Die Zumutung der Liebe: Gesammelte Aufsätze 9783666538711, 3525538715, 9783525538715

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Die Zumutung der Liebe: Gesammelte Aufsätze
 9783666538711, 3525538715, 9783525538715

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V&R

WOLFGANG HARNISCH

Die Zumutung der Liebe Gesammelte Aufsätze

Herausgegeben von Ulrich Schoenborn

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 187. Heft der ganzen Reihe

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Harnisch, Wolfgang: Die Zumutung der Liebe: gesammelte Aufsätze / Wolfgang Harnisch. Hrsg. von Ulrich Schoenborn. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 187) ISBN 3-525-53871-5

Gedruckt mit Unterstützung der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Ev. Kirche in Hessen und Nassau

© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.

Für Erika

VORREDEN Die Veröffentlichung der hier in Buchform zusammengestellten Aufsätze und Vorträge geht auf das Drängen von Ulrich Schoenborn zurück. Ohne seine Initiative wäre das Projekt nicht zustandegekommen. Auch die Anfertigung des Stellen- und Namenregisters entstammt seiner Hand. Ihm für seine Mühe von Herzen Dank zu sagen, ist mir das dringlichste Anliegen. Die Sammlung wurde von mir nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Am Anfang finden sich Arbeiten, die auf eine an der Metapher orientierte Sprache achten und der Suche nach einer darauf bezogenen Gleichnistheorie Ausdruck geben. Nach einem Zwischenspiel, das die Nachfolgethematik behandelt und insonderheit johanneisches Denken profiliert, gilt der dritte Teil Grundeinsichten paulinischer Theologie, wobei fundamentalethische Fragestellungen im Vordergrund stehen und methodisch Kriterien einer rhetorischen Textanalyse erprobt werden. Was als Leitgesichtspunkt ins Auge fallt, ist die exegetische Erfahrung, daß die Liebe jenen Ort vorgibt, an dem Gott angetroffen sein will. Jedenfalls ist dies die Pointe fast aller abgedruckten Beiträge. Ihr Text ist gegenüber dem der Erstpublikation weitgehend unverändert. Nur Versehen und Druckfehler wurden berichtigt. Für vielfaltige Hilfe habe ich zu danken. Ohne die Unterstützung meiner Freunde Wolfgang Kempf und Ingo Broer sowie seiner studentischen Hilfskraft Sonja Heite wäre die Arbeit am Computer, zumal mit gescannten Texten, kaum gelungen. Ihnen bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet. Nicht weniger herzlich ist mein Dank gegenüber dem Verlag und den Herausgebern der Reihe, die dem Konzept ohne jedes Zögern zugestimmt haben. Die Drucklegung wurde durch die großzügige Unterstützung beider hessischen Kirchen ermöglicht. Dafür sage ich ihnen meinen herzlichen Dank. Der vornehmste Dank gebührt meiner Frau, die mir die für die Arbeit an den Manuskripten notwendige Zeit schenkte. Ihr ist das Buch gewidmet. Marburg, im Juni 1999

Wolfgang Harnisch

Am 12. November 1999 begeht Wolfgang Harnisch seinen 65.Geburtstag, willkommener Anlaß zu dieser Veröffentlichung, auf die Freunde schon lange gewartet haben. In mehr als fünfundzwanzig Jahren Tätigkeit als akademischer Lehrer des Neuen Testaments ging es ihm stets um die Einheit von Erklären, Verstehen und Anwenden im Horizont von „Glaube und Er-

Vorreden

8

fahrung". Wer Wolfgang Harnisch im Kolleg oder im Seminar erlebt hat, bekam nachhaltigen Einblick in „Marburger Hermeneutik". Übrigens zeigen das auch seine Arbeiten zur Apokalyptik, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Höhepunkte auslegenden Verstehens werden in diesem Band nachvollziehbar, u.a. bei der Exegese von Gleichniserzählungen und paulinischen Texten. Geht es hier um die Wahrnehmung rhetorischer Strukturen und Redefiguren, mit deren Hilfe der Apostel die Wahrheit des Evangeliums als Anrede begegnen läßt, so ist es dort der affirmative und metaphorische Charakter der Erzählungen, in dem Gottes Nähe aufleuchtet. Im extravaganten Umgang mit der realen Welt wird ein „twist" (Dreh) vorbereitet, der - in der erzählten Welt - auf die unerhörte Macht einer Möglichkeit aufmerken läßt, die den Zwängen der Realität gewachsen ist. Eine analoge „Zumutung des Widersinnigen" wartet auch dort, wo der Apostel den Gekreuzigten als „persönliche Metapher des Gottes der Gnade und der Liebe" zu Gehör bringt. Im Wort vom Kreuz begegnen Grund und Möglichkeit neuer Existenz. Darum gilt es, jenseits von Autarkiegehabe Spielräume von Erkenntnis bzw. Urteilsvermögen zu entdecken, von denen her das Übersich-verfügt-sein-lassen als Befreiung und nicht als Entfremdung erfahren wird. Argumentierende wie narrative Texte konvergieren also in einer überraschenden „Kehre", die den Ausleger wie die Adressaten in die „Sprache der Liebe" einläßt. Aufgeschlossen durch die Zusage der Liebe riskiert der Glaube die Liebe und erfahrt so ihre verwandelnde Kraft. Daß die Liebe sich an ihre Akzeptanz bindet, gehört zum Mysterium der Gratuität. Bleibt die Frage nach dem Raum, in dem die Liebe als Zumutung immer wieder begegnet und als rettende Asymmetrie erkannt wird. Ohne Zweifel ist es der Zeit-Ort, den Glaubende miteinander teilen, weil sie von der Vorgabe und dem Ereignis der Liebe leben. Auslegendes Verstehen fordert darum eine Verkündigung, die vom „Wort der Liebe" ausgeht und Wege zur Einkehr in eben dieses Wort eröffnet. In seinen Arbeiten hat Wolfgang Harnisch sich immer wieder der Sprachkraft derer versichert, die um das anredende Wort wußten. Darum sei mit einem Text von Nelly Sachs geschlossen (Fahrt ins Staublose, Frankfurt a. M. 1988,18f): „Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr, / O, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen. Auch auf dem Markte, / Im Errechnen des Staubes, / Tat manch einer schnell einen Sprung / Auf der Sehnsucht Seil, / Weil er etwas hörte, / aus dem Staube heraus tat er einen Sprung / Und sättigte sein Ohr. / Preßt, o preßt an der Zerstörung Tag / An die Erde das lauschende Ohr, / Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch / Werdet ihr hören / Wie im Tode / Das Leben beginnt."

Marburg, im August 1999

Ulrich Schoenborn

INHALT

Nachweis der Erstveröffentlichungen

11

Die Ironie als Stilmittel in Gleichnissen Jesu

13

Sprache und Wirklichkeit. Hermeneutische Erwägungen zur Alternative ,textbezogener oder problemorientierter Religionsunterricht'

31

Die Sprachkraft der Analogie. Zur These vom ,argumentativen Charakter' der Gleichnisse Jesu ..

45

Der bezwingende Vorsprung des Guten. Zur Parabel von den bösen Winzern (Markus 12,1 f f und Parallelen)

65

Sprache des Möglichen. Die Gleichniserzählungen Jesu im Spannungsfeld von Rhetorik und Poetik

80

Die befreiende Zumutung des Widersinnigen. Eine hermeneutische Skizze zu Matthäus 5,38-42

96

II. Die Berufung des Reichen. Zur Analyse von Markus 10,17-27

111

Der Lebensweg als Kreuzesweg. Zur hermeneutischen Funktion des Doppeldialogs in Johannes 11,7-16

127

Der Glaube als Sehen des Herzens. Zur Interpretation von Johannes 9

137

10

Inhalt

III

Einübung des neuen Seins. Paulinische Paränese am Beispiel des Galaterbriefs

149

Freiheit als Selbstentzug. Zur Begründung der Ethik im Denken des Paulus ( 1. Korinther 6,12-20)

169

,Toleranz' im Denken des Paulus? Eine exegetisch-hermeneutische Vergewisserung

185

Christusbindung oder Weltbezug? Sachkritische Erwägungen zur paulinischen Argumentation in 1. Korinther 7

206

Stellenregister

224

Namenregister

234

NACHWEIS DER ERSTVERÖFFENTLICHUNGEN

I. Die Ironie als Stilmittel in Gleichnissen Jesu, EvTh 32, 1972,421-436. Sprache und Wirklichkeit. Hermeneutische Erwägungen zur Alternative ,textbezogener oder problemorientierter Religionsunterricht', präzisiert am Beispiel der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1-15), ZRP 27, 1972, 170-180. Die Sprachkraft der Analogie. Zur These vom ,argumentativen Charakter' der Gleichnisse Jesu, StTh 28, 1974,1-20. Der bezwingende Vorsprung des Guten. Zur Parabel von den bösen Winzern (Markus 12,Iff und Parallelen), in: H. WEDER (Hg.), Die Sprache der Bilder. Gleichnis und Metapher in Literatur und Theologie, Gütersloh 1989,22-38. Sprache des Möglichen. Die Gleichniserzählungen Jesu im Spannungsfeld von Rhetorik und Poetik, StTh 46, 1992, 41-54 (engl. Fassung); in deutscher Fassung wiederabgedruckt in: Orientierung 1/1994,20-31. Die befreiende Zumutung des Widersinnigen. Eine hermeneutische Skizze zu Matthäus 5 , 3 8 ^ 2 , in: M. BEINTGER, E. JÜNGEL und W. KRÖTKE

(Hg.), Wege zum Einverständnis. Festschrift fur Christoph Demke, Leipzig 1997, 54-68.

II Die Berufung des Reichen. Zur Analyse von Markus 10,17-27, in: G. EßELING, E. JÜNGEL und G. SCHUNACK (Hg.), Festschrift für Ernst Fuchs, Tübingen 1973,161-176.

12

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Der Lebensweg als Kreuzesweg. Zur hermeneutischen Funktion des Doppeldialogs in Johannes 11,7-16, in: N.H. BR0NNUM, E. CHRISTIANSEN, L. PALUDAN und J. WOLF (Hg.), Kamp mâ der til.

Engagementets brydning mellem àbenhed og tradition. Festschrift für Ole Jensen, Hadsten 1997,194-204. Der Glaube als Sehen des Herzens. Zur Interpretation von Johannes 9, in: ST. MASER und E. SCHLARB (Hg.), Text und Geschichte. Facetten theologischen Arbeitens aus dem Freundes- und Schülerkreis. Festschrift fur Dieter Lührmann (MThSt 50), Marburg 1999, 37-46.

III.

Einübung des neuen Seins. Paulinische Paränese am Beispiel des Galaterbriefs, ZThK 84, 1987, 279-296; in franz. Fassung wiederabgedruckt in: J.-L. LEUBA (Hg.), L'éthique. Perspectives proposées par la foi (Le point théologique 56), Louvain-la-Neuve 1993,123-142. Freiheit als Selbstentzug. Zur Begründung der Ethik im Denken des Paulus (1. Korinther 6,12-20), in: S. DlMKER (Hg.), Freiräume leben - Ethik gestalten. Studien zu Sozialethik und Sozialpolitik. Festschrift für Siegfried Keil, Stuttgart 1994,179-195. ,Toleranz' im Denken des Paulus? Eine exegetisch-hermeneutische Vergewisserung, EvTh 56, 1996, 64-82; wiederabgedruckt in: J. DORÉ (Hg.), Perspectives actuelles sur la tolérance, Namur 1997, 167-188. Christusbindung oder Weltbezug? Sachkritische Erwägungen zur paulinischen Argumentation in 1. Korinther 7, in: B. KOLLMANN, W. REINBOLD und A. STEUDEL (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift für Hartmut Stegemann, Berlin / New York 1999, 457-473.

DIE IRONIE ALS STILMITTEL IN GLEICHNISSEN JESU

I. Die Erörterung des genannten Themas setzt eine Verständigung darüber voraus, was wir meinen, wenn wir von Ironie reden. Es gilt also, eine vorläufige Übereinkunft darüber zu erzielen, was eigentlich die Ironie als Phänomen auszeichnet. Dieses Vorhaben ist freilich insofern problematisch, als „es an terminologischer Allgemeinverbindlichkeit über die Begriffe ,Ironie' und ,ironisch' fehlt"1. Überdies bleibt zu fragen, ob es als sinnvoll und methodisch geraten erscheint, bei einer möglichst umfassenden Definition des Ironischen einzusetzen. Denn Thema probandum meiner Überlegungen ist nicht die Frage nach der Ironie Jesu, sondern die nach der Ironie in Jesu Gleichnissen. Richtet sich die Aufmerksamkeit aber auf die Ironie in den Gleichnissen Jesu, kommt das Ironische nicht generell als Haltung, Denkweise oder philosophisches Prinzip, sondern vielmehr speziell als Redeform in Betracht2. Dieser Eingrenzung des Fragehorizonts trägt bereits die Titelformulierung Rechnung, indem sie die Ironie ausdrücklich als Stilmittel in den Blick faßt. Die vorgängige Besinnung auf das Phänomen der Ironie sollte sich demnach an Untersuchungen ausrichten, die selbst bereits stilkritisch orientiert sind - an Untersuchungen also, welche das Ironische als Strukturelement der Sprache zu erfassen suchen. Wenn es sich bei den Gleichnissen der synoptischen Tradition um genuine literarische Kunstwerke handelt3, dürften für die Klärung unserer Ausgangsfrage vor allem diejenigen Versuche von Belang sein, die sich mit der Ironie im sprachlichen Kunstwerk auseinandersetzen. Es scheint somit naheliegend, an Definitionen der Ironie anzuknüpfen, wie sie im Bereich der Literaturwissenschaft formuliert werden. So können wir z.B. auf die Basisdefinition von B. Allemann zurückgreifen, 1

So R. BAUMGART, Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns, München 2 1966, 13. 2 Zu dieser Unterscheidung vgl. B. ALLEMANN, Ironie und Dichtung, Pfullingen 2 1969, 9FF; DERS., Ironie als literarisches Prinzip, in: A. SCHAEFER (Hg.), Ironie und Dichtung, München 1970, 1 Iff; DERS., Art. Ironie, in: Das Fischer Lexikon, Literatur II/l, 305FF. 3

So D.O. VIA, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München 1970, passim.

Ironie in Gleichnissen Jesu

14

nach der für die ironische Redeweise ein „transparenter Gegensatz zwischen wörtlich und eigentlich Gesagtem"4 charakteristisch ist. Allemann sucht „den spezifisch ironischen Gegensatz" im Anschluß an die Tradition der antiken Rhetorik als „transparente Verstellung (simulatio)" festzulegen5, differenziert aber mit Bedacht nicht zwischen dem wörtlich Gesagten und dem hintergründig Gemeinten, sondern zwischen dem wörtlich und dem eigentlich Gesagten, um „das Ausscheren in eine nicht mehr recht kontrollierbare .mentale' Dimension,hinter' dem Gesagten zu vermeiden"6.

II. Im Blick auf unser Vorhaben ist der Rückgriff auf eine derartige Fundamentaldefinition jedoch nur dann hilfreich, wenn die Definition an Erscheinungsformen der Ironie konkretisiert wird. Es scheint daher geraten, vor der Analyse des synoptischen Gleichnisstoffes ein Beispiel aus der Literatur in Betracht zu ziehen, an dem sich die Evidenz der genannten Bestimmung erproben läßt. Als Demonstrationsmodell bietet sich eine Anekdote Franz Kafkas an, die dem von M. Brod herausgegebenen Band ,Beschreibung eines Kampfes'7 angehört. Diese Anekdote eignet sich darum vorzüglich für den hier verfolgten Zweck, weil sie gattungsmäßig als Parabel charakterisiert werden kann, sich somit gerade auch in formaler Hinsicht dem Rahmen unserer Thematik einfügt. Ausschlaggebend für die Wahl dieses Beispiels ist ferner der Umstand, daß eine Interpretation der Anekdote Kafkas vorliegt, die sich mit unserer Fragestellung sachlich berührt. Gemeint ist die glänzende Abhandlung von H. Politzer ,Eine Parabel Franz Kafkas'8. Politzers Ausführungen verdienen insofern Beachtung, als sie den Stil der Kafka-Parabel ausdrücklich mit dem der Parabeln Jesu vergleichen. Die fol4

Ironie als literarisches Prinzip, aaO., 18 (vgl. 28). AaO., 29. In den Systemen der antiken Rhetorik wird zwischen der Ironie als Wortund Gedankenfigur unterschieden (vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rheto5

rik, M ü n c h e n 1960, §§ 5 8 2 - 5 8 5 , 9 0 2 - 9 0 4 ; DERS., Elemente der literarischen Rhetorik,

München 3 1 9 6 7 , § § 2 3 2 - 2 3 4 , 4 2 6 - 4 3 0 ) . Als Gedanken-Tropus kann die Ironie in der Form der .dissimulatio' und der .simulatio' geltend gemacht werden (vgl. H. LAUSBERG, Handbuch, § 902, 1.2). Doch ist, wenn „in der Rhetorik von ironia gehandelt wird, ... in erster Linie die Simulations-Ironie gemeint" (aaO., 447). 6 Ironie als literarisches Prinzip, aaO., 29. 7 New York 1946, 115; separat abgedruckt in dem Sammelband: F. KAFKA, Die Erzählungen, Frankfurt a. M. 1961, 377. 8 Ich zitiere aus dem Abdruck in: J. SCHILLEMEIT (Hg.), Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka (Interpretationen IV [Fischer Bücherei 721]), Frankfurt a. M. / Hamburg 1966, 319-339.

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genden Überlegungen orientieren sich somit nicht nur am Text der Parabel Kafkas, sondern auch an deren Auslegung durch Politzer. Die Erzählung Franz Kajkas hat folgenden Wortlaut: „Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken Uber diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ,Von mir willst du den Weg erfahren?' ,Ja', sagte ich, ,da ich ihn selbst nicht finden kann'. ,Gibs auf, gibs auf, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwünge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen." Auf den Stil dieser Erzählung treffen jene Merkmale zu, die nach E. Auerbach den elohistischen Bericht von Isaaks Opferung kennzeichnen, nämlich: „Hervorarbeitung einiger, Verdunkelung anderer Teile, Abgerissenheit, suggestive Wirkung des Unausgesprochenen, Hintergründlichkeit, Vieldeutigkeit und Deutungsbedürftigkeit"9. Kafkas Parabel ist auf einen Hintergrund bezogen, der die Wirklichkeit aufzuheben scheint. Die dargestellte Szene entspricht freilich zunächst durchaus der alltäglichen Erfahrung. Der Weg zum Bahnhof in der Frühe des Tages auf menschenleeren Straßen, die Feststellung der Verspätung, die daraus resultierende Hast, die Begegnung mit dem Polizisten - all dies trägt die Züge des Unauffälligen und Plausiblen. „Hier steht nichts, was ein Realist nicht auch geschrieben haben könnte; nur daß in dem, was Kafka tatsächlich berichtet, ein Auswahlprozeß im Gange ist, der bereits nach dem Überwirklichen tendiert."10 Merkwürdig mutet schon an, daß sich der Mann ohne weiteres der Zeitansage der Turmuhr beugt. Erst recht überrascht, daß er sich durch die Entdeckung der Verspätung in panischen Schrecken versetzen läßt. Was soll schließlich das Eingeständnis: ,ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus'? Offenbar hat der Satz die Funktion, die Unsicherheit des Mannes zu entschuldigen. Aber klingt diese Entschuldigung nicht „einer Selbstanklage verzweifelt ähnlich" - wie Politzer11 meint? Schon diese Beobachtungen zeigen, daß das Erzählte auf einen Hintergrund hin transparent ist, der das Unauffällige und Alltägliche der Begebenheit als Schein entlarvt. Dieser Sachverhalt wird vollends deutlich, sobald man die Wendung

9

Mimesis, Bern 1946, 29. Der Verweis auf E. AUERBACHS Charakteristik des elohistischen Stiltyps erfolgt im Anschluß an H. POLITZER (vgl. aaO., 33 lf). 10

H . POLITZER, a a O . , 3 2 0 .

11

AaO., 322.

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ins Auge faßt, welche die Geschichte mit der Antwort des um Rat gefragten Passanten nimmt. Widerspricht es schon der Konvention, daß der Polizist überhaupt eine Gegenfrage stellt und dazu noch das ganz unübliche Du verwendet, so erst recht, daß er das Anliegen des Ratlosen umbiegt und auf die Suche nach dem Weg schlechthin bezieht: ,Von mir willst du den Weg erfahren?' Der sich darin andeutenden Verschiebung der Bezüge entspricht die abrupt wirkende Zurechtweisung: ,Gibs auf!' - ein Imperativ, der den Hilflosen selbst in Frage zu stellen, ja zu verurteilen scheint. So ist innerhalb der Erzählung, zumal in dem abschließenden Dialog, „unmerklich ... eine Verwandlung eingetreten"12. Das Gefüge der alltäglichen Wirklichkeit zerbricht. Der Zusammenhang der Dinge ist nicht nur verstellt, sondern scheint bis ins Absurde verzerrt. Vom Ende her erweist sich die Anekdote als Parabel der Selbstentfremdung menschlicher Existenz. „Der alttestamentarischen Darstellungsweise in der Hintergründigkeit ihres Stils verwandt, gipfelt sie in dem ,Gibs auf des Polizisten, in dem sich das Unfaßbare seiner Unfaßbarkeit vergewissert."13 Ich lasse dahingestellt, ob Kafka mit dieser Parabel tatsächlich - wie Politzer14 vorgibt - „die Unsagbarkeit des Unsagbaren" aussprechen, „das Unfaßbare sozusagen in einer negativen Epiphanie" veranschaulichen wollte. Für unsere Fragestellung genügt der Aufweis der Doppelbödigkeit des Erzählten. Bezeichnend für diese Stiltendenz ist ein Einzelzug der Parabel, der bisher unerwähnt blieb, im Rahmen unserer Thematik aber besondere Beachtung verdient. Ich beziehe mich auf jene Aussage, die der Hoffnung des Irrläufers Ausdruck gibt: glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe'. Mit Absicht führt der Erzähler den Polizisten „als Schutzmann ein, denn Schutz ist es, dessen der Mann zu bedürfen glaubt, Schutz vor der Fremde, der dahingeeilten Zeit, der eigenen Unsicherheit"15. Das „Schicksal selbst scheint den Polizisten zum Schutz des Mannes hierher beordert zu haben. Genau dies ist es auch, was dieser mit dem Worte ,glücklicherweise ' ausdrücken zu wollen scheint... Der Schutzmann wird den Weg zum Bahnhof weisen, damit gleicht sich der Zeitverlust von selber aus, und alles endet gut."16 Doch das Folgende hebt die damit eintretende Entspannung jäh auf. Vom Ende her erweist sich die Hoffnung als trügerisch. Der Kontext macht sichtbar, daß die mit Bedacht gewählten Wörter glücklicherweise' 12

AaO., 324. AaO., 335. H. POLITZERS Bemerkung enthält eine Anspielung auf Kafkas Stück ,Von den Gleichnissen'. 14 AaO., 338. 15 AaO., 322. 16 AaO., 322f. 13

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und ,Schutzmann' ironischen Charakter tragen17. Sie sind zweideutig wie das Lächeln, das die Rede des Polizisten begleitet. Was dem Irrläufer als Glücksfall erscheint, erweist sich im nachhinein gerade als Unglück. Der Schutzmann ist nicht Bürge der Sicherheit, sondern Repräsentant einer Welt, die sich dem Unsicheren verweigert. Doch hält der Erzähler die Doppeldeutigkeit des Gesagten bewußt in der Schwebe. Wie Allemann zu Recht feststellt, ergibt sich das Ironische eines Textes „stets nur aus dem Kontext im allerweitesten Sinne dieses noch wenig geklärten Terminus, und zwar ohne signalhafte Verweisung auf diesen Kontext". Weiter heißt es bei Allemann: „Der ironische Hintergrund des wörtlich Gesagten wird immer schon als gegeben und begriffen vorausgesetzt - sonst würde das wörtlich Gesagte eben wörtlich und nicht ironisch verstanden. Zugleich besteht ein förmliches Signalverbot, das heißt, der Hintergrund will so stillschweigend wie nur immer möglich vorausgesetzt sein, jede Maßnahme, die den Leser mit der Nase auf den Hintergrund stößt, vernichtet den ironischen Effekt." 18 So erweist sich der zitierte Satz aus der Parabel Kafkas als ein Musterbeispiel jener höheren Ironie, die auf der verhaltenen und behutsamen Verstellung der Bezüge beruht. „Sie läßt sich" - wie Allemann sagt „nicht mehr als ein leicht durchschaubares und objektiv zu umschreibendes Stilmittel begreifen. Ironie in ihrer sublimsten literarischen Form wird zu einem gerade noch wahrnehmbaren Spiel des sich unauffällig vom Gesagten distanzierenden Autors."19

III. Ist das Hintergründige des ironischen Stils auch in Gleichnissen Jesu nachweisbar? Finden sich auch dort Merkmale der verhaltenen Ironie wie Zweideutigkeit, „Verschobenheit und sachte Verstellung der Bezüge"20, transparente ,Gegenstrebigkeit' des vordergründig Gesagten? Folgt man Politzer, sind diese Fragen zu verneinen. Politzer hebt den Stil Kafkas von dem der Gleichnisse Jesu ab. Das Hintergründige der Kafka-Parabel, in dessen Dienst auch der genannte ironische Einzelzug steht, ist nach Politzer den Gleichnissen Jesu fremd. Er begründet dieses Urteil folgendermaßen: „Solange der Glaubenszusammenhang der abendländischen Religionen noch

17

E b e n s o H . POLITZER, a a O . , 3 2 2 ( v g l . 3 3 0 ) .

