Die Zurechnung des Entwicklungsrisikos im Umweltrecht: Zur Verantwortlichkeit des Verursachers unvorhersehbarer Umweltschäden [1 ed.] 9783428523597, 9783428123599

Die Schrift zum Risikoverwaltungsrecht widmet sich der dringenden Aufgabe, den Zurechnungsumfang von Umweltschäden zu be

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Die Zurechnung des Entwicklungsrisikos im Umweltrecht: Zur Verantwortlichkeit des Verursachers unvorhersehbarer Umweltschäden [1 ed.]
 9783428523597, 9783428123599

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MARC LÜBBECKE

Die Zurechnung des Entwicklungsrisikos im Umweltrecht

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Berlin

Band 151

Die Zurechnung des Entwicklungsrisikos im Umweltrecht Zur Verantwortlichkeit des Verursachers unvorhersehbarer Umweltschäden

Von Marc Löbbecke

Duncker & Humblot • Berlin

Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-12359-X 978-3-428-12359-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Schrift wurde von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen. Die Anfertigung der Arbeit wurde gefördert durch die produktive und gleichsam angenehme Atmosphäre des Instituts für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht. Zuvorderst gilt mein besonderer Dank dessen Direktor Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Schmidt-Aßmann, der dieser Arbeit einerseits große Freiheit - in der Auswahl des Themas als auch in der Entstehung - gewährt hat, andererseits sie gerne mit wissenschaftlichem Rat begleitet hat. Herzlich danken möchte ich ebenso allen wissenschaftlichen Mitarbeitern des Instituts sowie den externen Doktoranden, die auch außerhalb der Seminarsitzungen stets eine wichtige Quelle für neue Ideen und konstruktive Kritik waren. Für die Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Herrn PD Dr. Anderheiden. Für die Aufnahme in die vorliegende Schriftenreihe möchte ich deren Herausgeber Herrn Professor Dr. Kloepfer danken. Ich danke schließlich meiner Familie, vor allem meinen Eltern Christel und Hans-Werner Löbbecke, für ihre große Unterstützung sowie meiner Verlobten Melanie Jahn für die wertvolle, ebenso ermutigende wie juristisch sachkundige Begleitung. Sie haben zum Entstehen dieser Arbeit wesentlich beigetragen. Die Schrift befindet sich bezüglich der Literatur auf dem Stand Januar 2006. Karlsruhe, im September 2006

Marc Löbbecke

Inhaltsübersicht Einleitung

33

7. Teil Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine privatrechtliche Herkunft

36

1. Kapitel Vom Ursprung im Recht der Produkthaftung zur Kernfrage im Umwelt- und Technikrecht

36

A. Eine begriffliche Vorklärung

37

B. Die frühe Wahrnehmung des Problems und die Diskussion anläßlich des 47. Deutschen Juristentages im Jahr 1968

38

C. Die Ausprägung von Verkehrspflichten als Einfallstor der Haftung für das Entwicklungsrisiko

40

D. Die Produkthaftungsrichtlinie als legislativer Ausgangspunkt und Initialzündung für die Wiederentdeckung der Zurechnungsfrage

43

E. Die Zuweisung des Entwicklungsrisikos in den zivilrechtlichen Haftungsnormen des Umwelt- und Technikrechts

46

2. Kapitel Die Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

66

A. Die Unerkennbarkeit als Hauptcharakteristikum

66

B. Die Abgrenzung zu anderen Konstellationen

70

C. Der „Stand von Wissenschaft und Technik" als zentraler Bezugspunkt der Definition des Entwicklungsrisikos

72

D. Die Verständnismöglichkeiten des Begriffs „Entwicklungsrisiko"

80

E. Beispiele für Entwicklungsrisiken im produktbezogenen Umwelt- und Technikrecht

82

8

Inhaltsübersicht 2. Teil Die Transformation des Zurechnungsproblems in das öffentliche Recht durch die Umwelthaftungsrichtlinie

85

3. Kapitel Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie und der Einwand des Entwicklungsrisikos

86

A. Der zivilrechtliche Ausgangspunkt: Die Ausweitung und Harmonisierung der Haftung für Umweltschäden

86

B. Der Konzeptwandel zu einem ordnungsrechtlichen Regelungsmodell

93

C. Die Regelungen der Umwelthaftungsrichtlinie im Überblick

96

D. Die Behandlung des Entwicklungsrisikos

104

E. Die Umwelthaftungsrichtlinie als öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung

113

4. Kapitel Die öffentlich-rechtlichen Ersatzpflichten bei Umweltschäden Ihre Formen und die spezifischen Probleme bei Entwicklungsrisiken

115

A. Die Regelungskonzepte zum Ausgleich von Umweltschäden

116

B. Die Berührungspunkte und Parallelen zu bekannten Fragen des Ordnungsrechts

132

3. Teil Das Entwicklungsrisiko i m System von Gefahrenabwehr, Risikovorsorge und Restrisiko

150

5. Kapitel Die Vorsorgeperspektive vor dem Horizont des Nichtwissens Die Akzeptanz von Ungewißheit

151

A. Der Zielkonflikt des Risikoverwaltungsrechts

151

B. Die Vorsorge als Mittel der Risikoreduktion und Risikoprävention

158

C. Der Wandel von der schadensbezogenen zurrisikobezogenen Vorsorge

174

Inhaltsübersicht 6. Kapitel Das Entwicklungsrisiko als besondere Risikokategorie A. Die öffentlich-rechtliche Begriffsbestimmung

191 191

B. Das Verhältnis des Entwicklungsrisikos zu anderen Begriffen der Risikovorsorge ... 205

4. Teil

Die Begrenzung der Verhaltensverantwortlichkeit bei Umweltschäden aus Entwicklungsrisiken

214

7. Kapitel Die Schadensdistribution bei Entwicklungsrisiken im Spannungsfeld von Verursacher- und Gemeinlastprinzip

215

A. Die Schadensanlastung beim Verursacher als Zielprogrammierung des Umweltrechts 215 B. Die Kostenbefreiung bei Entwicklungsrisiken - ein Widerspruch zum Verursacherprinzip? 223 8. Kapitel Das Modell einer Risiko- und Lastenteilung zwischen Staat und Verursacher

236

A. Die Grundzüge des Modells der Risiko- und Lastenteilung

236

B. Die Voraussetzungen der Risiko- und Lastenteilung

245

C. Das Verhältnis des Modells zur Lehre von der Legalisierungswirkung

255

D. Der Anwendungsbereich des Modells

262 9. Kapitel

Die Legitimation der Entlastung des Verursachers

272

A. Die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung

272

B. Die Supraindividualität des Entscheidungsproblems Nichtwissen

298

C. Der funktionale Unterschied zur Deliktshaftung

310

10

Inhaltsübersicht 5. Teil Die Intensivierung und Sanktionierung von Beobachtungs- und Forschungspflichten innerhalb eines Informationsnetzwerks

314

10. Kapitel Die Programmierung des Rechts auf die Generierung von Wissen Die Bewältigung von Ungewißheit und Nichtwissen

315

A. Die Neuorientierung und Verschärfung der Verursacherpflichten

315

B. Die Etablierung von Lernstrategien im Recht

329

C. Die Vernetzung der Wissensbestände

343 11. Kapitel

Die Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten als Anknüpfungspunkt für den Ersatz von Umweltschäden

355

A. Die Koppelung der Verantwortlichkeit für Umweltschäden aus Entwicklungsrisiken an eine Pflichtverletzung 355 B. Die Gemeinsamkeiten des Regelungsvorschlags mit dem Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht 369

Literaturverzeichnis

375

Sachwortverzeichnis

411

Inhaltsverzeichnis Einleitung

33 1. Teil Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine privatrechtliche Herkunft

36

1. Kapitel

Vom Ursprung im Recht der Produkthaftung zur Kernfrage im Umwelt- und Technikrecht A. Eine begriffliche Vorklärung B. Die frühe Wahrnehmung des Problems und die Diskussion anläßlich des 47. Deutschen Juristentages im Jahr 1968 C. Die Ausprägung von Verkehrspflichten als Einfallstor der Haftung für das Entwicklungsrisiko I. Die Produktbeobachtungspflicht

36 37

38 40 40

II. Die Reaktionspflichten

41

1. Die Warnpflicht

42

2. Die Rückrufpflicht

42

III. Der Informationsbezug der Produkthaftung

D. Die Produkthaftungsrichtlinie als legislativer Ausgangspunkt und Initialzündung für die Wiederentdeckung der Zurechnungsfrage

43

43

I. Die Fronten im Entstehungsprozeß

44

IL Die Kompromißlösung in Artt. 7, 15

44

III. Die Haftungsfreistellung im Produkthaftungsgesetz

E. Die Zuweisung des Entwicklungsrisikos in den zivilrechtlichen Haftungsnormen des Umwelt- und Technikrechts I. Die Regelung des Entwicklungsrisikos in den einzelnen Tatbeständen der Gefahrdungshaftung

45

46 46

12

Inhaltsverzeichnis 1. § 8 4 A M G

46

2. § 32 GenTG

48

3. § 1 UmweltHG

50

4. Ältere Tatbestände

52

a) § 22 WHG

52

b) §§ 25 ff. AtG

53

II. Die Revitalisierung der Gefährdungshaftung und ihre Ursachen 1. Die Ausgleichsfunktion

53 54

a) Das traditionelle Verständnis

54

b) Die soziale Verantwortung

55

c) Im besonderen: Die Kompensation des Rest- und Entwicklungsrisikos ...

55

2. Die Präventivfunktion

56

3. Die Kritik am Instrument Gefährdungshaftung

58

a) Die Zwangsversicherungsfunktion und die Kollektivierung des Schadens

58

b) Die Präventivwirkung bei Entwicklungsrisiken

59

c) Die möglichen prohibitiven Wirkungen

60

d) Die vermeintliche Sondergefährdung

61

III. Die Verschärfung des privaten Nachbarrechts

61

1. Das Nachbarrecht als Ausgleich zwischen Koexistenz-und Förderzweck ...

61

2. Der Regelungsinhalt des § 36a GenTG

62

a) Die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung

62

b) Die Ortsüblichkeit und die wirtschaftliche Zumutbarkeit der Vermeidung

63

c) Die gesamtschuldnerische Haftung

63

3. Die Bewertung der Neuregelung

64

4. Die Vereinbarkeit mit EU-Recht

65

2. Kapitel Die Bedeutung des Begriffs,,Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht A. Die Unerkennbarkeit als Hauptcharakteristikum I. Der Gegenstand der Unerkennbarkeit

66 66 66

Inhaltsverzeichnis II. Die Art der Unerkennbarkeit

68

1. Die Unerheblichkeit der individuellen Vorhersehbarkeit

68

2. Der Stand von Wissenschaft und Technik als objektiver Maßstab

69

B. Die Abgrenzung zu anderen Konstellationen I. Die sogenannten „Entwicklungslücken" II. Gesteigerte Sicherheitsanforderungen und-erwartungen C. Der „Stand von Wissenschaft und Technik" als zentraler Bezugspunkt der Definition des Entwicklungsrisikos I. Der Zweck der Technikklauseln II. Erste Konkretisierung des Begriffes „Stand von Wissenschaft und Technik"

70 70 71

72 72 73

III. Einheitlichkeit oder Zweidimensionalität des Begriffs „Stand von Wissenschaft und Technik"

74

1. Wissenschaft und Technik als zwei Stufen und Dimensionen

74

2. Wissenschaft und Technik in einer eindimensionalen Begriffsdefinition

75

IV. Die „state-of-the-art-defense" im US-amerikanischen Produkthaftungsrecht

76

V. Einzelprobleme bei der Bestimmung des Standes von Wissenschaft und Technik

76

1. Die Anerkanntheit der Erkenntnisse als Voraussetzung der Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Stand"

77

2. Die Verfügbarkeit der Erkenntnisse

78

D. Die Verständnismöglichkeiten des Begriffs „Entwicklungsrisiko" I. Der Begriffsteil „Risiko"

80 80

1. Der rechtliche, insbesondere zivilrechtliche Begriffsinhalt

80

2. Der Risikobegriff in der Soziologie

80

II. Die Bedeutung des Begriffsteils Entwicklung"

81

1. Entwicklung als zeitlicher Prozeß

81

2. Entwicklung als technische Innovation

81

3. Das Entwicklungsrisiko als Problem der Entscheidung unter Ungewißheit ..

82

E. Beispiele für Entwicklungsrisiken im produktbezogenen Umwelt- und Technikrecht

82

14

Inhaltsverzeichnis

2. Teil Die Transformation des Zurechnungsproblems in das öffentliche Recht durch die Umwelthaftungsrichtlinie

85

3. Kapitel Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie und der Einwand des Entwicklungsrisikos A. Der zivilrechtliche Ausgangspunkt: Die Ausweitung und Harmonisierung der Haftung für Umweltschäden I. Die Ersatzfähigkeit von Umweltschäden und ökologischen Schäden

86

86 86

1. Eine Begriffsbestimmung

86

2. Die Konsequenzen für das Haftungssystem im Bereich ökologischer Schäden

87

a) Die Haftungslücke im Zivilrecht

87

b) Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Zivilrechts im Umweltschutz

88

c) Das Umwelthaftungsgesetz als Beispiel der privatrechtlichen Grenzen ...

89

II. Die politischen Rahmenbedingungen der Umwelthaftungsrichtlinie

90

III. Das Grünbuch über die Sanierung von Umweltschäden

91

IV. Das Weißbuch zur Umwelthaftung

92

B. Der Konzeptwandel zu einem ordnungsrechtlichen Regelungsmodell I. Der Kurswechsel der Kommission und sein Ausdruck in der Richtlinie II. Die Gründe für den neuen Ansatz C. Die Regelungen der Umwelthaftungsrichtlinie im Überblick I. Die Schutzgüter

93 93 95 96 96

1. Ökologische Vielfalt

97

2. Gewässer

97

3. Boden

98

II. Der Haftungstatbestand

98

1. Die Haftungsgründe

98

2. Die Kausalität

99

Inhaltsverzeichnis III. Die Haftungsfolgen 1. Die Vermeidungspflicht

99 99

2. Die Sanierungspflicht

100

3. Die Kostentragung und -erstattung

100

4. Die amerikanischen Mustergesetze

101

5. Die mittelbare Aktivlegitimation natürlicher oder juristischer Personen

101

IV. Die Haftungsausnahmen

102

1. Die Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie

102

2. Keine Rückwirkung der Richtlinie

102

3. Die Entlastung von der Kostentragungspflicht

103

D. Die Behandlung des Entwicklungsrisikos I. Der Regelungsgehalt des Art. 8 Abs. 4 lit. b)

104 104

1. Der Haftungsausschluß im Lichte des privatrechtlichen Entwicklungsrisikobegriffs 104 a) Die Frage der Anerkanntheit

105

b) Das Wahrscheinlichkeitskriterium

106

2. Das Verschulden als Rückausnahme

107

3. Die Rechtsfolge des Vorliegens eines Entwicklungsrisikos

108

a) Privilegierung ausschließlich auf der Kostenebene

108

b) Entfallen der Primärpflichten

108

c) Stellungnahme

108

II. Die Entlastungsoption als Kompromißlösung

109

1. Die Zurückhaltung der Kommission im Weißbuch

110

2. Das Entwicklungsrisiko als Ausnahme im Kommissionsvorschlag

110

3. Die Diskussion im Anschluß an den Vorschlag

111

4. Die Lösung im Gemeinsamen Standpunkt des Rates

112

E. Die Umwelthaftungsrichtlinie als öffentlich-rechtliche Gefahrdungshaftung I. Die Ausübung bestimmter Tätigkeiten als Haftungsgrund II. Naturalrestitution und Totalreparation als Rechtsfolge

113 113 114

Inhaltsverzeichnis

16

4. Kapitel Die öffentlich-rechtlichen Ersatzpflichten bei Umweltschäden Ihre Formen und die spezifischen Probleme bei Entwicklungsrisiken A. Die Regelungskonzepte zum Ausgleich von Umweltschäden

115 116

I. Die öffentlich-rechtlichen Regelungen für den Ersatz von Umweltschäden de lege lata und ihr Anpassungsbedarf nach der Umwelthaftungsrichtlinie 116 1. Das Naturschutzrecht

117

a) Die Naturschutzgesetze

117

b) Die Waldgesetze

118

2. Das Gewässerschutzrecht

118

a) Das Wasserhaushaltsgesetz

118

b) Die Wassergesetze der Länder

119

c) Das allgemeine Polizeirecht

119

3. Das Bodenschutzrecht

120

a) Das Bundesbodenschutzgesetz

120

b) Die Bodenschutzgesetze der Länder

121

4. Das Gefahrstoffrecht

121

5. Das Immissionsschutzrecht

122

6. Das Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht

122

a) Das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz des Bundes

122

b) Das Landesrecht

122

II. Die Vorschläge de lege ferenda

123

1. § 118 UGB-Professoren-Entwurf

123

2. § 131 UGB-Kommissions-Entwurf

123

3. Weitere Regelungsmodelle einer Ersatzpflicht bei ökologischen Schäden ... 124 a) Der öffentlich-rechtliche Ausgleich von Umweltschäden

124

b) Die Erweiterung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung

124

c) Die Aktivlegitimation von Verbänden oder Behörden

125

d) Der Aufwendungsersatzanspruch der öffentlichen Hand

125

III. Der Ersatz von Entwicklungsrisiken nach den verschiedenen Regelungsansätzen 125

Inhaltsverzeichnis 1. Im geltenden Recht

126

a) Der Ausnahmecharakter des Entlastungsgrundes im Gefahrenabwehrrecht

126

b) Keine Verantwortlichkeit im Naturschutzrecht

127

2. Nach den Vorschlägen de lege ferenda a) Die öffentlich-rechtlichen Wiederherstellungs- und Aufwendungsersatzansprüche

127 127

b) Die zivilrechtlichen Modelle mit öffentlich-rechtlich modifizierter Aktivlegitimation 128 IV. Die Umsetzung - Der Entwurf des Umweltschadensgesetzes

129

1. Die Stellung des Umweltschadensgesetzes als Rahmengesetz

129

2. Die wesentlichen Regelungen im Überblick

130

a) Die Definition des Umweltschadens

130

b) Der Anwendungsbereich

130

c) Die Pflichten des Verantwortlichen

131

d) Die Bestimmung der erforderlichen Sanierungsmaßnahmen

131

e) Die Befugnisse der zuständigen Behörde

131

3. Die Delegation der Entscheidung über den Einwand des Entwicklungsrisikos an die Länder 132 B. Die Berührungspunkte und Parallelen zu bekannten Fragen des Ordnungsrechts

132

I. Die Erkennbarkeit der Gefahr als Voraussetzung der polizeirechtlichen Verhaltensverantwortlichkeit 133 1. Die alternativen Verursachungstheorien

134

a) Die Theorie der rechtswidrigen Verursachung

134

b) Die Zurechnung nach Pflichtwidrigkeit und Risikosphäre

135

c) Die Adäquanztheorie und ihre Variante

136

2. Das Verbot echter Rückwirkung

136

3. Die tatbestandliche Begrenzung der Verhaltenshaftung wegen deren Schadensersatzähnlichkeit 138 4. Die Einschränkung auf der Kostenebene

138

5. Die Rückschlüsse auf die Zurechnungsfrage von Entwicklungsrisiken bei ökologischen Schäden - Parallelen und Unterschiede 139 2 Löbbecke

18

Inhaltsverzeichnis a) Zum Rückwirkungsverbot

140

b) Zur Untauglichkeit des Zivilrechts bei der Bestimmung von Risikosphären im öffentlichen Recht 140 c) Zur Beschränkung auf die Erkennbarkeit eines allgemeinen Risikopotentials 141 d) Zur Schadensersatzähnlichkeit

141

e) Zur Unzumutbarkeit

142

f) Die Verschiedenheit der Ausgangspunkte

142

II. Die Legalisierungswirkung

143

1. Die Wirkungsweise

143

2. Die rechtlichen Grundlagen

144

a) Der verwaltungsrechtliche Ansatz

144

b) Die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung

145

c) Die normative Risikozuweisung an den Staat

145

3. Der Umfang

146

4. Die Behandlung unerkennbarer Umstände

147

a) Keine Erstreckung der Legalisierungswirkung auf unerkennbare Gefahrenlagen

147

b) Abweichende Meinungen

148

5. Die Schlußfolgerungen und weiter zu verfolgende Ansätze

148

3. Teil Das Entwicklungsrisiko im System von Gefahrenabwehr, RisikoVorsorge und Restrisiko

150

5. Kapitel Die Vorsorgeperspektive vor dem Horizont des Nichtwissens Die Akzeptanz von Ungewißheit A. Der Zielkonflikt des Risikoverwaltungsrechts

151 151

I. Die Ambivalenz der Wissensvermehrung als Ausgangspunkt der Risikogesellschaft 152 1. Das Wissen als Motor der Risikoproduktion

152

2. Das Wissen als Vorsorgefaktor

153

Inhaltsverzeichnis II. Die Ungewißheit als Erkenntnisproblem

19 154

1. Der Verlust des Erfahrungswissens

154

2. Die Risikoermittlung und Beweislast

155

III. Die Ungewißheit als Bewertungsproblem B. Die Vorsorge als Mittel der Risikoreduktion und Risikoprävention I. Der Risikobegriff im öffentlichen Recht 1. Das Risiko als Gefahr mit geringerer Wahrscheinlichkeit

156 158 158 159

a) Das zu Vorsorgemaßnahmen berechtigende und verpflichtende Risiko ... 159 b) Die Figur des Restrisikos als Grenze der Vorsorge

160

2. Das Risiko als Möglichkeit eines Schadens

161

3. Der Risikobegriff in deutschen und europäischen Legislativakten

161

4. Die Bedeutungslosigkeit der Wahrscheinlichkeit für den Risikobegriff

162

a) Die einheitliche Basis der verschiedenen Modelle

162

b) Die Ungewißheit als Charakteristikum des Risikobegriffs

163

c) Das Risiko als aliud zur Gefahr

164

II. Die Vorverlagerung der Gefahrenabwehr im Zuge der Risikovorsorge

165

1. Der Verlust an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit

165

2. Die Schmälerung des Restrisikobereichs

166

3. Die Konstellation des Gefahrenverdachts zwischen Gefahrenabwehr und -Vorsorge 167 a) Die Merkmale des Gefahren Verdachts

167

b) Die Zuordnung zu den Bereichen der Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge

168

III. Die Dominanz der statischen gegenüber der dynamischen Vorsorge 1. Die Ausrichtung am gegenwärtigen Erkenntnisstand

169

a) Die Verwendung von Technikklauseln

169

b) Das Konzept der Grenzwerte

171

2. Die Formen präventiver Risikosteuerung

2*

169

172

a) Das private Haftungsrecht

172

b) Die Marktregulation durch Information und Kommunikation

173

c) Die ökologischen Erforderlichkeitsgebote

173

20

Inhaltsverzeichnis

C. Der Wandel von der schadensbezogenen zur risikobezogenen Vorsorge I. Die Akzeptanz von Ungewißheit

174 174

1. Die Charakterisierung der neuen Zukunftsrisiken

174

a) Das Risiko zweiter Ordnung

175

b) Die Wahrscheinlichkeit zweiten Grades

175

c) Die Gefahren zweiter Ordnung und neue, komplexe Risiken

175

2. Der Möglichkeitsbezug des Risikobegriffs als Ausdruck des Erkenntnisproblems

176

3. Die überragende Rolle der Generierung von Risikowissen

176

4. Die Folgen des Verständnisses vom Recht als Steuerungsinstrument

177

a) Die Reflexivität

177

b) Die Prozeduralisierung

177

II. Der Wechsel der Vorsorgeperspektive

178

1. Die retrospektive, schadensbezogene Vorsorge

178

2. Die prospektive, risikobezogene Vorsorge

179

3. Die Referenzgebiete der Entwicklung

180

a) Das Gentechnikrecht

180

b) Das Gefahrstoffrecht

184

c) Das Arzneimittelrecht

188

d) Umweltverträglichkeitsprüfung

189

6. Kapitel Das Entwicklungsrisiko als besondere Risikokategorie A. Die öffentlich-rechtliche Begriffsbestimmung I. Die Übertragbarkeit der haftungsrechtlichen Definition

191 191 192

1. Die objektive Unerkennbarkeit des Schadenspotentials

192

2. Die Funktionen des Standes von Wissenschaft und Technik

192

a) Der Stand von Wissenschaft und Technik als Vorsorgestandard

192

b) Der Stand von Wissenschaft und Technik als Maßstab der Erkennbarkeit

193

3. Die Verwendung des Begriffs Entwicklungsrisiko in den Altlastenfällen

194

4. Das Entwicklungsrisiko in der Umwelthaftungsrichtlinie

194

Inhaltsverzeichnis II. Präzisierungen des Begriffs

195

1. Die Wahrscheinlichkeitsprognose vor dem Hintergrund von Ungewißheit ... 195 2. Der Unterschied zwischen Nichtwissen und Ungewißheit

196

a) Die Situation des Nichtwissens

196

b) Die Situation der Ungewißheit

197

c) Die Schlußfolgerungen

198

d) Der Unterschied zwischen dem abstrakten und dem konkreten Besorgnispotential 198 3. Das Entwicklungsrisiko als Situation des Nichtwissens

199

4. Das Entwicklungsrisiko als Erkenntnisrisiko

200

5. Abgrenzungen

201

a) Die Fehleinschätzung der Gefahr als Frage der Legalisierungswirkung .. 202 b) Sonderproblem: Das Zusammentreffen mehrerer Schadenspotentiale B. Das Verhältnis des Entwicklungsrisikos zu anderen Begriffen der Risikovorsorge I. Der Gefahrenverdacht

203 205 205

1. Das Entwicklungsrisiko als Fall des Gefahren Verdachts

205

a) Die Gemeinsamkeiten der Entscheidungssituation

205

b) Die Zuordnung zum Vorsorgebereich bei Entwicklungsrisiken

206

2. Die Prozeduralisierung des Gefahrenverdachts bei komplexen Risiken II. Das Normalbetriebsrisiko, das Unfallrisiko und die höhere Gewalt

207 207

1. Das Normalbetriebsrisiko als Situation des Nichtwissens

207

2. Die Abgrenzung zu höherer Gewalt

208

III. Das Restrisiko

209

1. Das Verhältnis von Rest-und Entwicklungsrisiko

209

2. Die Interpretationen des Restrisikos

210

a) Das Restrisiko als praktisch ausgeschlossene Schadensmöglichkeit

210

b) Das Restrisiko als Kategorie hinzunehmender Risiken

211

3. Das Entwicklungsrisiko als aliud zum Restrisiko

211

4. Das Entwicklungsrisiko als Vorsorgeanlaß

212

22

Inhaltsverzeichnis

4. Teil Die Begrenzung der Verhaltensverantwortlichkeit bei Umweltschäden aus Entwicklungsrisiken

214

7. Kapitel Die Schadensdistribution bei Entwicklungsrisiken im Spannungsfeld von Verursacher- und Gemeinlastprinzip

215

A. Die Schadensanlastung beim Verursacher als Zielprogrammierung des Umweltrechts 215 I. Die Bedeutung und der Inhalt des Verursacherprinzips

215

1. Der Ursprung des Verursacherprinzips in der Ökonomie

216

2. Die Entwicklung von einer politischen Maxime zu einem Rechtsprinzip —

217

a) Das Verursacherprinzip als politische Leitidee

217

b) Die Verfestigung zu einem Rechtsprinzip

217

c) Die gesetzgeberische Freiheit statt strikter Bindung

218

3. Die Bestimmung des Verursachers

219

a) Die Offenheit des Verursacherprinzips für verschiedene Verursachungsbegriffe 219 b) Der Verursachungsbegriff der Umwelthaftungsrichtlinie 4. Die Systemvarianten II. Der Vorrang des Verursacherprinzips im Verhältnis zum Gemeinlastprinzip

219 221 221

1. Das Gemeinlastprinzip als Gegenpol zum Verursacherprinzip

221

2. Der Vorranganspruch des Verursacherprinzips

222

3. Die Rechtfertigung der Kosten Verteilung auf die Allgemeinheit

222

B. Die Kostenbefreiung bei Entwicklungsrisiken - ein Widerspruch zum Verursacherprinzip? 223 I. Das Eingehen von (Entwicklungs-)Risiken als individuelle Entscheidung

223

1. Die Zurechenbarkeit des Risikos wegen dessen Entscheidungsbezogenheit.. 224 2. Das Verursacherprinzip als Ausdruck der Verantwortung des freien Individuums 224 3. Die Individualisierung von Risiken als Aufgabe des Rechts

225

Inhaltsverzeichnis II. Die staatliche Mitverantwortung

226

1. Die Verantwortung als Auftrag zur Vorsorge

226

2. Die Verantwortung für Schäden

227

a) Die Ermöglichung und Förderung risikosetzenden Handelns durch den Staat 228 b) Zur Sozialisierung von Risiken III. Die Nachteile einer Entlastung des Verursachers bei Entwicklungsrisiken

229 229

1. Die Kostenbelastung des Staates

229

2. Die Mißachtung der Anreizwirkung zur Schadensprävention

230

IV. Die bestehenden rechtlichen Ausdrucksformen der Verursacherverantwortung .. 231 1. Die Folgenverantwortung

231

a) Öffentlich-rechtliche Beseitigungs- und Wiederherstellungspflichten

231

b) Zivilrechtliche Haftung

232

2. Die Delegation der Sachverhaltsermittlung auf den Risikosetzer

232

3. Die Geltung der Primärpflichten der Umwelthaftungsrichtlinie

234

V. Die Schlußfolgerungen für die Zulässigkeit der Kostenfreistellung

235

8. Kapitel Das Modell einer Risiko- und Lastenteilung zwischen Staat und Verursacher A. Die Grundzüge des Modells der Risiko- und Lastenteilung I. Der Geltungsbereich

236 236 237

1. Die Beschränkung auf ökologische Schäden

237

2. Die Beschränkung auf die Sekundärebene

238

n. Die Risiko Vorsorge als „Akzeptanzschwelle" für Entwicklungsrisiken

238

1. Die Bedeutung des Begriffs „Akzeptanzschwelle"

238

2. Das wegen Wissensunvollkommenheit erlaubte Risiko

239

a) Die staatliche Gestattung als Abwägung widerstreitender Interessen

239

b) Die Risikoentscheidung als Bewertungsproblem

239

c) Die Sozialadäquanz als Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

240

d) Der Bedeutungszuwachs des Nutzen-Risiko-Vergleichs

240

24

Inhaltsverzeichnis III. Die Kostenfreistellung als Korrektiv zur Vorverlagerung der Gefahrenabwehr .. 242 1. Die Verengung des Bereichs hinzunehmender Risiken

242

2. Die Verschärfung des Eingriffs durch die Übertragung der Erkenntnispflicht

243

3. Der Risikosetzer als rechtmäßig handelnder Verhaltensstörer?

243

4. Die Kostenbefreiung als Konsequenz

244

B. Die Voraussetzungen der Risiko- und Lastenteilung I. Die „Vorsorge ins Hypothetische"

245 245

1. Die Gerichtetheit auf Entwicklungsrisiken

245

2. Die Abwälzung der Ermittlungslast auf den Risikosetzer

246

3. Die Ausschöpfung der verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten

246

a) Der Unterschied zur Anwendung technischer Mittel nach dem Stand der Technik 246 b) Der Stand der Wissenschaft als Bezugspunkt

247

c) Die vergleichbaren Erkenntnispflichten

248

d) Die Verfügbarkeit

248

II. Die Billigung des verbleibenden Nichtwissens 1. Die Billigung von und die Mitverantwortung für Entwicklungsrisiken

249 249

a) Die Art der Billigung: Die Freistellung von Risiken ex nunc und ex tunc

249

b) Die Mitverantwortung als Zurechnungsmodus

250

2. Die Äußerungsformen der Billigung

251

a) Die Zurechnung aufgrund des Aktes der behördlichen Gestattung

251

b) Die Zurechnung wegen normativer Gestattung

252

c) Entwicklungsrisiken als Kosten des freiheitlichen Rechtsstaats

253

3. Die Abhängigkeit der Billigung von der Vorsorge ins Hypothetische

254

C. Das Verhältnis des Modells zur Lehre von der Legalisierungswirkung

255

I. Die Gemeinsamkeiten

255

1. Die Wirkungsweise

256

2. Die Begründung

256

a) Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung

257

b) Die normative Risikozuweisung

257

Inhaltsverzeichnis II. Die Unterschiede beim Entwicklungsrisiko

257

1. Die Begrenzung der LegalisierungsWirkung auf den Regelungsgegenstand .. 258 a) Die Funktion als spezieller Genehmigungsschutz

259

b) Die zeitliche Wirkungsrichtung

259

c) Der Unterschied zwischen Nichtwissen und Ungewißheit

259

2. Keine Herstellung rechtmäßiger Zustände

260

3. Kein Ausschluß der Störereigenschaft

260

ID. „Liberation" statt „Legalisierung" D. Der Anwendungsbereich des Modells I. Der kausale Umweltschutz als Ausgangspunkt der Lastenteilung

261 262 262

1. Die Liberation bei Entwicklungsrisiken als Folge des kausalen Umweltschutzes 263 2. Das Gentechnikrecht

263

3. Das Gefahrstoffrecht

265

a) Das Chemikalienrecht

265

b) Die Vorschriften über die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln

266

4. Die Umweltverträglichkeitsprüfung

266

5. Der Unterschied zur immissionsschutzrechtlichen Vorsorge

267

a) Der Risikobezug der immissionsschutzrechtlichen Vorsorge

268

b) Der Technikbezug und die fehlende Erkenntnisdimension

268

c) Die Voraussetzung der Erkennbarkeit der potentiellen Gefährlichkeit

269

II. Die Folgewirkungen auf den medialen und vitalen Umweltschutz

270

1. Die Abhängigkeit des medialen und vitalen Umweltschutzes von der vorhabenbezogenen Risikovorsorge 270 2. Die einzelnen Anwendungsbereiche

271

a) Das Bodenschutzrecht

271

b) Das Wasserrecht

271

c) Das Naturschutzrecht

272

26

Inhaltsverzeichnis 9. Kapitel

Die Legitimation der Entlastung des Verursachers A. Die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung I. Die Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Argument 1. Die Formen

272 272 273 274

2. Die Instrumente der Gewährleistung von horizontaler Widerspruchsfreiheit . 274 a) Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten

275

b) Die Spezialität von Normkomplexen

275

II. Die Verantwortlichkeit für Entwicklungsrisiken als Problem der Zuordnung von Erkenntnisleistungen 275 1. Die Risikoerkenntnis als Verursacherpflicht

276

2. Die Grenzziehung im Verwaltungsverfahren

276

a) Das Gentechnikrecht

276

b) Das Gefahrstoffrecht

277

c) Die Umweltverträglichkeitsprüfung

279

3. Der Stand der Wissenschaft und Technik als Maßstab einer Risikoverteilung

279

III. Der Zusammenhang zwischen präventiver Kontrolle und ex-post-Verantwortlichkeit 280 1. Die These von der grundsätzlichen Unabhängigkeit a) Privatrechtliche Haftung: Die (begrenzte) Unabhängigkeit vom Öffentlichen Recht

280 281

b) Öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit: Der Einwand des erlaubten Verhaltens als Rechtfertigungsgrund 282 2. Das differenzierte System von Eröffnungskontrolle und Überwachung

283

a) Die Vorläufigkeit der Gestattung

283

b) Die dynamischen Verursacherpflichten

284

c) Die nachträglichen Anordnungen und Auflagen

285

d) Der Widerruf

288

3. Die Ersatz- und Wiederherstellungspflichten bei ökologischen Schäden

289

4. Der Widerspruch bei der uneingeschränkten Zurechnung des Entwicklungsrisikos 290

Inhaltsverzeichnis a) Die Wissensabhängigkeit der Risikozurechnung

291

b) Die Verursacherpflichten im Bereich der Risikoerforschung

292

5. Die Beschränkung beim Ersatz von Schäden als Konsequenz: Das Erfordernis der Rechtswidrigkeit für die nachträgliche Kostenanlastung IV. Die Bedeutung des Vertrauensschutzes 1. Das Vertrauen auf einen gegenwärtigen Wissensstand

293 294 294

a) Die Möglichkeit der Bildung von Vertrauen

295

b) Die rechtliche Schutzwürdigkeit

295

c) Die Regelung des § 4 Abs. 5 S. 2 BBodSchG

295

2. Keine Garantieübernahme für die Unschädlichkeit eines Verhaltens

296

3. Der WertungsWiderspruch im Fall einer Haftung für das Entwicklungsrisiko

297

B. Die Supraindividualität des Entscheidungsproblems Nichtwissen

298

I. Die Unmöglichkeit der individuellen Zurechnung von Entwicklungsrisiken .... 298 n. Die Dynamik des Wissens als unbeeinflußbarer Risikofaktor

299

1. Die Unabgeschlossenheit des Wissens und ihre Unausweichlichkeit

299

2. Die Parallele zu den Opferfällen bei der Zustandshaftung

300

a) Die Begrenzung der Zustandsverantwortlichkeit in den Opferfällen

300

b) Das Nichtwissen als eine die Allgemeinheit treffende Risikolage

301

3. Die Kritik an der Parallele zur Beschränkung der Zustandshaftung

302

a) Die unmittelbare Verursachung

302

b) Die Privatnützigkeit

303

4. Die Gegeneinwände a) Die Divergenz von Nutzen und Verantwortlichkeit

303 304

b) Die Kompensation des Verursachungsbeitrags durch Wissensherrschaft .. 306 5. Der Unterschied bei objektiv erkennbaren Risiken

307

6. Die Parallelwertung im Produkthaftungsrecht

307

III. Die Restriktivität der Genehmigungspraxis als Folge der Liberation?

308

1. Der Einwand des Entwicklungsrisikos als mittelbare Freiheitsbeschränkung

308

2. Die Staatshaftung bei Entwicklungsrisiken

309

3. Die staatliche Ausfallhaftung der Umwelthaftungsrichtlinie

309

28

Inhaltsverzeichnis

C. Der funktionale Unterschied zur Deliktshaftung I. Die Präventivfunktion

310 311

1. Die Begrenztheit der Präventivwirkung bei Entwicklungsrisiken

311

2. Die Überlegenheit des öffentlichen Rechts bei präventiver Steuerung

311

II. Die Ausgleichsfunktion

312

1. Die Umverteilung vom Geschädigten auf den Verursacher oder die Allgemeinheit 312 2. Die Umverteilung von der Allgemeinheit auf den Verursacher

313

5. Teil Die Intensivierung und Sanktionierung von Beobachtungs- und Forschungspflichten innerhalb eines Informationsnetzwerks

314

10. Kapitel Die Programmierung des Rechts auf die Generierung von Wissen Die Bewältigung von Ungewißheit und Nichtwissen A. Die Neuorientierung und Verschärfung der Verursacherpflichten I. Die Ziele der Risikosteuerung 1. Die Generierung von Risikowissen

315 315 315 316

a) Die Rechtspflicht des Staates zur Informationsbeschaffüng

316

b) Die Instrumente

317

2. Die Rückbindung des Risikos an die handelnden Individuen

317

II. Die Individualisierung und Eindämmung des Entwicklungsrisikos über Erkenntnispflichten im Rahmen der Eigenüberwachung 318 1. Die Rechtfertigung der umfassenden Pflichtenstellung des Risikosetzers

318

2. Der Trend zur staatlich kontrollierten Selbstüberwachung

319

3. Die Richtungen der Neuorientierung

320

a) Die zeitliche Dimension

321

b) Die inhaltliche Dimension

321

III. Die Ansätze im geltenden Recht

322

1. Die Pflichten zur Risikobeobachtung und-erforschung a) Vor der Eröffnungskontrolle

322 323

Inhaltsverzeichnis b) Projekt-und tätigkeitsbegleitend

323

c) Mit Orientierung am vorhandenen Wissen

324

d) Auf Fortentwicklung des Wissens ausgerichtet

324

2. Die Anpassungspflichten

325

3. Die Mitteilungspflichten

325

IV. Die Erweiterungsmöglichkeiten und ihre Grenzen

326

1. Die Beobachtungs- und Forschungspflichten

326

2. Die Unterrichtungspflichten

327

3. Die Mitteilungspflichten

327

4. Die Begrenzung der Möglichkeiten durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 328 a) Die Grenzen der Vorsorge gegen unerkannte Risiken

328

b) Die Risikoindikatoren als Entscheidungsheuristiken

328

B. Die Etablierung von Lernstrategien im Recht

329

I. Die Notwendigkeit des Umdenkens vom Containment zum kontrollierten Lernen durch Experimente 330 1. Die Strukturen experimentellen Lernens und die Zulässigkeit eines Lernens aus Schäden 330 2. Die Strategie des Containments im geltenden Recht am Beispiel der Gentechnik 331 II. Die Gestaltungsmöglichkeiten 1. Die Weiterführung der Beweislastumkehr

332 333

a) Das Zulassungsverfahren nach der REACh-Verordnung

333

b) Die Rechtfertigung der Beweislastumkehr

334

c) Die Grenzen: Die Parallele zum Erlaubnisvorbehalt aufgrund von Schutzpflichten 335 d) Der Umfang

336

e) Wissenschaftliche Erkenntnisse als Voraussetzung der Gefährlichkeitsvermutung

336

f) Keine Anwendbarkeit zur Vorsorge gegen Entwicklungsrisiken

337

30

Inhaltsverzeichnis 2. Die Privilegierung von Versuchsanlagen

337

a) Auf der Zulassungsebene

338

b) Auf der Haftungsebene

339

3. Die Abstufung der Zulassungsvoraussetzungen

339

4. Die Verknüpfung von Zulassung und Risikobegleitforschung innerhalb des privaten Umweltmanagements 341 a) Die Nebenpflichten zu Risikobegleitforschung und Berichterstattung —

341

b) Die Einbettung in das private Risikomanagement unter staatlicher Aufsicht 342

C. Die Vernetzung der Wissensbestände

343

I. Das gemeinsame Wissen als Produkt von dezentralen überlappenden Netzwerken 344 II. Die Vernetzung von Wissen unter staatlicher Organisation 1. Die Funktionen

345 345

a) Informationstransfer

346

b) Informationskonkurrenz

346

2. Die Ebenen und die Instrumente der Informationserhebung und -weiterleitung 347 a) Vertikal

347

b) Horizontal

347

III. Das Recht der Produktsicherheit als Beispiel für die Bildung von Informationsnetzwerken 1. Das allgemeine Produktsicherheitsrecht

348 348

a) Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

348

b) Das RAPEX-Schnellmeldeverfahren

349

c) Das Produktsicherheits-Netzwerk nach Art. 10 der Produktsicherheitsrichtlinie 350 2. Das Lebensmittelrecht

350

3. Das Arzneimittelrecht

350

IV. Die Informationsnetzwerke im Umweltrecht 1. Die staatliche Umweltforschung und-beobachtung

351 351

Inhaltsverzeichnis 2. Der Aufbau von Umweltinformationssystemen

352

a) Die vorhandenen Ansätze im geltenden Recht

352

b) Das Modell nach §§ 209 f. UGB-KomE

353

c) Das Zurverfügungstellen von Informationen an Private

354

11. Kapitel Die Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten als Anknüpfungspunkt für den Ersatz von Umweltschäden

355

A. Die Koppelung der Verantwortlichkeit für Umweltschäden aus Entwicklungsrisiken an eine Pflichtverletzung 355 I. Die Ziele der Sanktionierung 1. Die Wahrung des Verursacherprinzips

356 356

a) Die materielle Zurechnung

356

b) Die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse

357

2. Der Anreiz zur Vergrößerung der Wissensbasis

357

3. Die Schaffung von Risikoakzeptanz

358

IL Die Belastungslegitimation gegenüber dem pflichtwidrig handelnden Verursacher 359 1. Die Verantwortlichkeit bei Pflichtwidrigkeit als Gegengewicht zur Liberation

359

a) Die verschiedenen Ausgangspunkte der Zurechnung

359

b) Die Verhinderung des Lernens

360

c) Die Internalisierung der Umweltschäden

360

2. Der Unterschied zur Zurechnung nach Risikosphären III. Der Tatbestand der Verantwortlichkeit für Entwicklungsrisiken 1. Die Schaffung des Entlastungsgrundes unter Rückausnahme der Pflichtverletzung

361 361

362

a) Regelungsvorschlag

362

b) Erläuterungen

362

2. Einzelfragen

363

a) Die Beweislast

363

b) Das Verhältnis von Verschulden und Pflichtverletzung

364

32

Inhaltsverzeichnis c) Das Kausalitätserfordernis zwischen Pflichtverletzung und Umweltschaden 365 d) Die Erheblichkeit des Pflichtverstoßes

367

e) Der Schutz von Betriebs-und Geschäftsgeheimnissen

367

B. Die Gemeinsamkeiten des Regelungsvorschlags mit dem Produktsicherheitsund Produkthaftungsrecht 369 I. Die Intensivierung der öffentlich-rechtlichen Pflichten

369

1. Die produktsicherheitsrechtliche Hauptpflicht

370

2. Die Nebenpflichten: Information, Organisation und Marktkontrolle

370

a) Information

370

b) Risikomanagement

371

c) Produktbeobachtung

372

d) Fehlende Sanktionierung von Pflichtverstößen

372

II. Die zivilrechtlichen Verkehrspflichten als Einfallstor für den Ersatz von Schäden aus Entwicklungsrisiken 373 1. Die zivilrechtliche Bedeutung der Pflichten des GPSG

373

a) § 4 GPSG

373

b) § 5 GPSG

373

2. Die Parallele zum Konzept der Intensivierung und Sanktionierung der Verursacherpflichten im Umwelt- und Technikrecht 374

Literaturverzeichnis

375

Sachwortverzeichnis

411

Einleitung Die Grenze des hinnehmbaren Risikos zu bestimmen, ist die wesentliche und dringende Aufgabe des Risikoverwaltungsrechts. 1 Wo diese Grenze liegt, ist jedoch weithin offen. Das gilt auch für den Mittelpunkt dieser Arbeit, die Zuweisung von Entwicklungsrisiken. Mit diesem Begriff, der seinen Ursprung im Produkthaftungsrecht hat, werden Schadenspotentiale jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens gekennzeichnet: Daß einem bestimmten Verhalten ein Risiko anhaftet, das sich zu einer Gefahr verdichtet und gegebenenfalls erst im Laufe der Zeit in einem Schaden niederschlägt, war zum Zeitpunkt der Verursachung objektiv nicht vorhersehbar. Optimale Vorsorge, die jeglichen Schaden ausschließt, kann niemand, auch das Recht nicht, garantieren. Verzichtet eine Gesellschaft nicht völlig auf technische und wissenschaftliche Entwicklungen, sind Schäden nicht zu vermeiden.2 Wer trägt nun das Risiko dieser Risikoentscheidungen?3 Wem soll das Risiko des Erkenntnisfortschritts aufgebürdet werden? Diese Fragen drängen sich insbesondere bei unerkennbaren Risiken auf. Sie sind dabei keineswegs auf wenige, als besonders innovativ geltende Felder der Wissenschaft und Technik wie die Gentechnik beschränkt, können dort aber vermehrt auftreten. Die sich ständig steigernde Technisierung aller Lebensbereiche bildet den Nährboden der Risikogesellschaft. Ein beliebiges Produkt kann unerkennbare Fehler aufweisen, eine Anlage kann erst zu spät als gefahrlich identifizierte Emissionen verursachen, eine Chemikalie oder ein Arzneimittel sich plötzlich als gesundheits- oder umweltschädlich herausstellen. Verwirklicht sich das einem bestimmten Verhalten zurechenbare - ausgeklammert seien deshalb Summations- und Distanzschäden - , jedoch nicht erkennbare Umweltrisiko, streitet das Verursacherprinzip als Kernprinzip des Umweltrechts scheinbar unabweisbar für eine unbegrenzte Verantwortlichkeit des Verursachers. Denkbar ist in diesem Fall jedoch ebenfalls eine wenigstens kostenmäßige Privilegierung des Verursachers als Verhaltensverantwortlichem. Diese beiden Möglichkeiten eröffnet die Richtlinie über die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden4 den Mitgliedstaaten. Die entsprechende Regelung in 1

Vgl. Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge - von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (101). 2 Auch der Verzicht auf Innovationen wäre selbst wieder riskant, näher Wildavsky, Searching for safety, 1988, S. 17 ff., 189 ff.; ders., American Scientist 67 (1979), S. 32. 3 Begriffsprägend für staatliche Entscheidungen im Bereich der Gefahrenabwehr oder Risikovorsorge unter kognitiver Unsicherheit Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994. 3 Lübbecke

34

Einleitung

Art. 8 Abs. 4 lit. b) der Umwelthaftungsrichtlinie bildet den Anlaß dieser Untersuchung und steckt ihren Rahmen ab.5 Die Richtlinie statuiert, wie noch näher zu zeigen sein wird, eine ordnungsrechtliche Wiederherstellungspflicht bei ökologischen Schäden, welche die Schutzgüter der Richtlinie (Gewässer, Boden, biologische Vielfalt) betreffen. Im Zuge dieser Konzeption wurde das zivilrechtliche Haftungsproblem „Entwicklungsrisiko" in das Ordnungsrecht transformiert. Eine Privilegierung des Störers bei Entwicklungsrisiken ist hingegen im deutschen Verwaltungsrecht bisher nicht als Ausnahme normiert worden, wenngleich die Frage der Behandlung unerkennbarer Risiken hier nicht neu ist. Daß die polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit die Erkennbarkeit der Schadenseignung des Handelns voraussetzt, wurde bereits in der Diskussion über die Altlastenproblematik in den achtziger Jahren postuliert. 6 Obwohl sich die vorliegende Arbeit der Zurechnung des Entwicklungsrisikos im öffentlichen Recht widmet, ist ein Seitenblick auf die Haftungsnormen des Zivilrechts im Rahmen der Fragestellung nicht nur unvermeidlich, sondern ermöglicht auch Rückschlüsse auf die öffentlich-rechtliche Thematik. Das Privatrecht hat sich mit dem Problem der Zuweisung des Entwicklungsrisikos vielfach auseinandersetzen müssen. Eine breite Diskussion hat sich an der Regelung des Entwicklungsrisikos in der Produkthaftungsrichtlinie 7 und an der Umsetzung in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG entzündet. Sie sieht eine Freistellung der Produzenten vor. Entwicklungsrisiken werden dagegen von der Haftung umfaßt im Arzneimittelgesetz, im Gentechnikgesetz sowie im Umwelthaftungsgesetz. Im Zivilrecht dominiert indes die Ausgleichsfunktion zwischen privaten Interessen, in neuerer Zeit auch die Präventivwirkung einer strengen Haftung. Diese verschiedenen Haftungsgründe müssen berücksichtigt werden, wenn Folgerungen für das Ordnungsrecht gezogen werden. Wegen der Umsetzungsoption in der Umwelthaftungsrichtlinie muß der Gesetzgeber nun eine Entscheidung über die Zurechnung des Entwicklungsrisikos bei Umweltschäden treffen. Aus diesem Grund zielt die Untersuchung auf einen adäquaten Umgang mit dem Entwicklungsrisiko im Umwelt- und Technikrecht, der in 4 Richtlinie 2004/35/EG vom 21. April 2004, ABl. EG L 143 vom 30.4. 2004, S. 56. 5 Art. 8 Abs. 4 lit. b) lautet: „Die Mitgliedstaaten können zulassen, dass der Betreiber die Kosten der gemäß dieser Richtlinie durchgeführten Sanierungstätigkeiten nicht zu tragen hat, sofern er nachweist, dass er nicht vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat und dass der Umweltschaden verursacht wurde durch" ... ,,b) eine Emission oder eine Tätigkeit oder jede Art der Verwendung eines Produkts im Verlauf einer Tätigkeit, bei denen der Betreiber nachweist, dass sie nach dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse zum Zeitpunkt, an dem die Emission freigesetzt oder die Tätigkeit ausgeübt wurde, nicht als wahrscheinliche Ursache von Umweltschäden angesehen wurden." 6 Ausführlich Brandner, Gefahrenerkennbarkeit und polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit, 1990. 7 Richtlinie 85/374/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 25. 7. 1985, ABl. EG L 21 vom 7. 8. 1985, S. 29.

