhn 2017, S. 768). Studien haben dabei aufgezeigt, dass der alltäglichen Nutzung die Technikakzeptanz solcher Systeme vorausgeht. Wir möchten deshalb in diesem Beitrag den ersten vor dem zweiten Schritt machen und am Beispiel des Krankenhausinformationssystems etablierte wissenschaftliche Methoden aufzeigen, welche das Potenzial besitzen, die Nutzerakzeptanz von solchen Systemen im Krankenhaus zu erhöhen, um so den weiteren digitalen Wandel im Krankenhaus erfolgreich zu gestalten.

35.2 Das Informationssystem als Kernstück der Krankenhaus-IT Aus dem modernen Krankenhaus ist das Krankenhausinformationssystem nicht mehr wegzudenken. Es ist die Basis eines modernen betrieblichen Managements eines Krankenhauses, fallbezogene Informationsquelle, Koordinationsinstrument für Patientenab-

35  Digitalisierung im Krankenhaus: Nutzerakzeptanz als Voraussetzung für digitale …

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läufe sowie Ausgangspunkt für digitale Innovationen und eine Telematikinfrastruktur (Haas und Kuhn 2017, S. 768). Dabei existieren auf Unternehmensebene zwei verschiedene Paradigmen zu diesem funktionalen Zusammenspiel der verschiedenen Anwendungssysteme. • Monolithische/Holistische Systeme: Das Informationssystem kommt in seiner ganzen Fülle von ein und demselben Anbieter mit einer eigenen Software für alle Anwendungssysteme. Fremdsoftware wird in der Regel nicht integriert. • Heterogene Systeme: Das Informationssystem setzt sich aus Software von verschiedenen Herstellern zusammen, die beispielsweise über einen Kommunikationsserver miteinander verbunden werden. Es können prinzipiell alle verfügbaren Anwendersoftwares in dem System integriert werden. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile, die jeweils im Einzelfall gegeneinander abzuwägen sind (Haas 2005, S. 63 f. und Haas und Kuhn 2017, S. 778–780). In Deutschland wurden Mitte der 1970er-Jahre elektronische Krankenhausinformationssysteme (KIS) erstmals eingeführt. Diese dienten jedoch in ihrem Ursprung eher administrativen Zwecken, wie beispielweise der Abrechnung der erbrachten Leistungen (Haas 2005, S. 635). Zwar halten heute die meisten Kliniken ein KIS vor, dieses dient jedoch in seinem Kern immer noch der Administration und dem Anwender nur peripher. Bei einem Gedanken an den eigentlichen Wertschöpfungsbereich eines Krankenhauses – der Patientenbehandlung – muss dies absurd wirken (Behrendt et al. 2009, S. 185 und Matusiewicz et al. 2017, S. 98). Die Einführung von Informationssystemen bzw. Anwendungssystemen hat auch immer das Ziel, die Arbeitssituation der Nutzer zu optimieren. Insbesondere in Krankenhäusern, in denen neben der medizinischen Versorgung der Patienten auch die Administration und Dokumentation der Patientenbehandlung eine große Rolle spielt, haben Systemeinführungen oder Systemumstellungen leider oft den gegenteiligen Effekt gebracht bzw. haben keine Verbesserung erzielt, da mit der Installation der Systeme die Managementaufgaben abgeschlossen waren und die erfolgreiche Nutzung durch den Anwender implizit angenommen wurde. Dies ist aber nicht automatisch die Folge – denn Technikakzeptanz ist kein Automatismus qua Einführung! Oft ließen sich die teilweise „horrenden“ Investitionsvolumina besser einsetzen, würden nur bestimmte Aspekte zur Implementierung der Systeme zielgerichteter, nutzeradäquater und damit nachhaltiger beeinflusst werden (Haas 2005, S. 92 und S. 605 und Matusiewicz et al. 2017, S. 106). Für die erfolgreiche Etablierung eines Systems bedarf es deswegen der erfolgreichen Kollaboration von Nutzer und System. Jodlbauer (2018) etikettiert diesen kritischen ­Aspekt als „Mensch-Maschine-Kollaboration“. Erfolgreiche Mensch-Maschine-­Kollaborationen integrieren dabei die Vorteile des jeweiligen Kollaborationsteilnehmers und lassen die Nachteile selbiger außen vor bzw. reduzieren diese (Jodlbauer 2018, S. 119). Es geht demnach nicht nur darum, ein funktionierendes System zu etablieren, sondern auch darum, den Nutzer zu involvieren, damit das System optimale Ergebnisse produziert und so als valide Datenquelle für weitere digitale Innovationen dient. In der Vergangenheit hat sich dabei

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leider oft gezeigt, dass bei der Ausgestaltung der Informationssysteme die Nutzer auf „menschliche Artefakte“ in einem technischen Prozess reduziert werden (Haas 2005, S. 36). Insbesondere und spätestens die Digital Natives, die sich im ständigen wandelnden Kontext bewegen, bringen kein Verständnis für Systeme auf, bei denen deutlich wird, dass der Nutzer nicht im Mittelpunkt des Systems steht (Urbach und Ahlemann 2017, S. 307). Aus diesem Grund ist es wichtig, die potenziellen Nutzer bei der Implementierung jeglicher Systeme frühzeitig einzubeziehen, um Akzeptanz und damit Nutzung aufseiten der Mitarbeiter zu generieren.

35.3 Akzeptanzforschung Die Akzeptanz eingeführter Systeme ist aufseiten der Nutzer oft nicht vorhanden, obwohl sie als Voraussetzung für deren Nutzung gesehen wird (Fishbein und Ajzen 1975) und deshalb im Kontext eines KIS unbedingt näher betrachtet werden sollte.

35.3.1 Grundlagen der Akzeptanzforschung Neben der Diffusions- und der Adoptionsforschung, gibt die Akzeptanzforschung Aufschluss über die Nutzung technologischer Innovationen (Kornmeier 2009, S. 75–77). Zentraler Unterschied der Akzeptanzforschung gegenüber der beiden anderen Erklärungs­ ansätze ist der prognostische Erklärungsversuch über Erfolg oder Misserfolg einer technologischen Innovation auf der Mikroebene (Quiring 2006, S. 4). Quiring (2006) stellt zusammenfassend 2 unterschiedliche Perspektiven der Akzeptanzforschung auf: 1.) Eine erklärende Perspektive, bei der die Wechselwirkungen zwischen der Einführung und der Auswirkung einer Technologie untersucht werden, und 2.) eine gestaltende Perspektive, bei der Informationen zur besseren Ausgestaltung der Technologie bezüglich der Nutzung gefunden werden sollen (Quiring 2006, S. 3).

35.3.2 Definition von Akzeptanz In der Literatur ist unter dem Stichwort „Akzeptanz“ kein einheitliches Verständnis zu entdecken (Müller-Böling und Müller 1986, S.  24–25; Dockweiler 2016, S.  259). ­Kornmeier (2009) definiert Akzeptanz „als eine zustimmende Haltung eines Individuums bzw. einer sozialen Gruppe gegenüber einem bestimmten Sachverhalt bzw. generell als Synonym für Anerkennung, Befürwortung oder Bestätigung“ (Kornmeier 2009, S. 107). In der deutschsprachigen Literatur bezieht man sich konzeptionell meist auf Kollmann (2000) und Rengelshausen (2000), die Akzeptanz beide als Prozess begreifen (Niklas 2015, S. 15). Rengelshausen (2000) unterscheidet dabei zwischen einer Einstellungsakzeptanz, die die grundsätzliche, positive oder negative Einstellung gegenüber einer Inno-

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671

vation angibt, sowie einer Verhaltensakzeptanz, die Auskunft über das reine Verhalten gegenüber der Innovation gibt. Akzeptanz liegt nach Rengelshausen (2000) dann vor, wenn beide Akzeptanzen in einem Individuum in Bezug auf eine Innovation zusammenkommen (Niklas 2015, S. 15 f.). Kollmann (2000) hingegen baut mit einem dreistufigen Konzept auf dem aktualisierten Modell von Rogers (1995) auf und unterscheidet zwischen Stufe 1, Einstellungsakzeptanz (Phase vor der tatsächlichen Nutzung), Stufe 2, Handlungsakzeptanz (Phase der Entscheidungsfindung) und Stufe 3, Nutzungsakzeptanz (Phase der tatsächlichen Nutzung) (Dockweiler 2016, S. 259).

35.3.3 Technologieakzeptanzmodelle Abschn. 35.3.3 soll einigen der bedeutendsten Modelle zur Technologieakzeptanz gewidmet sein, die bisher entwickelt worden sind. Dabei sollte beachtet werden, dass die Modelle bis heute angepasst werden, mit dem Ziel möglichst vollständig die Ursachen für die Akzeptanz von IT-Systemen auf Nutzerseite zu erklären. Auf folgende Modelle soll dabei näher eingegangen werden: • Theory of Reasoned Action (TRA) von Fishbein und Ajzen (1975); Ajzen und Fishbein (1980) • Technology Acceptance Model (TAM) von Davis (1985) • Technology Acceptance Model 2 (TAM2) von Venkatesh und Davis (2000) • Unified Theory of Acceptance and Use of Technology (UTAUT) von Venkatesh et al. (2003) Technology Acceptance Model 3 (TAM3) von Venkatesh und Bala (2008)

35.3.3.1  Theory of Reasoned Action Grundlage zur Erklärung von Nutzerakzeptanz ist dabei das psychologische Modell der „Theory of Reasoned Action“ (TRA) von Fishbein und Ajzen (siehe Abb. 35.1). Die Theorie besagt, dass das tatsächliche Verhalten durch Beeinflussung der Verhaltensabsicht gesteuert wird. Die Verhaltensabsicht wird dabei durch die Einstellung des Individuums zum Verhalten aber auch durch sozialen Druck („Subjektive Norm“) geformt, welcher dadurch entsteht, dass sich das Individuum fragt, wie das soziale Umfeld auf das Verhalten reagieren würde (Fishbein und Ajzen 1975).

Einstellung zum Verhalten Verhaltensabsicht

Verhalten

Subjektive Norm

Abb. 35.1  Theory of Reasoned Action. (Quelle: In Anlehnung an Fishbein und Ajzen 1975)

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Zwar eignet sich das Modell als Grundlage zur Erklärung von Nutzerakzeptanz, dennoch sind einige Annahmen und der Aufbau des Modells als äußerst kritisch zu betrachten. Hauptkritikpunkt dabei ist, dass das Modell von einem sehr stark vom eigenen Willen abhängigen Verhalten ausgeht. In der Praxis ist es jedoch so, dass das Verhalten durch weitere externe Faktoren, wie z. B. besondere Fähigkeiten oder andere notwendige Ressourcen, bestimmt wird. Daraufhin sind viele unterschiedliche Modelle entwickelt worden, von denen sich eines hervorgetan hat, da es insbesondere die Schwächen der TRA aufgreift: Das Technology Acceptance Model. Dieses soll im Weiteren vorgestellt werden.

35.3.3.2  Technology Acceptance Model Unter der Vielzahl von Modellen zur Untersuchung von Technikakzeptanz, welche sich seit den 1980er-Jahren hervorgetan haben, ist das Technology Acceptance Model (TAM) von Fred Davis bzw. dessen Erweiterungen, das in der Wissenschaft am meisten verbreitetste (Lee et al. 2003). Das TAM ist als Anpassung des TRA zu sehen. Am Anfang der Entwicklung des TAM stand eine Kooperation zwischen dem Technologiekonzern IBM und dem Massachusetts Institute of Technology. Ziel der Kooperation war die Ermittlung von Faktoren, welche die Nutzung von Computern beeinflussen. Davis führte daraufhin Umfragen mit 112 IBM Mitarbeitern und 40 Studenten durch und entwickelte auf Grundlage dessen das TAM. Validiert wurde das Modell schließlich anhand der Einführung eines Texteingabeprogramms. Seitdem fand das Modell auch in vielen anderen Technologiebranchen Anwendung (Lee et al. 2003). Zentrale Annahme des Modells ist, dass die Verhaltensakzeptanz, welche sich in der Nutzung eines Systems ausdrückt, von der Einstellungsakzeptanz abhängt. Weist der Nutzer demnach eine positive Einstellung zum System auf, so resultiert daraus die Nutzung des Systems. Bei einer n­ egativen Einstellung findet entsprechend keine Nutzung statt (Bürg und Mandl 2004). Eckpfeiler im Modell sind dabei der wahrgenommene Nutzen und die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit, welche als Variablen die Nutzungsintention und damit das Nutzungsverhalten beeinflussen. Die einzelnen Konstrukte des Modells sind dabei wie folgt definiert (siehe Abb. 35.2):

Externe Variablen

• Wahrgenommener Nutzen: Grad zu dem ein Individuum die Verbesserung eines Systems auf die eigene Leistung einschätzt. Sieht ein Individuum demnach das neue Sys-

Wahrgenommener Nutzen Nutzungsintention

Nutzungsverhalten

Wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit

Abb. 35.2  Technology Acceptance Model. (Quelle: In Anlehnung an Davis, S. 24)

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tem als nützlich für die eigene Arbeit an, so würde es das System nutzen, unabhängig von der Einschätzung des Verhaltens an sich. • Wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit: Grad zu dem ein Individuum einschätzt, dass die Nutzung eines Systems leichtfällt und damit frei von Beschwerlichkeit ist (Davis 1985).

35.3.3.3  Technology Acceptance Model 2 Venkatesh und Davis (2000) stellen mit dem Technology Acceptance Model 2 (TAM 2) eine auf dem TAM aufbauende Erweiterung dar. Die ergänzten externen Variablen wirken dabei sowohl auf den wahrgenommenen Nutzen als auch direkt auf die Nutzungsintention (siehe Abb. 35.3). Dabei wird zwischen sozialen (subjektive Norm, Freiwilligkeit der Systemnutzung und Image des Systems) und kognitiv-instrumentellen (Relevanz des Systems für die eigene Arbeit, Ergebnisqualität und die Wahrnehmbarkeit der Ergebnisse aus dem System) Variablen unterschieden (Venkatesh und Davis 2000). Externe Variablen, die Einfluss auf die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit haben könnten, werden im TAM 2 nicht aufgezeigt da weitere Studien zum TAM diesen Faktor als vergleichsweise irrelevant angesehen haben (Venkatesh und Davis 2000, S. 186–187). 35.3.3.4  Unified Theory of Acceptance and Use of Technology In Reaktion auf die zunehmende Vielfalt theoretischer Erklärungsmodelle zum Nutzungsverhalten von Individuen entwickelten Venkatesh et  al. (2003) eine Theorie aus den zu dieser Zeit 8 wohl bekanntesten Modellen zur Akzeptanztheorie (siehe Abb. 35.4). Variablen des Modells sind „Leistungserwartung“ des Nutzers an das System, „Aufwandserwartung“ des Nutzers bzgl. des Schwierigkeitsgrades der Nutzung des Systems, „Soziale Einflüsse“ durch das Umfeld sowie „Rahmenbedingungen“ in puncto Organisation und Subjektive Norm Erfahrung Systemimage Systemrelevanz

Freiwilligkeit

Ergebnisqualität Wahrnehmbarkeit der Ergebnisse

Wahrgenommener Nutzen

Nutzungsintention

Nutzungsverhalten

Wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit

Abb. 35.3  Technology Acceptance Model 2. (Quelle: In Anlehnung an Venkatesh und Davis 2000, S. 188)

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Leistungserwartung

Aufwandserwartung Nutzungsintention

Nutzungsverhalten

Soziale Einflüsse

Rahmenbedingungen

Geschlecht

Alter

Erfahrung

Freiwilligkeit

Abb. 35.4  Unified Theory of Acceptance and Use of Technology. (Quelle: In Anlehnung an Venkatesh et al. 2003, S. 280)

Technik. Als Moderatoren werden weiterhin „Geschlecht“, „Alter“, „Erfahrung“ und „Freiwilligkeit“ der Nutzung angeführt. Im direkten Vergleich mit den 8 isolierten Modellen gelang es UTAUT 70 % der Varianz in der Nutzungsintention zu erklären, wobei die anderen Modelle nur zwischen 17 % und 53 % der Varianz erklären konnten (Venkatesh et al. 2003). Die Ausdehnung des UTAUT zur Untersuchung des Nutzungsverhalten im Kontext privater digitaler Technologien in Venkatesh et al. (2012) zum UTAUT 2 scheint im Kontext von Krankenhausinformationssystemen weniger relevant und wird deshalb an dieser Stelle nicht genauer vorgestellt.

35.3.3.5  Technology Acceptance Model 3 Im Technology Acceptance Model 3 (TAM 3), der 2. Erweiterung des TAM, einer Symbiose des TAM 2 und dem „Model of the determinants of perceived ease of use“ (Venkatesh 2000), sind schließlich noch 6 weitere Variablen aufgenommen worden, die die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit beeinflussen und somit ebenfalls als Steuergröße zur Erhöhung der Akzeptanz dienen können (siehe Abb. 35.5). Diese sind: „Selbstvertrauen“ bzgl. der Nutzung des Systems, „Wahrnehmung externer Kontrolle“, „Systemangst“, „spielerischer Umgang mit dem System“, „wahrgenommenes Vergnügen beim Umgang mit dem System“ und „Bedienbarkeit des Systems“ (Venkatesh und Bala 2008 und Jockisch 2009).