18

Ironie als literarisches Prinzip, aaO., 20. Art. Ironie, aaO., 307; vgl. DERS., Ironie als literarisches Prinzip, aaO., 20. B. ALLEMANN, Ironie und Dichtung, 20.

19 20

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intakt war, solange ihr ,Kaiser' lebte, ihr ,Schutzmann' Schutz verlieh, besaß das Sinnbild der Parabel Realität und ihr Wort Verbindlichkeit. Das Gleichnis selbst war eindeutig. Die klassische Parabel, das hebräische ,Maschal', wie es der Jesus der Evangelien pflegt, kennt den Bruch zwischen dem transzendenten Sinn und dem gegenständlichen Bild des Gleichnisses nicht; ja, sie beruht darauf, daß ein solcher Bruch nicht besteht. Die konkrete Wirklichkeit, die den Bildstoff des Gleichnisses liefert, wird vielmehr als der Beweisfall ewiger Wahrheiten angenommen, die sich in ihr reflektieren. Wenn der Vater des verlorenen Sohnes diesem sein bestes Kleid bringen und ein gemästetes Kalb schlachten läßt, so stehen die alltäglichen Bilder des Kleides und des Kalbes in ihrer Gegenständlichkeit für das Prinzip der Verzeihung nicht nur auf Erden, sondern auch im Transzendenten. Zwischen dem irdischen Vater und jenem im Himmel herrscht kein Unterschied; das Gleichnis geht auf wie eine mathematische Gleichung."21 Soweit Politzer. Nun soll nicht bestritten werden, daß zwischen Jesu Gleichnissen und der Parabel Kafkas ein tiefgreifender Unterschied besteht. Aber läßt sich diese Sachdifferenz in der Weise begründen, wie es Politzer versucht? Trifft es wirklich zu, daß Jesu Gleichnisse ,wie eine mathematische Gleichung' aufgehen? Politzer erweckt den Anschein, als sei die Wahrheit, die das Gleichnis Jesu dem Hörer zumutet, in der konkreten Wirklichkeit selbst abgebildet. Doch schon diese Behauptung ist irreführend. Zwar sind die Gleichniserzählungen fast durchweg im Alltäglichen angesiedelt und knüpfen an Situationen des Gängigen, Gewohnten und Typischen an. Allein, nicht selten nimmt das Alltägliche innerhalb der Erzählung, zumal in den eigentlichen Parabeln, unvermittelt das Gepräge des Unwahrscheinlichen, Ungewohnten, ganz und gar nicht Normalen an. Dem entspricht die Feststellung E. Bisers: „In der Motivwahl und Dramaturgie der Gleichnisse herrscht die Ausnahme, nicht die Regel, das Unerhörte, nicht das Gewohnte und Allgemeine."22 Wie G. Eichholz23 und (im Anschluß an I.K. Madsen24) E. Linnemann hervorheben, enthalten nicht wenige Parabeln Züge, „die der alltäglichen Erfahrung widerstreiten"25. Zwar verdanken sich einige dieser 21

AaO., 336. Die Gleichnisse Jesu, München 1965, 42f; zur Sache vgl. auch H. RIESENFELD, Symboliken som uttrycksmedel i Evangeliema, SEÂ 26, 1961, 47ff. 23 Das Gleichnis als Spiel, in: DERS., Tradition und Interpretation (ThB 29), München 1965, 62ff; vgl. DERS., Gleichnisse der Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1971, 28ff. 24 Zur Erklärung der evangelischen Parabeln, ThStKr 104, 1932, 31 Iff; DERS., Die Parabeln der Evangelien und die heutige Psychologie, Kopenhagen / Leipzig 1936. 25 E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, 5 1969, 36 (vgl. 36F); vgl. E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971,98. 22

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Züge einem kompositorischen Interesse und erklären sich aus der erzählerischen Regie. Doch bei der Mehrzahl der Fälle versagt diese Deutung. Es handelt sich offenbar um ein Stilmerkmal, das nicht nur erzähltechnisch, sondern auch sachlich motiviert ist und der Absicht des Erzählers entspringt, den Hörer zu befremden, ja ihn seiner Welt zu entfremden. Auf diesen Sachverhalt macht Biser aufmerksam, wenn er feststellt: „... was ist das für ein Zerrbild von Welt, das die Gleichnisse spiegeln, wenn der Betrüger zuletzt noch belohnt, der unfruchtbare Feigenbaum geschont, der Arbeiter der elften Stunde demjenigen, der die Last und Hitze des Tages trug, vorgezogen, der ängstliche Hüter des ihm anvertrauten Gutes dagegen in Schande entlassen wird!"26 Schon diese Beobachtungen erweisen die Fragwürdigkeit der Sicht Politzers. Denn es läßt sich nicht verkennen, daß die sog. Bildhälfte der Gleichnisse nicht einfach das alltägliche Geschehen widerspiegelt. Sie bringt in der Regel vielmehr eine durch Zuspitzungen, Verschiebungen und Übertreibungen bereits verfremdete Wirklichkeit zur Sprache. Andererseits ist da, wo diese Verfremdung zu fehlen scheint, nicht selten insgeheim „ein Gegenzug wirksam"27, der das Erzählte auf einen ihm zuwiderlaufenden Hintergrund hin öffnet. So sind Bild- und Sachhälfte zuweilen gegenwendig aufeinander bezogen, wie Lk 12,54—56 zeigt. An dieser Stelle wird das e-contrario-Moment ausdrücklich pointiert. Es lassen sich jedoch auch Beispiele anfuhren, wo dieser Gegenzug verschwiegen bleibt (vgl. Lk 16,18a). Der Hörer hat dann selbst den Abstand zu entdecken, der zwischen wörtlich und eigentlich Gesagtem besteht, und wird gerade dadurch an der Entscheidung beteiligt, die der Erzähler herbeifuhren will. Diese Erwägungen, zumal der Hinweis auf das e-contrario-Moment, widerraten dem Versuch, Jesu Gleichnisse als mathematische Gleichungen anzusprechen, die glatt aufgehen. Auch die Gleichnisse der Evangelien enthalten Züge des Befremdenden und sind nicht selten von einer Spannung zwischen Sach- und Bildhälfte beherrscht. Ist aber das Hintergründige, wie es den Stil der Kafka-Parabel auszeichnet, Jesu Gleichnissen nicht abzusprechen, dürfte es kaum noch als abwegig erscheinen, sie auf ironische Stilemente zu befragen.

26 27

120.

AaO., 42. E. FUCHS, Hermeneutik, Tübingen 4 1970, 213; vgl. DERS., Jesus. Wort und Tat,

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IV. Wir orientieren uns zunächst an der exegetischen Literatur und durchmustern sie nach Gesichtspunkten, die unsere Thematik berühren. Beachtung verdienen vor allem einige Artikel des Franzosen H. Ciavier28, deren Einfluß auch in den Arbeiten von J. Jónsson, Humour and Irony in the New Testament (1965), und R. Voeltzel, Das Lachen des Herrn. Über die Ironie in der Bibel29, spürbar ist. Aufschlußreich sind ferner einige Erwägungen zur Ironie, die L. Ragaz in seinem Gleichnisbuch30 anstellt. Ragaz vermutet ironische Tendenzen vor allem dort, wo die Gleichniserzählung moralisch verwerfliche Situationen vor Augen fuhrt. Als Beispiele nennt er die Parabel vom schlauen Verwalter (Lk 16,Iff), vom gebetenen Freund (Lk 1 l,5ff) und gottlosen Richter (Lk 18,Iff) sowie das Gleichnis vom Schatzfund (Mt 13,44), das insofern ans Anstößige grenzt, als der Vorbesitzer des Ackers eigentlich um sein Glück geprellt wird31. In allen diesen Stücken waltet nach Ragaz „das Element heiliger Ironie, dem sich manchmal ein Element jener Schalkhaftigkeit beimischt, wie wir sie im Volksmärchen antreffen" 32 . Wie Ragaz betont, dient die ironische Verkleidung der Aussagen einem pädagogischen Interesse. Sie hat die Funktion, das Anstößige und Paradoxe der Wahrheit selbst einzuschärfen, die Jesus zu Gehör bringen will. „Man verdirbt überall die Meinung Jesu und verliert ihren Sinn", schreibt Ragaz innerhalb seiner Auslegung von Lk 16,Iff, „wenn man aus seinen Paradoxien plumpe Wörtlichkeiten oder gar Dogmen macht. Wieviel eindringlicher, wieviel drastischer ist es doch, wenn der unehrliche Knecht zum Vorbild gemacht wird! Das bohrt sich ein wie mit Widerhaken, wie ja auch gerade die Geschichte dieses Gleichnisses zeigt."33 Auch Ciavier charakterisiert das Ironische in Jesu Gleichnissen als ein pädagogisches Verfahren34. Im Unterschied zu Ragaz definiert er die ironische Redeweise jedoch präziser als Herstellung' 35 . Begegnet das Ironische im Gleichnis, so handelt es sich s.E. um eine Art potenzierter Verstellung.

28 La méthode ironique dans l'enseignement de Jésus, ETR 4, 1929, 224-241, 323344; 5, 1930, 58-99; DERS., L'ironie dans l'enseignement de Jésus, NovTest 1, 1956, 3 20; DERS., Les sens multiples dans le Nouveau Testament, NovTest 2, 1958, 185-198. 29 (ThF 17), Hamburg-Bergstedt 1961 (vgl. 65fï). 30 Die Gleichnisse Jesu (Stundenbücher 99), Hamburg 1971. 31 Vgl. aaO.,31ff.l57ff.ll6f. 32 AaO, 32 (zu Lk 16,Iff); vgl. 36f.103.106f.116f. 33 AaO., 32. 34 NovTest 2, 1958, 198. 35 NovTest 1, 1956,5.15.

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Denn das Gleichnis selbst ist bereits als „parole feinte"36 (sich verstellende Rede) ansprechbar. Ironisch wird es erst dadurch, daß sich zu dieser ersten Verstellung eine zweite gesellt, die darauf abzielt, einen Widerspruch, eine Verkehrtheit oder ein Laster zu demaskieren und lächerlich zu machen37. Ciavier demonstriert diesen Sachverhalt einerseits an Mt 25,24-26, wo ein Einzelzug innerhalb der Bildhälfte ironisches Gepräge annimmt: Der in der Parabel von den Talenten auftretende Herr erkennt den Vorwurf der Härte, den der dritte Knecht vorbringt, scheinbar an, um ihn daraufhin (vgl. Mt 25,27) gegen seinen Gesprächspartner auszuspielen38. Andererseits nennt Ciavier Beispiele, wo die Gleichniserzählung als ganze ironischen Sinn trägt. So gewinnt s.E. das komische Bild der launischen Kinder (Mt 11,16f par.) durch die Applikation (Mt ll,18f par.) ironischen Charakter39. Auch die bereits genannten Texte Lk 1 l,5ff; 18, Iff und 16, Iff rechnet Ciavier wie Ragaz zu den ironisch akzentuierten Parabeln40. Wie ist diese exegetische Würdigung des Ironischen durch Ragaz und Ciavier sachkritisch zu beurteilen? Zunächst scheint Claviers Hinweis auf Mt 25,24—26 die Vermutung zu bestärken, daß man bei Jesu Gleichnissen mit ironischen Stilelementen innerhalb der Bildhälfte rechnen darf. Ergänzend wäre vielleicht das Pharisäergebet Lk 18,1 lf zu nennen - ein Gebet, das die Figur des Sprechers offenbar bewußt karikiert, wie Ragaz41 betont. Auch Mk 4,27a ließe sich an dieser Stelle anführen; denn daß der Säemann dort nach erfolgter Aussaat als ein von aller Arbeit gänzlich Entlasteter begegnet (και καϋεύδη και έγείρηται νύκτα και ήμέραν), ist sichtlich eine sachlich motivierte ironische Übertreibung42. Wie steht es dagegen mit jenen Texten, die nach Ragaz und Ciavier als ganze ironisch

36

AaO., 15. Vgl. ebd. 38 Vgl. aaO., 15f. 39 Vgl. aaO., 17f. 40 Vgl. ETR 4, 1929, 335 (s. dazu auch J. JÓNSSON, aaO., 182); ferner NovTest 1, 1956, 16. 41 AaO., 106f; gegen E. LINNEMANNS Behauptung, der Hörer Jesu habe die Gestalt des Pharisäers, „die wir fast als Karikatur empfinden", mit anderen Augen gesehen (aaO., 64). 42 Der übertreibende Zug der Bildhälfte signalisiert die βασιλεία sachlich als eine Größe, die unvergleichlich viel tätiger ist als der Mensch. Zur Auslegung von Mk 4,26-29 vgl. E. FUCHS, Das Zeitverständnis Jesu, in: DERS., Zur Frage nach dem historischen Jesus (GA II), 338ff. - Nach R. BAUMGART ist das „Mittel der Übertreibung" „zusammen mit dem Understatement die häufigste Form ironischer Wortungenauigkeit. In ihr wird die Präzision nach oben hin überschritten" (aaO., 32). 37

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qualifiziert sind? Die auch von anderen Exegeten43 geäußerte Vermutung, daß die Parabel vom schlauen Verwalter ironischen Akzent trägt, ist wohl nicht abwegig. Doch Claviers Argumentation setzt voraus, daß der Abschnitt Lk 16,1-12 als ursprüngliche Einheit zu fassen ist. S.E. erschließt sich der ironische Sinn der Parabel erst aus den Versen Lk 16,1 Off44. Berücksichtigt man demgegenüber den redaktionellen Charakter der Logienreihe Lk 16,8b-1345, gründet sich Claviers Urteil auf einen sekundären Überlieferungszusammenhang, betrifft also nicht die ursprüngliche Tradition. Inwiefern der Parabel Lk 16,1-7 (bzw. 8a) selbst schon ein ironischer Sinn innewohnte, wäre neu zu entscheiden46. Ahnliche Bedenken erheben sich gegenüber Claviers Berufung auf Mt 11,16ff par., da die Integrität des Textes keineswegs erwiesen ist47. Als sehr zweifelhaft erscheint schließlich, ob man der Parabel vom gebetenen Freund (Lk 11,5ff) ironischen Sinn unterstellen kann, handelt es sich doch v. 5b-7 um eine Frage, die nichts in der Schwebe beläßt, sondern eine eindeutige Antwort evoziert48. Im folgenden gilt es zu prüfen, ob sich die genannten Bedenken auch bei der Durchsicht anderer Texte einstellen. Lassen sich Gleichnisse einer formgeschichtlich als primär erwiesenen Traditionsschicht ausfindig machen, die nicht nur ironische Sendungen enthalten, sondern insgesamt ironischen Charakter tragen? Folgt man der Gleichnisauslegung von E. Fuchs, scheint die Suche nach derartigen Beispielen nicht aussichtslos. Fuchs49 macht wiederholt darauf aufmerksam, daß ein „ironischer Zug jedenfalls in der Stoffwahl der Gleichnisse Jesu ... unverkennbar" ist. Die existentielle Sprachkraft der Gleichnisse beruht s.E. nicht selten gerade darauf, daß in der sog. Bildhälfte eine negative oder ironische Analogie zur Sache vorgegeben wird50. So bemerkt Fuchs in seiner jüngsten Veröffentlichung Jesus. Wort und Tat': „Die Gleichnisse sind als Stoff belanglos, Beispiele ohne 43 Vgl. J.A. DAVIDSON, A .Conjecture' About the Parable of the Unjust Steward (Luke XVI. 1-9), EpTimes 66, 1954, 31; D.R. FLETCHER, The Riddle of the Unjust Steward: Is Irony the Key?, JBL 82, 1963, 15ff. 44 Vgl. NovTest 1, 1956, 16. 45 Vgl. E. JÜNGEL, Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 3 1967, 157f. 46 Eine Gruppierung typischer Deutungen der Parabel findet sich bei PH. VIELHAUER / G. THEISSEN, Ergänzungsheft zu R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 4 1971, 70; vgl. außerdem: D.O. VIA, aaO., 146ff; W. OTT, Gebet und Heil (StANT XII), München 1965, 39f(zu Lk 16,8). 47 Zur Sache vgl. jetzt J. BECKER, Das Heil Gottes (StUNT 3), Göttingen 1964, 193f; D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen-Vluyn 1969,

2 9 ; a u c h U . WILCKENS, T h W VII, 5 1 6 . 48 49 50

Vgl. W. Orr, aaO., 26. Marburger Hemeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968, 79 (vgl. 202). Vgl. aaO., 232; ferner: DERS., Jesus. Wort und Tat, 79.

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Bezüge. Durch eine gewisse Sprachkraft oft ironischer Art werden aber solche Belanglosigkeiten merkwürdig virulent."51 An anderer Stelle des Buches findet sich eine wohl auf Mt 13,44-46 anspielende Verdeutlichung dieser These: „Natürlich zeichnen die Gleichnisse die Leute in ihrem Berechnen. Das ist zwar ein Ausschnitt aus der alltäglichen Wirklichkeit, die aber durch Übertreibungen immer schon verfremdet ist. In seinen Gleichnissen zeigt Jesus den Menschen ironisch in seinem Reichtum. Damit gerade verfremdet... er die Wirklichkeit. Was Jesus meint, ist das umgekehrte Motiv: Er spricht nicht davon, wie wir irdischen Reichtum gewinnen können, sondern davon, wie uns ein ganz anderer Reichtum ergreift - die Gleichnisse müssen auf ihren Gegenzug hin betrachtet werden."52

V. Ob sich mit Hilfe dieser hermeneutischen Einsicht auch andere Texte erschließen, soll an Hand einer exegetischen Stichprobe untersucht werden. Als Beispiel wähle ich die bereits genannte Parabel vom gottlosen Richter, Lk 18,1-8. Die Interpretation ist zunächst von der Frage geleitet, ob sich dem Text ein ironischer Grundzug abgewinnen läßt. Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, stellt sich der Untersuchung des weiteren die Aufgabe, die These von der pädagogischen Funktion des Ironischen, wie sie bei Ragaz und Ciavier begegnet, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Parabel hat folgenden Wortlaut53: (1) Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, um ihnen zu zeigen, daß sie allezeit beten und nicht müde werden sollten, (2) und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und sich vor keinem Menschen scheute. (3) Und eine Witwe war in jener Stadt, die kam [immer wieder] zu ihm und sagte:,Schaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner!' (4) Und er wollte eine Zeitlang nicht; doch nachher sagte er bei sich selbst: ,Wenn ich auch Gott nicht furchte und mich vor keinem Menschen scheue, (5) so will ich doch, weil mir diese Witwe Mühe macht, ihr Recht schaffen, damit sie nicht schließlich kommt und mich ins Gesicht schlägt.' (6) Weiter sprach der Herr: ,Höret, was der ungerechte Richter sagt! (7) Gott aber sollte nicht Recht schaffen seinen Erwählten, die Tag und

51

Jesus. Wort und Tat, 78. AaO., 120; vgl. DERS., Marburger Hermeneutik, 18f.231f; DERS., Was wird in der Exegese des Neuen Testaments interpretiert?, in: GA II, 287ff. 53 Der Text wird - abgesehen von v. 7 - nach der Übersetzung der ,Zürcher Bibel' zitiert. 52

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Nacht zu ihm rufen, auch wenn er in bezug auf sie an sich hält?54 (8) Ich sage euch: Er wird ihnen ihr Recht schaffen in Bälde. Wird jedoch der Sohn des Menschen, wenn er kommt, auf Erden den Glauben finden?'

Die Traditionsgeschichte des Textes wird in der exegetischen Literatur unterschiedlich beurteilt. Zwar herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß sich die Formulierung von v. 1 sowie die Stellung von v. 8b im vorliegenden Kontext lukanischer Redaktion verdanken55. Strittig ist hingegen, ob es sich bei den verbleibenden w . 2-8a um einen einheitlich konzipierten Aussagezusammenhang handelt56. Da sich gegen die Ursprünglichkeit der Anwendung v. 6-8a gewichtige Argumente anfuhren lassen, beschränke ich mich zunächst auf eine Analyse der w . 2-5, die den eigentlichen Parabelkern bilden. Der Stil der Parabel entspricht den von R. Bultmann genannten Kriterien volkstümlicher Erzählweise57. Hervorzuheben sind folgende Merkmale: Knappheit und Geradlinigkeit, Überwiegen der Parataxe, szenische Zweiheit, Verwendung der direkten Rede und des Selbstgesprächs, Verlagerung des Schwerpunktes auf den Schluß. Die Erzählung verweist nicht auf eine

54

Diese Übersetzung von v. 7 berücksichtigt die traditionsgeschichtliche Abhängigkeit d. St. von Sir 35,19 (= 32,22), wo μακροΰυμεί,ν in Übereinstimmung mit weisheitlichapokalyptischer Überlieferung die (begrenzte) Zurückhaltung des göttlichen Zorns kennzeichnet; vgl. A. STROBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem auf Grund der spätjüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2ff. (Suppl. to NovTest 2), Leiden / Köln 1961, 63f; H. RIESENFELD, Zu μακροθυμειν (Lk 18,7), in J. BLINZLER (Hg.), Neutestamentliche Aufsätze (FS J. Schmid), Regensburg 1963, 215ff (zur Sache vgl. auch A. STROBEL, aaO., 30ff; W. HARNISCH, Verhängnis und Verheißung der Geschichte (FRLANT 97), Göttingen 1969, 314ff; ferner DERS., Eschatologische Existenz (FRLANT 110), Göttingen 1973, 107ff). In Anbetracht der durch Sir 35,19 eindeutig determinierten Bedeutung des Verbs μακροϋυμειν ist es naheliegend, das einleitende καν in v. 7b (trotz der von W. OTT, aaO., 52f, beigebrachten Argumente) konzessiv zu verstehen (so H. RIESENFELD, aaO., 216f; R. DESCHRYVER, La parabole du juge malveillant [Luc 18,1-8], RHPhR 48, 1968, 364). 55 Vgl. zuletzt W. OTT, aaO., 19.32ff.68ff sowie R. DESCHRYVER, aaO., 357ff. 56 Zur Debatte vgl. A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu, II, Darmstadt 1963 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1910), 284.288f; R. BULTMANN, aaO., 189; E. GRÄSSER, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte (BZNW 22), Berlin 2 1960, 36f; H. BRAUN, Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus (BHTh 24), II, Tübingen 1957, 48 Anm. - J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 6 1962, 155; W. G. KÜMMEL, Verheißung und Erfüllung (AThANT 6), Zürich 3 1956, 52f (vgl. DERS, Die Naherwartung in der Verkündigung Jesu, in: ZuG, 36f); C. SPICQ, La parabole de la veuve obstinée et du juge inerte ..., RB 68, 1961, 68ff; G. DELLING, Das Gleichnis vom gottlosen Richter, ZNW 53, 1962, 13ff; E. LINNEMANN, a a O . , 1 8 6 f ; R . DESCHRYVER, a a O . , 3 5 6 . 57

Vgl. aaO., 203ff.