Einleitung

35

der Zurechnungsfrage gipfelt. Dem muß eine Systematisierung und Einordnung dieser besonderen Form des Risikos in die verwaltungsrechtliche Dogmatik vorhergehen. Im Zentrum stehen danach der Entwurf und die Begründung eines Modells der Risiko- und Lastenteilung zwischen dem Verursacher und der Allgemeinheit anhand des objektiv verfügbaren Wissens. Die Kosten ökologischer Schäden muß der Verursacher danach nicht tragen, wenn das Schadenspotential seines Ursachenbeitrags zum Zeitpunkt seines Handelns objektiv unerkennbar war. Grundlage der Zurechnung des Entwicklungsrisikos ist die Einsicht, daß Ungewißheit und Nichtwissen nicht Eigenschaften eines Stoffes, einer Tätigkeit oder einer Anlage sind, sondern ein Problem der Begrenztheit der Selbstbeobachtungsmöglichkeiten.8 Diese Begrenztheit gilt für den Verursacher, aber gleichermaßen für die Verwaltung, den Gesetzgeber sowie die Gesellschaft insgesamt. Die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens 9 markieren letztlich die Grenzen des Rechts. Daraus folgt, daß auch die Möglichkeiten des Rechts beleuchtet werden müssen, wie mehr Wissen über Risiken gewonnen und verbreitet werden kann. Allein die verbesserte Generierung und Verarbeitung von Risikowissen kann Schäden aus Entwicklungsrisiken vorbeugen.

8 Vgl. Ladern Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, S. 195. 9 Siehe die Formulierung des BVerfG zum Restrisiko, E 49, 89 (143) - Kalkar. 3*

1. Teil

Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine privatrechtliche Herkunft Die Wurzeln des Begriffs „Entwicklungsrisiko" liegen im Zivilrecht, nicht im öffentlichen Recht. Naturgemäß stellt die Bewältigung von Schadensproblemen eine Aufgabe des Deliktsrechts dar. Bei der Zuweisung von Entwicklungsrisiken handelt es sich ursprünglich um ein privatrechtliches Haftungsproblem. Zwar legt die Bezeichnung als „Risiko" in einem empirisch-objektiven Sinn nahe, daß der Begriff auch bloße Schadensmöglichkeiten kennzeichnet, bezüglich derer Schadensverlauf und Eintrittswahrscheinlichkeit nicht sicher beurteilt werden können. Schadensrechtlich relevant sind solche ungewissen Ereignisse jedoch noch nicht; erst ihr Eintritt, die Verwirklichung des Schadensrisikos in einer Rechtsgutsverletzung, wirft die Frage nach der Einstandspflicht für diesen Schaden auf. Die Antwort nach dem Haftungssubjekt muß das Deliktsrecht geben. Diesem obliegt der Schadensausgleich zwischen Privaten. Das Anwendungsfeld des Deliktsrechts ist auch in der Konstellation des Entwicklungsrisikos eröffnet. Dieser Begriff wurde für eine Fallgruppe nicht unerkennbarer Schadensmöglichkeiten geprägt: Wenn die Schadensmöglichkeit vor ihrer Realisierung mit den vorhandenen wissenschaftlich-technischen Erkenntnismitteln nicht vorhergesehen werden konnte, wird davon gesprochen, daß sich ein Entwicklungsrisiko verwirklicht hat. Hier stellt sich die Frage, ob derjenige, der dieses Risiko gesetzt hat, für den Schaden haftbar gemacht werden kann. Der folgende Blick auf die Bedeutung des Entwicklungsrisikos und die Behandlung des Haftungsproblems im Privatrecht schafft die Grundlage für die öffentlich-rechtliche Beantwortung dieser Zurechnungsfrage. 1. Kapitel

Vom Ursprung im Recht der Produkthaftung zur Kernfrage im Umwelt- und Technikrecht Der Begriff „Entwicklungsrisiko" ist eine Schöpfung des Rechts der Produzentenhaftung oder Produkthaftung. 1 Er steht für Fehler eines Produkts, welche beim 1 Unter Produzentenhaftung wird traditionell die verschuldensabhängige Haftung des Produzenten verstanden, während sich der Begriff Produkthaftung auf die verschuldensunabhän-

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

37

Inverkehrbringen bereits vorhanden, aber in diesem Zeitpunkt nach dem Stand von Wissenschaft und Technik noch nicht erkennbar sind.2 Da Entwicklungsrisiken vom Unwissen leben und die Schattenseite des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts bilden, können sie gerade auf den besonders dynamischen Forschungsfeldern auftreten; dort ist der Bereich des Nichtwissens am größten. Der allgemeinen Produkthaftung ist das Haftungsproblem deshalb bald entwachsen und hat sich auf die Rechtsgebiete des Umwelt- und Technikrechts erstreckt.

A. Eine begriffliche Vorklärung Um die Konstellation des Entwicklungsrisikos zu kennzeichnen, werden verschiedene Begriffe verwendet. Da die Haftung für Produkte auf einem Fehler aufbaut, wird neben dem Begriff „Entwicklungsrisiko" auch der Begriff des „Entwicklungsfehlers" verwendet. Aus der variierenden Terminologie ergeben sich dabei keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen: 3 Entwicklungsfehler ist derjenige Mangel eines Produkts, in dem sich das Entwicklungsrisiko konkretisiert. Der Begriff Entwicklungsfehler ist daher produktbezogen. Die Bezeichnung Entwicklungsrisiko betont deutlicher das noch genauer zu fassende Erkenntnisproblem bezüglich des Gefährdungspotentials. 4 Außerdem ruft der Begriff Entwicklungsfehler Assoziationen zu den Fehlertypen der Produkthaftung wie Konstruktionsfehler und Fertigungsfehler hervor und kann daher zu Mißverständnissen führen. 5 Das Drohen einer noch unerkennbaren Rechtsgutsverletzung drückt zwar auch der Begriff „Entwicklungsgefahr" aus, der vor allem in frühen Erörterungen der Thematik synonym verwendet wird. 6 Der Gefahrbegriff paßt allerdings aus öffentgige Haftung, regelmäßig in Form einer Gefährdungshaftung, bezieht, vgl. Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, 2002, Rn. 277; Brüggemeier, ZHR, 152 (1988), S. 511 (512); diese Unterscheidung ist indes in der Auflösung begriffen und nach amerikanischem Vorbild wird meist Produkthaftung als Oberbegriff gewählt. 2 Vgl. Vieweg, Produkthaftungsrecht und technisches Sicherheitsrecht, in: Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 329 (365); Kullmann/Pfister, Produzentenhaftung, Kza. 3602 S. 20 f.; entsprechend formuliert ist auch der Haftungsausschluß in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG, der den Begriff Entwicklungsrisiko zwar nicht ausdrücklich verwendet, ihn faktisch dennoch definiert. 3 Sprau, in: Palandt, BGB, 2005, § 1 ProdHaftG Rn. 21; Vieweg, in: Schulte, S. 340 f.; Taschner/Frietsch, Produkthaftungsgesetz, 1990, Einführung Rn. 95 f., § 1 Rn. 99; Ulmer, ZHR 152 (1988), S. 564 (568); Spindler, in: Bamberger/Roth, BGB, 2003, § 823 Rn. 493. Der Begriff Entwicklungsfehler fungiert vereinzelt auch als Oberbegriff für verschiedene Fallgruppen unvermeidbarer Fehler, siehe dazu Foerste, in: v. Westphalen, Produkthaftungshandbuch, Bd. 1,1997, § 24 Rn. 82 ff. 4 Vgl. Schrupkowski, 1995, S. 10. 5 Taschner/Frietsch,

Die Haftung für Entwicklungsrisiken in Wissenschaft und Technik, Einführung Rn. 95.

38

1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

lich-rechtlicher Perspektive nicht zu dem Phänomen, weil mit diesem stets eine gesteigerte, zur Annahme einer Gefahr im polizeirechtlichen Sinn hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens an den geschützten Rechten und Rechtsgütern gekennzeichnet wird. Im Fall von Entwicklungsrisiken kann eine solche Aussage ex-ante gerade nicht getroffen werden. Der Begriff Entwicklungsrisiko ist daher vorzuziehen. Das gilt, obwohl er gleichfalls zu Verkürzungen führt, etwa bei der Rede von einer Haftung für Entwicklungsrisiken; gehaftet wird nicht schon für Risiken als solche, sondern erst für ihre Manifestation in einem Schaden. Dennoch kann bereits das Risiko als solches einer bestimmten Sphäre zugeordnet werden, an der sich nachfolgend die Einstandspflicht für Schäden orientiert.

B. Die frühe Wahrnehmung des Problems und die Diskussion anläßlich des 47. Deutschen Juristentages im Jahr 1968 Die Rechtslehre streifte die Frage, ob der Hersteller für Schäden durch allgemein als erprobt und gefahrlos geltende Produkte haften müsse, im Rahmen der Diskussion um die Schaffung einer Gefährdungshaftung 7 für Produktschäden in den sechziger Jahren. Die verschuldensabhängige Herstellerhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB wurde zunehmend als unangemessen benachteiligend für den Verbraucher empfunden. Entsprechend wuchs die Zahl der Befürworter einer Gefährdungshaftung. 8 Zum Teil sollte die Haftung freilich auf einige Produkte wie Arznei- und Lebensmittel beschränkt sein.9 Durch die Diskussion wurde der Blick auch auf das Haftungsproblem des Entwicklungsrisikos gelenkt. An dieser Stelle klaffte eine Haftungslücke. Die deliktische Verschuldenshaftung greift bei Unvorhersehbarkeit des Schadens, die den Schuldvorwurf von vornherein entfallen läßt, nicht ein. 10 Es fehlt sogar schon an der objektiven Pflichtwidrigkeit, weil der Hersteller nicht verpflichtet werden kann, ex ante unerkennbare Schäden zu verhindern. 11 Ein Gefährdungshaftungstatbestand würde auch die Schäden aus Entwicklungsrisiken umfassen, wenn diese nicht als Ausnahme ausdrücklich normiert würden. Daher entstand Klärungsbedarf hinsichtlich dieser Frage. Umfassend erörtert wurde eine gesetzliche Verschärfung der Produzentenhaftung auf dem 47. Deutschen Juristentag 1968. Doch selbst die Verfechter einer ver6

Beide Begriffe finden sich bei v. Caemmerer, Products liability, in: Festschrift für Rheinstein, Bd. n, Tübingen 1969, S. 670 f.; Schmidt-Salzen Produkthaftung Bd. m , 1990,

Rn. 4.1116.

7 Zum Begriff Gefährdungshaftung Larenz/Canaris, Schuldrecht I I / 2 , 1994, § 84 I. Vorausgesetzt ist ein Schutzgut, das von einer besonderen Gefahr bedroht wird, die sich in der Verletzung des Schutzguts verwirklicht. 8 Vgl. Rehbinder, BB 1965, S. 443. 9 Dunz, JZ 1968, 56 f.; Weimar, MDR 1963, S. 461. 10 Dazu nur Vieweg, in: Schulte, S. 340 f. Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 83; Spindler, in: Bamberger/Roth, § 823 Rn. 493.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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schuldensunabhängigen Produkthaftung waren sehr zurückhaltend, was die Schadenszuweisung an den Hersteller im Fall von Entwicklungsrisiken betrifft. 12 Zwar hatte sich der Gutachter grundsätzlich für eine Kodifikation einer Gefährdungshaftung ausgesprochen, unerkennbare Schäden aber ausgenommen.13 Für diese zögerliche Haltung war dogmatisch die fehlende Voraussehbarkeit des Schadens ausschlaggebend. Wo es an dieser fehle, sei die Schadenszurechnung nicht mehr gerechtfertigt, deshalb müsse die Gefährdungshaftung an der Voraussehbarkeit des Schadens ihre Grenze finden. 14 Die Inpflichtnahme des Herstellers, der mit gebotener Umsicht und Vorsicht gehandelt hat, wurde verbreitet als unangemessene Risikohaftung abgelehnt.15 Es wurde daneben rechtspolitisch argumentiert, die Schäden aus Entwicklungsrisiken seien Kosten nicht des einzelnen Unternehmers, sondern Kosten der allgemeinen Entwicklung von Wissenschaft und Technik; für diese müßte die Allgemeinheit aufkommen. 16 Festzuhalten bleibt, daß in der Erkennbarkeit des Fehlers und der daraus folgenden Vorhersehbarkeit des Schadens das wesentliche Zurechnungskriterium gesehen wird. Die Ansicht, daß der Eintritt eines solchen Schadens für den Betroffenen ein Naturereignis darstellt, für das er niemanden verantwortlich machen kann, 17 ist zwar der Einsicht gewichen, auch bei Entwicklungsrisiken handele es sich um typische Betriebsrisiken; 18 dennoch herrscht der Gedanke vor, der Produzent stehe der Gefahr nicht näher als der Verbraucher, weil ein unvorhersehbarer Schaden nicht durch Beachtung der Gebote von Wissenschaft und Technik vermieden werden könne. 19 Die Schutzpflicht des Herstellers sollte über die erkennbaren Gefahren auch im Rahmen einer Gefährdungshaftung nicht hinausgehen.20 Besonders vehement formuliert Canaris seine ablehnende Haltung: Dem Produzenten dürfe nicht das Risiko auferlegt werden, „daß er seiner Zeit nicht voraus ist, sozusagen nicht bereits die Kenntnisse späterer Generationen besitzt". 21 12 Vgl. Weitnauer, NJW 1968, S. 1593 (1598). Dazu Nicklisch, Das Recht im Umgang mit dem Ungewissen am Beispiel der Regelungen zur Produkt-, Gentechnik- und Umwelthaftung, in: Lenk/Maring (Hrsg.), Technikverantwortung, 1991, S. 161 (168). 13 Simitis, 47. DJT 1968, Bd. I, Gutachten, C 65 ff. 14 Simitis, C 70.

15 Vgl. v. Caemmerer, in: Festschrift für Rheinstein, S. 670; Canaris, JZ 1968, S. 494 (504 f.); eine auf Neufabrikate beschränkte Haftung befürwortet aber Diederichsen, Die Haftung des Warenherstellers, 1967, S. 194 ff., 201. 16

v. Caemmerer, in: Festschrift für Rheinstein, S. 670. 17 Das Entwicklungsrisiko ist nicht als höhere Gewalt zu verstehen, näher dazu unten im 6. Kapitel unter B. II. 2., anders noch Brendel, Qualitätsrecht, 1976, S. 136. 18 Simitis, C 66. 19 Canaris, JZ 1968, S. 505. 20 Lorenz, Haftung des Warenherstellers, Arbeiten zur Rechtsvergleichung 28, 1966, S. 5 (53 f.). 21 Canaris, JZ 1968, S. 505.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

Daher scheiterte der Antrag, eine auch Entwicklungsrisiken umfassende Gefahrdungshaftung einzuführen, an der weit überwiegenden Mehrheit. 22 Es wurde lediglich eine weitere Prüfung angeregt, bei der ermittelt werden sollte, in welcher Weise dieses Risiko für den Verbraucher gemindert werden könnte. Der 47. DJT beschloß, der Produzent habe keinen Ersatz für Schäden zu leisten, „die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik im Zeitpunkt des In-Verkehr-Bringens nicht voraussehbar waren (Entwicklungsgefahren)" 23. Bereits diese kurze Begriffsbestimmung enthält die Merkmale, welche die Definition des Entwicklungsrisikos sowohl in der deutschen und europäischen Rechtssetzung als auch in Rechtsprechung und Lehre prägen.

C. Die Ausprägung von Verkehrspflichten als Einfallstor der Haftung für das Entwicklungsrisiko Obgleich Schäden aus Entwicklungsrisiken von der deliktischen Produzentenhaftung nicht erfaßt werden, kann ihr Ausgleich nach § 823 Abs. 1 BGB über eine schuldhafte Verletzung der Verkehrspflichten erfolgen. 24 Die Inverkehrgabe markiert nicht den Endpunkt der Verantwortung des Herstellers für sein Produkt. 25 Nach diesem Zeitpunkt treffen ihn von der Rechtsprechung stetig weiter ausdifferenzierte Verkehrspflichten, welche die Diagnose von bisher unerkannten Gefahren betreffen und daran anschließende Reaktionspflichten statuieren.

I. Die Produktbeobachtungspflicht Gleichsam zentrale Nachmarktpflicht des Produkthaftungsrechts ist die Produktbeobachtungspflicht. 26 Der Hersteller hat sich durch die Schaffung einer andauernden Gefahrenquelle einer umfassenden Verantwortlichkeit unterworfen. Ab der Inverkehrgabe ist er zur aktiven Produktbeobachtung verpflichtet. 27 Die Entwicklung von unvorhersehbaren zu vorhersehbaren Risiken ist vom Produzenten zu beglei22 47. DJT 1968, Bd. I I Sitzungsberichte, M 132. 23 47. DJT 1968, Bd. I I Sitzungsberichte, M 136. 24 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 83, 171 ff., 290 ff.; Sprau, in: Palandt, § 1 ProdHaftG Rn. 21; Erman/Schiemann, BGB, 2004, § 823, Rn. 116; u Bar, Produktverantwortung und Risikoakzeptanz in: Lieb (Hrsg.), Produktverantwortung und Risikoakzeptanz, 1998, S. 29, 33; Nicklisch, in: Lenk/Maring, S. 167 f. 25 Deutlich bereits v. Westphalen, BB 1971, S. 152 (156); Spindler, in: Bamberger/Roth, § 823 Rn. 510. 26 Umfassend Dieterich, Produktbeobachtungspflicht und Schadensverhütungspflicht des Produzenten, 1994. 27 Grundlegend BGHZ 80, 199 (202); siehe daneben BGHZ 99, 167 (171); Mertens, in: Münchener Kommentar zum BGB, 2004, § 823 Rn. 299; Michalski, BB 1998, S. 961 (962 f.).

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ten. Er darf nicht darauf vertrauen, daß er zufallig, etwa durch Reklamationen, von der Gefahr Kenntnis erlangt. Seine Informationspflichten reichen von der Auswertung von Fachliteratur und den Ergebnissen wissenschaftlicher Kongresse 28 bis zur Berücksichtigung von Erfahrungen der Konkurrenten 29. Die Pflicht unterliegt keiner zeitlichen Begrenzung. 30 Die Ausdehnung der Verantwortlichkeit des Herstellers durch die Produkthaftungspflicht bewirkt einen Wandel der Produkthaftung zur „Produktionshaftung" 31. Für die aus seiner Sphäre stammenden Risiken ist der Hersteller umfassend gegenüber Dritten verantwortlich. Hier liegt im Deliktsrecht ein Einfallstor für den Ersatz von Entwicklungsrisiken: Verletzt der Hersteller schuldhaft seine Produktbeobachtungspflicht, haftet er auch für Schäden, die beim Inverkehrbringen noch unvorhersehbar waren. 32 Über den Bereich der Produzentenhaftung hinaus gelten Beobachtungspflichten für andere technisch-industrielle Gefahrenumstände. Die Betreiber emittierender Anlagen trifft eine den Grundsätzen der Produzentenhaftung entsprechende Emissionsbeobachtungspflicht. 33 Auch wenn öffentlich-rechtliche Sicherheitsvorschriften, insbesondere Grenzwerte, eingehalten werden, hat der Gefahrenproduzent die Gefährlichkeit der Anlage und ihre Auswirkungen auf die Umwelt zu beobachten. Diese Pflicht schließt eigene Aufklärungsanstrengungen ein. 34

II. Die Reaktionspflichten Wenn die Produktbeobachtung ergeben hat, daß eine Gefahr vom Produkt ausgeht, obliegen dem Hersteller Reaktionspflichten. Deren Art und Ausmaß richten sich nach der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und dem Rang des betroffenen Rechtsgutes.

28 BGHZ 80, 186 (191); 116, 60 (70 f.); Deutsch, Arzneimittelschaden: Gefährdungshaftung, Verschuldenshaftung , Staatshaftung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 111 (120 f.). 29 BGH NJW 1990, S. 906 (907); Dieterich, S. 111 ff.; v. Westphalen, ZIP 1992, S. 18 (22 f.). 30 Spindler, in: Bamberger/Roth, § 823 Rn. 512. 31 Brüggemeier, KJ 1989, S. 209 (227). 32 Kühn-Gerhard, Eine ökonomische Betrachtung des zivilrechtlichen Haftungsproblems Entwicklungsrisiko, 2000, S. 193, 326; vgl. Schmidt/Brüggemeier, Zivilrechtlicher Grundkurs, 1991, S. 227: Die Produktbeobachtungspflicht verfolgt das „Ziel mit den Mitteln der deliktischen Verschuldenshaftung eine Einstandspflicht des Herstellers für sogenannte Entwicklungsrisiken zu begründen". 33 BGHZ 92, 143 (152); Hager, NJW 1986, S. 1961 (1966); Spindler, in: Bamberger/Roth § 823 Rn. 570; Höpke/Thürmann, Haftung unter Privatrechtssubjekten, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (EUDUR), Bd. 1, § 41, Rn. 60 f. 34 Vgl. Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 103.

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1. Teil: Der BegriffEntwicklungsrisiko" und seine Herkunft

1. Die Warnpflicht Der Produzent muß die Abnehmer wenigstens vor der Produktgefahr warnen. 35 Die Warnpflicht wird als fortwirkende, nachträgliche Instruktionspflicht begriffen. 36 Bei drohenden Gefahren für Leben und Gesundheit genügt ein ernst zu nehmender Verdacht, um die Warnpflicht auszulösen.37 Die Art und Weise der Warnung, als schärfste Form der Weg über die Massenmedien, hängt von weiteren Faktoren wie der Erreichbarkeit der Kunden ab. 38 Begleitend zur Warnung muß der Hersteller den Fehler in der laufenden Produktion beseitigen.39

2. Die Rückrufpflicht Auf einer höheren Stufe der Reaktionsmöglichkeiten steht die Rückrufpflicht, die insbesondere bei Gefahrdungen von Leib und Leben angenommen werden kann. 40 Sie ist ultima ratio, wenn andere Maßnahmen, insbesondere die Warnung, nicht ausreichen.41 Die Diskussion über die dogmatischen Grundlagen und die konkreten Voraussetzungen ist noch im Fluß. Auch ist noch nicht höchstrichterlich entschieden, ob ein ausgebliebener Rückruf zur Haftung des Herstellers führt. 42 Bei entdeckten Entwicklungsrisiken wird eine Pflicht zum Rückruf teilweise mit dem Argument verneint, daß der Hersteller wegen der Unvorhersehbarkeit schon bei Inverkehrgabe nicht gehaftet habe.43 Richtigerweise gelten die Verkehrspflichten aber unabhängig von der Haftung im Zeitpunkt des Inverkehrbringens; die Produktbeobachtungspflicht wurde gerade für diese Fälle konstruiert. Die Pflicht, bei erkannten Gefahren aus seinem Machtbereich Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, leitet sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Verkehrspflichten ab. 44 Der Anwendungsbereich der Rückrufpflicht würde daher sinnwidrig eingeschränkt, wenn man unvorhersehbare Gefahren ausnähme. 35 BGH NJW 1994, S. 517; BGH NJW-RR 1995, S. 342; instruktiv Tiedke, Die Haftung des Produzenten für die Verletzung von Warnpflichten, in: Festschrift für Gernhuber, 1993, S. 471. 36 BGH NJW 1986, 1863 (1865); Hager, VersR 1984, S. 799 (801); Mayer, DB 1985, S. 319 (324). 37 BGHZ80, 186(192). 38 Michalski, BB 1998, S. 964. 39 BGH NJW 1990, S. 906 (908); Mertens, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 823 Rn. 289. 40 BGHSt 37, 106; OLG München, NJW-RR 1999, S. 1657; vgl. Bodewig, Der Rückruf fehlerhafter Produkte, 1999; Rettenbeck, Die Rückrufpflicht in der Produkthaftung, 1994. 41 Pieper, BB 1991,985(988). 42 Spindler, in: Bamberger /Roth, § 823 Rn. 516, sieht Anzeichen für eine Bejahung der Haftungsfrage. 43 Pieper, BB 1991, S. 989; Schweitzer, JZ 1987; 1059 (1061). 44 Vgl. Spindler, in: Bamberger/Roth, § 823 Rn. 518.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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I I I . Der Informationsbezug der Produkthaftung Die Aktivierung der Hersteller durch die Pflicht zur Produktbeobachtung erschließt eine neue Dimension der Haftung, die sich mit dem Schlagwort „Haftung und Information" fassen läßt. 45 Die Produktbeobachtungspflichten haben sich zu „Informationsverantwortlichkeiten" entwickelt. 46 Gerade in bezug auf die Erforschung technischer Risiken wächst der Bedarf an Informationen rasant. Die „aktive Dynamisierung" 47 der Verhaltenspflichten fördert die Informationsgewinnung und trägt auf diese Weise zur Eindämmung von Entwicklungsrisiken bei. Dennoch führt der Weg über Produktbeobachtungspflichten lediglich über einen nicht immer gangbaren Umweg zum Ersatz für Schäden aus Entwicklungsrisiken. Die Rechtsprechung hat die Verschuldenshaftung zwar der Gefährdungshaftung stark angenähert.48 Ein wesentlicher Schritt in diesem Prozeß war die Beweislastumkehr bezüglich des Verschuldens.49 Doch bezieht sich diese nur auf die Haftung für Fehler, die bei Inverkehrbringen erkennbar sind; bei Entwicklungsrisiken paßt sie nicht. 50 Dort kann nicht typischerweise ein Verschulden unterstellt werden, nur weil der Fehler im Einflußbereich des Produzenten entstanden ist. Die Verletzung der Produktbeobachtungspflicht sowie das Verschulden sind deshalb vom Anspruchssteiler zu beweisen. Wenn zum Zeitpunkt der Schadensverursachung immer noch von einer objektiven Unerkennbarkeit des Fehlers auszugehen ist, gelingt dieser Beweis nicht. Nur durch eine Gefährdungshaftung könnten Schäden aus Entwicklungsrisiken lückenlos und ohne schwer überwindbare Beweishürden ersetzt werden.

D. Die Produkthaftungsrichtlinie als legislativer Ausgangspunkt und Initialzündung für die Wiederentdeckung der Zurechnungsfrage Neue Aufmerksamkeit und sprunghaft gesteigerte Bekanntheit erlangte die Erscheinung des Entwicklungsrisikos im Zuge der Diskussion um die Richtlinie zur zivilrechtlichen Produkthaftung 51 gegen Ende der siebziger und zu Beginn der 45 Damm, Risikosteuerung im Zivilrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 85 (122). 46 Kühn-Gerhard, S. 193. 47 Rehbinder, Anpassung an veränderte Daten als Pflicht und Obliegenheit im Zivilrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 355 (358 ff.).

48 In diese Richtung bereits v. Bar, Verkehrspflichten - Richterliche Gefahrensteuerungsgebote im deutschen Deliktsrecht, S. 103 ff.; Brüggemeier, Deliktsrecht, 1986, Rn. 94 ff.; Deutsch, Haftungsrecht, 1976, S. 57. 49 BGHZ 51,91. 50 Vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, 2004, S. 443.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

achtziger Jahre. Die Einbeziehung von Entwicklungsrisiken in die Produkthaftung zählte zu den schwierigsten und am heftigsten diskutierten Fragen im Laufe der Entstehung der Richtlinie. 52

I. Die Fronten im Entstehungsprozeß Die Europäische Kommission hatte in ihrem ersten Richtlinienvorschlag eine unbeschränkte Haftung des Produzenten vorgesehen, um nicht allein den Verbraucher mit dem Risiko unvorhersehbarer Gefahren zu belasten.53 Gerade Verbraucherschutzorganisationen sahen in der Haftung für Entwicklungsrisiken ein „Kernstück der Richtlinie". 54 Dieser Position stand jedoch die kritische Haltung der Industrie gegenüber, die auch im Wirtschafts- und Sozialausschuß des Europäischen Parlaments vorherrschte. Befürchtet wurden Innovationsbehinderungen und eine Verschlechterung der wettbewerblichen Rahmenbedingungen.55 Weitere Bedenken bestanden bezüglich der Versicherbarkeit dieses Risikos. 56 Im übrigen verbreitete sich Skepsis gegenüber einer ausufernden Produkthaftung nach amerikanischem Vorbild. 57 Letztlich setzte sich die eine Haftung ablehnende Ansicht auch im Europäischen Parlament durch, weil eine Benachteiligung der europäischen Wirtschaft im Weltvergleich vermieden werden sollte. 58 Gleichwohl hielt die Kommission auch in ihrem zweiten Richtlinienvorschlag an der strikten Haftung fest. 59

II. Die Kompromißlösung in Artt. 7,15 Schließlich konnte mit den Regelungen der Artt. 7 lit. e), 15 Abs. 1 lit. b) eine Kompromißlösung erzielt werden. Gemäß Art. 7 lit. e) trifft den Hersteller die Haftung aufgrund der Richtlinie nicht, „wenn er beweist, daß der vorhandene Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Zeitpunkt, zu dem er das 51 Richtlinie 85/374/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 25. 7. 1985, ABl. EG L 21 vom 7. 8. 1985, S. 29. 52 Taschner, NJW 1986, S. 611 (615). 53 Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. EG 1976 Nr. C 241 S. 9. 54 Vgl. Reich/Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht, 2003, Rn. 181. 55 Näher Oechsler, in: Staudinger, BGB, 2003, § 1 ProdHaftG, Rn. 112; Hollmann, DB 1985, S. 2389 (2395 f.). 56 Wieckhorst, Recht und Ökonomie des Produkthaftungsgesetzes, 1994, S. 128. 57 Zur sogenannten product liability crisis Diederichsen, NJW 1978, S. 1291; v. Hüsen, RIW 1979, S. 375; Hollmann, DB 1985, S. 2389 (2392). 58 ABl. EG 1979 C 127, S. 61 f. 59 ABL EG 1979 C 271, S. 3.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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betreffende Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte." Diese Regelung war jedoch nicht zwingend. Nach Art. 15 Abs. 1 lit. b) stand es den Mitgliedstaaten frei, den Entlastungsgrund vorzusehen. Diese Option besaß vor allem die Funktion einer Bestandsschutzklausel. Sie erlaubte, eine bereits bestehende Haftung für Entwicklungsrisiken beizubehalten. Die Neueinführung einer derartigen Haftung war indes von der Durchführung eines besonderen, aufwendigen Anmeldeverfahrens abhängig (Art. 15 Abs. 2), das lediglich Luxemburg und Finnland durchliefen. Ferner wurde die Frage des Einbezugs von Entwicklungsrisiken im Jahr 1985 angesichts der kontroversen Diskussionen nur vorläufig geregelt. Gemäß Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie sollte die Kommission die Auswirkungen beurteilen, die Gerichtsurteile zur Anwendung der Artt. 7 lit. e), 15 Abs. 1 lit. b) auf den Verbraucherschutz und die Funktionsweise des Binnenmarktes haben. Auf der Grundlage dieser Beurteilung sollte entschieden werden, ob die Hersteller nach Ablauf des Übergangszeitraumes von zehn Jahren für Entwicklungsrisiken haftbar gemacht werden. Eine solche endgültige Entscheidung steht indes noch aus. In einem Bericht der Kommission über die Anwendung der Produkthaftungsrichtlinie vom 31. Januar 2001 konnten nur sehr wenige Informationen aus den Ländern, in denen Hersteller für das Entwicklungsrisiko haften, 60 gewonnen werden. 61 Daten über finanzielle Auswirkungen, etwa bei Versicherungsprämien, fehlen vollkommen.

m . Die Haftungsfreistellung im Produkthaftungsgesetz Der deutsche Gesetzgeber übernahm den Haftungsausschluß im Jahr 1989 mit nur geringen sprachlichen Änderungen in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG. 62 Vorrangiger Zweck dieses Entlastungsgrundes ist der Schutz des Herstellers vor einer weder beherrschbaren noch kalkulierbaren Haftung für bereits in Verkehr gebrachte Produkte. 63 Die Last des Erkenntnisfortschritts soll ihm nicht aufgebürdet werden. Daneben leitete den Gesetzgeber die Erwägung, daß wegen der Seltenheit von Entwicklungsrisiken in der Praxis von der Haftung abgesehen werden könne. Zumal sei der Arzneimittelbereich, in dem sich diese besondere Gefahr am ehesten realisiere, durch § 84 AMG ohnehin abgedeckt.64 Die Beweislast, daß der Schaden auf 60 Außer der Produkthaftung für Entwicklungsrisiken in den Mitgliedstaaten Finnland und Luxemburg gilt in Spanien eine Entwicklungsrisiken umfassende Haftung für Lebens- und Arzneimittel, in Frankreich eine solche für Produkte, die aus dem menschlichen Körper gewonnen werden. 61 KOM (2000) 893 endg. vom 31. 1. 2001. 62 § 1 Abs. 2 ProdHaftG lautet: „Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn" ... „5. der Fehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte." 63 Amtl. Begründung, BT-Drucks. 11/2447, S. 16; vgl. auch Vieweg, in: Schulte, S. 366. 64 Amtl. Begründung BT-Drucks. 11/2447, S. 12.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

der Verwirklichung eines Entwicklungsrisikos beruht, trägt wie in der Formulierung der Produkthaftungsrichtlinie der Hersteller; er ist insbesondere beweispflichtig hinsichtlich der Unerkennbarkeit des Fehlers. Gelingt der Entlastungsbeweis, ist die Haftung ausgeschlossen.

E. Die Zuweisung des Entwicklungsrisikos in den zivilrechtlichen Haftungsnormen des Umweltund Technikrechts Die legislative Ausformung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Produkthaftungsgesetz hatte auch beim Gesetzgeber ein Problembewußtsein geweckt. Im Verlauf der Kodifikation von Spezialtatbeständen, die eine Gefährdungshaftung für bestimmte Produkte, Tätigkeiten oder Anlagen statuieren, mußte in der Folgezeit jeweils für den entsprechenden Bereich entschieden werden, ob sich die Haftung auf das Entwicklungsrisiko erstrecken sollte. Schon vor dem Produkthaftungsgesetz war die Haftungsfrage im Rahmen der Arzneimittelhaftung zu beantworten. Der Gesetzgeber hat in den drei bedeutungsvollsten Gesetzen auf eine Haftungsfreistellung verzichtet. Die Behandlung des Entwicklungsrisikos in den einzelnen Haftungstatbeständen sowie die gesetzgeberischen Motive für eine strikte Haftung sollen im folgenden aufgezeigt werden.

I. Die Regelung des Entwicklungsrisikos in den einzelnen Tatbeständen der Gefahrdungshaftung 1. § 84 AMG Bereits im Jahr 1976 hat der deutsche Gesetzgeber eine umfassende Gefährdungshaftung des pharmazeutischen Unternehmers für Körper- und Gesundheitsschäden durch die Anwendung von Arzneimitteln erlassen. 65 Anlaß waren die Contergan-Fälle seit dem Jahr 1973.66 Die Haftung aufgrund der Arzneimittelherstellung gemäß § 84 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1, Abs. 3 AMG umfaßt nach allgemeiner Ansicht auch das Einstehenmüssen für Entwicklungsrisiken. 67 Die schädlichen Wirkungen des Arzneimittels müssen 65 In Kraft trat das AMG erst am Ol. Ol. 1978. 66 Zur Entstehungsgeschichte Rehmann, Arzneimittelgesetz, 2003, § 84 Rn. 1. Diese war äußerst wechselhaft verlaufen. Der Regierungsentwurf wollte die Arzneimittelentschädigung in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft in Form eines Entschädigungsfonds regeln. Dagegen beinhaltete der Referentenentwurf eine Gefährdungshaftung. Bevor das Konzept der Gefährdungshaftung mit zwingender Deckungsvorsorge Gesetz wurde, gab es im Bundestag einen letzten Vorstoß, der einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit der Pharmaindustrie zum Passivlegitimierten machen wollte, BT-Drucks. 7/5133.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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gemäß § 84 Abs. 3 6 8 ihre Ursache im Bereich der Entwicklung und Herstellung haben. § 84 AMG sieht demnach eine reine Ursachenhaftung vor, die unabhängig von der Feststellung eines Fehlers ist. 6 9 Trotzdem ist in der Literatur von „Entwicklungs- und Herstellungsfehlern" die Rede.70 Diese Terminologie erklärt sich daraus, daß die Kategorien des produkthaftungsrechtlichen Konstruktions- und Fabrikationsfehlers auch im Arzneimittelgesetz immer unausgesprochen mitschwingen. Der Begriff Entwicklungsfehler ist daher in diesem Bereich nicht identisch mit dem Begriff Entwicklungsrisiko, sondern meint Konstruktionsfehler von Arzneimitteln. Diese können z. B. aus nicht ausreichender Prüfung oder dem Übersehen in der Literatur angegebener Kontraindikationen resultieren. 71 Die Verwirklichung des Entwicklungsrisikos wird dagegen ausdrücklich als Haftungsgrund genannt, wenn eine bestimmte schädliche Wirkung erst nach Inverkehrbringen deutlich geworden ist. 7 2 § 84 AMG dient sogar insbesondere dazu, Schäden aus Entwicklungsrisiken ersetzbar zu machen, weil Arzneimittel auch unter Anwendung größtmöglicher Sorgfalt unvermeidbar unsicher sind. 73 Die Haftung des § 84 AMG setzt nach Abs. 1 S. 2 Nr. 1 weiterhin voraus, daß die schädlichen Wirkungen über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Einigkeit herrscht darüber, daß die Schädlichkeit nach dem neuesten Erkenntnisstand der letzten mündlichen Verhandlung zu bestimmen ist. 7 4 Würde bezüglich der Schädlichkeit auf den Stand der Wissenschaft im Zeitpunkt des Inverkehrbringens abgestellt, wandelte sich § 84 AMG zu einer Verschuldenshaftung; für in diesem frühen Zeitpunkt unerkennbare Folgen, also auch für Entwicklungsrisiken, würde nicht gehaftet. Allein die weitere Frage, anhand welchen Zeitpunkts die Vertretbarkeit beurteilt werden soll, ist streitig. Überwiegend wird eine nachträgliche Prognose befürwortet, die retrospektiv die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorhandenen Erkenntnisse auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens zurückprojiziert. 75 Im Fall der Verwirkli67 Dazu nur Larenz/Canaris, § 84 VI, S. 645; Rehmann, § 84 Rn. 5; Besch, Produkthaftung für fehlerhafte Arzneimittel, 2000, S. 35; Jenke, Haftung für fehlerhafte Arzneimittel und Medizinprodukte, 2002, S. 49; Flauen, MedR 1993, S. 463 (465). 68 § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 2. Hs. AMG a. F. 69 Deutsch/Ratzel, AMG, 2001, § 84 Rn. 7 ff. 70 Rehmann, § 84 Rn. 5. 71 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 2003, Rn. 1103. 72 Deutsch/Ratzel, § 84 Rn. 11; vgl. auch die Nachweise in FN 67. Deutsch/Spickhoff, Rn. 1103, zweifeln, ob schon die Tatsache der Entwicklung des Arzneimittels als solche zur Haftung führt, wenn seine Anwendung später zu unvertretbaren Folgen führt. Diese Zweifel stellen den Charakter als Entwicklungsrisiken erfassende Ursachenhaftung wieder in Frage. 73 BT-Drucks. 7/360, S. 43; 7/5091, S. 9; vgl. Vogeler, MedR 1984, S. 18. 74 Vgl. die Nachweise bei Besch , S. 62 ff. 75 Kullmannn/P fister Kza. 3800, S. 25; Medicus, Gedanken zum „Wissenschaftsrisiko", in: Festschrift für Zeuner, 1994, S. 243 (250); a.A. Vogel, Die Produkthaftung des Arzneimittelherstellers nach schweizerischem und deutschem Recht, 1991, S. 132 f. (Zeitpunkt

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

chung eines Entwicklungsrisikos wird also beurteilt, ob die erst später erkannten schädlichen Wirkungen zum Zeitpunkt der Inverkehrgabe in Kauf genommen worden wären. Mit der Kodifikation von § 84 AMG war Deutschland auf dem Bereich der Arzneimittelhaftung in Europa Vorreiter, ohne daß ein anderer Staat folgte. Bemerkenswert ist, daß in das sonst parallele österreichische Arzneimittelgesetz diese Vorschrift gerade nicht übernommen wurde. Die Bestandschutzklausel der Produkthaftungsrichtlinie bezüglich der Haftung für Entwicklungsrisiken kam europaweit somit hauptsächlich § 84 AMG zugute.76 Im Jahr 2002 wurde die Arzneimittelhaftung durch Vermutungen nach dem Vorbild des Umwelthaftungsgesetzes ausgebaut.77 § 84 Abs. 2 AMG begründet dabei keine echte Kausalvermutung, sondern führt eine Reihe von Einzelkriterien ein, nach denen die konkrete Schadeneignung ermittelt werden soll. Ist diese Eignung im Einzelfall festzustellen, wird die Verursachung durch das Arzneimittel vermutet. Das Arzneimittelgesetz ist im Verhältnis zum Produkthaftungsgesetz ein lex specialis. Gemäß § 15 Abs. 1 ProdHaftG ist das Produkthaftungsgesetz und damit auch der Entlastungsbeweis nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG nicht anzuwenden, wenn das an den Verbraucher abgegebene Produkt ein Arzneimittel ist.