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Subjektive Norm Systemimage Systemrelevanz Ergebnisqualität Wahrnehmbarkeit der Ergebnisse

Wahrgenommener Nutzen

Selbstvertrauen Wahrnehmung externer Kontrolle Systemangst

Nutzungsintention

Nutzungsverhalten

Wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit

Spielerischer Umgang mit dem System Wahrgenommenes Vergnügen Bedienbarkeit des Systems

Abb. 35.5  Technology Acceptance Model 3. (Quelle: In Anlehnung an Jockisch 2009, S. 239)

35.3.4 Nutzung von Akzeptanzmodellen im Rahmen der Krankenhaus-IT Der Literaturüberblick von Rahimi et al. (2018) zeigt auf, dass sich noch keine optimale Version eines Technologieakzeptanzmodells im Gesundheitssektor hervorgehoben hat. Dies wird an der Anzahl der erweiterten und abgewandelten Versionen der Akzeptanzmodelle zu verschiedenen IT-Systemen deutlich. Grundlage der genutzten Modelle zur Technologieakzeptanz ist jedoch zumeist UTAUT, nicht zuletzt aufgrund der hohen Erklärungsrate von 70 % der Varianz in der Nutzungsintention. Venkatesh et al. (2011) zeigen dabei im Kontext der Nutzung von Krankenhaus-IT durch Ärzte, dass bei einer unveränderten Anwendung von UTAUT lediglich 21 % der Varianz in der Nutzungsintention erklärt werden konnte. In dem abgeänderten Modell, durch die Nichtberücksichtigung von Geschlecht, Freiwilligkeit und Erfahrung, aber schließlich 44 %. Weitere Studien konnten wiederum für verschiedene Berufsgruppen in Krankenhäusern und weiteren Gesundheitseinrichtungen weitaus höhere oder niedrigere Erklärungswerte der Varianz in der Nutzungsintention eines Krankenhausinformationssystems von Krankenhauspersonal durch teilweise abgewandelte, teilweise traditionelle UTAUT-Version erzielen, sodass sich ein sehr heterogenes Bild ergibt, das zukünftig weiter differenziert erforscht werden muss (u. a. Sharifian et al. 2014; Aggelidis und Chatzoglou 2009; Chisolm et al. 2010; Trimmer

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et al. 2008; Alapetite et al. 2009; Esmaeilzadeh et al. 2015; Maillet et al. 2015; Dünnebeil et al. 2012; Gagnon et al. 2014).

35.3.5 Managementtools zur Erhöhung der Nutzerakzeptanz Von besonderem Interesse in der Praxis ist es in letzter Konsequenz, wie die verschiedenen Konstrukte der Modelle zur Technologieakzeptanz beeinflusst werden können, damit beim Nutzer eine positive Einstellungsakzeptanz entsteht und das favorisierte System genutzt wird. Wie bereits erläutert, findet Akzeptanz auf der Mikroebene statt und ist deshalb ein subjektiver Prozess, der bei jedem Nutzer unterschiedlich verläuft. Die Beeinflussung, die jedoch generell durch das Management vorgenommen werden kann, befindet sich nach Dockweiler (2016, S. 268–269) auf 3 verschiedenen Ebenen: Akzeptanzobjekt, Akzeptanzsubjekt und Akzeptanzkontext. Diese 3 Ebenen sind unmittelbar voneinander abhängig, sodass Maßnahmen nicht immer nur eine Ebene beeinflussen. 1. Akzeptanzobjekt: Das Akzeptanzobjekt ist das IT-System, gegenüber welchem Akzeptanz geschaffen werden soll. Maßnahmen zur Schaffung von Akzeptanz auf dieser Ebene sollten sich insbesondere auf die nutzerfreundliche Ausgestaltung des Systems fokussieren. Dazu sollten bereits vor der Implementierung die Nutzer in den Fokus rücken. Insbesondere im Krankenhaus wird das KIS, anders als führende Informationssysteme in anderen Organisationen, von vielen unterschiedlichen Berufsgruppen wie Ärzten, Diagnostikern, Pflegern, Therapeuten und Verwaltungsangestellten mit teilweise sehr heterogenen Anforderungen genutzt. Dazu hat sich in jüngster Zeit u. a. der sogenannte Digital-Nudging-Ansatz herausgestellt, bei dem durch Anpassungen der Entscheidungssituation eine Systemnutzung durch den Nutzer herbeigeführt werden soll (Meske und Potthoff 2017). Erreicht werden kann dies z. B. durch eine vorherige Nutzungsanalyse (Stieglitz et al. 2017, S. 973). 2. Akzeptanzsubjekt: Das Akzeptanzsubjekt ist der potenzielle Nutzer des IT-Systems. Als späterer Nutzer des Systems sollte dieser auch so behandelt werden und frühzeitig und umfassend mit dem System vertraut gemacht werden. Dem Nutzer sollten deshalb alle notwendigen Informationen zum Einsatz des IT-Systems zur Verfügung gestellt werden, damit sich dieser ein vollumfängliches Bild über den Einsatz der IT machen kann und sich so eine Einstellung zum favorisierten System bilden kann (Dockweiler 2016, S. 268). Durch die aktive Einbeziehung der Nutzer können diese ebenfalls besser die Denkweise des Managements zur Einführung des Systems nachvollziehen, was dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit eines konformistischen Verhaltens bzgl. der Systemnutzung zunimmt. Außerdem wird suggeriert, dass durch die Einbeziehung des Nutzers durch Hands-on-Aktivitäten die Systemangst reduziert werden kann und gleichzeitig dem Nutzer Wissen an die Hand gegeben werden kann, um ihm das Gefühl zur Bewältigung der neuen Aufgabe geben zu können, die mit dem System einhergehen (Venkatesh 2000, S. 346 und Venkatesh und Bala 2008, S. 295–296). Diese Rückkopp-

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677

lungsmöglichkeiten, die sich durch den agilen Softwareentwicklungsprozess ergibt, ist längst kein Standard bei Einführungen von Software. Die meisten Systemeinführungen erfolgen noch immer streng phasenweise und gewünschtes Nutzerfeedback ist unüblich. Aus diesem Grund bedarf es einer grundlegenden Veränderung in der Denkweise der Unternehmen, die die Nutzer frühzeitig in die Softwareerstellung und Einführung integriert (Urbach und Ahlemann 2017, S. 305). Nach der eigentlichen Konzeption des Systems, haben sich insbesondere Schulungen als ein wichtiges Instrument hervorgetan, die die Nutzungsakzeptanz positiv beeinflussen können (Sharma und Yetton 2007). Schulungen sollten dabei einerseits den spezifischen Bedürfnissen der Professionen angepasst sein (Venkatesh et  al. 2011, S. 4), anderseits sollten auch Alterskohorten Berücksichtigung finden, da jüngere Mitarbeiter in der Regel einen geübteren Umgang mit IT-Systemen besitzen als ihre älteren Kollegen (Venkatesh et al. 2011; Stieglitz et al. 2017, S. 968). In diesem Sinne kann ein gegenseitiges Mentorenverhältnis zwischen jüngeren und älteren Mitarbeitern einer Berufsgruppe, bei dem ältere Kollegen Erfahrung aus der unmittelbaren Profession an die jüngeren Kollegen weitergeben und die jüngeren Kollegen ihren älteren Kollegen IT-System-Kenntnisse vermitteln, nutzenstiftend sein (Venkatesh et  al. 2011). Dabei hat sich zumindest bei der Berufsgruppe der Ärzte gezeigt, dass die Nutzerakzeptanz bei Schulungen durch andere Ärzte höher lag, als wenn diese Schulungen von anderen, z. B. Mitarbeiter der IT, abgehalten wurden. Tendenziell gilt dies auch für andere Berufsgruppen, unter der Annahme, dass Mitarbeiter aus derselben Berufsgruppe ähnliche Ansprüche an das System haben. Eine besondere Art Einfluss zeigen auch Escobar-Rodríguez und Romero-Alonso (2014), die den Einfluss von Early Adopters und Late Adopters auf die Nutzungsakzeptanz beschreiben. Im Gegensatz zu den Late Adopters stehen Early Adopters Innovationen positiver entgegen und nutzen diese gern. Die Unterteilung in Early Adopters und Late Adopters wurde unter anderem auch auf Fachabteilungsebene nachgewiesen. Dabei waren unter den Mitarbeitern der Fachabteilungen wie der Pädiatrie oder Urologie mehr Early Adopters als in Abteilungen wie der Inneren Medizin oder der Kardiologie, die wesentlich mehr Late Adopters aufwiesen. Das Management sollte diese Early Adop­ ters identifizieren und mit ihnen einerseits bei der phasenweisen Einführung von IT-Systemen starten und sie andererseits auch als Meinungsführer gegenüber den Late Adopters nutzen (Escobar-Rodríguez und Romero-Alonso 2014, S. 1239). 3. Akzeptanzkontext: Der Akzeptanzkontext beschreibt das Umfeld zwischen dem Akzeptanzobjekt und dem Akzeptanzsubjekt. „Die Gestaltung der Bedingungen des Akzeptanzumfeldes oder -kontextes sollte auf dessen Anpassung im Sinne der Herstellung der sozialen, kulturellen, physischen, ökonomischen und rechtlichen Passfähigkeit mit dem Lebens- und Arbeitsumfeld zielen, in das die neue Technik eingeführt bzw. ­innerhalb dessen sie angewandt werden soll“ (Dockweiler 2016, S. 269). Das System sollte sich entsprechend so in den Kontext einfügen, dass es keinerlei Dissonanzen erzeugt, sondern im Gegenteil Synergieeffekte erzielt. Dies kann beispielweise sein, den bereits technisch-versierten Nutzer durch ein vollumfängliches KIS von papierbasier-

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ten Arbeiten zu entlasten. Ebenfalls hierunter fällt der allgemeine Management Support. Durch das (un-)mittelbare Commitment des Managements zum IT-System kann durch die gezielte Unterstützung erreicht werden, dass trotz umfangreicher Änderungen durch die Einführung neuer Systeme am Arbeitsplatz die Akzeptanz der Nutzer für die neue Technologie gegeben ist (Al Haderi et al. 2018, S. 184). Beispielweise ist es sehr wichtig, den Nutzern Zeit einzuräumen, um sich mit dem System vertraut zu machen, um schließlich effizient damit arbeiten zu können (Miller und Sim 2004, S. 72).

35.4 Schlussbetrachtung Das Gesundheitswesen befindet sich in einer Phase des digitalen Wandels. Dabei ist es aufgrund finanzieller sowie personeller Engpässe umso wichtiger, dass dieser nicht nur schnellstmöglich, sondern möglichst effizient gelingt. Die Einführung einer elektronischen Patientenakte ist dabei ein Schwerpunkt der momentanen Gesundheitspolitik. Um die elektronische Patientenakte jedoch mit Informationen aus den Krankenhäusern zu füllen, b­ edarf es der effizienten Nutzung der Krankenhausinformationssysteme bzw. dessen Anwendersystemen, auf denen die Informationen für die elektronische Patientenakte und weiteren digitalen Innovationen im medizinischen Bereich fußen. Die meisten Krankenhäuser ­besitzen bereits ein Krankenhausinformationssystem und eine Fülle verschiedener Anwendersysteme. Die vollumfängliche Nutzung dieser Systeme, mit Beschaffungswerten im sechsstelligen Bereich, findet jedoch nachweislich nicht statt. Die besprochenen Studien belegen, dass eine effiziente Nutzung durch den Anwender nur möglich ist, wenn dieser die Nutzung des Systems auch akzeptiert. Die Arbeit zeigt sowohl Einflussfaktoren als auch konkrete Handlungsempfehlungen auf, die sowohl vor als auch nach der Einführung von Systemen die Nutzungsakzeptanz beim Anwender erhöhen können. Nur so kann gewährleistet werden, dass Nutzer die Systeme vollumfänglich und maximal effizient nutzen. Die entsprechenden Maßnahmen wurden und werden bei der Einführung von Systemen in den Krankenhäusern immer noch regelmäßig vernachlässigt, der Fokus liegt weiterhin auf der Beschaffung und technischen Implementierung der Systeme. Aus diesem Grund ist ein Wandel in der Denkweise erforderlich, der den zukünftigen Anwender der Systeme so früh wie möglich mit in die Implementierung einbezieht und so die Akzeptanz beim Nutzer ­erhöht. Aber auch retrospektiv ist es wichtig und auch möglich, die Nutzerakzeptanz für bestehende Systeme durch gezielte Managementmaßnahmen zu beeinflussen. Nur so kann gewährleistet werden, dass weitere digitale Innovationen erfolgreich werden.

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Herr Schmidt-Logenthiran  ist Klinikmanager einer neurologischen Fachklinik bei einem der führenden Klinikbetreiber Europas. Darüber hinaus ist er Doktorand an der Professur für Techno-

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logie und Innovationsmanagement am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkt seiner Arbeit ist die digitale Transformation im Gesundheitswesen. Herr Prof. Dr. Michael Stephan  ist Inhaber der Professur für Technologie und Innovationsmanagement an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte seiner Arbeit sind: „Strategien der technologischen Diversifikation in diversifizierten multinationalen Unternehmen“, „Wachstumsstrategien und empirische Analysen zu Expansionsformen von MNU“, „Corporate Development und Instrumente der Diversifikationsplanung in Konzernen“ und „Kompetenzverteilung in systemisch geprägten Industrien und Einfluss der Produktarchitektur auf die Arbeitsteilung“.

Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme: von der Datenrepräsentation zur künstlichen Intelligenz

36

Joachim Steinwendner

Inhaltsverzeichnis 36.1  36.2  36.3  36.4 

Einleitung   efinition „klinische Entscheidungsunterstützungssysteme“  D Die 5 Rights von KEUS  Die 3 Stufen und klinische Beispiele  36.4.1  Stufe 0 – Wissen beim Experten  36.4.2  Stufe 1 – Wissen im System  36.4.3  Stufe 2 – Wissen in den Daten  36.5  Rechtliche Aspekte  36.5.1  Wann ist ein KEUS ein Medizinprodukt?  36.5.2  Regularien für KEUS, basierend auf künstlicher Intelligenz  36.6  Schlussbetrachtung  Literatur 

 684  684  685  686  687  690  691  694  694  696  696  697

Zusammenfassung

Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (KEUS) sind Computersysteme, die die Entscheidung des Klinikers wesentlich beeinflussen, und zwar zum Zeitpunkt der Behandlung eines individuellen Patienten. Diese Systeme kommen in verschiedensten Varianten und Spielformen vor und sind daher formal schwer zu charakterisieren. Obwohl ihre Bedeutung im Behandlungsprozess des Patienten unbestritten ist, auch und vor allem wegen der immer größeren verfügbaren Daten- bzw. Wissensmenge und der fortschreitenden Digitalisierung, treten sie in manchen Bereichen nur punktuell in Erscheinung bzw. werden im klinischen Alltag noch zu wenig genutzt. Diese Systeme J. Steinwendner (*) Fernfachhochschule Schweiz, Regensdorf, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_36

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erlauben die schnelle standardisierte Reaktion auf neue medizinische Erkenntnisse in der medizinischen Behandlung und Dokumentation bei gleichzeitiger Reduktion von medizinischen Fehlern. Die Vielfalt an Erscheinungsformen von KEUS erschwert die Kategorisierung von dieser Art Computersystemen. In dieser Arbeit wird eine 3-stufige Einteilung versucht und mit Beispielen aus der klinischen Praxis unterlegt. Der Erfolg von KEUS mit Elementen der künstlichen Intelligenz wirft auch rechtliche Fragen auf, die in dieser Arbeit beleuchtet werden.

36.1 Einleitung Das Streben nach Digitalisierung in allen Industriebereichen erfordert Innovationen, im Besonderen aber im Gesundheitswesen. Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (KEUS) können die Plattform sein, um Innovation und Digitalisierung voranzutreiben. „To err is human“, so lautet der Titel eines wegweisenden Berichts aus dem Jahre 2000 (Kohn et al. 2000), der zu einem Digitalisierungsschub im klinischen Bereich geführt hat. Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme wurden zusammen mit elektronischen Patientenakten als Schlüsselelemente gesehen, um die Patientensicherheit zu erhöhen (Bright et al. 2012). Die rapid wachsende Menge an medizinische Publikationen, die Meta-Datenbank PubMed wächst täglich um ca. 2500 Publikationen mit einer Wachstumsrate von jährlich 3 % (Pyyssalo 2008), erfordert eine zentralisierte, standardisierte und digitalisierte Bereitstellung des Wissens. Eine Möglichkeit der zentralisierten Verfügbarmachung sind eben klinische Entscheidungsunterstützungssysteme. Während in den Anfängen das Hauptaugenmerk auf die Bereitstellung von Systemen für die computerunterstützte Medikamentenverordnung und den Vorteilen der digitalen Repräsentation klinischer Information und Dokumentation lagen, wurden die Systeme in der Folge erweitert durch Formalisierung des Expertenwissens in sogenannten Expertensystemen. Mit dem erfolgreichen Aufleben von Machine-Learning-Verfahren, im Besonderen von neuronalen Netzen, entstanden neue KEUS, die nicht explizit Expertenwissen, sondern implizit eine große Menge an klinischen Daten zur Verfügung stellen. Diese Methoden, die auch unter dem Begriff der künstlichen Intelligenz (KI) firmieren, wurden möglich durch die Demokratisierung von vor allem Deep-Learning-Methoden. Demokratisierung in diesem Zusammenhang bedeutet, dass Daten, Hardware und Programmbibliotheken so vielen Menschen wie möglich zur Verfügung gestellt werden, und zwar nicht nur Forschenden, sondern auch Laien (Chollet 2018).