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tatsächliche Begebenheit, wie man gelegentlich meint58. Es handelt sich vielmehr um eine echte Konfiguration, die, weil sie in sich selbst Aussagekraft besitzt, unsere Aufmerksamkeit zu beanspruchen vermag. Die Einzelelemente der Parabel werden also nicht durch „Ereignisse oder Ideen außerhalb des Gleichnisses" zusammengehalten, „sondern durch die schöpferische Komposition des Autors"59. Wie wenig sich die Erzählung als Tatsachenbericht zu verstehen gibt, zeigt sich schon daran, daß sie weder den Rechtsfall noch die Figur des Prozeßgegners der Witwe genauer profiliert. Auch die Lokalität wird nicht näher beschrieben. Bezeichnend für die Fiktionalität des Erzählten ist ferner die Art, wie die Witwe ihr Anliegen vorbringt und wie der Richter sein Einlenken motiviert60. Worauf will die Parabel hinaus? Ist sie von der Absicht des Erzählers getragen, die Erfolgssicherheit anhaltenden Bittens vor Augen zu führen? In diesem Fall wäre die Beharrlichkeit der Witwe hervorgehoben (vgl. das iterative Imperfekt ήρχετο, v. 3b, sowie die Erwägung des Richters v. 5a). Es fragt sich jedoch, ob das Gefalle der Erzählung erlaubt, die Aufmerksamkeit auf diesen Einzelzug zu konzentrieren. Betont man nämlich wie zuletzt E. Gräßer, E. Linnemann und W. Ott das Moment der Beharrlichkeit61, so bleibt unberücksichtigt, daß die Parabel nur sekundär am Verhalten der Witwe, primär dagegen an der Selbstbesinnung und Entscheidung des Richters interessiert ist. Dieser Sachverhalt erschließt sich indirekt aus der Applikation v. 6-8a. Wenn dort das Handeln Gottes in einem Schluß a minore ad maius mit dem des Richters in Beziehung gesetzt wird, so ist vorausgesetzt, daß „nicht die Witwe, sondern der Richter" „im Mittelpunkt des Gleichnisses steht"62. Doch läßt sich auch ohne den Rekurs auf die Logik der Anwendung einsichtig machen, daß der Erzählung weniger an der Aufdringlichkeit der Witwe als vielmehr an der Intervention des Richters und deren Motivation gelegen ist. Wie W. Ott63 zu Recht hervorhebt, gipfelt die Parabel in dem Selbstgespräch des Richters v. 4c und 5: ,Wenn ich auch Gott nicht furchte und mich vor keinem Menschen scheue, so will ich doch, weil mir diese Witwe Mühe macht, ihr Recht schaffen, damit sie nicht schließlich kommt und mich ins Gesicht schlägt.' 58

Z . B . R . DESCHRYVER, a a O . , 3 5 9 f f .

59

D.O. VIA, aaO., 34. Vgl. die merkwürdige Wiederholung der Charakteristik von v. 2 im Selbstgespräch des Richters v. 4c. 60

61

V g l . E . GRÄSSER, a a O . , 3 6 ; E . LINNEMANN, a a O . , 1 2 6 ; W . O r r , a a O . , 2 2 f ( a u c h

56.60.65). Zur Sache vgl. D.O. VIAs grundsätzliche Kritik der am ,tertium comparationis' orientierten Gleichnisinterpretation (aaO., 24ff.88ff, bes. 89f). 62

S o W . G . KÜMMEL, in: Z u G , 3 6 f .

63

A a O . , 2 2 , b e s . 2 8 ; ä h n l i c h R . DESCHRYVER, a a O . , 3 6 0 .

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Besondere Beachtung verdient der abschließende Finalsatz: 'ίνα μή εις τέλος έρχομένη ύπωπιάζη με. Wäre es der Parabel auf den Erfolg unablässigen Bittens angekommen, hätte dieser Satz fehlen können. In der Tat sieht sich die gängige Exegese genötigt, die abschließende Erwägung des Richters zu verharmlosen. Die prägnante Bedeutung von ύπωπιάζειν (= unter das Auge schlagen) wird umgebogen, das Einlenken des Richters auf die ,ewige Quengelei' der Frau zurückgeführt64. Unterstellt man dagegen, daß v. 5b mit Bedacht angefügt ist, und widersteht man dem Versuch, das Drastische der Aussage zu entschärfen, legt sich eine andere Deutung der Erzählung nahe. Ohne Zweifel gewinnt das Selbstgespräch durch v. 5b einen Zug ins Komische. Denn daß ausgerechnet dieser Richter, berüchtigt wegen seiner Skrupellosigkeit, auf den Gedanken kommt, von einer hilflosen Frau tätlich angegriffen zu werden, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Mit Absicht läßt der Erzähler den Richter im „Selbstgespräch V. 4 die Charakteristik von V. 2 aufnehmen"65. Denn dadurch geraten Einleitung und Schluß des Monologs in ein Spannungsverhältnis. Der Konzessivsatz v. 4c steht in Opposition' zu v. 5b. Während v. 4c den Eindruck erweckt, daß diesem gewissenlosen Mann Furcht fremd ist, läßt v. 5b erkennen, daß er es plötzlich mit der Angst zu tun bekommt. Mit diesen Erwägungen sind Anhaltspunkte gewonnen, aus denen sich die erzählerische Intention erschließt. Sie zielt offenbar darauf ab, die Figur des Richters lächerlich zu machen. In v. 5b bekundet sich also nicht der ,Humor', ,Sarkasmus' oder ,Zynismus' des Richters selbst, sondern - wie R. Deschryver66 zu Recht feststellt - „die Ironie des Erzählers". Die Parabel schildert den nicht-alltäglichen Fall, daß (um wiederum Deschryver zu zitieren) „eine ,Autorität', die man (sonst) zu fürchten allen Anlaß hat, auf wenig ruhmvolle Art kapituliert"67. Sie erzählt, wie ein der Willkür schutzlos preisgegebener Mensch ausnahmsweise einmal sein Recht findet, weil ein Mächtiger aus Schwäche einlenkt, um sein Gesicht zu wahren. Ich habe - analog zur Methodik D.O. Vias - versucht, die Parabel „zunächst für sich selbst zu betrachten"68. Offen blieb die „Frage ihres Bezuges

64 65 66

V g l . J. JEREMIAS, a a O . , 153; E . LINNEMANN, a a O . , 1 2 6 . E . LINNEMANN, a a O . , 126. A a O . , 3 6 1 ( g e g e n A . JÜLICHER, a a O . , 2 8 2 ; G . DELLING, a a O . , 13; C . SPICQ, a a O . ,

76). 67 Ebd. In Wirklichkeit hätte ein Richter der gekennzeichneten Art natürlich nicht nachgegeben. Berücksichtigt man diesen Sachverhalt, erweist sich der Schluß der Parabel eben als eine .ironische Verstellung' der Wirklichkeit. 68 D.O. VIA, aaO., 10.

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zu Jesu nicht-gleichnishafter Verkündigung des Reiches Gottes"69. Welche Aussagekraft gewinnt die Erzählung, wenn man sie probeweise in den Rahmen des Verhaltens und der Basileia-Verkündigung Jesu einfugt?70 Der damit thematisierte Problemzusammenhang kann hier nur skizzenhaft erörtert werden. Charakteristisch für Jesu Verhalten ist ohne Zweifel sein Einsatz für die Bedrängten und Verlorenen. In eschatologischer Vollmacht nimmt er den gnädigen Willen Gottes für jene in Anspruch, denen die Gemeinschaft Schutz und Achtung versagt. Gerade die religiös und gesellschaftlich Deklassierten sind berufen, mit Jesus das eschatologische Mahl als Vorfeier der kommenden Gottesherrschaft zu begehen (vgl. Mk 2,19a; Mt 11,19 par. Lk 7,34). Dieselbe Tendenz bekundet sich in Jesu Wort. So prädizieren die Makarismen der Bergpredigt eben diejenigen als Adressaten der Gottesherrschaft, „die in der Welt nichts sind"71. Von besonderer Bedeutung für unsere Fragestellung ist der Satz Mt 5,6: ,Heil denen, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.' Es ist nicht auszuschließen, daß diese Fassung des Logions bereits sekundäre Merkmale aufweist72. Gleichwohl dürfte das Wort bei Matthäus dem Anliegen Jesu sachlich eher entsprechen als die lukanische Version73. Man verfehlt freilich die Pointe von Mt 5,6, wenn man unterstellt, mit dem Hungern und Dürsten sei „ein aktives, tatkräftiges Verlangen, ein entschlosse-

69

Ebd. In D.O. VÍAS Untersuchung wird die Erörterung dieser zweiten Frage m.E. zu stark vernachlässigt; vgl. die programmatische Erklärung aaO., 44. 70 Erfragt ist derjenige Punkt, „wo Jesu Wort auf seine Tat verweist und von dieser Tat her Licht empfängt" (E. FUCHS, Das urchristliche Sakramentsverständnis [Schriftenreihe der Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg H. 8], Bad Cannstatt 2 1965, 23f; vgl. DERS., Bemerkungen zur Gleichnisauslegung, in: GA II, 136f; DERS., Die Frage nach dem historischen Jesus, ebd., 154; DERS., Das Fest der Verlorenen, in: Glaube und Erfahrung [GA III], 406.409). Ist die Ansage, ja Mit-teilung der Basileia als die eigentliche Tat Jesu anzusprechen, so bildet die Basileia selbst „die .Situation'", der die Gleichnisse „unabhängig von jedem konkreten Anlaß ihr Entstehen verdanken" (E. BISER, aaO., 160; vgl. E. JÜNGEL, aaO., 135fï). Von daher gesehen, erscheint es als verfehlt, die Gleichnisauslegung an jeweils zu ermittelnden Einzelsituationen zu orientieren sowie die Verstehensbedingungen der ursprünglichen Hörer zum ausschlaggebenden Interpretationskriterium zu erheben (gegen E. LINNEMANN, aaO., 30f, die im Gefolge dieser methodischen Prämisse fast allen Gleichnissen Jesu eine apologetische Tendenz unterstellen muß; vgl. demgegenüber E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, 105f). 71 F. GOGARTEN, Die Verkündigung Jesu Christi, Heidelberg 1948, 73. 72 Zur Sache vgl. jetzt H. FRANKEMÖLLE, Die Makarismen (Mt 5,1-12; Lk 6,20-23), BZ 15,1971, 71; G. STRECKER, Die Makarismen der Bergpredigt, NTS 17,1971,264f. 73 Auch wenn form- und literarkritische Erwägungen die größere Nähe der lukanischen Makarismusfassung zu Q sicherzustellen vermögen, ist damit über deren sachliche Priorität noch keineswegs entschieden.

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nes Sich-Bemühen um die Verwirklichung von Gerechtigkeit"74 gemeint. Angeredet sind eben nicht zur Tat Berufene (so der apokalyptische Makarismus 4. Esr 7,45!), sondern Leidende, die den Mangel an Gerechtigkeit ohnmächtig auszustehen haben. Für sie nimmt der Makarismus das eschatologische Heil Gottes in Anspruch75. Ist es abwegig, die Parabel vom gottlosen Richter auf diesen Kontext zu beziehen? Könnte nicht gerade ein Wort wie Mt 5,6, das seinen Kommentar in Jesu Verhalten findet, als die eigentliche ,Sachhälfte' von Lk 18,2-5 gelten?76 Dann allerdings handelte es sich bei der Parabel um eine ironische Analogie zum Geschehen der Gottesherrschaft. Interpretiert man den Text vor dem Hintergrund von Mt 5,6, sind Bild- und Sachhälfte inkongruent. Die komisch wirkende Intervention des Richters steht in einem gespannten Entprechungsverhältnis zur befreienden Tat Gottes, die Jesus ansagt. Der zufallige Rechtsgewinn der Witwe erscheint als das lächerliche Abbild des eschatologischen Heils, als ironische Privation jener Fülle, die der Makarismus allen nach Gerechtigkeit Hungernden zuwendet. Abgekürzt formuliert, läßt sich der Kontrast zwischen Bild- und Sachhälfte auch folgendermaßen kennzeichnen: Was auf der Bildseite als einmaliger Glücksfall erscheint, will auf der Sachseite gerade als Regel wahrgenommen sein, allerdings „als eine solche Regel, die von Gott durchgesetzt wird"77. Während sich die Parabel erlaubt, vom alltäglichen Unglück der übrigen abzublenden, bedenkt Jesu Basileia-Verkündigung eben die hoffnungslose Lage der vielen, denen selbst die Bitte um Gerechtigkeit nicht mehr erschwinglich ist. Indirekt werden diese Erwägungen durch v. 6-8a bestätigt. Die dort angefugte Applikation der Erzählung macht nämlich die soeben skizzierte Differenz zwischen wörtlich und eigentlich Gesagtem explizit, indem sie das Verhalten des Richters und das Gottes in einem Schluß a minore ad maius aufeinander bezieht. Freilich verdirbt sie dadurch die analogische Kraft der 74

So G. STRECKER, aaO., 265; vgl. DERS., Der Weg der Gerechtigkeit (FRLANT 82), Göttingen 2 1966, 157. 75 Vgl. H. GÜNTHER, Die Gerechtigkeit des Himmelreiches in der Bergpredigt, KuD 17, 1971, 123. 76 Auch R. DESCHRYVER macht auf den Sachzusammenhang zwischen der Parabel und den Makarismen aufmerksam (vgl. aaO., 366; femer H. RIESENFELD, in: FS J. Schmid, 217). Er übersieht jedoch die besondere Bedeutung von Mt 5,6 für die Interpretation von Lk 18,2ff, verkennt den analogischen Charakter der Erzählung und betrachtet den Text im Grunde als Beispielgeschichte, die eine tatsächliche Begebenheit abbildet (aaO., 361). S.E. macht Jesus die Erzählung in der Absicht geltend, die Passivität der Benachteiligten und Rechtsuchenden zu bekämpfen (aaO., 361f.366). 77 E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, 33. Diese Inkongruenz zwischen Bild und Sache kennzeichnet die zweite, tiefer angelegte ironische Verstellung, die der Parabel inhärent ist (s. o. Anm. 67).

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Parabel. Denn das Plus, das die Anwendung ausdrücklich intendiert, will vom Hörer der Erzählung selbst entdeckt sein. Der Einwand, den W. Ott gegen die Ursprünglichkeit von v. 8a vorbringt, betrifft faktisch die Applikation als ganze. Ott empfindet die Antwort v. 8a im Blick auf die vorausliegende Frage als „überflüssige ... Verbreiterung"78. Allein, wie die Frage v. 7 durch die Antwort v. 8a ihrer suggestiven Kraft beraubt wird, so wird die Parabel selbst durch die sich anschließende Frage ihrer analogischen Kraft beraubt. Ganz abgesehen von weiteren Indizien, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, erweist dieser Sachverhalt allein schon die Anwendung als stilwidrig79. Setzt man die Situation Jesu als Kontext voraus, bedarf die Parabel einer derartigen Erläuterung nicht80. Denn von diesem Kontext her vermag sich dem Hörer die innere Gegenstrebigkeit, d.h. der versteckt ironische Charakter des Erzählten zu erschließen. Allerdings dies bleibt zu beachten - an der Präsenz dieses Kontextes liegt alles. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, daß die Ambivalenz des Gesagten durchsichtig wird. Der Hörer muß an Jesu Situation schon beteiligt sein, soll sich ihm das Ironische der Parabel zu erkennen geben. Denn der ironische Spielraum „mit seinen Verstellungen und Zwischenwänden" ist - wie Allemann sagt - „nur dem Eingeweihten, der seine Bezugspunkte genau kennt, als solcher zugänglich, wie offen er im übrigen auch zutage liegen mag" 81 . Hat das Stilmittel der Ironie im Gleichnis Jesu didaktischen Sinn? Bedenkt man, daß die „ironische leise Verstellung und Verrückung aller Bezüge ... diese in ihrer charakteristischen Eigenart nur um so heller ins Licht" rückt82, scheint diese Vermutung naheliegend. Indessen gilt zu beachten, daß die ironische Redeweise zunächst auf eine Verfremdung des Eigentlichen abzielt. Auch wenn sie nicht die Züge des Bitteren und Höhnischen trägt, sondern - wie es in Jesu Gleichnissen der Fall zu sein scheint einräumenden Wesens' 83 ist, immer schafft die Ironie eine Distanz, die der 78

AaO., 41. W. Orr schreibt neben v. 8a auch v. 6a der lukanischen Redaktion zu (vgl. aaO., 34ff). 79 Für den sekundären Charakter der Applikation spricht im übrigen das Anklingen der Verzögerungsthematik in v. 7b, wo ein Nebenzug der Parabel (έπί χρόνον, v. 4a) willkürlich belastet wird; ferner der Rückgriff auf Sir 35,19 (vgl. 35,11-24 insgesamt) sowie die Rede von den εκλεκτοί, die, indem sie den Kreis der Adressaten eingrenzt, die Tendenz der Parabel umbiegt. 80 Selbst R. DESCHRYVER konzediert, daß die Parabel (v. 2 - 5 ) nicht unbedingt einer Applikation bedarf (aaO., 256 Anm. 6; vgl. auch W. OTT, aaO., 60). 81 Ironie und Dichtung, 20f. 82

83

B . ALLEMANN, aaO., 2 0 .

Der Ausdruck begegnet in B. ALLEMANNS Charakteristik der Ironie bei R. Musil (Ironie und Dichtung, 213).

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Ironie in Gleichnissen Jesu

Hörer zu überbrücken hat. Stets liegt in ihr „eine Lust zur Maske, zum Inkognito, zur Mittelbarkeit des Sprechens", wie H.-E. Hass84 hervorhebt. Begegnet das Stilmittel der Ironie im Gleichnis, so unterstützt es die Indirektheit der Sprache, die dem Gleichnis selbst eigentümlich ist. Diese Mittelbarkeit des Redens entspricht Jesu Situation, weil - wie E. Fuchs85 bemerkt - „die Sache selber nicht zu fern, sondern zu nahe ist", als daß direkt von ihr gesprochen werden könnte. Dem Hörer obliegt es, die indirekte Rede des Gleichnisses „in eine direkte Zusage" zu verwandeln: „Das, was dem Hörer indirekt und abständig zugesprochen wird, muß er selber direkt annehmen, er muß selber mitarbeiten, indem er den Abstand in seine Situation aufhebt. Tut er mit, dann ist er errettet, oder aber er ist Gegner, er lehnt ab."86

84 Über die Ironie bei Goethe, in: Ironie und Dichtung (s. Anm. 1), 59. Zum Inkognito vgl. S. KIERKEGAARD, Über den Begriff der Ironie mit standiger Rücksicht auf Sokrates (übers, von H. H. Schaeder), München / Berlin 1929, 207. 85 Jesus. Wort und Tat, 22; vgl. DERS., Das hermeneutische Problem, in: ZuG, 365. 86 E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, 92.

SPRACHE UND WIRKLICHKEIT Hermeneutische Erwägungen zur Alternative ,textbezogener oder problemorientierter Religionsunterricht', präzisiert am Beispiel der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1-15)

Die gegenwärtige Situation der Bibelwissenschaft scheint prekär. Man wirft den Exegeten Textfetischismus vor und kritisiert ihre Neigung, die Geschichte der negativen Folgen des christlichen Glaubens „hermeneutisch zu bagatellisieren"1. Im Vordergrund des Interesses stehen demgegenüber Abhandlungen, die stärker gegenwartsbezogen sind und sich unter dem Titel einer Theologie der Hoffnung, der Revolution oder auch der Frage präsentieren. Modern sind Formulierungen, welche die Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft deklarieren. Vom radikalen Neuansatz theologischer Denkbemühung ist die Rede. Man ruft die Wende aus von der exegetisch-hermeneutischen zur politischen Theologie. Die Frage, ob theologische Arbeit „einen aktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt zu leisten vermag, ob sie gesellschaftliche Relevanz' hat, ist zum Schibboleth für Theologie und Kirche der Gegenwart geworden", stellt Erich Gräßer in einem Aufsatz über ,Die politische Herausforderung an die biblische Theologie' fest.2 Von dieser Herausforderung ist allerdings nicht allein die exegetische Fachwissenschaft betroffen. Der besagte Wandel der Fragestellung beeinflußt mehr oder weniger alle Teilbereiche der Theologie, so auch die Disziplin der Religionspädagogik, wie die jüngste Debatte um die sachgemäße Didaktik des Religionsunterrichts zeigt. Charakteristisch ist die Forderung eines problemorientierten Unterrichts, der in erster Linie einer Analyse heutiger Wirklichkeit zu gelten hat. Er soll nicht mehr nur exegetisch, sondern vor allem gesellschaftskritisch ausgerichtet sein. Damit vollzieht sich offensichtlich eine Abkehr vom Programm Gerd Ottos, der die „Auslegung der Bibel" noch als „didaktische Grundform des Religionsunterrichts" zu begreifen suchte3. Sigurd Martin Daecke kommentiert diesen 1

D. SÖLLE, Hoffnung verändert die Welt, EvKom 4,1971,16. EvTh 30, 1970, 228. 3 Schule Religionsunterricht Kirche, Göttingen 31968, 79 (im Original teilweise hervorgehoben). 2

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grundlegenden Wechsel didaktischer Ansätze mit der Bemerkung: „.Auslegung der Tradition',,Auslegung der christlichen Überlieferung' war vor einem Jahrzehnt die Parole der ,fortschrittlichen' Befürworter des Religionsunterrichtes, die der kritischen oder kerygmatischen Theologie angehörten wie Stallmann, Stock und Otto, gegen das Verständnis der Evangelischen Unterweisung als Verkündigung, Mission, Bekenntnis und Zeugnis. Heute scheinen die Fronten vertauscht zu sein: was vor zehn Jahren als liberales Bildungsverständnis' verschrien wurde, als ,Auflösung' der Evangelischen Unterweisung in ,normalen' Sprachunterricht ... - das gilt heute teilweise schon wieder als ,überholt' durch das Verständnis des Religionsunterrichtes als Auslegung gegenwärtiger Wirklichkeit."4 Wie sehr diese Feststellung zutrifft, beleuchtet schlaglichtartig die apodiktische Erklärung von Dieter Stoodt, der „Religionsunterricht des ... Auslegungsgeschehens", das auf „Daseinserhellung und auf Textinterpretation" abzielt, sei heute „nicht mehr gefragt" 5 . Die folgenden Überlegungen gehen der Problematik der Alternative ,textbezogener oder problemorientierter Religionsunterricht' nach, indem sie das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit bedenken. Dabei ist einerseits in die hermeneutische Aufgabe der Theologie einzuführen und verbreiteten Vereinfachungen entgegenzuwirken. Zum anderen gilt zu zeigen, inwiefern eine auf auslegendes Verstehen bedachte theologische Arbeit dazu verhilft, daß die Theologie ihrer eigenen Sache ansichtig bleibt.

I. Die Methode historisch-kritischer Auslegung Zunächst ist festzustellen, daß die Theologie, sofern sie sich auf die ihr vorgegebenen Texte der biblischen Tradition im auslegenden Verstehen einläßt, auf diejenigen Methoden angewiesen ist, die bei der Interpretation schriftlich fixierter Aussagen auch sonst Verwendung finden und die z.B. in der Altphilologie, in der Literaturwissenschaft sowie der Jurisprudenz ausgebildet, verfeinert und erweitert wurden. Dazu ein Zitat von Gerhard Ebeling: Die Theologie „befindet sich nicht im glücklichen Besitz einer eigenen, spezifisch theologischen Methode zur Lösung der hermeneutischen Aufgabe. Sofern sie es mit geschichtlichem Verstehen zu tun hat, unterscheidet sie sich methodisch in keiner Weise von den Aufgaben, wie sie der 4

Religionsunterricht von morgen, in: W.G. ESSER (Hg.), Zum Religionsunterricht morgen, Bd. II, München / Wuppertal 1971, 32f. (vgl. Erstveröffentlichung in: EvKom 3, 1970, 197). 5 Information und Interaktion im Religionsunterricht, in: Anstöße 1.2, 1970, 51

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sogenannten profanen Geschichtswissenschaft gestellt sind"6. Das Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft ist somit gerade darin begründet, daß sie sich bei der Textauslegung von methodischen Gesichtspunkten leiten läßt, die jedermann auf ihre Zweckmäßigkeit und Sachgemäßheit befragen kann. Sie stellt ihre Aussagen als methodisch erhoben und insofern als nachprüfbar zur Diskussion. Worin besteht nun aber die besondere Leistung der kritischen, auf auslegendes Verstehen bedachten Theologie? Sie macht einerseits die Verstehensbarrieren namhaft, die eine direkte Vergegenwärtigung des damals Geschriebenen verhindern. So stellt sie z.B. die Probleme vor Augen, die aus der Sprachdifferenz zwischen Text und Übersetzung erwachsen. Sie macht deutlich, daß jede Übersetzung bereits eine Interpretation darstellt, ja daß Übersetzung ihrer eigentlichen, positiven Leistung nach Interpretation ist. James M. Robinson, ein amerikanischer Exeget, illustriert diesen Sachverhalt mit verhaltener Ironie folgendermaßen: „Es ist sinnlos, einem Städter [heute] zu sagen, er dürfe seinen Ochsen und Esel am Sabbat nicht arbeiten lassen. Hier muß eine Übersetzung stattfinden. Ist [aber] die Aufgabe der Übersetzung [schon] erfüllt, wenn man die Wörter ,Ochse' und ,Esel' etwa durch das Wort,Rasenmäher' ersetzt? Der notwendige Begriffswechsel muß tiefer angesetzt werden. Handelt es sich nur um die Ersetzung des Lasttieres durch einen Apparat, oder handelt es sich um das verschiedene Verständnis von Ruhe und Erholung in einer bäuerlichen und in einer industriellen Kultur, in der Sitzen in einem Büro Arbeit und Gartenarbeit Erholung ist?"7 Im Umkreis der Übersetzungsprobleme stellen sich weitere Fragen, welche die Theologie im Vollzug auslegenden Verstehens aufwirft und thematisiert. So verdeutlicht sie insonderheit die Fremdheit biblischer Vorstellungsweisen - man denke etwa an die Sprache des Mythos, an die Wunderund Auferstehungsgeschichten. Sie betont die Andersartigkeit des antiken Geschichtsbewußtseins und Weltbildes - man denke etwa an die Rede von den zwei Äonen, von Himmel und Hölle und von dämonischen Sphären. Sie macht auf die Situationsbedingtheit des Gesagten aufmerksam und entdeckt Widersprüche sowie Unstimmigkeiten. Schließlich lenkt sie den Blick auf literarische Abhängigkeitsverhältnisse und Traditionsbewegun6 Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, ZThK 47, 1950, 35; vgl. aaO., 32: Der moderne Historiker „behandelt alle geschichtlichen und literarischen Phänomene der Vergangenheit mit der gleichen, nämlich der historisch-kritischen Methode, die zwar sich je nach der Art des historischen Gegenstandes unendlich modifizieren, die aber durch kein historisches Objekt grundsätzlich außer Kurs gesetzt werden kann". 7 Zit. nach einem Vorlesungsmanuskript,Theologie als Übersetzung' (1963).