2. § 32 GenTG Von der Privilegierung des Produkthaftungsgesetzes hat der Gesetzgeber auch im Bereich der Gentechnologie Abstand genommen. Durch § 32 Abs. 1 GenTG wurde im Jahr 1990 eine strikte Gefährdungshaftung für Personen- und Sachschäden, die auf Eigenschaften gentechnisch veränderter Organismen beruhen, geschaffen. 78 Die Einbeziehung von Entwicklungsrisiken wird aus dem weiten Wortlaut des Tatbestands hergeleitet. 79 Die potentielle Unbeherrschbarkeit gentechnischer Risiken aufgrund der Selbstvermehrungsfähigkeit der Organismen und der Irreversibilität ihrer Freisetzung bewirkt eine besondere Gefahrdungslage. 80 Hinzu der Inverkehrgabe); Deutsch, VersR 1979, S. 687 (ausschließlich letzte mündliche Verhandlung). 76 Hollmann, DB 1985, S. 2396. 77 Vgl. Müller, VersR 2003, S. 1 (11); Wagner, VersR 2001, S. 1334. 78 Ausführlich Werner, Gentechnikhaftung, 1996; rechtsvergleichend Dolde, Gentechnikhaftung in Europa, 2000. 79 Damm, ZRP 1989, S. 463; Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, 1991, § 32 Rn. 13. Ebenso die Regierungsbegründung zum Entwurf des Gentechnikgesetzes, BT-Drucks. 11/5622, S. 33. 80

Vgl. Mahro, Rechtliche Regulierung der Umwelt- und Gesundheitsrisiken in der Gentechnik, in: Mellinghoff-Trute, Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht, 1988, S. 277.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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kommt, daß die Komplexität der Auswirkungen einer gentechnischen Veränderung in weiten Bereichen noch nicht erfaßt ist. Aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber nicht allein die als besonders risikoträchtig erachteten Methoden der Gentechnik einer Gefährdungshaftung unterstellt. 81 Der Verzicht auf eine strenge Gefährdungshaftung war kaum zu rechtfertigen. 82 Der Anwendungsbereich der Haftungsnorm ist jedoch in der Praxis gering, weshalb § 32 GenTG als Ausdruck von „blindem Aktionismus" bezeichnet wird. 83 Verschärft wird die Haftung noch durch eine Ursachenvermutung in § 34 GenTG, wonach die Verursachung durch die gentechnisch veränderten Eigenschaften des Organismus vermutet wird. Das spezifische Risiko der Gentechnologie liegt in der Unsicherheit über das Verhalten von gentechnisch veränderten Organismen. Ihre Reaktionsweise läßt sich nach dem gegenwärtigen Wissensstand nicht mit letzter Sicherheit prognostizieren. 84 Deswegen kommt dem Entwicklungsrisiko in diesem Rahmen eine hervorgehobene Rolle zu. In der Literatur wird betont, die Haftung im Bereich der Gentechnologie sei „im wesentlichen Haftung für Entwicklungsrisiken" als ihrem „eigentlichen und primären Risiko". 85 Die Haftung tritt deshalb ein, wenn die mögliche Verursachung des Schadens durch einen gentechnisch veränderten Organismus nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt der gentechnischen Arbeit trotz Anwendung größter Sorgfalt von niemandem erkannt werden konnte. 86 Das Gentechnikgesetz ist gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 GenTG wegen des Vorranges des Produkthaftungsgesetzes nicht anwendbar bei Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten und rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden. In diesem Fall findet wegen der Wissenslücken im Gentechnikrecht der Haftungsausschluß für Entwicklungsrisiken in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG aber keine Anwendung, wenn der Fehler auf gentechnischen Arbeiten beruht. 87 Ausnahmsweise soll anderes gelten, wenn ein Landwirt für Einträge aufgrund gentechnisch veränderten Saatgutes haftet. 88 Diese vom Wortlaut abweichende Ansicht ist allerdings schwer 81

Diese Beschränkung wurde von der Enquete-Kommission empfohlen, BT-Drucks. 10/ 6775, S. 294; vgl. auch die Anmerkung bei Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Vor § 32 Rn. 4, die Einführung einer Gefährdungshaftung sei „beachtlich", weil in der Regel in der Gentechnik weniger gefährliches Material verwendet werde als z. B. beim Umgang mit hoch pathogenen Krankheitserregern. 82 Vgl. die Meinungen zu der Möglichkeit eines Verzichts auf eine strenge Haftung bei Damm, ZRP 1989, S. 463 („rechtspolitisch nicht akzeptabel") und Nicklisch, BB 1989, S. 7 („rechtspolitisch kaum nachvollziehbar). 83 Näher Dolde, Gentechnikhaftung, S. 269 f.; ebenso Ronellenfitsch, VerwArch 93 (2002), S. 295 (311). 84 Begründung zum GenTG, BR-Drucks. 387/89, S. 33 ff.; Hirsch/Schmidt-Didczuhn, VersR 1990, S. 1193 (1194). 85 Landsberg/Lülling, Umwelthaftungsrecht, 1991, § 32 GenTG Rz. 2 und § 37 GenTG Rz. 7; vgl. amtl. Begründung BT-Drucks. 11/5622, S. 33. 86 Hirsch/Schmidt-Didczuhn, § 32 Rn. 13. 87 § 37 Abs. 2 S. 2 GenTG. 4 Lübbecke

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

zu begründen. Für die Haftung im Koexistenzbereich gilt nach der Konzeption des Gesetzgebers allein das durch § 36a GenTG n. F. modifizierte private Nachbarrecht.

3. § 1 UmweltHG Angestoßen von der Sandoz-Katastrophe in Basel trat im Jahr 1991 das Umwelthaftungsgesetz in Kraft. 89 Dieses begründet eine umweltspezifische, anlagenbezogene Gefährdungshaftung. 90 Geschützt werden Leben, Körper und Gesundheit sowie Sachen gegen einen Schaden, der sich über einen Umweltpfad, also die Umweltmedien Boden, Wasser und Luft verwirklicht (vgl. § 3 Abs. 1 UmweltHG). 91 Diese sogenannte Umwelteinwirkung muß von einer nach dem Listenprinzip im Anhang I zum Umwelthaftungsgesetz aufgeführten Anlage ausgegangen sein. Erfaßt werden im Wesentlichen die im Anhang der 4. BImSchV genannten, nicht durch ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren begünstigten, genehmigungsbedürftigen Anlagen. Eine weitere Eigenart und ein Kernstück des Gesetzes stellt die Ursachenvermutung in § 6 UmweltHG dar. 92 Sie soll die Beweisnot des Geschädigten lindern. 93 Abs. 1 vermutet eine bestimmte Anlage als Verursacher, wenn diese im Einzelfall geeignet war, den Schaden herbeizuführen. Die eigentliche Besonderheit liegt in der Nichtanwendbarkeit der Vermutung bei bestimmungsgemäßem Betrieb nach Abs. 2, der durch den Bezug auf öffentlich-rechtliche Betriebspflichten konkretisiert wird. Beweisrechtlich begibt sich das Haftungsrecht auf diese Weise in eine Abhängigkeit vom öffentlichen Recht. 94 Als Grund für die Privilegierung des rechtmäßigen Normalbetriebs wird die Anreizwirkung genannt, öffentlich-rechtliche Pflichten einzuhalten.95 Ferner spreche die Einhaltung der Vorgaben gegen die 88

Mit Wegfall des § 2 S. 2 ProdHaftG a.F. werden nun auch landwirtschaftliche Erzeugnisse vom Produktbegriff erfaßt. Eine Haftung des Landwirtes widerspräche aber dem Willen des Gesetzgebers, der Verwender dürfe auf die Unbedenklichkeit des in Verkehr gebrachten Produkts vertrauen, vgl. BR-Drucks. 387/89, S. 36 f.; Wolfers/Kaufmann, ZUR 2004, S. 321 (322); Stockmeier, VersR 2001, S. 271 (277). 89 Zu den Umständen der Entstehung Ganten/Lemke, UPR 1989, S. 1. 90 Im Gesetzgebungsverfahren war noch eine Handlungshaftung vorgesehen, die den Tatbestand möglicherweise hätte ausufern lassen, vgl. Landsberg/Lülling § 1 UmweltHG Rz. 11 ff. m. w. N. 91

Vgl. auch Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 9 ff. Zu § 84 Abs. 2 AMG, der nun § 6 UmweltHG nachgebildet wurde, bereits oben unter E. I. 1.; ausführlich Stecher, Die Ursachenvermutung des Umwelthaftungs- und Gentechnikgesetzes, 1995. 9 3 Dazu Baiensiefen, Umwelthaftung, 1994, S. 239; Baumann, JuS 1989, S. 433 (437). 9 4 Kritisch Brüggemeier, KritV 1991, S. 297 (308). 92

95 Begründung, BT-Drucks. 11/7104, S. 18. Diese Begründung kann nicht überzeugen. Die öffentlich-rechtlichen Anforderungen spiegeln nicht den letzten Stand der Wissenschaft-

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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Schadensverursachung. 96 Die Begünstigung des Geschädigten wird durch die Möglichkeit des Schädigers gemindert, die Vermutung zu entkräften. Nach § 7 UmweltHG genügt das Vorbringen des Anlageninhabers, andere Umstände oder Anlagen seien ebenso geeignet, den Schaden verursacht zu haben. Das Umwelthaftungsgesetz sieht den Einwand des Entwicklungsrisikos ebenfalls nicht vor, sondern bezieht es in die Haftung ein. 97 Dieser Schluß wird mangels ausdrücklicher gesetzlicher Erwähnung aus der einschränkungslosen Weite des Tatbestandes98 sowie dem Charakter einer verschuldensunabhängigen Kausalhaftung gezogen.99 Entwicklungsrisiken gelten im Umwelthaftungsrecht als besonderes Risiko des Betriebes einer Anlage, in der mit gefährlichen Stoffen umgegangen wird. Diese können sich typischerweise als gefahrlicher erweisen als vorher angenommen.100 Deshalb wird die Haftung nur vereinzelt für unverhältnismäßig gehalten.101 Der Entlastungsbeweis des Produkthaftungsgesetzes war gerade nicht Vorbild für die Neugestaltung des Umwelthaftungsrechts. 102 Die Abkehr des Gesetzgebers von dem Rechtsgedanken des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG beruhte auf der Überzeugung, ein solcher Ausschluß der Haftung sei „der deutschen Rechtsordnung an sich fremd" 103 . Dies entspricht der Meinung in der Lehre, die Gefahrdungshaftung umfasse ihrem konzeptionellen Ansatz nach vor allem auch die Entwicklungsrisiken. 1 0 4

liehen Erkenntnisse wider. Zu einem Schaden kann es trotz ihrer Beachtung kommen, siehe Hager, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Bd. HI, § 6 UmweltHG Rn. 41. Der eigentliche Grund für die Einschränkung der Vermutung liegt darin, daß bis zuletzt Uneinigkeit herrschte, ob die Haftung den Normalbetrieb umfassen sollte, dazu Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 22 m. w. N. in Fn. 63. 96

Beschlußempfehlung und Begründung des Rechtsauschusses, BT-Drucks. 11/7881, S. 32. 97 Begründung, BT-Drucks. 11/7104, S. 15; Hager, in: Landmann/Rohmer, § 6 UmweltHG Rn. 39; Landsberg/Lülling, § 4 Nr. 3 UmweltHG; Salje/Peter, Umwelthaftungsgesetz, 2005, §§ 1, 3 Rn. 13; Schmidt-Salzer, Umwelthaftungsrecht, 1992, § 1 UmweltHG Rn. 25 und ders., VersR 1991, S. 9 (10); Oehmen, Umwelthaftung, 1997, § 6 Rn. 229; Mayer, MDR 1991, S. 813; Reuter, BB 1991, S. 145 (147). 98 Rehbinder, in: Landmann/Rohmer, Bd. III, § 1 UmweltHG Rn. 22. 99 Vgl. Nicklisch, Zur Grundkonzeption der Technik- und Umweltgefährdungshaftung, in: Festschrift für Serick, 1992, S. 297 (305 f.); ders., Die Haftung für Risiken des Ungewissen in der jüngsten Gesetzgebung zur Produkt-, Gentechnik- und Umwelthaftung, in: Festschrift für Niederländer, 1991, S. 341 (343 ff.); Taupitz, Jura 1992, S. 113 (117). 100 Vgl. Hager, NJW 1991, S. 134 (136); Lytras, Zivilrechtliche Haftung für Umweltschäden, 1995, S. 459 f.; Taupitz. Jura 1992, S. 117; Wagner, VersR 1991, S. 249 (250). 101 Diederichsen, PHI 1990, S. 78 (86). 102 Vgl. bereits Ganten/Lemke, UPR 1989, S. 2. 103 Begründung zum Gesetzentwurf des UmweltHG in PHI 1989, S. 134. 104 Nicklisch, in: Festschrift für Niederländer, S. 344. 4*

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

4. Ältere Tatbestände Abseits der neuen Gefährdungstatbestände existieren ältere Gefährdungshaftungen, in deren Rahmen sich noch nicht ausdrücklich mit dem Problem der Zurechnung des Entwicklungsrisikos befaßt wurde. Trotzdem könnten diese Tatbestände auch Schäden durch unerkennbare Umstände erfassen.

a) § 22 WHG Bereits seit 1957 gilt mit § 22 WHG eine scharfe Gefährdungshaftung für Gewässerbeeinträchtigungen. 105 Das Wasserhaushaltsgesetz nimmt den Ersatz von Schäden wahr, die auf dem Wasserpfad durch eine Veränderung der Beschaffenheit des Umweltmediums Wasser verursacht werden. 106 Geschützt werden alle Gewässer im Sinne des § 1 Abs. 1 WHG. Die Vorschrift besteht aus zwei selbstständigen Haftungstatbeständen. § 22 Abs. 1 WHG sieht eine Handlungshaftung, Abs. 2 eine Anlagenhaftung vor. 1 0 7 Wegen der Weite der beiden Schadensersatzansprüche, die sich auch auf bloße Vermögensschäden erstrecken, hat die Rechtsprechung den Kreis der Anspruchsberechtigten reduziert. Anspruchssteller kann nur der unmittelbar selbst Betroffene sein, nicht bereits jeder, der irgendwelche Nachteile erleidet. 1 0 8 Die Handlungshaftung erfaßt mit den Verletzungshandlungen des Einbringens, Einleitens und Einwirkens jedes zielgerichtete Verhalten. § 22 Abs. 1 WHG greift ein, wenn aus objektiver Perspektive nach den konkreten Umständen des Einzelfalls erfahrungsgemäß eine Gewässerbeeinträchtigung durch eine Veränderung der Beschaffenheit zu erwarten ist. 1 0 9 Ein vorwerfbares Verhalten des Schädigers als subjektives Element ist nicht erforderlich. 110 Die Anlagenhaftung nach § 22 Abs. 2 WHG knüpft an den Betrieb einer wassergefährlichen Anlage an. Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Norm auf solche Anlagen zu beschränken, in denen bestimmungsgemäß mit Stoffen umgegangen wird, die typischerweise zur Verursachung einer Änderung der Gewässerbeschaffenheit geeignet sind. 111 Im Unterschied zur Handlungshaftung bezieht sich 105 Vgl. Deutsch/Ahrens, Rn. 396. 106

Ausführlich Höpke/ Thürmann, in: Rengeling, Rn. 39 ff. 107 Vgl. Fees-Dörr/Prätorius/Steger, Umwelthaftungsrecht, 1990, S. 76 ff.; Gieseke/ Wiedemann/ Czychowski, Wasserhaushaltgesetz, 2003, § 22 Rn. 1; Schimikowski, Umwelthaftungsrecht und Umwelthaftpflichtversicherung, 2002, S. 64 ff. los BGH, VersR 1972, S. 463 (465). Anspruchsberechtigt sind jedenfalls die Gewässerbenutzer nach § 3 WHG. •09 Gieseke /Wiedemann/ Czychowski, § 22 Rn. 7; Schimikowski, S. 58. no Höpke /Thürmann, in: Rengeling, Rn. 41; allerdings liegt regelmäßig auch ein Verschulden vor, darauf weisen hin Deutsch/Ahrens, Rn. 397. in BGHZ 76, 35 (42); vgl. Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 1987, Rn. 810.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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die Anlagenhaftung gerade auf nicht zielgerichtete Vorgänge wie die Betriebsstöning. Trotz der Ausgestaltung als strenge Gefährdungshaftung vermögen beide Tatbestände objektiv unerkennbare Schadensmöglichkeiten nicht zu erfassen. Für die Handlungshaftung mangelt es an dem hinreichend sicheren objektiven Urteil, daß eine Gewässerbeeinträchtigung eintritt. Bei der Anlagenhaftung ist gemäß der Beschränkung auf wassergefährliche Anlagen ebenfalls der Nachweis einer typischen Schadenseignung notwendig. Auch diese fehlt bei Entwicklungsrisiken.

b) §§ 25 ff. AtG Die Haftung für Kernanlagen ist in §§ 25 ff. AtG gleichfalls als Gefährdungshaftung ausgestaltet.113 § 25 Abs. 1 AtG nimmt das Pariser Atomhaftungsübereinkommen von 1960 auf. Danach hat der Inhaber einer Kernanlage für Schäden an Leben oder Gesundheit sowie für Vermögensschäden einzustehen, soweit diese durch ein nukleares Ereignis verursacht worden sind. Die Haftung gilt exklusiv und ist daher kanalisiert. Nach § 25 AtG haftet zudem der Besitzer radioaktiver Stoffe. Auch wenn das bekannte Schädigungspotential radioaktiver Stoffe bei der Haftung im Vordergrund steht, werden Entwicklungsrisiken von der Haftung nicht ausgenommen.

IL Die Revitalisierung der Gefahrdungshaftung und ihre Ursachen Die legislative Entwicklung im Bereich des privaten Haftungsrechts zeichnet sich insgesamt durch die vermehrte Schaffung von speziellen Gefährdungshaftungstatbeständen aus. Es entstand ein „neues System der Gefährdungshaftungen" 1 1 4 . Die Gefährdungshaftung ist indes kein neu entdecktes Instrument. Sie wurde bereits 1838 für den Eisenbahnbetrieb eingeführt. 115 Aufgrund des gebündelten gesetzgeberischen Schubes (AMG, ProdHaftG, GenTG, UmweltHG) läßt sich eine Revitalisierung der Gefährdungshaftung feststellen. Auch international gewinnt das Haftungsrecht an Bedeutung, indem jüngst zu mehreren Übereinkommen im Umweltbereich Haftungsprotokolle verabschiedet wurden. 116 Der Trend 112 Das wird an der Verletzungshandlung deutlich, die sich auf ein neutrales „hineingelangen" beschränkt, siehe Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 46. 113 Deutsch/Ahrens, Rn. 393 ff.; Kanno, Gefährdungshaftung und rechtliche Kanalisierung im Atomrecht, 1967; Pelzer, Begrenzte und unbegrenzte Haftung im deutschen Atomrecht, 1982.

114 Deutsch, NJW 1992, S. 73; zur Rolle der Gefährdungshaftung bei der Modernisierung des Haftungsrechts auch Damm, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, S. 122 f. 1 15 Siehe zu § 25 des preußischen Eisenbahngesetzes Ogorek, Untersuchungen zur Entwicklung der Gefahrdungshaftung im 19. Jahrhundert, 1975, S. 61 ff.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

zu einer objektiven Haftungsverantwortung für die Schadensfolgen der technischindustriellen Gefahrenproduktion läßt sich als allgemeine Rechtsentwicklung ebenso bei anderen Industriestaaten beobachten.117 Die Ursachen der Wiederentdeckung dieses Ausgleichs- und Steuerungsinstrumentes können mit dem Phänomen des Entwicklungsrisikos zusammenhängen. 1. Die Ausgleichsfunktion Die Motive für die Revitalisierung der Gefährdungshaftung erschließen sich durch einen Blick auf die Funktionen zivilrechtlicher Haftung. Hier steht stets die Ausgleichsfunktion im Vordergrund. Sie wird zunehmend durch andere Funktionen ergänzt. a) Das traditionelle Verständnis Im hergebrachten Verständnis wird die Gefährdungshaftung als Instrument des nachträglichen Ausgleichs bei Sondergefährdungen betrachtet. 118 In Ergänzung zur Verschuldenshaftung sollte die Gefährdungshaftung die iustitia distributiva verkörpern. Die Gefährdungshaftung gleicht das legalisierte Betriebsrisiko aus, sie bildet das „Korrelat des erlaubten Risikos" 119 . Vorausgesetzt wird eine Gefahrenquelle, die ihrer Art nach niemals vollständig beherrscht werden kann. Ist die Gefahr nun besonders hoch, kommt sie häufig vor oder ist sie für Dritte unausweichlich, kann eine Gefährdungshaftung die Verantwortung dem Inhaber der Gefahrenquelle zuweisen. 120 Die Schadenstragung wird vom Betroffenen auf den Verursacher abgewälzt. Diese generelle, verschuldensunabhängige Risikozuweisung bezweckt die sozialgerechte Verteilung des Schadens,121 also einen Zustand der Risikogerechtigkeit. Umweltpolitisch verwirklicht die Gefahrdungshaftung das Verursacherprinzip in seiner ersten und engsten Bedeutung als kausalitätsbezogenem Kostenzurechnungsprinzip; 122 auch hier tritt der Ausgleichsgedanke zu Tage. Iis Beispiele bei Toepfer, NVwZ 2002, S. 641, der dafür eintritt, die Frage der Haftung „ganz weit oben" anzustellen. 117

Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz, S. 329 m. w. N. Grundlegend Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941; neuere Untersuchungen bei Baudisch, Die gesetzgeberischen Haftungsgriinde der Gefährdungshaftung, 1998; Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung, 1993. 118

119 Nicklisch, Umweltschutz und Umweltprivatrecht, in: ders. (Hrsg.), Umweltrisiken und Umweltprivatrecht im deutschen und europäischen Recht, 1995, S. 16 m. w. N.; ähnlich bereits Esser, Gefährdungshaftung, S. 97: „Korrelat eines Privilegs". 120 Larenz/Canaris, S. 600 ff.; Deutsch/Ahrens, S. 319. 121 Wiebecke, Umwelthaftung als Gefährdungshaftung, in: ders. (Hrsg.), Umwelthaftung und Umwelthaftungsrecht, 1990, S. 14 (17); vgl. auch Rehbinder, NuR 1989, 149 (151). 122 Kloepfer, NuR 1990, S. 337 (346).

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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b) Die soziale Verantwortung Darüber hinaus wird in der Literatur zunehmend der Gedanke der sozialen Verantwortung des Risikoverursachers betont. Gerade auch die Umwelthaftung könne Ausdruck des im Umweltrecht zunehmend anerkannten Leitprinzips sein, Selbstverantwortung zu übernehmen. 123 Das Kriterium der sozialen Selbstverantwortung kann indes kein tauglicher Haftungsgrund sein. Verantwortung ergibt sich aus Normen, welche die Folgen eines bestimmten Handels konkreten Rechtssubjekten zurechnen, nicht aber aus sozialen Wertungen. Dieser Begründungsansatz kann sich schnell als Zirkelschluß erweisen. In der Literatur herrscht indes Einigkeit, daß die Gefährdungshaftung eine sozialgerechte Verteilung von Unglücksschäden aus gesetzlich gestatteten Sondergefahrdungen bewirke und der Gesetzgeber gerade mit der Einführung des § 32 GenTG die einzige rechtspolitisch akzeptable Entscheidung getroffen habe. 124

c) Im besonderen: Die Kompensation des Rest- und Entwicklungsrisikos Die Ausgleichsfunktion der Haftung wird im Zusammenhang mit den neuen technologischen Errungenschaften um einen Aspekt bereichert. Die Gefährdungshaftung gerät zur typischen Antwort des Gesetzgebers auf das Hauptproblem der modernen Industriegesellschaft. Dieses besteht in der Unvollkommenheit des Wissens über Ursachen und Wirkungszusammenhänge. Begegnet werden soll nicht mehr in ihrer Art und ihrem Umfang erkennbaren Gefahrenpotentialen (z. B. dem Straßenverkehr, der Tierhaltung). In den Blickpunkt rücken vielmehr die nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht abschätzbaren Risiken, also in erster Linie Entwicklungsrisiken. Offensichtlich wird diese Erweiterung der Ausgleichsfunktion anhand der Erwägungen bezüglich der Gentechnikhaftung. Nur „um den Preis" der verschuldensabhängigen Kausalhaftung könne „dem Bürger das gesteigerte Gefahrenrisiko zugemutet werden". 125 Dieses Gefahrenrisiko wird an der nicht mit letzter Sicherheit zu prognostizierenden Reaktionsweise gentechnisch veränderter Organismen festgemacht und als Restrisiko bezeichnet. Deshalb seien „insbesondere Schäden aus Entwicklungsrisiken in die Haftung einzubeziehen".126 Entsprechend wird im Arzneimittelrecht und Umwelthaftungsrecht argumentiert, indem stets auf das Risiko 123 Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 134 ff.; Rehbinder, BUR 1989, S. 149 (151). 124 Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Vor § 32 Rn. 2; siehe die Nachweise in FN 82.

125 Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 11/5622, S. 33; BR-Drucks. 387/ 89, S. 33. 126 Begründung BT-Drucks. 11/5622, S. 33.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

unterschätzter Gefahrenquellen verwiesen wird. 1 2 7 Da die Gefährdungshaftung der Preis für die Erlaubnis zur Nutzung wissenschaftlich-technischer Systeme trotz verbleibender Risiken sei, müsse sie Schäden erfassen, die aus den Risiken entstehen. Dazu gehörten gerade nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht vorhersehbare Risiken. 128 Eine weitere, mit ihrer geschilderten Erweiterung verwandte Facette der Ausgleichsfunktion besteht in der Wirkung, die gesellschaftliche Akzeptanz neuer Technologien zu steigern. 129 Ist die Haftung des Verursachers streng, also ausnahmslos und an möglichst niedrigen Voraussetzungen geknüpft, ist auch der möglicherweise nachteilig Betroffene eher mit dem Eingehen des Risikos einverstanden. Die Gefährdungshaftung leistet auf dem Weg der Reparation wenigstens im Nachhinein einen Beitrag, den die administrative Kontrolle präventiv nicht erbringen kann. Öffentliches Recht und Privatrecht ergänzen sich hier im Sinne wechselseitiger Auffangordnungen, um die jeweiligen Steuerungsschwächen einer Teilrechtsordnung auszugleichen.130 Insgesamt ist zu beobachten, daß der Ausgleichszweck angereichert wird um eine Kompensationsfunktion für die Risiken der staatlichen Entscheidungen unter Ungewißheit. Die Gefährdungshaftung wird dadurch qualitativ ausgebaut.

2. Die Präventivfunktion Die Renaissance der Gefährdungstatbestände läßt sich zugleich darauf zurückführen, daß der Gefährdungshaftung zunehmend eine Präventivwirkung beigemessen wurde; sie wurde bald als sekundärer Haftungszweck anerkannt. 131 Eine Beschränkung auf den Ausgleichszweck läßt außer Acht, daß die Gefährdungshaftung die Präventionsfunktion des Haftungsrechts ebenso gut erfüllt wie die Deliktshaftung: Der Anreiz zur Schadensvermeidung ist identisch. 132 In der Literatur wird der Präventivzweck als wichtige, eigenständige Haftungsfunktion gesehen.133 Vor 127

Siehe bereits oben die Nachweise in FN 100. 128 Nicklisch, in: Lenk/Maring, S. 169. 129

Kloepfer, NuR 1990, S. 347. Freilich kann auch die umgekehrte Wirkung eintreten, daß Technikangst geschürt wird. 130 Zu diesem Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem Recht die Beiträge in Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; zu den Stärken und Schwächen der beiden Teilrechtsordnungen im Umweltrecht Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz, S. 43 ff. 131 Deutsch, Haftungsrecht, S. 71 f.; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 1987, § 27 I; dazu näher Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 2. 132 Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, 1985, S. 36 ff.; Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 2001, Rn. 343 ff.; a.A. Weyers, Unfallschäden, 1971, S. 446 ff.; Will, Quellen erhöhter Gefahr, 1980, S. 297.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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allem ökonomische Untersuchungen legen auf diese schadensvorbeugende Funktion Wert. 134 Zurückhaltend gegenüber der Präventivwirkung wird aber angemerkt, daß sie nur optimal zur Geltung komme, wenn der Verursacher wisse, daß er in Anspruch genommen werden kann. 135 Es wurde herausgearbeitet, daß die präventive Verhaltenssteuerung konkret nicht von der Produkthaftung an sich, sondern von der Unsicherheit über die tatsächliche Inanspruchnahme ausgeht.136 Dieser Zustand ist erreicht, wenn offensichtliche Haftungslücken fehlen. Die oft unklare Kausalität hindert dabei die Präventiv Wirkung nicht. 137 Der Gesetzgeber hat sich diese Sichtweise zu eigen gemacht. In der Begründung zum Umwelthaftungsgesetz wird hervorgehoben, weil der Anlagenbetreiber zur Vermeidung der Einstandspflicht schadensverhütende Maßnahmen ergreifen müsse, komme gerade der Gefahrdungshaftung eine verhaltenssteuernde Wirkung in Richtung auf einen vorbeugenden Umweltschutz zu. 1 3 8 Neben die Ausgleichsfunktion der Haftung rückte somit der Präventivzweck, der teilweise sogar als gleichrangig, wenn nicht als vorrangig gewertet wurde. 139 Doch ist vor einer Überschätzung zu warnen. Solange die Haftungsrisiken nicht drakonische und damit existenzbedrohende Ausmaße annehmen - was auch in Zukunft nicht erstrebenswert ist - bleibt der tatsächliche Effekt eher gering und häufig im Bereich des Psychologischen.140 Bedacht werden muß auch, daß die Versicherbarkeit von Risiken die Präventivwirkung der Gefahrdungshaftung abschwächen kann. 141 Indem das Haftungsrisiko faktisch durch die Höhe der Versicherungsprämien begrenzt wird, vermag der Verursacher sein Kostenrisiko zu kalkulieren. Deswegen kann er seine Präventionsanstrengungen reduzieren.

133 Döring, Haftung und Haftpflichtversicherung als Instrumente einer präventiven Umweltpolitik, 1999; Herbst, Risikoregulierung durch Umwelthaftung und Versicherung, 1996, S. 30 ff. 134 Aus der umfangreichen Literatur Panther, Haftung als Instrument präventiver Umweltpolitik, 1992; Endres/Rehbinder/Schwarze, Haftung und Versicherung für Umweltschäden aus ökonomischer und juristischer Sicht, 1992; Schwarze, Präventionsdefizite im Umweltrecht und Lösungen aus ökonomischer Sicht, 1996. 135 Panther, Zivilrecht und Umweltschutz, in: Schäfer/Ott, Ökonomische Probleme des Zivilrechts, 1991, S. 276 (280 ff.). 136 Herbst, S. 105 ff.; zustimmend Kühn-Gerhard, S. 264. 137 Herbst, S. 109. 138 BT-Drucks. 11/7710, S. 1,14. 139 Hager, Umwelthaftung und Produkthaftung, in: UTR Bd. 11, 1990, S. 133 (143 f.); Wagner, JZ 1991, S. 175(176). 140 Vgl. auch Sendler, „Unerhebliches" zur Mitverantwortung des Staates in: Lieb (Hrsg.), Produktverantwortung und Risikoakzeptanz, 1998, S. 87 (94 f.); Das Gewicht der Präventivwirkung offen lassend Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, Umweltgesetzbuch Allgemeiner Teil, 1991, S. 417.

141 Dazu nur Lübbe-Wolff,

NVwZ 2001, S. 481.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

3. Die Kritik am Instrument Gefährdungshaftung Trotz ihrer kompensatorischen und präventiven Wirkungen kann die Gefährdungshaftung nicht uneingeschränkt als Allheilmittel der Risikogesellschaft gepriesen werden. Einige Nebenwirkungen der Gefährdungshaftung sind deshalb in groben Zügen aufzuzeigen. Schon die Bezeichnung als Korrelat des erlaubten Risikos verzerrt das Bild. Sie spiegelt vor, daß die Tätigkeit eigentlich von rechts wegen verboten werden müßte oder der Gesetzgeber wenigstens ein Verbot hätte aussprechen können. 142 Von einer solchen Wahlfreiheit stand er angesichts der grundrechtlichen Verbürgungen (vorrangig Art. 12 GG) allerdings nicht. Um die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG zu erfüllen, reicht eine bloße Deliktshaftung regelmäßig aus. 143

a) Die Zwangsversicherungsfunktion und die Kollektivierung des Schadens Wenn die Haftung im Verhältnis Hersteller-Verbraucher besteht, z. B. in der Produkt- und Arzneimittelhaftung, gerät die Haftung des Verletzers zu einer Versicherung der Opfer. 144 Da die Kostenlast der Haftung über den Preis letztlich auf alle Konsumenten abgewälzt wird, entsteht eine Art Zwangsversicherung: Statt des einzelnen geschädigten Verbrauchers tragen alle Konsumenten den Schaden. Das Risiko wird nur innerhalb der Betroffenen verteilt und letztlich entgegen der eigentlichen Intention des Gesetzgebers nicht dem Hersteller als Verursacher auferlegt. Um eine weitere, entgegen gesetzt verlaufende Kollektivierung des Schadens handelt es sich, wenn das Haftungsrisiko durch eine Haftpflichtversicherung aufgefangen wird, unter Umständen aufgrund einer gesetzlichen Pflicht zur Dekkungsvorsorge. In dieser Konstellation sind Gefährdungshaftungen nichts anderes als Schadensverteilungssysteme.145 Der Übergang von der Verschuldens- zur Risikozurechnung bewirkt einen „Wechsel von der Schadenszurechnung zur bloßen Schadensverteilung". 146 Während die Gefährdungshaftung früher individuellen und konkreten technischen Gefahren begegnen sollte, entfernt sich der Haftungsgrund zunehmend von der individuell geschaffenen Gefahr und dient allein der kollektiven Zurechnung von Risiken. 147 142 Vgl. Blaschczok, S. 46 ff.; Larenz/Canaris, für „unergiebig und schief*. 143 Larenz/Canaris, § 841, S. 606. 144 Blaschczok, S. 133.

§ 841, S. 606, halten diese Formulierungen

145 Marburger, AcP 192 (1992), S. 1 (28); vgl. Looschelders, JR 2003 S. 310, der diese Sozialisierung über die Haftpflichtversicherung für geboten hält. 146 Marburger, AcP 192 (1992), S. 28. 147 Vgl. Ladeur, Umweltrecht in der Wissensgesellschaft, 1995, S. 178 ff.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

59

b) Die Präventivwirkung bei Entwicklungsrisiken Mit Blick auf die in neuerer Zeit wichtiger eingeschätzte Präventivwirkung der Haftung können Zweifel geltend gemacht werden, ob diese bei Entwicklungsrisiken überhaupt zum Tragen kommen kann. In der ökonomischen Analyse des Zivilrechts dominiert die Ansicht, Schadensvorbeugung sei nur in denjenigen Bereichen tatsächlich sowie wirtschaftlich möglich und sinnvoll, in denen Schadenspotentiale erkennbar sind. 148 Vorhersehbare Risiken können und müssen durch Maßnahmen des Verursachers mit in der Regel zumutbarem Aufwand minimiert werden. Nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand unerkennbare Gefahren können dagegen durch den einzelnen Hersteller oder Betreiber nur im Ausnahmefall ausgeschaltet werden; die Industrie lernt hier nachträglich anhand von Schäden. Die ex post erfolgende Zurechnung der Kosten bei ex ante unerkennbaren Schäden könne den Sorgfaltsstandard nicht beeinflussen. 149 Speziell auf Umweltschäden bezogen wird die Präventionseignung des Haftungsrechts generell verneint, weil Schadensabläufe wegen der unklaren, oft zeitlich gestreckten Verursachung nicht hinreichend sicher feststellbar sind. 150 Den Skeptikern gegenüber einer Präventivwirkung kann indes entgegengehalten werden, daß von der Haftung für Entwicklungsrisiken Anreize für eine verstärkte Sicherheitsforschung ausgehen.151 Dabei wird den Akteuren keine unzulässige Prävention „ins Blaue hinein" 1 5 2 abverlangt. Gerade bei noch nicht erkennbaren Auswirkungen sind weitere Forschungen notwendig. Auf anderem Weg als durch 14 « Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2000, S. 335 f., Endres, Haftpflichtrecht und Verhütung von Umweltschäden: Ökonomische Analyse, in: ders./Rehbinder/Schwarze, Haftung und Versicherung für Umweltschäden aus ökonomischer und juristischer Sicht, 1992, S. 1 (8, 29); Hapke, ZfRSoz, 20 (1999), S. 65 ff.; Kötz/ Wagner, Rrf. 131 ff. 149 Gawel, Reguliertes Wissen um Unwissen, in: Hart (Hrsg.), Privatrecht im Risikostaat, 1997, S. 265 (299); Schäfer/Ott, S. 335; differenzierend Wagner, VersR 1999, S. 1450 ff.; ders., VersR 2005, S. 177 (184); ders., Die gemeinschaftsrechtliche Umwelthaftung aus der Sicht des Zivilrechts, in: Hendler /Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EGRecht, UTR Bd. 81, 2005, S. 73 (119 ff.) der eine Präventivwirkung nur bei Monopolisten annimmt. 150 Bergkamp, Liability and environment, 2001, S. 86 ff.; stark zweifelnd auch Ruffert, Zur Konzeption der Umwelthaftung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Hendler/Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 43 (60). 151 Hager, NJW 1991, S. 134 (136); Hirsch/Schmidt-Didczuhn, § 32 GenTG, Rn. 13; Huth, Die Bedeutung technischer Normen für die Haftung des Warenherstellers nach § 823 BGB und dem Produkthaftungsgesetz, 1992, S. 344; Kloepfer, Umweltrecht, 2004, § 6 Rn. 79. 152 Zur Unzulässigkeit einer (öffentlich-rechtlichen) Prävention ohne entsprechenden Vorsorgeanlaß Ossenbühl, NVwZ 1986, S. 161 ff.; Preuß, Risikovorsorge als Staatsaufgabe, in Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 453 (539); Rehbinder, Prinzipien des Umweltrechts in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Festschrift für Sendler, S. 269 (279); Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge - von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (121 ff.).

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" nd seine Herkunft

die Vergrößerung des Erfahrungsschatzes kann Entwicklungsrisiken nicht wirkungsvoll begegnet werden. Zwar setzt effektive, wirtschaftliche Forschung ein Mindestmaß an „Gerichtetheit der Risikovermutung" 153 voraus. Doch besitzt der Verursacher regelmäßig ein abstraktes Gefahrenbewußtsein, 154 das mehr ist als die Erkenntnis, daß alles schiefgehen kann. Diese bloße Hypothese der Gesundheitsoder Umweltgefährlichkeit genügt als Anknüpfungspunkt der Forschung. 155 Das Vorhandensein dieser unspezifischen Indikation bewirkt zudem Forschungsanreize, weil die Entwicklung sicherer Produkt und Verfahren wegen ihrer besseren Vermarktungsmöglichkeit zu Vorteilen im Innovationswettbewerb führt. 156 Die Einbeziehung von Entwicklungsrisiken in die Haftung leistet deswegen einen Beitrag zu einem dynamischen Rechtsgüterschutz. Ein Betreiber, der sicher sein kann, nicht für die Folgen unvorhersehbarer Risiken herangezogen zu werden, hat keinen Grund, den Kreis der vorhersehbaren Risiken durch Forschungsanstrengungen zu vergrößern. 157

c) Die möglichen prohibitiven Wirkungen Ein striktes Haftungsregime birgt immer die Gefahr einer innovationshemmenden Wirkung in sich, weil das hohe Haftungsrisiko von der Entwicklung und Verwendung neuer Technologien abschrecken kann. 158 Eine reine Kausalhaftung schürt Risikoaversion und führt zu einer gesellschaftlichen Immobilität. 159 Die Präventionswirkung der Haftung würde in diesem Fall eine überschießende Tendenz entfalten, indem durch Verzicht auf Entwicklung und Produktion gleichsam eine absolute Vorbeugung gegen Schäden getroffen werden würde. 160 Eine solche Wirkung wird zwar nur im Extremfall tatsächlich eintreten; sie ist aber bei der Kodifikation von Haftungstatbeständen stets zu bedenken.

153 Gawel, in: Hart, S. 299 f. 154 Vgl. Böhmeke-Tülmann, Konstruktion- und Instruktionsfehler - Haftung für Entwicklungsrisiken, 1992, S. 77; Hager, PHI 1991 S. 2 (10). 155 Vgl. auch Kühn-Gerhard, S. 338. 156 Kühn-Gerhard, S. 338; Wieckhorst,

S. 214.

157

Das gibt auch der im übrigen skeptische Wagner, in: Hendler /Marburger, S. 120 zu bedenken. 158 Gawel, in: Hart, S. 297; zu den Beispielen für diese Wirkung in den USA Hunziker/ Jones (Hrsg.) Product Liability and Innovation, 1994, S. 26 f. 1 59 Schmidt, Zurechnung, Zurechnungsprinzip und Zurechnungszusammenhang, in: Festschrift für Esser, 1995, S. 137 (143). 160 Vgl. Vieweg, in: Schulte (Hrsg.), S. 366; siehe zu dieser Befürchtung die Diskussion um die Produkthaftungsrichtlinie oben unter D. I.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

61

d) Die vermeintliche Sondergefahrdung Mit einer Gefährdungshaftung reagiert das Recht auf die Schaffung einer besonderen Gefahr. Die außergewöhnliche Gefährlichkeit eines Vorhabens leuchtet jedoch nicht immer ein. 1 6 1 Die Bewertung einer Tätigkeit als gefährlich hängt von wirtschaftlichen Motiven und nicht zuletzt auch der Akzeptanz in der Gesellschaft ab. 1 6 2 Oft ist es allein die Neuartigkeit einer Technologie, die zu der Bewertung als potentiell gefährlich fuhrt. Deshalb ist bei der Feststellung einer Sondergefährdung stets Sorgfalt geboten.