36.2 Definition „klinische Entscheidungsunterstützungssysteme“ Aufgrund der Vielfalt an Erscheinungsformen von KEUS gibt es kaum eine einheitliche allgemein akzeptierte Definition von KEUS. Im deutschsprachigen Raum findet sich auch oft die Bezeichnung medizinisches Entscheidungsunterstützungssystem (Puppe 2014). Der

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Autor dieser Arbeit bevorzugt erstere Bezeichnung, da der Begriff Medizin im Gesundheitswesen mit der ärztlichen Tätigkeit assoziiert wird. Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme umfassen Systeme, die für alle im Gesundheitswesen beteiligte Berufe, wie z. B. Pflege, Logopäden, Psychologen etc. geeignet sind. Im anglikanischen Sprachraum werden sie üblicherweise als Clinical Decision Support Systems (CDSS) bezeichnet. Im Folgenden werden einige Definitionen zitiert, die uns auf die 5-R-Regel und unsere Stufeneinteilung in Abschn. 36.4 führen: Clinical Decision Support Systems (CDSS) are active knowledge base systems, with knowledge and person-specific information, intelligently filtered and presented at appropriate times, to enhance health and health care quality (Kolostoumpis 2015). Clinical Decision Support Systems (CDSS) are computer systems designed to impact clinician decision making about individual patients at the point in time that these decions are made (Berner und Lande 2016). Entscheidungsunterstützungssystem sind computergestützte, interactive Systeme, die Entscheidungsträgern in Organisationen und Verwaltung mit Modellen und Methoden bei der Lösung von zumeist komplexen und schlecht strukturierten (strukturierbaren) Entscheidungssituationen helfen (Stahlknecht und Hasenkamp 2013).

All diesen Definitionen ist gemein, dass es sich bei KEUS um ein digitales System handelt, welche dem Entscheidungsträger zur richtigen Zeit, die richtigen Informationen zur Verfügung stellt. In Abschn. 36.3 gehen wir auf die 5-Rights-Regel ein, die genauer spezifiziert, was für klinische Dokumentation und Entscheidungsfindung notwendig ist.

36.3 Die 5 Rights von KEUS Ein wesentlicher Faktor, der zum Erfolg oder Misserfolg beitragen kann, ist die Einhaltung der sind 5-Rights-Regel (Levett-Jones et al. 2010) für die klinische Dokumentation. Diese Regeln bilden auch eine Grundlage für KEUS und finden sich zum Teil implizit in den oben erwähnten Definitionen wieder (Campbell 2013). Richtige Information (right information/cue) Die Information muss auf nachgewiesenem klinischem Wissen basieren, im richtigen Detaillierungsgrad, damit der Nutzer es auch verwenden kann. Richtige Person (right person) Der Empfänger dieser Information kann jedes Mitglied des klinischen Teams sein. Manche Arbeiten inkludieren hier auch den Patienten und/oder seine Angehörigen. Richtiger Kanal (right channel) Die Mittel der Unterstützung müssen sich am Bedarf des Nutzers orientieren, i. E. mobile Geräte, PC, elektronische Krankenakte etc.

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Richtiges Präsentationsformat (right intervention format) Die Hilfe soll in der nützlichsten und verständlichsten Art präsentiert werden, i. E. Verordnungssets, Diagramme, Alerts, Dash-Boards etc. Richtiger Zeitpunkt (right workflow point) Die Information soll zum richtigen Zeitpunkt im Arbeitsablauf zur Verfügung stehen, also genau dann, wenn eine Entscheidung ansteht.

36.4 Die 3 Stufen und klinische Beispiele Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme wurden während der letzten 50 Jahre entwickelt und existieren als Stand-Alone-Systeme oder als Teil kommerzieller klinischer Systeme, wie z. B. Krankenhausinformationssysteme, oder spezialisierter Systeme, wie z.  B.  PDMS-Systeme im Critical-Care-Bereich, onkologische Informationssysteme etc. Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme können nach unterschiedlichen Gesichtspunkten unterteilt werden. Man kann die Einteilung nach dem Zeitpunkt der Unterstützung, also vor, während oder nach der klinischen Entscheidung, vornehmen (Perreault und Metzger 1999). Diese Arbeit unterscheidet auch nach aktiver und passiver Unterstützung unter Berücksichtigung softwareergonomischer Aspekte. In (Osheroff et al. 2012) wird eine genauere Taxonomie der unterschiedlichen Typen von KEUS versucht, die Wissensbasen und Verordnungssets sowie Alert- und Erinnerungsfunktionalität miteinschließt. Eine modernere Kategorisierung unterscheidet zwischen wissensbasierten Systemen und nichtwissensbasierten Systemen. Während ersteres versucht, das Wissen von Experten zu extrahieren und in geeigneter Weise zu formalisieren, beruhen nichtwissensbasierte Systeme auf Verfahren des Machine Learnings und ähnlicher statistischer Mustererkennungsalgorithmen. Die von uns gewählte Einteilung orientiert sich etwas an der chronologischen Entwicklung von KEUS, von der intelligenten Datenrepräsentation bis zur künstlichen Intelligenz. Es ist zu bemerken, dass diese Einteilung keiner Wertung entspricht und alle Systeme dieser Stufen nach wie vor ihre Berechtigung besitzen. Für alle Stufen werden die Unterscheide bildhaft anhand einer Daten-, Funktionsund Benutzerebene hervorgehoben. Von besonderer Bedeutung ist die Schnittstelle zwischen System (Daten- und Funktionsebene) und dem Benutzer (Benutzerebene), oft als Mensch-Maschine-Schnittstelle bezeichnet, die als Dialogkomponente eine wichtige Aufgabe erfüllt. Diese Dialogkomponente ist für die Einhaltung der 5-R-Regeln verantwortlich. Es ist natürlich nicht möglich, eine exhaustive Liste an Beispielen bzw. Beispieltypen zu beschreiben, deshalb wird eine Auswahl getroffen und im Hinblick auf die Einstufung und Besonderheiten in Bezug auf die 5-R-Regel analysiert.

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36.4.1 Stufe 0 – Wissen beim Experten In die Stufe 0 gehören KEUS, die Patientendaten in geeigneter Form für klinische Entscheidungen darstellen, siehe Abb. 36.1. Prinzipiell könnte man unterstellen, dass jedes digitale medizinische Informationssystem in die Stufe 0 gehört. Allerdings ist zu bemerken, dass historisch gesehen die ersten medizinischen Informationssysteme entweder als spezialisierter Teil zu Medizingeräten geschaffen wurden oder als Dokumentationssysteme mit dem Hauptziel der einfacheren Abrechnung der Gesundheitsleistungen. Selbst moderne Krankenhausinformationssysteme richten nach wie vor ein sehr hohes Augenmerk auf die wirtschaftlichen Anforderungen und nur zum Teil auf klinische Anforderungen. Diese Tatsache ist auch ein Grund, warum sich spezialisierte Systeme entwickelt haben, die den klinischen Anwendungsbereich im Fokus haben, wie z. B. PDMS-Systeme (Cheung et al. 2015). Systeme der Stufe 0 haben zum Ziel, die Daten gefiltert und strukturiert für den primären Verwendungszusammenhang der klinischen Dokumentation (Haas 2005) zu repräsentieren, wie in den folgenden Beispielen gezeigt wird. Beispiele  In Abb. 36.2 werden unterschiedliche Datenquellen zum Thema Ernährung zusammengefasst, wie z. B. Body-Mass-Index, Ist/Sollgewicht, Ernährungsstatus in Bezug auf Fette, Kohlehydrate, Eiweiße und statusbestimmende Laborwerte. Vor allem in der Intensivmedizin gibt es Informationen, die ständig monitiert und sehr schnell zur Verfügung stehen müssen. Abb. 36.3 zeigt an einem sehr einfachen Beispiel die Wichtigkeit der richtigen Datenrepräsentation für die Patientenbehandlung. Im Bereich der Neurochirurgie spielt der Pupillenstatus eine wichtige Rolle. In diesem Beispiel wird

Daten(bank)

Datenebene

Funkonsebene

Dialogkomponente Wissens basis

Experte

Benutzer

Abb. 36.1  Stufe 0 – Wissen beim Experten. (Quelle: Eigene Darstellung)

Benutzerebene

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Abb. 36.2  Ernährungsstatusmodul in einem PDMS-System. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 36.3  Visuelle Darstellung des Pupillenstatus in einem KEUS. (Quelle: Eigene Darstellung)

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der Status nicht nur wie üblich textuell dargestellt, sondern symbolisch als Bild. Somit wird diese Information visuell schneller aufgenommen und ist gleichzeitig über eine größere Distanz zum Bildschirm (z. B. vom Bettende aus) besser sichtbar. Die Dialogkomponente hat die Aufgabe, neueste Erkenntnisse der Software Ergonomie zu berücksichtigen (Herczeg 2018). Ein wichtiger Punkt ist hier, dass Informationen medienübergreifend möglichst gleich dargestellt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin (DIVI) hat in diesem Zusammenhang in der DIVI/ISO-26825-Norm eine Farbbezeichnung für Medikamente geschaffen. Ein KEUS muss das über die Dialogkomponente berücksichtigen können. Abb. 36.4 zeigt die durchgängige Färbung und Musterung von Medikamentenfarben vom KEUS über die Markierung von Spritzenpumpen (Steinwendner 2013). Einer der Herausforderungen ist, die Daten flexibel nach unterschiedlichen Strukturen darzustellen. Die Strukturierung kann nach unterschiedlichen Kategorien erfolgen: • Art der Daten, wie z. B. Labordaten, Medikamentenverordnungen, arterielle oder venöse Zugänge, Pflegedokumentation • Organsystemen • Krankheitsbildern Eine weitere Möglichkeit wird in (Steinwendner et al. 2004) aufgezeigt, wo Patienteninformationen nach räumlichen Kriterien strukturiert werden. Dabei wird auf ein fachfremdes Gebiet der räumlichen Informationssysteme bzw. geografische Informationssysteme

Abb. 36.4  Medienübergreifende, ISO-normierte Darstellung von Medikamentenfarben. (Quelle: Eigene Darstellung)

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(GIS) zugegriffen, um alternative Darstellungsformen zu propagieren. Der Mensch wird hier als räumliches System betrachtet und in der Dialogkomponente dargestellt. Dabei werden die herkömmlichen Präsentationsformen Tabellen, Listen und Formulare um räumliche Darstellungskomponenten erweitert.

36.4.2 Stufe 1 – Wissen im System In der Stufe 1 (siehe Abb. 36.5) wird in der Funktionsebene versucht, das Expertenwissen zu formalisieren und zu objektivieren. Es wird also die Subjektivität der einzelnen Experten, die in Stufe 0 noch vorhanden ist, aus der gesundheitlichen Behandlung herausgenommen. Ein weiterer Vorteil gegenüber Stufe-0-Systemen liegt in der Standardisierung der Behandlung von Patienten. Damit kann unter anderem die Über- oder Unterbehandlung von Patienten vor allem in auch ökonomisch relevanten Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Atemwegserkrankungen etc. reduziert werden. Das bedeutet nicht, dass die Behandlungen patientenunabhängig sind. Es kann und wird sehr wohl auch patientenspezifische Information in das Regelwerk des formalisierten Expertenwissens einfließen. Für Stufe-1-Systeme gibt es unterschiedliche Möglichkeiten der Formalisierung (Puppe 2014): • Semantische Netze • Frames • Produktionsregelsysteme

Wissensbasis

Daten(bank)

Datenebene

Interferenzmaschine Funkonsebene

Wissenserwerbskomponente Dialogkomponente

Experte

Erklärungskomponente

Benutzer

Abb. 36.5  Stufe 1 – Wissen im System. (Quelle: Eigene Darstellung)

Benutzerebene

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Eine besondere Herausforderung ist neben der Art der Formalisierung auch die Extraktion des Wissens von Experten, das auch bereits in Puppe (1990) beschrieben wird. Beispiele  Beispiele für KEUS der Stufe 1, die verbreitet im klinischen Einsatz sind, stellen Medikationsinteraktionssysteme dar. Diese Systeme sammeln zentralisiert Informationen zu Medikationsinteraktionen und stellen sowohl Fachinformation, Interaktionsursachen und Alternativen zur Verfügung. Beispiele sind das System von Diagnosia (Abb. 36.6) und Epha.ch (Abb. 36.7). Dieses KEUS ist so modular gestaltet, dass es als Stand-Alone-System laufen kann, aber auch als Modul in einem beliebigen medizinischen Informationssystem und erfüllt unter anderem die 5-R-Regeln (siehe Abb. 36.7). Ein weiteres Beispiel für KEUS der Stufe 1 gehört in die Kategorie der regelbasierten Expertensysteme und basiert auf der Arden-Syntax (Adlassnig et al. 2018). Die Arden-­ Syntax (siehe Abb. 36.8) wird als Programmiersprache bezeichnet, die speziell für medizinische Expertensysteme entwickelt wurde. Die Besonderheit ist unter anderem, dass dieses System auch in den international sehr weit verbreiteten HL7-Standard aufgenommen wurde und damit auch einen gewissen Austausch garantiert.

36.4.3 Stufe 2 – Wissen in den Daten Machine-Learning-Verfahren stellen die nächste Stufe von KEUS dar, wie in Abb. 36.9 dargestellt. Diese Systeme werden oft auch als nichtwissensbasierte Systeme klassiert

Abb. 36.6  Medikationsinteraktionssystem Diagnosia. (Quelle: Diagnosia 2019)

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Abb. 36.7  Darstellung von Medikamenteninteraktionen mit unterschiedlichen Schweregraden. (Quelle: Epha 2019)

Abb. 36.8  Arden Syntax am Beispiel des SIRS-Syndroms. (Quelle: Adlassnig et al. 2018)

36  Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme: von der Datenrepräsentation zur … 693

Wissensbasis

Daten (bank)

(Trainingsdaten)

(weak) Artificial Intelligence/ Machine Learning/ Deep Learning

Datenebene

Funktionsebene

Dialogkomponente

Experte

Benutzer

Benutzerebene

Abb. 36.9  Stufe 2 – Wissen in den Daten. (Quelle: Eigene Darstellung 2019)

(Berner und Lande 2016). Der wesentliche Unterschied zur Stufe 1 ist, dass das Wissen nicht mehr explizit durch Experten formalisiert und als Regelwerk definiert werden muss. Das inhärent vorhandene Expertenwissen wird über eine große Datenmenge mit Behandlungsinformationen zur Verfügung gestellt. Vor allem mit Deep-Learning-Verfahren konnte man hier bereits große Erfolge verzeichnen, die auch schon die Bench-to-Bedside-Distanz überwunden haben und in der Klinik eingesetzt werden. Als Deep-Learning-Verfahren bezeichnet man jene Machine-­ Learning-­Algorithmen, die auf Basis von mehrschichtigen neuronalen Netzen arbeiten. Vor allem in der Bilderkennung mit neuronalen Netzen, genauer gesagt mit der Klasse der Convolutional Neural Networks, hat man enorme Fortschritte gemacht. Aus diesem Grund vermelden genau jene klinischen Bereiche, die diagnostisch mit Bildern arbeiten, wie z.  B.  Dermatologie, Pathologie und Radiologie, beeindruckende Erfolge mit Stufe-2-­ KEUS (Steinwendner und Perani 2018). Ein Kritikpunkt des Einsatzes von Stufe-2-Systemen ist die mangelnde Nachvollziehbarkeit. Während Stufe-1-Systeme meist auch noch eine Erklärungskomponente a­ uf­weisen, fehlt diese nahezu zur Gänze in Stufe-2-Systemen (Blackbox -Systeme). Selbstverständlich können auch Machine-Learning-Verfahren Informationen liefern, die die Ergebnisse erklären. Allerdings sind diese für medizinische Experten nur schwer interpretierbar. Beispiel  Am Universitätsspital Zürich hat das Institut für diagnostische und interventionelle Radiologie ein Deep-Learning-System zur Breast-Density-Bestimmung (Becker et al. 2017) bereits im klinischen Einsatz und bieten über das Unternehmen b-rayZ auch eine webbasierte Analyse für Patienten und Institutionen an (siehe Abb. 36.10).

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Abb. 36.10  Breast Density Classification mit Deep Learning durch b-rayz.ch. (Quelle: b-rayZ 2019)

36.5 Rechtliche Aspekte Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme stellen Softwareprodukte dar, die im Gesundheitswesen eingesetzt werden. Spannend ist die Frage, wann eine Software als Medizinprodukt zu klassifizieren ist, mit den entsprechenden Konsequenzen. Wohl gibt es zwar die Medizinprodukterichtlinie MDD und die Medizinprodukteverordnung MDR, beiden ist jedoch gemein, dass sie keine konkreten Anforderungen an KEUS geben (Johner 2017).