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gen, ja sie stellt die Originalität von Einzelaussagen durch religionsgeschichtlichen Vergleich sogar in Zweifel, treibt also Sachkritik. Auf diese Weise kann es ihr gelingen, die für uns zunächst verstellte Absicht eines Textes zu ermitteln. Sie kann verhindern, daß wir das Besondere des Neuen Testaments in dem erblicken, was sich in unseren Augen als auffällig und neu darstellt, in Wahrheit aber zum Allgemeingut antiker Sprache und Lebensauffassung gehört. So verhilft sie dazu, auf das zu hören, was der Text selbst betont wissen will8.

II. Zum Verhältnis von Text und Erfahrung Mit dem bisher Gesagten ist die kritische Funktion hermeneutischer Theologie allerdings noch nicht zureichend beschrieben. Denn sie stellt nicht muden naiven Umgang mit der Bibel in Frage, sondern unterzieht auch jene Betrachtungsweise der Kritik, die vorgibt, sich der neutestamentlichen Texte aus neutraler Distanz, im distanzierten Sehakt, vergewissern zu können. Zu diesem Sachproblem bemerkt Ebeling: „Es hat die Einsicht an Boden gewonnen, daß eine rein objektivierende, nach dem Ideal der naturwissenschaftlichen Methode arbeitende Geschichtsbetrachtung, die sich mit der Feststellung dessen begnügt, wie es einmal gewesen ist, der Aufgabe des geschichtlichen Verstehens gar nicht gerecht wird und auch nur in gewissen Grenzen durchführbar ist, daß dabei die Geschichte gerade stumm bleibt und es nur zu einer Anhäufung toten Materials kommt statt zu einer lebendigen personalen Begegnung mit der Geschichte. Es wäre in dieser Situation freilich höchst verhängnisvoll, wenn daraus eine Zweigleisigkeit der Beschäftigung mit der Geschichte entstände, wenn auf der einen Seite die historische Fachwissenschaft sich zurückzöge auf eine formale technische Handhabung der historisch-kritischen Methode, während auf der anderen Seite unberührt von dieser streng methodischen Arbeit versucht würde, das Geschichtliche zu deuten und vergegenwärtigend zum Leben zu erwekken."9 Auslegendes Verstehen hat vielmehr beides in sich einzubeschließen. Der Vorgang der ,explicatio' (der Auslegung) und derjenige der ,applicatio' (der Inbrauchnahme, der Aneignung) sind nicht als aufeinander folgende, unabhängig voneinander zu vollziehende Interpretationsschritte zu begreifen. Vielmehr ist das Moment der Applikation bereits innerhalb der Explikation zur Geltung zu bringen10. 8

Vgl. E. FUCHS, Programm der Entmythologisierung, Bad Cannstatt 3 1967, 11 ff. AaO., 33f. 10 Vgl. H.-G. GADAMER, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960,290ff.

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Das Anliegen, das sich hinter dieser Forderung verbirgt, läßt sich abgekürzt vielleicht durch folgenden Vergleich deutlich machen: Wie man einen Brief, der uns persönlich ansprechen will, nicht distanziert zur Kenntnis nehmen kann, so kann man auch die Texte des Neuen Testaments nicht in der Manier eines Zeitungslesers ungerührt goutieren. Denn kritische Theologie hat erkannt, daß diese Texte selbst Anredecharakter tragen. Was das Neue Testament zu sagen hat, erschließt sich somit nur einem beteiligten Verstehen, das dem Anruf gegenüber Stellung bezieht, sich ihm öffnet oder verweigert. Es gilt also, die eigenen Lebenserfahrungen, das eigene Verhältnis zur Wirklichkeit, methodisch - und das heißt: reflektiert - in die Auslegung einzubeziehen, wenn der Verstehensprozeß in Gang kommen soll. Auf diesen Sachverhalt macht Rudolf Bultmann aufmerksam, wenn er formuliert: „Es gilt nicht, das Vorverständnis zu eliminieren, sondern es ins Bewußtsein zu erheben, es im Verstehen des Textes kritisch zu prüfen, es aufs Spiel zu setzen, kurz es gilt: in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören."11 Der Ausleger muß sich also dafür offen halten, daß sein Selbstverständnis durch die Begegnung mit dem Text korrigiert, ja vielleicht sogar grundlegend geändert wird. Er riskiert sich selbst, indem er interpretiert. Denn er muß damit rechnen, daß er beim Auslegen der biblischen Tradition selbst ausgelegt, daß er beim Übersetzen selbst ,übersetzt', nämlich an einen anderen Ort gebracht und in eine neue Situation eingewiesen wird12. Damit ist jener Naivität gewehrt, die meint, einen Text zwar historisch erklären, ihn dann aber ungestraft zu den Akten legen zu können. III. Sprache und Wirklichkeit Diese Erwägungen lassen bereits erkennen, was nach meiner Auffassung als das eigentliche Thema, als das ,proprium' theologischer Arbeit zu gelten hat. Die Sache, um die es der Theologie im auslegenden Verstehen geht, ist das anredende Wort des Neuen Testaments. Theologisches Verstehen transzendiert ein rein philologisch-historisches, angeblich objektiv verfahrendes Erklären - ein Erklären, das sich in Tatsachenfeststellungen und 11

Das Problem der Hermeneutik, in: GuV II, Tübingen 1952, 228. Zur Sache vgl. E. FUCHS, Marburger Hermeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968, 79ff (bes. 85ff); DERS., Was ist ein Sprachereignis?, in: Zur Frage nach dem historischen Jesus (GA II), Tübingen 1960, 430; G. HAUFE, Auf dem Wege zu einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments, in: G. KULICKE / K. MATTHIAE / P.-P. SÄNGER (Hg.), Bericht von der Theologie. Resultate. Probleme, Konzepte, Berlin 1971, 66; D.O. VIA, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München 1970,60. 12

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Ableitungen erschöpft. Es radikalisiert die historische Fragestellung. Denn es macht deutlich, daß im Neuen Testament ein Wort zu Gehör kommt, das uns selbst unbedingt angeht und unser Wirklichkeitsverständnis betrifft. Wenn man heute vielfach die Orientierung an der gegenwärtig erfahrbaren Welt gegen die Ausrichtung an der Tradition ausspielt, so legt man auseinander, was im Vollzug auslegenden Verstehens gerade als Beieinander erscheint. Hält man nämlich „den Umgang mit den Texten in der von diesen selbst geforderten hermeneutischen Spannweite durch, so ist die umfassende kritische Besinnung auf die Erfahrung gegenwärtiger geschichtlicher Situation darin notwendig inbegriffen"13. An dieser Stelle ist allerdings sofort einem naheliegenden Mißverständnis zu begegnen. Ich habe im Anschluß an Ebeling mit Bedacht von einer .kritischen Besinnung' gesprochen. Es handelt sich nämlich nicht darum, daß das Christliche in unsere Erfahrungswirklichkeit einfach eingezeichnet wird. Unsere eigene Situation soll vielmehr mit dem konfrontiert werden, was im Neuen Testament zur Sprache kommt. Dann wird sich zeigen, ob beides einander entspricht, sich verschränkt oder in Spannung zueinander steht. Im Folgenden soll diese Bewegung oder Wechselbeziehung zwischen Text und Wirklichkeit an einem exegetischen Beispiel erprobt werden. Ich wähle die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-15), referiere aber nicht den Text, sondern einige Beobachtungen von Ernst Fuchs zum Gefalle des Textes: Die „Bildhälfte versetzt uns in die Erzählung von jenem Hausherrn, der sich auf dem Markt, wie nachher gesagt wird, Lohnarbeiter fur seinen offenbar recht großen Weinberg zusammenholt. Dieser Vorgang wiederholt sich fast bis zur Sinnlosigkeit, weil der Mann sogar noch zur letzten Stunde einige arbeitslos Gebliebene aufgreift und anstellt. Der Tag ist vorbei, der Herr läßt auszahlen. Es gibt einen Taglohn; anfanglich war dafür ein Denar vereinbart, also nicht viel, und das bekommen nun alle, die Ersten wie die Letzten. War das Verhalten des Herrn schon bis dahin mindestens auffällig, so steigert sich die Erzählung jetzt zur dramatischen Spannung. Sie erreicht das durch den sozusagen dramaturgischen Kunstgriff, daß die Letzten zuerst ausbezahlt werden, so daß wir die unvermeidliche Reaktion der Ersten miterleben. Die Ersten sehen, daß die Letzten den ganzen Taglohn erhalten, und erhoffen nun natürlich für sich eine Erhöhung, also mehr. Doch auch sie bekommen das Gleiche. Daraufhin zeigen sie sich bitter enttäuscht, weil sie das Verfahren des Herrn als ungerecht empfinden. Sie sagen: ,Diese Letzten machten nur eine einzige Stunde, doch du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Glut ertragen mußten!' Der Herr antwortet drauf, dramaturgisch wieder sehr ge13

G. EßELING, Der Theologe und sein Amt in der Kirche, ZThK 66, 1969, 250.

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schickt, einem von ihnen: ,Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht an! Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen! Nimm das Deine und geh'!' Doch bei diesen ernsten Worten bleibt es nicht. Der Herr erklärt sich noch, obwohl er das nicht nötig hätte: ,Aber ich habe den Willen, ebensoviel zu geben wie dir. Habe ich nicht das Recht, mit meinem Besitz zu machen, was ich will?' Mit diesen Worten ist die Klage endgültig abgetan. Jeder Richter müßte sich auf die Seite des Herrn stellen ... Doch der Herr spricht noch ein Wort: ,Oder ist dein Blick böse, weil ich gütig bin?'"14 Soweit die Paraphrase von Fuchs. Worauf will die Parabel hinaus? Um diese Frage zu beantworten, wird man sich nicht an Mt 20,16 orientieren dürfen. Denn die Aussage dieses Verses akzentuiert einen Einzelzug der Erzählung, der lediglich szenisch motiviert ist und darum nicht sachlich betrachtet werden darf: „Die Auszahlung an die zuletzt Angestellten muß in Gegenwart derer stattfinden, die zuerst angestellt wurden und den ganzen Tag gearbeitet haben, damit die Ganztagsarbeiter sehen können, wieviel den zuletzt Gekommenen ausgezahlt wird. Dies ist nötig, um die Unzufriedenheit der zuerst Angestellten zu erregen und dadurch den dramatischen Konflikt zwischen den unzufriedenen Arbeitern und dem Besitzer zu schüren."15 Bei Mt 20,16 (vgl. 19,30) handelt es sich offensichtlich um eine redaktionelle Notiz, die zwar für die Erhebung der evangelistischen Interpretation der Überlieferung von Belang ist, für die Auslegung der ursprünglichen Aussagetendenz der Parabel indessen keine Relevanz besitzt. Weiterführend scheint hingegen eine Untersuchung der Frage, wer eigentlich als Hauptfigur der Erzählung zu betrachten ist. Stellt man in Rechnung, daß alle drei Teile des Textes16 durch die Initiative des Hausherrn bestimmt sind, ist naheliegend, die Parabel als „die Geschichte des Besitzers" zu charakterisieren.17 Dieses Urteil vermag sich insonderheit darauf zu stützen, daß der Weinbergbesitzer das letzte Wort behält. Der Parabelschluß mit der Selbstrechtfertigung des Hausherrn (v. 13-15) trägt ohne Zweifel alles Gewicht (vgl. das Stilgesetz vom ,Achtergewicht'). Demgegenüber gilt jedoch zu bedenken, daß die Erzählung nicht durch die souveräne Aktion des Besitzers, sondern vielmehr durch das wechselvolle Geschick der Ganztagsarbeiter in Spannung gehalten wird. Sie sind die Adressaten der Apologie von v. 13-15. Ihnen wird „eine Erkenntnisszene eingeräumt, und ihr wechselhaftes Schicksal gibt 14

Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, in: GA II, 220f. 15 D. O. VIA, aaO., 141. 16 I. Einstellung der Arbeiter (v. 1-7); II. Abrechnung und Beschwerde der Ganztagsarbeiter (v. 8-12); III. Erklärung des Weinbergbesitzers (v. 13-15). 17 D. O. VIA, aaO., 141.

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dem Gleichnis seine formale Gestalt"18. Somit gibt sich die Parabel ebensosehr als „die Geschichte der murrenden Ganztagsarbeiter" zu verstehen19. Primär beansprucht das Geschick der Aufbegehrenden (und nicht etwa das der Beschenkten) die Aufmerksamkeit des Hörers der Parabel. In der Absicht, den Aussagewillen der Parabel zu ermitteln, folgen wir zunächst der Erklärung von v. 13-15. Sachlich gesehen, erweisen sich die w . 13.14a, 14b. 15a und 15b als zusammengehörig. Es lassen sich somit drei Argumentationsschritte unterscheiden. Um den Vorwurf der Ungerechtigkeit abzuwehren, verweist der Besitzer einerseits auf die von den Protestanten' selbst getroffene20 Vereinbarung (v. 13.14a), andererseits auf die eigene Verfügungsgewalt über sein Vermögen (v. 14b. 15a). Beide Argumente haben die Funktion, das Verhalten des Hausherrn davor zu schützen, „als Willkür mißdeutet zu werden"21. V. 15b markiert schließlich ausdrücklich das Phänomen der Güte als die zwischen den Gesprächspartnern strittige Sache. Fragwürdig erscheint die Formulierung des ersten Teils der Aussage von v. 15b. In der Regel übersetzt man folgendermaßen: ,Oder ist dein Auge [bist du] neidisch, [weil ich gütig bin]?' Diese Wiedergabe des Textes ist problematisch. Sie wirkt nicht nur sprachwidrig, sondern impliziert auch eine die Gesamtinterpretation der Parabel verhängnisvoll beeinflussende Sachentscheidung. Denn nun gilt der Neid als das den Protest auslösende Motiv. Dies zeigt sich beispielhaft an Herbert Brauns Paraphrase des Textes: „Wie kannst Du, sagt der Hausherr, mir dreinreden? Das was ich hier gebe, ist es das Deine oder ist es das Meine? Es ist das Meine, damit kann ich machenf,] was ich will. Was aus Dir redet, ist ja gar nicht das Pathos, die Leidenschaft für Gerechtigkeit; was aus Dir redet, ist ja der Neid. Es ist jene Einstellung, die schon das Judentum immer wieder als häßlich und schlecht angeprangert hat. ,Der Neid bringt den Menschen aus der Welt', kann ein alter Rabbinenspruch sagen."22 Allein, pointiert man den Neid als das den Einspruch der Murrenden motivierende Moment, trivialisiert man den Aussagewillen der Parabel. Die Erzählung redet dann prinzipiell einer Moral des Altruismus das Wort, die meist zu spät kommt und die man z.B. im Rheinischen mit der Formel zu parodieren pflegt: ,Man muß auch jönne könne (gönnen können).' Der Ge18

AaO., 142. Ebd. 20 Vgl. A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu, II, Darmstadt 1963 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1910), 464: „Es war feiner, hier den Tagelöhner als Hauptperson bei dem Vertrag zu behandeln ... ". 21 E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 31964, 90. 22 Die Parabel vom gleichen Lohn für alle, in: Der Humanismus und die Auslegung klassischer Texte (Sonderheft der Reihe: Probleme der humanistischen Bildung), Frankfurt a. M. / Berlin / Bonn 1965, 8. 19

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samtduktus der w . 13-15 läßt eine derartige Interpretation nicht zu. Nicht der Neid, sondern das jeder anderen Überlegung trotzende Insistieren auf der Leistungsideologie wird gebrandmarkt. Angriffspunkt der Vorhaltungen des Besitzers ist nicht ein schnöder Egoismus, wie er alltäglich begegnet, sondern das Beharren auf dem Prinzip der Entsprechung von Leistung und Lohn. Zu Recht bemerkt Dan Otto Via zur Sache: „Der in der Erkenntnisszene (20,12) zum Ausdruck kommende Fehler der murrenden Arbeiter ist ernsthafter als etwa Neid, der anderen erwiesene Güte nicht ertragen kann. Wenn es sich um Neid handelt, dann ist er nur symptomatisch für ihr Gefühl der Bedrohung ihres tief verwurzelten Existenzverständnisses. Die Tatsache, daß sie auf der Anwendung des Lohnsystems bestehen - der Lohn sollte dem Verdienst exakt entsprechen - , zeigt, daß sie sich selbst fur fähig halten, ihre Position in der Welt zu behaupten, und Anspruch auf Lohn haben. Wenn jedoch jemand belohnt wird, nicht auf der Basis seines eigenen Verdienstes, sondern aufgrund der Großzügigkeit eines anderen, dann gibt es ein unberechenbares Element in den menschlichen Beziehungen, und die Meinung, man könne seine eigene Sicherheit bewerkstelligen, wird ernsthaft herausgefordert."23 Diese Provokation läßt sich auch sprachlich zum Ausdruck bringen, wenn man v. 15b paraphrasiert: ,Oder nimmst du daran Anstoß, daß ich gütig bin?' Was tragen diese Überlegungen fur das in Frage stehende Verhältnis von , Sprache und Wirklichkeit' aus? Nun, der als Parabel erzählte Vorgang hat Anhalt an der Wirklichkeit, gleichwohl folgt er ihr nicht. In der realen Welt - der feudalen, der bürgerlichen und auch der sozialistischen - achtet man darauf, daß der Lohn in Relation steht zur verrichteten Arbeit: gleiche Arbeit - gleicher Lohn, doppelte Arbeit - doppelter Lohn. Im Gleichnis entlohnt aber einer nach Regeln, welche die Dimension unserer alltäglichen Wirklichkeit durchkreuzen. Darum der Protest im Namen der Ordnung. Die Murrenden bestehen auf strenger Gerechtigkeit - doch eben nicht bloß aus Neid, sondern weil das Verhalten des Herrn ihr eigenes Selbstverständnis, ihre auf Selbstsicherung und Selbstverwirklichung bedachte Existenzeinstellung in Frage stellt und ihre am Leistungssystem orientierten Maßstäbe zu zerbrechen droht. „Weil sie den wahren Charakter des Unberechenbaren nicht erkennen und auf strenger Gerechtigkeit bestehen, wo in Wahrheit Güte zu finden ist, werden sie am Ende der Quelle der Güte entfremdet."24 Sie hätten einsehen sollen, daß sich der Hausherr nicht nur ihnen gegenüber als gerecht, sondern darüber hinaus auch den anderen gegenüber als gütig erwies. So verfremdet das gesprochene Wort der Parabel die alltägliche 23

D . O . VIA, aaO., 143f.

24

AaO., 144 (vgl. 144ff).

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Wirklichkeit, indem es die Güte als Daseinsmöglichkeit zur Sprache bringt - als eine Daseinsmöglichkeit, die dem Leben des einzelnen immer schon eingestiftet ist. Es kritisiert unser Bemühen, durch Leistung „eigene Sicherheit zu bewerkstelligen"25, und will uns dazu bewegen, die Möglichkeit der Güte als die befreiende Vorgabe unseres Lebens wahrzunehmen. Denn im Unterschied zu den Adressaten der Rede des Besitzers, denen das Ereignis der Güte als Krisis widerfahrt (vgl. den negativ als .Entlassung' zu interpretierenden Imperativ v. 14a26), ist die Situation der Parabelhörer offen. Indem die Erzählung das tragische Geschick der Empörten vor Augen fuhrt, die sich selbst vom Geschehen der Güte ausschließen, wirbt sie gerade um das Einverständnis der Hörer und mutet ihnen den Glauben an die Güte als die entscheidende Macht des Lebens zu. Entschränkt man die Parabel auf diese Weise von ihrem Bezug auf das Milieu der Arbeit, das in Mt 20,1-15 lediglich als Darstellungsmittel fungiert, verbieten sich allerdings einseitige und oft allzu kurzschlüssige Applikationen des Textes auf moderne gesellschaftliche Verhältnisse. Sachgemäßer und auch in didaktischer Hinsicht ergiebiger dürfte es sein, die Parabel auf einen Zusammenhang zu beziehen, der anthropologische Relevanz besitzt und die Frage nach dem , Wofür' des Lebens artikuliert. Als eine derartige Sachparallele könnte nach meinem Dafürhalten z.B. L.N. Tolstois Erzählung ,Der Tod des Iwan Iljitsch' gelten. Iljitsch erfahrt als Sterbender die Nichtigkeit dessen, „wofür er gelebt hatte"27. Karrierestreben, Anpassungsfähigkeit, Selbstbehauptung - all dies erweist sich ihm ebenso als unwahr wie der Versuch, die Zukunft in eigene Regie zu nehmen und Sicherheit durch Leistung zu bewerkstelligen (D.O. Via). Gerade darum erscheint ihm sein Leben als verwirkt, weil er sich vorwerfen muß, die eigentlichen Lebensmöglichkeiten nicht wahrgenommen, „alles verdorben zu haben, was [ihm] gegeben wurde"28. Was ihn den Tod bestehen läßt, ist die späte Erfahrung der Güte, die ihm an der Treue des Hausknechtes Gerassim begegnet und durch die er schließlich sein Verhältnis zum Sohn, ja auch zur Frau bestimmen läßt. In überraschender Analogie zur Parabel Mt 20,1-15 kennzeichnet Tolstois Erzählung die Güte als die wahre Lebensmöglichkeit, die sich gerade darin als mächtig erweist, daß sie zum Sterbenkönnen verhilft.

25 26 27 28

AaO., 145. Vgl. aaO., 144f. L.N. TOLSTOI, Der Tod des Iwan Iljitsch (Insel-Bücherei Nr. 52), 70. AaO., 69.