III. Die Verschärfung des privaten Nachbarrechts Die Entwicklung, auf Unwissenheit mit einer Verschärfung des Haftungsrechts zu reagieren, belegt auch die jüngste Novelle zum Gentechnikgesetz.163 Sie regelt die Koexistenz von konventioneller und unter Einsatz von Gentechnik betriebener Landwirtschaft. Durch diese Reformierung erfolgt die überfällige Umsetzung der wesentlichen Aspekte der Freisetzungsrichtlinie. 164

1. Das Nachbarrecht als Ausgleich zwischen Koexistenz- und Förderzweck Nach der Neufassung steht der Gesetzeszweck der Koexistenz gleichberechtigt neben dem Schutz- und dem Förderzweck. 165 Ziel ist ein verträgliches Nebeneinander der Wirtschaftsformen mit einer Wahlfreiheit des Verbrauchers. 166 Ein weLadeur, BB 1993, S. 1303 (1308); eingehende Kritik der Lehre von der besonderen Gefahr bei Blaschczok, S. 53 ff., 69 ff. 162 Dazu Kloepfer, NuR 1990, S. 347, der auch die rechtspolitische Tendenz kritisiert, immissionsverursachende Tätigkeiten als grundsätzlich über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehend anzusehen. Vgl. die sozialwissenschaftliche Begleitstudie zur konkreten Umsetzung eines Förderprogramms bei Conrad, Grüne Gentechnik - Gestaltungschance und Entwicklungsrisiko, 2005. 1 63 Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts vom 21. 12. 2004 mit Wirkung vom 4. 2. 2005, BGBl. 2005 I, S. 186. 164 Richtlinie 2001/18/EG über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt, ABl. EG L 106 vom 17. 4. 2001, S. 1. Überblick über den schleppend verlaufenen Umsetzungsprozeß bei Chotjewitz, ZUR 2003, S. 270. Wegen unterlassener Umsetzung obsiegte die Kommission auch im Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH, Urteil v. 15. 7. 2004 - Rs. C-420/03, Kommission . / . Deutschland. 165 § 1 GenTG. Zum Gesetzeszweck der Förderung der Gentechnik Herdegen, in: Eberbach/Lange/Ronellenfitsch, Gentechnikrecht/Biomedizinrecht, Bd. 1, § 1 Rn. 22 ff. 166 Ihrem Schutz dienen die Kennzeichnungsvorschriften bei Lebensmitteln in dem unmittelbar geltenden Art. 12 Abs. 2 der VO 1829/2003 über gentechnisch veränderte Lebensnüttel- und Futtermittel, ABl. EG L 268 vom 18. 10.2003, S. 1; vgl. bisher Art. 21 Abs. 1 RL 2001 /18/EG und jetzt § 17b Abs. 1 S. 1 GenTG.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko" und seine Herkunft

sentlicher Bestandteil des ausgewogenen Interessenausgleichs zwischen gentechnisch und gentechnikfrei wirtschaftenden Landwirten ist das Haftungsrecht. 167 Die Gefahrdungshaftung der §§ 32 ff. GenTG greift nur bei Schäden durch Freisetzungen und ungenehmigtes Inverkehrbringen. Beim Anbau rechtmäßig in Verkehr gebrachter gentechnisch veränderter Organismen (GVO) ist die Lösung des Konflikts im privaten Nachbarrecht verortet (§§ 906,1004 BGB); 1 6 8 diese Normen sind zum engen Kern der Haftungsregelungen des Umwelt- und Technikrechts zu zählen, weil sie nachbarrechtliche Abwehr- und Ausgleichsansprüche bereitstellen und den Maßstab für Schadensersatzansprüche bilden. 169 Für das Koexistenzproblem konventioneller und gentechnisch veränderter Pflanzen stellen die §§ 906, 1004 BGB wegen der Unanwendbarkeit des § 32 GenTG sogar die Zentralnormen dar. 170 Danach kann demjenigen, dessen Grundstück durch den Eintrag gentechnisch veränderten Pollens beeinträchtigt wird, unter bestimmten Voraussetzungen ein Abwehr- oder Entschädigungsanspruch zustehen. Trotz der eingespielten Spruchpraxis der Gerichte kann die Anwendung der nachbarrechtlichen Grundsätze auf das neue Feld der Grünen Gentechnik zu Rechtsunsicherheit führen. 171 Die Novelle hat diese Frage vor Augen und konkretisiert die zivilrechtlichen Normen, um Klarheit bei ihrer Auslegung zu schaffen. 2. Der Regelungsinhalt des § 36a GenTG § 36a GenTG n. F. bewirkt eine strenge nachbarrechtliche Haftung nach § 906 BGB, indem bestimmte Beeinträchtigungen aufgrund gentechnisch veränderter Organismen als wesentlich gelten. Ferner werden die Beurteilung der Ortsüblichkeit sowie der Kausalitätsnachweis modifiziert. 172 a) Die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung Nach dem System der §§ 1004, 906 BGB sind unwesentliche Beeinträchtigungen vom Eigentümer zu dulden. § 36a Abs. 1 GenTG bestimmt die Auslegung der Wesentlichkeit anhand der wirtschaftlichen Folgen für den Eigentümer. Die Beein167 Siehe nur Palme, ZUR 2005, S. 119 (125 ff.); Stökl, ZUR 2003, S. 274. 168

Palme, ZUR 2005, S. 126; diese Einordnung entspricht auch der Rechtsprechung, siehe OLG Stuttgart, ZUR 2004, S. 28. 169 Höpke/Thürmann, in: Rengeling, EUDUR, Rn. 72 ff. Zum Verhältnis von § 906 BGB und dem UmweltHG Petersen, Duldungspflicht und Umwelthaftung, 1996; näher zur Umwelthaftung nach §§ 823, 906 BGB Günther, Umweltvorsorge und Umwelthaftung, 200 und Versen, Zivilrechtliche Haftung für Umweltschäden, 1991. 170 Vgl. Herdegen, Koexistenz und Haftung, 2004; Wolfers/Kaufmann,

ZUR 2004, S. 321.

171 Das konstatieren Wolf ers / Kaufmann, ZUR 2004, S. 321 ff.; Stökl, ZUR 2003, S. 274 (276 f.). 172 Entwurf des Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts vom 16. 01. 2004, Unterpunkt 34.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

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trächtigungen durch Einträge von GVO sind insbesondere wesentlich, wenn wegen der Übertragung das Produkt nicht in Verkehr gebracht werden darf, mit dem Hinweis auf die gentechnische Veränderung versehen werden muß oder nicht mehr mit einem Kennzeichen für eine besondere Produktionsweise („ohne Gentechnik") in den Verkehr gebracht werden darf. 173 Diese Beeinträchtigungen sind somit grundsätzlich abwehrfähig. Hintergrund der Regelung ist der merkantile Minderwert der Produkte. Die Aufzählung in § 36a Abs. 1 GenTG ist vom Wortlaut her nicht abschließend, europarechtskonform aber auf die ausdrücklich genannten Fallgruppen zu beschränken. 174

b) Die Ortsüblichkeit und die wirtschaftliche Zumutbarkeit der Vermeidung Ein Abwehranspruch des Eigentümers, also des ökologisch wirtschaftenden Landwirts, besteht indes nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB nur, wenn die Beeinträchtigung ortsunüblich ist und nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen des Benutzers des anderen Grundstücks, d. h. des Gentechniklandwirts, verhindert werden kann. Bei der Frage der Ortsüblichkeit zieht sich der Gesetzgeber auf eine neutrale Position zurück: 175 Nach § 36a Abs. 3 GenTG kommt es nicht darauf an, ob der Anbau mit oder ohne GVO erfolgt. Das bedeutet, der Einsatz von GVO läßt sich nicht schon mit dem Hinweis auf die mangelnde Ortsüblichkeit verbieten. Umgekehrt ist der Anbau von GVO nicht gleich deshalb ortsüblich, weil das Gebiet gentechnischer Landwirtschaft geprägt ist. 1 7 6 Zur Konkretisierung des wirtschaftlich Zumutbaren verweist § 36a Abs. 2 auf die gute fachliche Praxis nach § 16b Abs. 2, 3 GenTG. Erst wenn der GVO verwendende Landwirt diese nicht einhält und das Nachbarfeld durch den Eintrag von GVO beeinträchtigt, ist er dem Abwehr- und Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB ausgesetzt. Entsteht eine wesentliche Beeinträchtigung durch GVO trotz der Einhaltung der guten fachlichen Praxis, steht dem Nachbar der Entschädigungsanspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 zu.

c) Die gesamtschuldnerische Haftung Auskreuzungen sind für den Geschädigten häufig nur schwer zu beweisen und einem bestimmten Verursacher zuzuordnen. Diese Beweisnot verschärft sich, wenn mehrere Nachbarn den gleichen GVO einsetzen. Bei solchen Verursacher173 Die Regelung führt zu einer „erheblichen Verwaltungsakzessorietät der Umwelthaftung", Kohler, NuR 2005, S. 566 (567). 174 Palme, ZUR 2004, S. 126; dazu auch sogleich unter 4. 175 Anders wohl Wolfers/Kaufmann, ZUR 2004, S. 326.

"6 Kohler, NuR 2005, S. 568.

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1. Teil: Der BegriffEntwicklungsrisiko"

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d seine Herkunft

zweifeln bestimmt § 36a Abs. 4 GenTG eine gesamtschuldnerische Haftung aller regionalen Anbauer der entsprechenden gentechnisch veränderten Pflanzen. 3. Die Bewertung der Neuregelung Konstruiert wird folglich ein umfassendes Abwehr- und Haftungssystem, das die Herstellung gentechnikfreier Produkte zu einem eigenen Rechtsgut aufwertet. 1 7 7 Das geschieht, obwohl bisher noch keine spezifischen gesundheitlichen Risiken gentechnisch veränderter Pflanzen nachgewiesen wurden. Zwar wird betont, die Reform orientiere sich nicht an der Frage der Gefährlichkeit. 178 Doch faktisch richtet sich die Haftung gegen die unklaren Gefahrenpotentiale der Grünen Gentechnik. Die Verschärfung des Haftungsrechts transportiert die Botschaft, man müsse möglicherweise mit unüberschaubaren Gefahrenpotentialen rechnen. Das Beispiel der Grünen Gentechnik zeigt die innovationshemmende Wirkung strikten Haftungsrechts auf. So ist aus dieser Verschärfung bereits der Schluß gezogen worden, die agrarische Gentechnik stehe in Deutschland vor dem Aus. Der Deutsche Bauernverband hat seinen Mitgliedern deswegen geraten, das neue Saatgut nicht zu verwenden. Das Haftungsrisiko kann nach momentanem Stand auch nicht von Versicherungen aufgefangen werden. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft hat erklärt, versichern könne man nur Risiken, der Pollenflug sei aber naturgegebene Gewißheit. 179 Die Einführung einer „de facto Gefahrdungshaftung" 180 wird vor diesem Hintergrund teilweise im Widerspruch zur Freisetzungsrichtlinie gesehen.181 Die Reform schaffe ein unverhältnismäßig hohes Haftungsrisiko. 182 Daher hatte der Bundesrat einen Änderungsvorschlag eingebracht, nach dem Ausgleichspflicht nach § 906 Abs. 2 BGB entfällt, wenn allen Vorsorgepflichten, insbesondere der guten fachlichen Praxis nach § 16 b Abs. 2, 3 GenTG, nachgekommen wurde. 183 Dieser Vorschlag wurde jedoch nicht Gesetz. 177

Herdegen, S. 2. Die Freisetzungsrichtlinie dient indes allein dem Gesundheits- und Umweltschutz, nicht dem Schutz der konventionellen oder ökologischen Landwirtschaft. Die Frage der Koexistenz ist vielmehr wirtschaftlicher Natur, siehe dazu die Empfehlung der Kommission vom 23. 7. 03, Ziff. 1.2. und Roller, ZUR 2005, S. 113 (115). 178 Verbraucherschutzministerin Künast, vgl. Artikel „Harte Regeln für die Gentechnik" der FAZ vom 27. 11.2004. 179 Zum Ganzen: Artikel „Innovationshü, Innovationshott" der FAZ vom 12. 07. 2004. 180 BR-Drucks. 131/04, Nr. 82 zu Art. 1 Nr. 34. 181 Vgl. die Rüge der Kommission vom 26. 07. 2004; siehe auch Dolde, ZRP 2005, S. 25. 182 Das Gesetz wird als „Gentechnikverhinderungsgesetz" gesehen, vgl. Artikel „Harte Regeln für die Gentechnik" der FAZ vom 27. 11. 2004. Das rasante Wachstum der Grünen Gentechnik vollzieht sich lediglich in einigen Industrieländern (USA, Kanada) sowie in Entwicklungs- und Schwellenländern (Brasilien, Indien). China wird 2005 erstmals gentechnisch veränderte Reispflanzen zulassen und so diese Technologie weiter vorantreiben, vgl. Artikel „Eine bäuerliche Technikkultur" der FAZ vom 14. 01. 2005. 183 BR-Drucks. 131 /04 Nr. 82 zu Art. 1 Nr. 34.

1. Kap.: Recht der Produkthaftung

65

Angesichts der wissenschaftlich noch nicht geklärten Risiken der Grünen Gentechnik, 184 also der möglichen Existenz von Entwicklungsrisiken, erscheint es aus dem anderen Blickwinkel des Vorsorgeprinzips und der Biodiversität zugleich berechtigt, die gentechnikfreie Landwirtschaft zu schützen.185 Zudem wird von der teilweise harschen Kritik verkannt, daß die Rechtsprechung auch ohne § 36a GenTG bei der Auslegung von § 906 BGB zu ähnlichen Ergebnissen gelangt wäre. 186 Der verschuldensunabhängige Ausgleichsanspruch wird durch die besondere Situation des nachbarlichen Näheverhältnisses gerechtfertigt, das zu gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet. 187 Die Grüne Gentechnik kann hier keine Sonderbehandlung - gleich in welche Richtung - genießen. Beispielsweise ist etwa die angegriffene gesamtschuldnerische Haftung üblich, wenn bei summierten Einwirkungen die Verursachungsbeiträge nicht vom Gericht geschätzt und aufgeteilt werden können. 188

4. Die Vereinbarkeit

mit EU-Recht

Auf europäischer Ebene ermächtigt nun Art. 26a Abs. 1 der Freisetzungsrichtlinie die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung gentechnisch veränderter Organismen in anderen Produkten zu treffen. Diese Ermächtigung steht im Einklang mit dem Koexistenzkonzept der Kommission und erlaubt ausdrücklich auch die Anpassung des Haftungsrechts. 189 Daher verstößt § 36a GenTG nicht gegen die Freiverkehrsklausel des Art. 22 der Freisetzungsrichtlinie. Trotzdem ist die Haftung des GVO einsetzenden Landwirts auch im Hinblick auf den freien Warenverkehr verhältnismäßig auszugestalten. Hier ist vor allem die nicht enumerativ, sondern durch den Zusatz „insbesondere" generalklauselartige Formulierung des § 36a Abs. 1 GenTG problematisch. 190 Eine europarechtskonforme restriktive Auslegung ist hier allerdings möglich. 191

184 Risikobezogen etwa Tappeser, Von Restrisiken, Risikoresten und Risikobereitschaft, in Spök/Hartmann/Loining (Hrsg.), GENug gestritten?! Gentechnik zwischen Risikodiskussion und gesellschaftlicher Herausforderung, 2000, S. 17 ff.; chancenbezogen Dederer, Gentechnikrecht im Wettbewerb der Systeme, 1997, S. 56 ff. 185 Ebenso Palme, ZUR 2005, S. 120. 186 Palme, ZUR 2005, S. 127.

187 Bassenge, in: Palandt, § 906 Rn. 31; aus der st. Rspr. BGHZ 42, 374; 111, 63. 188 Siehe § 287 ZPO. Aus der Rechtsprechung BGHZ 66, 70; 85, 375. 189 Koexistenzrichtlinien Nr. 2.1.9., ABl. EG L 189/42 vom 23. 7. 2003. 190 Herdegen, S. 24 f.; Wolfers/Kaufmann, ZUR 2004, S. 327. Das Problem besteht hier darin, daß nach dem Wortlaut Beeinträchtigungen als wesentlich gelten können, die den für die Kennzeichnungspflicht geltenden Schwellenwert von 0,9 % für Einträge von GVO in einem Produkt unterschreiten. 191 Palme/Schlee/Schumacher, 5 Löbbecke

EurUP 2004, S. 179.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

un

d seine Herkunft

2. Kapitel

Die Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht Die Definition des Begriffs „Entwicklungsrisiko" als eine nach dem Stand von Wissenschaft und Technik unerkennbare Schadenseignung eines Produkts, einer Emission oder einer schlichten Tätigkeit 192 wirft selbst wieder zahlreiche Fragen auf. Bevor der unbestimmte Rechtsbegriff des „Standes von Wissenschaft und Technik" ausgefüllt wird, muß zunächst präzisiert werden, welches Risiko genau unerkennbar ist und nach welchen Kriterien die mangelnde Erkennbarkeit bestimmt wird. Zu untersuchen sind deshalb der Gegenstand (A. I.) und die Art (A. II.) der Unerkennbarkeit. Zudem stellen sich Abgrenzungsfragen zu ähnlichen Konstellationen, die häufig im Zusammenhang mit Entwicklungsrisiken genannt werden (B.). Daran schließt sich die Erläuterung des Standards des Standes von Wissenschaft und Technik an (C.). Dieser Rechtsbegriff stellt den eigentlichen Maßstab für die Beurteilung auf, ob ein Entwicklungsrisiko anzunehmen ist. Die Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" kann jedoch nur erschlossen werden, wenn die Begriffsteile „Risiko" und vor allem „Entwicklung" näher beleuchtet werden (D.). Zuletzt ist ein abstraktes Problem auf Beispiele angewiesen (E.).

A. Die Unerkennbarkeit als Hauptcharakteristikum I. Der Gegenstand der Unerkennbarkeit Einer Aufhellung bedarf die zuweilen durch eine vielfaltige Terminologie verdeckte Frage, worauf sich die Unerkennbarkeit bei Entwicklungsrisiken qua definitionem bezieht. Denkbar ist, daß schon die generelle Bekanntheit eines allgemeinen Fehler- und Gefahrdungspotentials genügt, um ein Entwicklungsrisiko zu verneinen. Der Anwendungsbereich der Freistellung vom Entwicklungsrisiko wäre in diesem Fall schmaler als wenn erst bei Kenntnis des konkreten Fehlers die Haftung durchgreifen würde. Gefragt werden muß daher nach dem Gegenstand der zur Annahme eines Entwicklungsrisikos notwendigen Unerkennbarkeit. Die Literatur zum Produkthaftungsgesetz befaßt sich mit dieser Frage vor dem Hintergrund des Problems, ob der Entlastungsgrund des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG nur Konstruktionsfehler betrifft oder auch bei Ausreißern (also Fabrika192

Der Begriff „Entwicklungsrisiko" wird in den verschiedenen Bereichen des Umwelt-, Produkt- und Technikrechts übereinstimmend in diesem Sinn verstanden, vgl. nur Deutsch/ Ratzel § 84 AMG, Rn. 11; Rehbinder in: Landmann/Rohmer, § 1 UmweltHG Rn. 21; Schmidt-Salzer, Umwelthaftungsrecht, § 1 UmweltHG Rn. 25; Lege, Das Recht der Bio- und Gentechnik, in: Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 669 (740).

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

67

tionsfehlern) Anwendung finden kann. 193 Schon aus dem Umstand, daß die Unerkennbarkeit eines Fehlers und nicht allein dessen Unvermeidbarkeit das Wesen eines Entwicklungsrisikos ausmacht,194 wird hergeleitet, es sei auf die Erkennbarkeit des Fehlerrisikos abzustellen.195 Dadurch sollen lediglich unvermeidbare Fehler, in der Regel Ausreißer, von vornherein ausgenommen werden. Allerdings können und müssen beide Fragen um der Klarheit willen getrennt werden. Auch Ausreißer können nach dem Stand von Wissenschaft und Technik objektiv unerkennbar sein, wenn etwa die Rohstoffe oder Fertigungstechniken nur teilweise oder vorübergehend fehlerhaft sind, die Konstruktion als solches aber nicht mangelhaft ist. 1 9 6 Die Verschiedenheit beider Fragen zeigt sich auch in einem Urteil des BGH. Der VI. Zivilsenat hebt ausdrücklich hervor, daß die seit langem bekannte „potentielle Gefährlichkeit von Mehrwegflaschen" die Berufung auf ein Entwicklungsrisiko ausschließt, obwohl er zuvor die Möglichkeit von Entwicklungsfehlern in der Fertigung generell verneint hat. 1 9 7 Die Rechtslehre schließt sich weitgehend dieser Ansicht an, indem sie die Unerkennbarkeit auf das dem Produkt immanente Fehlerrisiko bzw. - in der Formulierung der amtlichen Begründung und des BGH - die potentielle Gefährlichkeit bezieht. 198 Diese Deutung legt auch schon die Bezeichnung Entwicklungsrisiko nahe, wenn man Risiko als Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung versteht. 199 Wenn die Möglichkeit von Produktfehlern bekannt ist, würde eine Haftungsfreistellung zudem den Zweck des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG sachwidrig überdehnen. Der Hersteller soll von der Haftung für Fehler befreit werden, die sich erst wegen des gesellschaftlichen Erkenntnisfortschritts gezeigt haben. Muß ein Hersteller bei Beachtung des Standes von Wissenschaft und Technik schon ursprünglich mit der Möglichkeit von Schäden rechnen, ist seine Privilegierung nicht zu rechtfertigen. Angesichts der Komplexität der technischen Verfahren und der Offenheit des wissenschaftlichen Prozesses kann jedoch in den meisten Fällen keine absolut sichere Aussage über die Unbedenklichkeit einer bestimmten Technologie getroffen werden. Auch dem Hersteller ist die Unvollkommenheit sowohl seines als auch des gesamten objektiven Wissens bewußt. 200 Daher reicht nicht schon jedes 193 Zur Kontroverse Lorenz, ZHR 151 (1987), 1 (14). 194

Siehe sogleich näher B.I. zum Begriff der Entwicklungslücke. 195 Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 120. 196 Foerste, JZ 1995, 1063; a.A. Wagner in: Münchener Kommentar zum BGB, § 1 ProdHaftG Rn. 56, der davon ausgeht, daß sich Fabrikationsfehler letztlich immer aufspüren lassen. 197 BGHZ 129, 353 (360). 198 Sprau, in: Palandt, § 1 ProdHaftG Rn. 21; Hager, in: Staudinger, BGB, 1999, § 823 F19; Foerste, JZ 1995, 1063. 199 Siehe dazu § 2 Abs. 6 des UGB-Professoren-Entwurfs, Kloepfer/Rehbinder/SchmidtAßmann /Kunig. *

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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d seine Herkunft

unbestimmte Fehlerrisiko in Form eines rein abstrakten Gefahrbewußtseins zum Ausschluß eines Entwicklungsrisikos. Der stets vorhandene abstrakte Gefährlichkeitsverdacht endet erst bei konkreten Anzeichen für eine Schädlichkeit. Der Anwendungsbereich von Entwicklungsrisiken liegt demnach vom erforderlichen Wissensgrad her unterhalb einer aufgrund konkreter Anhaltspunkte für möglich gehaltenen Gefährdung. Entwicklungsrisiken bewegen sich nahe dem Extrempol der Unkenntlichkeit, der einen Zustand „vollkommen unvollkommenen Wissens" 201 beschreibt, in dem nicht nur die inhaltliche Ausgestaltung eines Sachverhalts oder die Eintrittswahrscheinlichkeit unvorhersehbar sind, sondern auch die Existenz und Art eines zukünftigen Ereignisses. Das erhebliche objektive technische und wissenschaftliche Wissen muß folglich unvollkommen sein bezüglich der Art und Beschaffenheit des möglichen Fehlers. 202 Mit anderen Worten sind weder die möglichen Handlungsverläufe noch ihre Folgen abschätzbar 2 0 3

II. Die Art der Unerkennbarkeit Es kommt in einem nächsten Schritt darauf an, nach welchen Kriterien die Erkennbarkeit oder Voraussehbarkeit der Gefahrenquelle bestimmt wird. In Betracht kommen sowohl die subjektive Perspektive des einzelnen Herstellers als auch eine objektive Betrachtungsweise.

1. Die Unerheblichkeit der individuellen

Vorhersehbarkeit

Die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten des konkreten Herstellers oder Emittenten können nicht entscheidend sein. 204 Diese sind für die Verschuldenshaftung zwar festzustellen, um einen Fahrlässigkeitsvorwurf zu begründen. Das Produkthaftungsgesetz hingegen statuiert nach dem Willen des Gesetzgebers eine Gefahrdungshaftung oder jedenfalls eine verschuldensunabhängige Unrechtshaftung. 205 200 Der Zustand, daß sich ein Individuum über die Unvollkommenheit seines Wissens bewußt ist, wird mit dem Begriff des „vollkommenen Metawissens" gekennzeichnet, vgl. Wessling, Individuum und Information, 1991, S. 38, 50 ff. 201 Vgl. Kühn-Gerhard, S. 138 ff. 202 Kühn-Gerhard, S. 144. 203 Ladeur, Risikooffenheit und Zurechnung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 (122) spricht von „Ignoranz" oder „Ungewißheit im engeren Sinne"; ebenso Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, S. 161. 204 Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 126; Kulimann/Pfister, Kza. 3602 S. 21 f.; Frietsch, DB 1990, S. 29 (32); v. Westphalen, NJW 1990, S. 83 (85), hält diese abstrakte Interpretation für eine „blanke Selbstverständlichkeit". 205 Siehe zum Streit um die systematische Einordnung der Haftung nach dem ProdHaftG einerseits für Gefährdungshaftung u. a. Rolland, Produkthaftungsrecht, 1990, § 1 Rn. 4 ff., 7; Taschner/Frietsch, Einf. vor § 1; für Verschuldenshaftung andererseits Häsemeyer, Das Pro-

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

69

Der Grundgedanke des Haftungsausschlusses bei Entwicklungsrisiken beruht darauf, bestimmte Schäden von der Zurechnung aus übergeordneten Gründen auszunehmen. 206 Im Falle der Realisierung eines Entwicklungsrisikos wird der Schaden dem Hersteller als Gefahrsetzer nicht zugerechnet, weil dieser ex ante nicht erkennbar war. Wahrend es im Rahmen der Verschuldenshaftung (§ 823 Abs. 1 BGB) in diesem Fall wegen mangelnder individueller Voraussehbarkeit bereits am Tatbestand fehlt, 207 muß der Bezugspunkt bei der bloßen Gefahrverursachung vom Individuum auf eine abstraktere Ebene abheben. Wenn es wie bei der Verschuldenshaftung auf die Erkennbarkeit des Schadens nach den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten ankäme, unterschiede sich die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz nicht von der deliktischen Fahrlässigkeitshaftung. 208

2. Der Stand von Wissenschaft und Technik als objektiver Maßstab Maßgebend ist deshalb der allgemeine historische Wissensstand, der durch den Begriff des Standes von Wissenschaft und Technik in Bezug genommen wird. 2 0 9 Die rechtzeitige Wahrnehmung des Sicherheitsmangels muß aufgrund des unzureichenden gesamten wissenschaftlichen und technischen Risikowissens unmöglich sein. 210 Die objektiv vorhandenen schädigenden Eigenschaften sind in einem solchen Fall trotz Anwendung aller Erkenntnis-, Prüf- und Testverfahren nicht zu entdecken.211 Entwicklungsrisiken bewegen sich demnach außerhalb der „Grenzen menschlicher Gefahrenerkenntnis" 212. Anschaulich formuliert der Referentenentwurf zum Produkthaftungsgesetz, daß die Haftung nur ausgeschlossen sein solle, wenn „die potentielle Gefährlichkeit von niemandem erkannt werden konnte". 213 dukthaftungsgesetz im System des Haftungsrechts, Festschrift für Niederländer, 1991, S. 251 (260 ff.); Kötz, Ist die Produkthaftung eine vom Verschulden unabhängige Haftung?, in: Festschrift für Lorenz, 1992, S. 109; abweichend Schmidt-Salzer/Hollmann, Kommentar EGRichtlinie Produkthaftung, 1986, Bd. 1, Art. 1 Rn. 12: „verschuldensunabhängige Unrechtshaftung" und Deutsch, JZ 1989, S. 465 ff. (470): „von der Verschuldenshaftung weiterentwikkelte objektive Haftung 44. 206 Siehe oben im 1. Kapitel unter D. in. 207

Diese Haftungslücke betonen deutlich Deutsch/Spickhoff, Rn. 1126; vgl. auch Nicklisch, NJW 1986, S. 2287 (2291) und oben im 1. Kapitel unter B. 208 Dieser Vorwurf wird im Zusammenhang mit der doch wieder individualisierenden Voraussetzung der Verfügbarkeit des objektiven Wissens ohnehin erhoben, siehe Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, Einl. ProdHaftG, Rn. 16 m. w. N. Dazu auch noch unten in diesem Kapitel unter C. V. 2. 209 Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 111, 122; Taschner, NJW 1986, S. 611 (615). 210 Vgl. Falke, Rechtliche Aspekte der Normung in den EG-Mitgliedstaaten und der EFTA, Bd. 3, 2000, S. 470. 211 Taschner/Frietsch, Einführung Rn. 95. 212 Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 108.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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d seine Herkunft

Nach der insofern etwas einschränkenden amtlichen Gesetzesbegründung ist objektiv auf den Stand von Wissenschaft und Technik abzustellen, der gegebenenfalls über Ländergrenzen hinausreicht. 214 Zusammenfassend kann das Wesen des Entwicklungsrisikos durch die mangelnde objektive Erkennbarkeit der Fehlerhaftigkeit bzw. Gefährlichkeit charakterisiert werden. Wird eine Schadensmöglichkeit im Einzelfall trotz objektiv gegebener Erkennbarkeit nicht erkannt, hat sich kein Entwicklungsrisiko realisiert. Die Rechtsprechung hat sich dieser Auslegung im wesentlichen angeschlossen. Der BGH faßt unter den Begriff des Entwicklungsrisikos die Fälle, in denen die gefahrliche Eigenschaft mit allen der Wissenschaft und Technik zur Verfügung stehenden Mitteln trotz aller Sorgfalt nicht zu entdecken war. Er stellt ebenfalls auf die Inverkehrgabe als ursächliches Verhalten ab. Die Haftung sei begrenzt auf das in diesem Zeitpunkt objektiv Mögliche, nämlich auf die Verwertung des verfügbaren Gefahrwissens. 215

B. Die Abgrenzung zu anderen Konstellationen Das Entwicklungsrisiko ist von in der Sache und Terminologie ähnlichen Konstellationen abzugrenzen. Ein solcher Bedarf besteht zunächst im Fall von Entwicklungslücken. Zu erläutern ist darüber hinaus, ob das Wachsen von Sicherheitsanforderungen aufgrund veränderter gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung zu der Annahme eines Entwicklungsrisikos führen kann.

I. Die sogenannten „Entwicklungslücken" Begrifflich scharf zu trennen ist die Konstellation des Entwicklungsrisikos von einer sogenannten Entwicklungslücke 2 1 6 Dieser Begriff soll Situationen beschreiben, in denen die Gefährlichkeit eines Produkts oder eines Stoffes bereits bei dessen Inverkehrgabe bzw. Emission bekannt oder zumindest erkennbar war. 217 Nach dem damaligen Wissensstand konnten die Gefahren allerdings nicht beherrscht werden. Ein Beispiel bildet die Infektionsgefahr durch Blutkonserven mangels me213 Abgedruckt in PHI, 1987, S. 104. 214 Amtl. Begründung zum ProdHaftG, BT-Drucks. 11 /2447, S. 15. 215 BGHZ 129, 353 (358) - Mineralwasserflasche; ähnlich schon BGHZ 51, 91 (105) Hühnerpest; 80, 186 (193) - Apfelschorf. 216 Begriffsprägend Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Bd. III/1,1990, Rn. 4.1112. 217 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 82 ff.; Taschner/Frietsch, Einführung Rn. 97, § 1 Rn. 100; Kulimann/Pfister, Kza. 3602 S. 21; undifferenziert werden allerdings beide Konstellationen auch unter den Begriff „Entwicklungsgefahr" gefaßt bei Kötz/Wagner, Rn. 448.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im H a f t u n g s r e c h t 7 1

dizinischer Möglichkeit zum Antikörpertest auf HIV bis ins Jahr 1984. 218 Wie bei Entwicklungsrisiken besteht deshalb im Ergebnis eine unvermeidbare Gefahr. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Kategorien besteht jedoch darin, daß es im Fall einer Entwicklungslücke ausschließlich an der Vermeidbarkeit und nicht einen Schritt zuvor schon an der Erkennbarkeit der potentiellen Schädigung fehlt. Entwicklungslücken überschreiten demnach die „Grenzen der menschlichen Problemlösungsmöglichkeiten"219. Die Gefährlichkeit als solche stand von Anfang an fest oder war doch objektiv vorhersehbar. Aus diesem Umstand folgert die weit überwiegende Ansicht zu Recht, daß Entwicklungslücken nicht von dem Haftungsausschluß des § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG erfaßt werden. 220

II. Gesteigerte Sicherheitsanforderungen und -erwartungen Ahnlich dazu liegt die Konstellation, daß sich im Laufe der Zeit die Sicherheitsanforderungen an ein Produkt erhöht haben. Einer erkennbaren Gefahr, wie zum Beispiel den Verletzungsgefahren beim Autofahren, wird zunächst kaum, im Laufe eines Prozesses der technischen Weiterentwicklung aber immer wirkungsvoller begegnet; z. B. erst durch den Sicherheitsgurt, später durch den Airbag. Wegen der gestiegenen Sicherheitsanforderungen soll nach vereinzelter Ansicht das ursprüngliche Produkt, im Beispiel der Pkw älteren Baujahres ohne Airbag, nach Inverkehrbringen eines neuen Modells mit Airbag fehlerhaft werden und ebenfalls ein Entwicklungsrisiko vorliegen. 221 Diese Situation steht allerdings der Kategorie der Entwicklungslücke näher und wird oft unter diesen Begriff subsumiert. 222 Immerhin ist ein Gefährdungspotential erkennbar, das nur stückweise im Gleichklang mit den gewachsenen Sicherheitserwartungen und technischen Möglichkeiten reduziert wird. In diesem Zusammenhang kann unterentwickeltes Gefahrenbewußtsein in der Gesellschaft dazu beitragen, daß auch technisch mögliche Verbesserungen wie Sicherheitsgurte und Kopfstützen im Pkw erst verhältnismäßig spät vorgenommen werden. 223 Das prägende Merkmal eines Entwicklungsrisikos, die objektive Unerkennbarkeit der Schädlichkeit, ist in diesen Fällen jedoch nicht vorhanden: Die Verletzungsgefahren bei der Teilnahme am Straßenverkehr sind hinlänglich bekannt. 218 Vgl. OLG Hamburg, NJW 1990, S. 2322. 219 Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 109. 220 Dazu nur Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 123; a.A. wohl v. Westphalen in: ders. (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, Bd. 2, 1999, § 72 Rn. 77, dem hinsichtlich der Kritik am Begriff Entwicklungslücke als sprachlich unscharf allerdings recht zu geben ist. Gegen eine Gleichbehandlung auch Böhmeke-Tillmann, S. 89 ff. 221 Lorenz, ZHR 151 (1987), S. 23. 222 Vgl. Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 1 ProdHaftG Rn. 55; Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 84 ff.; Taschner, NJW 1986, S. 611 (615). 223 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 89.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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Die Annahme, gewachsene Anforderungen führten zur Fehlerhaftigkeit eines Produkts, hätte zudem eine stark innovationshemmende Wirkung. Kein Hersteller würde sein Produkt verbessern, damit das Vorgängerprodukt nicht nachträglich fehlerhaft wird. 2 2 4 Ferner stünde die Ansicht im Widerspruch zur ausdrücklichen Regelung des § 3 Abs. 2 ProdHaftG, nach der nicht deshalb ein Produktfehler vorliegt, weil später ein verbessertes Produkt in den Verkehr gebracht wurde. Der Norm kommt allerdings nur eine deklaratorische Funktion zu, weil bereits § 3 Abs. 1 lit. c) ProdHaftG den Fehlerbegriff an die Sicherheitsanforderungen zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens knüpft. Der Begriff Entwicklungsrisiko muß aus diesen Gründen den Situationen vorbehalten bleiben, in denen ein Schadensrisiko objektiv nicht erkennbar ist. Diesen Sinngehalt drückt auch die Bezeichnung „Verborgenheitsrisiko" treffend aus. 225

C. Der „Stand von Wissenschaft und Technik" als zentraler Bezugspunkt der Definition des Entwicklungsrisikos Da die objektive Erkennbarkeit der Gefährlichkeit an den Stand von Wissenschaft und Technik gekoppelt ist, richtet sich das Vorliegen eines Entwicklungsrisikos maßgeblich nach der Auslegung dieses Rechtsterminus. Faßt man den Begriff weit, um einen möglichst hohen Erkenntnisstand einzubeziehen, verringert sich der Anwendungsbereich von Entwicklungsrisiken erheblich. Reziprok liegt desto eher ein Fall des Entwicklungsrisikos vor, je niedriger die Anforderungen bemessen werden.

I. Der Zweck der Technikklauseln Durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „Stand von Wissenschaft und Technik" soll das Recht flexibel und dynamisch auf die zunehmend schneller werdende technische und wissenschaftliche Entwicklung reagieren können. Mittels der Bestimmung eines bestimmten Standes innerhalb eines ununterbrochenen Entwicklungsprozesses wird eine fiktive Bestandsaufnahme, eine Momentaufnahme, erstellt. 226 Im Rahmen des Entlastungsbeweises nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG wird beispielsweise der jeweils gültige Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts festgestellt. 227 Auf diese Weise ermöglicht der Begriff die Rezeption von Sachverstand durch die 224 Taschner, NJW 1986, S. 615. 225 Taschner/Frietsch, § 1 Rn. 109. 226 Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S. 158; Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 113. 227 v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 87.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

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Rechtsordnung und gewährleistet dadurch nicht zuletzt Sachgerechtigkeit. 228 Sinn und Zweck der legislativen Verwendung des Standes von Wissenschaft und Technik ist es, einen anpassungsfähigen Maßstab des rechtlich Erforderlichen aufzustellen, an dem sich die Maßnahmen zur Gefahrenvermeidung und -reduzierung messen lassen müssen.229 n . Erste Konkretisierung des Begriffes „Stand von Wissenschaft und Technik" Ein gesicherter Sprachgebrauch des Begriffes „Stand von Wissenschaft und Technik" existiert allerdings nicht. 2 3 0 Der Gesetzgeber beschreibt diesen als „Inbegriff der Sachkunde, die im wissenschaftlichen und technischen Bereich vorhanden ist, also die Summe an Wissen und Technik, die allgemein anerkannt ist und allgemein zur Verfügung steht". 231 Diese Formulierung schließt erkennbar an die schon vom Reichsgericht geprägte Definition des Standes der Technik als „formelhafte Bezeichnung für die Gesamtheit der auf dem fraglichen Gebiet bis zu einem gegebenen Zeitpunkt gewonnenen und anerkannten technischen Erkenntnisse" an. 2 3 2 Diese Definitionen nimmt auch die Literatur zum Ausgangspunkt.233 Weiterhin könnte auf Literatur und Judikatur zu den Vorschriften zurückzugreifen sein, in welche die Begriffe „Stand der Technik" oder „Stand von Wissenschaft und Technik" als Rechtsbegriffe aufgenommen wurden. Für das Immissionsschutzrecht ist der Stand der Technik in § 3 Abs. 6 S. 1 BImSchG definiert. Verweisungen auf den Stand von Wissenschaft und Technik finden sich beispielsweise in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG und § 11 Abs. 1 Nr. 4 GenTG. Der Stand von Wissenschaft und Technik wird im öffentlichen Umweltrecht als Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen beschrieben, der nach den anerkannten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung zum Schutz der Umwelt erforderlich ist. 2 3 4 Damit wird über den in der Praxis erprobten und bestätigten Wissensstand, der den Stand der Technik bestimmt, hinausgegriffen. 235 228 Breuer, Stand der Technik, in: Kimminich/v. Lersner/Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR), 1994, Bd. 2, Sp. 1869. 229 Vgl. Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 112. 2 30 Eine „verwirrende Begriffsvielfalt" nicht zuletzt in der Gesetzgebung stellt Winckler, DB 1983, S. 2125 fest.

Amtl. Begründung zum ProdHaftG, BT-Drucks. 11/2447, S. 15. 3 RGSt E 44,75 (79 f.), vom 11. 10. 1910. 2 33 Kullmann/Pfister, Kza. 3602 S. 22a; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 1 ProdHaftG Rn. 59. 234 Vgl. die Definition des Begriffs „Stand der Technik" in § 3 Abs. 6 BImSchG; ferner Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, § 2 Abs. 12, S. 39, 127 f.; siehe auch Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, § 2 Nr. 10, S. 110. 2 2

235 Vgl. Sparwasser/Engel/Voßkuhle,

Umweltrecht, 2003, Rn. 192.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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Allerdings ist der Begriff im Produkthaftungsrecht wie im übrigen Zivilrecht gerade nicht mit dem gleichlautenden technischen Sicherheitsstandard des öffentlichen Rechts identisch, sondern unabhängig zu bestimmen. 236 Im Bereich der Produkthaftungsrichtlinie ist der Begriff nach allgemeiner Ansicht schon deshalb autonom zu interpretieren, weil die Richtlinie nicht als Weiterverweisung auf das jeweilige nationale Recht zu verstehen ist; sonst drohten verschiedene nationale Standards statt der angestrebten Rechtsangleichung.237 I I I . Einheitlichkeit oder Zweidimensionalität des Begriffs „Stand von Wissenschaft und Technik" 1. Wissenschaft und Technik als zwei Stufen und Dimensionen Der begriffliche Dualismus von Wissenschaft und Technik wird traditionell als Gegensatz von Theorie und Praxis verstanden. 238 Dabei ist allerdings eine „vernünftige Verbindung beider Bereiche" anzustreben. 239 Der Stand der Technik verweist auf das allgemein praktizierte Anwendungswissen.240 Er deckt sich keineswegs zwingend mit der jeweiligen Branchenüblichkeit in Form der in einem bestimmten Industriezweig tatsächlich praktizierten Technologie.241 Der Stand der Wissenschaft 242 bezieht sich auf die theoretischen, bisher nicht praktisch angewandten Erkenntnisse. Über die praktisch bewährten Verfahren hinaus müssen auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt werden. 243 Maßgeblich ist der letzte gesicherte Forschungsstand. Der Stand von Wissenschaft und Technik bildet auch im Produktsicherheitsrecht die Obergrenze der an die Sicherheit zu stellenden Anforderungen. 244 Um einen Fehler zu erkennen, müssen danach höchste fachliche Kompetenz und modernste Technologie aufgeboten werden. Kritisch zu dieser Begriffsbildung wird jedoch angemerkt, die Formel stelle einen Pleonasmus dar, weil der Begriff „Technik" auch die wissenschaftlich-theore236 Vieweg, in: Schulte, S. 367; Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Rn. 4.814. 237 v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 82; Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 124. 238 Marburger, Regeln der Technik, S. 164; Rolland, § 1 ProdHaftG Rn. 143; Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 124. 239 Taschner/Frietsch, § 1 Rn. 101. 240 v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 83. 241 Allgemeine Meinung, dazu Kulimann/Pfister, Kza. 3602 S. 22a; Schmidt-Salzer /Hollmann, Art. 7 Rn. 111. 242 Als strukturbildende Merkmale der Wissenschaft werden ihre spezifische Offenheit und eigene Nomativität genannt, Schmidt-Aßmann, Aufgaben wissenschaftlicher Forschung und ihre Sicherung durch die Rechtsordnung, in: Müller-Graff/Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft, 2000, S. 371 ff. 243 Kulimann/Pfister, Kza. 3602 S. 22a. 244 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 18.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

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tischen Erkenntnisse der Technik umfasse und nicht nur auf die angewandte Technik zu begrenzen sei. Der Begriff „Wissenschaft" verweise deswegen auf andere wissenschaftliche Disziplinen, vor allem die Physik, die Biologie und Ökologie sowie auf die Medizin. 245 Gänzlich ablehnend wird der Begriff Stand von Wissenschaft und Technik als Leerformel bezeichnet.246 Doch ist diese Kritik nur insoweit berechtigt, als daß der Begriff allein noch keine Aussagekraft besitzt; er muß erst inhaltlich aufgeladen werden, indem externes Wissen herangezogen wird. Die Notwendigkeit, daß das Recht seine Anforderungen dynamisch an den technisch-wissenschaftlichen Fortschritts ausrichtet, kann nicht bestritten werden. Ein geeignetes Mittel hierfür ist nur ein solchermaßen unbestimmter, aber ausfüllungsfähiger Rechtsbegriff.

2. Wissenschaft und Technik in einer eindimensionalen Begriffsdefinition Eine andere Konzeption des Begriffsverständnisses wird entworfen, wenn der Begriff Stand von Wissenschaft und Technik zu einer Einheit zusammengefaßt wird. Nach einem „einheitlichen kombinierenden Beurteilungsstandard" komme es lediglich auf den Stand an, in dem Wissenschaft und Praxis übereinstimmen. 247 Relevant seien „diejenigen Maßnahmen der Praxis, die dem Stand der nicht nur theoretischen, sondern zumindest experimentell belegten und begründeten wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen". 248 Allein die Übung der auf neuestem Stand befindlichen Praxis auf der Grundlage der bestätigten Kenntnisse der Wissenschaft bestimme den Stand von Wissenschaft und Technik. 249 Hergeleitet wird diese Ansicht aus einer autonomen europarechtlichen Interpretation des Begriffs. Dieses einheitliche Verständnis begegnet jedoch Bedenken, weil Wissenschaft und Technik in einem Stufen- und Rangverhältnis stehen.250 Schon die Ausgangsdefinition als Summe von Wissen und Technik legt ein Denken aus zwei Richtungen nahe, die sich zwar ergänzen, aber trotzdem verschiedene Ziele haben. Dieses Verhältnis muß sich auch in der Rechtsanwendung niederschlagen, das Zivilrecht eingeschlossen. Das erfordert eine zweigliedrige Inhaltsbestimmung im dargelegten Sinn. Ein Blick auf die gängige Praxis kann nicht genügen, auch wenn sich die praktische Anwendung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen richtet. Außer Acht gelassen würden bei einer eindimensionalen Begriffsbestimmung solche experi245 Marburger, Regeln der Technik, S. 164. 246 Brendel, S. 83. 247 Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Rn. 4.818 ff.; Schmidt-Salzer/Hollmann, Rn. 126. 248 Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 129. 249 Vgl. Taschner/Frietsch, § 1 Rn. 101. 250 v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 84.

Art. 7

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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mentellen Erkenntnisse, die noch keine Relevanz für die Praxis besitzen. 251 Die Erkennbarkeit der Gefahr ist daher von den neuesten technischen und wissenschaftlichen Kenntnissen und Möglichkeiten abhängig.