36.5.1 Wann ist ein KEUS ein Medizinprodukt? Prinzipiell ist dazu zu bemerken, dass die Zweckbestimmung des Herstellers entscheidet, wann eine Software als Medizinprodukt zu klassifizieren ist. Wenn der Hersteller sie zur Diagnose, Therapie oder Überwachung von Krankheiten und Verletzungen vorgesehen hat, dann ist ein KEUS als Medizinprodukt zu betrachten. Interessant ist, dass die Zweckbestimmung und nicht in erster Linie die Funktionen des KEUS für die Einteilung als Medizinprodukt entscheidend sind. Das bedeutet, dass ein KEUS abhängig von der Zweckbestimmung ein Medizinprodukt oder kein Medizinprodukt sein kann. Es existiert allerdings eine Reihe von Dokumenten und Entscheidungshilfen zu diesem Punkt (Johner 2019b). Besonders interessant ist hier sicherlich das MEDDEV 2.1/6 (Europäische Kommission 2016), das einen Entscheidungsbaum für die Klassifizierung eines Softwareprodukts anbietet (siehe Abb. 36.11).

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Abb. 36.11  Entscheidungsdiagramm für die Klassifizierung von Software als Medizinprodukt. (Quelle: Europäische Kommission 2016)

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36.5.2 Regularien für KEUS, basierend auf künstlicher Intelligenz Da manche KEUS der Stufe 2 bereits im klinischen Einsatz stehen, muss man die berechtigte Frage stellen, ob diese Systeme nicht Medizinprodukte darstellen, die einer entsprechenden Zertifizierung bedürfen. Es existieren keine spezifischen regulatorischen Anforderungen für den Einsatz von Systemen der künstlichen Intelligenz. Allerdings müssen diese KEUS bereits bestehende Anforderungen der Medical Device Directive (MDD) und der Medical Device Regulation (MDR) erfüllen. Nach (Johner 2019a) sind das unter anderem: • • • •

Der Hersteller muss den Nutzen und die Leistungsfähigkeit nachweisen. Wiederholbarkeit, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit (MDR). Hersteller müssen die Methoden der Nachweise beschreiben. Die Kompetenz der an der Entwicklung beteiligten Personen muss bestimmt und gewährleistet werden.

Die Food and Drug Administration (FDA) der Vereinigten Staaten Amerikas hat dazu bereits ein Dokument veröffentlicht, wie mit Softwaresystemen als Medizinprodukt umzugehen ist (FDA 2019). Die Blackbox-Problematik bei Stufe-2-Systemen führt dazu, dass sich Hersteller schwer tun, die gestellten Anforderungen an Genauigkeit, Korrektheit und Robustheit zu erfüllen. Dennoch gibt es starke Bestrebungen, Machine-Learning-Verfahren interpretierbar zu machen (Molnar 2019). Status quo ist allerdings, dass die regulatorischen Vorgaben in Bezug auf KEUS und künstlicher Intelligenz nicht ausreichend sind. Die Lösung wird sein, dass man für das Auditing Anforderungen definiert, die speziell auf Methoden der künstlichen Intelligenz zugeschnitten sind, z. B.: „Wie vermeiden Sie Overfitting?“, „Entspricht der Trainingsdatensatz der zu behandelnden Population?“, „Welche Wege wurden geschritten, um das optimale Modell zu finden?“.

36.6 Schlussbetrachtung Es wurden verschiedene Definitionen zu klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen gegeben. Dabei wurde eine 3-stufige Kategorisierung von KEUS vorgenommen, wobei die Benutzer-, Funktions- und Datenebenen eine entscheidende Rolle für die Einteilung spielen. Vor allem die Lokalisierung des Wissens (beim Experten, im Regelsystem, in den Daten) spielt eine entscheidende Rolle bei der Unterscheidung der Kategorien. Es werden zu den Stufen passende Beispiele von KEUS im klinischen Einsatz diskutiert. Diese Kategorisierung stellt keine Wertung dar, sondern fokussiert auf unterschiedliche Schwerpunkte.

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Während die Systeme der Stufe 0 ihren Schwerpunkt auf die Dialogkomponente legen, unter Berücksichtigung von softwareergonomischen Aspekten und behandlungsoptimaler Strukturierung und Darstellung der Daten, versuchen die Systeme der Stufe 1 und 2, Expertenwissen zu zentralisieren und explizit (durch Frames, semantische Netze oder Regeln) oder implizit (durch eine große Menge an Daten) zur Verfügung zu stellen. Allen Stufen gemein ist, dass sie aus dokumentativer Sicht gewisse Anforderungen erfüllen müssen, die mit den 5 Rights der KEUS festgelegt werden. Zum Abschluss wurden noch regulatorische Betrachtungen zu KEUS angestellt. Vor allem im Bereich der künstlichen Intelligenz gibt es noch große Unsicherheiten bezüglich der Klassifikation von Software als Medizinprodukt. Dennoch ist im Zuge eines weiteren Digitalisierungsschubs abzusehen, dass es in allen KEUS-Stufen weitere hochinteressante Innovationen und Entwicklungen geben wird.

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36  Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme: von der Datenrepräsentation zur … 699 Dr. Joachim Steinwendner,  M.Sc., ist Forschungsfeldleiter „GeoHealth Analytics“ an der Fernfachhochschule Schweiz sowie Dozent an der ETH Zürich im Bereich „Geo Big Data“, wo er in Forschung und Lehre Methoden der künstlichen Intelligenz für Geoinformatik und/oder Gesundheitsinformatik erforscht. Er absolvierte sein Studium der Computerwissenschaften an der Universität Salzburg, Österreich, und der Bowling Green State University, OH, USA.  Seine Promotion erreichte er an der Universität für Bodenkultur, Wien, im Bereich der erdbeobachtenden Satellitenbildverarbeitung, wo er mit Machine Learning Methoden für Satellitenbilddaten entwickelte für biologische, forstwirtschaftliche und landwirtschaftliche Fragestellungen. Ab dem Jahre 2003 arbeitete er an der Universitätsklinik Salzburg, Universitätsspital Zürich und Spital Zollikerberg Zürich mit dem Schwerpunkt von medizinischen Informationssystemen im Critical-Care-Bereich. Parallel dazu lehrte er an der Fachhochschule Salzburg verschiedene Aspekte der Medizininformatik. Danach wechselte er an seine heutige Position an der Fernfachhochschule Schweiz.

Innovativer Einsatz künstlicher Intelligenz bei bildgebenden Verfahren im klinischen Alltag

37

Johannes Winter

Inhaltsverzeichnis 37.1  37.2  37.3  37.4  37.5  37.6 

Einleitung   as Krankenhaus als Einsatzort von künstlicher Intelligenz  D Status quo des Einsatzes von KI in deutschen Krankenhäusern  KI in der Radiologie  Steigende Nachfrage bei abnehmender radiologischer Leistungserbringung  Technologische Weiterentwicklung bildgebender Verfahren und Vermeidung von Fehldiagnosen  37.7  KI in der klinischen Routine  37.8  Schlussbetrachtung  Literatur 

 702  703  705  706  707  708  709  711  712

Zusammenfassung

Begriffe wie Machine Learning, Deep Learning oder künstliche Intelligenz sind ­Schlagworte, die derzeit in nahezu jeder Branche für große Aufmerksamkeit sorgen und oftmals Begehrlichkeiten wecken. Die mit diesen technologischen Entwicklungen verknüpften Potenziale scheinen oftmals gar unerschöpflich. Doch welche Anwendungsgebiete und Entwicklungspotenziale hält diese Technologie für das Gesundheitswesen bereit? Wie profitieren Patienten und Ärzte von modernen algorithmischen ­Anwendungsverfahren? Auch im deutschen Gesundheitswesen gibt es Fachbereiche, die bereits heute vom Einsatz künstlicher Intelligenz lernen und profitieren. Der Blick in die Zukunft lässt darüber hinaus soziodemografische und technologische Ent-

J. Winter (*) Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_37

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wicklungen erkennen, die ein Umdenken erfordern und den Einsatz intelligenter, ­technologischer Lösungen obligatorisch erscheinen lassen. Im Fachbereich der Radiologie werden die Potenziale künstlicher Intelligenz bereits heute offensichtlich und geben einen Einblick in Chancen und Risiken, die mit dem Einsatz moderner Technologien verknüpft sind.

37.1 Einleitung Der innovative Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen und speziell in Krankenhäusern ist derzeit ein häufig diskutiertes Thema, welches maßgeblich von drei konvergierenden Entwicklungen geprägt und beeinflusst wird. Die wohl größte und primäre Herausforderung ist die nachhaltige Bereitstellung einer medizinisch hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle Menschen. Dabei liegt die Herausforderung nicht allein in der steigenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen aufgrund der immer älter werdenden Bevölkerung oder dem Anstieg chronisch erkrankter Personen, sondern zunehmend auch in einem begrenzten Angebot der Gesundheitsversorgung durch Personalmangel in Gesundheitsberufen (Arnold und Wilson 2017). Während im Jahr 2013 noch 4,4  Mio. 80-Jährige und Ältere in Deutschland lebten, wird sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 auf knapp 10 Mio. erhöhen (Bundeszentrale für politische Bildung 2015). Jede achte Person wird in Deutschland im Jahr 2050 somit mindestens 80 Jahre alt sein, jede dritte Person über 65 Jahre (Statistisches Bundesamt 2015). Dies ist kein deutsches Phänomen. Weltweit wird sich die Anzahl von Personen, die 80 Jahre oder älter sind, bis zum Jahr 2050 verdreifachen (United Nations 2017). Als 2. Entwicklung ist die stark wachsende Menge an gesundheitsbezogenen Daten anzuführen. Sowohl die Menge patientenbezogener, elektronisch erfasster Daten als auch Fachartikel und Studien in den einzelnen medizinischen Fachgebieten sind drastisch gestiegen (Arnold und Wilson 2017). Für das Jahr 2013 wurde geschätzt, dass die Menge gesundheitsbezogener Daten mehr als 150 Exabytes (eine Billion Gigabytes) erreicht hat. Bei prognostizierten Wachstumsraten wird diese Zahl bis 2020 auf das 15-Fache ansteigen (EMC Digital Universe 2014). Es kann angenommen werden, dass der überwiegende Teil dieser Datenmengen unstrukturiert und somit in keiner Datenbank oder anderen Art von Datenstruktur enthalten ist. Als klinischer Entscheidungsträger mit diesen Datenmengen vertraut zu sein und auf diese Daten zugreifen zu können, wird somit immer schwieriger (Arnold und Wilson 2017). Die 3. Entwicklung definiert sich durch Anwendungen, die KI bereits einsetzen und längst in der Gesellschaft und bei Konsumenten angekommen sind. Durch beständige Akquisitionen von KI-Startups in den letzten Jahren entwickeln große Technologiekonzerne wie Google, Apple oder Amazon ihre Kompetenzen im Bereich der KI weiter und bringen diese durch den Einsatz in ihren Sprachassistenten wie Google Assistant, Siri oder Alexa in den Alltag vieler Menschen (CB Insights 2018). Als zentrale Institutionen im Gesundheitswesen stehen Krankenhäuser in Zukunft vor großen Herausforderungen. Die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen einer

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alternden Gesellschaft, die damit einhergehende Zunahme medizinischer Daten sowie die Notwendigkeit neue Technologien und Verfahren in den klinischen Alltag zu implementieren, werden die Entwicklung der Krankenhäuser prägen. Der Einsatz von KI hat das Potenzial, diesen Herausforderungen in Teilbereichen bereits heute zu begegnen und zukunftsorientierte Lösungswege aufzuzeigen.

37.2 Das Krankenhaus als Einsatzort von künstlicher Intelligenz Eine der derzeit größten Herausforderungen für die globale Gesellschaft ist die nationale sowie die internationale Gestaltung des Gesundheitswesens (Arbeitskreis Regulierung in Netzindustrien der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. 2018). Viele Industrienationen stehen vor dem Problem einer immer älter werdenden Gesellschaft und dem damit einhergehenden demografischen Wandel. Exemplarisch für diese Entwicklung verdeutlicht Abb. 37.1, wie sich die Altersstruktur in Deutschland bis zum Jahr 2030 respektive 2060 verändern wird. Anhand der Abb. 37.1 ist deutlich zu erkennen, dass die deutsche Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten einen kontinuierlichen Alterungsprozess erfahren wird. Eine alternde Gesellschaft wird in naher Zukunft von kleiner werdenden Nachwuchsgenerationen gestützt und versorgt werden müssen. Zusätzlich wird die gesundheitliche Versorgung von fünf weiteren, global zu beobachtenden Entwicklungen geprägt werden. Die Patientenversorgung wird wesentlich individueller werden (Epstein et  al. 2010), Vergütungsstrukturen werden komplexer und gebündelter (Porter 2009), Prozesse werden komplett integriert (Tang und Lansky 2005), der Patient wird aufgeklärter und mündiger (Oshima Lee und Emanuel 2013) und präventiven Maßnahmen wird ein hohes Maß an Bedeutung zukommen (Beaglehole et al. 2008). All diese Entwicklungen bieten für sich ein großes Potenzial, die zukünftige Gesundheitsversorgung zu verbessern. Diese Aufgabe wird aber ohne funktionierende digitale

Abb. 37.1  Alterung der Gesellschaft in Deutschland. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Infrastruktur nicht zu bewerkstelligen sein. Digitale Technologien haben in den vergangenen Jahren ganze Branchen grundlegend revolutioniert und auch das Gesundheitssystem findet sich mitten in diesem digitalen Wandel wieder (Arbeitskreis Regulierung in Netzindustrien der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V. 2018). Ein Begriff von zentraler Bedeutung im Gesundheitswesen ist daher E-Health. Dieser beschreibt IT-Systeme, die Informationen und Daten zwischen Patienten und Leistungserbringern austauschen. Ziel dabei ist es, die Vorbeugung, Diagnose, Therapie oder das Monitoring des Gesundheitszustands zu verbessern (Europäische Kommission 2018). Sämtliche E-Health-Initiativen fokussieren sich auf den Anpassungsdruck im Gesundheitswesen, insbesondere in Krankenhäusern, und verfolgen das Ziel, Kosten durch die Optimierung von Diagnosen und Behandlungen mithilfe klinischer Informationssysteme langfristig zu reduzieren, die Risiken bei Eingriffen zu minimieren, um letztendlich die Qualität sowie die Patientenzufriedenheit zu steigern (Haluza und Jungwirth 2018). Abb. 37.2 verdeutlicht am Beispiel der bildgebenden Diagnostik, dass die Menge gesundheitsbezogener Daten auch in deutschen Krankenhäusern in den letzten Jahren massiv angestiegen ist. Im Jahr 2005 wurden in deutschen Krankenhäusern rund 5 Mio. diagnostische Aufnahmen gemacht, im Jahr 2017 beläuft sich die Anzahl der Aufnahmen bereits auf etwa 12,7 Mio. Dies entspricht einer Wachstumsrate von rund 150 % (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2019b). Betrachtet man die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate seit 2014, so liegt diese bei 5 % pro Jahr. Bleibt es bei dieser Entwicklung, so würde sich die Anzahl bildgebender Diagnostik bis zum Jahr 2025 auf ca. 19  Mio. Anwendungen ­erhöhen. Diese Entwicklung hat konkrete Auswirkungen auf die zukünftige Arbeitsweise in Krankenhäusern, nicht nur in Deutschland.

Abb. 37.2  Entwicklung der Anwendung bildgebender Diagnostik in Deutschland. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Die anfallenden Datenmengen ermöglichen und erfordern den Einsatz von sogenannten Clinical Decision Support Systems (CDSS) sowie den Einsatz von Big-Data-Analyseinstrumenten (Sardanelli 2017). Eine der bisher größten Hürden der Datenauswertung ist allerdings die Tatsache, dass Daten und die darin enthaltenen relevanten Informationen häufig in unstrukturierter Form vorliegen (Rüping 2015). Herkömmliche statistische Verfahren und Methoden können diese unstrukturierten Daten nicht auswerten. Mithilfe moderner Technologien wie Big-­ Data-Analysen und der KI durch Algorithmen sind Krankenhäuser zukünftig in der Lage, Informationen aus Daten effizient zu nutzen und einen klinikübergreifenden Nutzengewinn zu generieren (Holzinger et al. 2014). Diese Entwicklungen bei der Analyse großer Datenmengen mithilfe von Machine Learning lassen kognitive Systeme innerhalb einer Organisation entstehen (Fischer et al. 2015). Kognitive Systeme stellen für Ärzte in diesem Zusammenhang neue Entscheidungshilfen dar. Dies führt in letzter Konsequenz zu verbesserten Diagnoseergebnissen, Therapieempfehlungen und zu einer deutlichen Zeitersparnis für die behandelnden Ärzte (Fischer et al. 2015). Die Bedeutung der systematischen Analyse, Vernetzung und Interpretation von Patientendaten im klinischen Umfeld wird zusätzlich durch das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Projekt „Klinische Datenintelligenz“ unterstrichen. Das Projekt setzt dabei maßgeblich auf den Einsatz von KI in deutschen Krankenhäusern (Gehring et al. 2018). Künstliche Intelligenz ist somit ein zentrales Element bei dem langfristigen Ziel, kognitive und intelligente Systeme in Krankenhäusern zu etablieren. Häufig werden diese Systeme in der Literatur als Clinical Decision Support Systems bezeichnet. Das primäre Ziel eines CDSS ist es, mithilfe von KI, auch ohne grundlegende Wissensbasis aus Erfahrungswerten und speziellen Mustern in patientenindividuellen Daten, die Grundlage für eine medizinische Entscheidung anbieten zu können.