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IV. Zusammenfassung Ich breche hier ab und fasse rückblickend einige Gesichtspunkte zusammen, die zeigen, worauf meine Überlegungen abzielten. Als kritische Wissenschaft verhilft die Theologie zum rechten Umgang mit dem Neuen Testament. Sie macht einerseits deutlich, daß die Texte heute erst dann zu reden beginnen, wenn sie mit Hilfe historisch-kritischer Analyse einer naiven Betrachtung entzogen werden. Andererseits lehrt sie zu begreifen, daß die eigentliche Verstehensschwierigkeit nicht durch den Zeitenabstand von annähernd zweitausend Jahren bedingt ist, sondern auf unserer Hemmung beruht, uns selbst durch das in den Texten Gesagte in Frage stellen zu lassen29. Theologie als auslegendes Verstehen übernimmt somit in doppelter Weise die Funktion einer Ideologiekritik. Sie erweist einerseits das überlieferte kirchliche Schriftverständnis als dogmatisch bestimmt und zerbricht jedes selbstsichere Schon-Bescheidwissen. Zum anderen macht sie jene Einstellung fragwürdig, welche die Texte in der historischen Distanz beläßt und den sich in ihnen bekundenden Anruf zur Selbstkritik überhört. Sie genügt ihrer Aufgabe also nur dann, wenn sie zu zeigen vermag, daß im Neuen Testament ein Wort zu Gehör kommt, das auf Glauben wartet. Der Text ist erst dann ausgelegt, wenn er in der alltäglichen Wirklichkeit als Anrede begegnet. Dies besagt freilich nicht, daß die Theologie selbst zur Verkündigung werden müßte. Sie hat selbst nicht die Funktion, Glauben zu wecken, und konkurriert darum keineswegs mit der Predigt. Aber ihre Aufgabe ist zu zeigen, inwiefern sich „aus dem Text die Nötigung zur Predigt ergibt", wie Emst Fuchs einprägsam formuliert30. Denselben Sachverhalt hat Fuchs im Auge, wenn er an anderer Stelle bemerkt: „Der Maßstab unsrer Auslegung ist die Verkündigung. Der Text ist ausgelegt, wenn Gott verkündigt wird! Also, versuchen wir nur, uns selbst durch den Text anreden zu lassen und mit ihm dorthin zu gehen, wo er uns haben will. Dies aber war das alltägliche Leben. Im Zusammenspiel des Textes mit dem alltäglichen Leben erfahren wir die Wahrheit des Neuen Testaments. Und das Merkwürdige ist dies, daß dieses Buch um so heller glänzt, je schwerer das alltägliche Leben geworden ist."31

29

Vgl. E. FUCHS, Programm der Entmythologisierung, 18f. In: GA II, 226 (dort hervorgehoben). 31 Das Neue Testament und das hermeneutische Problem, in: Glaube und Erfahrung (GA III), Tübingen 1965,169f. 30

Sprache und Wirklichkeit

V. Konsequenzen für die Religionspädagogik Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen für die spezielle Problematik der Religionspädagogik? Ich muß mich auf Andeutungen beschränken und erörtere nur drei Gesichtspunkte, die mit dem Gesagten unmittelbar zusammenhängen. 1. Die Alternative: entweder textbezogener oder wirklichkeitsbezogener Unterricht - ist von vornherein falsch Eingesetzt. Wer meint, einem am Auslegungsgeschehen orientierten Religionsunterricht darum den Abschied geben zu müssen, weil dieser die Probleme gegenwärtiger Wirklichkeit ausklammere, verkennt, daß sich auslegendes Verstehen eo ipso im Zusammenspiel von Text und Situation vollzieht. So bemerkt Gerhard Ebeling: „Die Theologie ist nur dann bei ihrer Sache, wenn die Sorgfalt im Studium ihrer maßgebenden Texte der Sorge für die eigene Zeit entspricht und zugute kommt und wenn die Hingabe an die eigene Zeit die Hingabe an den Texten notwendig macht."32 Dieser grundlegenden Einsicht entspricht die Religionspädagogik auf ihre Weise, wenn sie dem Unterricht die Aufgabe zuweist, durch „Auslegung heutiger Wirklichkeit im Lichte christlicher Überlieferung und durch ... Auslegung christlicher Überlieferung im Kontext heutiger Wirklichkeit dem Schüler Einsichten zu vermitteln, die ihm dazu verhelfen, allmählich ein eigenes Welt- und Selbstverständnis zu gewinnen ,.."33. Diese Definition besagt, daß der textbezogene Religionsunterricht jeweils sachlich motiviert und an der „Lebenswirklichkeit des Schülers" orientiert sein muß. Sie besagt zugleich, daß er - wie Karl Ernst Nipkow fordert - „eine sanktionsfreie, nur von der Anziehungs- und Überzeugungskraft der Sache selbst abhängige Form des Lernens"34 darstellt. 2. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Gesichtspunkt zu bedenken. Heinz Grosch hat kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß „der auf Auslegung der Tradition hin orientierte Religionsunterricht - sei es, daß er sie befrage, sei es, daß er sich von ihr befragen lasse - immer in der Spannung [bleibt] zwischen seiner schulischen Begründung... und seiner spezifischen Inhaltlichkeit - ob man diese nun konfessionell oder (neuerdings mit Otto) bikonfessionell versteht"35. Man kann diese Spannung nun nicht dadurch beseitigen, daß man auf das Konzept der Evangelischen Unterweisung zurückweicht und den Unterricht selbst als Verkündigung praktiziert. Denn 32

ZThK 66,1969,250. K. WEGENAST, Gehört der Religionsunterricht in die öffentliche Schule?, in: W.G. ESSER (Hg.), Zum Religionsunterricht morgen, Bd. I, München / Wuppertal 1970, 205 (dort hervorgehoben). 34 Curriculumforschung und Religionsunterricht, ebd., 268. 35 Die Rede von der Religion und der Unterricht, EvTh 30,1970,616f. 33

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damit wäre die Möglichkeit verlegt, die Notwendigkeit des Religionsunterrichts von den Interessen und der Aufgabenstellung der Schule her zu begründen. Man entgeht der Spannung aber auch nicht dadurch, daß man sich die Thematik des Faches einseitig von den Anforderungen heutiger Wirklichkeit vorgeben läßt und die Emanzipation vom Zwang der Tradition als das eigentliche Unterrichtsziel markiert. Denn damit würde in Wahrheit einer geschichtslosen Einstellung zur Wirklichkeit Vorschub geleistet und das beabsichtigte Ziel gerade verfehlt, von der Bevormundung durch Tradition zu befreien. Gibt es andere Wege, dieser Spannung zu begegnen? Oder ist etwa zu fragen, ob sie überhaupt als Dilemma erscheinen muß, das zu überwinden ist? Haben alle religionspädagogischen Versuche vielleicht bei der Einsicht in die Notwendigkeit dieser Spannung einzusetzen? 3. Abschließend noch eine Notiz zur Curriculum-Forschung. Es liegt mir fern, deren Relevanz für die Religionspädagogik zu bestreiten. Im Blick auf den Religionsunterricht dürften Lehrplanrevisionen ebenso notwendig sein wie die Einfuhrung des Verfahrens der sogenannten ,Operationalisierung' - eines Verfahrens, das präzise Lernzielangaben verlangt und zur Überprüfung des Lernerfolges nötigt. Unabdingbar ist auch die Orientierung an der künftigen Lebenssituation der Schüler - ein fur die sich empirisch begründende Didaktik maßgebender Gesichtspunkt. Bedenken sind aus theologischer und religionspädagogischer Sicht indessen dagegen zu erheben, daß die künftige Situation des Schülers allein unter dem Gesichtspunkt der Lebensbewältigung und Selbstverwirklichung in Betracht gezogen wird. Ausschlaggebend für den didaktischen Ansatz scheint ausschließlich die Frage nach der Befähigung zu sachgerechtem Handeln. Die neutestamentlichen Texte sind dann nur insofern von Belang, als sie einen Beitrag zur Lösung der ethischen Problematik menschlichen Miteinanders zu leisten vermögen. Was im Neuen Testament zur Sprache kommt, wird von vornherein am Maßstab einer Anthropologie gemessen, welche den Menschen als ,ein handelndes Wesen' definiert36. Man beruft sich heute vor allem auf Jürgen Habermas, nach dessen Ansicht „hermeneutische Forschung" einzig dem „praktischen Erkenntnisinteresse" dient, Möglichkeiten „handlungsorientierender Verständigung" zu erschließen. Im Aufsatz ,Erkenntnis und Interesse' heißt es: „Sinnverstehen richtet sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses."37 Allein, kann sich die Didaktik des Religionsunterrichts unkritisch an einem Modell orientieren, das alles auf 36

So z.B. A. GEHLEN, Ein Bild vom Menschen, in: DERS., Anthropologische Forschung (rde 136), Reinbek bei Hamburg 1961,49. 37 In: DERS., Technik und Wissenschaft als .Ideologie' (es 287), Frankfurt a. M. 31969, 158.

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die Autonomie und Selbstbestimmung des Handelnden abstellt? Kann sie unbesehen ein Modell übernehmen, das jene Situationen ausklammert, in welchen der Mensch einerseits als im Handeln Begrenzter, als ohnmächtig Leidender und unwiderruflich Ausgesetzter oder andererseits als Empfangender, Hörender, Gerufener erscheint? Ist es unzeitgemäß, an den Protest zu erinnern, den Klaus Schaller vor zehn Jahren im Namen eines dialogischen Bildungsverständnisses gegen die humanistische Pädagogik geltend machte? „Bildung ereignet sich erst dann, wenn nicht mehr Selbstgewinn die Absicht ist, sondern wenn das selbstvergessene Bei-der-Sache-sein unstet die Reflexivität durchbricht. Jeder Lehrer ist diesem Ereignis schon im Unterricht begegnet. Nun ist die Sache, das Andere, nicht mehr .Eigentum' des Selbst. Es setzt sich nicht mehr mit ihr als seinem Eigenen auseinander, um es sich ,anzueignen'. Die Sache ist vielmehr das ganz Andere. Die Sache hat sich aus den Maßen, auf die das Subjekt sie als Objekt festgelegt hatte, beireit. Ihr Sinn ist nun nicht mehr in der Selbstverwirklichung des Subjekts beschlossen, sondern ihr Sein ist ihr Sinn. Die Sache nimmt nun selbst auf das Sein hin den Menschen in Anspruch. In selbstvergessener Sachlichkeit macht sich der Mensch auf, in hingebender Entsprechung das Sein in Sache und Mitmensch ... zu wahren."38

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Die Krise der humanistischen Pädagogik und der kirchliche Unterricht. Eine pädagogische Skizze, Heidelberg 1961,71.

DIE SPRACHKRAFT DER ANALOGIE Zur These vom ,argumentativen Charakter' der Gleichnisse Jesu*

Zu jenen Thesen der neutestamentlichen Wissenschaft, die sich durch ein außergewöhnliches Beharrungsvermögen auszeichnen, gehört die Behauptung, Jesu Gleichnissen komme ein ,argumentativer Charakter' zu. Bereits von Adolf Jülicher propagiert, erfreut sich diese These bis heute breiter Zustimmung1. Ja sie gilt als so selbstverständlich und zwingend, daß sie in der Regel kommentarlos als gültig rezipiert wird. Je weniger man sich aber über die Herkunft, das exegetische Recht und die sachlichen Implikationen der genannten These Rechenschaft ablegt, desto mehr nimmt diese den Charakter einer nichtssagenden Floskel an. Sie erweist sich als abgeschliffene exegetische Redensart, die in Wahrheit mehr verschleiert als erhellt. Die folgenden Erwägungen stellen die gängige Formel vom ,argumentativen Charakter' der Gleichnisse Jesu in Frage. Sie suchen zu klären, inwiefern sich die These an den Texten selbst bewahrheiten läßt und ob sie der Sprachkraft analogischer Rede tatsächlich gerecht wird. Dabei ist zunächst zu erheben, wo die Formel forschungsgeschichtlich zu lokalisieren ist und wie sie in der exegetischen Tradition wirksam wurde. Zum anderen gilt die Erörterung der Frage, welche hermeneutischen Prämissen der These selbst vorausliegen. Der Aufsatz gliedert sich entsprechend dem genannten Arbeitsvorhaben in vier Teile. Er wendet sich I. dem formgeschichtlichen Ansatz Rudolf Bultmanns zu, sucht II. die sachlichen Implikationen der These im Werk Adolf Jülichers aufzuspüren, thematisiert III. die daraus resultierenden her* Vortrag, gehalten am 18.01.1973 in Marburg auf Einladung des Fachbereichs Ev. Theologie der Philipps-Universität sowie am 04.06.1973 in Bochum auf Einladung der Abteilung für Ev. Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. 1 Vgl. A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu, I, Darmstadt 1963 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1910), 90ff.96ff.98ff; ferner u.a. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 8 1970, 194f.197f.207f.214; C. H. DODD, The Parables of the Kingdom, London 3 1936, 22ff; A. T. CADOUX, The Parables of Jesus, London 1930, 45ff.56ff. 118.127.139f. 197; J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 8 1970, 17f.34ff; E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 5 1969,25.30f.35f; I. BALDERMANN, Biblische Didaktik, Hamburg 3 1966, 128Í.130; R. DITHMAR, Die Fabel (UTB 73), Paderborn 1971, 142.173f.

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meneutischen Aporien und mündet schließlich IV. aus in Erwägungen zur Sprachkraft der Analogie.

I. Der formgeschichtliche Ansatz (R. Bultmann) Wie bereits angedeutet, läßt sich die Behauptung, Jesu Gleichnissen eigne ein ,argumentativer Charakter', bis auf Jülicher zurückverfolgen2. Doch gilt heute nicht Jülicher, sondern eher R. Bultmann als der eigentliche Kronzeuge für die genannte These. Dieser Sachverhalt überrascht nicht, gelangt Bultmann doch in seiner formgeschichtlichen Analyse des synoptischen Gleichnisstoffes zu der lapidaren Feststellung: „Ein Urteil überhaupt wird natürlich durch alle Gleichnisse herausgefordert, und der argumentative Charakter kommt in der Form ... oft zum Ausdruck."3 Dieser dem Interesse Jülichers entsprechende Satz hat die Gleichnisforschung in der Folgezeit nachhaltig beeinflußt4. Er will allerdings - und dies wurde in der späteren Debatte weitgehend außer acht gelassen - als das Resultat einer Reihe differenzierter Einzelbeobachtungen gewürdigt sein. Auf sie haben wir uns zu beziehen, wenn der These Bultmanns Recht widerfahren soll. Wie der systematische Teil des Gleichniskapitels in Bultmanns b e schichte der synoptischen Tradition' zeigt, erschließt sich der .argumentative Charakter' der Gleichnisse für Bultmann aus der Beobachtung prägnanter Formelemente, die eine Reihe von Texten auszeichnet. So beruft er sich speziell auf die Form der Frage, die gelegentlich Eingang und Schluß, in einigen Fällen sogar die Makrostruktur der Gleichnisse bestimmt5. Dieser Sachverhalt scheint in der Tat als Indiz für eine gewisse argumentative Tendenz gelten zu können. Denn wo derartige Fragen in die Gleichnisse eingehen, ist offenbar die Absicht leitend, den Adressaten in das Erzählte einzubeziehen, ihm eine Stellungnahme abzugewinnen. Die ,Antwort des

2 Aufschlußreich ist, daß JÜLICHER das argumentative Moment der Gleichnisse Jesu gem an einem Text demonstriert, der sich weder der Gattung der Gleichnisse zuordnen läßt noch eine formgeschichtlich als primär erwiesene Traditionsschicht repräsentiert. Als „der beste Beleg dafür, daß Jesu die Gleichnisse als Beweismittel dienen", gilt nach seinem Urteil Mt 7 , 9 - 1 1 (aaO., II, 36; vgl. I, 9 0 ) - ein Aussagezusammenhang, der kein Gleichnis, sondern eine Folge von Bildworten (v. 9F) enthält, die in einen Schluß a minore ad maius (v. 11) mündet. Zur Analyse des Stückes vgl. R. BULTMANN, aaO., 90. 3 AaO., 208. 4 Vgl. nur R. W. FUNK, Language, Hermeneutic, and Word of God, New York / Evanston / London 1966, S. 143f; U. SCHOENBORN, Jesu sakramentale Verkündigung, Diss, theol. Marburg 1972 (Typoskript), 215. 5 AaO., 194.195f.197f; s. auch Ν. A. DAHL, RGG 3 II, 1618.

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Hörers wird herausgefordert", bemerkt Bultmann6, und diese Feststellung scheint prinzipiell zwingend. Allein, überprüft man die Einzelbelege, ist man genötigt, Bultmanns Urteil erheblich einzuschränken. 1. Es mag dahingestellt bleiben, ob Bultmann sich zu Recht auf Stellen wie Mk 4,30 par. Lk 13,18 und Lk 13,20 beziehen kann. Denn bei der Frage, die dort variiert wird (.Womit soll ich die βασιλεία τού Φεού vergleichen?' o. ä.), handelt es sich offenbar um eine traditionelle, bereits zur Formel erstarrte Wendung wohl semitischer Art7. Sie hat lediglich Expositionscharakter, ist daher kaum argumentativ gemeint (ähnlich dürfte Lk 7,31 par. Mt 11,16 zu beurteilen sein). Von Belang scheint dagegen die Einleitungsfrage τί ύμϊν δοκεί; (Mt 18,12; 21,28; vgl. 17,25). Diese Frage zielt zweifellos auf eine Beteiligung der Adressaten ab, übernimmt also argumentative Funktion. Indessen gilt zu beachten, daß die Wendung ausschließlich bei Matthäus begegnet. Wie bereits Jülicher erkannte8, entspricht sie dem Stil des Evangelisten und erweist sich durchweg als redaktionell geprägt (vgl. die genannten Stellen mit Mt 22,17.42; 26,66)9. Das in der Frage implizierte argumentative Moment ist dem Aussagezusammenhang der Gleichnisse vom ,Verlorenen Schaf (Mt 18,12fí) und den ,Ungleichen Söhnen' (Mt 21,28ff) sowie dem Bildwort Mt 17,25 also jeweils erst sekundär, und zwar auf literarischer Ebene, zugewachsen. Stellt man diesen Sachverhalt in Rechnung, ist Bultmanns These zu modifizieren. Sie gilt nicht prinzipiell, sondern zunächst nur in literarischer Hinsicht. Denn bei dem τί ύμϊν δοκεί.; handelt es sich um eine Frage, die jedenfalls in den zur Debatte stehenden Texten als schriftstellerisches Stilmittel eingesetzt ist. Ein ähnliches Urteil scheint im Blick auf den in Frageform gefaßten Gleichnisschluß naheliegend. Dieser kann so wenig wie die in Frageform gekleidete Gleichniseinfuhrung den Rang einer idealtypischen Stilfigur beanspruchen10. Denn die in Betracht kommenden Belege unterliegen ebenfalls dem Verdacht, redaktionell zu sein. Bultmann verweist auf Lk 7,41-43 (,Die beiden Schuldner'); Mt 21,28-31 (,Die ungleichen Söhne'); Mk 12,19 (,Die bösen Winzer') sowie Lk 10,29-37 (,Der barmherzige Samariter') und bemerkt: „Noch stärker als in der am Anfang mancher Gleichnisse sich 6

AaO., 195. Vgl. E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus (NTD 1), Göttingen 1971, 57. 8 Vgl. aaO., II, 382. 9 Vgl. auch G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit, Göttingen 2 1966, 200 und ebd. Anm. 4; H. GREEVEN, ,Wer unter euch...?', in: WuD 1952, 97 (zu Mt 18,12). 10 Vgl. BULTMANNS Urteil über die Einleitung der Erzählung vom ,verlorenen Schaf. Er gibt „Mt 18,12 den Vorzug vor Lk 15,4" (aaO., 194), erhebt also die in Frageform gekleidete Einführung in den Rang einer den Gleichnissen idealtypisch eignenden Stilform. 7

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findenden Frageform und in der einleitenden Frage τί ΰμιν δοκέϊ kommt hier der argumentative Charakter zum Ausdruck. Selbstverständlich ist vorausgesetzt, daß der Hörer die richtige Antwort geben muß, mag sie nun nur vorausgesetzt oder auch ausgesprochen sein."11 Allein, durchmustert man die Einzelbelege, so läßt sich in keinem Fall die Möglichkeit ausschließen, daß sich die argumentativ gemeinten Schlußfragen evangelistischer Redaktion verdanken. So gehört die Frage am Schluß der Erzählung Lk 10,29-37 dem wohl redaktionell beigefugten Rahmen an, wie Bultmann selbst konzediert (vgl. v. 29 und v. 36f)12. An dieser Stelle entspricht das mit der Frage gegebene argumentative Moment also einem literarischen Interesse. Dasselbe könnte indessen auch für die übrigen Belege gelten. So hat man nicht nur für Mk 12,1 Of (das LXX-Zitat aus Ps 118,22f), sondern auch für Mk 12,9b (Antwort auf die Schlußfrage) die Möglichkeit markinischer Redaktion erwogen13. Ob das Gleichnis ursprünglich mit einer Frage Schloß, ist umstritten14. Als eindeutig redaktionell dürfte die Frage Mt 21,31a (vgl. 21,28a) zu beurteilen sein. Schon Jülicher machte geltend, daß die Formulierung von v. 31a „für die Entscheidung, welcher von den beiden Söhnen in der Geschichte unsre Sympathie verdient und der ordentlichere ist, zu feierlich klingt": Sie wird „von Mt herrühren, der nicht an jene beiden Kinder, sondern an Menschen in ihrem Verhalten Gott gegenüber dachte und wie 7,21 gedacht wissen wollte"15. Die kleine Parabel von den beiden Schuldnern schließlich ist Bestandteil des Streitgesprächs Lk 7,36-50, einer wohl sekundären literarischen Komposition des Evangelisten16. Auch an dieser Stelle gewinnt die Analogie erst dadurch argumentativen Charakter, 11

AaO., 197. Vgl. aaO., 197f, sowie ebd., 192 (dort äußert BULTMANN allerdings die Vermutung, „daß das Stück auch ursprünglich mit Frage und Antwort schloss wie Lk 7,41-43; Mt 21,28-31)". Zutreffend urteilt E. JÜNGEL, Paulus und Jesus, Tübingen 4 1972, 169f; vgl. bereits A. JÜLICHER, aaO., II, 596; - anders H . ZIMMERMANN, Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Lk 10,25-37, in: G. BORNKAMM und K . RAHNER, Die Zeit Jesu (FS H. Schlier), Freiburg / Basel / Wien 1970, 61 f. 13 Vgl. A. SUHL, Die Funktion der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Markusevangelium, Gütersloh 1965, 140ff; D.O. VIA, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München 1970, 130. 14 Im Gegensatz zu R. BULTMANN (vgl. aaO., 191) beurteilt J. JEREMIAS die Schlußfrage v. 9a (und damit auch die Antwort v. 9b) als sekundär. Sie gehört s. E. zur selben Traditionsschicht wie v. 1 (vgl. aaO., 72). D.O. VIA vermutet, „daß das Gleichnis ursprünglich einfach mit Jesu Frage endete, die die Vernichtung der Pächter einschloß" (aaO., 130). Im selben Zusammenhang äußert er jedoch die Ansicht, das Gleichnis verliere an ästhetischer „Autonomie und Distanz", sobald der Schluß „die Form einer Frage an die Zuhörer annimmt". 15 AaO., II, 382. 16 Zur Analyse des Stückes vgl. R . BULTMANN, aaO., 19f, sowie das Ergänzungsheft, 4 1971, 21. 12

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daß sie literarisch verarbeitet, nämlich dem vermutlich redaktionell komponierten Rahmen einer Debatte eingepaßt wurde. 2. Das zuletzt Gesagte gibt zu einer weiteren Überlegung Anlaß. Es hat nämlich den Anschein, als sei Bultmanns These vom argumentativen Charakter der Gleichnisse eben durch seine Analyse der synoptischen Streitgespräche beeinflußt. Daß Gleichnisse und Gleichnisfragmente, speziell aber als Frage formulierte Bildworte im Rahmen der Streitgespräche die Funktion eines Arguments übernehmen können, ist offenkundig17. Der Angriff auf Jesu Verhalten wird besonders gern mit Hilfe einer Gegenfrage abgewehrt, die nicht selten Bildwortcharakter besitzt, der Vorwurf der Dialogpartner durch einen parabolischen Spruch als unberechtigt erwiesen. Dieser Sachverhalt läßt sich nicht nur an Lk 7,4 lf demonstrieren, sondern auch durch Aussagen wie Mk 2,17 (Arzt und Kranke); 2,19a (Fasten an der Hochzeit); 3,23b-25 (entzweites Reich und Haus) und durch das Logion vom ,Zoll der Könige' Mt 17,25 belegen - Bildworte, die z.T. erst sekundär auf den jeweiligen szenischen Rahmen appliziert wurden. Überall ist das polemische Interesse leitend, den Kontrahenten durch die Eindeutigkeit der Analogie bloßzustellen, überall die von Bultmann herausgestellte Grundform des Streitgesprächs erkennbar, nämlich „Argumentation durch die den Gegner ad absurdum fuhrende Gegenfrage" bzw. Bildrede18. Eine ganz ähnliche Funktion übernehmen Gleichnisse und Bildworte in bestimmten literarischen Dokumenten der jüdischen Tradition, die eine theologische Kontroverse zum Austrag bringen, so z.B. in den dialogisch konzipierten Büchern des 4. Esra und der syr. Baruchapokalypse (vgl. 4. Esr 4,12-21.38-43; 5,43^9; 7,51f; 9,14-17; ferner den Katalog von Bildworten in Frageform sBar 22,2-8)19. Ein charakteristisches Beispiel: Esra zieht die Möglichkeit in Betracht, daß das eschatologische Heil aufgehalten werden könnte. Darauf wird ihm die Antwort zuteil: ,Geh hin und frage die Schwangere, ob, wenn sie ihre neun Monate vollendet hat, der Mutterschoß den Fötus noch in sich zurückhalten kann' (4. Esr 4,39f). Die Aussage soll den Visionär von der Unaufhaltsamkeit der eschatologischen Wende überzeugen20. Argumentative Funktion kommt den Gleichnissen schließlich auch in rabbinischer Tradition zu. So bemerkt F. Hauck zum Stichwort πα-

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V g l . R . BULTMANN, a a O . , 4 2 f .

AaO., 46. BULTMANN orientiert die Analyse der Streitgespräche ausdrücklich am Begriff des „Arguments" (vgl. ebd., 48f.51). 19 Zur Analyse der Stellen vgl. W. HARNISCH, Verhängnis und Verheißung der Geschichte (FRLANT 97), Göttingen 1969, 37f.288ff.293ff.230ff.233ff.310f. 20 Vgl. ebd., 290; zur Sache vgl. auch W. HARNISCH, Eschatologische Existenz (FRLANT 110), Göttingen 1973, 66f.69ff.