IV. Die „state-of-the-art-defense" im US-amerikanischen Produkthaftungsrecht Der Haftungsausschluß bei Entwicklungsrisiken nach dem Produkthaftungsgesetz wird häufig mit der „State of the art defense" im us-amerikanischen Recht in Verbindung gebracht. 252 Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede. Der „State of the art" ist im us-amerikanischen Recht als defense, also als Einwand gegen Ansprüche aus verschiedenen Haftungsgründen ausgestaltet.253 Nach dem jeweiligen Anspruch richten sich auch die Voraussetzungen des Einwandes. Im Rahmen der Fahrlässigkeitshaftung (negligence) wird der „State of the art" daher auch als branchenübliche Gewohnheit des ordentlichen Herstellers verstanden. Im Vergleich zum Stand von Wissenschaft und Technik werden hier die Anforderungen deutlich niedriger angesetzt. Bei der verschuldensabhängigen Deliktshaftung kann der Entlastungsbeweis des „State of the art" die Fehlerhaftigkeit des Produkts ausschließen und wird so, anders als im deutschen Recht, selbst zu einem Merkmal des Fehlerbegriffs. Insgesamt wird in der us-amerikanischen Rechtslehre und Rechtsprechung eine Produkthaftung für nach dem „State of the art" unerkennbare Schäden ganz überwiegend abgelehnt.254

V. Einzelprobleme bei der Bestimmung des Standes von Wissenschaft und Technik Der konkrete Umfang des Standes von Wissenschaft und Technik und damit auch die Anforderungen an die Vergewisserungs- und Nachforschungspflichten des Herstellers oder Verursachers müssen indes noch bestimmt werden. Unter den Detailfragen bei der Bestimmung ragen zwei Schwerpunkte besonders heraus. Diskutiert wird zum einen das Erfordernis der Anerkanntheit, zum anderen die Verfügbarkeit der Erkenntnisse.

251 252 253 254

v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 84. Vgl. Kulimann/Pfister, S. 21. Kort, VersR 1989, S. 1113 (1116 ff.); Becker/Rusch, Vgl. Kort, VersR 1989, S. 1118 m. w. N.

ZEuP 2000, S. 90.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

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1. Die Anerkanntheit der Erkenntnisse als Voraussetzung der Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Stand 4' Eine Kernfrage des Begriffs Stand von Wissenschaft und Technik ist die Behandlung von Außenseiter- und Mindermeinungen. Bereits in den Definitionen des Gesetzgebers zum Produkthaftungsgesetz sowie des Reichsgerichts ist das Element der Anerkanntheit einer Meinung enthalten.255 Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß eine Mehrheit einer relevanten Gruppe die betreffende Aussage für zutreffend halten muß 2 5 6 In diesem Sinn drückt auch die Erläuterung des Standes von Wissenschaft und Technik als „letzter, gesicherter Forschungsstand" das Erfordernis aus, die erhebliche wissenschaftliche Meinung müsse von anerkannten Fachleuten auf höchster Ebene vertreten werden, um die notwendige Anerkanntheit auszustrahlen. 257 Dagegen stützt ein anderer Teil des Schrifttums die Einbeziehung der Mindermeinungen auf die Behauptung, daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse häufig den Arbeiten von Abweichlern entspringen. 258 Als innovativer und diskursiver Prozeß bestimme sich der Stand der Wissenschaft ständig neu. 2 5 9 Außerdem solle der Entlastungstatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ProdHaftG nicht überdehnt werden, indem er solange eingreife, bis eine Meinung zur herrschenden geworden sei. 260 Absolute Einzelmeinungen werden hingegen mit Hinweis auf den grundsätzlich objektiven Stand der Wissenschaft und Technik ausgenommen. Vermittelnd wird auf die Verifizierbarkeit der Mindermeinungen oder auf das Vorhandensein ernsthafter empirischer Anhaltspunkte für deren Richtigkeit abgestellt 2 6 1 Auch im Rahmen der entsprechenden Fragestellung im öffentlichen Recht wird nicht zwingend eine Mehrheitsauffassung verlangt. Um von gesicherten, anerkannten Erkenntnissen sprechen zu können, müsse sich die Ansicht nicht durchgesetzt und nicht zur herrschenden Meinung entwickelt haben, wenn sie von Wissenschaftlern gewonnen und hinreichend abgesichert sei. 2 6 2 Eine Ausnahme vom Grundsatz der Anerkanntheit durch eine Spezialistenmehrheit wird auch in den Fällen neuer, insbesondere experimenteller Erkenntnisse, mit denen sich die Fachwelt noch nicht auseinandersetzen konnte, in Betracht gezogen. Hier sei es im Ein255

Vgl. soeben oben unter C. II. 56 Schmidt-Salzer/Hollmann, Art. 7 Rn. 114. 2 57 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 16, 22 ff.; Pott/Frieling, ProdHaftG, 1992, § 1 Rn. 104. 25 8 Kullmann/Pfister, Kza. 3602 S. 22a; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 1 ProdHaftG, Rn. 60; Lorenz, ZHR 151 (1987), S. 14; v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 85. 2 59 Brüggemeier/Reich, W M 1986, S. 149 (153). 260 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 1 ProdHaftG, Rn. 60. 2

2

61 Buchner, DB 1988, 32 (34); Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 128. 262 Vgl. Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, § 2 Abs. 12, S. 128; ebenso der UGB-Kommissions-Entwurf, S. 445.

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

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zelfall von den Kapazitäten des Herstellers abhängig, ob er die Erkenntnisse selbst überprüfen muß. 2 6 3 Im übrigen richtet sich der Umfang der Erkenntnispflicht nach dem Gefährdungs- und Schadenspotential. Je höher die Rechtsgutsgefährdung ist, desto strenger und weitgehender sind die Anforderungen. 264 So wird bei besonders gefährlichen, z. B. hochgiftigen Produkten die Gefahrenhöhe als Argument für die ausnahmsweise Einbeziehung von Außenseitermeinungen ins Feld geführt. 265 2. Die Verfügbarkeit

der Erkenntnisse

Umstritten ist, ob es auf die Verfügbarkeit der konkreten Erkenntnisse für den einzelnen Hersteller ankommt. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der Kontroverse um die Natur der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz von grundlegender Bedeutung. 266 Sieht man die Haftung des Produkthaftungsgesetzes als streng verschuldensunabhängig an, stellt die Entlastung für Entwicklungsrisiken einen Fremdkörper dar, weil damit verhaltensbezogene Sorgfaltspflichten auf den Plan gerufen werden. 267 Aus diesem Grund wird das Produkthaftungsgesetz sogar letztlich als eine verschuldensabhängige Haftung bezeichnet.268 Der Anwendungsbereich des Entlastungsbeweises müßte folglich schmal gehalten werden. 269 Ob die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft und Technik für den Produzenten erreichbar sind und ihm zur Verfügung stehen, wäre bei einem solchen engen Verständnis unerheblich. Entscheidend wäre allein der objektive weltweite Wissensstand im Sinne der oben zitierten Begründung des Referentenentwurfes. 270 Niemand auf der Welt dürfte in der Lage sein, die potentielle Gefahr zu erkennen. 271 Derart weit gehen die überwiegende Ansicht sowie die Rechtsprechung allerdings nicht. Die Verpflichtung des Herstellers beschränkt sich danach auf die Ausund Verwertung des verfügbaren Wissens. Die wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse müssen zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts allgemein zugänglich gewesen, das heißt in der Regel publiziert sein. 272 Nur dann kann der 263 Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 24. 264 Brüggemeier/Reich, W M 1986, S. 153; Foerste, in: v. Westphalen, § 24 Rn. 25 f. 265 Pott/Frieling, § 1 Rn. 106. 266 Näher dazu Wagner, in: Münchener Kommentar, Einl. ProdHaftG, Rn. 15 ff. 267 Vgl. Häsemeyer, in: Festschrift für Niederländer, S. 262; Kötz, in: Festschrift für Lorenz, S. 109 (113); Hager, JZ 1990, 397 (398). 268 Häsemeyer, in Festschrift für Niederländer, S. 262; Lüderitz, Gefährdung und Schuld im Produkthaftpflichtrecht, in Festschrift für Rebmann, 1989, S. 755 (762). 269 Vgl. Wagner, in: Münchener Kommentar, § 1 ProdHaftG Rn. 58. 270 Siehe oben in FN 213. 271 Vgl. Taschner, NJW 1986, S. 615; Kretschmer, in: Martinek, Handbuch des Vertriebsrechts, 2003, § 36 Rn. 75; Hager, in: Staudinger, § 823 F19. 272 EuGH Kommission . / . Verein. Königreich, Rs. C-300/95, Slg. 1997, S. 1-2649; Pott/ Frieling, § 1 Rn. 107; Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG, Rn. 126; Taschner/Frietsch,

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

79

Produzent die Erkenntnisse auch verifizieren. 273 Die Notwendigkeit der Verfügbarkeit stellt auch der BGH heraus. 274 Das nur einem anderen vertraute, persönliche oder geheime Wissen ist folglich nicht Bestandteil des Standes von Wissenschaft und Technik. 275 Dogmatisch wird der herrschenden Ansicht vorgeworfen, durch diese Auslegung über die Hintertür doch wieder eine Verschuldenshaftung einzuführen. Dieselben Maßstäbe würden im Rahmen der Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB an die Erfüllung der entsprechenden Verkehrspflicht angelegt. 276 Dieser Gleichlauf von Deliktshaftung und der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz betrifft indes nur die objektive Erkennbarkeit des Fehlers im Rahmen der Rechtswidrigkeit und nicht ein Verschulden nach § 276 BGB. 2 7 7 Die subjektive Seite, also die Frage, ob der einzelne Hersteller den Pflichtenverstoß bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt individuell erkennen und vermeiden konnte, ist beim Entlastungsbeweis nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG ohne Belang. Deshalb kann hier nicht von einem Verschulden gesprochen werden. Das Leitbild des Produkthaftungsgesetzes ist anders als bei der Verschuldenshaftung nicht der ordentliche, sondern der ideale Hersteller. Letzterer braucht dem Stand der Technik nicht voraus zu sein. 278 Der Entlastungsbeweis bei Entwicklungsrisiken verändert den Charakter der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz nicht; sie bleibt verschuldensunabhängig. Es ist festzuhalten, daß auch aus einem verschuldensunabhängigen Verantwortlichkeitstatbestand solche Schäden herausgenommen werden können, die wie Schäden aus Entwicklungsrisiken völlig unvorhersehbar sind. 279 Die Verfügbarkeit wird daher aus einer objektiven Perspektive bestimmt. Dieses hat zur Folge, daß die konkreten Umstände des Herstellers wie Betriebsgröße, Spezialisierungsgrad, Branchenzugehörigkeit und regionale Verankerung nicht in Rechnung gestellt werden. 280 Insbesondere macht die Nachforschungspflicht nicht an Landesgrenzen halt. 2 8 1 Dem Hersteller obliegt aber schon aus § 823 Abs. 1 BGB die Verkehrs- bzw. Organisationspflicht, seinen Geschäftskreis so einzurichten, daß ihm der jeweils neueste Erkenntnisstand auch verfügbar ist. 2 8 2 § 1 Rn. 104; ebenso bereits Canaris, JZ 1968, S. 494 (505); nicht auf die Publizität, sondern auf „die objektiv-rechtliche Möglichkeit der tatsächlichen Nutzung" abstellend v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 80. 273 Buchner, DB 1988, S. 34. 274 BGHZ 129, 353 (358). 275 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 1 ProdHaftG, Rn. 59. 276 Vgl. die Nachweise oben in FN 205. 277 Kulimann/Pfister, Kza. 3602 S. 22b; v. Westphalen, in: ders., § 72 Rn. 80. 278 Larenz/Canaris, § 84 VI, S. 645. 279 Ebenso Puffert, in: Hendler/Marburger, S. 60. 280 Für die überwiegende Meinung Ladeur, BB 1993, S. 1303 (1310); Oechsler, in: Staudinger, § 1 ProdHaftG Rn. 129.; a.A. Wagner, in: Münchener Kommentar, § 1 ProdHaftG, Rn. 59; Lorenz, ZHR 151 (1987), S. 14. 281 Vgl. Kort, VersR 1989, S. 1115; Pott/Frieling,

§ 1 Rn. 103.

80

1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

un

d seine Herkunft

D. Die Verständnismöglichkeiten des Begriffs „Entwicklungsrisiko44 Sprachlich ist der Begriff „Entwicklungsrisiko" in die Elemente „Entwicklung" und „Risiko" zerlegbar. Beide Wortteile bedürfen sowohl wegen ihrer umgangssprachlichen als auch disziplinabhängigen Prägung einer Präzisierung.

I. Der Begriffsteil „Risiko" 7. Der rechtliche, insbesondere zivilrechtliche

Begriffsinhalt

Blickt man zunächst auf den Begriff „Risiko" als Rechtsbegriff muß man feststellen, daß dieser in der Rechtswissenschaft nicht einheitlich bestimmt wird. Dieses gilt vor allem für das öffentliche Recht. 283 Hier ist in der Literatur oft die Bemerkung anzutreffen, daß es sich traditionell nicht um einen Rechtsbegriff handelt. 2 8 4 Eine konkrete Begriffsklärung ist für den Zugang zum privatrechtlichen Verständnis jedoch nicht erforderlich. In diesem Zusammenhang soll es ausreichen, das Risiko als Schadens- und Gefährdungspotential des Produktes, der Emission oder Tätigkeit im Hinblick auf fremde Rechtsgüter zu kennzeichnen.

2. Der Risikobegriff

in der Soziologie

Zugleich vermag die Bezeichnung „Risiko" auf einer soziologischen Verständnisebene den Entscheidungscharakter des Entwicklungsrisiko-Phänomens zu betonen. 285 Für das Eingehen eines Risikos entscheidet man sich trotz der bewußten Wissenslücken und Unwägbarkeiten. Dagegen suggerieren die Begriffe Entwicklungsfehler und -gefahr eher, daß die Schäden von äußeren Umständen verursacht wurden. 286 Diese Perspektive entspringt der Gegenüberstellung von Gefahr und Risiko als Zurechnungsmodi. 287 Während Gefahr die extern veranlaßten Schäden beschreibt, denen die Betroffenen passiv ausgesetzt sind, steht der Risikobegriff für Schäden als Folge von Entscheidungen.288 Zurechnungssubjekte dieser Entscheidungen können dabei sowohl 282 v. Westphalen, NJW 1990, S. 85; zur Produktbeobachtungspflicht siehe oben im 1. Kapitel unter C. 283 Eingehend Lepsius, VVDStRL 63 (2003), S. 264 (266 ff.). 284 Vgl. Wahl ZLR 1998, S. 275 (278). 285 Kühn-Gerhard, S. 28; zur Entscheidungsorientiertheit des Risikos vgl. Bonß, Vom Risiko, 1995, S. 52 f. 286 Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 30 ff.; Schrupkowski, S. 11. 287 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 56 f. 288 Luhmann, Soziologie, S. 30 f.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

81

Individuen als auch der Staat sein. Letzteres ist angesichts komplexer Verursachungsketten und der postulierten Verantwortung der Gesellschaft, immer häufiger der Fall. 2 8 9

n. Die Bedeutung des Begriffsteils „Entwicklung" Zu fragen bleibt deshalb, was der Begriff „Entwicklung" ausdrücken soll. Hier eröffnen sich mehrere Verständnismöglichkeiten. 7. Entwicklung als zeitlicher Prozeß Keinesfalls kann der Begriff Entwicklungsrisiko verstanden werden als Beschreibung von Risiken, die sich entwickeln, also im Laufe der Zeit bilden. Die potentielle Gefährlichkeit haftet dem Produkt oder der Tätigkeit wie gezeigt ursprünglich an, konnte allerdings ex ante nicht erkannt werden. Wegen dieser irreführenden Verständnismöglichkeit wird der Begriff vereinzelt abgelehnt.290

2. Entwicklung als technische Innovation Dagegen meint Entwicklung vielmehr die innovative Tätigkeit innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, die den technischen Fortschritt trägt. Die Konstruktion neuer Produkte oder die Entdeckung neuer Stoffe oder technischer Verfahren mit dem typischen Ziel der gewinnbringenden wirtschaftlichen Verwertung zählen hierzu. 291 Doch bilden die materiellen Neuerungen nur den oberflächlich sichtbaren Teil des Innovationsprozesses ab. Mindestens ebenso wichtig ist die Wissensgenerierungsfunktion dieses Prozesses. Innovationen schaffen und verbreiten ständig neues Wissen und stimulieren damit das gesellschaftliche Wachstum. 2 9 2 Den Innovationsbezug stellt schon die amtliche Begründung zum Produkthaftungsgesetz her, nach der mit § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG unerkennbare Gefahren in der ,JEntwicklungs- und Konstruktionsphase" von der Haftung ausgenommen werden. 293 Aus dieser Sichtweise erklärt sich die Verwendung des Begriffs Entwicklungsfehler als Fehlerkategorie im Produkthaftungsrecht; gemeint sind Fehler 289 Luhmann Soziologie, S. 35, weist darauf hin, daß gerade in diesem Fall Entscheidungen schlicht „erfunden" werden. 290 Ann, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, JJZ 1993, S. 37 (39, Fn. 6). 291 Vgl. den Innovationsbegriff bei Hoffmann-Riem, in: ders. / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (13) m. w. N. 292 Kühn-Gerhard, S. 65 ff. m. w. N.; Marr, Innovation, in: Grochla (Hrsg.), Handwörterbuch der Organisation, 2. Aufl., 1980, Sp. 948. 29 3 BT-Drucks. 11/2447, S. 15 f.

6 Lübbecke

82

1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

un

d seine Herkunft

bei der Schöpfung neuartiger Produkte. Risiken sind die „dysfunktionalen Nebenfolgen" jeder Innovation. 294 Dieser Zusammenhang wird durch die bevorzugte Verwendung des Begriffs „Innovationsrisiko" betont. 295 Zurückhaltender werden Entwicklungsrisiken als „innovationsinduziert" gekennzeichnet.296 3. Das Entwicklungsrisiko als Problem der Entscheidung unter Ungewißheit Mehr Wissen führt aber keineswegs zu mehr Gewißheit. 297 Die Zahl ungelöster Fragen überwiegt die Menge der wissenschaftlichen Antworten bei weitem. Entwicklungsrisiken bilden daher die Kehrseite der fortschreitenden technischen Entwicklung. In deren Zuge werden Unsicherheiten und Risiken um der Chancen willen in Kauf genommen.298 Unerkannte Risiken können jedem neuen Produkt oder Stoff immanent sein und auf diese Weise auf die Gesellschaft als Gemeinschaft der Benutzer zurückfallen. Entwicklungsrisiken können daher plastisch als Schatten oder Echo jeder Innovation bezeichnet werden. Anknüpfend an die dem Innovationsbegriff eigene Dialektik von Chance und Risiko kann die Betonung deshalb auch auf den Zustand des unvollkommenen Wissens gelegt werden. Immer komplexere Technologien verhindern die Garantie einer vollständigen Sicherheit. Der Begriff „Entwicklung" steht in diesem Sinn allgemein für die technische Entwicklung, den Fortschritt als gesamtgesellschaftlichen Prozeß. Entwicklungsrisiken sind als Gefahren, die mit Hilfe des gesellschaftlichen Wassens nicht erkannt werden können, demnach die Bürde der Weiterentwicklung einer jeden Zivilisation. Sie können deshalb als Risiken der gesellschaftlichen Fortentwicklung begriffen werden. Dieses Verständnis geht über den konkreten Produktund Tätigkeitsbezug hinaus, der sich in der produkthaftungsrechtlichen Begriffsbestimmung zeigt.

E. Beispiele für Entwicklungsrisiken im produktbezogenen Umwelt- und Technikrecht Entwicklungsrisiken können insbesondere in den Bereichen auftreten, die durch einen überdurchschnittlich raschen technischen Fortschritt geprägt werden 294 Hansjürgens, in: ders. (Hrsg.), Umweltrisikopolitik, ZAU-Sonderheft 10 (1999), S. 7. 295 Ann, JJZ 1993, S. 37 (39, Fn. 6). 296 Kühn-Gerhard, S. 187 ff. sowie im Untertitel „Über einen adäquaten Umgang mit innovationsinduzierten Unsicherheiten". 297 Vgl. Wolf, Die Risiken des Risikorechts, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 65 (78). 298 Vgl. Schumann, Grundzüge der mikroökonomischen Theorie, 1992, S. 360, der den Begriff „Innovation" definiert als Vorgang, der unter Inkaufnahme von Unsicherheit und Risiko neue Gewinnmöglichkeiten eröffnet.

2. Kap.: Bedeutung des Begriffs „Entwicklungsrisiko" im Haftungsrecht

83

und deren Zweck in der Entwicklung neuer Produkte und technischer Verfahren liegt. Beispielhaft hierfür ist die Arzneimittelforschung. In den Contergan-Fällen wurden fälschlicherweise, aber nach dem gegebenen Erkenntnisstand objektiv nicht fehlerhaft, bestimmte Tierversuche als geeignet eingestuft, für die Ungefahrlichkeit des Stoffes Thalidomid beim Menschen Beweis zu erbringen. 299 Jedenfalls die ersten Gesundheitsschäden bei Neugeborenen im Jahr 1958 sind Folgen des Entwicklungsrisikos. Für weitere Schädigungen infolge der späten Rücknahme des Medikaments vom Markt (1961) gilt dieses nicht mehr, wenn man das Schädigungspotential ab einem gewissen Zeitpunkt als bekannt einstuft. In den DES-Fällen war die Kanzerogenität eines östrogenhaltigen Medikaments zur Verhinderung von Fehlgeburten erst nach Jahren festgestellt worden. 300 Die bereits angesprochene HIV-Infektion durch Blut oder Blutprodukte bildet ein weiteres Beispiel für die Verwirklichung eines Entwicklungsrisikos, solange das Blut noch nicht als Infektionsherd erkannt worden war. 301 Auch die spät erkannten Schädigungspotentiale von Asbest 302 und FCKW sind ein Beispiel für Entwicklungsrisiken. In den dreißiger Jahren erwies sich FCKW in Tests als unbrennbar, ungiftig und allgemein reaktionsunfähig. Es wurde somit als unbedenklich eingestuft und vor allem als Kühlmittel eingesetzt. Die katalytische Wirkung beim Ozonabbau wurde erst in den siebziger Jahren festgestellt. Daß gerade die wünschenswerte Reaktionsunfähigkeit zu einem Dauerproblem des Umweltschutzes führt, weil die Wirkung lange anhält, war nicht voraussehbar. Im Produkthaftungsrecht berührten die Urteile des BGH zu Hühnerpest und Apfelschorf das Problem des Entwicklungsrisikos. 303 In den Apfelschorf-Entscheidungen hatten die gegen die Pilzerkrankung Apfelschorf eingesetzten Spritzmittel Derosal und Benomyl die Resistenz des Pilzes herbeigeführt; dieser Umstand war jedoch ex-ante nicht erkennbar und daher unvermeidbar. Die Wirkungslosigkeit der Stoffe führte zu Ernteausfällen, die mangels schuldhafter Verletzung auch nicht über die Hintertür der Produktbeobachtungspflicht ersetzt wurden. In der Gegenwart wird das Phänomen des Entwicklungsrisikos mit dem unklaren Schädigungspotential elektromagnetischer Wellen in Verbindung gebracht. 304 Im Vordergrund stehen aber die Wirkungen gentechnisch veränderter Organismen, 299 Ausführlich Besch, S. 114; vgl. LG Aachen, JZ 1971, S. 507, 518. 300 Vgl. d i e des (Diethylstilbesterol)-Fälle, siehe dazu Hoechst, Die US-amerikanische Produzentenhaftung, 1986, S. 93 ff.; Hoffmann, PHI 1993, S. 64. 301 Vgl. oben unter B. I. die Abgrenzung zum Begriff Entwicklungslücke. Solange noch kein Antikörpertest durchgeführt werden konnte, die Infektionsursache aber bekannt war, liegt eine Entwicklungslücke vor. 302 Kritisch aber Schrupkowski, S. 25 ff., der auf eine englische Untersuchung aus den zwanziger Jahren verweist; vgl. auch Schubert, RabelsZ 47 (1983), S. 367. 303 BGHZ 80, 186 (193); 80, 199 - Apfelschorf; BGHZ 51, 91 (105 f.) - Hühnerpest. 304 Kühn-Gerhard, S. 5 ff.

6*

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1. Teil: Der Begriff „Entwicklungsrisiko"

un

d seine Herkunft

ob in der Humangenetik oder der Grünen Gentechnik. Des weiteren ist gerade i m Bereich von Chemikalien angesichts sowohl der unvorstellbaren Vielzahl von Neuentwicklungen als auch der großen Menge nicht umfassend getesteter Altstoffe mit unerkannten Risiken zu rechnen. 3 0 5

305 Vgl. Di Fabio, Das umweltspezifische Stoff- und Produktrecht, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht (EUDUR), Bd. 2, 1. Tb., 2003, § 64. Auf die Risiken von Altstoffen richtet sich das Vorhaben der REACh (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals)-Verordnung, Richtlinien- und Verordnungsentwurf der Kommission vom 29. 10. 2003, KOM (2003) 644 endg. Der Vorschlag wurde am 17. 11. 2005 vom Europäischen Parlament verabschiedet. Der Ministerrat hat sich am 13. 12. 2005 auf den Text der Verordnung geeinigt.

2. Teil

Die Transformation des Zurechnungsproblems in das öffentliche Recht durch die Umwelthaftungsrichtlinie Das Problem der Zurechnung von Schäden aus Entwicklungsrisiken wird gegenwärtig durch das Europarecht über die Brücke der Umwelthaftungsrichtlinie in das deutsche öffentliche Recht getragen. Der Begriff „Entwicklungsrisiko" erscheint erst im Laufe der Erarbeitung dieser Richtlinie verbreitet im öffentlich-rechtlichen Sprachgebrauch und unabhängig von privatrechtlichen Haftungsnormen. 1 Dabei wird der Begriff dem privaten Haftungsrecht im dort gebräuchlichen Sinn entlehnt. Ihre Ursache hat diese Übernahme in der wechselvollen Entstehungsgeschichte der Richtlinie. Vor dem Hintergrund der Umwelthaftungsrichtlinie ist zu zeigen, wie das geltende Recht den Ersatz von Schäden an Umweltgütern regelt. Für eine öffentlichrechtliche Ausgleichspflicht bei Umweltschäden wurden in der Rechtswissenschaft bereits einige Vorschläge erarbeitet. Aufschlußreich kann sein, wie diese Regelungsmodelle mit Entwicklungsrisiken umgehen. Der Umsetzungsprozeß der Umwelthaftungsrichtlinie schreitet unterdessen voran. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat im März 2005 den Referentenentwurf eines Umweltschadensgesetzes vorgelegt, das die Vorgaben der Richtlinie in deutsches Recht überführen soll. 2 Dem Haftungsproblem „Entwicklungsrisiko" verwandte öffentlich-rechtliche Fragestellungen wurden schon in den achtziger Jahren im Zusammenhang mit den Altlastenfallen intensiv diskutiert; sie können Anhaltspunkte für die Zurechnung dieses Risikotypus bieten. Es wurden alternative Verursachungsmodelle aufgezeigt, die an der Vorherrschaft der Theorie der unmittelbaren Verursachung gerüttelt haben. Die Verantwortlichkeit für Entwicklungsrisiken hängt im übrigen eng mit der Legalisierungswirkung von behördlichen Genehmigungen und Zulassungen zusammen. 1 Richtlinie über die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden vom 21. April 2004 (RL 2004/35/EG), ABl. EG L 143 vom 30. 4. 2004, S. 56. Eine Ausnahme stellt insoweit Breuer, DVB1. 1994, S. 890 (893) dar. 2 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/35/EG über die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden vom 4. 4. 2005, abrufbar unter: www. bmu.de/files/gesetze_verordnungen/bmu-downloads/application/pdf/umwelthaftung_entwurfpdf.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

3. Kapitel

Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie und der Einwand des Entwicklungsrisikos Die Umwelthaftungsrichtlinie eröffnet in ihrem Art. 8 Abs. 4 lit. b) den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den Betreiber von den Kosten der gemäß der Richtlinie durchgeführten Maßnahmen zu entlasten, wenn das für den Umweltschaden ursächliche Verhalten nach dem zu diesem Zeitpunkt gegebenen Erkenntnisstand nicht als schädlich galt. Geschaffen wird damit eine Privilegierung des Verursachers, wenn sich im Umweltschaden ein Entwicklungsrisiko verwirklicht. Diese Kompromißfassung erinnert an die Produkthaftungsrichtlinie, die gleichfalls die Behandlung von Entwicklungsrisiken den Mitgliedstaaten überließ, statt diese abschließend und verbindlich zu regeln. Im Unterschied zur privatrechtlichen Produkthaftung betrifft die Regelungsoption der Umwelthaftungsrichtlinie allerdings das öffentliche Gefahrenabwehrrecht. Wie dem zivilrechtlichen Haftungsproblem der Sprung in das öffentliche Recht gelungen ist, soll im folgenden dargestellt werden.

A. Der zivilrechtliche Ausgangspunkt: Die Ausweitung und Harmonisierung der Haftung für Umweltschäden Im Ursprung handelte es sich bei der Umwelthaftungsrichtlinie um ein zivilrechtliches Haftungskonzept. Das Verständnis des Regelungsansatzes sowie seiner Umformung setzt zum einen die Präzisierung des Begriffs „Umweltschaden" voraus. Zum anderen sind die Grenzen des Zivilrechts beim Ersatz dieses Schadenstypus zu markieren.

I. Die Ersatzfahigkeit von Umweltschäden und ökologischen Schäden 1. Eine Begriffsbestimmung Der Begriff „Umweltschaden" wird uneinheitlich verwendet, was nicht zuletzt in der Entstehungsgeschichte der Umwelthaftungsrichtlinie auffällt. Allgemein wird unter Umweltschaden die Beeinträchtigung der Umweltmedien Boden, Luft, Wasser und der Naturgüter wie Flora und Fauna sowie deren Zusammenwirken verstanden.3 3 Dazu nur Kokott/Klaphake/Marr, Ökologische Schäden, 2003, S. 7 ff.; vgl. die Definition der Umwelt in Art. 2 Abs. 10 der Lugano-Konvention, PHI 1993, 196 (198): ( . . . ) „um-

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

87

Der Schadensbegriff ist mehr tatsächlich als rechtlich geprägt, indem er am geschädigten Objekt ausgerichtet ist. 4 Die Definition deckt sich mit deijenigen des ökologischen Schadens.5 Den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Begriffen macht die eigentumsrechtliche Zuordnung des beeinträchtigten Gutes aus. Bei Eingriffen in Umweltgüter sind selten individuelle Rechtspositionen betroffen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß an Naturgütern auch individuelle Rechte bestehen; auch kann sich der Umweltschaden sekundär in einer Beeinträchtigung von Individualrechten (Eigentum) und Rechtsgütern (Gesundheit) niederschlagen.6 Solche Sach- und Personenschäden werden vom Begriff Umweltschaden mitumfaßt; dieser ist blind für die rechtliche Zuweisung. Daher kann auch von Umweltschaden im weiten Sinn gesprochen werden. Weit häufiger liegt jedoch eine Verschlechterung der überindividuellen, allgemeinen Umwelt vor, die niemandem „gehört". Diesen Fall beschreibt der Begriff „ökologischer Schaden" als rein ökozentrischer Schadensbegriff. 7 Er ist beschränkt auf die Beeinträchtigung von Naturgütern, die von der Rechtsordnung keinem bestimmten Rechtsträger zugeordnet werden.8 Der ökologische Schaden bildet nach diesem zutreffenden Verständnis eine Untermenge des Umweltschadens. Weniger trennscharf ist eine Terminologie, welche die Begriffe „Umweltschaden" und „ökologischer Schaden" synonym verwendet und mit dem Attribut „rein" versieht, wenn subjektive Rechte nicht betroffen sind.9 2. Die Konsequenzen für das Haftungssystem im Bereich ökologischer Schäden a) Die Haftungslücke im Zivilrecht Wegen der Ausrichtung des privaten Schadensersatzrechtes an einer Verletzung subjektiver Rechte und Rechtsgüter klafft in bezug auf den Ersatz von ökologifaßt der Begriff Umwelt natürliche unbelebte und belebte Ressourcen wie Luft, Wasser, Boden, Fauna und Flora, sowie das Zusammenwirken dieser Faktoren." Weitergehend bezieht die Definition aber auch das kulturelle Erbe und charakteristische Merkmale der Landschaft ein. 4 Vgl. Klass, JA 1997, S. 509. 5 Vgl. die verbreitete Definition des ökologischen Schadens als jede erhebliche und nachhaltige Beeinträchtigung des Naturhaushalts oder seiner Bestandteile, der Naturgüter Luft, Wasser; Boden, Klima, Pflanzen- und Tierwelt sowie ihrer Wechselwirkungen, siehe Gassner, UPR 1987, S. 370 ff.; Erichsen, Der ökologische Schaden im internationalen Umwelthaftungsrecht, 1993, S. 25, Schulte, JZ 1988, S. 278 (285). 6 Engelhardt, Die deliktsrechtliche Haftung für Umweltschäden, 1992, S. 8; Gütersloh, Umwelthaftungsfonds, 1999, S. 12 f.; Die Möglichkeit dieses Zusammenfallens zeigen auch § 16 UmweltHG, § 32 Abs. 7 GenTG. 7 Grundlegend Rehbinder, NuR 1988, S. 105.

8 Kokott/Klaphake/Marr, S. 7 ff. Hager, Haftung für reine Umweltschäden, in: Oldiges (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung, 2004, S. 29 ff.; ders., NuR 2003, S. 281; Taupitz, Jura 1992, S. 113 (115). 9

88

2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

sehen Schäden eine Haftungslücke. Wiederholt wurden Versuche unternommen, ökologische Schäden über eine Erweiterung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder als sonstige Rechte im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB in die private Deliktshaftung einzubeziehen.10 Diese Ansicht konnte sich hingegen nicht durchsetzen.11 Umweltbelange können als freie, jedermann zugängliche Güter in Gemeingebrauch (sogenannte „common goods") nicht als subjektive Rechtspositionen in Anspruch genommen werden. 12 Zivilrechtlicher Schutz richtet sich allein gegen Belastungen aus der Umwelt, nicht gegen Belastungen der Umwelt. 13 Beim Zusammenfallen des Eingriffs in Umweltgüter mit einem subjektiven Recht wird die Umwelt lediglich reflexartig geschützt.

b) Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Zivilrechts im Umweltschutz Die Frage der ex post Haftung für Umweltschäden wurde in der Rechtslehre immer wieder aufgegriffen. Sie wurde zu einem zentralen Thema des Umwelthaftungsrechts. 14 Im Jahr 1986 debattierte der 56. Deutsche Juristentag über den Ausbau des Individualrechtsschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des bürgerlichen Rechts überwog stets Zurückhaltung. Die Grenzen des Privatrechts wurden aufgezeigt, was in der Aussage kulminiert, Gesetzgeber und Rechtsprechung hätten in den meisten Bereichen „bereits das Äußerste geleistet, was das Zivilrecht an Umweltschutz leisten kann" 15 . Ziele wie der Artenschutz lägen außerhalb der Denkkategorien des bürgerlichen Rechts.16 Nur vereinzelt wurde die weitere Aktivierung des Zivilrechts im Umweltschutz gefordert. 17 Wegen der strukturellen Grenzen des öffentlichen Rechts bei Risikoentscheidungen sei die dezentrale und ergänzende Schutzfunktion des Privatrechts zur Feinsteuerung unentbehrlich. 18 10

Schon Forkel, Immissionsschutz und Persönlichkeitsrecht, 1968; zustimmend Roth, NJW 1972, S. 921 (923) und Lang, AcP 174 (1974), S. 381 (387 ff.); Köndgen, UPR 1983, S. 345 (348 f.). Zum Aufleben der Diskussion in den 90er Jahren Godt, Haftung für ökologische Schäden, 1995; Kadner, Der Ersatz ökologischer Schäden, 1994; Meyer-Abich, Haftungsrechtliche Erfassung ökologischer Schäden, 1994. 11 Diederichsen, BB 1973, S. 485 (487); Simitis, VersR 1972, S. 1087 (1092); zusammenfassend v. Bar, Verhandlungen des 62. DJT, 1998, Gutachten, Bd. I, A 49 ff. 12 Marburger, Verhandlungen des 56. DJT, 1986, Gutachten, Bd. I, C 120; Kloepfer, NuR, 1990, S. 337 (346); Pfeiffer, Die Bedeutung des privatrechtlichen Immissionsschutzes, 1987, S. 187 ff.

13 Prägnant formuliert von Medicus, JZ 1986, S. 778 (780). 14 Schulte, JZ 1988, S. 278, der auf das Bonner Kolloquium über Umweltgefährdungshaftung vom 30. 6. 1987 verweist; dazu Henseler, NVwZ 1987, S. 27 (29). 15 Diederichsen, Verhandlungen des 56. DJT, 1986, Sitzungsberichte, Bd. II, L 48. 16 Diederichsen, 56. DJT, L 50. 17 Gerlach, Verhandlungen des 56. DJT, 1986, Sitzungsberichte, Bd. II, L 194 ff.; ders., JZ 1988, S. 161.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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Das Gutachten zur rechtlichen Bewältigung von Masseschäden anläßlich des 62. Deutschen Juristentages 1998 hat einen zivilrechtlichen Anspruch nach italienischem Vorbild befürwortet. Dieser sollte bei ökologischen Schäden den Verursacher zum Ersatz des Schadens gegenüber dem Staat verpflichten. 19 Die Einordnung der Haftung für Umweltschäden in das öffentliche Recht oder das Privatrecht blieb im Zuge der Diskussion streitig. Die Zwiespältigkeit einer solchen Regelung offenbart sich an der Einschätzung, der Anspruch sei von seiner Technik an die privatrechtliche Haftung für Schutzgesetzverletzungen angelehnt, aber öffentlichrechtlicher Rechtsnatur.20 Neben der primär öffentlich-rechtlichen Einordnung führten auch Zweifel an der Lösbarkeit von Kausalitätsproblemen zur Ablehnung einer Reform nach italienischem Muster. 21 Der sehr vorsichtigen Haltung entsprach, daß die Alternative einer öffentlich-rechtlichen Regelung in Form einer Ersatzvornahme gleichfalls keine Mehrheit fand. 22

c) Das Umwelthaftungsgesetz als Beispiel der privatrechtlichen Grenzen Auch das Umwelthaftungsgesetz gewährleistet den Schutz der natürlichen Ressourcen nur, wenn sie Gegenstand individueller Rechte geworden sind. 23 Der Schaden an der Umwelt wird gleichsam „nur zufällig" ersetzt, 24 wenn das betroffene Umweltgut eigentumsrechtlich definiert und einem Rechtssubjekt zugeordnet ist. Einziges Zugeständnis an den besonderen Eigenwert der Natur ist § 16 UmweltHG, der die Vorschrift des § 251 Abs. 2 BGB zur Verhältnismäßigkeit der 18 Gerlach, JZ 1988, S. 161 (163 ff., 175), ausführlich auch ders., Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 43 ff., 104 ff. Diese Vorstellung ist dem Gedanken der wechselseitigen Auffangordnungen verwandt. '9 v. Bar, 62. DJT, A 54 ff.; zum italienischen Recht gemäß Art. 18 des Gesetzes 349/ 1986 Dinter-Huzel, Italien - Haftung für Umweltschäden, 1989, S. 43 ff.; Hoffmeister/Kokott, Öffentlich-rechtlicher Ausgleich für Umweltschäden in Deutschland und in hoheitsfreien Räumen, 2002, S. 137 ff. 20 v. Bar, 62. DJT, A 55. Zum Für und Wider der Einordnung Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz, S. 293 ff., der aus „praktischen Sachgründen" für das Privatrecht votiert. 21 Hübner, Verhandlungen des 62. DJT 1998, Bd. I I Sitzungsberichte, I 65 ff. (I 79); Beschlußfassung, I 85: 8 Ja-, 31 Neinstimmen, 11 Enthaltungen. 22 Verhandlungen des 62. DJT 1998, Sitzungsberichte, Bd. II, I 85 (17:25:8). 23 Auf die instrumentalen Grenzen des Zivilrechts weist hin Kloepfer, Umweltrecht, 2004, § 6 Rn. 76; ders., Umweltschutz als Aufgabe des Zivilrechts: aus öffentlich-rechtlicher Sicht, in: UTR Bd. 11, 1990, S. 35 ff.; kritisch zur restriktiven Grundhaltung des UmweltHG Klass, UPR 1997, S. 138 ff. Das UmweltHG wird wegen des Fehlens von Eigenrechten der Umwelt als „Mogelpackung" bezeichnet von Taupitz, Umweltschutz durch zivilrechtliche Haftung, in: Nicklisch (Hrsg.), Umweltrisiken und Umweltprivatrecht im deutschen und europäischen Recht, 1995, S. 21 (27). 24 Wagner, Die gemeinschaftsrechtliche Umwelthaftung aus der Sicht des Zivilrechts, in: Hendler / Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 73 (77).

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Naturalrestitution modifiziert. 25 Die Aufwendungen zur Wiederherstellung des vorherigen Zustands sollen nicht deshalb unverhältnismäßig sein, weil sie den Wert der Sache übersteigen. Andere Instrumente stehen dem Privatrecht gegenwärtig nicht zur Verfügung. In den Entwürfen zum Umwelthaftungsgesetz war hingegen noch eine Anspruchsgrundlage für den Ersatz ökologischer Schäden enthalten. 26 In die gleiche Richtung ging eine Gesetzesinitiative Nordrhein-Westfalens vom Mai 1987, die einen Kostenerstattungsanspruch bei Beeinträchtigungen des Naturhaushalts in § 22 Abs. 4 WHG und § 63 BImSchG verankern wollte. 27 Der Gesetzgeber konnte sich mit Recht nicht zu einer staatlichen Anspruchsberechtigung im Rahmen des bürgerlichen Rechts durchringen. Für die Wahrung von Allgemeininteressen wie dem Umweltschutz ist grundsätzlich der Staat zuständig. 2 8 Ihm obliegt die exklusive Aufgabe, Ersatz für Gemeinwohlschäden einzufordern. Die Umwelt an sich kann kein Schutzobjekt des Zivilrechts sein. 29 Demzufolge ist allein das öffentliche Recht aufgerufen. Die Ausgleichspflicht im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung (§ 19 Abs. 2 BNatSchG) sowie die kostenintensiven Sanierungspflichten im Bodenschutzrecht (§ 4 Abs. 3 i.V.m. §§10 Abs. 1, 24 BBodSchG) sind Beispiele für die Verortung der Aufgabe im öffentlichen Recht.

II. Die politischen Rahmenbedingungen der Umwelthaftungsrichtlinie Europäische Rechtsakte im Bereich der zivilrechtlichen Haftung für Umweltschäden rückten nach der primärrechtlichen Anerkennung des Verursacherprinzips in Art. 174 Abs. 2 S. 2 EGV (ex-Art. 130r Abs. 2 S. 1) an die vorderen Positionen der politischen Agenda. 30 Der Rat nahm dieses Vorhaben in sein 4. umweltpoliti25

Vgl. zu den Fragen des Ersatzes ökologischer Schäden nach §§ 249 ff. BGB, insbesondere zur Zweckbindung, Wezel, Die Disposition über den ökologischen Schaden, 2001. 26 Dazu Salje/Peter, Umwelthaftungsgesetz, 2005, § 16 Rn. 1; BT-Drucks. 11/7881, S. 36 f.; BT-Drucks. 11 / 8134, S. 4 f.; siehe auch den Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion der Grünen vom 21. 3. 1989, dazu Hoffmeister/Kokott, S. 278 ff. 27 Schulte, JZ 1988, S. 278; Die Initiative ist bereits im Bundesrat gescheitert. Vergleichbares sah ein Gesetzentwurf Hessens vor, der nach einem Regierungswechsel zurückgezogen wurde, BR-Drucks. 100/87. 28 Eine Ausnahme bildet die altruistische Verbandsklage im Naturschutzrecht (§§ 5 8 - 6 1 BNatSchG), die über das Fehlen individueller Klagemöglichkeiten hinweghilft und auf diese Weise den Belangen des Naturschutzes dient. Der Naturschutz soll hier aber gerade gegen staatliche Maßnahmen (v. a. Verwaltungsakte) durchgesetzt werden. Der Staat soll keine Anspruchsberechtigung erhalten. Zudem ist das Verbandsklagerecht im öffentlichen Recht und nicht im Zivilrecht angesiedelt. Näher Kloepfer, Umweltrecht, § 11 Rn. 252 ff.; Seelig/Gündling, NVwZ 2002, S. 1033 (1035 ff.). 29 Siehe bereits die Nachweise in FN 10-12; ferner u. a. Taupitz, Jura 1992, S. 113 (115); Baumann, JuS 1989, S. 433.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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sches Aktionsprogramm von 1987 auf. 31 Die erste diesbezügliche Maßnahme der Kommission, die Richtlinie über die zivilrechtliche Haftung für durch Abfälle verursachte Schäden,32 war im Sande verlaufen. 33 Grund war der Widerstand der Mitgliedstaaten, welche die Bedenken ihrer Abfallindustrie teilten. Obwohl es an einem sektorenübergreifenden Schutz der Umweltmedien bisher mangelte und die nationalen Haftungsvorschriften der Mitgliedstaaten als nicht ausreichend betrachtet wurden, war das Klima für eine Haftungsverschärfung ungünstig. Dies belegt außerhalb der Europäischen Union ferner der Stillstand im Ratifikationsprozeß der „Konvention zur Haftung für Schäden aus umweltgefährdenden Tätigkeiten".34 Der Europarat hat in dieser Konvention eine Gefährdungshaftung für den Umgang mit gefährlichen Stoffen sowie das Betreiben einer Mülldeponie erarbeitet, die erstmals einen universellen Schutz der Umweltmedien gegen jede erhebliche physische, chemische oder biologische Verschlechterung vorsah. 35 Von den neun Unterzeichner-Staaten hat jedoch noch keiner die Konvention ratifiziert. 36 Deutschland hat die Konvention bislang nicht unterzeichnet; 37 das ist auch in Zukunft nicht zu erwarten, weil Deutschland im Umwelthaftungsgesetz das System der Anlagenhaftung der Handlungshaftung vorgezogen hat. 38

m . Das Grünbuch über die Sanierung von Umweltschäden Das Anliegen insbesondere der Kommission, mittels einer Haftung für Umweltschäden für ein einheitliches, hohes Schutzniveau zu sorgen, blieb allerdings bestehen. Im Mai 1993 hat die Kommission ein Grünbuch über die Sanierung von 30 Das Verursacherprinzip erscheint bereits im 1. Umweltprogramm, ABl EG 1973 L 194/1. Erste Ansätze einer Umwelthaftung waren bereits 1976 im nicht verabschiedeten Richtlinienvorschlag über giftige und gefährliche Abfalle enthalten, ABl. EG 1976, C 194, S. 2. AB1. EG 1987, C 328, S. 15, 2.2.5. 32 Vorschläge für eine Richtlinie über die zivilrechtliche Haftung für durch Abfälle verursachte Schäden, KOM (89) 282 endg., ABl. EG 1989, C 251, S. 3 ff., geändert durch KOM (91) 219 endg., ABl. EG 1991, C 192, S. 6 ff. 33 Vgl. dazu Wolfrum /Langenfeld, Umweltschutz durch internationales Haftungsrecht, 1999, S. 161 ff.; Ball/Bell, Environmental Law, 2000, S. 294; Roller, PHI 1990, 154 (156 ff.). 34 Sogenannte Lugano-Konvention, abgedruckt in PHI, 1993, S. 196 ff.; dazu Höpke/ Thürmann, in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. 1, 2003, § 41, Rn. 97 ff.; Seiht, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 132 ff.; Friehe, NuR 1992, S. 453 ff.; Rütz, PHI 2002, S. 74 f. 3 5 Art. 2 Abs. 7 lit. c) der Konvention; vgl. Kokott/Klaphake/Marr, S. 312 ff. 36 Vgl. die Internetseite des Europarates, http: //conventions.coe.int/treaty/EN/cadreprincipal.htm. 3 7 Zur Ablehnung siehe Seiht, PHI 1993, S. 124 (129). 38

Siehe oben im 1. Kapitel unter E. I. 3.; im übrigen wurde die Lugano-Konvention von der Umwelthaftungsrichtlinie gleichsam überholt, vgl. Leifer, NuR 2003, S. 598 (602).