37.3 S  tatus quo des Einsatzes von KI in deutschen Krankenhäusern Es ist davon auszugehen, dass im Jahr 2019 der Einsatz von KI-gestützten Anwendungen in deutschen Krankenhäusern und deren klinischem Alltag noch überschaubar ist, jedoch in kurzer Zeit schon stark zunehmen könnte. Betrachtet man aktuell prognostizierte Marktdaten, so bestätigen diese eine starke Zunahme von KI-Applikationen im globalen Gesundheitswesen. Analysten beziffern das Umsatzvolumen von KI im Gesundheitssektor für das Jahr 2016 mit rund 1,4 Mrd. USD. Im Jahr 2023 soll dieses dann bereits bei rund 23 Mrd. USD liegen. Im Zeitraum von 2017 bis 2023 entsprechen diese Werte einer jährlichen Wachstumsrate von rund 49  % (Allied Market Research 2018). Diese Zahlen vermitteln deutlich die ökonomischen Dimensionen, die mit der Entwicklung und Vermarktung von KI im Gesundheitssektor verbunden sind. Allerdings kann von einer ­flächendeckenden, routinemäßigen Anwendung in Deutschland derzeit noch keine Rede sein. Prof. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universi-

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tätsklinikums Essen, geht davon aus, dass rund die Hälfte der deutschen Krankenhäuser in den nächsten 5 Jahren gezielt KI zur Patientenversorgung einsetzen wird (Retzlaff 2017). Das Universitätsklinikum Essen ist es auch, dass sich in der Literatur als Vorreiter eines umfassenden digitalen Transformationsprozesses unter Nutzung von KI hervortut. Ziel des Klinikums ist es, sich bis zum Jahr 2020 zum digitalen „Smart Hospital“ zu transformieren, welches maßgeblich auf den Einsatz von KI und Robotik setzt (Doelfs 2018). Das sogenannte Smart Hospital bezeichnet laut Werner „das vernetzte, digital gelenkte Krankenhaus, in dem die Handlungen, Befunde und Maßnahmen des medizinischen Personals ebenso in eine elektronische Krankenakte einfließen wie die über medizinische Geräte generierten Daten“ (Doelfs 2018). Eine entscheidende Rolle sollen dabei gemäß Werner kognitive Computersysteme spielen, um „mit verbreiteter Anwendung von Künstlicher Intelligenz zunächst zur Erleichterung repetitiver Vorgänge beizutragen und ebenso im Kontext von Musteranalysen diagnostischer Fächer“ (mednic 2018). Seit 2016 wird in der Radiologie des Klinikums eine KI-Applikation entwickelt, welche die automatisierte Analyse von Bilddaten erlaubt. Ein Forschungsteam der Pathologie entwickelt eine KI-­ gestützte Methode, die die Diagnosestellung bei Patienten mit bestimmten Lungentumoren ohne Biopsie ermöglicht (Doelfs 2018). Ein weiteres Leuchtturmprojekt von KI im Krankenhaus findet sich am Universitätsklinikum in Heidelberg. In Kooperation mit Siemens Healthineers findet dort der „digitale Zwilling“ Einzug in den Behandlungsalltag. Ein digitaler Zwilling kann als digitales „Abbild“ eines physischen Objekts beschrieben werden, indem er mit sämtlichen verfügbaren Geometrie-, Kinematik- und Logikdaten simuliert wird (Fraunhofer-Institut für Optronik Systemtechnik und Bildauswertung IOSB 2019). Im konkreten Fall können die Kardiologen am Heidelberger Uniklinikum mit einem, von Siemens Healthineers entwickelten, digitalen Herz noch vor der Operation simulieren, wie ein Patient auf einen operativen Eingriff reagieren wird. Am Computer wird die Operation, beispielsweise die Implantation eines Herzschrittmachers, an einem digitalen Herz, welches die identischen physikalischen Eigenschaften wie die des Patienten aufweist, simuliert. So können etwaige Risiken minimiert werden, die ohne Simulation erst während des aktiven Eingriffs aufgetreten wären. Die Personalisierung eines jeden einzelnen Eingriffs kann zukünftig dabei helfen Ressourcen zu sparen und die Behandlungsqualität langfristig zu erhöhen (Reuters 2018).

37.4 KI in der Radiologie Nach heutigem Stand befindet sich die Anwendung von KI im klinischen Routinebetrieb erst am Anfang. Die verwendeten Systeme und Programme sind oftmals noch in hohem Maße ausbaufähig (Telgheder 2017). Allerdings profitieren einige medizinische Fachdisziplinen bereits heute vom aktiven Einsatz und aktuellen Entwicklungsstand der KI. Zwei Fachbereiche sind dabei besonders hervorzuheben – die bildgebende Diagnostik sowie die Präzisionsmedizin (Sardanelli 2017; Bogdan 2018). Aus jeweils unterschiedlichen Gründen scheinen sich gerade diese beiden Fachbereiche besonders für den Einsatz der KI zu

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eignen. Der Einsatz von KI in der Radiologie wird beispielsweise von drei ausschlaggebenden Faktoren forciert (Siemens Healthineers 2017): 1. In vielen Ländern weltweit besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Anzahl ausgebildeter Radiologen und der stetig ansteigenden Nachfrage bzw. Notwendigkeit an bildgebenden Verfahren. 2. Technologische Fortschritte und Entwicklungen ermöglichen heute die Aufnahme ultra-­hochauflösender Bilder mit einem stark erhöhten Bedarf an Datenvolumen. 3. Diagnosefehler sind bis heute, vor allem in der Radiologie, ein permanentes Risiko, das sich mit einer steigenden Anzahl an auszuwertenden Aufnahmen weiter erhöht. Die Radiologie als medizinische Disziplin ist im Vergleich zu anderen Feldern der Medizin eine vergleichsweise junge Fachrichtung. Der Grundstein der Radiologie liegt in der Entdeckung der Röntgenstrahlung im Jahr 1895 durch Wilhelm Conrad Röntgen. An diese fundamentale Entdeckung schlossen sich in den folgenden Jahrzehnten rasante medizinisch-technische Forschungen und Entwicklungen an (Deutsche Röntgengesellschaft 2018). Seit jeher sind medizinisches Wissen und technisches Know-how in dieser Fachdisziplin eng miteinander verknüpft. Der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft Stefan Schönberg vom Institut für Klinische Radiologie und Nuklearmedizin der Universitätsmedizin Mannheim beschreibt den Einsatz selbstlernender Algorithmen als 4. Revolution innerhalb der Radiologie. Nach der Einführung des Kontrastmittels und der tech­ nologischen Optimierung der Bildgebung mit dem zentralen Ziel einer höheren Geschwindigkeit bei niedrigerer Strahlendosis sowie der Etablierung sog. molekularer Tracer, sei die KI die 4., eine „mathematische“, Revolution innerhalb der bildgebenden Verfahren (Schönberg 2018).

37.5 S  teigende Nachfrage bei abnehmender radiologischer Leistungserbringung Ein Trend, der sich bereits seit einigen Jahren weltweit abzeichnet, ist die immer stärker werdende Diskrepanz zwischen der Anzahl neu ausgebildeter Radiologen und der steigenden Nachfrage nach bildgebender Diagnostik (Siemens Healthineers 2017). Diese Entwicklung lässt sich anhand zweier entscheidender Parameter darlegen. Die Zahl der in Deutschland bei der Bundesärztekammer (BÄK) zugelassenen Radiologen lag im Jahr 2012 bei rund 10.000, im Jahr 2017 bei 11.500 zugelassenen Radiologen (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2019b). Dies entspricht einem Anstieg von 15 %. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der durchgeführten bildgebenden Verfahren (MRT-, CTScans, Ultraschalluntersuchungen) hingegen um 19 % an. Betrachtet man einen längeren Zeitraum, so verstärkt sich dieser Eindruck nochmals deutlich. Im Zeitraum der Jahre 2007 bis 2017 stieg die Zahl der praktizierenden Radiologen in Deutschland um 29 % an. Die Anzahl der durchgeführten bildgebenden Verfahren stieg hingegen um 126 % an (Ge-

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sundheitsberichterstattung des Bundes 2019a). Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich u. a. auch in England beobachten. Während im Zeitraum der Jahre 2010–2016 die Zahl der Radiologen in England um 3,6 % anstieg, erhöhte sich die Anzahl der durchgeführten bildgebenden Verfahren im Zeitraum 2013–2016 um 32 % (The Royal College of Radiologists 2017). Heute interpretieren Radiologen theoretisch im Schnitt alle 3–4 Sekunden ein Bild bei durchschnittlich 8 Arbeitsstunden pro Tag (Choi et al. 2016). Diese Tatsache verdeutlicht, dass der Einsatz moderner Technologien, wie die der KI, in der Medizin unabkömmlich werden wird.

37.6 T  echnologische Weiterentwicklung bildgebender Verfahren und Vermeidung von Fehldiagnosen Ein weiteres Argument für den Einsatz von KI in der Radiologie ist die sich stetig verbessernde Qualität der Aufnahmen. Diese Qualitätsverbesserung geht allerdings mit einem sich stetig erhöhenden medizinischen Datenvolumen einher. Schätzungsweise verdoppelt sich das medizinische Datenvolumen derzeit alle 3 Jahre (Siemens Healthineers 2017). Diese Entwicklung erschwert es der Radiologie zunehmend, den Nutzen aus den verfügbaren Informationen zu extrahieren. Aus diesem Grund ist es bereits heute, sowohl für die radiologische Forschung als auch für klinische Diagnostik, eine notwendige Voraussetzung mithilfe quantitativer Analyseverfahren große Datenmengen auswerten zu können – beispielsweise um messbare Biomarker auf Bildern zu identifizieren, mit denen der Verlauf und die Prognose einer Krankheit eingeschätzt werden können (O’Connor et  al. 2017). Viele Experten sehen ein beachtliches Zukunftspotenzial in der Entwicklung der Radiologie von einer Disziplin der qualitativen Interpretation hin zu einer Disziplin der quantitativen Analyse. Dieser Prozess wird auch oft als „Radiomics“ beschrieben. Der Begriff ist ein Kunstwort bestehend aus „Radiology“ und „Genomics“. Bei dieser Methode führt ein Computer zeitgleich eine Vielzahl von Prozessen, Vergleichen und Analyseschritten durch, um aus Tausenden von verschiedenen Bilddaten das spezifische Erscheinungsbild einer Erkrankung herauszufiltern (Deutsche Röntgengesellschaft 2019). Um diese Verfahren zu etablieren, werden leistungsfähige, automatisierte Abläufe erforderlich sein, die in letzter Konsequenz dem Feld der KI zuzuordnen sind. Mit der ansteigenden Zahl auszuwertender diagnostischer Aufnahmen steigt auch die Rate der radiologischen Fehldiagnosen. Studien legen dar, dass Fehldiagnosen in ca. 4 % aller radiologischen Diagnosen auftreten (Berlin 2007). Allerdings variiert die Fehlerrate stark je nach Diagnoseverfahren. Bei abdominalen CT-Scans oder bei Scans des Beckenbereichs ist die Fehlerquote beispielsweise wesentlich höher (Berlin 2007). Sind Radiologen dazu gezwungen schneller zu arbeiten, so nimmt die Fehlerquote zudem kon­ tinuierlich zu (Sokolovskaya et  al. 2015). Wenn Radiologen ein spezifisches Bild zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. zeitlich versetzt analysieren, ist auffällig, dass die Ergebnisse teilweise nicht identisch ausfallen. Werden nur Aufnahmen betrachtet, die tatsächlich pathologische Veränderungen aufweisen, so erhöht sich die Fehlerquote gar bis

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zu 30  %. Dies bedeutet, dass die pathologischen Strukturen falsch interpretiert oder schlichtweg übersehen werden (Falsch-negativ-Befunde). Berücksichtigt man die Störfaktoren und den hohen Arbeitsaufwand innerhalb einer radiologischen Abteilung, verwundern diese Feststellungen nicht (Waite et al. 2017; Donald und Barnard 2012). Ein weiteres psychologisches Phänomen, welches bereits im Jahr 1990 beschrieben wurde, handelt von der sog. „Satisfaction of Search“ (SOS) (Berbaum et al. 1990). Dabei ist zu beobachten, dass Radiologen in manchen Fällen die Analyse der vorliegenden diagnostischen Aufnahmen vorzeitig beenden, nachdem ein oder mehre auffällige Bildpunkte gefunden wurden. Die Möglichkeit weitere Auffälligkeiten zu entdecken wird dann u.U. vernachlässigt, da die Bildanalyse bereits in einem gewissen Maße erfolgreich erscheint. Im umgekehrten Fall steigt die Wahrscheinlichkeit einer falsch-positiven Befundung diagnostischer Aufnahmen mit zunehmenden Zeitverlauf und der Suche nach Auffälligkeiten in den vorliegenden Aufnahmen (Berbaum et  al. 2015). Die systematische Anwendung von KI bei bildgebenden Verfahren kann dazu beitragen, viele dieser Herausforderungen zu überwinden oder dabei helfen, verhaltensbedingte Fehlerquoten zu reduzieren. Algorithmen können Radiologen dabei unterstützen diagnostische Aufnahmen effizienter und datenbasiert mit einer geringeren Fehlerquote zu analysieren.

37.7 KI in der klinischen Routine In deutschen Krankenhäusern gibt es bisher nur wenige zählbare Projekte, die den Einsatz von KI im Fokus haben. Als einer der Vorreiter gilt das Universitätsklinikum in Essen. In den vergangenen Jahren wurden in der radiologischen Abteilung des Klinikums mehrere KI-gestützte Verfahren etabliert. So können beispielsweise mithilfe der sog. e-­ASPECTS-­Software frühe Infarktzeichen bei zerebraler Ischämie automatisiert diagnostiziert werden (Nagel et  al. 2017). In einem weiteren Projekt wurde bei einer Kohorte von Uteruskarzinom-­ Patientinnen mithilfe von PET/MR-Bildern des Karzinoms mit einer Treffsicherheit von 95–97 % vorhergesagt, ob die Patientinnen bereits Metastasen entwickelt haben (Krassnitzer 2018). Professor Michael Forsting, Direktor des Instituts für diagnostische und interventionelle Radiologie und Neuroradiologie, konstatiert, dass „KI ... die Radiologie dramatisch verändern und verbessern wird. Ich habe keinen Zweifel daran: In einigen Jahren wird Brustkrebsscreening bereits von intelligenten Programmen durchgeführt werden“ (Forsting 2018). Ein Trend, der sich für die nahe Zukunft der Radiologie abzeichnet, ist, dass bereits in wenigen Jahren die KI die Erstbegutachtung der radiologischen Aufnahmen übernimmt und der Radiologe, als „letzte Instanz“, den endgültigen Befund analysiert und bestätigt. Nach derzeitigem Stand wird ein Mammographie-Screening in Deutschland leitlinienkonform durchgeführt. Demnach suchen 2 Ärzte unabhängig voneinander Mammographie-­ Aufnahmen, wie in Abb. 37.3 dargestellt, nach auffälligen Veränderungen ab. Dabei ­werden von jeder Brust zwei Röntgenaufnahmen untersucht, in Summe also vier Aufnahmen. Auffällige Befunde werden im Nachgang durch einen weiteren Spezialisten untersucht (Gemeinsamer Bundesausschuss 2017).

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Abb. 37.3  Screening-Röntgen-Mammographie. (Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz 2019)

Da es sich bei diesem Prozedere um einen standardisierten Vorgang handelt, der stets nach dem gleichen Schema vollzogen wird, ist die Ausgangssituation für den Einsatz von KI gegeben. Internationale Studien zeigen, dass KI-Anwendungen ein Mammographie-­ Screening teilweise 30-fach schneller auswerten und das bei einer Fehlerrate von 1  %. Somit bietet die KI bereits heute Funktionen, die den klinischen Alltag effizienter gestalten können und gleichzeitig dazu beitragen, die Behandlungsqualität nachhaltig zu verbessern (PwC 2017). Der potenzielle Nutzen von KI wird allerdings noch offensichtlicher, betrachtet man andere Körperteile oder Organe des menschlichen Körpers. So umfasst ein Screening der Lunge derzeit beispielsweise ca. 600–800 einzelne Aufnahmen. Die manuelle Auswertung durch Ärzte ist in diesem Umfang allerdings kaum noch zu gewährleisten. Ein entsprechend „trainierter“ Algorithmus kann dabei unterstützen, die Masse der Bilder dennoch mit hoher Zuverlässigkeit zu analysieren (Menn 2018). Es zeigt sich, dass neben der technologischen Weiterentwicklung auch die Methoden zur Auswertung der erhobenen Daten großes Potenzial für die klinische Routine beinhalten.