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ραβολή21: „Die rabb[inischen] Gleichnisse, zumeist innerhalb lehrhafter Ausführungen gegeben, wollen jeweils besonders] in der Auseinandersetzung eine Aussage erläutern oder beweisen. Gewöhnlich dienen sie, der Tätigkeit der Rabb[inen] entsprechend, der Auslegung des Gesetzes, oft einer einzelnen Bibelstelle". Sie gehören nach Hauck „zu den sicheren rhetorischen Mitteln der Rabb[inen]"22, werden also eindeutig in argumentativer Absicht eingesetzt. Orientiert man sich am Stellenwert der Analogie im Streitgespräch, scheint Bultmanns These in der Tat evident. Indessen gilt zu beachten, daß es sich bei den Streitgesprächen um literarische Kompositionen handelt. Sie wollen, wie Bultmann selbst hervorhebt, als literarische Größen gewürdigt sein23. Begegnet die Analogie im Streitgespräch, so beruht deren argumentative Wirkung auf der literarischen Funktion, die sie im Rahmen des gegebenen Aussagezusammenhangs übernimmt. Das argumentative Moment ist also wiederum literarisch bedingt. Von daher gesehen verbietet sich der Versuch, die spezifische Rolle der Analogie im Streitgespräch als Indiz für den prinzipiell argumentativen Charakter der Gleichnisrede Jesu ins Feld zu führen. Es erscheint überhaupt als zweifelhaft, ob tatsächlich der Streit als das ausgezeichnete Element der Gleichnissprache Jesu zu gelten vermag24. Sowenig es methodisch erlaubt ist, den Demonstrationscharakter der Gleichnisse ohne weiteres aus den Streitgesprächen abzuleiten, sowenig scheint es geraten, den dort vorausgesetzten Rahmen hermeneutisch absolut zu setzen. Die Entscheidung der Frage, ob für Jesu Gleichnisse die Situation des Streits konstitutiv ist, kann jedenfalls nicht dadurch präjudiziell werden,

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ThW V, 747. Ebd. 23 Vgl. aaO., 40f. 24 Daß Jesus „die meisten seiner Gleichnisse als Kampfrede gegen seine Gegner vorgetragen hat" (CHR. DIETZFELBINGER, Das Gleichnis von der erlassenen Schuld, EvTh 32, 1972, 438), gilt im Bereich der durch J. JEREMIAS bestimmten Gleichnisforschung fast als exegetische Binsenwahrheit (vgl. jetzt wieder H. ZIMMERMANN, aaO., 66f). Auch R. BULTMANN leistet dieser Konsequenz zumindest Vorschub, wenn er das argumentative Moment in seiner Analyse des Gleichnisstoffes derart akzentuiert, daß man unwillkürlich an die zuvor beschriebene Funktion der Analogie im Streitgespräch erinnert wird. Allerdings will beachtet sein, daß BULTMANN selbst eine Entscheidung der Frage, welchen Adressaten Jesu Gleichnisse ursprünglich galten, vermeidet (vgl. aaO., 216f)· Auf diesen Sachverhalt macht auch R.W. FUNK aufmerksam: „Bultmann nowhere limits the audience of the parable to critics but assumes that diverse segments of the public constituted Jesus' listeners" (aaO., 144). So läßt er z.B. unentschieden, ob die Gleichnisse vom Verlorenen „ursprünglich tröstend und einladend oder polemisch gemeint" waren (aaO., 216). Immerhin ist bezeichnend, daß er bei der Parabel Mt 20,Iff offenbar nur mit einer polemischen Aussagetendenz rechnet (vgl. ebd.). 22

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daß man sich den hermeneutischen Schlüssel der Interpretation von der literarischen Form des Streitgesprächs vorgeben läßt. 3. Unberücksichtigt blieben bisher jene Gleichnisse, die insgesamt Fragecharakter haben. Zu verweisen ist auf die Gleichnisse vom ,gebetenen Freund' (Lk ll,15fi), vom ,Turmbau und Kriegführen' (Lk 14,28ff) und vom ,Verlorenen' (Lk 15,4ff), die jeweils mit der Partikel τίς bzw. τις έξ ΰμών eingeleitet sind. Wie Wilhelm Ott zutreffend feststellt, bilden sie „keine eigene Gattung, sondern gehören mit den übrigen als (einfachere) Fragen formulierten Bildworten zusammen"25 (vgl. Mt 7,9f; ferner Mk 2,19a; 4,21; Lk 6,39 sowie aus jüdischer Tradition z.B. 6. Esr 2,6P6). Für die zur Debatte stehende These besitzt die genannte Textgruppe zweifellos die größte Beweiskraft - dies um so mehr, als die Eingangsfrage der betreffenden Gleichnisse keineswegs „in ... Erzählung übergeht", wie Bultmann voraussetzt27, sondern den Aussagezusammenhang insgesamt bestimmt. Nicht anders als beim Gleichnis vom ,Herrn und Sklaven' Lk 17,7-9 und den genannten Bildworten ist die Frageform ausnahmslos bis zum Schluß durchgehalten, wobei zu erwägen bleibt, ob man im Einzelfall mit Heinrich Greeven zwischen Expositions- und Schlußfrage unterscheiden soll28. Der argumentative Richtungssinn der Aussagen ist jedenfalls überall offensichtlich. Infolge der ausgeprägten Frageform zielt die Analogie „von vornherein und erklärtermaßen... auf das Urteil des Hörers"29. Freilich - und dies läßt sich ebensowenig verkennen - fixiert das in die Form der rhetorischen Frage gekleidete Gleichnis den Hörer auf ein ganz bestimmtes Urteil. Es läßt ihm keinerlei Spielraum. So ist z.B. „in der emphatischen Frage" Lk 11,5b—7 „die Antwort ,unausweichlich festgelegt'"; denn „es ist unvorstellbar, daß mein Freund, auch wenn ich um Mitternacht zu ihm käme, meine Bitte abweisen würde, nur weil ihm die Erfüllung vielleicht Umstände macht"30. Lk 11,8 desavouiert die suggestive Wirkung der Frage und ist mit W. Ott als „sekundäre, von [Lk] 18,5 beeinflußte Bil-

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Gebet und Heil (StANT 12), München 1965, 26 Anm. 20. ,Kann einer den hungrigen Löwen im Walde vertreiben oder das Feuer verlöschen, wenn Stroh angezündet worden ist? / Kann einer den Pfeil zurückschlagen, der von einem starken Schützen geschossen ist?' (Übersetzung nach H DUENSING, in: Hennecke3, II, 495). Die in die Form der Frage gefaßten Bildworte sollen nach dem literarischen Zusammenhang das Unwiderstehliche und Unabwendbare der eschatologischen Drangsal demonstrieren. Zur Interpretation des Textes vgl. W. HARNISCH, Eschatologische Existenz, 71 f. 27 AaO., 195. 28 Vgl. H. GREEVEN, aaO., 86ff; zur Diskussion der Frageform in den genannten Texten vgl. auch W. OTT, aaO., 26 und ebd. Anm. 21. 26

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H . GREEVEN, aaO., 92; vgl. J. JEREMIAS, a a O . , 102. W. OTT, aaO., 26.

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dung" zu beurteilen31. Wie im Gleichnis vom ,gebetenen Freund' hat der Adressat aber auch in den übrigen Fällen gar keine andere Wahl, als zuzustimmen. Das Gleichnis überfuhrt ihn dadurch, daß es ihm eine ganz bestimmte Stellungnahme abzwingt. Sollte dieser den Hörer von vornherein festlegende Redetypus tatsächlich das Modell abgeben, an dem die bezwingende Kraft der analogischen Sprache Jesu in paradigmatischer Weise erscheint? Muß man nicht mit Dan Otto Via fragen, warum die Formel τίς έξ ύμών „bei keinem der voll entwickelten erzählenden Gleichnisse Jesu" vorkommt32? Stellt man diesen Sachverhalt in Rechnung, läßt sich die These vom argumentativen Charakter der Gleichnisse Jesu kaum generell aufrechterhalten. Sie ignoriert nämlich jene Mittelbarkeit, die der analogischen Sprache Jesu sonst eigentümlich ist, und verkennt das Moment der Indirektheit, das insonderheit die Parabel Jesu auszeichnet33. Der Vorbehalt, den Via im Blick auf den Frageschluß gewisser Gleichnisse geltend macht, betrifft sachlich die Fragegleichnisse schlechthin. Wo immer das Gleichnis die Form einer Frage annimmt, eignet diesem „eine irgendwie geringere ästhetische Autonomie und Distanz, als es normalerweise bei Jesu erzählenden Gleichnissen der Fall ist"34. Diese Erwägungen zeigen, daß die formgeschichtliche Analyse der Texte Probleme grundsätzlicher Art aufwirft. Es gilt also, die Frage nach der hermeneutischen Dimension der These Bultmanns ausdrücklich zu thematisieren. Zu diesem Zweck orientieren wir uns am Entwurf Jülichers.

31

AaO., 2 7 ; gegen E. JÜNGEL, aaO., 156. AaO., 58. Wie VIA (im Anschluß an J. Jeremias) zu Recht feststellt, will die Formel ,Wer unter euch ...?' „durch ihre direkte Hinwendung zum Hörer diesen zwingen ..., eine letzte Position zu akzeptieren" (aaO., 57 [Hv. von mir]). Dieser Nötigungscharakter des rhetorischen τίς έξ ύμών wird verharmlost, wenn man unterstellt, die Frage wolle „den Hörer auf einen Weg locken, den er selbst nicht gehen will" (so D. LÜHRMANN, Liebet eure Feinde, ZThK 69, 1972,433). 33 Von daher gesehen, hält es schwer, das τίς έξ ύμών als Echtheitskriterium zu bewerten, wie dies bei H. GREEVEN, aaO., lOOf, und G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 1956, 63f, geschieht. Für Jesu Souveränität ist allem Anschein nach nicht kennzeichnend, daß er seine Adressaten zu einem „Selbsturteil zwingt" (H. GREEVEN, aaO., 100), sondern daß er ihnen die Wahl läßt, einen neu eröffneten Weg mitzugehen: „It is too little to call the parables as metaphors teaching devices; they are that, but much more. They are language events in which the hearer has to choose between worlds. If he elects the parabolic world, he is invited to dispose himself to concrete reality as it is ordered in the parable, and venture, without benefit of landmark but on the parable's authority, into 32

the future" (R.W. FUNK, aaO., 162). 34

AaO., 130.

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II. Die sachlichen Implikationen der These (A. Jülicher) Wie fast allgemein anerkannt, liegt Jülichers Pionierleistung darin, die allegorisierende Deutung der Gleichnisse Jesu als einen Irrweg der Forschung herausgestellt zu haben. Freilich ist dieser Neuansatz der Gleichnisinterpretation geistesgeschichtlich vorbereitet. Er wäre ohne entsprechende Vorentscheidungen im Bereich der Literaturwissenschaft kaum möglich gewesen. So hat es den Anschein, als sei Jülichers Werk ,Die Gleichnisreden Jesu' (I, 1888, 21899; II, 1899) insonderheit durch Lessings Fabeltheorie (1759) beeinflußt35. In der Tat sind Grundmomente der Fabeldefinition Lessings in Jülichers Abhandlung auf Schritt und Tritt wahrzunehmen. Gleichwohl wäre es verfehlt, die Wirkung Lessings auf Jülichers Konzeption zu überschätzen. Irreführend ist z.B. die Titelformulierung des Aufsatzes von Hans G. Klemm ,Die Gleichnisauslegung Ad. Jülichers im Bannkreis der Fabeltheorie Lessings'36. Wie Klemm selbst zu erkennen gibt37, ist nämlich in Jülichers Werk der Einfluß Lessings von demjenigen Herders überlagert38. Jülicher hatte ein durchaus kritisches Verhältnis zur Fabeltheorie Lessings, sosehr er ihr in wesentlichen Punkten verpflichtet blieb. Die Differenz bricht an folgender Streitfrage auf. In der Vorrede zu seiner Fabelsammlung begründet Lessing sein Faible für die Gattung der Fabel damit, daß sie sich an dem „gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral" befindet39. Für ihn zeichnet sich die Sprachform der Fabel also dadurch aus, daß sie einem philosophisch-ethischen und einem ästhetischen Interesse zu genügen vermag. Es ist diese Beurteilung der Fabeln als zugleich ästhetischer Objekte, die Jülichers Protest hervorruft: „Selbst einem LESSING gegenüber, den auch hier HERDER in Feinfuhligkeit übertraf, werden wir als Fundament den Satz festhalten, den der oberflächlichste 35

Vgl. Abhandlungen über die Fabel, dort bes. den Abschnitt ,Von dem Wesen der Fabel' (in: K . WÖLFEL [Hg.], Lessings Werke, Bd. II, Frankfurt a. M . 1967, 7ff). Daß JÜLICHERS Absage an die allegorische Auslegungsmethode auch exegetische Vorbilder besaß, zeigt ein Vergleich mit G.L. BAUERS Parabeltheorie (s. dazu O. MERK, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit, Marburg 1972, 147f; ferner JÜLICHERS eigene Stellungnahme aaO., I, 290). Doch wäre zu untersuchen, ob nicht bereits für G.L. Bauer der Einfluß Lessings von Bedeutung gewesen sein könnte. 36 ZNW 60,1969, 153ff. 37 Vgl. aaO., 164ff. 38 Vgl. A. JÜLICHER, aaO., 1,294f. Von Belang sind in diesem Zusammenhang folgende Abhandlungen J. G . HERDERS (zit. nach der Ausgabe von B. SUPHAN, Berlin 1877ff): Aesop und Lessing, in: Über die neuere Deutsche Litteratur / 2. Sammlung (Bd. 2, 188ff); Über Bild, Dichtung und Fabel, in: Bilder und Träume - Zerstreute Blätter / 3. Sammlung (Bd. 15, 523ff); Fabel, in: Adrastea / 2. Bd. (Bd. 23,252ff.259ñ). 39 Vorrede zu den Fabeln, in: H. KESTEN (Hg.), Lessing, Werke, Frankfurt a. M. / Wien / Zürich o. J., Bd. 1,107.

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Blick auf die Quellen bestätigt, daß die Fabel nicht dem Dichter ihren Ursprung verdankt, sondern dem Redner. Nicht gesungen oder geschrieben worden sind die ältesten Fabeln, sondern gesprochen, erfunden im Augenblick und fur den Augenblick und nicht um eine Weisheitsregel oder einen ethischen Lehrsatz anschaulich vorzutragen, sondern um eine schwierige Situation, in der sich der Redner befand, zu klären, um ihr die Auffassung und Beurteilung, die er wünschte, zu sichern"40. Jülicher geht somit darin über Lessing hinaus, daß er mit Berufung auf Herder ganz entschieden die ursprünglich rhetorische Eigenart analogischer Rede behauptet. Wie die Fabel, so ist s.E. auch Jesu Gleichnisrede im .Element' der Rhetorik beheimatet: „Die παραβολαί sind rhetorische, nicht poetische Formen."41 Jesus bediente sich einer Redeweise, die nicht ästhetisch, wohl aber didaktisch wirksam ist42. Gerade die Einzelexegese der synoptischen Gleichnisse vermag zu zeigen, daß diesen von Haus aus ein didaktischer, und das heißt: tief sittlicher, nicht jedoch ein bloß ästhetischer Wert zukommt43. Immer wieder begegnen derartige Antithesen, die das Moment der Rhetorik und Didaktik gegen das der Poesie und Ästhetik ausspielen. Diese hermeneutische Grundentscheidung hat weitreichende Konsequenzen fur Jülichers Gesamtentwurf. Denn nun gewinnt die Sprachform der Analogie zwangsläufig den Charakter eines Beweismittels, das der Redner in einer fur ihn prekären Lage als Verteidigungsinstrument einsetzt. Wie in der antiken Rhetorik44 rangieren Gleichnis und Parabel unter der Kategorie der beweiskräftigen Argumente, die sich der Redner im Parteienstreit zunutze macht. Nicht nur das Gleichnis im engeren Sinn, auch die Parabel gilt als jBeglaubigungsmittel': Sie „will bei dem Hörer etwas erreichen, was der

40

AaO., 1,98f. Vgl. aber G. E. L E S S I N G , in: K . W Ö L F E L (Hg.), aaO., Bd. II, 56. AaO., I, 117. An dieser Stelle ist freilich hervorzuheben, daß H E R D E R selbst die rhetorische Eigenart der Fabel keineswegs gegen das Moment der Poesie ausspielt. Sosehr er gegen Lessings Prinzip der Reduktion polemisiert (vgl. aaO., Bd. 15, 565) und auf die konkrete Redesituation als .Element' der Fabel abhebt (vgl. aaO., Bd. 2, 190; Bd. 15, 545.549.555.557; Bd. 23, 253f), sowenig läßt er einen Zweifel daran, daß die Fabel ein dichterisches Kunstwerk darstellt (vgl. aaO., Bd. 2, 197f; Bd. 23, 272). Wenn Aristoteles die Fabel innerhalb der Rhetorik behandelt (vgl. Ars rhetorica, II 20 [1393a 23-1394a 18), so folgt s.E. daraus keineswegs, daß dieser „sie eigentlich nicht für Poesie halte"; denn in „seiner Rhetorik konnte er sie nur als ein rhetorisches Werkzeug betrachten" (aaO., Bd. 15, 561f;vgl. ebd., 562f). 42 Vgl. aaO., I, 64. 43 Vgl.aaO., I, 111. 44 Vgl. H. L A U S B E R G , Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1 9 6 0 , § § 4 2 2 4 2 5 in Verbindung mit §§ 3 4 8 - 3 5 7 . 4 1 0 . 41

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Redende ohne diese Hülfe nicht erreichen zu können fürchtet"45. Um die Gegenseite zu überzeugen, fuhrt der Disputant einen „Beweis vom Zugestandenen auf das noch nicht zugestandene Ähnliche"46. Bevorzugter Adressat der Analogie ist für Jülicher somit der Zweifler. „Man berichtet einen einfachen Sachverhalt, der dem Anwesenden zu überraschend kommen möchte. Darum stellt man einen ähnlichen Fall daneben, wogegen kein Widerspruch zu erwarten ist - so merkt der Zweifler, daß, was ihm dort unerhört däuchte, ihm anderswo geläufig ist, und das Alltägliche hilft ihm das Ungewöhnliche erkennen und seinem Erkenntnisschatze zufügen."47 Zielt Jesu Gleichnisverkündigung aber darauf ab, der Skepsis zu wehren und die Opposition in Schranken zu halten, so eignet ihr wesentlich ein apologetisches Interesse. Diese Konsequenz ist im Ansatz Jülichers impliziert. Behauptet man nämlich die rhetorische Eigenart von Gleichnis und Parabel, so ist es naheliegend, beide Sprachformen auf die Sphäre der Auseinandersetzung zu beziehen und ihnen eine apologetische, auf Überwindung des Gegners bedachte Funktion zuzuschreiben. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Gesichtspunkt zu bedenken. Lessings Theorie unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Fabeln: Einfach ist die Fabel, wenn ich aus der erdichteten Begebenheit derselben bloß irgend eine allgemeine Wahrheit folgern lasse ... Zusammengesetzt hingegen ist die Fabel, wenn die Wahrheit, die sie uns anschauend zu erkennen gibt, auf einen wirklich geschehenen ... Fall weiter angewendet wird" 48 Jülicher hält diese Zweiteilung für verfehlt. Sein Rückgriff auf die Rhetorik als Ortsbestimmung analogischer Rede erlaubt eine derartige Differenzierung nicht. Die Fabel ist nach seinem Urteil vielmehr eo ipso auf einen bestimmten ,casus' hin entworfen und damit situationsgebunden. Auch in dieser Hinsicht orientiert sich Jülicher an Herder als der maßgebenden Autorität. Anerkennend hebt er hervor, daß Herder „die verderbli45 AaO., I, 96. Jülicher spielt ebd. auf Aristoteles, Ars rhetorica, II 20, an. Es hat den Anschein, als sei JUlichers Interesse an der aristotelischen Rhetorik insonderheit durch deren Diskussion bei Lessing und Herder vermittelt. Zum aristotelischen Ansatz der Gleichnisauslegung bei A. Jülicher vgl. E. JÜNGEL, aaO., 88ff. 46 AaO., I, 72. 47 AaO., I, 73. Auch ftlr HERDER gilt der Zweifler als bevorzugter Adressat der Analogie: „Erfanden Aesop und seine Brüder ihre Fabel für eine wirkliche Situation des Lebens, in welcher gehandelt werden mußte; so konnte die Fabel nicht anders als eine analoge Handlung schildern, die den Zweifelnden belehrte." (aaO., Bd. 15, 553f) - Wenn J. JEREMIAS wiederholt betont, Jesu Gleichnisrede sei auf die Abwehr der Skepsis bezogen (vgl. aaO., 34f.37.41.124f. 144f. 148.150.152), so hält er sich durchaus im Rahmen der durch Jülicher vorgezeichneten Auslegungsposition. Vgl. auch G. EICHHOLZ, Gleichnisse der Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1971, 38. 48 In: K.WÖLFEL (Hg.), aaO., Bd. II, 7f; vgl. ebd., 42.

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che Unterscheidung einfacher und zusammengesetzter Fabeln" ablehnte: „Die Fabel ist nicht in den müßigen Stunden eines Pädagogen entstanden, sondern im Leben, wenn es galt, über einen bestimmten gegenwärtigen Vorfall ein klares Urteil [zu] schaffen: so ist jede Fabel zusammengesetzt aus dem wirklichen Fall, auf den sie angewendet werden soll[,] und aus dem erdichteten, den der Fabulist eben zu jenem Zwecke ersann."49 Nicht anders verhält es sich mit Gleichnis und Parabel im Munde Jesu. Als Sprachformen der Rhetorik sind beide auf eine bestimmte Redesitutation fixiert. Sie spielen auf ein konkretes Ereignis, einen einmaligen Vorfall oder auf eine besondere, von Seiten der Erstadressaten bezogene Position an. Die Interpretation ist daher auf eine Rekonstruktion der Ursprungssituation analogischer Rede angewiesen. Sie setzt eine genaue Kenntnis der historischen Umstände voraus. Dazu gehört streng genommen selbst die Berücksichtigung der momentanen Gestimmtheit, in der sich Redner und Hörer befinden50. Vom Ansatz Jülichers her scheint diese Auslegungsanweisung nur konsequent. Denn wenn die Analogie tatsächlich als ein rhetorisches Mittel zu gelten hat, mit dessen Hilfe der Redner eine bestimmte Gesprächslage zu beeinflussen sucht, erschließt sich der Aussagewille der Analogie nur auf dem Umweg über eine präzise Situationsanalyse. Wie entschieden Jülicher dem von Herder gewiesenen Weg den Vorzug gibt, dokumentiert schließlich folgende Kernstelle: „Jesu Parabeln waren auf sofortige Wirkung berechnet, Kinder des Augenblicks, tief eingetaucht in die Eigenheit der Gegenwart, der Zauber der Unmittelbarkeit ließ sich bei ihnen durch keinen Buchstaben fortpflanzen."51 Wo die Rhetorik als Mutter analogischer Rede beansprucht wird, befremdet eine derartige Formulierung nicht. Denn der Redner erstrebt den Augenblickserfolg - unmittelbare Wirksamkeit ist ein Hauptkriterium fur die Wahl rednerischer Mittel. Aber läßt sich der Verkündigung Jesu tatsächlich ein Kalkül dieser Art unterstellen? Kann die Gleichnisrede Jesu wirklich an einem Modell gemessen werden, das der Analogie eine primär von Parteiinteresse und Parteitaktik diktierte Funktion zuweist?52 49

AaO., I, 294. Vgl. J. G. HERDER, aaO., Bd. 15, 550f; zur Sache s. auch R. DITHMAR, aaO., 63.117f. 50 Vgl. A. JÜLICHER, aaO., I, 91. 51 AaO., I, 91. Zur Sache vgl. H.-G. GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1971, 62f. 52 An dieser Stelle ist an eine Bemerkung E. AUERBACHS ZU erinnern, die generell auf die zwischen dem Geist der Rhetorik und der Stiltendenz der neutestamentlichen Texte bestehende Dissonanz aufmerksam macht: „Selbstverständlich sind die neutestamentlichen Schriften im höchsten Grade wirksam geschrieben; die Tradition der Propheten und der Psalmen wirkt in ihnen, und bei einigen, die von mehr oder weniger gebildeten hellenisti-

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Ich stelle die Erörterung dieser Fragen vorerst zurück und thematisiere die im Ansatz Jülichers implizierten Interpretationsprobleme.