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Umweltschäden vorgelegt, um die Idee der Haftung für Umweltschäden wiederzubeleben.39 Das Grünbuch sollte als Diskussionsgrundlage für eine gemeinschaftsweite Harmonisierung der zivilrechtlichen Haftung für Umweltschäden dienen. Auf diese Weise wurden sowohl die Implementation der Umweltschutzziele des Art. 174 EGV, vorrangig des Verursacherprinzips, als auch die Wettbewerbsgleichheit zwischen den Mitgliedstaaten angestrebt. Insgesamt sollten die Haftungsstandards angehoben werden. 40 Als Anstoßpunkt gedacht, beließ es das Grünbuch dabei, mögliche Schwierigkeiten der Haftungsregelung darzulegen. Angerissen werden die Fragen der Definition des Umweltschadens, der Kausalität und der Versicherbarkeit. Auch wenn noch kein konkretes Modell vorgelegt wurde, wird aus dem Grünbuch eine Präferenz für eine gemeinschaftsweite zivilrechtliche Gefährdungshaftungsnorm in Verbindung mit einem kollektiven Entschädigungssystem herausgelesen.41 Damit manifestiert sich im Grünbuch der Politikwechsel von speziellen, bereichsspezifischen Haftungsvorschriften zu einer horizontalen Regelung. Weitgehend offen ließ die Kommission jedoch die für das Haftungskonzept maßgebliche Frage der Anspruchsberechtigung. Die Kommission neigte dazu, neben dem Staat auch Umweltverbänden die Klagebefugnis zuzusprechen.42 Bereits im April 1994 forderte das Europäische Parlament von der Kommission einen Vorschlag für eine Umwelthaftungsrichtlinie. 43 Dieser kam aber, wiederum wegen des Widerstandes vieler Mitgliedstaaten, nicht zustande.44 Auch die deutsche Bundesregierung sah auf europäischer Ebene keinen Handlungsbedarf und hatte die Kommission aufgefordert, von weiteren Aktivitäten abzulassen.45 IV. Das Weißbuch zur Umwelthaftung Statt des Richtlinienvorschlages hat die Kommission ein Weißbuch ausgearbeitet, das sie im Jahr 2000 verabschiedete. Zuvor mußte bereits der Entwurf aufgrund massiver Kritik aus der Wirtschaft überarbeitet werden. 46 Das Weißbuch beinhaltet 39 KOM (93) 47 endg., ABl. EG 1993, C 149 S. 12; dazu Wolfrum /Langenfeld, S. 170 ff.; Friehe, Europäische Tendenzen der Umwelthaftung, in: Nicklisch (Hrsg.), 1995, S. Al (61 ff.); Hülst/Klinge-van Rooij, PHI 1994, S. 108; Godt, ZUR 1995, S. 51 f.; Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 109 ff. 40 Kiethe/Schwab, EuZW 1993, S. 437 (440). 41 Hoffmeister/Kokott, S. 217. 42 Hülst/Klinge-van Rooij, PHI 1994, S. 119; vgl. Hager, ZEuP 1997, S. 9 (20 f.). 43 Resolution des Europäischen Parlaments vom 20. 04. 1994, ABl. EG 1994, C 128, S. 165. 44 Vgl. Hoffmeister/Kokott, S. 214 f., 218 f. 45 Albin/Mueller-Kraenner, ZUR 1999, 71 (75). 46 KOM (2000) 66 endg. vom 9. 2. 2000, siehe dazu Hoffmeister/Kokott, S. 220 ff.; Höpke/Thürmann, in: Rengeling, Rn. 109 ff.; Godt, ZUR 2001, S. 188 ff.; Kokott/Klaphake/Marr, S. 265 ff.; Leifer, NuR 2003, S. 602.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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einen Vorschlag für eine zweispurige Rahmenrichtlinie. In einer Kombination aus verschuldensabhängigen und verschuldensunabhängigen Haftungstatbeständen sollten sowohl herkömmliche Schäden an individuellen Rechten und Rechtsgütern als auch ökologische Schäden an der biologischen Vielfalt und am Boden ersetzt werden; letztere traten immer mehr in den Vordergrund. Wenngleich die Einklagbarkeit anders als im Umwelthaftungsgesetz zweistufig geregelt war, indem primär staatliche Stellen den Ersatzanspruch geltend machen sollten, wurde an der zivilrechtlichen Ausgestaltung festgehalten. 47 Fallengelassen wurde die Konzeption kollektiver Ausgleichssysteme.

B. Der Konzeptwandel zu einem ordnungsrechtlichen Regelungsmodell I. Der Kurswechsel der Kommission und sein Ausdruck in der Richtlinie Auf der Grundlage eines Arbeitspapiers vom 25. Juli 2001 48 schwenkte die Kommission auf ein öffentlich-rechtliches Regelungskonzept um. Dieses spiegelt sich im Richtlinien Vorschlag vom 21. Februar 2002 49 und der verabschiedeten Richtlinie wider. Der Vorschlag der Umweltgeneraldirektion klammert die individualrechtlich zurechenbaren Personen- und Sachschäden aus und konzentriert sich auf ökologische Schäden. Privatpersonen werden von der Richtlinie folgerichtig keine Ansprüche auf Schadensersatz zuerkannt. 50 Insbesondere werden auch Vermögensschäden ausgenommen, die Dritten infolge von Umweltschäden entstehen. 51 Statt dessen wendet sich die Umwelthaftungsrichtlinie an den Staat als Hoheitsträger, der für die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden Sorge zu tragen hat. Zudem wird der Sanierungspflicht eine Vermeidungspflicht beigefügt, die als 47 Dieser Ansatz ist deshalb vergleichbar mit dem von v. Bar im Gutachten zum 62. DJT vorgeschlagenen Modell, siehe oben zu FN 19. 48 Abrufbar unter http: //europa.eu.int/comm/environment/liability/consultation.htm. 49 KOM (2002) 17 endg., ABl. EG 2002 C 151 E/06, S. 132; kurzer Überblick u. a. bei Salje/Peter, Einleitung Rn. 18 ff.; Dieterich/Au/Dreher, Umweltrecht der europäischen Gemeinschaft, 2003, S. 86; Spindler /Härtel, UPR 2002, S. 241; Hager, JZ 2002, S. 901. 50 Ausdrücklich Art. 3 Abs. 8 des Richtlinienvorschlags und Art. 3 Abs. 3 der RL 2004/ 35/EG. 51

Man denke nur an die Einnahmeeinbußen von Hoteliers, denen wegen der Zerstörung einer Naturlandschaft die Gäste wegbleiben. Wahrend der Kommissionsentwurf den Ersatz solche Vermögensschäden nicht ausdrücklich ausgenommen hatte, stellt Anhang II nunmehr klar, die Sanierung beinhalte „keine finanzielle Entschädigung für Teile der Öffentlichkeit". Vgl. auch den Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 58/2003 vom 18. 09. 2003, ABl. EG 2003 C 277 E/10, E 27: „Vermögensschäden fallen nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie."

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Gefahrenvorsorgemaßnahme über die bisher erwogenen zivilrechtlichen Modelle hinausgeht.52 Mit der Durchsetzung der Pflichten werden von den Mitgliedstaaten zu benennende Behörden betraut. 53 Dieser Paradigmenwechsel führt dazu, daß die Richtlinie „quasi im Deckmantel der Umwelthaftung" neues Ordnungsrecht schafft. 54 Parallelen zu Ersatzvornahme und Kostenerstattung im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht zeichnen sich deutlich ab. 55 Die „Haftung" nach der Umwelthaftungsrichtlinie entspricht letztlich der Störerverantwortlichkeit nach deutschem Ordnungsrecht. 56 Der zivilrechtliche Ursprung der Richtlinie offenbart sich allerdings an Relikten privatrechtlicher Herkunft. 57 Nicht zuletzt die Terminologie ist dem Privatrecht verhaftet. Aus dem Blickwinkel des deutschen Rechts mutet der trotz des Konzeptwechsels beibehaltene Begriff „Haftung" unpassend, zumindest ungewohnt an; 58 dieser scheint vom Zivilrecht für den dortigen Schadensausgleich reserviert zu sein. Speziell der Begriff „Umwelthaftung" wird bereits durch das Umwelthaftungsgesetz belegt und bezieht sich auf die Ersatzpflicht typischer Individualschäden an Körper und Sachen. Der Umweltbezug ergibt sich allein aus der Verursachung über einen Umweltpfad. Die Umwelthaftungsrichtlinie ist dem Umwelthaftungsgesetz daher diametral entgegengesetzt.59 Um den öffentlich-rechtlichen Charakter der Verpflichtungen zu betonen, wird deshalb die Bezeichnung „Verantwortlichkeit" bevorzugt. 60 Diese Kritik zwingt allerdings nicht zu einem Verzicht auf dem Begriff „Haftung". Verengt man ihn nicht auf das Zivilrecht, meint er die Rechtsfolge der Verantwortlichkeit. 61 An die Verantwortlichkeit knüpft die Richt52 Art. 4 des Richtlinienvorschlags und Art. 16 der RL 2004/35 / EG. 53 Art. 13 des Richtlinienvorschlags und Art. llder der RL 2004/35/EG. 54 Maurer-Appel, NuR 2003, S. 538 (540); vgl. Knopp, UPR 2005, S. 361: ,/eines Ordnungsrecht". 55 Vgl. Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, S. 314. 56 Vgl. Ruffert, Zur Konzeption der Umwelthaftung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Hendler/Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 43 (49). 57 Fischer/Fluck, RIW 2002, 814 (820 f.); wegen des zivilrechtlichen Einschlags stuft Wagner, VersR 2005, S. 177 (189) die Richtlinie gar als „veritablen Zwitter" zwischen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Haftung ein. 58 Spieth, Umwelthaftung contra Umweltordnungsrecht, in: Oldiges (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung, 2004, S. 63 (64: „irreführend"); Sangenstedt, Europarechtliche Perspektiven der Umwelthaftung, ebd., S. 107 (108: „mißverständlich"); Sasserath-Alberti, AgrarR 2004, S. 313 (314). 59 Wagner, VersR 2005, S. 178. 60 Leifer, NuR 2003, S. 602; Fischer/Fluck, RIW 2002, S. 818. Auch der Referentenentwurf des USchadG spricht von Verantwortlichkeit und vom Verantwortlichen statt vom Betreiber, vgl. den Begriff des Verantwortlichen in § 2 Nr. 3 des USchadG, der dem Betreiberbegriff der Umwelthaftungsrichtlinie entspricht. 61 Nach Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 1986, S. 290 können die Begriffe Haftung und Verantwortlichkeit gleichsinnig verwendet werden, wenn Haftung nicht

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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linie hauptsächlich die Kostentragungspflicht bezüglich der Vermeide- und Sanierungstätigkeiten. 62 In dieser Bedeutung ist der Begriff auch dem öffentlichen Recht nicht fremd. 63 Daß die Richtlinienkonstruktion teilweise auf zivilrechtlichen Bausteinen ruht, zeigt sich daneben am Verschuldenselement. Einerseits kann das Verschulden auf der zweiten Haftungsspur der Richtlinie unmittelbar haftungsbegründend wirken; andererseits versperrt es Entlastungsgründe.

II. Die Gründe für den neuen Ansatz Vorrangiges Ziel der Umwelthaftungsrichtlinie ist die Restitution ökologischer Schäden auf der Grundlage des Verursacherprinzips. Hierauf beruft sich Art. 1 der Richtlinie ausdrücklich. 64 Die Umwelthaftungsrichtlinie soll diesen in der gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzung bislang unterrepräsentierten Grundsatz ausgestalten und umsetzen. Das Leitmotiv bildete die Überzeugung, eine gemeinschaftsweite Regelung sei erforderlich, um mögliche Umgehungsstrategien durch Ausnutzung von Rechtsunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern. 65 Der Kurswechsel zum Ordnungsrecht erklärt sich aus der Erkenntnis der Kommission, daß die herkömmlichen Schäden an Personen und Sachen ausschließlich durch das Zivilrecht zu regulieren sind. Den Weg wies eine rechtsvergleichende Studie, die aufgezeigt hatte, daß Altlasten und Beeinträchtigungen der biologischen Vielfalt in den Mitgliedstaaten überwiegend öffentlich-rechtlich, Personenund Sachschäden hingegen privatrechtlich geregelt werden. 66 Auf letzterem Gebiet bestehen nach Ansicht der Kommission in den Mitgliedstaaten ausreichende Haftungsregelungen, weswegen sie die Erfassung dieser Art von Umweltschäden im weiten Sinn für verzichtbar hält. 67 Für ökologische Schäden existierten dagegen nicht in allen Mitgliedstaaten Haftungsvorschriften; zumindest seien sie vielfach lückenhaft. 68 Hier soll die Richtlinie harmonisierend wirken. das Einstehen für fremde Verbindlichkeiten, sondern die Verantwortlichkeit für eignes Verhalten und eigene Sachen meint. 62 Art. 8 Abs. 1 des Richtlinienvorschlags und Art. 8 Abs. lder RL 2004/35/EG. 63 Die Bezeichnung als Handlungs- und Zustandshaftung im Polizeirecht verkürzt sogar die Bedeutung wieder, indem sie sich auf die Verantwortlichkeit als solche bezieht. Zu finden u. a. bei Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1999, 2. Abschn. Rn. 72, 83. 64 Art. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie lautet: „Ziel dieser Richtlinie ist, auf der Grundlage des Verursacherprinzips einen Rahmen für die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden zu schaffen." 65 KOM (2002) 17 endg., S. 5, 58; vgl. Ruffert, in: Hendler/Marburger, S. 48. 66 Abrufbar unter http: //europa.eu.int/comm/environment/liability/legalstudy.htm. 67 KOM (2002) 17 endg., S. 18.

68 KOM (2002) 17 endg., S. 6.

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Zudem sollen nach dem Willen der Kommission die bestehenden Umweltrichtlinien, insbesondere die FFH-Richtlinie 69 und die Vogelschutzrichtlinie 70, ergänzt und effektiver gestaltet werden, indem die biologische Vielfalt durch Haftungsbestimmungen geschützt wird. 7 1 Die biologische Vielfalt entzieht sich als reines Naturgut einer privatrechtlichen Regelung.72 Der privatrechtliche Weg der Vorarbeiten mußte daher verlassen werden.

C. Die Regelungen der Umwelthaftungsrichtlinie im Überblick Der Regelungsansatz der Richtlinie eröffnet eine neue Dimension der Umwelthaftung, weil ökologische Schäden bereichsübergreifend dem öffentlichen Recht unterstellt werden. 73 In der konkreten Ausgestaltung läßt die Richtlinie hingegen Zurückhaltung erkennen. Sie ist konzipiert als gemeinsamer Ordnungsrahmen für die Umwelthaftung und soll daher lediglich Rahmenbedingungen schaffen. 74 Der folgende Überblick über die Kernpunkte verdeutlicht, daß sie trotz oder eher wegen des langen Entstehungsprozesses kein übermäßig scharfes Schwert ist.

I. Die Schutzgüter Der Kreis der Schutzgüter wird unter dem Begriff „Umweltschaden" zusammengefaßt. Im Kontext der Umwelthaftungsrichtlinie ist der Begriff gemäß der Definition in Art. 2 Nr. 1 auf einen Ausschnitt der Umweltschäden beschränkt. Die Richtlinie denkt dabei vordergründig an ökologische Schäden. Sie nimmt allerdings Beeinträchtigungen der geschützten Umweltgüter nicht aus, wenn das Umweltgut einem individuellen Recht unterliegt. Auch im letzten Fall soll die öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit entstehen. Der Umweltschaden gemäß der Richtlinie ist daher weder gleichzusetzen mit dem Umweltschaden im weiten Sinn 69 Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Pflanzen und Tiere, RL 92/43 / EWG, ABl. EG 1992 L 206, S. 7. 70 Richtlinie über die Erhaltung wildlebender Vogelarten, RL 79/409/EWG, ABl. EG 1979, L 103, S. 1.

71 KOM (2002) 17 endg., S. 6. 72 Siehe bereits oben in diesem Kapitel unter A. I. 2. 73 Vgl. den Titel des Aufsatzes von Beyer, ZUR 2004, S. 257, der diese Einordnung allerdings mit einem Fragezeichen versieht und im Ergebnis nur einen kleinen Schritt des Haftungsrechts konstatiert. 74 Erwägungsgrund (3) der RL 2004/35 / EG. Die Ermächtigungsgrundlage bildet Art. 175 EGV. Knopp, UPR 2005, S. 361 stellt das Ziel der Harmonisierung in Abrede, weil den Mitgliedsstaaten grundsätzlich der Erlaß strengerer Regelungen gestattet ist, Art. 16 Abs. 1. Dennoch erfolgt eine Harmonisierung, indem ein Mindeststandard der Haftung festgeschrieben wird.

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noch mit dem ökologischen Schaden. Da es für die ordnungsrechtlichen Pflichten nicht auf die eigentumsrechtliche Zuordnung eines Umweltgutes ankommt, wird im folgenden meist der Begriff Umweltschaden verwendet. Schädigungen der Luft sind praktisch und rechtlich nicht kompensationsfähig. Folglich ist die Luft kein Schutzgut der Richtlinie. 75

7. Ökologische Vielfalt Das Schutzgut der ökologischen Vielfalt wird in Anlehnung an die Auflistungen der geschützten Arten und natürlichen Lebensräume in der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie bestimmt (Art. 2 Nr. 1, Nr. 3). Die Schädigung geschützter Arten und Lebensräume wird demnach nur von der Umwelthaftungsrichtlinie erfaßt, wenn die beeinträchtigte Art oder der geschädigte Lebensraum nach Maßgabe der genannten Richtlinien geschützt ist. Der Schutzumfang des Naturgutes der ökologischen Vielfalt ist somit erheblich eingeschränkt. Zwei weitere wichtige Eingrenzungen werden überdies bereits an der Stelle der Schutzgutbestimmung wirksam: Die Schadensschwelle wird nur von erheblichen, nachteiligen Auswirkungen in bezug auf die Erreichung oder Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustandes dieser Arten und Lebensräume überschritten. Die Erheblichkeit ist nach bestimmten, in Anhang I aufgeführten Kriterien zu ermitteln. 76 Zum zweiten ist der Schadensbegriff streng verwaltungsakzessorisch. Sind die nachteiligen Auswirkungen im Einklang mit der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie genehmigt worden, stellen diese keinen Umweltschaden dar. Aus dem Anwendungsbereich fallen insbesondere Eingriffe in Schutzgebiete nach der FFH-Richtlinie heraus, die nach Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses mangels Alternativlösung genehmigt wurden. Hier greifen bereits die Ausgleichspflichten nach Art. 6 Abs. 4 der FFH-Richtlinie und §§ 34 Abs. 5, 19 BNatSchG.

2. Gewässer Die Einbeziehung der Gewässer in die zu schützenden Umweltgüter ist hingegen lückenlos. Unter den Begriff des Gewässers fallen alle Gewässer der Wasserrahmenrichtlinie 77. Die Schädigung der Gewässer ist gleichfalls an eine Erheblich75

Rujfert, in: Hendler /Marburger, S. 53 befürchtet deswegen eine mißbräuchliche Verlagerung von Umweltschäden in das Medium Luft. 76 Zum Kriterium der Erheblichkeit ausführlich und kritisch Müller, Erfassung und Sanierung von Umweltschäden aus naturwissenschaftlicher Sicht, in: Hendler /Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 13 (18 ff.). 77 Richtlinie zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik vom 23. 10. 2000, RL 2000760/EG, ABl. EG 2000, L 327, S. 1. 7 Löbbecke

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

keitsschwelle geknüpft. Sie ersetzt die im Richtlinienvorschlag vorgesehene Abhängigkeit des Schadens von einer Herabstufung in eine niedrigere Kategorie der Wasserrahmenrichtlinie. Eine solche Voraussetzung hätte als schematische Lösung zu Haftungslücken geführt. 78

3. Boden Beim dritten Schutzgegenstand entfernt sich die Richtlinie von dem rein ökozentrischen Blick. Als Schädigung des Bodens gilt eine Bodenverunreinigung nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, daß ein erhebliches Risikos einer Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit festgestellt wird. 7 9 Diese anthropozentrische Perspektive verkürzt den Schutz erheblich. Rechtfertigen kann diesen Systembruch die Notwendigkeit der intensiven Nutzung des Bodens durch den Menschen, wenngleich die Richtlinie vergleichsweise hohe Anforderungen an die Feststellung eines Umweltschadens stellt. 80 Daneben muß beachtet werden, daß eine gemeinschaftliche Bodenschutzpolitik auf einer anerkannten konzeptionellen Basis bislang noch nicht existiert hat. Die Einbeziehung des Schutzgutes Boden stellt sich somit als erster, noch vorsichtiger Schritt und als Einstieg in eine Bodenschutzkonzeption der Europäischen Union dar. 81

EL Der Haftungstatbestand 1. Die Haftungsgründe Das Haftungsregime ist zweispurig ausgestaltet. Der primäre Anwendungsbereich der Richtlinie nach Art. 3 Abs. 1 betrifft Umweltschäden aufgrund bestimmter beruflicher Tätigkeiten. Parallel zum Listenprinzip des Umwelthaftungsgesetzes führt der Anhang III diese Tätigkeiten unter Verweis auf eine Vielzahl anderer Richtlinien abschließend auf. Im Kern handelt es sich um den Betrieb von genehmigungsbedürftigen Anlagen, um genehmigungsbedürftige Wasserentnahmen, um die Abfallentsorgung, die Herstellung von gefährlichen Stoffen und Pflanzenschutzmitteln sowie um den Umgang mit solchen, die Beförderung gefährlicher Güter und die Anwendung und Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen. Als Verpflichteter wird der Betreiber der Tätigkeit herangezogen, der in Art. 2 Nr. 6 näher umschrieben wird. 8 2 Bemerkenswert ist eine Einschränkung im Hinblick auf 78 79

Art. 2 Nr. 18 b des Richtlinienvorschlags; zur Kritik Hager, in: Oldiges, S. 31. Art. 2 Nr. 1 lit. c) des Richtlinienvorschlags.

80 Vgl. § 2 Abs. 3 BBodSchG, der lediglich eine Beeinträchtigung des Allgemeininteresses fordert; Hager, JZ 2002, S. 902 f. 81 Rujfert, in: Hendler/Marburger, S. 55. 82 Vgl. zum Betreiberbegriff der Umwelthaftungsrichtlinie Wagner, VersR 2005, S. 185 f.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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genehmigungsbedürftige Anlagen, die im Richtlinienentwurf noch nicht enthalten war: Ausgenommen werden Anlagen oder Anlagenteile, die für die Zwecke der Forschung, Entwicklung und Prüfung neuer Erzeugnisse und Verfahren genutzt werden. 83 Speziell für das Schutzgut der biologischen Vielfalt geht die Richtlinie jedoch einen zweiten Weg und konstruiert einen Auffangtatbestand. Für Biodiversitätsschäden tritt die Haftung bei anderen als den genannten Tätigkeiten ein, wenn ein schuldhaftes Handeln vorliegt. Die öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit wird dadurch an ein Verschulden geknüpft, das bisher im Ordnungsrecht unbeachtlich war. 84 An dieser Stelle treten die privatrechtlichen Wurzeln der Richtlinie ein weiteres Mal an die Oberfläche.

2. Die Kausalität Die Richtlinie verzichtet auf die Regelung des Kausalitätsnachweises, schafft hier also keine Erleichterungen. Insofern übt die Richtlinie zu große Zurückhaltung, weil sich die Wirksamkeit einer Umwelthaftung zuvorderst an Verursachungsfragen entscheidet. Bleiben diese ungeregelt, insbesondere ohne Beweiserleichterungen, können Umweltschäden häufig nicht haftungsrechtlich erfaßt werden. 85

I I I . Die Haftungsfolgen Die Verantwortlichkeit des Betreibers kann verschiedene Rechtsfolgen nach sich ziehen. Der konkrete Haftungsinhalt richtet sich danach, ob bereits ein Umweltschaden eingetreten und die zuständige Behörde tätig geworden ist.

1. Die Vermeidungspflicht Besteht eine unmittelbare Gefahr eines Umweltschadens, verpflichtet Art. 5 Abs. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie den Betreiber, unverzüglich die erforderlichen Vermeidungsmaßnahmen zu ergreifen. Diese Maßnahmen entsprechen im polizeirechtlichen Verständnis der typischen Gefahrenabwehr. 86 Dagegen war im

83 Vgl. noch im Richtlinienvorschlag, Anhang I, 1. Spiegelstrich und jetzt Anhang EI, Nr. 1 Satz 2 der RL 2004/35/EG. 84 Vgl. zur allgemeinen Meinung Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 2001, Rn. 195; Drews/Wacke/Vogel /Martens, S. 293, 310; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2003, II., Rn. 154. 85 Hager, JZ 2002, S. 908; Köndgen, UPR 1983, S. 345; Rehbinder, 8 (3) Env. Liability 85, 87 (2000); a.A. Bergkamp, 9 (6) Env. Liability 251, 258 (2001).

7*

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Kommissionsentwurf im entsprechenden Art. 4 Abs. 1 noch von Vorsorgemaßnahmen die Rede. Da sich die Vermeidungspflicht nicht auf Vorsorge in bezug auf einen langfristigen Umgang mit Risiken bezieht, sondern auf die konkrete Abwendung erkannter und unmittelbar bevorstehender Gefahren, ist der Begriff „Vermeidungsmaßnahmen" hier genauer. Die zuständige Behörde kann die notwendigen Informationen beim Betreiber einholen, ihn zur Vornahme der Vermeidungsmaßnahmen verpflichten und Einzelweisungen erteilen oder selbst die erforderlichen Maßnahmen treffen. 87

2. Die Sanierungspflicht Nach Eintritt eines Umweltschadens greift die Sanierungspflicht gemäß Artt. 6, 7 ein, deren Inhalt im Anhang I I konkretisiert wird. Der Richtlinie liegt ein naturales, nicht monetäres Kompensationskonzept zugrunde. 88 Die Störungsbeseitigung zielt in erster Linie auf die Wiederherstellung des status quo ante. Eine solche primäre Sanierung soll die geschädigten Naturgüter annähernd in ihren Ausgangszustand zurückversetzen. 89 Ist dieses Ziel nicht erreichbar, muß eine ergänzende Sanierungsmaßnahme stattfinden, die an einem anderen Ort Ressourcen von vergleichbarem Wert schafft. Im übrigen müssen auch zwischenzeitliche Verluste bis zur Wiederherstellung ersetzt werden. 90 Bei Bodenschädigungen beschränkt sich das Sanierungsziel als Folge des anthropozentrischen Schadensbegriffes auf die Beseitigung der Gefährdung für die menschliche Gesundheit.91 Die zuständige Behörde ist wiederum ermächtigt, Informationen vom Betreiber zu verlangen, Sanierungsmaßnahmen anzuordnen, Einzelanordnungen zu erteilen oder die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen selbst zu ergreifen. 92

3. Die Kostentragung und -erstattung Falls die zuständige Behörde des Mitgliedstaates die erforderlichen Vermeidungs- und Sanierungsmaßnahmen selbst vornimmt, 93 erschöpft sich die Verant86 Oldiges, Umwelthaftung vor der Neugestaltung, in: ders. (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung, 2004, S. 11 (13); Ruffert, in: Hendler/Marburger, S. 50. «7 Art. 5 Abs. 3 lit. a)-d). 88 89 90

Maurer-Appel, NuR 2003, S. 539. Anhang n, 1.1.1.

Sogenannte Ausgleichssanierung, Anhang II, 1.1.3. 91 Anhang II, 2. w Art. 6 Abs. 2 lit. a)-e). 93 Art. 5 Abs. 3 lit. b), Art. 6 Abs. 2 lit. e). Darüber hinaus wird qualifizierten natürlichen und juristischen Personen, vor allem im Umweltschutz tätigen Nichtregierungsorganisationen, ein abgeschwächtes Verbandsklagerecht eingeräumt. Nach Art. 12 können sie die zuständige Behörde zum Tätigwerden auffordern, aber nicht direkt gegen den Betreiber klagen.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

101

wortlichkeit in einer bloßen Kostentragung. 94 Die Terminologie „Haftung" trifft die Pflichtenstellung insofern genau. Der Anspruch der Behörde unterliegt einer von ihrem Standpunkt aus gesehen großzügig gestalteten Verjährung. 95 Wenn der Betreiber selbst tätig wird, trägt er nach dem Grundsatz des Art. 8 Abs. 1 ebenfalls sämtliche Kosten. Die Kostenlast ist nicht summenmäßig begrenzt. Die Richtlinie legt einen umfassenden Kostenbegriff zugrunde. Kosten sind nach Art. 2 Nr. 16 alle durch die Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen und wirksamen Durchführung der Richtlinie gerechtfertigten Kosten, einschließlich der Kosten für die Schadensermittlung sowie der Verwaltungs- und Verfahrenskosten.

4. Die amerikanischen Mustergesetze Eine wesentliche Vorbildfunktion für die Umwelthaftungsrichtlinie und die Haftungsfolgen im besonderen besaßen us-amerikanische Regelungen, zuvorderst der Comprehensive Environmental Response, Compensation and Liability Act (CERCLA) aus dem Jahr 1980 und der Oil Pollution Act (OPA) von 1990.96 Nach dem CERCLA sind die amerikanischen Behörden sowie die Bundesregierung ermächtigt, gegenüber den Verursachern von Altlasten oder Schäden an common goods die Sanierung oder deren Kosten zu fordern. Der OPA richtet sich gegen die Ölverschmutzung von Gewässern. Beide Gesetze folgen dem System der Gefährdungshaftung. Bezüglich des Haftungsinhalts orientiert sich die Richtlinie stärker an den OPA-Rules, die gleichfalls zu tatsächlichen Ausgleichssanierungsmaßnahmen verpflichten. 97 Das Gegenmodell bestünde in einer Monetarisierung der Schäden, wie es im CERCLA angewendet wird. 98 Die in CERCLA und OPA statuierte Fondslösung (Superfund) wurde in die Richtlinie aber nicht übernommen.

5. Die mittelbare Aktivlegitimation natürlicher oder juristischer Personen Die Vermeide- und Sanierungspflichten sowie die sich daraus ergebenden Kostenersatzansprüche bestehen im Verhältnis zwischen öffentlicher Hand in Gestalt der zuständigen Behörde und dem Betreiber als Verursacher. 99 In dieses öffentlich94 Art. 8 Abs. 2. 95 Art. 10 sieht eine Frist von fünf Jahren vor, die erst mit Kenntnis des Pflichtigen und Abschluß der Maßnahmen beginnt. 96 Leifer, NuR 2003, S. 598; eingehend Vettori, Die Haftung für Ökoschäden im Recht der USA, 1996; Baiensiefen, Umwelthaftung, 1994. 97 Zum OPA ausführlich Anderson/Wethmar, RIW 1991, S. 1001. 98 Kokott/Klaphake/Marr, S. 243 ff.; Will/Marticke, Verantwortlichkeit für ökologische Schäden, Bd. ü / 2 , 1992, S. 521 ff.; kritisch gegenüber der monetären Bewertung Thüsing, VersR 2002, S. 927. 99 Vgl. Artt. 5 Abs. 4, 6 Abs. 3, 8 Abs. 2.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

rechtliche Verhältnis ist naturgemäß kein Dritter unmittelbar eingeschaltet. Zur Erhöhung der Wirksamkeit räumt die Richtlinie dennoch natürlichen und juristischen Personen eine Art „mittelbarer Aktivlegitimation" 100 ein: Sie können die zuständige Behörde zum Tätigwerden auffordern und Untätigkeitsklage erheben. 101 Diese Befugnis ist lediglich an ein ausreichendes Interesse gebunden, das im Umweltschutz tätige Nichtregierungsorganisationen nach Art. 12 Abs. 1 S. 3 immer besitzen. Die Umweltverbände gelten als Träger von Rechten, damit sie ebenfalls eine Rechtsverletzung geltend machen können. 102 Interessentenklage und Verbandsklage werden auf diese Weise kombiniert und modifiziert.

IV. Die Haftungsausnahmen Die Richtlinie bedient sich verschiedener Techniken, um Ausnahmen von der Verantwortlichkeit des Betreibers festzuschreiben. Diese betreffen teilweise bereits die Vermeide- und Sanierungspflichten oder erst die Sekundärebene. 7. Die Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie Umweltschäden aufgrund bewaffneter Konflikte sowie höhere Gewalt in Gestalt außergewöhnlicher Naturereignisse werden ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen.103 Ebenso werden Summations- und Distanzschäden wie das Waldsterben, die Klimaveränderung und die Luftverschmutzung ausgeklammert. Das belegt wiederum die Berührungsängste hinsichtlich des Kausalitätsproblems. 104 Ferner kommt bestimmten internationalen Abkommen Vorrang vor der Richtlinie zu. 1 0 5 2. Keine Rückwirkung der Richtlinie Die Umwelthaftungsrichtlinie ist in ihrer Anwendung zeitlich auf Schäden beschränkt, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist eintreten. 106 Schon in der Gegenwart bestehende Umweltschäden, insbesondere Altlasten, bleiben von der Richtlinie unberührt. Der Rückwirkungsverzicht steht im Gegensatz zu Forderungen von Nichtregierungsorganisationen. 107 loo «oi 102 103 104

Wagner, VersR 2005, S. 178. Artt. 12,13. Art. 12 Abs. 1 S. 4. Art. 4 Abs. 1.

Art. 4 Abs. 5; Erwägungsgrund (13). 105 Art. 4 Abs. 2 - 4 . 106 Art. 17 i.V.m. Art. 19 Abs. 1. Die Umsetzungsfrist endet am 30. April 2007. 107 Kokott/Klaphake/Marr, S. 277.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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3. Die Entlastung von der Kostentragungspflicht Die Umwelthaftungsrichtlinie sieht weitere Ausnahmen vor, deren Eintritt den Verantwortlichen von der Haftung für die Kosten befreit. Solche Haftungsausschlüsse sind im Regelungszusammenhang entscheidend, weil durch sie das gesamte Haftungskonzept aus den Angeln gehoben werden kann. Das belegt ein Rückblick auf die Streitfrage, ob das Produkthaftungsgesetz durch die Befreiung von Entwicklungsrisiken gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 5 seinen Charakter als Gefährdungshaftung eingebüßt hat. 1 0 8 Art. 8 Abs. 3 lit. a) legt verbindlich fest, daß die Kostentragungspflicht des Betreibers entfallt, wenn der Umweltschaden durch Dritte verursacht wurde. In Bezug genommen werden Sabotage- und Terrorakte. 109 Dasselbe gilt in dem schwer vorstellbaren Sonderfall, daß der Schaden auf die Befolgung behördlicher Anordnungen zurückzuführen ist, die unabhängig von dem Schadensereignis erteilt wurden. 110 Nach Art. 8 Abs. 4 lit. a) kann der Einwand des rechtmäßigen, genehmigten Verhaltens den Betreiber von der Kostentragung befreien, wenn er nicht schuldhaft gehandelt hat. 111 Das schadensursächliche Verhalten muß ausdrücklich erlaubt sein und den Bedingungen der Erlaubnis in vollem Umfang entsprechen. Diese Art der Legalisierungswirkung hätte zur Folge, daß nur noch für Verstöße, Störfälle und Unfälle gehaftet würde. 112 Der Charakter der Haftung würde sich bei Umsetzung dieser Regelung daher einschneidend verändern. Der als permit defence oder regulatory compliance defence bezeichnete Ausschlußgrund ist bei genehmigten Beeinträchtigungen der biologischen Vielfalt wegen der Eingrenzung des Schadensbegriffes entbehrlich. 113 Ergänzt wird der Einwand durch den anschließend genauer zu beleuchtenden Entlastungsbeweis bei Entwicklungsrisiken. Die Einführung der Haftungsausschlüsse steht jedoch zur Disposition der Mitgliedstaaten. Dieser Kompromiß war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Mitgliedstaaten verständigen konnten. Die optionale Lösung hat indes für sich, daß sich das Gemeinschaftsrecht zurücknimmt, in das komplizierte Gleichgewicht zwischen öffentlich-rechtlicher Legalisierungswirkung und Verantwortlichkeit für Schäden einzugreifen, das in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen besteht.114 Siehe oben im 2. Kapitel unter A. II. 2. 109 Gemeinsamer Standpunkt des Rates Nr. 58/2003 vom 18. 09. 2003, ABl. EG 2003 C 277 E/10, E 28. no Art. 8 Abs. 3 lit. c). Vgl. Wagner, VersR 2005, S. 182. in Art. 8 Abs. 4 lit. a). 112 Vgl. Beyer, ZUR 2004, S. 262. 113

Siehe soeben unter C. I. 1. 114 Auf dieses Verdienst weist hin Ruffert, in: Hendler/Marburger, S. 59. Aus diesem Grund sollte die Kompromißlösung nicht einsilbig wegen möglicher Rechtsunterschiede diskreditiert werden, vgl. zur entsprechenden Argumentation sogleich unter II. 4.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

D. Die Behandlung des Entwicklungsrisikos Die anfangs zivilrechtlichen Überlegungen zur Umwelthaftungsrichtlinie mußten sich mit den Haftungsausnahmen auseinandersetzen, die eine Gefährdungshaftung gestatten kann. Zu diesen typischerweise erwogenen Ausschlußgründen zählte spätestens seit der Produkthaftungsrichtlinie die Verwirklichung des Entwicklungsrisikos. 115 Im Zuge der Konzentration auf den Ersatz ökologischer Schäden und dem damit einhergehenden, aber niemals offen proklamierten Wechsel in das öffentliche Recht wurde der Entlastungsgrund trotz seines privatrechtlichen Ursprungs nicht gestrichen. Die Einführung und konkrete Ausgestaltung dieser Ausnahme war jedoch mindestens ebenso umstritten wie der Entlastungsgrund des rechtmäßigen Normalbetriebs.

I. Der Regelungsgehalt des A r t 8 Abs. 4 lit. b) Das Haftungsproblem „Entwicklungsrisiko" ist systematisch in Art. 8, welcher die Kostentragung betrifft, geregelt. Nach dem Grundsatz des Art. 8 Abs. 1 trägt der Betreiber die Kosten der Maßnahmen. In den Absätzen. 3 und 4 sind Ausnahmen vorgesehen. Gemäß Art. 8 Abs. 4 lit. b) können die Mitgliedstaaten den Betreiber von den Kosten der gemäß der Richtlinie durchgeführten Sanierungsmaßnahmen befreien, wenn dieser nicht schuldhaft gehandelt hat und „der Umweltschaden verursacht wurde durch eine Emission oder eine Tätigkeit oder jede Art der Verwendung eines Produkts im Verlauf einer Tätigkeit, bei denen der Betreiber nachweist, dass sie nach dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse zum Zeitpunkt, an dem die Emission freigesetzt oder die Tätigkeit ausgeübt wurde, nicht als wahrscheinliche Ursache von Umweltschäden angesehen wurden".