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Generell werden kognitive Computersysteme die Diagnostik zukünftig revolutionieren, auch in anderen klinischen Bereichen (Doelfs 2018). Allerdings müssen für weitere Fortschritte ausreichend standardisierte, vergleichbare und vor allem qualitativ hochwertige Daten zum Training der Systeme zur Verfügung stehen. Ohne ausreichend vorhandene und verfügbare Datenqualität können Algorithmen nicht wirkungsvoll eingesetzt werden. In Deutschland gibt es derzeit ein breites Spektrum an Insellösungen mit unterschiedlichen IT-Systemen und Standards, die aber häufig nicht miteinander vernetzt oder kompatibel sind (Doelfs 2017).

37.8 Schlussbetrachtung Global wie national befinden sich Gesundheitssysteme im Umbruch. Geprägt ist dieser Umbruch durch drei große Entwicklungen, welche die zukünftige Ausrichtung des Gesundheitswesens mitgestalten werden: eine immer älter werdende Gesellschaft, eine gesteigerte Nachfrage nach medizinscher Dienstleistung sowie die rasant anwachsende Menge medizinischer Daten. Um diesen Herausforderungen nachhaltig begegnen zu können, wird die Adaption neuer Technologien und Verfahren immer weiter vorangetrieben. Aktuell ruhen große Hoffnungen auf dem Einsatz von KI in der Medizin und der damit verknüpften Technologie. Dabei sind einige Fachbereiche schon heute besonders für die Anwendung von KI geeignet. Zu diesen Bereichen zählen insbesondere die Radiologie und die damit verbundenen bildgebenden Verfahren. Der technologische Fortschritt erlaubt immer präzisere Aufnahmen von Körperteilen und Organen und lässt allein dadurch das Volumen der erhobenen Daten rasant ansteigen. Da die KI derzeit hervorragend zur Analyse von Bildpunkten und zur Mustererkennung geeignet ist, lässt sie sich auch zur automatischen Auswertung diagnostischer Aufnahmen verwenden. So lassen sich Diagnosen bereits heute schneller und oft auch qualitativ hochwertiger stellen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Genauigkeit eines Algorithmus immer nur so gut sein kann, wie die zugrunde liegende Datenqualität. Das bedeutet, dass Daten zentral verfügbar sein müssen, um sie entsprechend zu verarbeiten und Algorithmen damit zu trainieren. Dies ist, Stand heute, in vielen Krankenhäusern Deutschlands jedoch noch nicht gewährleistet. Es bleibt also abzuwarten, wie die Entwicklung der KI zur Auswertung diagnostischer Aufnahmen weitergeht. Einige große Institute, wie z. B. das Universitätsklinikum Essen, entwickeln eigene Lösungsansätze, um KI bei bildgebenden Verfahren wirkungsvoll einsetzen zu können. Viele Hoffnungen ruhen auch auf dem Innovationspotenzial und den damit verbundenen Entwicklungen aus der Industrie, von Anbietern wie Siemens Healthineers, Philips oder GE. Eine weitere, bereits zu beobachtende Entwicklung: große Technologiekonzerne wie Amazon, Alibaba oder Apple drängen nachhaltig in den Gesundheitssektor und versuchen eigene Lösungen zu etablieren, um diese mit bereits bestehenden Strukturen zu verknüpfen. Welche Lösungsansätze sich letztendlich in der Praxis durchsetzen und bewähren werden, ist noch nicht absehbar. Was allerdings feststeht: Das Innovationspoten-

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zial der KI innerhalb bildgebender Verfahren ist bereits heute so offensichtlich, dass an deren Einsatz über kurz oder lang kein Weg vorbeiführen wird.

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Johannes Winter,  M.Sc., studierte von 2017 bis 2019 an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg Gesundheitsmanagement und Gesundheitsökonomie. Durch sein Studium sowie durch seine werkstudentische Tätigkeit bei Siemens Healthineers in Erlangen lernte er die Potenziale der Digitalisierung im Gesundheitswesen in unterschiedlichen Dimensionen kennen und einzuschätzen. Speziell der Einsatz ­künstlicher Intelligenz in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens ist einer der zentralen Schwerpunkte seines derzeitigen Forschungsinteresses.

Vermeidung der medizinischen Unterversorgung ländlicher Strukturen durch innovative Ansätze der Telemedizin

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Christoph Buck, Eileen Doctor und Torsten Eymann

Inhaltsverzeichnis 38.1  N  otwendigkeit der Entwicklung telemedizinischer Versorgungskonzepte  38.2  Versorgungsgrad in Deutschland in Abhängigkeit der Typologie ländlicher Strukturen  38.2.1  Status quo ambulanter Versorgung in Deutschland  38.2.2  Status quo stationärer Versorgung in Deutschland  38.2.3  Status quo pflegerischer Versorgung in Deutschland  38.3  Telemedizinische Konzepte zur Sicherstellung der ländlichen Versorgung  38.4  Softwareentwicklung nach Scrum im Gesundheitswesen  38.4.1  Das Versorgungskonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“  38.4.2  Scrum-Grundlagen  38.5  Schlussbetrachtung  Literatur 

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Zusammenfassung

Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist insgesamt nicht durch Unterversorgung bedroht. Vielmehr ist die Versorgung durch Disparitäten in der regional ungleichen Verteilung der Ressourcen geprägt. Im ambulanten Sektor kommt es daher aufgrund von Fachkräftemangel zur Unterversorgung ländlicher Gebiete bei einer gleichzeitigen Erhöhung des Versorgungsbedarfs der Bevölkerung in ländlich geprägten Regionen. Als eine Option zur Überwindung der Versorgungslücken können Versorgungskonzepte auf Basis von telemedizinischen Anwendungen dienen. Diese Anwendungen müssen, um C. Buck (*) · E. Doctor · T. Eymann Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. A. Pfannstiel et al. (Hrsg.), Innovationen und Innovationsmanagement im Gesundheitswesen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28643-9_38

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C. Buck et al.

die Bedürfnisse aller beteiligten Parteien mit einzubeziehen und effizient eingesetzt werden zu können, durch nutzerzentrierte Innovationsansätze gestaltet und umgesetzt werden. Ein vielversprechender Ansatz hierzu ist die aus der Softwareentwicklung stammende Scrum-Methode. Scrum wurde bei der Umsetzung des telemedizinischen Versorgungsansatzes „Gesundheitsversorgung 4.0“, welches vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat gefördert wurde, eingesetzt. Das Versorgungskonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“ soll der Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Patienten, auch in stationären Pflegeeinrichtungen, dienen.

38.1 N  otwendigkeit der Entwicklung telemedizinischer Versorgungskonzepte Die Sicherung eines gleichberechtigten Zugangs aller Europäer zu moderner und effizienter Gesundheitsversorgung ist eines der erklärten Gesundheitsziele der Mitglieder der europäischen Union (Europäische Kommission 2014). Hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten zu medizinischer Versorgung in Krankheit oder Notfällen befindet sich Deutschland im internationalen Vergleich auf einem sehr hohen Niveau (Robert-Koch-Institut 2015). Bedingt durch eine Vielzahl gesellschaftlicher und demografischer Entwicklungen sind in Zukunft jedoch deutliche regionale Versorgungsunterschiede zu erwarten, welche sowohl Auswirkungen auf den ambulanten als auch auf den stationären medizinischen und pflegerischen Sektor haben werden (Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen 2014). Die zugrunde liegende Problematik stellt die Zuspitzung des Konflikts zwischen der Steigerung des medizinischen und pflegerischen Versorgungsbedarfs und der fehlenden Möglichkeit der Befriedigung dessen, insbesondere in ländlichen Regionen, dar (Tetzlaff et al. 2017 und van Baal et al. 2019). Unter ökonomischen Gesichtspunkten bieten sich bei den nur begrenzten Einnahmen des Gesundheitssystems aus den Beiträgen der Versicherten ebenfalls nur begrenzte Möglichkeiten, Kapazitäten für die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung vorzuhalten (Schmidt-Rettig und Eichhorn 2008). Nach Kuhn et al. (2018) werden durch alarmierende Entwicklungen der Anbieterseite, beispielsweise das altersbedingte Ausscheiden derzeit praktizierender Ärzte aus dem System sowie ein akuter Mangel an ärztlichem Nachwuchs, regionale Versorgungslücken freigelegt. Die rückläufige Zahl der Geburten und die damit sinkende Bevölkerungszahl wirken sich insbesondere auf strukturschwache Gebiete aus. Ballungsgebiete und Metropolregionen profitieren von der Landflucht der Bevölkerung, da die Attraktivität städtischer Regionen insbesondere junge Erwerbstätige anzieht. In strukturschwachen Gebieten verändert sich das Patientenklientel, es verbleibt zumeist die ältere Bevölkerung. Mit steigender Lebenserwartung steigt auch die Prävalenz chronischer Erkrankungen und Multimorbidität (Tetzlaff et al. 2017), welche die Notwendigkeit der Pflege und des engmaschigen Monitorings mit sich bringen (Hämel et al. 2017). Aufgrund der Immobilität der älteren Bevölkerungsgruppen sind gut erreichbare Versorgungseinrichtungen von besonderer Wichtigkeit.

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Mit der Verabschiedung diverser Gesetze, darunter beispielsweise das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-­ VStG), das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) mit dem darin enthaltenen Innovationsfonds sowie die Neufassung der Bedarfsplanungsrichtlinie durch den Gemeinsamen Bundesausschuss wurden vermehrt Grundlagen zur Sicherstellung des flächendeckenden Zugangs zu adäquater ambulanter Versorgung geschaffen. Darüber hinaus entwickeln sich auch auf kommunalpolitischer Ebene Bestrebungen, durch die Gestaltung attraktiver Standortbedingungen zur Niederlassungsentscheidung von Leistungserbringern beizutragen (Geuter et al. 2017). Im stationären Sektor herrscht derzeit noch eine hohe Versorgungsdichte vor, doch auch hier werden sich die Akteure in naher Zukunft jedoch aufgrund ökonomischen Drucks Marktbereinigungseffekten stellen müssen (Bertelsmann Stiftung 2016). Sinkende Fallzahlen, Stellenbesetzungsprobleme und die Ambulantisierung der Versorgung gefährden die wirtschaftliche Leistungserbringung und damit das nachhaltige Bestehen stationärer Einrichtungen (Herr et al. 2018). Auch in der pflegerischen Versorgung herrscht ein Mangelzustand bei zusätzlich auftretender regionaler Ungleichverteilung vor (Rothgang et al. 2016). In naher Zukunft wird es nicht möglich sein, in jeder Region Deutschlands ein flächendeckendes, breites Spektrum an Versorgungsleistungen nach heutigem Maßstab anzubieten, weswegen sowohl Ärzte als auch Patienten weite Wege in Kauf nehmen müssen (BDO AG und Deutsches Krankenhausinstitut e.V. 2014). Um den beschriebenen Herausforderungen zielgerichtet begegnen zu können, bedarf es der Entwicklung innovativer Versorgungsformen. Ein möglicher Ansatz zur Beseitigung der Versorgungslücken kann in der Fokussierung der Erbringung hochqualitativer Primärversorgung in Wohnortnähe liegen, welche durch telemedizinische Versorgungsansätze ergänzt wird. Der Einsatz von Telemedizin und Telematik kann so additiv zur Niederlassung spezialisierter Leistungserbringer wirken, in strukturschwachen Regionen die Versorgungsqualität intensivieren und zur Schließung einzelner Versorgungslücken beitragen (Letzel et  al. 2016). Nicht zu unterschätzen ist in diesem Kontext die Bedeutung der Anwendungssoftware, die den Versorgungskonzepten zugrunde liegt. Häufig werden Pilotkonzepte theoretisch erarbeitet, jedoch ohne Einbezug der Endkunden oder einer nutzerorientierten Definition der Anforderungen. Aufgrund der isolierten Entwicklung finden Softwarelösungen daher häufig keine vollständige Akzeptanz und grundlegende Anpassungen sind rückwirkend nur unter großem Aufwand umsetzbar. Im Sinne eines benutzerzentrierten Designs und sorgfältiger Planung sollte die Einbeziehung der Endnutzer daher zum Standard im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie werden. Die agile Projektmanagementmethode „Scrum“ bietet diese Vorteile, weshalb sie in der Konzeption einer telemedizinischen Software im Rahmen des vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat geförderten Projektes „Gesundheitsversorgung 4.0“ Anwendung fand. Der Beitrag illustriert, unter Bezug auf das Projekt Gesundheitsversorgung 4.0, wie telemedizinische Innovationen dazu beitragen können, die Qualität der medizinischen Versorgung zu erhöhen, das medizinische und pflegerische Personal zu entlasten und langfristig die Versorgung in ländlichen Regionen zu unterstützen.

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C. Buck et al.

38.2 V  ersorgungsgrad in Deutschland in Abhängigkeit der Typologie ländlicher Strukturen Um den Fokus der Betrachtung festzusetzen, ist zunächst eine Definition der Begrifflichkeit der ländlichen Strukturen nötig, welche auf Basis der amtlichen Raumordnung erfolgt (siehe Abb. 38.1). Diese besagt, dass Stadt- und Landkreise in Deutschland entsprechend des Bevölkerungsanteils und der Bevölkerungsdichte kreisfreien Großstädten, städtischen Kreisen, ländlichen Kreisen mit Verdichtungsansätzen oder dünn besiedelten ländlichen Kreisen zugeordnet werden können. Als ländliche Kreise gelten laut der amtlichen Raumordnung rund zwei Drittel der Fläche Deutschlands. Auf dieser Fläche leben rund ein Drittel der Bevölkerung (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2019). Als bevölkerungsreiche Gebiete Deutschlands gelten Süd- und Westdeutschland, während der Norden und der Osten Deutschlands eine geringere Bevölkerungsdichte aufweisen (Augurzky et al. 2017).

Abb. 38.1  Siedlungsstrukturelle Kreistypen 2017. (Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2019)

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Besondere Beachtung soll der Betrachtung der ländlichen Kreise mit Verdichtungsansätzen und der dünn besiedelten ländlichen Kreise gelten. Charakteristischerweise wirkt sich das Stadt-Land-Gefälle in besonderem Maße auf diese Kreistypen aus, da sie in ihrer ohnehin bestehenden Strukturschwäche in erhöhtem Maße vom demografischen Wandel betroffen sind. Weitreichende Distanzen zwischen Leistungserbringer und Patient treten in diesen Kreistypen gehäuft auf und schränken den Zugang zur Versorgung ein. Betrachtet man das Beispiel der Notfallversorgung, welche in den ärztlichen Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Vertragsärzte, den Rettungsdienst und die Notaufnahmen der Krankenhäuser gegliedert ist, werden die Herausforderungen durch regionale Ungleichheiten insbesondere ersichtlich (Sachverständigenrat zur Begutachtung im ­ ­Gesundheitswesen 2014). Schehadat et  al. (2017) geben eine Übersicht über die sogenannten Hilfsfristen (Zeitraum zwischen Beginn der Notrufabfrage in Leitstelle bis Eintreffen der Einsatzkräfte am Einsatzort) sowie deren Erfüllungsgrade. Demnach haben Landkreise und kreisfreien Gemeinden sicherzustellen, dass ein Notfalleinsatz des Rettungsdienstes innerhalb einer bundeslandindividuell festgelegten Zeitvorgabe (reicht von in der Regel 10 bis maximal 12–15 Minuten) erfolgen kann. Die längsten Hilfsfristen geben mit 15 Minuten Flächenländer wie Brandenburg und Baden-Württemberg vor. Jedoch wird der Erfüllungsgrad der Hilfsfrist (95 %) vielerorts nicht eingehalten, was unter anderem auf ansteigende Einsatzzahlen sowie räumliche Distanzen zurückzuführen ist. Bürger strukturschwacher Regionen müssen demnach schlechtere Voraussetzungen im Zugang zur Versorgung hinnehmen, was den Zielen der gleichwertigen Gesundheitsversorgung widerspricht und daher dringenden Handlungsbedarf mit sich zieht.