III. Die hermeneutischen Aporieη der Position Jülichers 1. Die im Ansatz Jülichers implizierte Forderung, das Sachanliegen eines Gleichnisses durch den Rekurs auf dessen Ursprungssituation zu ermitteln, erweist sich als unerfüllbares Desiderat der Exegese. Denn die synoptische Tradition enthält kaum einen zuverlässigen Hinweis auf den jeweiligen Gleichnisanlaß. Die diesbezüglichen Vermutungen der Exegeten verkennen den Charakter der Quellen und sind meist durch psychologisierende Erwägungen belastet. Mit Via ist gegen die historisierende Gleichnisauslegung, wie sie durch Jülicher inauguriert wurde, prinzipiell einzuwenden, „daß es in Anbetracht der unbiographischen Art der Evangelien schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die konkrete Sprech-Situation eines Gleichnisses exakt herauszufinden"53. Dieser Sachverhalt ist freilich auch Jülicher nicht fremd. Er beklagt ausdrücklich das Fragmentarische der Überlieferung und bemerkt: „Leider hat man uns nicht aufbewahrt, wann und zu welchem Vorfall der Herr seine Parabeln erfunden habe; höchst selten machen derartige Nachrichten über den Anlaß zu einer solchen Erzählung den Eindruck der Glaubhaftigkeit; fur gewöhnlich ist der Nagel, an den Jesus selber die Parabel gehängt hatte, ausgerissen und verloren gegangen."54 Diese Einsicht darf den Exegeten nach Jülicher jedoch nicht davon abhalten, „sich mehr oder weniger hypothetisch an Hand der überlieferten Bruchstücke eine Vorstellung von der ursprünglichen Gestalt der Gleichnisse Jesu, von ihrem Zweck und ihrer Wirkung zu machen"55. Für die Interpretation bleibt die Orientierung an der Ursprungssituation ausschlaggebend; denn das „edler Rhetorische läßt sich nicht ohne sehen Verfassern stammen, läßt sich auch die Verwendung griechischer Redefiguren nachweisen. Aber der Geist der Rhetorik, der die Gegenstände nach Arten, genera, einteilte und jedem Gegenstand seine Stilform gleichsam als das ihm seinem Wesen nach zukommende Gewand überwarf, konnte sie schon deshalb nicht beherrschen, weil sich der Gegenstand in keine der bekannten Arten einordnen ließ" (Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, 51). 53 AaO., 31. Zur Kritik der neueren historisierenden Gleichnisinterpretation (repräsentiert u.a. durch A.T. Cadoux, C.H. Dodd, J. Jeremias, W.G. Kümmel, E. Linnemann) vgl. R.W. FUNK, aaO., 148ff. Auch Funk weist nach, daß die historisierende Gleichnisauslegung dem Ansatz Jülichers verhaftet bleibt, sosehr sie im übrigen ein gegenläufiges Interesse verfolgt. 54 AaO., 1,104. 55 H.G. KLEMM, aaO., 168.

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Schaden von seinem Platze reißen und in Magazinen für spätere Borger aufspeichern; was fein und lieblich ist, in der Sprache wie im Gedanken, muß man in seiner Heimat studieren!"56 Daß dieser Schritt zurück in das rhetorische Wesen der Analogie an der Quellenlage scheitert, will Jülicher nicht wahrhaben. Er bagatellisiert vielmehr die erkannte exegetische Aporie. Für ihn ist der Ausfall verläßlicher historischer Angaben dadurch kompensiert, daß sich immerhin die eschatologische Grundtendenz von Jesu Verkündigung erheben läßt. Das historische Defizit der Tradition „ist zu ertragen, weil wir wissen, daß jedes Wort Jesu der Erziehung zum Himmelreich galt, und wo und wie er auch lehrte, es waren Verhältnisse des Himmelreichs, über die er Belehrung spendete"57. Daß diese Relativierung des ,Wo' und ,Wie' gerade der Betonung des rhetorischen Moments zuwiderläuft, ja daß sie den historisierenden Interpretationsansatz selbst eigentlich sprengt, scheint Jülicher nicht bewußt zu sein. 2. An dieser Stelle ist auf eine tiefergreifende hermeneutische Aporie aufmerksam zu machen, die Jülichers Entwurf belastet. Selbst wenn die synoptische Tradition den Versuch begünstigte, die Ursprungssituation eines Gleichnisses zu rekonstruieren, wäre damit fur die Interpretation nicht viel gewonnen. Solange nämlich der Ausleger nicht selbst am Verstehensprozeß partizipiert, bleibt das Tradierte stumm. Wie Hans-Georg Gadamer gezeigt hat, ist es geradezu „eine hermeneutische Notwendigkeit, stets über die bloße Rekonstruktion hinaus zu sein"58: „Der Sinnhorizont des Verstehens kann sich weder durch das, was der Verfasser ursprünglich im Sinne hatte, schlechthin begrenzen lassen, noch durch den Horizont des Adressaten, für den der Text ursprünglich geschrieben war."59 Jülichers Orientierung an den Erstadressaten der Gleichnisse stellt eine derartige, das Verstehen einengende Begrenzung dar. Sie ist hermeneutisch gesehen ebenso fragwürdig wie die Tendenz einer Reihe von Exegeten60, einzig den Verstehenshorizont der ursprünglichen Hörer als Interpretationskriterium gelten zu lassen. Hier wie dort ist verkannt, daß der „Begriff der zeitgenössischen Adresse ... nur eine beschränkte kritische Geltung beanspruchen [kann]". Er steckt „voller undurchschauter Idealisierung", wie Gadamer betont61. Diese 56

A . JÜLICHER, a a O . , I, 91.

57

AaO., 1,104f. Wahrheit und Methode, Tübingen 1960,356. AaO., 372.

58 59 60

V g l . E . LINNEMANN, aaO., 3 0 f ; W . G . KÜMMEL, N o c h e i n m a l : D a s G l e i c h n i s v o n der

selbstwachsenden Saat, in: P. HOFFMANN (Hg.), Orientierung an Jesus (FS J. Schmid), Freiburg / Basel / Wien 1973, 221.227.230.234f. 61 AaO., 373. Vgl. ebd.: „Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die

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Erwägungen lassen es geraten erscheinen, die Frage nach der Situation, auf die Jesu Gleichnisrede bezogen ist, im Horizont einer existentialen Analytik des Daseins anzugehen. Denn unabhängig von der jeweiligen Situation der Erstadressaten bildet die Situation der Existenz den Ort, auf den Jesu Gleichnis auftrifft. Um eine Formulierung Vias aufzugreifen: Das Gleichnis sagt „etwas zu dem und über den Menschen als Menschfen] und nicht nur zu dem und über den Menschen in einer besonderen historischen Situation"«2. 3. Mit dem zuletzt Gesagten hängt eine weitere Überlegung zusammen. Sie gilt der Beobachtung, daß sich bei Jülicher die Differenz zwischen Sachhälfte und Situation zu verwischen droht. Wenn Jesu Gleichnisrede nämlich derart auf einen bestimmten Vorfall Bezug nimmt, daß ihre Aussagekraft durch den Vorfall bestimmt wird, ist die Sache des Wortes Jesu faktisch durch die Situation determiniert. Das Zu-Sagende trifft nicht als ein Fremdes, Neues und Anderes auf die Situation, vielmehr impliziert die Situation selbst bereits das Zu-Sagende. Sosehr Jülicher noch bemüht scheint, dieser Konsequenz zu wehren, faktisch leistet sein Ansatz bei der Rhetorik einer Identifizierung von Sachhälfte und Situation Vorschub. Ausdrücklich vollzogen ist diese Gleichsetzung in Reinhard Dithmars Buch über ,Die Fabel'. Dort findet sich die bewußt an Herder und Jülicher anknüpfende Formulierung: „Der sogenannte Sachteil ist ursprünglich die konkrete Situation, in die hinein eine Fabel gesprochen wurde."63 Wie problematisch diese bei Dithmar gezogene Konsequenz ist, zeigt sich, sobald man sie auf die analogische Sprache Jesu appliziert. Wäre sie zutreffend, entschieden die Bedürfhisse der Situation faktisch über den Sachgehalt von Jesu Verkündigung. Der Aussagewille der Gleichnisrede Jesu wäre als Produkt bestimmter geschichtlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse zu beurteilen64. In Wahrheit setzen Jesu Gleichnisse und Parabeln aber der geschichtlichen Situation immer „zugleich ein Widerständiges" entgegen, das aus den Be-

sieh von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfüllt." Zur Sache s. auch I. BALDERMANN, a a O . , 137. 62

AaO., 31. AaO., 116. 64 Vgl. die marxistische Literaturtheorie. S. dazu die gut informierende Einführung in: J. HAUFF u.a. (Hg.), Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft, Bd. II, Frankfurt a. M. 1971, 212fF (zum dialektischen Moment der Marxschen Geschichtsdeutung s. jetzt W. SCHULZ, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 56 lf). Zur Sache vgl. auch H. THYEN, Positivismus in der Theologie und ein Weg zu seiner Überwindung?, EvTh 31, 1971, 482f; M. MACHOVEC, Jesus für Atheisten, Stuttgart / Berlin 1972, 6f.24ff.114f. 63

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dürfhissen der Situation nicht abgeleitet werden kann65. Natürlich ist Jesu Gleichnisrede am Adressaten orientiert, also in gewisser Weise situationsbezogen. Doch eines ist es, die Situation als den Ort zu bestimmen, auf den Jesu Gleichnis auftrifft, ein anderes, die Situation mit der Sachhälfte zu identifizieren, in der sich der Zweck der Gleichnisrede Jesu erschöpft. Kommt die βασιλεία τού Φεοϋ im Gleichnis, ja als Gleichnis zur Sprache66, so gibt sie sich nicht als ein von menschlichen Wünschen und Hoffnungen abhängiges, sondern vielmehr unabhängiges Ereignis zu verstehen, das als solches allerdings den Anspruch erhebt, der Situation menschlicher Existenz hilfreich entsprechen zu können.

IV. Erwägungen zur Sprachkraft der Analogie Überblickt man das bisher Gesagte, läßt sich folgende Zwischenbilanz ziehen: Wie eingangs dargelegt, reichen die von Bultmann erhobenen formalen Kriterien nicht aus, prinzipiell von einem argumentativen Charakter der Gleichnissprache Jesu zu reden. Berücksichtigt man nun die hermeneutischen Implikationen der Formel, verstärken sich die Zweifel an deren Evidenz. Wie Jülichers Werk zeigt, gründet die fragliche These in einem vom historischen Positivismus bestimmten Interpretationsansatz67. Diesem Ansatz entspricht die hermeneutische Privilegierung der Erstadressaten. Aus ihm erwächst die Behauptung der rhetorischen Eigenart und defensiven Tendenz von Jesu Gleichnisrede. Wir haben die exegetischen und sachlichen Aporien skizziert, die Jülichers Entwurf problematisch erscheinen lassen. Darüber hinaus blieb kritisch zu fragen, ob die These, Jesu Gleichnissen komme die Funktion eines Beweismittels zu, einer die Sprachkraft analogischer Rede bedenkenden Reflexion standhält. Dieser Frage soll abschließend unsere Aufmerksamkeit gelten. Um Anhaltspunkte für die Klärung des genannten Problems zu gewinnen, orientiere ich mich zunächst an der sprachlichen Tendenz der Meta-

65 Anlehnung an eine Formulierung H. THYENS, aaO., 483. Zur Kritik einer Reduktion überlieferter Sprache auf die .soziale Tatsachenbasis' vgl. bereits H. JONAS, Gnosis und spätantiker Geist, I, Göttingen 2 1954, 58-73. 66

67

Vgl. E. JONGEL, aaO., 135.

Im Blick auf diesen Sachverhalt ist zu fragen, ob Bultmanns formgeschichtliche Analyse des synoptischen Gleichnisstoffes nicht hinter seiner eigenen (freilich erst später ausdrücklich thematisierten) Forderung nach einer hermeneutisch fundierten Exegese zurückbleibt.

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pher68. Wie bekannt, ist diese Wortfigur auch für Jesu Verkündigung charakteristisch. Bultmann69 nennt als Beispiele aus der synoptischen Tradition u.a. die Logien vom .Splitter und Balken im Auge' (Mt 7,3-5), vom ,schmalen Weg und der engen Pforte' (Mt 7,13f) und von der ,Hand am Pfluge' (Lk 9,62). Was macht das Wesen solcher metaphorischen Rede aus? In der antiken Rhetorik wird die Metapher als abgekürzter Vergleich definiert. Dem entspricht Jülichers Charakteristik dieser Wortfigur als , uneigentlicher' Rede, die wie die Allegorie der Deutung bzw. Entschlüsselung bedarf70. Doch scheinen derartige Bestimmungen fragwürdig. Heinrich Lausberg macht darauf aufmerksam, daß die „Erklärung der Metapher aus dem Vergleich ... eine nachträgliche rationale Deutung" darstellt, die dem Phänomen selbst inadäquat ist71. Auch Wolfgang Kayser stellt fest, es gebe Metaphorik, „bei der es schwerhält, vorangehende Vergleichstätigkeiten anzunehmen"72. Die Metapher ist somit eher als ein Phänomen zu begreifen, an dem sich die analogische Kraft der Sprache ins Spiel bringt. Das metaphorisch Gesagte wird nicht auf dem Umweg über einen Deutungsvorgang oder signalhafte Verweisungen verstanden. Die Wirkung der Metapher hängt vielmehr davon ab, ob sich der Gesprächspartner auf die sprachliche Zumutung einläßt und die Bewegung mitvollzieht, zu der die Analogie auffordert. Bei der Metapher handelt es sich somit nicht um uneigentliche oder verschlüsselte, sondern um indirekte Rede, fur die ein eigentümliches Schweben charakteristisch ist. Der Stilfigur der Ironie sachlich verwandt73, ist die Metapher wie jene auf einen Kontext angewiesen, von dem her sich das metaphorisch Gesagte erschließt und seine Eindeutigkeit gewinnt. Nach Kayser ist die Metapher „eines der wirksamsten Mittel, den Bedeutungsraum zu weiten und den Aufnehmenden in Bewegung zu setzen"74. So eröffnet die Metapher, selbst wenn sie konventionell festgelegt ist, immer einen Spielraum, der dem anderen die Wahl läßt, ob er dem Zug des Gesagten folgen will oder nicht. Nimmt man das anspruchsvolle, den Hörer

68 Zum Folgenden vgl. den ähnlich angelegten Duktus der Ausführungen von R.W. FUNK zum Thema ,The Parable as Metaphor', aaO., 133ff, bes. 136ff. Zur literaturwissenschaftlichen Diskussion vgl. Poetica 2,1968, lOOfF (Die Metapher). 69 Vgl. aaO., 183. 70 Vgl. aaO., I, 52ff. 71 AaO., 286 (§ 558). Ob allerdings LAUSBERGS Reduktion des Phänomens auf eine ,,urtümlich-magische[n] Gleichsetzung der metaphorischen Bezeichnung mit dem Bezeichneten" zwingend ist, erscheint als zweifelhaft. 72 Das sprachliche Kunstwerk, Bern / München 1 4 1969,124. 73 Vgl. B. ALLEMANN, Ironie als literarisches Prinzip, in: A. SCHAEFER (Hg.), Ironie und Dichtung, München 1970,23. 74 AaO., 125.

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provozierende und gerade damit beteiligende Wesen der Metapher wahr, wird man sie zu jenen Sprachformen rechnen, „in denen sich die Sprachkraft der Existenz charakteristisch äußert"75. Die Metapher bringt den Hörenden in Bewegung, indem sie anderes nennt und damit eine neue Einstellung zum eigentlich Gesagten herbeiführt. Treffend urteilt Ernst Fuchs: „Wenn also die Metapher zwar stilistisch unterhalb des Bildworts oder des Sprichworts rangiert, weil sie kein ausgeführter Vergleich ist und deshalb nicht auf Satzganzheit hinstrebt, so steht sie doch dem Bildwort und dem Sprichwort insofern voran, als sie das Analogische an dem allem am unverhülltesten unterstreicht."76 Auf Grund des Gesagten käme wohl niemand in den Sinn, der Metapher die Funktion eines Arguments zu unterstellen. Genausowenig läßt sich aber auch von einem argumentativen Charakter der ausgeprägt erzählenden Gleichnisse Jesu reden, wie sie z.B. als die klassischen Parabeln von den ,Arbeitern im Weinberg' (Mt 20,Iff), vom ,Schalksknecht' (Mt 18,23ff), vom ,verlorenen Sohn' (Lk 15,1 Iff), vom ,schlauen Verwalter' (Lk 16,Iff) und von den .anvertrauten Geldern' (Mt 25,14ff Par.) begegnen. Denn diese Erzählungen partizipieren gerade am analogischen Wesen metaphorischer Rede. Nicht - wie Jülicher meinte77 - die Allegorie, sondern die Parabel ist der Metapher sachlich benachbart. Wie die Metapher gibt die Parabel einen Spielraum frei und sucht das Einverständnis des Hörers zu gewinnen, ohne ihn von vornherein festzulegen. Sie lebt nicht im Element einer kristallklaren Aussagenlogik, sondern in dem der indirekten, verhüllend-andeutenden Mitteilung78. Was sie zur Sprache bringt, läßt sich nicht begrifflich fixieren und als stichhaltiges Argument ausspielen. Dies trifft übrigens ebenso für das eine oder andere Gleichnis zu, das man im Anschluß an Dithmar als in einen erzählerischen Rahmen gefügtes ,Drama in Kleinstform' kennzeichnen könnte79 (vgl. z.B. Mt 13,44-^6; Lk 18,2-5). Hans Lipps weist gelegentlich darauf hin80, beim Gleichnis werde eine Parallele gezogen, „um in deren Richtung etwas anders, nämlich geradezu neu sehen zu lassen". Doch nur selten „gelingt es, das, woraufhin diese Parallele gezogen wird, auf eine abstrakte Formel zu bringen. Meist ermangelt das Gleichnis eines solchen festen Gefüges. Die Vieldeutigkeit der Perspektiven, in die es weist, verlangt mäeutischen Zugriff. Gerade diese apho75 76 77 78 79 80

E. FUCHS, Hermeneutik, Tübingen 4 1970,214. AaO.,216. Vgl. aaO., I, 58ff. Vgl. Via, aaO., 21 f. Vgl. aaO., 103ff. Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt a. M. 2 1958, 74.

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ristische Spannung ist es, die seinen Reiz ausmacht". In weit größerem Maße gilt diese Feststellung für die Parabel. Sie mutet dem Hörer eine neue Einstellung der Existenz zu, indem sie ihn mit einer erzählerisch verfremdeten Wirklichkeit konfrontiert. Alles hängt nun davon ab, ob der Hörer der sprachlichen Herausforderung entspricht und seine Existenz tatsächlich in Bewegung bringen läßt; denn - so räumt Jülicher in glücklicher Inkonsequenz zu seinem eigenen Ansatz ein81 - „absolut unwiderstehlich wirkt auch die Fabel (Parabel) nicht". Stellt man diesen Sachverhalt in Rechnung, erweist sich die These vom argumentativen Charakter der Gleichnisse Jesu als dem Wesen analogischer Sprache unangemessen. „Argumentation gehört" - wie Erich Bochinger zu Recht einwendet82 - „in den Bereich einer Logik, der es darum geht, Einzelfalle unter ein Allgemeines zu subsumieren. Ein einleuchtendes Argument sagt dem Hörer: so ist es. Was im Gleichnis geschieht, hat dynamischere Form. Der Redende zwingt den Hörer nicht durch die Beweiskraft seines Arguments, er bringt ihn in die Lage, in einer bestimmten Blickrichtung mitzusehen, einen bestimmten Weg mitzugehen." Wiewenig Jesu Parabeln der Sphäre der Argumentation angehören, läßt sich exemplarisch an Mt 20, Iff verdeutlichen. Hätte diese Parabel argumentative Funktion, so zielte sie darauf ab, den Adressaten auf die Position der empörten Ganztagsarbeiter festzulegen. Der Hörer wäre gehalten, das Schicksal der Entlassung, das in der Erzählung über die Murrenden verhängt wird, auf sich selbst zu beziehen und die Parabel als ein ihm geltendes Gerichtswort zu verstehen83. In Wahrheit bleibt die Situation des Parabelhörers gerade offen. „Durch Befremden soll" er „aus der emotionalen Solidarität mit den Ersten ins ,Einvernehmen' bzw. »Einverständnis' mit dem Erzähler gefuhrt werden"84. Indem die Erzählung das tragische Geschick der Empörten vor Augen führt, wirbt sie um das Einverständnis des

81

AaO., I, 114; vgl. auch E. JÜNGEL, aaO., lOlf. Distanz und Nähe, Stuttgart 1968, 88; vgl. auch D.O. VIA, aaO., 56f; E. SCHWEIZER, Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments, München / Hamburg 1968, 30ff. Kritisch gegenüber der gängigen Auffassung des Gleichnisses als Argument äußert sich auch R.W. FUNK, aaO., 145: „... the parable is not an argument in the strict sense, but rather a .revelation' which calls for response". Ähnliche Vorbehalte finden sich bei E. JÜNGEL, aaO., 130; K.-P. JÖRNS, Die Gleichnisverkündigung Jesu, in: E. LOHSE, Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde (FS J. Jeremias), Göttingen 1970, 160.173, sowie U. SCHOENBORN, aaO., 215f. - Zur Sache im weiteren Sinn vgl. auch die von J.B. METZ vorgebrachte Kritik an einer .argumentativen Soteriologie' (Erlösung und Emanzipation, Stimmen der Zeit 98,1973, 180ff.l82ff). 83 So z.B. K.-P. JÖRNS, aaO., 168.171. 82

84

U. SCHOENBORN, aaO., 172.

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Hörers und läßt es darauf ankommen, ob dieser das im Ereignis der Güte begründete Lebensverständnis bejaht85. An diesem Beispiel erhellt, wie wenig die von Jülicher beschworene antithetische Tendenz den Generalnenner von Jesu Gleichnisverkündigung abzugeben vermag. Die Behauptung, Jesu Gleichnisrede sei in der Sphäre des Streits angesiedelt und auf Abwehr und Widerstand bezogen, erweist sich als abwegig. Sie verkennt jene „Einheit stiftende Macht der Sprache" (Ernst Fuchs86), welche insonderheit an Jesu Parabeln erscheint. Diesen eignet von Haus aus ein affirmativer Grundzug. Sie teilen die βασιλεία positiv mit als ein Geschehen, das den Adressaten als neuer Existenzgrund zugutekommen soll. Fragen wir nach der entscheidenden Leistung der Gleichnisrede Jesu, so werden wir mit Ernst Fuchs auf deren existenzbewegende Kraft verweisen: „wer versteht und mitgeht, der bewegt sich auch schon in einem neuen Zusammenhang, im Sein vor Gott, so daß er Gott in der gleichen Weise auf sich beziehen kann wie jener verlorene Sohn den liebenden Vater ... Wer mitgeht - die Evangelisten sagen: nachfolgt - , der wird nun selbst in der Lage sein, Gott so anzurufen, wie es Jesus tut."87

85

Vgl. W. HARNISCH, Sprache und Wirklichkeit, ZRP 27, 1972, 176f (in diesem Bd.

38ff). 86

Das Wesen des Sprachgeschehens und die Christologie, in: DERS, Glaube und Erfahrung (GA III), Tübingen 1965, 241. 87 AaO., 240.

DER BEZWINGENDE VORSPRUNG DES GUTEN Zur Parabel von den bösen Winzern (Markus 12, Iff und Parallelen)

Kaum ein Gleichnis Jesu ist exegetisch derart umstritten wie die Erzählung von den bösen Winzern. Der sprachliche Charakter des Stückes scheint ebensowenig eindeutig erhebbar wie die Geschichte der Überlieferung. So nimmt nicht wunder, daß auch die Frage der Authentizität unterschiedlich beantwortet wird. Doch ebendiese Ausgangslage nötigt zur Selbstbesinnung. Läuft das exegetische Dilemma letzten Endes auf ein non liquet hinaus? Oder gibt es vielmehr Anlaß, hermeneutische Alternativen in Betracht zu ziehen, die bisher kaum bedacht wurden?