1. Der Haftungsausschluß im Lichte des privatrechtlichen Entwicklungsrisikobegriffs Die einzelnen Voraussetzungen der Ausnahme decken sich in weiten Teilen mit den Kriterien, an denen das Vorliegen eines Entwicklungsrisikos im Produkt- und Technikrecht festgemacht wird. Maßgeblich wird auf die Unerkennbarkeit der schädigenden Wirkung eines Verursachungsbeitrages abgestellt. Als Beurteilungsmaßstab wird der Stand von Wissenschaft und Technik, also ein objektiver Standard, herangezogen. Zudem kommt es auf den Zeitpunkt des ursächlichen Verhaltens, in der Regel die Ausübung der Tätigkeit, an. Klar kommen diese Elemente in der Formulierung zum Vorschein, die Betreiber hätten die Kosten nicht zu tragen, 115

Siehe oben im 1. Kapitel unter D.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

105

wenn die schädigende Wirkung einer Emission zum Zeitpunkt ihres Auftretens „nicht vorhersehbar" war. 116 Art. 8 Abs. 4 lit. b) erfaßt nicht die Fallgruppe der sogenannten Entwicklungslücke. Der Wortlaut betrifft nur die Fälle, in denen das Risiko eines Umweltschadens nicht erkannt werden konnte. Er umfaßt aber nicht die Konstellationen, in denen ein erkanntes Risiko mit den historisch verfügbaren Mitteln nicht vermieden werden konnte. 117 Falls die Mitgliedstaaten von der Option der Kostenbefreiung bei Entwicklungsrisiken Gebrauch machen, bleibt von der strengen Haftung der Richtlinie dennoch ein gewichtiger Teil erhalten, insbesondere der Bereich der Entwicklungslücke. Die Umwelthaftungsrichtlinie nimmt daher Entwicklungsrisiken in der zivilrechtlichen Bedeutung in Bezug. In Übereinstimmung mit der Beweislastverteilung in der Produkthaftung hat der Betreiber den Beweis für das Eingreifen des ihm günstigen Einwandes zu erbringen. Zwei Abweichungen zur bisherigen Begriffsbestimmung des Entwicklungsrisikos sind dennoch festzustellen. Der erste Unterschied betrifft die Frage der Anerkanntheit neuer Erkenntnisse, der zweite die scheinbare Einbeziehung eines Wahrscheinlichkeitskriteriums. Beide Fragenkreise folgen aus der sperrigen Formulierung des Ausschlußgrundes. Das zentrale Merkmal der Unerkennbarkeit wird statt durch eine enger an die Produkthaftungsrichtlinie angelehnte Formulierung 118 durch die komplizierte Wendung ausgedrückt, daß die Tätigkeit oder Emission „nicht als wahrscheinliche Ursache von Umweltschäden angesehen wurde".

a) Die Frage der Anerkanntheit Zunächst könnte dieser Wortlaut anders als das neutrale Verb „erkennen" auf das Erfordernis der Anerkanntheit einer wissenschaftlichen Meinung hindeuten: Als umweltschädlich kann ein bestimmtes Verhalten bereits von Außenseitermeinungen erkannt werden; die Formulierung als schädlich „angesehen" drückt dagegen eine Übereinstimmung im Sinne einer allgemeinen, mehrheitlichen Auffas116

Erwägungsgrund (20). Zum Begriff siehe oben im 2. Kapitel unter B. I. Wagner, in: Hendler /Marburger, S. 122 ff. sieht deshalb einen Widerspruch zwischen Umwelthaftungsrichtlinie und Produkthaftungsrichtlinie. Die Richtlinien stimmen zwar im Entwicklungsrisikobegriff überein. Die Produkthaftung entfällt jedoch darüber hinaus bei Entwicklungslücken, weil der Fehlerbegriff auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens beschränkt ist, vgl. Art. 6 Abs. lit. c), Abs. 2 der Produkthaftungsrichtlinie, RL 85/374/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 25. 7. 1985, ABl. EG L 21 vom 7. 8. 1985, S. 29. Allerdings ist der Schluß verfehlt, daraus eine Gleichbehandlung von Entwicklungsrisiken und -lücken auch im Rahmen der Umwelthaftungsrichtlinie zu fordern. Vgl. Wagner, ebda., S. 124, der den Gedanken gleich wieder verwirft. 118 Beispiel: Tätigkeit, deren Umweltschädlichkeit nach dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse nicht erkannt werden konnte. 117

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

sung aus. Diese Ansicht ist bei der Bestimmung des Standes von Wissenschaft und Technik im Zivilrecht recht verbreitet. 119 Daneben dürfte der Wortlaut der Richtlinie die Einbeziehung verifizierbarer Mindermeinungen im Einzelfall jedoch nicht ausschließen. Insofern hält sich der inhaltliche Unterschied in Grenzen.

b) Das Wahrscheinlichkeitskriterium Schwerer wiegt die Errichtung der Wahrscheinlichkeitshürde. Der Entlastungsgrund des Entwicklungsrisikos griffe solange ein, bis der für die Annahme der Wahrscheinlichkeit eines Umweltschadens notwendige Grad erreicht ist. Wenn hinsichtlich der Schädlichkeit ein Verdacht unterhalb dieses Wahrscheinlichkeitsgrades besteht, führte dieser nicht schon zur Verneinung der Entlastung. Entwicklungsrisiken in diesem Sinne würden sich ein gutes Stück weit vom Extrem der absoluten Unkenntlichkeit entfernen. Somit käme es im Vergleich zum Richtlinienvorschlag durch das Einfügen dieses Zusatzes noch zu einer Ausweitung des Ausschlußtatbestandes. 1 2 0 Eine spürbare Erweiterung wäre aber nur dann zu konstatieren, wenn das Wahrscheinlichkeitserfordernis nicht funktionell auf das Ausscheiden diffuser Verdachtsmomente beschränkt wäre. Diese können den Einwand des Entwicklungsrisikos grundsätzlich nicht versperren, weil Gefährdungen in alle Gegenstände des täglichen Lebens hinein vermutet werden können. 121 Bei einer auf konkrete Belege gestützten Möglichkeit einer Gefahrdung endet der Anwendungsbereich der Entlastung und die volle Haftung tritt ein. 1 2 2 Da die Wahrscheinlichkeit die Steigerung der bloßen Möglichkeit darstellt, könnte Art. 8 Abs. 4 lit. b) den Bereich der nur möglichen, noch nicht wahrscheinlichen Umweltschädlichkeit dagegen noch umfassen. Die Konturen des Begriffs Entwicklungsrisiko würden von einem solchen Verständnis gesprengt; es käme nicht auf die Unerkennbarkeit der Gefahrdung, sondern auf die Unwahrscheinlichkeit des Schadens an. Im dargelegten engen Begriffsverständnis des Entwicklungsrisikos läßt sich mangels Erkennbarkeit gar keine Wahrscheinlichkeitsprognose erstellen. 123 Im Einfügen der Wahrscheinlichkeitsschwelle läge daher ein entscheidender qualitativer Unterschied. Ob sich der Begriff Entwicklungsrisiko in A r t . 8 Abs. 4 lit. b) allerdings derart weit in den Bereich vorhersehbarer Schäden erstrecken soll, ist stark zweifelhaft. Wenn bereits die Möglichkeit der Gefährdung erkannt ist, liegt die Annahme nahe, daß der Betreiber einen Umweltschaden billigend in Kauf nimmt. Daß die Richti g Siehe oben im 2. Kapitel unter C. V. 1. «20 Vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. d) des Kommissionsvorschlags KOM (2002) 17 endg., ABl. EG 2002 C 151 E/06, S. 132; vgl. Beyer, ZUR 2004, S. 262. 121 Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 71. 122 Siehe oben im 2. Kapitel unter A. I. 123 Zur Wahrscheinlichkeit bei Entwicklungsrisiken näher im 6. Kapitel unter A. II. 1.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

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linie den Betreiber in einem solchen Fall entlasten will, ist schwer vorstellbar. Überdies sind Ausnahmetatbestände in der Regel eng zu interpretieren. Der die Anwendbarkeit ausschließende Wahrscheinlichkeitsgrad ist deshalb in teleologischer Reduktion des Wortlauts schon bei Anhaltspunkten erreicht, die aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Arbeitsmethoden gewonnen wurden. Ein Blick auf die Formulierungen in den englisch- und französischsprachigen Fassungen bestätigt diesen Eindruck. Im Englischen wird das Adjektiv „likely" gebraucht, daß mit „wahrscheinlich", aber auch mit den schwächeren Begriffen „voraussichtlich" und „glaubhaft" übersetzt werden kann. Noch deutlicher wird die französische Fassung. Dort muß ein Umstand nur „susceptible", also „geeignet" oder „imstande" sein, einen Schaden herbeizuführen. Mit dem Adjektiv „wahrscheinlich" wird somit nicht mehr ausgedrückt als das Gegenteil einer aufgrund Nichtwissens unerkennbaren Gefährlichkeit: 124 Es meint eine objektiv vorhersehbare und erkennbare Schadenseignung. Die Formulierung der Umwelthaftungsrichtlinie entspricht daher dem bereits herausgearbeiteten Begriffs Verständnis.

2. Das Verschulden als Rückausnahme Der Einwand des Entwicklungsrisikos kommt dem Betreiber nicht zugute, wenn er schuldhaft gehandelt hat. Vorsatz ist bei Entwicklungsrisiken zwar nicht theoretisch, so doch praktisch ausgeschlossen. Der Verursacher müßte mit als ungefährlich betrachteten Tätigkeiten einen Umweltschaden herbeiführen wollen, was der strafrechtlichen Konstellation eines untauglichen Versuchs entspricht. 125 Einen schmalen Anwendungsbereich hätte die Rückausnahme bei der Inkaufnahme eines erkannten, aber nicht hinreichend wahrscheinlichen Risikopotentials. In diesem Fall liegt aber wegen der angezeigten restriktiven Interpretation kein Fall des Art. 8 Abs. 4 lit. b) mehr vor. Der Nachweis von Fahrlässigkeit dürfte ebenfalls einen Ausnahmefall darstellen. Die für den Fahrlässigkeitsvorwurf konstitutive subjektive Vorhersehbarkeit des Schadens fehlt bei objektiv unerkennbaren Gefährdungen definitionsgemäß. 126 Denkbar ist aber eine Verletzung von Forschungs- und Beobachtungspflichten. Hier kommt der Fahrlässigkeit Bedeutung im Hinblick auf die Einhaltung von Verursacherpflichten zu. Fahrlässiges Verhalten ist vorstellbar, wenn der Umweltschaden vermieden worden wäre, wenn der Verursacher seine zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Pflichten erfüllt hätte. 127 Die Rückausnahme bei Verschulden des Betreibers stellt daher klar, daß ein gewisses Maß an Eigenverantwortung be124 Vgl. frz. non-susceptible = nichts ahnend. 125

Der untaugliche Versuch ist wegen des Handlungs- bzw. Gesinnungsunwertes gleichwohl strafbar, dazu BGHSt 40, 299 (302); Wessels/Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2004, Rn. 619 ff. 126 Siehe oben im 1. Kapitel unter B. zur Haftungslücke bei § 823 Abs. 1 BGB. 127 Spindler/Härtel,

UPR 2002, 247.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

züglich der Erlangung und Verarbeitung neuer Erkenntnisse beim Betreiber verbleibt. 128 Er hat sein Gefahrwissen zu erweitern. 129

3. Die Rechtsfolge des Vorliegens eines Entwicklungsrisikos a) Privilegierung ausschließlich auf der Kostenebene Art. 8 Abs. 4 lit. b) ist als Ausnahme der Kostentragungsregel gestaltet. Die rechtstechnische Konstruktion der Befreiung von der Zahlungspflicht geht aus der Richtlinie nicht eindeutig hervor. 130 Der Wortlaut des Art. 8 legt nahe, daß die Sanierungspflicht nach Art. 6 trotz der Realisation des Entwicklungsrisikos bestehen bleibt: Der Betreiber hätte lediglich die Kosten der durchgeführten Maßnahmen nicht zu tragen. Die Privilegierung griffe erst auf der Sekundärebene ein. Die Behörde könnte den Betreiber zunächst zur Sanierung verpflichten. Erst nach Abschluß der Maßnahmen würde die Behörde die Kosten erstatten.

b) Entfallen der Primärpflichten Mit Blick auf den Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie könnte es aber schon an der primären Sanierungspflicht des Betreibers mangeln. Diese Vorschrift verpflichtet in Satz 1 die zuständige Behörde, vom Betreiber das Ergreifen der Sanierungsmaßnahmen zu verlangen. Satz 2 stellt es in das Ermessen der Behörde, in bestimmten Situationen selbst die Sanierung durchzuführen 131. Neben der Untätigkeit des Verpflichteten und dessen Nichtermittelbarkeit ist die Befreiung von der Kostentragung ausdrücklich erfaßt. Wegen der systematischen Stellung der Ausnahme im Artikel über die Primärpflicht könnte die Behörde deshalb von vornherein auf die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen gegenüber dem Betreiber verzichten müssen. Sie hätte nur noch nach Opportunitätsgesichtspunkten über ein eigenes Eingreifen zu entscheiden. Eine Kostenanlastung beim Betreiber käme schon nicht in Betracht, weil dessen Primärpflicht entfallen ist.

c) Stellungnahme Die letztgenannte Konstruktion, nach der bereits die Sanierungspflicht des Betreibers ausgeschlossen ist, überzeugt nicht. Art. 6 Abs. 3 soll den Handlungsspiel•28 Fischer/Fluck,

RIW 2002, 820 f. mit Fn. 44.

129

Auf diese wichtige Bedeutung der Rückausnahme bei Fahrlässigkeit weist nachdrücklich hin Hager, Die europäische Umwelthaftungsrichtlinie in rechtsvergleichender Sicht, in: Hendler/Marburger u. a. (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 211 (226 f.). 130 Vgl. Sasserath-Alberti, AgrarR 2004, S. 316. 131 Entsprechendes regelt Art. 5 Abs. 3 im Hinblick auf die Vermeidungsmaßnahmen.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

109

räum der Behörde erweitern. Rückschlüsse auf ein Entfallen der Primärpflicht können daraus nicht gezogen werden. In den anderen in Art. 6 genannten Fällen bleibt die Sanierungspflicht des Betreibers ebenfalls bestehen. Dieses Ergebnis läßt sich auch mit einem Gegenschluß zu Art. 8 Abs. 3 S. 2 begründen. In den dort geregelten Fällen besitzt der Betreiber einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Behörde, wenn er die Sanierungspflicht bereits erfüllt hat. Die Richtlinie geht somit nicht davon aus, daß die Primärpflicht von vornherein erloschen war. 1 3 2 Der Erstattungsanspruch ist auf Art. 8 Abs. 4 zu erstrecken. Die Behörde darf bei einer Ersatzvornahme daher keinen Kostenbescheid erlassen. Der Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 3 erschöpft sich deshalb im Zugeständnis des Entschließungsermessens.133 Im Richtlinienvorschlag war noch eine staatliche Ausfallhaftung vorgesehen, die den Mitgliedstaat zum Tätigwerden verpflichtet, wenn der Betreiber die finanziellen Lasten der Sanierung nicht tragen kann oder muß. 1 3 4 Von dieser Ausfallhaftung waren Entwicklungsrisiken nach Art. 9 Abs. 1 lit. d) des Richtlinienvorschlages ausgenommen, so daß hier der Staat nicht zwingend tätig werden muß. 135 Art. 6 Abs. 3 stellt klar, daß auch nach der Umgestaltung der Regelung die Behörde nicht verpflichtet ist, auf eigene Kosten Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen, wenn sich ein Entwicklungsrisiko realisiert hat. Ferner beschränkt Art. 8 Abs. 4 die Freistellung ausdrücklich auf die Kostentragung. Diese auf die Sekundärebene begrenzte Privilegierung entspricht auch der Eingrenzung der ZustandsVerantwortlichkeit in den Altlastenfällen. 136 Dort wird ebenso an der grundsätzlichen Verantwortlichkeit festgehalten und lediglich die Kostenlast gemindert. Im Gleichklang dazu bezieht sich die Privilegierung bei Entwicklungsrisiken nur auf die Kostenebene. n . Die Entlastungsoption als Kompromißlösung Die Regelung des Entwicklungsrisikos ist eine Kompromißlösung zwischen den beiden Polen einer strengen Haftung einerseits und einer vorhersehbaren Inan132 Ebenso Dolde, Zur Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Umwelthaftungsrichtlinie in deutsches Recht, in: Hendler /Marburger (Hrsg.), Umwelthaftung nach neuem EG-Recht, UTR Bd. 81, 2005, S. 169 (182, 196). 133 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 188. 1 34 Art. 6 des Richtlinienvorschlags; die Einräumung eines Ermessenspielraumes wurde verbreitet gefordert, vgl. Hagenah, Ziel und Konzeption der künftigen EG-Richtlinie zur Umwelthaftung, in: Oldiges (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung, 2004, S. 15 (22). Auf Einwand des Rates wurde die subsidiäre staatliche Ausfallhaftung schließlich nach dem Opportunitätsprinzip ausgestaltet, Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 18. 09. 2003, ABl. EG 2003 C 277, E 30, Mitteilung der Kommission gem. Art. 251 Abs. 2 EGV, SEK/ 2003/1027 endg. 135 Spindler /Härtel, UPR 2002, S. 246, a.A. Hagenah, in: Oldiges, S. 22. 136 BVerfGE 102,1.

1 1 0 2 . Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

spruchnahme der Industrie andererseits. Dieser Kompromiß hatte sich, ähnlich der Diskussion zur Produkthaftungsrichtlinie, 137 im Streit der Umwelt- und Wirtschaftsbelange im September 2003 herauskristallisiert.

7. Die Zurückhaltung der Kommission im Weißbuch Bereits im Weißbuch wurde die Problematik der Rechtfertigungsgründe aufgezeigt. 138 Befürwortet werden dort indes lediglich im Privatrecht allgemein anerkannte Rechtfertigungsgründe wie höhere Gewalt, Einschreiten eines Dritten und Mitverschulden des Betroffenen. Die Entlastung bei Entwicklungsrisiken wird mit Verweis auf entsprechende Forderungen aus der Wirtschaft erörtert, aber weder verworfen noch empfohlen. Die eher zögernde Position der Kommission verdeutlicht die Bemerkung, ein solcher Rechtfertigungsgrund sei normalerweise im Rahmen der bestehenden einzelstaatlichen Umwelthaftungssysteme der EU-Mitgliedstaaten nicht zulässig. 139 Bei der Entscheidung sollten, so die Empfehlung der Kommission, jedenfalls alle einschlägigen Auswirkungen berücksichtigt werden. Schon kurze Zeit später hat der Ausschuß für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik die Frage der Rechtfertigung bei Entwicklungsrisiken aufgegriffen. 140 In seiner Stellungnahme sprach sich der Ausschuß kategorisch gegen die Aufnahme von Entlastungsgründen aus. Sie würden das Vorsorgeprinzip untergraben. Insbesondere der Einwand des Entwicklungsrisikos, die development-risk defence, solle nicht eingeführt werden; er existiere in den Haftungsordnungen der Mitgliedstaaten gewöhnlich nicht.

2. Das Entwicklungsrisiko als Ausnahme im Kommissionsvorschlag Die Kommission folgte diesen Einwänden nicht und schlug statt dessen einen industriefreundlicheren Kurs ein. Im Kommissionsvorschlag der Umwelthaftungsrichtlinie besaß das Vorliegen eines Entwicklungsrisikos sogar den Status einer Ausnahme. 141 War ein Umweltschaden zurückzuführen auf Emissionen oder Tätigkeiten, die nach dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse im Zeitpunkt ihrer Freisetzung oder Ausübung nicht als schädlich angesehen wurden, war er vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen. Sämtliche 137

Siehe oben 1. Kapitel unter D. I. 138 KOM (2000) 66 endg., S. 18 f. 139 KOM (2000) 66 endg., S. 19. 140 Ausschuß des Europäischen Parlaments für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik, Stellungnahme vom 12. 9. 2000. 141

Art. 9 Abs. 1 lit. d) des Richtlinienvorschlags.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

111

Pflichten, auch die Primärpflichten, sollten nach dem Entwurf in diesem Fall nicht gelten. Das Entwicklungsrisiko stand den herkömmlichen Rechtfertigungsgründen gleich, wie etwa bewaffneten Konflikten und außergewöhnlichen, unvermeidbaren Naturereignissen. Diese Einordnung offenbart, in welchem Kontext die Kommission das Entwicklungsrisiko gesehen hat.

3. Die Diskussion im Anschluß an den Vorschlag Die Ausnahmen von der Richtlinie wurden in der weiteren Diskussion als Schlüsselfragen herausgestellt. 142 Die Ausnahme beim Vorliegen eines Entwicklungsrisikos stieß im Ausschuß für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik auf den zu erwartenden Widerstand. 143 Er forderte die Streichung dieser Ausnahme. Der Ausschuß bekräftigte seinen Standpunkt. Er konnte nunmehr auch auf eine rechtsvergleichende Studie verweisen, nach der keiner der zehn untersuchten EU-Mitgliedstaaten und fünf OECD-Staaten eine solche Ausnahme im Rahmen der Umwelthaftung anerkennt. 144 Zwar ist der Haftungsausschluß in den nationalen Produkthaftungssystemen beinahe durchweg enthalten; in der Umwelthaftung konnte er sich jedoch nicht durchsetzen, auch wenn es in der Rechtsprechung zum Teil Ansätze zugunsten eines Haftungsausschlusses bei unvorhersehbaren Umweltschäden gibt. 1 4 5 Der Kritik aus dem Umweltausschuß setzte der Ausschuß für Industrie, Außenhandel, Forschung und Energie ein Votum für die Entlastung vom Entwicklungsrisiko entgegen.146 Nach seiner Stellungnahme sollten die Ausnahmen in der Fassung des Richtlinienvorschlages beibehalten werden. Der Ausschluß der Haftung für Entwicklungsrisiken wird gerade im Hinblick auf die Versicherbarkeit des Umweltrisikos befürwortet. 147 142

Tagung des Rates Umwelt am 4. 3. 2002. Ausschuß des Europäischen Parlaments für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherpolitik, Stellungnahme vom 24. 1. 2003, enthalten im Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Umwelthaftung betreffend die Vermeidung von Umweltschäden und die Sanierung der Umwelt vom 2. 5. 2003, abrufbar unter: www.eju.int/comm/environment/liability; vgl. zur Kritik Wägenbaur, ZRP 2002, S. 142(143). 144 Link zur Studie in FN 66. 14 5 So wird z. B. im englischen Recht gemäß einer wegweisenden Entscheidung des House of Lords für die historische Umweltverschmutzung, deren Gefährlichkeit seinerzeit niemand erkannt hat, nicht gehaftet, vgl. den Fall Cambridge Water Company v. Eastern Counties Leather plc. [1994] 1 All. E.R. 53. Die speziellen Haftungstatbestände im englischen Bodenschutz- und Wasserschutzrecht kennen den Entlastungstatbestand des Entwicklungsrisikos aber nicht, dazu Hager, in: Hendler/Marburger, S. 226. 143

146 Ausschuß für Industrie, Außenhandel, Forschung und Energie, Stellungnahme vom 26. 3. 2003, ebda. FN 143. 147 Zum Zusammenhang von Versicherbarkeit und Haftung für das Entwicklungsrisiko auch Rütz, VersR 2004, S. 426 (432).

1 1 2 2 . Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Das Europäische Parlament sprach sich vor dem Hintergrund der divergierenden Auffassungen schließlich überwiegend für eine drastische Reduzierung der Zahl der Ausnahmen aus. 148 Ausdrücklich sollte die Ausnahme bei unerkennbaren Risiken gestrichen werden.

4. Die Lösung im Gemeinsamen Standpunkt des Rates Der in Art. 8 Abs. 4 der Umwelthaftungsrichtlinie manifestierte Kompromiß einer optionalen Entlastung von der Kostentragung wurde im Gemeinsamen Standpunkt des Rates am 18. 9. 2003 festgelegt. 149 Der Einwand des Entwicklungsrisikos wurde aus der Liste der Ausnahmen gestrichen und im Artikel über die Kosten erfaßt. 150 Auf diese Weise wurde ein Mittelweg zwischen der Unanwendbarkeit der Richtlinie und der strengen Haftung gefunden: Aus objektiver ex ante Perspektive unerkennbare Umweltschäden sind zwar keine Ausnahme vom Anwendungsbereich mehr, dennoch können die Verantwortlichen von der Hauptlast, den Kosten, befreit werden. Die Entscheidung über die Einführung der Entlastung wurde zudem den Mitgliedstaaten überlassen. Die Meinungsunterschiede haben sich folglich in einem größtmöglichen Offenlassen der Frage niedergeschlagen. Die Kompromißfassung ist naturgemäß mit Nachteilen verbunden. Es liegt in der Macht der Mitgliedstaaten, die Haftungsschärfe zu bestimmen. Bei uneinheitlicher Umsetzung kann es zu Wettbewerbsverzerrungen kommen, was dem Ziel der Harmonisierung gerade zuwiderläuft. 151 Andererseits ermöglicht die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten einen flexiblen Umgang mit der Risikoverteilung bei Entwicklungsrisiken und kann auf diese Weise deren Spezifik zwischen der Zurechnung späteren Wissens und der Verursachung durch das Betreiberhandeln gerecht werden. 152 Ein weiterer Ausdruck des Kompromisses und ein Zugeständnis an die Interessen der Industrie ist die Beschränkung der von der Haftung erfaßten Anlagen in Anhang IE Nr. 1. Anlagen, die der Forschung und Entwicklung dienen, werden von der verschuldensabhängigen Haftung ausgenommen.

148 Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 14. 5. 2003, ABl. EG C 67 E vom 17. 3. 2004. 149 Gemeinsamer Standpunkt des Rates, festgelegt am 18. 9. 2003, ABl. EG C 277 E /10 vom 18. 11. 2003. Dieser wurde gegen die Stimmen von Deutschland, Irland und Österreich beschlossen.

1 50 Gemeinsamer Standpunkt des Rates, S. 19. 151 Beyer, ZUR 2004, S. 262. 152 Vgl. Ruffert, in: Hendler/Marburger, S. 60.

3. Kap.: Die Konzeption der Umwelthaftungsrichtlinie

113

E. Die Umwelthaftungsrichtlinie als öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung Bei einem Vergleich der Systematik der Umwelthaftungsrichtlinie mit der zivilrechtlichen Gefahrdungshaftung ergeben sich bemerkenswerte Übereinstimmungen. Diese lassen sich sowohl bei der Anknüpfung der Verantwortlichkeit als auch am Haftungsinhalt erkennen.

I. Die Ausübung bestimmter Tätigkeiten als Haftungsgrund Das zentrale Haftungselement bildet die Verantwortlichkeit für diejenigen Umweltschäden im Sinn der Richtlinie, die durch die Ausübung der in Anhang HI aufgeführten beruflichen Tätigkeiten eintreten. Die Auflistung orientiert sich an der Umweltgefährlichkeit. 153 Zum einen impliziert die Abgrenzung anhand eines Genehmigungsvorbehalts oder eines anderen präventiven Verbotes eine besondere Gefährlichkeit. Zum anderen nimmt die Enumeration auf die Einstufung als „gefahrlich" durch andere Richtlinien Bezug. Die Verantwortlichkeit des Betreibers legitimiert sich daher aus der Schaffung besondere Gefahren für das Schutzgut Umwelt. Die bloße Verwirklichung der Gefahr in einem Umweltschaden reicht ohne weitere Voraussetzungen - insbesondere unabhängig vom Verschulden - aus, um die umfassende Pflichtenstellung des Betreibers zu begründen. Die Umwelthaftungsrichtlinie konzipiert folglich eine reine Kausalhaftung. Auf Entwicklungsrisiken bezogen hieße das, ex post die Folgen eines erst im nachhinein als gefahrlich erkannten Verhaltens zuzurechnen, indem der Verursacher für ein rechtmäßiges Tun verschuldensunabhängig eintreten muß. Diese Art der Verantwortlichkeit entspricht der Konstellation der zivilrechtlichen Gefährdungshaftung. 154 Zwar leitet auch das Polizeirecht die Störereigenschaft aus einem Verhalten her; die Verantwortlichkeit des Verhaltensstörers stellt sich als eine verschuldensabhängige Kausalhaftung dar. 155 Doch bildet die Verantwortlichkeit aufgrund einer besonders gefahrträchtigen beruflichen Betätigung darüber hinaus ein typisches Beispiel für die Rechtfertigung einer Gefährdungshaftung. 156 In der Umwelthaftungsrichtlinie treffen sich viele Merkmale dieser Haftungsform: Es kann nicht nur eine besondere, aber erlaubte Gefahrenhöhe ausgemacht werden. 157 Der Schaden geht sogar von einer verkörperten Gefahrenquelle 153 Hager, JZ 2002, S. 904. 154 Hager, JZ 2002, S. 904: „typische Merkmale der Gefährdungshaftung" vgl. bereits Ladeur, UPR 1995, S. 1 (2 f.). 155 Ausführlich statt vieler Schock, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2003, 2. Kap. Rn. 73. 156 Oldiges, in: ders., S. 11 (13). 157 Zum angezeigten zurückhaltenden Gebrauch des Argumentes der Erlaubtheit siehe oben im 1. Kapitel unter E. II. 3.

8 Lübbecke

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

aus. Dieser Umstand kann ein weiterer Grund für die Legitimation einer Gefährdungshaftung sein; die Schadenspotentiale technischer Anlagen oder gefährlicher Stoffe sollen nach verbreiteter Ansicht durch eine Gefährdungshaftung aufgefangen werden. 158 Letztlich wird die gewerbliche Interessiertheit des Schädigers bereits seit den dogmatischen Anfängen zur Legitimation einer Gefährdungshaftung angeführt, um Nutzen und Lasten korrespondierend zu verteilen. 159

II. Naturalrestitution und Totalreparation als Rechtsfolge Blickt man insbesondere auf die Sanierungspflicht und den diesbezüglichen Kostenerstattungsanspruch zieht die Umwelthaftungsrichtlinie die Verantwortlichkeit des Verursachers bzw. Betreibers sehr weit, indem umfassende Kostentragungspflichten statuiert werden. 160 Wie die Bezeichnung als „Richtlinie über die Umwelthaftung" treffend zum Ausdruck bringt, ist die Kostentragungspflicht der eigentliche Kern der Richtlinie. Das Pflichtenkonzept geht über die reine Gefahrenabwehr allerdings deutlich hinaus. Das Sanierungsziel bei Beeinträchtigungen von Biodiversität und Gewässern ist die Wiederherstellung des früheren Zustandes, primäre Sanierung genannt. Ist die Wiederherstellung nicht möglich, muß gleichwertige Kompensation an anderer Stelle geleistet werden. Auch ein Interimsschaden ist auszugleichen. Es gelten somit die Grundsätze der Naturalrestitution und der Totalreparation. 161 Die gleichartige Wiederherstellung des status quo ante verläßt den Bereich der Gefahrenabwehr und Störungsbeseitigung. Das Sanierungsziel bei Bodenschäden deckt sich weitgehend mit dem Bundesbodenschutzgesetz. Gemäß § 4 Abs. 3 BBodSchG ist es lediglich Ziel der Sanierung, daß dauerhaft keine Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für den einzelnen oder die Allgemeinheit entstehen. Die vollständige Naturalrestitution bei anderen Naturgütern scheint dagegen aus dem ursprünglich zivilrechtlichen Haftungskonzept entlehnt. 158

Hannak, Die Verteilung der Schäden aus gefährlicher Kraft, 1960; Bauer, Erweiterung der Gefährdungshaftung durch Gesetzesanalogie, in: Festschrift für Ballerstedt, 1975, S. 305 (309); Grunsky, AcP 182 (1982), S. 453 (467); Kötz, AcP 170 (1970), S. 1 (24 ff.). 159 Rümelin, Gründe der Schadenszurechnung, 1896, S. 36, 45 zitiert nach der OnlineAusgabe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, 2002; Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, S. 30; Larenz, VersR 1963, S. 593 (597); Rother, Der Begriff der Gefährdung im Schadensersatzrecht, in: Festschrift für Michaelis, 1972, S. 250 (253). 160 Vgl. auch Stell, S. 316. 161

Die Naturalrestitution gilt als „Königsweg", weil die Differenzhypothese dem traditionellen Schadensersatzrecht (§ 249 BGB) folge, Spindler /Härtel, UPR 2002, 244. Diese Behauptung trifft aus Sicht der zivilrechtlichen Dogmatik jedoch nur eingeschränkt zu. Die Differenzhypothese bezieht sich streng genommen nicht auf den Ausgangszustand, sondern auf denjenigen Zustand, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre, vgl. Mommsen, Beiträge zum Obligationenrecht Bd. II, 1855 (zitiert nach Wagner, VersR 2005, S. 181); Oetker, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 249 Rn. 18.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

115

Die Ausgleichssanierung an einem anderen als dem Schadensort erinnert an die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung in § 19 BNatSchG und hat mit Gefahrenabwehr im eigentlichen Sinn nichts mehr zu tun. 1 6 2 Im Ergebnis ist die verschuldensunabhängige Verantwortlichkeit für die im Anhang i n aufgeführten Tätigkeiten der zivilrechtlichen Gefährdungshaftung äußerst ähnlich. Folgerichtig wird die Einstandspflicht nach der Umwelthaftungsrichtlinie in der Literatur ausdrücklich als Gefährdungshaftung bezeichnet.163 Trotz des insgesamt ordnungsrechtlichen Charakters belegt der vergleichende Blick zum Privatrecht, wie sehr die Richtlinie zwischen öffentlich-rechtlichem und zivilrechtlichem Denken changiert und auf diese Weise ein neuartiges Regelungskonzept kreiert.

4. Kapitel

Die öffentlich-rechtlichen Ersatzpflichten bei Umweltschäden - Ihre Formen und die spezifischen Probleme bei Entwicklungsrisiken Aus der Sicht des deutschen öffentlichen Umweltrechts betritt die Umwelthaftungsrichtlinie mit der Statuierung der Verantwortlichkeiten für Schäden an Naturgütern kein Neuland. Sie trifft auf ein in einigen Bereichen weit ausdifferenziertes, im ganzen aber heterogenes und lückenhaftes System von Beseitigungs- und Wiederherstellungspflichten. Wahrend der mediale Umweltschutz recht ausgeprägt und vor allem das Bodenschutzrecht hinsichtlich der Störungsbeseitigung äußerst weit entwickelt ist, hat sich der kausale Umweltschutz bisher auf die Prävention durch Information und klassische ordnungsrechtliche Sanktionsmittel konzentriert. 164 Aus der gegenwärtigen Rechtslage erschließt sich der Anpassungsbedarf im Zuge der Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie. Der Systematisierung auch des Haftungsbereichs sollte ein Umweltgesetzbuch dienen, für das verschiedene, aufeinander aufbauende Entwürfe vorliegen. 165 Obwohl die Kodifikationsbemühungen vorerst gescheitert sind, interessiert gerade im Hinblick auf Entwicklungsrisiken, welchen Voraussetzungen die Haftungstatbe162 Fischer/Fluck, RIW 2002, 817. 163 U. a. Kokott/Klaphake/Marr, S. 273; Spindler/Härtel, UPR 2002, S. 245. 164 Zur Systematisierung in medialen, kausalen, vitalen und integrierten Umweltschutz Breuer, Der Staat 20 (1981), S. 393 (396 ff.); ders., Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2003, 5. Kap. Rn. 38 ff. 165 Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, Umweltgesetzbuch - Allgemeiner Teil, 1991; zusammenfassend dies., DVB1. 1991, S. 345; Jarass/Kloepfer/Kunig/Papier/ Peine/Rehbinder/Salzwedel/Schmidt-Aßmann, Umweltgesetzbuch - Besonderer Teil, 1994; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998; Überblick bei Kloepfer/Durner, DVB1. 1997, S. 1081. 8*

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

stände unterliegen und vor allem, ob die reine, unerkennbare Verursachung ausreicht. Eine Privilegierung des Verursachers bei unvorhersehbaren Schäden kennt das deutsche Ordnungsrecht bislang nicht. Ein „Schlüsselproblem der Altlastenproblematik" 1 6 6 bestand indes in der zur Entwicklungsrisikoproblematik parallel liegenden Frage, ob die polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit die Erkennbarkeit der Gefahr voraussetzt. Mit den damals vorgebrachten Einwänden hat sich auch die Frage der Einbeziehung von Entwicklungsrisiken in die öffentlich-rechtliche Umwelthaftung auseinanderzusetzen.

A. Die Regelungskonzepte zum Ausgleich von Umweltschäden I. Die öffentlich-rechtlichen Regelungen für den Ersatz von Umweltschäden de lege lata und ihr Anpassungsbedarf nach der Umwelthaftungsrichtlinie Ein Überblick über das System der öffentlich-rechtlichen Verantwortlichkeit für Umweltschäden soll in erster Linie aufzeigen, inwieweit Gemeinsamkeiten mit der Umwelthaftungsrichtlinie bestehen oder wo diese über das gegebene Schutzniveau hinausgeht.167 Die Pflichten in den einzelnen Bereichen hängen häufig von der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Beeinträchtigung ab. Hier muß stets beachtet werden, daß sich die Richtlinie nicht festgelegt hat, weil die Rechtfertigung des erlaubten Verhaltens als Option vorgesehen ist. Innerhalb des Umsetzungsrahmens halten sich daher sowohl eine strikte Ausgestaltung als Kausalhaftung als auch eine Beschränkung der Verantwortlichkeit auf rechtswidrige Eingriffe. Im folgenden werden medien- und tätigkeitsbezogene Gesetze nebeneinander gestellt. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den medienbezogenen Schutzgesetzen, also dem Naturschutz-, Gewässerschutz- und Bodenschutzrecht. Das kausale, tätigkeitsbezogene Umweltrecht enthält demgegenüber keine Ersatzpflichten für die Verursachung ökologischer Schäden. Nach der Konzeption der medialen Tatbestände sollen sämtliche Handlungen bereits durch den medialen Schutz erfaßt werden. Daher sollte sich die Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie nicht an den dort aufgenommenen Tätigkeiten orientieren, sondern an den schutzgutbezogenen Fachgesetzen in den genannten Bereichen ansetzen.168

166 Kloepfer, NuR 1987, S. 7 (8). 167 Vgl. aus der Literatur zur Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie v. a. Dolde, in: Hendler/Marburger; Hoffmeister, Öffentlich-rechtliche Umwelthaftung in Deutschland vor dem Hintergrund der EG-Richtlinie zur Umwelthaftung, in: Oldiges (Hrsg.), Umwelthaftung vor der Neugestaltung, 2004, S. 51. 168 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 173.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

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1. Das Naturschutzrecht a) Die Naturschutzgesetze Im Naturschutzrecht findet sich bereits eine Haftung für ökologische Schäden. Rechtmäßigen Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft begegnen die Rahmenvorschriften der §§ 19, 18 BNatSchG in Verbindung mit den Vorschriften der Landesnaturschutzgesetze.169 Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung fordert ebenso wie die Umwelthaftungsrichtlinie eine Naturalkompensation. Die Sanierungsziele entsprechen sich weitgehend. Die Ausgleichsmaßnahmen nach § 19 Abs. 2 S. 2 BNatSchG ähneln der primären Sanierung nach Anhang I I I der Umwelthaftungsrichtlinie. Auch ersterebezwecken die gleichartige Wiederherstellung der Funktionen des Naturhaushalts und des Landschaftsbildes. 170 Die Ersatzmaßnahmen im Naturschutzrecht kommen wegen der Aufhebung des räumlichen Zusammenhangs zum Eingriffsort der ergänzenden Sanierung nahe. Dennoch erfassen die Umwelthaftungsrichtlinie und die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung äußerst unterschiedliche Situationen. Während § 18 BNatSchG von vorhabenbedingten, zielgerichteten Eingriffen ausgeht und die Restitutionspflichten ex ante als ZulassungsVoraussetzung des Eingriffs statuiert, 171 sieht die Umwelthaftungsrichtlinie eine finalitätsunabhängige ex post Haftung vor. Die Ersatzpflicht bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen gestaltet das Landesnaturschutzrecht fast ausschließlich nach dem Vorbild des Ausgleichs- und Ersatzkonzeptes, das bei rechtmäßigen Eingriffen gilt. 1 7 2 Auch hier werden deshalb die Finalität sowie die Vorhabenqualität des Eingriffs vorausgesetzt. 173 Zwar mehren sich vorsichtige Stimmen in der Literatur, die das geltende Naturschutzrecht bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen von den Voraussetzungen der Eingriffsregelung lösen wollen. 174 Danach sollen auch rechtswidrige, nicht-finale und isolierte Einzelhandlungen bei weiter Interpretation der Vorschriften zu einer Ersatzpflicht führen. Zudem sei zu überlegen, ob die Eingriffsdefinition der Definition des Umweltschadens angepaßt werden solle. 175 169 Zur naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Sparwasser/Wöckel, NVwZ 2004, S. 1189. •70 Kloepfer, Umweltrecht, § 11 Rn. 93; Sparwasser /Engel /Voßkuhle, Umweltrecht, Kap. 5, Rn. 133; Maaß/Schütte, in: Koch (Hrsg.), Umweltrecht, 2002, § 7 Rn. 47.

171 Ausführlich Kloepfer, Umweltrecht, § 11 Rn. 83 ff. 172 Dazu nur § 12 Abs. 4 BadWürttNatSchG. Ausführlich Hoffmeister/Kokott,

S. 50 ff.

173 Die Eingriffsdefinition des § 10 Abs. 1 BadWürttNatSchG erfaßt ausdrücklich nur Vorhaben. Zur Finalität als Voraussetzung der Ersatzpflicht auch bei rechtswidrigem Handeln, Hoffmeister/Kokott, S. 105 f.; Kokott/Klaphake/Marr, S. 110 f. 174 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 176 f.; näher Hoffmeister, in: Oldiges, S. 52. 175 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 176. Der noch zu erläuternde Referentenentwurf ist diesen Weg nicht gegangen, sondern führt eine gesonderte Definition des Umweltschadens in das BNatSchG (§ 21a) ein. Das spricht dafür, die tatbestandliche Anlehnung der Ersatzpflicht bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen an die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung (Finalität, Vorhabenqualität) beizubehalten.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Anderes gilt für Beeinträchtigungen besonders geschützter Natur- und Landschaftsteile, die bereits wegen der Verletzung öffentlich-rechtlicher Schutzvorschriften zu ersetzen sind. 176 Zum Pflichteninhalt wird in vielen Landesgesetzen die Rekonstruktion des status quo erhoben. 177 Erweiterungsbedarf im Zuge der Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie besteht zunächst bezüglich der Erfassung nicht zielgerichteter Beeinträchtigungen. Störfälle beim Betrieb genehmigungspflichtiger Anlagen können zu Biodiversitätsschäden führen, die nach gegenwärtigem Naturschutzrecht nicht ausgeglichen werden müssen.178 Im übrigen wirkt sich die Richtlinie nicht auf nach der FFH-Richtlinie sowie der Vogelschutzrichtlinie genehmigte Eingriffe aus, weil diese schon aus dem Begriff des Umweltschadens ausgeklammert werden. 179

b) Die Waldgesetze Einige Landeswaldgesetze knüpfen die Genehmigung zur Rodung und Umwandlung des Waldes (§ 9 Abs. 1 BWaldG) an Ausgleichsmaßnahmen wie die Ersatzaufforstung. 180 Darüber hinaus kann in Anlehnung an die jetzt als Ersatzzahlung (§ 19 Abs. 4 BNatSchG) bezeichnete Ausgleichsabgabe181 eine Walderhaltungsabgabe erhoben werden, wenn der Ausgleich nicht möglich oder nicht ausreichend ist. 1 8 2

2. Das Gewässerschutzrecht a) Das Wasserhaushaltsgesetz § 22 WHG ist zwar eine privatrechtliche Haftungsnorm. 183 Doch könnte sie in einer besonderen Konstellation auch im Verhältnis zwischen Behörde und Schadensverursacher zur Anwendung kommen. Der BGH hat dem Wasserberechtigten, der zuvor von der Behörde zur Reinigung des Grundwassers verpflichtet worden war, nach § 22 Abs. 2 WHG einen Kostenersatzanspruch gegen den Verursacher zugebilligt. 184 Reduziert man dieses Dreierverhältnis, in dem die Behörde bzw. de176 in Baden-Württemberg folgt dieses aus § 25 a i.V.m. § 12 Abs. 4 BadWürttNatSchG. 177 Solche Wiederherstellungsverfügungen enthalten §§ 14 Abs. 3 Hbg NatSchG, § 63 S. 2 NatSchG Nds., 10 Abs. 7 Saarl NatSchG, 9a SH NatSchG, 6 Abs. 3 S. 1 LPfG RP, 6 Abs. 6 S. 1 LG NRW. •78 Vgl. Hoffmeister, in: Oldiges, S. 57. 179 Siehe oben im 3. Kapitel unter C. I. 1. 180 U. a. § 9 Abs. 3 BadWürttWaldG. •8i Siehe nur § 11 Abs. 3 S. 4, Abs. 5 BadWürttNatSchG. 182 § 9 Abs. 4 BadWürttWaldG. 183 Näher oben im 1. Kapitel unter E. I. 4. a). 184 BGH NJW 1999, S. 3203.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

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ren Träger Eigentümer des Gewässers ist, kann die Behörde die Kosten der Beseitigung der Wasserverschmutzung nach § 22 Abs. 1 WHG gegenüber dem Verursacher geltend machen. 185 Eine öffentlich-rechtliche Anspruchsgrundlage ist in diesem Ausnahmefall entbehrlich. Von größerer Bedeutung sind hingegen die bei rechtmäßiger Benutzung zulässigen Auflagen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 WHG. In Parallele zum Naturschutzrecht können Maßnahmen zum Ausgleich von Gewässerbeeinträchtigungen angeordnet werden. Alternativ ist auch die Auferlegung von Beiträgen zu den Kosten von bestimmten Maßnahmen der öffentlichen Hand möglich.

b) Die Wassergesetze der Länder In der Mehrzahl der Wassergesetze der Länder ist ein Aufwendungsersatzanspruch für Gewässeraufsichtsmaßnahmen enthalten. 186 Dieser erstreckt sich teilweise auf den rechtmäßig handelnden Benutzer eines Gewässers oder den Anlagenbetreiber. 187 Unklar ist allerdings, ob die Sanierung unter diesen Begriff fällt. 1 8 8 Einige Wassergesetze haben weitergehend eine ausdrückliche Sanierungspflicht eingeführt. 189 Sonderregelungen bestehen vereinzelt auch für den Umgang mit wassergefährdenden Stoffen. 190

c) Das allgemeine Polizeirecht Wird die Gewässerverunreinigung nicht von den Wassergesetzen erfaßt, greift subsidiär das allgemeine Polizeirecht ein, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit anzunehmen ist. Die polizeirechtliche Generalklausel schützt oberirdische Gewässer, Grundwasser und Küstengewässer, ohne daß zugleich eine Gefahr für Individualrechtsgüter bestehen muß. 191 Auf diese Weise ermöglicht auch das Gewässerschutzrecht den Ersatz ökologischer Schäden. 185 Hoffmeister/Kokott, S. 81 ff.; Hoffmeister, in: Oldiges, S. 54. 186 § 82 Abs. 4 BadWürttWasserG, § 107 BrandbgWasserG; § 71 Abs. 1 WasserG Berlin; § 64 Abs. 2 BremWasserG; § 67 HambgWasserG; § 169 Abs. 2 WasserG NdS; § 118 WasserG NRW; § 94 Abs. 1 W a s s e l RhPf; § 87 Abs. 1 S. 2 SaarlWasserG; § 96 Abs. 1 WasserG Sachsen; § 65 Abs. 2 WasseiG S-A; § 85 Abs. 2 WasserG S-H; näher Hoffmeister/Kokott, S. 86 f. 187 § 82 Abs. 4 BadWürttWasserG; § 92 WasserG M-V; § 61 Abs. 5 WasserG NdS. iss Ablehnend OVG Münster, ZfW 1996, S. 463 (464 ff.). 189 § 68 a Abs. 1 S. 1 BayWasserG; § 77 WasserG Hessen; § 83 Abs. 3 S. 4 SaarlWasserG; § 97 WasserG Sachsen; § 87 ThürWasserG. 190 § 23a Abs. 4 WasserG Berlin; § 21 Abs. 4 S. 1 BrandbgWasserG; § 28a Abs. 1 S. 2 HbgWasserG; § 20 Abs. 7 S. 2 WasserG M-V. 191 Gieseke/Wiedemann/Czychowski, WHG, 2003, § 34 WHG, Rn. 12; VGH BW, ZfW 1992, S. 359. Dieses ergibt sich aus der überragenden Bedeutung, die in § 26 Abs. 2, § 34 Abs. 2 und § 32b Abs. 2 WHG zum Ausdruck kommt.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Ein Änderungsbedarf ist bezüglich des Schadensbegriffs nicht ersichtlich, weil zudem die Anknüpfung des Schadensbegriffs an den Kategorien der Wasserrahmenrichtlinie entfallen ist. Die Behörden sind auch nach geltendem Recht ermächtigt, gegen schädliche Gewässerverunreinigungen vorzugehen. 192 Anpassungsbedarf besteht dagegen auf der Rechtsfolgenseite. Es ist flächendeckend eine Sanierungspflicht einzuführen, welche gemäß den Vorgaben der Umwelthaftungsrichtlinie die volle Kompensation der Beeinträchtigungen fordert. 193 Reine Gefahrenabwehr in Form der Störungsbeseitigung reicht nicht aus.