38.2.1 Status quo ambulanter Versorgung in Deutschland Die ambulante Versorgung in Deutschland befindet sich auf einem allgemein hohen Niveau, was an diversen Indikatoren zu belegen ist. Die Ärztedichte liegt mit einer Anzahl von 38 praktizierenden Ärzten (Allgemeinärzte und Fachärzte zusammengenommen) pro 10.000 Einwohner Deutschlands (im Durchschnitt 214 Einwohnern/Arzt) im oberen Drittel der OECD 32 (Albrecht et al. 2015). Die absolute Zahl lag 2017 im ambulanten Sektor bei 147.350 praktizierenden Ärzten, davon 55.032 Hausärzte (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017). Jedoch ist hervorzuheben, dass starke regionale Unterschiede in der Zahl der Leistungserbringer existieren. So lag sie beispielsweise 2018 bei 137 Einwohnern pro Arzt in Hamburg, jedoch auch bei 249 Einwohnern pro Arzt in Brandenburg (Bundesärztekammer 2019). Laut Statistisches Bundesamt (2019a) gab es 2014 in Deutschland einen Mangel an 1303 Ärzten, davon 749 Hausärzte, weshalb oftmals keine adäquate Primärversorgung in Wohnortnähe erfolgen kann (Küpper und Mettenberger 2018). Dahingegen gab es allerdings auch 32.375 entsprechend des bedarfsgerechten Versorgungsgrades überzählige Ärzte, vor allem in den Ballungsräumen (davon 5515 Hausärzte), welche zum Stadt-­ Land-­Gefälle in der ambulanten Versorgung beitragen. Auch was die Ausgewogenheit des Verhältnisses von Haus- und Fachärzten angeht, bestehen diese Disparitäten, das Verhält-

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C. Buck et al.

nis beträgt 24 % an Hausärzten zu 76 % an Fachärzten (OECD/ EU 2018). Dieser vergleichsweise geringe Teil an praktizierenden Hausärzten ist unter anderem auch auf die Diskrepanz im Einkommen der Ärztegruppen zurückzuführen (Gerlinger 2011). Die deutsche Bevölkerung altert, mit ihr altern auch die behandelnden Ärzte. Man spricht vom „doppelten demografischen Wandel“, welcher nicht nur Patienten, sondern auch Leistungserbringer betrifft. Das durchschnittliche Alter der Leistungserbringer lag 2015 im vertragsärztlichen Bereich bei durchschnittlichen 53,67 Jahren (Statistisches Bundesamt 2019c), was die Dringlichkeit der Nachwuchsförderung zur Übernahme der Arztsitze verdeutlicht. Zusätzlich stellt auch die sogenannte Landflucht eine Herausforderung dar. Gründe für diese Abkehr von der Niederlassung in ländlichen Regionen sind Erwartungshaltungen der neuen Arztgeneration hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen und Freizeit, die Verantwortung für immer größere Einzugsgebiete durch den Mangel an Personal sowie die damit verbundene Belastung durch Bereitschaftsdienstverpflichtungen. Tätigkeiten außerhalb der Dienstzeiten stellen für viele Ärzte die am stärksten empfundene Belastung dar (Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen 2014). Diese Faktoren führen dazu, dass Arztsitze, durch die Alterung bestehender und die fehlenden Übernahmen jüngerer Ärzte, wegfallen. Gleichzeitig reduziert sich die Zahl der ambulanten Leistungserbringer weiterhin, da sich weniger Mediziner für eine Weiterbindung zum Facharzt oder Tätigkeit als Hausarzt entscheiden (Gerlinger 2011). Darüber hinaus führte auch die Neufassung der Bedarfsplanungsrichtlinie im Jahr 2013, mit dem ursprünglichen Ziel der Erhöhung, zu einer tatsächlichen Reduktion der Arztsitze. Basis der neuen Bedarfsplanung bildet die Annahme, dass die hausärztliche Versorgung wohnortnah erreichbar sein muss, im Gegensatz zur spezialärztlichen Versorgung durch Fachärzte, die sich entsprechend ihres Spezialisierungsgrades um weitaus größere Einzugsgebiete kümmern können. Die Zahl der Hausarztsitze verringerte sich auf Grundlage dieser Planung um 2,8 %, die der Fachärzte um 5,2 % und der spezialisierten fachärztlichen Versorgung um 3,0 %. Die zukünftige Belastung ambulanter Versorgung wird demnach, trotz bereits bestehender Bestrebungen der Politik zur Anwerbung von Ärzten, regional auf eine geringere Zahl an Leistungserbringer verteilt werden und so bestehende Missstände weiter verschärfen (Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen 2014).

38.2.2 Status quo stationärer Versorgung in Deutschland Auch stationär verfügt Deutschland über ein umfangreiches Versorgungsangebot, verglichen mit dem OECD-Schnitt (Robert-Koch-Institut 2015). Die absolute Zahl der Krankenhäuser lag 2017 bei 1952, diese stellen gesamt rund 497.200 Betten mit einer durchschnittlichen Auslastung von 77,8 % und einer durchschnittlichen Verweildauer von 7,3 Tagen (Statistisches Bundesamt 2018). Die Zahl der Betten pro 100.000 Einwohner lag 2016 bei durchschnittlich 806,3 (Statistisches Bundesamt 2019b), jedoch gibt es deutliche regionale Unterschiede. Beispielsweise lag diese Zahl bei 535 in Baden-Württemberg, dahingegen aber bei 779 in Bremen (Robert-Koch-Institut 2015).

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Auch Krankenhäuser müssen sich diversen Herausforderungen stellen, die vor allem in ländlichen Regionen von Relevanz sind. Die bereits erläuterten Probleme durch Fachkräftemangel aufgrund von Landflucht, demografischem Wandel und Multimorbidität führen stationär ebenfalls zu einem erhöhten Versorgungsbedarf, bei verringerter Zahl potenzieller medizinischer Leistungserbringer. Laut dem Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen (2014) hatten 58 % der Krankenhäuser im Jahr 2013 mit Stellenbesetzungsproblemen zu kämpfen. Die Wirtschaftlichkeit stationärer Leistungserbringer wird durch den Investitionsstau beeinträchtigt, welcher langfristig dazu führt, dass die Krankenhäuser dem medizinisch-technischen Stand nicht entsprechen können und Substanzverlust erleiden (Hadamitzky 2010). Weiterhin schlägt sich die vermehrte Behandlung ambulanter Patienten in der Notaufnahme, welche eigentlich vertragsärztlich behandelt werden müssten und für Krankenhäuser nicht kostendeckend sind, auf die Wirtschaftlichkeit nieder (Schmiedhofer et al. 2016). Zusätzlich zu den ohnehin bestehenden Herausforderungen ländlicher Krankenhäuser ergibt sich dadurch eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die Marktbereinigungseffekte zur Folge hat. Es gilt dabei zu beachten, dass die aktuelle Problematik deutscher Krankenhäuser eher in Bettenüberkapazitäten liegt, statt wie im ambulanten Sektor an Versorgungslücken. Während beispielsweise in Hessen, Hamburg und Brandenburg eine Unterversorgung an Krankenhausbetten vorliegt, sind Rheinland-Pfalz und Thüringen einer erheblichen Überversorgung ausgesetzt (Dohrmann et al. 2016). Nach einer gemeinsamen Studie sind rund 30 % der deutschen Krankenhäuser im ländlichen Bereich zu finden, in dem ein Drittel der deutschen Bevölkerung wohnhaft ist (BDO AG und Deutsches Krankenhausinstitut e. V. 2014). Allerdings weisen diese Einrichtungen gemeinsam nur ein Viertel (128.043 Betten) der gesamten in Deutschland vorgehaltenen Krankenhausbetten (498.718 Betten) auf, was auf eine kleine Betriebsgröße der ländlichen Versorger schließen lässt. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2016) sind diejenigen Kliniken, die eine Mindestmenge an Leistungen erfüllen, gemessen an der Bettenzahl größer als jene, die der Mindestmengenregelung nicht entsprechen. Damit sind kleinere Häuser statistisch gesehen weniger spezialisiert. Entsprechend des „Practise-Makes-­Perfect“Ansatzes erhalten Operateure durch höhere Fallzahlen Erfahrung, welche die Lernkurve steigern, weswegen bessere Behandlungsergebnisse erzielt werden können. Einhergehend mit dieser Qualitätssteigerung können Effizienzsteigerungen realisiert werden, welche zur Kostensenkung beitragen sowie den Ruf und die Wirtschaftlichkeit der Einrichtung verbessern. Die Anzahl ländlicher Krankenhäuser in freigemeinnütziger (24  %) beziehungsweise privater Trägerschaft (29 %) fällt im Vergleich zum Gesamtschnitt Deutschlands (29 % öffentlich, 35 % freigemeinnützig, 36 % privat) gering aus (Statistisches Bundesamt 2019f). Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich viele der ländlichen Krankenhäuser noch in öffentlicher Hand befinden, weil sie für nichtöffentliche Träger finanziell nicht interessant wären und daher durch die Kommunen aufrechterhalten werden. Für die Lokalpolitik sind stationäre Einrichtungen mit einem hohen Imagefaktor verbunden. Die Bevölkerung verbindet das Vorhandensein eines wohnortnahen Krankenhauses mit Versorgungssicherheit,

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was sich auf die empfundene Lebensqualität der Anwohner auswirkt (Birte und Schlaudt 2016). Die Schließung selbst defizitärer Einrichtungen wird von der Bevölkerung als negativ wahrgenommen, was dazu führt, dass Schließungsprozesse mit langwierigen und hitzigen Debatten auf Kommunalebene behaftet sind (Bertelsmann Stiftung 2016). Der Anteil der in privater Trägerschaft befindlichen Einrichtungen ist in den letzten Jahren dennoch angestiegen, was dem generell vorherrschenden Bestreben der zunehmenden Privatisierung von Versorgungseinrichtungen entspricht (Heubel et al. 2010).

38.2.3 Status quo pflegerischer Versorgung in Deutschland Die Zahl der Pflegebedürftigen liegt derzeit insgesamt bei 3.414.378, wovon 24,0 % vollstationär in Heimen, 51,7 % durch ambulante Pflegekräfte zu Hause und 24,3 % durch Familienangehörige zuhause versorgt werden (Statistisches Bundesamt 2019d). Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird auf Bundesebene auf 3,435 Mio. (Prognose für das Jahr 2030) ansteigen (Bertelsmann Stiftung 2012). Aufseiten der Leistungserbringer bestehen derzeit 14.480 stationäre Pflegeeinrichtungen, wovon rund 78  % vollstationäre Dauerpflege anbieten. Die Zahl der ambulanten Pflegedienste liegt bei 14.050 (Statistisches Bundesamt 2019e). Wie die Bertelsmann Stiftung (2012) beschreibt, ist die Zahl der Pflegebedürftigen in den einzelnen Regionen aufgrund ihrer unterschiedlichen Einwohnerdichte jedoch sehr unterschiedlich, die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen konzentriert sich in den Ballungszentren. Hervorzuheben sind vor allem Großstädte, da hier aufgrund der größeren Zahl an Einwohnern absolut gesehen auch mehr Menschen leben, die Pflege benötigen. Relativ betrachtet leben in bevölkerungsreichen Regionen jedoch nicht zwangsläufig auch höhere Anteile Pflegebedürftiger an der Gesamtbevölkerung, eine junge Bevölkerung kann in Städten vereinzelt dazu führen, dass die Pflegeprävalenz niedrig liegt. Der Handlungsbedarf hinsichtlich der Entwicklung von Versorgungslücken ist hierbei in den Bundesländern und insbesondere zwischen den einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von der vorhandenen Pflegeinfrastruktur. Die größten Lücken in der pflegerischen Versorgung bestehen in ländlichen Regionen wie Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie in den Regionen rund um Metropolen wie Berlin, Hamburg, München, Bremen und Frankfurt, hier bestehen Engpässe bis hin zu 75 % in Relation zur Beschäftigtenanzahl (Rothgang et al. 2016). Demgegenüber steht die Zahl der Erwerbstätigen in der Altenpflege, diese lag 2018 bei 583.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Die demografische Entwicklung ebenso wie der medizinisch-technologische Fortschritt haben dazu geführt, dass der Bedarf an Pflegepersonal in der Altenpflege gestiegen ist, es besteht ein anerkannter Mangel an qualifizierten Beschäftigten (Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2019). Die Betrachtung der siedlungsstrukturellen Kreistypen zeigt, dass der Rückgang der Beschäftigtenzahlen höher ausfällt, je ländlicher die Region ist (Bertelsmann Stiftung 2012). In der Gesamtbetrachtung ist die pflegerische Versorgung durch eine Zunahme der Pflegebedürftigkeit bei gleichzeitiger Abnahme der Erwerbsfähigen und fehlendem Fachper-

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sonal gekennzeichnet. Dieser Konflikt offenbart in allen Sektoren der pflegerischen Versorgung erhebliche Versorgungslücken. Schätzungen zufolge wird die Zahl der benötigten Vollzeitäquivalente auf 353.000 Pflegekräfte beziffert, davon 25  % im ambulanten und 75 % im stationären Bereich. Dies wirft die Frage auf, wie die Pflege als einer der Grundpfeiler der Sozialversicherung gewährleistet werden kann. Neben der Bevölkerungsalterung ist zusätzlich mit Verschiebungen in den Versorgungsstrukturen zu rechnen, langfristig werden professionelle Versorgungsformen an Bedeutung gewinnen. Entsprechend sozialstruktureller Verschiebungen zeichnet sich der Trend der Professionalisierung der Altenpflege, bedingt durch die Reduktion familialen Pflegepotenzials, ab. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, ist eine angemessene Pflegeinfrastruktur vonnöten, genauso wie eine entsprechende Anzahl von qualifizierten Fachkräften.

38.3 T  elemedizinische Konzepte zur Sicherstellung der ländlichen Versorgung In Regionen mit drohenden Versorgungsschwierigkeiten im ambulanten, stationären, pflegerischen oder sektorenübergreifenden Kontext, sind Versorgungskonzepte auf Basis der Telemedizin eine Option zur Überwindung der Versorgungslücken (van den Berg et  al. 2015). Für den Begriff der Telemedizin existiert keine allgemeingültige Definition. Nach der Rahmenvereinbarung Telemedizin der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband stellt Telemedizin ein Versorgungskonzept dar, welches auf elektronischen Informations- und Kommunikationstechnologien basiert (Budych et  al. 2013). Grundvoraussetzung für die Anwendung moderner technologischer Dienstleistungen ist eine leistungsfähige und sichere Infrastruktur (Brauns und Loos 2015). Die Nutzung dieser Technologien erfolgt mit dem Ziel, zeitliche und räumliche Distanzen zwischen Ärzten, Patienten und nichtärztlichem Fachpersonal zu überwinden (GKV-Spitzenverband 2016). Nach Budych et al. (2013) und Hahn (2018) umfassen die grundsätzlichen Anwendungsgebiete die Erhebung und Übermittlung von Informationen mit dem Ziel der Verbesserung der Kommunikation und Integration der Akteure (Telekonsile, elektronische Arztbriefe). Auch Beratungsleistungen in der Arzt-Patienten-Beziehung (wie die inzwischen auch im SGB V verankerte Videosprechstunde) sind Inhalt telemedizinischer Konzepte. Weiterhin beinhaltet Telemedizin auch die Anwendung technologisch gestützter, medizinischer Verfahren und das kontinuierliche Monitoring aus der Ferne, insbesondere chronisch erkrankter Patienten. Dazu gesellen sich die sektorenübergreifende Organisation von Fallakten und Medikationsverordnungen sowie die Befundstellung ohne physische Präsenz des Leistungserbringers. Der Nutzen technologischer Anwendungen muss hinsichtlich Morbidität, Mortalität, Lebensqualität und Wirtschaftlichkeit im Vergleich zur regulären Versorgung jedoch mindestens gleichwertig sein. Die Zuhilfenahme technologischer Anwendungen stellt dabei nicht zwangsläufig eine Erschließung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dar, insofern sie dazu dienen, Versorgungsprozesse zu vereinfachen (GKV-Spitzenverband

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2016). In der stationären Versorgung kann die Inanspruchnahme neuer Technologien im Hinblick auf Prozessoptimierungen beispielsweise in der Delegation medizinischer und administrativer Tätigkeiten seitens Ärzteschaft und Pflege dazu beitragen, das Fachkräftedefizit zu kompensieren. Durch eine Neuzuweisung der Tätigkeiten entsprechend des Komplexitätsgrades kann erreicht werden, dass das medizinische Personal (Ärzte und Pflegekräfte) der Erfüllung wertschöpfender Tätigkeiten in der medizinischen Versorgungskette nachgehen und ihren originären Aufgabeninhalten gerecht werden. So können in der Folge Versorgungsengpässe infolge mangelnder Kapazitäten an qualifizierten Fachkräften gemindert werden (Leppert 2016). Wie Riepe und Schwanenflügel (2013) beschreiben, ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient die Grundlage der Gesundheitsversorgung und Voraussetzung für eine korrekte Diagnosestellung und optimale Therapie. Damit soll gewährleistet werden, dass Ärzte im Regelfall eine möglichst konkrete, eigene Einschätzung des Gesundheitszustandes des Betroffenen erlangen, anstatt sich lediglich auf die Beschreibungen der Patienten oder Informationen Dritter zu stützen. Die Sicherstellung des Kontakts zwischen Arzt und Patient soll einer schadhaften Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses dieser Parteien, bedingt durch die dennoch bestehende räumliche Distanz, vorbeugen (Spickhoff 2014). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch äußerliche Symptome auf bestimmte Krankheitsbilder hinweisen können, die durch die alleinige Übermittlung von Zustandsbeschreibung ohne physische Untersuchung unerkannt bleiben würden, ist diese Art des Arzt-Patienten-Kontaktes von besonderer Bedeutung (Meier et al. 2018). Eine alleinige Fernbehandlung war bisher gemäß Musterberufsordnung grundlegend verboten. Zukünftig soll diese Entscheidung beim Arzt liegen, der im Einzelfall selbst bestimmen darf, ob eine ausschließliche telemedizinische Konsultation oder Behandlung unter Wahrung der ärztlichen Sorgfaltspflicht möglich ist (Hahn 2018). Jegliche Versorgungskonzeption darf jedoch nicht verursachen, dass die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen künftig vollständig telemedizinisch erbracht wird und der Arzt-­ Patienten-­Kontakt aus dem Fokus gerät, dies stellt eine explizit genannte Ausnahme dar (Jörg 2018). Entsprechend eines mehrheitlichen Beschlusses des 121. Deutschen Ärztetags gilt der Grundsatz (§ 7 Abs. 4 der Musterberufsordnung): Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.