3. Das Bodenschutzrecht a) Das Bundesbodenschutzgesetz Wie bei der Umwelthaftungsrichtlinie bildet der Finanzierungsaspekt ein Leitmotiv des Bundesbodenschutzgesetzes.194 Nach polizeirechtlichem Muster wird ein weiter Kreis von Verantwortlichen zu Sanierungsmaßnahmen herangezogen, wobei rechtmäßiges nicht von rechtswidrigem Handeln unterschieden wird. Nach § 4 Abs. 3 BBodSchG obliegt den Verantwortlichen die Pflicht, schädliche Bodenveränderungen zu sanieren. Am Umfang der Sanierungspflicht wird der gefahrenabwehrrechtliche Charakter des Gesetzes offenbar; gefordert ist keine Rekultivierung und Wiederherstellung der Multifunktionalität des Bodens, sondern lediglich die Beseitigung von Gefahren, erheblichen Nachteilen oder Belästigungen für den einzelnen oder die Allgemeinheit. 195 Zwar können die Übergänge bei Dekontaminationsmaßnahmen fließend sein. Ein originärer Ersatz ökologischer Schäden ist allerdings nicht beabsichtigt. Mit dieser Beschränkung steht das Bundesbodenschutzgesetz im Einklang mit der Umwelthaftungsrichtlinie. Diese löst sich beim Schutzgut Boden ebenfalls von dem rein ökologischen Schadensbegriff. Die Schädigung des Bodens in Art. 2 Nr. 1 lit. c) ist sogar enger zu verstehen als der Begriff der schädlichen Bodenveränderung nach § 2 Abs. 3 BBodSchG. 196 Die Voraussetzung von erheblichen Risiken für die menschliche Gesundheit ist ein maius gegenüber erheblichen Nachteilen oder Belästigungen. Die Richtlinie bleibt somit nicht allein wegen der Ausklammerung der Altlasten hinter dem gegenwärtigen deutschen Schutzstandard zurück. 1 9 7 Anpassungen im nationalen Recht sind daher nicht erforderlich. 198 192

Dazu Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 178. Gleichwohl kann eine Schadensdefinition zur Klarstellung empfehlenswert sein. Dementsprechend soll nach dem Referentenentwurf §§ 22a WHG den Begriff „Schädigung der Gewässer" im Sinn des USchadG definieren. 193 Ebenso Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 195. iw Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, § 12 Rn. 146 m. w. N. 195 Vgl. § 4 Abs. 3 BBodSchG; Sauden/Schoeneck, BBodSchG, 1998, § 2 Rn. 96; siehe auch Brandt/Lange, UPR 1987 , S. 11 (15); Schink, DVB1. 1986, S. 161 (166). i * Zu § 2 Abs. 3 BBodSchG siehe Frenz, BBodSchG, 2000, § 2 Rn. 44 ff.; Sondermann, in: Versteyl, BBodSchG, 2002, § 2 Rn. 39 ff.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

121

b) Die Bodenschutzgesetze der Länder Ganz vereinzelt tritt in Bodenschutzgesetzen der Gedanke der vollen Restitution bei Bodenschäden in Form einer Rekultivierungspflicht hervor. 199 Der ökologische Schaden erhält auf diese Weise neben der Gefahrenabwehr eine eigenständige Bedeutung. 4. Das Gefahrstoffrecht Das Gefahrstoffrecht erfaßt ökologische Schäden nicht über eine eigene Ersatzpflicht. Der Schutz von Mensch und Umwelt 2 0 0 vor gefährlichen Stoffen soll im geltenden Recht über präventiv wirkende ordnungsrechtliche Mechanismen erreicht werden. Hervorzuhebende Beispiele bilden das Anzeigeverfahren mit Eingriffsvorbehalt nach §§ 4 ff. ChemG und die Eröffhungskontrolle in Form eines präventiven Verbots mit Erlaubnis vorbehält in §§ 7 ff. und 14 ff. GenTG. Auch im Pflanzenschutzrecht ist ein Zulassungsverfahren durchzuführen (§§ 11 ff. PflSchG). Diese medienübergreifende Präventivkontrolle gewährleistet zwar ein hohes Schutzniveau. 201 Wenn ökologische Schäden trotz aller Vorsorge verursacht wurden, fehlen aber Ersatzansprüche der öffentlichen Hand außerhalb des medialen Umweltschutzes. Auf Verstöße kann nur mit Anordnungen reagiert werden. 202 Gleiches gilt für die Beförderung gefährlicher Güter 203 . Da ein Schwerpunkt der europäischen Umwelthaftung nun auf der Haftung für berufliche Tätigkeiten liegt, müssen diese eine Ersatzpflicht auslösen. Unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen unter anderem die Herstellung und der Umgang mit gefährlichen Stoffen und Pflanzenschutzmitteln, die Beförderung umweltschädlicher Güter und die Anwendung und absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen. 204 Dennoch braucht im Gefahrstoffrecht selbst die Lücke nicht geschlossen zu werden, weil der Umgang mit gefährlichen Stoffen einen Ausschnitt aus dem Anwendungsbereich der medialen Schutzgesetze darstellt. Es genügt deren richtlinienkonforme Ausgestaltung. 197 Teilweise scharfe Kritik daher bei Beyer, ZUR 2004, S. 260, 264; Hager, NuR 2003, S. 582); Spindler/Härtel, UPR 2002, S. 242). 198 Vgl. Hoffmeister, in: Oldiges, S. 58. 199 § 9 Abs. 1 Nr. 4 BadWürttBodSchG; eingeschränkt auch § 10 Abs. 2 S. 3 BodSchG Berlin. Bei Altlasten gilt entsprechendes nach §§ 25,27 Nr. 2 BadWürttAbfG, § 22 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 4 RhPfAbfWAG, § 19 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 ThürAbfG. 200 Nebeneinander der Schutzgüter in § 1 ChemG. Zweck des Pflanzenschutzgesetzes ist nach § 1 Nr. 4 PflSchG die Abwehr von Gefahren für die Gesundheit von Mensch und Tier und für den Naturhaushalt. 2 °i Deshalb gilt das Chemikaliengesetz als Pioniergesetz, Rehbinder/Kayser/Klein, mikaliengesetz, 1985, Einf. Rn. 21. 202 § 23 ChemG;§ 10 Abs. 2 PflSchG; § 26 GenTG, § 8 DüngeMG. 203 § 8 GGBG. 204 Anhang III Nr. 7 lit. a) - d), Nr. 8, 10, 11.

Che-

122

2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

5. Das Immissionsschutzrecht Das Bundesimmissionsschutzgesetz enthält anlagenbezogene Grundpflichten (§§ 5, 22 BImSchG), die nach den §§ 17, 24 BImSchG durchgesetzt werden. Neben der auf diesem Wege erreichten Vorbeugung und Beendigung von Pflichtverstößen begründet § 17 Abs. 1 i.V.m. § 5 Abs. 3 Nr. 1 BImSchG die Pflicht, das Betriebsgrundstück zu sanieren, wenn von diesem Gefahren, erhebliche Nachteile oder Belästigungen ausgehen.205 Rechtmäßige Beeinträchtigungen werden im Nachbarschaftsverhältnis nach § 14 BImSchG und § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ausgeglichen. Ergänzt werden müßte demnach eine Einstandspflicht für ökologische Schäden, die durch den Betrieb der nach Anhang m Nr. 1 genehmigungsbedürfigen Anlagen verursacht werden. Für sonstige Anlagen wäre bezüglich Biodiversitätsschäden eine verschuldensabhängige Verantwortlichkeit zu statuieren. Beide Erweiterungen sind in den medienspezifischen Gesetzen möglich.

6. Das Kreislauf wirtschafts-

und Abfallrecht

a) Das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz des Bundes Im Fall eines Verstoßes ermöglicht das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz des Bundes eine für Mensch und Umwelt verträgliche Abfallbeseitigung ( § 1 0 Abs. 4 KrW-/AbfG) durch eine Anordnung nach § 21 KrW-/AbfG. Umweltschäden wegen rechtswidriger Abfallbeseitigung sind nicht ersatzfähig. Eine Wiederherstellung der Umweltmedien ist nur für die Stillegung einer Deponie, also einem rechtmäßigen Eingriff, vorgesehen. Gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 KrW-/AbfG muß der Betreiber das Gelände auf seine Kosten rekultivieren. Eine solche Regelung müßte gleichfalls für rechtswidrige Eingriffe geschaffen werden, weil die Umwelthaftungsrichtlinie Abfallbewirtschaftungsmaßnahmen zum Kreis der umweltgefährdenden beruflichen Tätigkeiten zählt. 206 Diese Aufgabe können wiederum die schutzgutbezogenen Fachgesetze leisten.

b) Das Landesrecht Mangels eigenen Bodenschutzgesetzes sehen die Abfallgesetze einiger Bundesländer Beseitigungsanordnungen aufgrund von Spezialermächtigungen oder dem allgemeinen Ordnungsrecht vor, die auch im Wege der Ersatzvornahme vollzogen werden können. 207 Ausgleichspflichten für Eingriffe in Natur und Landschaft sind damit nur im Ausnahmefall verbunden. 208 205 Jarass, BImSchG, 2005, § 17 Rn. 16. 206 Anhang III Nr. 2 der RL 2004 / 35 / EG. 207

Vgl. die Zusammenstellung des Landesrechts bei Hoffmeister/Kokott,

S. 100 ff.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

123

II. Die Vorschläge de lege ferenda 7. § 118 UGB-Professoren-Entwurf Der Professoren-Entwurf des Allgemeinen Teils für ein Umweltgesetzbuch (UGB-ProfE) führt in seinem achten Kapitel die Regelungen über die privatrechtliche Umwelthaftung zusammen. Geschaffen wird keine Generalklausel, sondern ein harmonisiertes und vereinfachtes, weil wenig ausdifferenziertes System von Tatbeständen.209 Eine echte Neuerung stellt die Regelung der Wiederherstellungsund Kostenersatzpflicht bei erheblichen Beeinträchtigungen des Naturhaushalts nach § 118 UGB-ProfE dar. Diese Vorschrift ermöglicht, dem Verursacher eines ökologischen Schadens dessen kostenpflichtige Wiederherstellung aufzuerlegen. Der öffentlichen Hand wird als Sachwalter der Allgemeinheit ein gegenüber Ansprüchen Privater subsidiärer Aufwendungsersatzanspruch zugesprochen; dieser orientiert sich an der Störerhaftung des allgemeinen Polizeirechts, der Ersatzvornahme und von den Rechtsfolgen her vor allem an § 19 Abs. 2 BNatSchG. 210 Der Anspruch besteht gerade in bezug auf Schäden am Naturhaushalt, die keinem individuellen Eigentums- und Besitzrecht unterliegen. Der Haftung unterworfen werden die wesentlichen umweltgefährdenden Tätigkeiten; im einzelnen der Betrieb umweltgefährlicher Anlagen, die Vornahme wasser- und bodengefährdender Handlungen sowie das Herstellen und der Transport umweltgefährlicher Stoffe. Der Entwurf zeichnet den Weg der Restitution ökologischer Schäden vor, den erst die Umwelthaftungsrichtlinie beschreitet. Letztere baut die Verantwortlichkeit noch aus. Der Tatbestand von § 118 UGB-ProfE verlangt nämlich einen schwerwiegenden Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Pflichten, die den Schutz der Umwelt bezwecken. § 118 UGB-ProfE ist deshalb keine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung wie die Umwelthaftungsrichtlinie, 211 sondern setzt rechtswidriges Verhalten voraus. 2. § 131 UGB-Kommissions-Entwurf Nach dem Vorbild von § 118 UGB-ProfE schlägt der Entwurf der unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch (UGB-KomE) in § 131 eine Wiederherstellungspflicht (Abs. 1) mit Aufwendungsersatzanspruch (Abs. 3) vor. 212 208 Gegenüber dem illegalen Betreiber einer Abfallanlage statuieren diese Pflicht § 20 Abs. 2 MVAbfG und § 32 Abs. 1 SaarlAbfG. 209 Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, S. 81 ff., 412 ff. 210 Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-.Aßmann/Kunig, S. 424 f. 211 Siehe oben im 3. Kapitel unter E. In wesentlichen Punkten einschränkbar ist die Gefährdungshaftung durch die Optionen der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 8 Abs. 4 (permit defence und Einwand des Entwicklungsrisikos). 212 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, S. 161 f., 709 f.

124

2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Diese Regelung zielt ebenso auf eine Kompensation der Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft. Durch ein breites Spektrum von Maßnahmen, die im Ausnahmefall bis zum Geldersatz reichen können, wird eine umfassende „Wiedergutmachung" angestrebt. 213 Vorausgesetzt wird gleichfalls eine rechtswidrige Beeinträchtigung. Neben der Verursachung infolge eines Verstoßes gegen umweltrechtliche Anforderungen werden als weitere Haftungsgründe die Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs einer Anlage und Unfälle beim Umgang mit gefährlichen Stoffen und Abfällen eingeführt.

3. Weitere Regelungsmodelle einer Ersatzpflicht hei ökologischen Schäden a) Der öffentlich-rechtliche Ausgleich von Umweltschäden Ein weiterer Vorschlag für die Normierung einer öffentlich-rechtlichen Ausgleichspflicht bei ökologischen Schäden ist in einem Forschungsbericht des Umweltbundesamtes eng nach den Entwürfen zum Umweltgesetzbuch gestaltet. 214 Die Ausgleichspflicht wird an dieselben Gründe geknüpft, die schon die Haftung nach § 131 UGB-KomE auslösen.215 Die Pflicht zur Wiederherstellung entsteht bei zurechenbarer Verursachung und ist nicht an ein Verschulden gebunden. Berechtigter ist der zuständige Verwaltungsträger, wenn nicht ein privates Eigentumsrecht betroffen ist. Dieser kann auch nachträglich Kostenersatz verlangen. 216 Im Unterschied zu den UGB-Entwürfen kann die Anspruchsberechtigung auf öffentlich-rechtlich anerkannte Umweltverbände übergehen. 217 Ferner wird ein monetärer Ausgleich bei bleibenden Schäden für erforderlich gehalten. 218

b) Die Erweiterung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Die Ausdehnung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung wurde zum Ausgleich ökologischer Schäden an Natur und Landschaft gefordert. Sie sollte um Unfälle und Störfälle erweitert werden. 219 Neben die zeitlich voraus liegende Ausgleichspflicht für planmäßige Eingriffe sollte auf diese Weise die nachträgliche Haftung für rechtswidrige Beeinträchtigungen treten. 213

Bundesministerium

für

Umwelt, Naturschutz

und Reaktorsicherheit,

UGB-KomE,

S. 710. 214 Hoffmeister/Kokott, S. 290 ff., die ein sogenanntes Gesetz über den öffentlich-rechtlichen Ausgleich von Umweltschäden (GörAU) entwerfen. 215 Vgl. § 3 GörAU, Hoffmeister/Kokott, S. 294 f. 216 § 5 Abs. 1 S. 2, 3 GörAU, Hoffmeister/Kokott, S. 300 f. 217 § 4 GörAU, Hoffmeister/Kokott, S. 298 f. 2

is § 5 Abs. 2 GörAU, Hoffmeister/Kokott, S. 301 f. 219 Will/Marticke, Verantwortlichkeit für ökologische Schäden, Bd. 1, 1992, S. 81 f.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

125

c) Die Aktivlegitimation von Verbänden oder Behörden Zwei andere Vorschläge modifizieren zivilrechtliche Schadenersatzansprüche, um zu einem Ausgleich ökologischer Schäden zu gelangen. 220 Die Konzepte stützen sich auf ein von Rechtswidrigkeit und Verschulden abhängiges zivilrechtliches Haftungsgerüst. Um der Ersetzbarkeit ökologischer Schäden willen wird die Aktivlegitimation erweitert. Zum einen wird eine Verbandsklage unter öffentlich-rechtlicher Kontrolle konstruiert. 221 Der andere Vorschlag geht einen Schritt weiter und gesteht direkt Behörden die Anspruchsberechtigung zu. 2 2 2

d) Der Aufwendungsersatzanspruch der öffentlichen Hand Die bereits angesprochenen Gesetzesinitiativen von Nordrhein-Westfalen und Hessen aus dem Jahr 1987 wollten einen Aufwendungsersatzanspruch der öffentlichen Hand bei ökologischen Schäden schaffen. 223 Wahrend sich der hessische Entwurf auf die Haftung für Schäden am Naturhaushalt durch den Betrieb umweltgefährdender Anlagen beschränkt, 224 erfaßt der Vorschlag Nordrhein-Westfalens auch Gewässerbeeinträchtigungen. 225 Beide Vorschläge betreffen nur die Kostenebene; auf eine Wiederherstellungspflicht des Verursachers wird verzichtet. 226

IQ. Der Ersatz von Entwicklungsrisiken nach den verschiedenen Regelungsansätzen Die Haftung für Entwicklungsrisiken wird sowohl von den öffentlich-rechtlichen Regelungen zum Ersatz von Umweltschäden als auch von den vielfältigen Vorschlägen nicht ausdrücklich problematisiert. Es ist daher im einzelnen zu untersuchen, ob objektiv unerkennbare Schäden jeweils zu einer Verantwortlichkeit des Verursachers führen.

220 Godt, S. 308 ff.; Kadner, S. 318 ff. 221 §§ 4, 14 des Vorschlags von Kadner, S. 318 ff. 222 Art. 2 § 2, Art. 1 §§ 7 Abs. 2, 8 des Vorschlages von Godt, S. 308 ff. 223 224 225 226

Siehe oben im 3. Kapitel unter A. I. 2. BR-Drucks. 100/87, Anlage S. 4, 24 ff. Vgl. Hoffmeister/Kokott, S. 277 f. Kritisch daher Hoffmeister/Kokott, S. 280.

126

2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

1. Im geltenden Recht a) Der Ausnahmecharakter des Entlastungsgrundes im Gefahrenabwehrrecht Überall dort, wo auf das allgemeine Polizeirecht zurückgegriffen werden muß, ist eine Privilegierung bei Entwicklungsrisiken unbekannt. Entlastungsgründe wie höhere Gewalt, unabwendbare Ereignisse oder speziell die Verwirklichung des Entwicklungsrisikos bilden im öffentlichen Recht einen Fremdkörper. 227 Solche Haftungsausschlüsse stehen in zivilrechtlicher Tradition; das Polizei- und Ordnungsrecht hat sie weder ausgeprägt noch aufgenommen. Auf effektive Gefahrenabwehr fokussiert, operieren die Rechtsprechung und der deutlich überwiegende Teil der Lehre mit dem Kriterium der unmittelbaren Verursachung. 228 Dieser Zurechnungsmaßstab kann beinahe beliebig je nach Einzelfall mit Wertungen aufgeladen werden und ermöglicht die notwendige Flexibilität des Gefahrenabwehrrechts. Das Ordnungsrecht behandelt den Verursacher objektiv nicht vorhersehbarer Schäden daher wie jeden anderen Verursacher. 229 Der Effektivitätsgedanke erlaubt keine Verantwortlichkeitslücken. Es wird geäußert, die objektive Verantwortlichkeit des Verhaltensstörers umfasse seit jeher auch und gerade Gefahren aus Entwicklungsrisiken. 230 Die Unvorhersehbarkeit der Gefahr wird verbreitet mit dem Verweis auf die Irrelevanz des Verschuldens für unbeachtlich erklärt. 231 Das Vorliegen eines Entwicklungsrisikos berührt weder die Störereigenschaft noch werden auf der Sekundärebene Abstriche gemacht. Dort ermöglicht und verlangt das Recht in der Regel die Kostenbelastung bis zur Opfergrenze des Eigentums. Die Verantwortlichkeit wurde vom BVerfG allein für den Zustandsstörer in den sogenannten Opferfällen begrenzt. 232 Eine Freistellung des Verhaltensstörers auf der Sekundärebene ist jedoch vollkommen neuartig. Die Unerkennbarkeit des Schadens kann folglich den Verursacher nach verbreiteter Ansicht nicht entlasten, wenn mangels einer lex specialis allgemeines Polizeirecht angewendet wird. Gleiches gilt in dem häufigen Fall, daß Spezialgesetze auf die polizeilichen Störerbegriffe rekurrieren. Das Bundes-Bodenschutzgesetz und die Landeswassergesetze richten sich ebenfalls nach dem Verhaltensstörerbegriff 227 Vgl. Spindler /Härtel, UPR 2002, 247; Wagner, VersR 2005, S. 187. 228 Drews/Wache/Vogel/Martens, S. 313; Schock, in: Schmidt-Aßmann, Rn. 128; Schenke, in: Steiner, Rn. 155; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht III, 1978, § 127 Rn. 10; aus der Rspr. PreußOVGE 31,409 ff.; 103,139 ff.; VGH BW, VB1BW 1982, S. 371 (372). 229 Zu den für die polizeirechtliche Verantwortlichkeit irrelevanten Umständen Drews/ Wacke/Vogel/Martens, S. 293; Seibert, DVB1. 1992, S. 664 (670). 230 Breuer, DVB1. 1994, S. 893. 231 Bereits Schultzenstein, VerwArch 14 (1906), S. 1 (26); vgl. aus der neueren Literatur Kothe, ZRP 1987, S. 399 (401); Niemuth, DÖV 1988, S. 291 (295); Schink, DVB1. 1986, 161 (169); aus der Rechtsprechung VGH BW, NVwZ-RR 1996, S. 387 (389). 232 BVerfGE 102, 1.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

127

im Polizeirecht. Das läuft auf das Erfordernis der unmittelbaren Verursachung hinaus. Doch ist die Haftung für unerkennbare Gefahren insbesondere im Zusammenhang mit Altlasten auf vielfältige Bedenken und vehementen Widerspruch gestoßen. 233

b) Keine Verantwortlichkeit im Naturschutzrecht Wenn nicht besondere Schutzbestimmungen verletzt werden, sanktionieren die Ersatzpflichten des Naturschutzrechts ausschließlich finale Eingriffe in Natur und Landschaft. Zielgerichtetheit ist bei Unerkennbarkeit der Beeinträchtigung jedoch denknotwendig ausgeschlossen. Die Frage der Einordnung als rechtmäßiges oder rechtswidriges Verhalten ist im Naturschutzrecht insofern unerheblich. Schäden infolge von Entwicklungsrisiken müssen nach Naturschutzrecht nicht ausgeglichen werden.

2. Nach den Vorschlägen de lege ferenda a) Die öffentlich-rechtlichen Wiederherstellungs- und Aufwendungsersatzansprüche Keiner der beiden UGB-Entwürfe favorisiert eine reine Gefährdungshaftung. 234 Ökologische Schäden aus dem rechtmäßigen Normalbetrieb werden nicht in die Kompensationspflicht einbezogen. Dieser Beschränkung auf rechtswidriges Tun liegt die Annahme zugrunde, daß die verwaltungsrechtliche Regelbildung und -anwendung im Vorfeld eines Eingriffs exklusiven Vorrang genießt gegenüber einer Schadenszurechnung ex post. Die Abwägung der Nutzungs- und Schutzinteressen sei dem Genehmigungsverfahren vorbehalten, in dessen Rahmen der Eingriff teilweise an Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen oder Abgaben geknüpft werde. 235 Wenn die genehmigten Folgen des Betriebs nachträglich Haftungspflichten auslösten, stünde dies im Widerspruch zu den Zielsetzungen der umweltrechtlichen Regelungen.236 Eine Inanspruchnahme sei in diesem Fall unbillig. 237 Eine über den rechtswidrigen Betrieb hinausgehende Risikohaftung ist allerdings nach dem Kommissionsentwurf bei Störfällen und Unfällen noch zu rechtfertigen. 233

Siehe ausführlich sogleich unten in diesem Kapitel unter B. I. Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, S. 425; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, S. 709. 235 Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, S. 425; vgl. schon Rehbinder, NuR 1989, S. 163. 234

236

Kloepfer/Rehbinder/Schmidt-Aßmann/Kunig, S. 425; Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, S. 709. 237 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, UGB-KomE, S. 709.

1 2 8 2 . Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Auch der dritte Entwurf (GörAU) stimmt im Tenor, daß grundsätzlich eine Haftung nur für rechtswidriges Handeln anzuordnen sei, mit den UGB-Entwürfen überein. 238 Die engen Grenzen des § 131 UGB-KomE sollten nach den Verfassern nicht überschritten werden, weil die Folgen rechtmäßigen Handelns mitgenehmigt seien. Diese Beschränkung wird daneben mit einem rechtsvergleichenden Blick auf ausländischen Wertungen begründet. Schäden aus Entwicklungsrisiken werden der Kompensationspflicht nur dann unterworfen, wenn der Risikosetzer gegen öffentlich-rechtliche Bestimmungen verstößt oder ein Unfall oder Störfall vorliegt. Bei Entwicklungsrisiken steht das schadensursächliche Verhalten, z. B der Betrieb einer Anlage oder die Verwendung eines bestimmten Stoffes, regelmäßig im Einklang mit dem öffentlichen Recht. Es ist klar, ob es zu einer bestimmten Emission oder einer anderen Ursache kommt. Die jeweilige Tätigkeit ist gewollt und vom Recht akzeptiert. Das Charakteristische an der Situation ist allein, daß diese Handlungen gefährlicher sind, als man objektiv weiß. 2 3 9 Eine Verletzung öffentlichrechtlicher Bestimmungen geht mit der Tätigkeit demnach nicht einher. Es kann noch offen bleiben, ob solche Schäden von der Genehmigung oder Zulassung gedeckt sind, so daß von einer Legalisierungswirkung ausgegangen werden kann. Jedenfalls verstößt beispielsweise der Betreiber einer Anlage nicht gegen die Genehmigung, wenn er erlaubte Stoffe in zulässigen Mengen emittiert, auch wenn sich diese später wider Erwarten als umweltgefährlich erweisen. Ein Unfall oder Störfall liegt bei der Realisierung von Entwicklungsrisiken ebenfalls nicht vor. Die unerkennbare Gefährdung geht vom bestimmungsgemäßen Betrieb aus und beruht nicht auf einer plötzlichen Störung desselben.240 Daher erfassen die drei erörterten Vorschläge Schäden aus Entwicklungsrisiken nicht. Die Gesetzentwürfe Hessens und Nordrhein-Westfalens denken demgegenüber an die Einführung einer konsequenten Gefährdungshaftung, die ohne Ausnahme alle Arten von Schäden umfaßt.

b) Die zivilrechtlichen Modelle mit öffentlich-rechtlich modifizierter Aktivlegitimation Die zivilrechtlichen Regelungskonzepte berücksichtigen zwar die Independenz des Haftungsrechts vom öffentlichen Recht. 241 Der Ersatz von Schäden aufgrund von Entwicklungsrisiken scheitert jedoch zumindest am Verschuldenserfordernis, daß beide Konzepte nach allgemeinen deliktischen Grundsätzen verlangen. 242 238 Hoffmeister/Kokott, S. 293 f. 239 Siehe oben im 1. Kapitel unter E. I. 3. mit Nachweisen dort in FN 100. 240 Siehe dazu § 2 Nr. 3 StörfallVO - 12. BImSchVO, der den Störfall als Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs definiert. 241 Vgl. Art. 1 § 4 S. 4 des Vorschlags von Godt, S. 308 ff., nach dem die Einhaltung der Eröffnungsgenehmigung oder öffentlich-rechtlicher Vorschriften nicht zu einem Haftungsausschluß führt.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

129

Die Vorschläge für eine Ersatzpflicht bei ökologischen Schäden verzichten insgesamt ganz mehrheitlich auf den Ersatz von Schäden aus Entwicklungsrisiken. Sie rücken damit ab von der strengen Verhaltensverantwortlichkeit des allgemeinen Polizeirechts, die auch in das Bodenschutzrecht Eingang gefunden hat.

IV. Die Umsetzung - Der Entwurf des Umweltschadensgesetzes In der Literatur zur Umwelthaftungsrichtlinie wurde zur Umsetzung ein Stammgesetz des Bundes empfohlen, aber zugleich auf kompetenzrechtliche Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. 243 Den Weg eines einheitlichen Bundesgesetzes beschreitet nun auch der Referentenentwurf des Umsetzungsgesetzes.244 Kern der Umsetzungsgesetzgebung ist das Gesetz über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (Umweltschadensgesetz - USchadG). Das Umweltschadensgesetz enthält die allgemeinen Vorschriften zum Ersatz der Umweltschäden. Es wird durch das Fachrecht (Naturschutz-, Wasserhaushalts- und Bodenschutzrecht) ergänzt und gesteuert. Welche Umweltschäden unter die Regelung fallen, bestimmt bei den Schutzgütern biologische Vielfalt und Gewässer erst das Fachrecht. Diesem bleibt auch die Konkretisierung der nach dem Umweltschadensgesetz zu treffenden Maßnahmen überlassen. Das Stammgesetz ist grundsätzlich subsidiär gegenüber dem Fachrecht; es tritt erst in den Vordergrund, wenn letzteres hinter seinen Vorgaben zurückbleibt. 245 Das Umweltschadensgesetz soll als Auffanggesetz und als allgemeiner Teil verstanden werden. Die Frage der Einführung der Kostenbefreiung bei Entwicklungsrisiken läßt der Entwurf offen.

1. Die Stellung des Umweltschadensgesetzes als Rahmengesetz Die Umsetzung der Vorgaben der Umwelthaftungsrichtlinie kann sinnvoll nur in einem Stammgesetz erfolgen. 246 Anderenfalls wäre es erforderlich, eine Vielzahl identischer Regelungen in das Bundes-Bodenschutzgesetz, das Wasserhaushaltsgesetz und das Bundesnaturschutzgesetz zu übernehmen. 247 Auch die Begründung zum Entwurf des Umweltschadensgesetzes sieht aus diesem Grund keine Alternative zur Umsetzung in ein einheitliches Bundesgesetz.248 Eine Vollregelung kann 242

§ 3 des Vorschlags von Kadner; Art. 1 § 4 S. 1 des Vorschlages von Godt. 243 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 204 ff.; Hoffmeister, in: Oldiges, S. 60 f. 244

Siehe zu Beginn des 2. Teils in FN 2. § 3 Abs. 2 des Entwurfs. 246 Wenngleich die Umsetzung in einem Stammgesetz nicht bedeutet, daß die erforderlichen Regelungen wie etwa bei der UVP nur in einem einzigen Gesetz verankert werden. Insofern ist die Umsetzung durch ein Artikelgesetz eine „wenig spektakuläre Umsetzung", Knopp, UPR 2005, S. 361 (364). 245

247 Dolde, in: Hendler/Marburger, S. 209. 9 Lübbecke

130

2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

ein Bundesgesetz wegen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung gleichwohl nicht enthalten. 249 Allein für Schädigungen des Bodens besitzt der Bund die Zuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, 18 GG im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung. Für die Schutzgüter biologische Vielfalt und Gewässer steht dem Bund lediglich das Recht der Rahmengesetzgebung zu (Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,4 GG). In diesen beiden Bereichen versteht der Entwurf das Umweltschadensgesetz als »Angebotsgesetz" des Bundes. 250 Die Länder müssen den vorgezeichneten Rahmen erst ausfüllen, um jenem einen Anwendungsbereich zu eröffnen.

2. Die wesentlichen Regelungen im Überblick a) Die Definition des Umweltschadens § 2 Nr. 1 USchadG definiert den zentralen Begriff des Umweltschadens. Als Folge der Rahmenkompetenz verweist das Umweltschadensgesetz für die Bestimmung der Schädigung von Arten und natürlichen Lebensräumen sowie von Gewässern auf das schutzgutspezifische Umweltfachrecht. Welche Beeinträchtigung als Umweltschaden angesehen wird, bleibt den medienspezifischen Bundesgesetzen und den nach ihrer Maßgabe erlassenen Landesgesetzen überlassen. Der Entwurf des Umsetzungsgesetzes sieht in Art. 2 und 3 eine entsprechende Ergänzung des Wasserhaushaltsgesetzes und des Bundesnaturschutzgesetzes vor. Die Definitionen in § 22a Abs. 1 WHG und § 21a Abs. 1 - 4 BNatSchG bestimmen den Umweltschaden eng nach den Vorgaben in Art. 2 Nr. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie. Beim Schutzgut Boden nimmt das Stammgesetz die Definition selbst vor. Es legt dabei zwar den Schadensbegriff des Bundes-Bodenschutzgesetzes zugrunde, qualifiziert ihn aber wie die Umwelthaftungsrichtlinie um das Merkmal einer Gefahr für die menschliche Gesundheit.

b) Der Anwendungsbereich Der Anwendungsbereich nimmt die Zweispurigkeit der Umwelthaftungsrichtlinie auf. Er erstreckt sich nach § 3 USchadG zum einen auf die verschuldensunabhängige, gefährdungshaftungsgleiche Verantwortlichkeit für Schäden, die durch eine in Anlage 1 aufgeführt berufliche Tätigkeit verursacht wurde. Zum anderen wird als zweite Spur die Verantwortlichkeit bei Schädigungen von Arten und natür248 Begründung zum Referentenentwurf, S. 12, abrufbar unter www.bmu.de/files/gesetze_ verordnungen/bmu-downloads/application/pdf/umwelthaftung_begruendung.pdf. 249 Gleichwohl votiert die Literatur für eine weite Bundeskompetenz bei der Umsetzung der Richtlinie. Trauisen, NuR 2005, S. 619 (621 ff.) leitet sie aus einer europafreundlichen Auslegung des Art. 75 Abs. 2 GG her. Behrens/Louis, NuR 2005, S. 682 (690 f.) nehmen sogar eine konkurrierende Zuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG an, weil die Richtlinie an berufliche Tätigkeiten anknüpft. 250 Begründung zum Referentenentwurf, S. 10.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

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liehen Lebensräumen verschuldensabhängig ausgestaltet. Die Funktion als subsidiäre Auffangverantwortlichkeit manifestiert sich in § 3 Abs. 2 USchadG. Die Ausnahmen vom Anwendungsbereich sind in § 3 Abs. 3 USchadG wie in der Umwelthaftungsrichtlinie geregelt. 251

c) Die Pflichten des Verantwortlichen Der Entwurf regelt in den §§ 4 ff. USchadG die Pflichten des Verantwortlichen. Die Gefahrenabwehrpflicht (§ 5) entspricht der Vermeidungspflicht nach Art. 5 der Umwelthaftungsrichtlinie. Zusammengefaßt und eigenständig geregelt werden die Informationspflichten (§ 4), die nach der Richtlinie sowohl für die unmittelbare Gefahr in Art. 5 Abs. 2 als auch in Art. 6 Abs. 1 für den Eintritt eines Umweltschadens gelten. Erkennt der Verantwortliche die Gefahrenumstände, ist die zuständige Behörde unverzüglich zu unterrichten. Im Zentrum des Regelungsgefüges steht die Sanierungspflicht nach § 6 USchadG. Danach hat der Verantwortliche den Schaden zu begrenzen und vor allem die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen, wenn ein Umweltschaden eingetreten ist. d) Die Bestimmung der erforderlichen Sanierungsmaßnahmen Nach § 8 USchadG ist der Verantwortliche verpflichtet, die gemäß den fachrechtlichen Vorschriften notwendigen Sanierungsmaßnahmen zu ermitteln und der zuständigen Behörde zur Zustimmung vorzulegen. Diese entscheidet über Art und Umfang der durchzuführenden Sanierungsmaßnahmen. Die im konkreten Einzelfall erforderlichen Sanierungsmaßnahmen werden gemäß der Kompetenzverteilung erst von den Ländern bestimmt. Hierzu formuliert der Entwurf einen Umsetzungsauftrag an die Länder. 252 e) Die Befugnisse der zuständigen Behörde § 7 Abs. 3 USchadG räumt der zuständigen Behörde die Ermächtigung zur Durchsetzung der Pflichten nach §§ 4 ff. USchadG ein. Ermächtigt wird jene insbesondere zu der Anordnung gegenüber dem Verantwortlichen, bestimmte Vermeidungs- und Sanierungsmaßnahmen zu treffen. Ferner besitzt die Behörde eine allgemeine Überwachungsbefugnis hinsichtlich der vom Verantwortlichen ergriffenen Maßnahmen.253. Ohne weitere Voraussetzungen kann die Behörde statt dessen selbst eingreifen und die erforderlichen Maßnahmen vornehmen. 254 Diese Art der 251 Siehe oben im 3. Kapitel unter C. IV. 252 Siehe §§ 22a Abs. 2 WHG, 21a Abs. 6 BNatSchG, die gemäß Artt. 2 und 3 USchadG einzufügen sind. 253 § 7 Abs. 1 USchadG. 254 § 7 Abs. 2 USchadG. *

1 3 2 2 . Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

Ersatzvornahme ist insbesondere nicht von der Weigerung des Verantwortlichen abhängig, die Pflichten selbst ordnungsgemäß zu erfüllen.

3. Die Delegation der Entscheidung über den Einwand des Entwicklungsrisikos an die Länder Die Kostentragung ist als weitere wesentliche Regelung des Entwurfs in § 9 USchadG geregelt. Nach dem in Abs. 1 S. 1 niedergelegten Grundsatz trägt der Verantwortliche die Kosten der Maßnahmen. Diese Regelung ist geprägt von der Zielsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie, die Allgemeinheit von den Kosten der Wiederherstellung von Umweltgütern zu entlasten. Die Länder haben hierzu die notwendigen Kostenregelungen zu erlassen. In diesem Zusammenhang müssen die Länder über Kostenbefreiungen und Kostenerstattungen entscheiden. Hierzu zählt vor allem die Möglichkeit, von den Entlastungsoptionen nach Art. 8 Abs. 4 der Umwelthaftungsrichtlinie Gebrauch zu machen. 255 Der Referentenentwurf klammert durch diese der Kompetenzverteilung geschuldete Delegation das Problem der Zurechnung von Entwicklungsrisiken aus. Da die Befreiung von den Sanierungskosten die Länderfinanzen berührt, erscheine es nach der Begründung des Entwurfs aus Bundessicht folgerichtig, wenn die Länder richtlinienkonforme Regelungen gemäß ihrem politischen Willen erlassen könnten. 256 Überdies wird angesichts des Ausnahmecharakters der Kostenbefreiung die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG in Abrede gestellt. 257 Gleichwohl wäre eine einheitliche bundesgesetzliche Regelung aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit und Rechtssicherheit wünschenswert gewesen.258

B. Die Berührungspunkte und Parallelen zu bekannten Fragen des Ordnungsrechts Das spezifische Problem der Verantwortlichkeit für Entwicklungsrisiken besteht darin, die objektive Unvorhersehbarkeit des Gefahrenpotentials, das von einer bestimmten Handlung ausgeht, in ihrer Bedeutung zu würdigen. Es stellt sich die Frage, ob die Unerkennbarkeit ein Hindernis für die Inanspruchnahme darstellt. 255 § 9 Abs. 1 letzter Hs. USchadG. 256 Begründung zum Referentenentwurf, FN 85, S. 27. 257 Begründung zum Referentenentwurf, FN 85, S. 27. Dagegen spricht sich vor allem die Industrie für die Verankerung der Entlastungsgründe auf Bundesebene aus. Nur auf diese Weise werde finanzielle Sicherheit bei Investitionsentscheidungen hergestellt und Rechtssicherheit für den Genehmigungsinhaber geschaffen, siehe das Positionspapier „Eckpunkte für die Umsetzung der EG-Richtlinie über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden" des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) vom 29. 7. 2004, abrufbar unter: www.bdi-online.de. 258 Ebenso Knopp, UPR 2005, S. 366.

4. Kap.: Öffentlich-rechtliche Ersatzpflichten bei Umweltschäden

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Doch ist das Problem der öffentlich-rechtlichen Zurechnung von Entwicklungsrisiken für das deutsche Gefahrenabwehrrecht ebensowenig neu wie die Haftung für ökologische Schäden. Gegen die Richtigkeit der Heranziehung des Verhaltensstörers bei objektiv unerkennbaren Gefahren erhoben sich bereits in den Altlastenfällen Zweifel. Wenn auch das Schlagwort „Entwicklungsrisiko" im Polizeirecht noch weitgehend unbekannt war, handelte es sich im Kern um dieselbe Fragestellung. Darüber hinaus besitzt das Haftungsproblem einen Überschneidungsbereich zur Frage der Legalisierungswirkung von Genehmigungen, der abschließend näher darzustellen ist.

I. Die Erkennbarkeit der Gefahr als Voraussetzung der polizeirechtlichen Verhaltensverantwortlichkeit Etwa Mitte der achtziger Jahre entwickelte sich eine lebhafte Diskussion um die Auswirkungen der Unerkennbarkeit einer Gefahr auf die polizeirechtliche Inanspruchnahme. Anlaß war die Verhaltensverantwortlichkeit von Deponiebetreibern, die in der Vergangenheit Abfalle abgelagert hatten, deren Gefährlichkeit nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt der Ablagerung nicht erkennbar gewesen war. 2 5 9 Der Deponiebetreiber überschreitet nach der überwiegenden Ansicht die Gefahrengrenze unmittelbar. Zumindest seine Mitursächlichkeit kann nicht bestritten werden, weil die fehlende Kenntnis die Kausalität seines Handelns nicht zu beeinflussen vermag. Zwar hat sich die Theorie der unmittelbaren Verursachung von einer faktischen, rein zeitlich orientierten Betrachtung gelöst; 260 der Störerbestimung liegt eine wertende Betrachtung zugrunde. 261 Das Recht muß deshalb eine Auswahl an Erfolgsbedingungen treffen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, ein Rechtssubjekt für eine Gefahr verantwortlich zu machen. Mit Blick auf das Haftungsproblem „Entwicklungsrisiko" ist folglich zu beantworten, ob die objektive Voraussehbarkeit der Gefahr eine notwendige Bedingung der Verhaltensverantwortlichkeit darstellt. Die objektive Unerkennbarkeit der Gefahr wird bei der Bestimmung der Unmittelbarkeit der Verursachung grundsätzlich nicht als kontraindikatives Wertungselement berücksichtigt. 262 Eine generelle Voraussetzung der polizeirechtlichen Verursachung bildet die Vorhersehbarkeit des Erfolges nach allgemeiner Meinung nicht mehr 2 6 3 Gegen die einschränkungslose Heranziehung der Betreiber zur Sanierung 259 Zusammenfassend Brandner, Gefahrenerkennbarkeit und polizeirechtliche Verhaltensverantwortlichkeit, 1990. 2 *o Wacke, DÖV 1960, S. 93. 2 6i Drews / Wacke / Vogel /Martens, S. 311; Schock, in: Schmidt-Aßmann, Rn. 128; Schenke, in: Steiner, Rn. 154. 2 2 * Siehe bereits zuvor oben und VG Karlsruhe, Beschluß v. 16. 05. 1986 - Az. 9 K 37/ 86, S. 18; VGH BW, Beschluß v. 11. 09. 1986 - Az. 5 S 2295/86, dargestellt bei Brandner, S. 15 f.

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2. Teil: Transformation des Zurechnungsproblems ins öffentliche Recht

des kontaminierten Erdbodens wurden allerdings aus sehr verschiedenen rechtlichen und rechtspolitischen Gründen Bedenken geltend gemacht. 264

7. Die alternativen

Verursachungstheorien

Die Zurechnung von Entwicklungsrisiken hängt maßgeblich von dem Verursacherbegriff des Gefahrenabwehrrechts ab. Die Theorie der unmittelbaren Verursachung blieb hier nicht unangetastet. Ausgehend von dem Bedeutungszuwachs des allgemeinen Polizeirechts im Bodenschutzrecht und der geschilderten Verantwortlichkeit des Deponiebetreibers kam die Theoriendiskussion wieder in Gang. 265 Es nahmen die Stimmen an Zahl zu, welche die Zurechnung nach Pflichtwidrigkeit und Risikosphären vornehmen wollen. Auch die Theorie der rechtswidrigen Verursachung wurde wieder diskutiert. In der Mitte steht ein an die Adäquanztheorie angelehnter Kompromißvorschlag. Diese alternativen Zurechnungsmodelle verlangen zumeist die Gefahrenerkennbarkeit als Zurechnungsvoraussetzung. Sie stellen an diese aber unterschiedliche Anforderungen. Die dahinter stehenden Gedanken können für das Zurechnungsproblem Entwicklungsrisiko möglicherweise aufgenommen und weitergeführt werden.

a) Die Theorie der rechtswidrigen Verursachung Die Anhänger der Theorie der rechtwidrigen Verursachung wenden sich gegen das Postulat einer allgemeinen Nichtstörungspflicht. 266 Eine solche materielle Polizeipflicht wird ganz verbreitet aus der polizeirechtlichen Generalklausel hergeleitet. 267 Die Störereigenschaft setzt nach dieser Ansicht den Verstoß gegen eine konkrete Rechtsnorm voraus. Auf diese Weise wird der Störerbegriff mit den Wertungen der Rechtsordnung aufgeladen. Das ermöglicht eine überzeugende Begründung der Verhaltensverantwortlichkeit. Auch bei unerkennbaren Gefahren gelangt die Theorie zu einer klaren Lösung: Bei einem Verstoß gegen Rechtsnormen kann der Verursacher nicht auf das Ausbleiben von Schäden vertrauen. Er haftet voll, gleich ob die Schäden vorhersehbar sind oder nicht. 263 Dazu nur Vollmuth, VerwArch 68 (1977), S. 45 (46) mit zahlreichen Nachweisen zu der in den fünfziger Jahren noch herrschenden Forderung nach einer adäquaten im Sinne einer individuell vorhersehbaren Verursachung. 264 Instruktiver Überblick über die verschiedenen Ansatzpunkte bei Kloepfer, NuR 1987, S. 8. 2 *5 Das konstatiert Götz, NVwZ 1987, S. 858 (862). 2