Grundsätzlich sind telemedizinische Ansätze geeignet, räumliche Distanzen zwischen Leistungserbringern und Patienten zu überwinden und Strukturschwächen von Regionen abzumildern. Telemedizin kann dort, wo es unter den gegebenen Bedingungen problematisch, unter medizinischen Gesichtspunkten aber notwendig und nützlich ist, zur Aufwer-

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tung der medizinischen Versorgung beitragen. Bei der Entwicklung von Konzepten, die der Vernetzung von Anwendern dienen, ist es unabdinglich, die Endnutzer inkrementell in den Erstellungsprozess zu integrieren und fortlaufendes Feedback zur schrittweisen Anpassung einzuholen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Anwendung Akzeptanz findet und der Zielsetzung der dahinterliegenden Vision entspricht.

38.4 Softwareentwicklung nach Scrum im Gesundheitswesen Folgend wird die Entwicklung von Software auf Basis von Scrum im Kontext der Telemedizin anhand eines praxisnahen Beispiels verdeutlicht. Das Versorgungskonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“ soll veranschaulichen, wie telemedizinische Innovationen zur Verfügbarkeit von Leistungen und zur Erhöhung der Qualität der medizinischen Versorgung beitragen können.

38.4.1 Das Versorgungskonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“ Das Versorgungskonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“ soll der Berücksichtigung der Bedürfnisse älterer Patienten, auch in stationären Pflegeeinrichtungen, dienen. Wie bereits beschrieben, bestehen regionale Differenzen in der Versorgungsdichte, insbesondere im ambulanten und pflegerischen Kontext. Der Verein Oberfranken Offensiv e. V. führte von Juni 2016 bis November 2018 das Projekt „Gesundheitsversorgung 4.0“, zusammen mit dem Landkreis Wunsiedel i. Fichtelgebirge und der Stadt Wallenfels, durch. Dieses umfasst einen innovativen Ansatz der digitalen, allgemeinmedizinischen und hausärztlichen Versorgung pflegebedürftiger Patienten in einem ländlichen Raum, wie Abb. 38.2 illus­ triert. Die dort vermehrt ansässigen chronisch kranken Patienten, sehen sich häufigen Kontrolluntersuchungen gegenüber. Unter Nutzung bereits vorhandener Softwareanwendungen und Softwaremodule konnte in agiler Abstimmung eine digitale Lösung erstellt werden, die eine aus Onlinesprechstunde und digitaler Pflegeakte bestehende telemedizinische Anwendung in den Versorgungsalltag integriert. Durch eine Onlinesprechstunde können unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort, Arzt und Patient (bei Bedarf mithilfe des Pflegepersonals) direkt kommunizieren. Durch die Möglichkeiten der medizinischen Videokommunikation können auf Basis direkter und sicherer Bild- und Tonübertragung große räumliche Distanzen überbrückt werden. Die medizinische Videokommunikation erleichtert den Alltag für Patient, Pflegepersonal und Arzt gleichermaßen. Die verbesserte Kommunikation zwischen den Ärzten und Pflegeeinrichtungen bzw. Patienten kann einen Beitrag zur Optimierung der Medikation, zur Vermeidung von Kontraindikationen von Medikamenten sowie Doppeluntersuchungen leisten. Eine zusätzliche digitale Pflegeakte erleichtert den Austausch und die Pflege patientenbezogener Daten. Hierzu ist es auch wichtig, dass der behandelnde Arzt Zugriff auf die vorhandene digitale Patientenakte erhält und diese als Ergänzung zu seinen eigenen Dokumentationen nutzen kann. Neben

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Abb. 38.2  Schematische Darstellung der Arzt-Patienten-Kommunikation. (Quelle: Oberfranken Offensiv e. V. 2017)

dem Zugriff des Arztes auf die elektronische Pflegeakte und einer direkten Kommunikation zwischen Hausarzt und Patient ist mittelfristig auch ein interdisziplinärer Austausch mit Fachärzten und anderen Leistungserbringern, wie beispielsweise Apotheken, denkbar. So kann der behandelnde Arzt bei Bedarf auch ohne Präsenz- oder Onlinekonsultationen tätig werden. Das Projekt „Gesundheitsversorgung 4.0“ ermöglicht die persönliche Kor­ respondenz zwischen Arzt und Patient, senkt Kosten, verringert Zeitverlust und verhindert unnötige Anfahrtswege. Um zu verhindern, dass verschriebene Medikamente durch medizinisches Personal in Apotheken abgeholt werden müssen, ist es ein weiteres Ziel des Projektes „Gesundheitsversorgung 4.0“ die Medikation sowie das Rezept an eine vorab mit dem Patienten festgelegte Apotheke zu senden. Diese kann dann entsprechend die Arzneimittel an den Patienten ausliefern. Die telemedizinische Konzeption liefert einen Mehrwert durch die zeitnahe und transparente regelmäßige Vernetzung von Leistungserbringer und Patient und spart so wichtige Ressourcen ein, die an anderer Stelle im Versorgungsalltag zielgerichtet eingebracht werden können. Zur Umsetzung hat sich das Projektteam von Gesundheitsversorgung 4.0 für den Einsatz von Scrum entschieden. Ein wissenschaftlich fundiertes und weit verbreitetes Modell des inkrementellen Verfahrens ist die Scrum-Methode, die Projekte organisch wachsen lässt (Fitzgerald et al. 2006; Larman und Basili 2003). Inkrementelle Vorgehen zeichnen sich dadurch aus, dass die Anforderungen an das Endprodukt in der Regel vorab noch nicht vollständig definiert sind. Vielmehr wird durch die inkrementelle Entwicklung während der Projektarbeit das Produkt mit allen Anforderungen systematisch erweitert (Lee und Xia 2010). Somit ist es möglich, während der Projektarbeit, neue, und noch nicht vorab definierte Anforderungen der Stakeholder mit in die Entwicklung einfließen zu lassen (Bhuvaneswari und S. Prabaharan).

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38.4.2 Scrum-Grundlagen Ein grundlegendes Merkmal des agilen Projektmanagements liegt in der Definition des verfügbaren Zeitrahmens und Budgets vor Projektbeginn, während der Entwicklungsumfang erst im Laufe der Zeit sichtbar wird (Schwaber 1997). Scrum ist nicht als eine vollständige Methode oder Prozedur zu verstehen, sondern vielmehr als eine Rahmenstruktur für Verfahren, in denen diverse Methoden und Techniken angewendet werden können (Schwaber und Sutherland 2017). Als wissenschaftliche Basis für das Scrum-Vorgehen dient die empirische Prozesssteuerung (Schwaber 1997). Demzufolge soll die Entwicklung aus einem Wissenstand gestützt werden, welcher durch Erfahrungen während des Projektes gesammelt wurde. Wie in Abb. 38.3 dargestellt, werden in der Scrum-Methode die aufeinanderfolgenden Schritte der Zielsetzung (Scope), Planung (Scrum-Planning), Implementierung (Daily Scrum), der Beurteilung und Abnahme des Sprintziels (Sprint Review) sowie der Reflexion (Sprint Retrospective) (Schwaber und Sutherland 2017) unterschieden. Die genaue Definition der Phase und die zeitliche Einordnung sollen dazu dienen, im Entwicklungsprozess Kontinuität zu schaffen und Verzögerungen durch beispielsweise unnötige Besprechungen zu vermeiden. Sämtliche dieser Ereignisse werden gesammelt als Sprint bezeichnet. Ein Sprint hat eine vorab definierte Länge, die weder verlängert noch gekürzt werden darf. Dieser Zeitraum ist in der Regel auf eine Laufzeit von maximal einen Monat festgelegt. Ziel des kontinuierlichen, kurzen Zeithorizontes des Sprints ist es, durch Agilität die Komplexität und damit verbundene Fehlerrate möglichst gering zu halten. Durch eine Vielzahl an Sprints sowie periodisch stattfindende Sprint Plannings, Sprint Reviews und Daily Scrums kann auftretenden Problemen schnell entgegnet oder in Betracht zu ziehende Neuerungen einbezogen werden. Insofern hat jedes neu entwickelte Produktinkrement Verbesserungen oder neue, zuvor nicht in Betracht gezogene Eigenschaften inne (Sharma et al. 2012).

Abb. 38.3  Phasen des Sprints. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Hu et al. 2009)

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Neben den Entwicklern nehmen weiterhin 2 Personen tragende Rollen innerhalb des Scrum-Teams ein (Sutherland et  al. 2007). So ist zum einen der sogenannte Product Owner dafür verantwortlich, die Arbeit des Entwicklungsteams zu koordinieren und maximalen Wert aus der Arbeit des Teams zu schöpfen. Der Product Owner muss die Anforderungen (Product Backlog), die an das System gestellt wurden, genau formulieren, um deren Umsetzung zu sichern. Ebenso liegt die zeitliche Koordination der Umsetzung im Aufgabenbereich des Product Owners (Paasivaara et  al. 2008 und Schwaber und Sutherland 2017). Anhand der vom Product Owner erstellten Anforderungen erstellt das Entwicklungsteam innerhalb eines Sprints mit definiertem Zeithorizont ein fertiges Produktinkrement. Dieses muss so konzipiert sein, dass das Inkrement potenziell als fertiges Produkt auslieferbar wäre. Bei der Entwicklung der Inkremente ist in der Scrum-Methode die autonome Strukturierung der Arbeitsorganisation und -Vorgänge vorgesehen, um so Produktivität und Kreativität innerhalb des Entwicklungsprozesses zu steigern. Ebenso sieht die Scrum-Methode vor, dass das gesamte Team rechenschaftspflichtig für das Inkrement ist, unabhängig der Spezialisierungen oder Positionen der einzelnen Teammitglieder (Mahalakshmi und Sundararajan 2013; Santana et al. 2017). Zum anderen nimmt der Scrum Master eine weitere Sonderposition innerhalb des Teams ein. Dieser ist hauptverantwortlich dafür, dass das gesamte Team (Product Owner inbegriffen) im Sinne der Scrum-­Methode agiert (Rising und Janoff 2000). Es liegt im Aufgabenbereich des Scrum Masters, dem Entwicklungsteam relevante Werte und Regeln der Scrum-Methode nahezubringen. Weiterhin agiert der Scrum Master als Bindeglied zwischen den Stakeholdern des Projektes und den Entwicklern und fördert so die Interaktion aller Beteiligten. In diesem Kontext weist die Verfahrensweise der Scrum-Methodik ausgezeichnete Eignung für die Entwicklung einer Softwareanwendung auf, da die Anforderungen der Endnutzer (in diesem Fall Patienten und Ärzte) systematisch in die Entwicklung einfließen und zur Zielgenauigkeit der Konzeption beitragen. Durch diese Integration steigt zudem auch die Identifikation des Teams mit dem Arbeitsergebnis, was eine höhere Akzeptanz zur Folge hat.

38.5 Schlussbetrachtung Es bleibt festzuhalten, dass die Sicherstellung der Versorgung in Deutschland, statt drohender Unterversorgung, durch Disparitäten in der regional ungleichen Verteilung der Ressourcen geprägt ist. Im ambulanten Sektor kommt es daher aufgrund von Fachkräftemangel zu Unterversorgung ländlicher Gebiete mit deren erhöhtem Versorgungsbedarf. Die betrachteten Probleme des stationären Sektors führen zur Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser. Aufgrund der Bevölkerungsstrukturen führt dies bei ländlichen Krankenhäusern mit schwächerer Ausstattung an Versorgungskapazitäten zur Bedrohung des Sicherstellungsauftrages der Länder. Der beschriebene erhöhte ­Versorgungsbedarf der älteren und oftmals pflegebedürftigen Bevölkerung, die überwiegend in ländlichen Regionen an-

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gesiedelt ist und aufgrund ihrer Immobilität nur unzureichend flexibel in der Wahl der niedergelassenen Ärzte und stationären Leistungserbringer ist, diente als Motivation für die Entwicklung eines telemedizinischen Versorgungskonzeptes. Die Entwicklung der Software, die als Basis für das Telemedizinkonzept „Gesundheitsversorgung 4.0“ dient, erfolgte nach der Scrum-Methodik. Diese Verfahrensweise weist besondere Eignung auf, die Anforderungen der Kunden (Patienten und Ärzte) systematisch und fortlaufend zu erfassen und ihnen zielgerichtet zu entgegnen. Eine solche Kundenorientierung und -zentrierung sichert die Akzeptanz der entwickelten Innovationen durch ebendiejenigen, die im Versorgungsalltag damit konfrontiert werden. Das Projekt „Gesundheitsversorgung 4.0“ illustriert beispielhaft, wie telemedizinische Innovationen dazu beitragen können, die Qualität der medizinischen Versorgung zu erhöhen, das medizinische Personal zu entlasten und langfristig die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen zu sichern. Ungeachtet der auch politisch vorangetriebenen Entwicklung zur immer stärker digitalisierten Gesellschaft und des Einsatzes fortschrittlicher Informations- und Kommunikationstechnologie, ist die Etablierung von Telemedizin im Gesundheitswesen bei weitem noch kein Selbstzweck. Im Vorfeld der Realisierung sollte ein jedes Versorgungsmodell bezüglich Ziel, Nutzen und Aufwand sorgfältig auf seine Eignung und seinen Nutzen untersucht werden. Die Aufrechterhaltung oder Verbesserung der Versorgungsqualität erweist sich als ausgesprochen bedeutsam (Henning et al. 2019). Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist eine wesentliche Grundlage für den erfolgreichen Behandlungsverlauf und ein Schlüsselelement innerhalb des Gesundheitssystems. In diesem Zusammenhang liegt die Balance zwischen der Anwendung von IT-Systemen in der Fernbehandlung und der Positionierung des Patienten im Mittelpunkt jeglichen Handelns in der Verantwortung der Ärzte und deren medizinischer Ausbildung (Riepe und Schwanenflügel 2013). Einfluss auf diese Balance muss auch die Überlegung nehmen, dass Telemedizin nicht zu der Entstehung einer digitalen Kluft im Versorgungsgeschehen beitragen darf, die ­technikaffinen Menschen zu Vorteilen im Zugang zu Versorgung verhilft. Sämtliche Teilnehmer der medizinischen Versorgung, darunter Patienten und Leistungserbringer allen Alters müssen Zugang zu derartigen Leistungen erhalten, insofern diese Nutzung gewünscht ist. Dieser Aspekt gewinnt vor dem Hintergrund, dass aufgrund des Stadt-Land-Gefälles insbesondere chronisch Kranke und Menschen höheren Alters von den Nutzungsmöglichkeiten der Telemedizin betroffen sind, an Bedeutung (Knieps et  al. 2015). Die Politik muss an dieser Stelle mit der Entwicklung umfassender Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass es zur Gleichverteilung der Ressourcen entlang aller Alters- und Gesellschaftsgruppen kommt. Telemedizinische Behandlung als integraler Bestandteil der medizinischen Leistungserbringung muss allen Menschen unabhängig ihres Wohnortes oder ihrer sozialen Voraussetzungen zur Verfügung gestellt werden, damit sie zu einer gerechteren Verteilung beitragen kann. Es ist zu beachten, dass die Glättung der regionalen Ungleichverteilung der Ressourcen durch isolierte Pilotierungsansätze alleine nicht erreicht werden kann, vielmehr ist eine intersektorale Versorgungsperspektive notwendig.

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Dr. Christoph Buck,  M.Sc., ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und in der Fraunhofer Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT.  Nach dem Diplomstudium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth legte er seine Promotion an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bay-

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reuth ab. Seine Forschungsschwerpunkte sind die digitale Transformation, digitale Innovation, Information Privacy, E-Health und datengetriebene Geschäftsmodelle. Eileen Doctor  M. Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Nach ihrem Bachelorstudium der Gesundheitsökonomie an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden, führte sie ihre fachliche Ausbildung im Masterstudium der Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth fort. Seit April 2020 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind E-Health und die digitale Transformation, mit Fokus auf konkrete Prozessoptimierungen. Prof. Dr. Torsten Eymann  ist Inhaber des Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik der Universität Bayreuth und stellvertretender wissenschaftlicher Leiter der Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Nach dem Diplom-Studium der Informatik an der Universität Mannheim legte er seine Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ab. Seit dem Jahr 2004 hat Prof. Dr. Eymann den Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Universität Bayreuth inne. Seit dem Jahr 2015 ist er Vizepräsident der Universität Bayreuth für Informationstechnologie und Entrepreneurship. Seine Forschungsschwerpunkte sind IT-Security, E-Health und die digitale Transformation