I. Die allegorische Lesart der Tradition Die als Jesuswort gekennzeichnete Erzählung von den bösen Winzern begegnet in den synoptischen Evangelien (Mk 12,Iff; Mt 21,33ff; Lk 20,9ff) sowie im Thomasevangelium (Log. 65f). Alle vier Versionen bieten eine im Kern weitgehend übereinstimmende Handlungsabfolge. Berichtet wird, daß ein Mann einen Weinberg anlegt, Pächtern überläßt und zu gegebener Zeit wiederholt Beauftragte sendet, um den ihm zustehenden Ertragsanteil einzutreiben, daß die Winzer vor Ort indessen den Pachtzins verweigern, die Emissäre mißhandeln und nicht einmal davor zurückschrecken, den in Botenfunktion zuletzt auftretenden Sohn des Besitzers zu ermorden. Bei den Synoptikern gipfelt das Ganze in der Frage Jesu nach einer möglichen Reaktion des derart Brüskierten, und die entweder vom Erzähler oder von seinen Gesprächspartnern gegebene Antwort besagt, jener werde die Frevler vernichten und das Weingut anderen zugute kommen lassen. Orientiert man sich an der jeweiligen Darstellung dieser Episodenreihe in den vorliegenden Versionen, gewinnt man auf Anhieb keineswegs den Eindruck fehlender erzählerischer Plausibilität, der die Annahme einer allegorischen Konstruktion nahelegen könnte. In der erzählten Welt finden sich jedenfalls keine Spuren von krassen Ungereimtheiten oder phantastischen Verzerrungen, die dem Adressaten suggerieren, das Gesagte als verschlüs-

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sehe Wiedergabe einer diskursiv gedachten Botschaft zu verstehen. Allein, das von den synoptischen Evangelien anschließend referierte und übereinstimmend derselben Redesituation zugeordnete Deutewort Jesu aus Ps 117,22(f)LXX verändert die Sachlage. Denn die metaphorische Aussage vom verworfenen Stein, der als Eckstein ins Recht gesetzt wird, hat unverkennbar christologischen Sinn und verweist auf Erniedrigung und Erhöhung, auf Tod und Auferstehung Jesu (vgl. Apg 4,11; 1. Petr 2,6ff). Sie hält dazu an, den in der Erzählung genannten Sohn mit Jesus zu identifizieren und sein Geschick auf das Jesu zu beziehen. Das Psalmzitat übernimmt somit die Funktion eines Allegoresesignals: Es legt eine allegorische Lektüre der von Haus aus kaum nach Art einer Allegorie konzipierten Erzählung nahe. Was das Deutewort explizit zu verstehen gibt, ist nun freilich implizit in den synoptischen Varianten der Erzählung selbst angelegt. Die Einzeldarstellungen der Ereignisfolge sind nämlich von bestimmten Momenten durchzogen, die - ohne das einheitliche Gefuge der erzählten Welt übermäßig zu strapazieren - einer auf Breviloquenz bedachten Dramaturgie zuwiderlaufen, eigenwillige Akzente setzen oder merkwürdige Zuspitzungen vornehmen. Und ebendiese auffälligen Züge reden bereits einer allegorischen Referenz des Gesagten das Wort. Sie begünstigen jedenfalls eine freilich erst durch das Psalmzitat am Schluß ausdrücklich bestätigte Erwartung allegorischer Bezüge. So enthält die markinische Exposition der Episodenfolge (Mk 12,1b) überquellende Details, die als wörtliche Anspielung auf das Weinberglied Jes 5,lffLXX wahrgenommen sein wollen. Überschüssig wirkt der Bericht von der Sendung eines dritten Knechtes und vieler anderer (Mk 12,5). Er läßt sich als ein erzählerischer Wink begreifen, in der Vielzahl der Botensendungen Auftrag und Geschick der Propheten Israels abgebildet zu sehen. Dann wäre auf die deuteronomistische Sicht der Gottesboten Bezug genommen, die von sehen Israels geschmäht und getötet werden (vgl. Jer 7,25ff u. a.). Nimmt man hinzu, daß die Rede vom geliebten Sohn' (Mk 12,6) im Rahmen des Evangeliums die Erinnerung an die himmlische Prädikation Jesu bei der Taufe und Verklärung assoziiert (vgl. Mk 1,11; 9,7), wird die Erzählung auf einen Hintergrund hin transparent, der heilsgeschichtliche Dimension besitzt: Das Beziehungsgeflecht der Figuren reflektiert das gespannte Verhältnis zwischen Gott sowie seinen prophetischen Boten und Israel. Entsprechend macht der Aussagezusammenhang als Botschaft geltend, daß Israel dem Verderben anheimfallt und die ihm eingeräumte Vorzugstellung an ein neues Gottesvolk abtreten muß,

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weil es sich göttlicher Zuwendung, die in der Sendung Jesu als des eschatologischen Propheten kulminiert, versagt hat. Auch bei den Seitenreferenten des Markus ist die Gestaltung der Tradition von einer Regie gelenkt, die das vordergründig Erzählte als Widerspiegelung einer hintergründig vorausgesetzten und christologisch pointierten Sachebene zu verstehen gibt. Inwiefern das der Fall ist, kann hier nicht erörtert werden. Eine Ausnahmestellung scheint nur die Version des Thomasevangeliums (Log. 65) einzunehmen, läßt sie doch eine Szenenfolge Revue passieren, die der eingangs vorgestellten vereinfachten Handlung am nächsten kommt. Allegorisch intendierte Erzählzüge sind kaum erkennbar. Seltsamerweise fehlt auch jeder Hinweis auf die Konfliktlösung. Nun will aber beachtet sein, daß die als Jesuswort kolportierte Erzählung mit einem Weckruf (,wer Ohren hat, möge hören') verbunden ist, der häufig die Funktion eines Allegoresesignals übernimmt. Und ferner gibt zu denken, daß sich, freilich durch eine neue Redeeröffnung abgesetzt, im unmittelbaren Anschluß an das Gesagte ein Jesuswort findet, das die Metapher vom Eckstein variiert (Log. 66). So bleibt zu erwägen, ob sich an diesen Merkmalen nicht ebenfalls das Interesse einer allegorischen Hermeneutik ablesen läßt. Diese wäre dann allerdings einer gnostischen Zielsetzung verpflichtet, wie sie fiir das Thomasevangelium charakteristisch ist.

II. Die Wahrnehmung der Erzählung als Parabel

A. Jülicher, der Nestor der kritischen Gleichnisforschung, hielt die Erzählung von den bösen Winzern fur „irrational, verunglückt durch und durch, außer wenn man von Anfang an ihre Worte geistlich, d.h. allegorisch deutet"1. Dies Urteil wirkt bis heute nach. Vielen Exegeten gilt das Stück als eine sekundäre allegorische Konstruktion. Bei näherem Zusehen stellt sich indessen der Versuch, der Tradition eine vorallegorische Erzählfassung abzugewinnen, keineswegs als Jagd nach einem Phantom dar. Dies erhellt aus folgender Überlegung: Auszugehen ist von der Einsicht, daß die Gleichnisversionen des Matthäus und des Lukas den markinischen Text voraussetzen. Während Matthäus das Interesse verfolgt, den allegorischen Tenor der Vorlage zu verstärken, ist Lukas darauf bedacht, den markinischen Wortlaut zu glätten und im 1

Die Gleichnisreden Jesu, I, Darmstadt 1963 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1910), 116.

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Sinne einer gesteigerten Plausibilität der Handlung zu stilisieren, ohne das allegorische Anliegen preiszugeben. Da sich nun aber auch für die archaisch wirkende Variante des Thomasevangeliums synoptischer Einfluß nicht ausschließen läßt, erscheint die Markusfassung als Basis jeder weitergehenden Rückfrage. Nun ist zu vermuten, daß in Mk 12,lbff ältere Überlieferung vorliegt, die der Evangelist fast unverändert übernimmt. Dann orientiert sich die Suche nach einer Vorstufe der Erzählung de facto an der vormarkinischen Tradition, wie sie im Markusevangelium greifbar wird. Worauf gründet sich der Verdacht, daß der tradierte Stoff möglicherweise einen von allegorischen Besetzungen noch unberührten Vorläufer besitzt? Aufschlußreich ist der Umstand, daß die Erzählung Momente aufweist, die sich einer allegorischen Dekodierung widersetzen. Im Sinne der Anspielung auf Jes 5,Iff müßte der Weinberg auf Israel bezogen werden. Näherliegend scheint indessen, die Pächter mit Israel zu identifizieren. Wie läßt sich beides miteinander vereinbaren? Nicht weniger problematisch im Sinne einer allegorischen Wahrnehmung des Erzählten ist das Motiv, das der Tötungsabsicht der Pächter zugrundeliegt: Wie soll Israel, das sich doch selbst als bevorzugter Adressat des göttlichen Erbes versteht, gemeint haben können, Jesus sei der Erbfolger? Erzwingt die konsequent allegorisch gelesene Aussagefolge nicht den im Sinn ihrer eigenen Logik absurden Gedanken, Israel habe Jesus widerwillig als den Bürgen seiner Erbschaft anerkannt? Beobachtungen der genannten Art machen einen Erzählungsüberschuß sichtbar, der sich dem Allegoriekonzept entzieht. Und eben dieser Überschuß provoziert die Vermutung, daß es sich bei der gegebenen Gleichnisfassung um ein Erzählstück handelt, das wohl erst auf dem Weg der Umprägung eines ursprünglich anders gestalteten Stoffes entstanden ist. Nun läßt sich in der Tat zeigen, daß ebenjene Erzählzüge, die eine allegorische Aneignung des Gesagten lancieren, dem Ganzen erst sekundär zugewachsen sind. So ist der Gang der Handlung durch die Einführung eines Mannes, der einen Weinberg anlegt, die Domäne verpachtet und dann abreist (Mk 12,1b), ausreichend motiviert. Die den Vorgang ausmalende Erweiterung der Exposition im Stil von Jes 5,If widerspricht den Belangen einer auf das Wesentliche konzentrierten erzählerischen Ökonomie. Ein ähnliches Urteil legt sich im Blick auf Mk 12,5 nahe. Die Verlängerung der Botenreihe um einen dritten Knecht und viele andere wirkt unpassend. Sie stört das Konzept einer an der Dreizahl orientierten klimaktischen Handlungsbewegung. Als problematisch erscheint schließlich der vorliegende Gleichnisschluß (Mk 12,9). Daß sich der Erzähler fragend an sein Publikum wendet, um die erwartete Antwort dann selbst vorwegzunehmen, ist ohne Analogie im Korpus der Gleichniserzählungen Jesu. Durchbricht schon die

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Frage den geschlossenen Raum der erzählten Welt, so zeigt sich erst recht an der Antwort ein Wechsel im sprachlichen Milieu: Vordergründig auf den Ausgang des erzählten Geschehens bezogen, hat die gegebene Auskunft in Wahrheit dasjenige Geschick im Blick, das auf der allegorisch intendierten Sachebene ausschlaggebend ist. Sie redet von der Vernichtung der Pächter und meint das künftige Verderben Israels. Die Form der Erzählung verwandelt sich unmerklich in die einer Gerichtsandrohung. So bekräftigt der Gleichnisschluß ebenjene Erwartung, die beim Hörer durch die Anspielung auf das prophetische Weinberglied ausgelöst wurde. Daraus folgt, daß der Wortlaut von Mk 12,9 ebensowenig für eine mögliche vorallegorische Erzählfassung zu beanspruchen ist wie die sekundäre Deutungsanweisung von Mk 12,1 Of. Aufgrund dieser Erwägungen ist die Möglichkeit eröffnet, eine Lektüre von Mk 12,lbff ohne die genannten allegorischen Retuschen in Betracht zu ziehen. Dann stößt man auf das Fragment einer erzählten Welt, die den Charakter eines kunstvoll arrangierten Dramas im Kleinstformat besitzt: Ein Mann pflanzte einen Weinberg, verpachtete ihn an Winzer und verließ das Land. Und als es an der Zeit war, schickte er einen Knecht zu den Winzern, um von den Winzern seinen Anteil von den Früchten des Weinbergs zu empfangen. Und die ergriffen ihn, verprügelten ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Und aufs neue schickt er einen anderen Knecht zu ihnen. Und ihm schlugen sie den Kopf blutig und schmähten ihn. Noch einen hatte er, einen [geliebten] Sohn. Ihn schickte er zuletzt zu ihnen, indem er [sich] sagte: .Meinen Sohn [jedenfalls] werden sie achten.' Doch jene Winzer sagten zueinander: .Dieser ist der Erbe. Kommt, wir wollen ihn töten, und das Erbe wird uns gehören.' Und sie ergriffen ihn, töteten ihn und warfen ihn aus dem Weinberg hinaus.

III. Strukturmerkmale der Aussagefolge

Bei der aufgrund methodischer Kriterien eruierten Vorform der Überlieferung handelt es sich um eine erzählerische Fiktion, die nach Art der Gleichniserzählungen Jesu entworfen ist. So treffen wir auf eine Reihe von Strukturmomenten, wie sie das Gepräge der neutestamentlichen Parabel auszeichnen. Dazu gehört in erster Linie das eigentümliche Arrangement der Figuren. Als Akteure begegnen ein Gutsherr, zwei in seinen Diensten stehende Knechte, sein Sohn sowie eine Gruppe von Pächtern. Achtet man auf die Rolle dieser Personen und die ihr zugewiesene Funktion, reduziert sich

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die Zahl der Beteiligten auf drei Partizipanten: Handlungsträger sind ein Weinbergbesitzer, der als Pachtherr zugleich in der Rolle eines Gläubigers auftritt, Agenten, die als Repräsentanten seines Anspruchs fungieren, sowie Pächter, die den Part des Schuldners übernehmen. Auch im vorliegenden Fall ist somit die Figurenkonstellation eines dramatischen Dreiecks erkennbar, die das Gefuge aller Parabeln Jesu grundlegend bestimmt. Entsprechend erscheint der durch seine privilegierte Stellung hervorgehobene Gutsherr als Handlungssouverän, der die Ereignisfolge eröffnet und nach den Vorgaben des Gattungsmusters eigentlich auch beschließen müßte. Den Pächtern kommt der im Rollenschema der Parabel vorgesehene Part des Opponenten zu. Weil sie den erzählten Konflikt auslösen und die Krise der Handlung verantworten, übernehmen sie die Funktion des Protagonisten bzw. der dramatischen Hauptfigur. Die Boten schließlich treten lediglich im Sinne passiver Handlungsträger in Erscheinung. Als Beauftragte und Mißhandelte sind sie jeweils Objekte unterschiedlicher Aktivitäten, Spielball im Widerstreit gegensätzlicher Interessen. Doch wird gerade an ihrem Geschick die Schärfe des Konflikts manifest. Insofern agieren sie nicht als Statisten, sondern füllen gattungsgemäß die Rolle der dramatischen Nebenfigur aus. Auch dies entspricht dem Charakter der neutestamentlichen Parabel, daß der dargestellte Fall dramatisch in Szene gesetzt wird. Das Ganze trägt die Züge eines in Erzählung umgesetzten Bühnenstückes. Der Aufzug der Figuren ist dramaturgisch gelenkt und von dem Interesse bestimmt, die Zuspitzung des Handlungsverlaufs augenfällig werden zu lassen. Daß die handelnden Personen wie Schauspieler agieren, zeigt sich besonders an der Gestaltung des Höhepunktes der Krise. Dort macht der Erzähler vom Stilmittel direkter Rede in Monolog und wechselseitigem Zuruf Gebrauch, um die Handlungsmotive der Kontrahenten ins rechte Licht zu setzen. In diesem Zusammenhang verdient schließlich der Sachverhalt Beachtung, daß die Episodenfolge szenisch gegliedert ist. Das Erzählgerüst der rekonstruierten Gleichnisfassung enthält zwei Akte. Der erste skizziert die Ausgangslage (Exposition), der zweite gewährt Einblick in eine unheilvolle Handlungsentwicklung (Krise). Was fehlt, ist die Lösung der problematischen Lage (dénouement). Am Ende vermißt man den gattungsüblichen Auftritt der Handlungssouveräns, der die ihm vorbehaltene Entscheidung des Konflikts herbeifuhren müßte. Das genannte Defizit wirkt um so auffalliger, als die Jesus-Parabeln stets nach dem Muster einer dreiteiligen Szenenfolge von Anfang-Mitte-Schluß entworfen sind. Stellt man dies Strukturmoment der Gattung in Rechnung, ist auch im vorliegenden Fall mit einem Schlußakt zu

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rechnen, dem die Funktion zukäme, die krisenhaft zugespitzte Handlung in der einen oder anderen Richtung zu entspannen. Das seiner allegorischen Drapierungen entkleidete Erzählstück von den bösen Winzern trägt somit keineswegs den Charakter einer abgerundeten Parabel, sondern den eines Parabelfragments, und es stellt sich die Frage, was die nicht mehr direkt zugängliche, aber als unerläßlich zu postulierende Schlußszene geltend gemacht haben könnte. Ist die Konsequenz unausweichlich, daß der dritte Akt auf nichts anderes hinauslaufen darf, als die erzählerisch angebahnte Katastrophe zu besiegeln, wie dies die sekundäre Auskunft von Mk 12,9b unterstellt? Oder sollte die Erwartung des Nächstliegenden von der durch Jesus zu Gehör gebrachten Parabel gerade enttäuscht werden? Das Problem der Schlußszene läßt sich erst dann einer möglichen Lösung zufuhren, wenn das erzählerische Interesse des in Mk 12,lbff durchschimmernden Parabelfragments erhoben ist. Was teilt die jetzt abrupt endende Erzählung mit, und in welcher Weise beeinflußt sie ihren Adressaten?

IV. Die erzählerische Entfaltung des Konflikts

Der Auftakt der geschilderten Handlung konfrontiert den Hörer mit einem alltagsgewohnten Sachverhalt. Daß jemand eine Domäne kultiviert, um sie Pächtern zu übergeben, entspricht bekannter Praxis und bedarf keiner weiteren Begründung. Sowenig wie in Mt 20,1; 21,28 und Lk 13,6 verbinden sich mit dem genannten Weinberg metaphorische Konnotationen. Es handelt sich einfach um ein Requisit des Bühnenraums. Auch die Eröffnung der zweiten Szene bewegt sich im Rahmen der vorgegebenen Ausgangslage. Daß sich der Mann eines Boten bedient, um zur ersten Erntezeit die Pachtabgabe einzufordern, erklärt sich aus dem eingangs angedeuteten Umstand einer räumlichen Distanz. Mit der berichteten Reaktion der Pächter nimmt die Handlung indessen, kaum in Gang gebracht, schon einen befremdlichen Verlauf. Mag der Unwille auf sehen der Schuldner noch im Horizont des Erwartbaren liegen, so doch schwerlich ein Affront der geschilderten Art: Die Pächter verweigern nicht nur die geschuldete Abgabe, sondern vergreifen sich auch am Mittler des Pachtherrn. In erzählerischer Hinsicht ist das Überraschungsmoment noch insofern verstärkt, als die Darstellung der aggressiven Antwort unvermittelt angeschlossen wird und eine Begründung fur die Opposition der Pächter verschwiegen bleibt. Freilich will beachtet sein, daß die Aktion der

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Schuldner teilweise die des Gläubigers nachahmt: Wie jener einen Knecht sendet, um von dem Seinen zu nehmen, so nehmen diese den Boten und senden ihn mit leeren Händen zurück. Diese Spiegelung, die das Erzählte mit einer ironischen Note versieht, läßt bereits ahnen, was in der Revolte zum Ausdruck kommt. Die Pächter maßen sich die fremde Rolle dessen an, dem sie verpflichtet sind. Sie spielen sich selbst als Herren auf. In Anbetracht der beschriebenen Lage verblüfft der Fortgang der geschilderten Ereignisfolge. So läßt der lakonische Bericht einer zweiten Botensendung den Hörer im ungewissen darüber, was den Weinbergbesitzer bewogen hat, es noch einmal auf dieselbe Weise zu versuchen. Man erwartet die Angabe eines Motivs, wie es in einer Variante des Thomasevangeliums begegnet (dort äußert der Herr den Verdacht, daß sich der Gesandte möglicherweise an die Falschen gewandt hat). Doch könnte die Unterschlagung einer plausiblen Handlungsbegründung erzählerisch gerade beabsichtigt sein. Wahrscheinlich soll der Pachtherr als ein Mann erscheinen, der sich nicht provozieren läßt. Allein, nach dem bisher Erzählten ist der protokollierte Fehlschlag der wiederholten Mission fur den Parabeladressaten fast absehbar. Ein im Ausgang des ersten Versuchs nicht unbedingt vorgezeichnetes Moment liegt nur darin, daß der Widerstand der Pächter an Heftigkeit zunimmt: Der Emissär wird auf schlimmste Weise mißhandelt und dazu noch beschimpft. Schon im Hinblick auf das Gesetz der Dreizahl ist der Rezipient des Erzählten darauf eingestimmt, daß die Handlung mit dem dritten Aufzug des zweiten Aktes einen Höhepunkt erreicht. Der Erzähler bestärkt die Erwartung des Besonderen durch auffallige Abkehr von der parataktischen Reihung der Sätze. Und erstmalig läßt er die Konfliktpartner in wörtlicher Rede aussprechen, wodurch ihr Verhalten jeweils motiviert ist. Daß der Weinbergbesitzer nun als letzten verfugbaren Mittler den eigenen Sohn einsetzt, rührt im Kontext des Gesagten an die Grenzen des Vorstellbaren. Trug schon die zweite Botensendung die Züge eines kaum begreiflichen Hasardspiels, so gerät die dritte erst recht in die Nähe des Abwegigen und Absonderlichen, selbst wenn man berücksichtigt, daß der Sohn als rechtlicher Repräsentant des Vaters größere Autorität genießt als die Knechte. Der Erzählung ist freilich daran gelegen, ihren Adressaten fur den Beweggrund des Gutsherrn einzunehmen (,Meinen Sohn werden sie achten'), um die Diskrepanz zwischen einem möglichen und dem wirklichen Ausgang des Konflikts um so schroffer hervortreten zu lassen (,Dieser ist der Erbe. Kommt, wir wollen ihn töten, und das Erbe wird uns gehören'). Die erhoffte Peripetie des Geschehens bleibt aus. Das Kalkül der Pächter spricht dem Wunsch des Pachtherrn höhn: Sie erblicken im Sohn nicht den genuinen Anwalt der

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Rechte des Vaters, sondern vielmehr den Erben, dessen Beseitigung die Usurpation der Domäne garantiert. Ohne zu bedenken, daß das widerrechtlich angeeignete Gut gefährdet bleibt, weil der rechtmäßige Besitzer seinen Anspruch erneut geltend machen könnte, ermorden sie den Erben, wobei das Ruchlose der Tat durch die Schändung des Leichnams noch gesteigert wird.

V. Eine unerhörte Lösung? In jüngster Zeit hat man wiederholt versucht, die Winzerparabel, wie sie sich aus der vormarkinischen Überlieferung erschließen läßt, als Jesuswort auszulegen. Doch alle exegetischen Besinnungen dieser Art kranken daran, daß sie das Problem der Schlußszene entweder ausblenden oder auf fragwürdige Art reflektieren. Einige Interpreten reklamieren für Jesus ein Erzählstück, das in der Sendung des Sohnes gipfelt und mit der Untat der Pächter endet. Man vermutet, der Erzähler bringe mit dem Gesagten auf verschlüsselte Art sein Selbstverständnis zu Gehör, wobei zugleich ein Wissen um sein unausweichliches Todesgeschick mitschwingt: Jesus will von Israel als eschatologischer Gottesbote wahrgenommen sein. Wie unschwer ersichtlich, gerät das Ganze bei diesem Konzept unter der Hand wieder zur Allegorie. Man kann nicht umhin, die Konstellation der Figuren im Sinne jener hermeneutischen Devise zu enträtseln, die von den synoptischen Versionen nahegelegt wird. Wenn es sich aber bei der in Rechnung gestellten Episodenfolge tatsächlich um eine Parabel handelt, ist eine derartige Operation verfehlt, und es erscheint als ausgeschlossen, die Figur des Sohnes als die des Protagonisten der Handlung zu gewichten. Im übrigen unterliegt die genannte Position schon insofern der Kritik, als sie verkennt, daß der von ihr vorausgesetzte Interpretationsgegenstand in Wahrheit fragmentarischen Charakter besitzt. Für andere Ausleger ist die Annahme eines Schlußaktes unabdingbar. Welche Lösung das Nachspiel im Sinne der Erzählung zu vertreten hat, kann sich der Hörer, danach befragt, leicht zurechtlegen. Denn mit innerer Folgerichtigkeit (heißt es) läuft die Handlungsentwicklung auf eine Bestrafung der Frevler hinaus. Nun läßt sich die Ursprünglichkeit der Frage von Mk 12,9a bezweifeln. Für diesen Fall muß (so lautet das exegetische Postulat) ein entsprechender Epilog auf der Ebene der erzählten Welt selbst vorausgesetzt werden. Das Ganze verlangt nach einer dramatischen Entspannung, und die ist im Blick auf das Gefälle der Handlungsbewegung nur in der Form eines Gerichtsverhängnisses nach Art der Auskunft von Mk

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12,9b vorstellbar. Dann verweist die Parabel im Munde Jesu nicht nur auf den eschatologischen Anspruch des Erzählers, sondern auch auf die Folgen, die jenen drohen, die sich ihm verweigern: Wenn es beim Nein Israels gegenüber der Sendung des letzten Gottesboten bleibt, ist das Verderben unabwendbar. Die skizzierte exegetische Position weiß insofern zu überzeugen, als sie sich dem Problem der dramatischen Struktur der Parabel stellt und die Frage nach der Knotenlösung bedenkt. Doch auch sie bleibt dem Allegoresemodell der Tradition verhaftet. Und was sie als Sachgehalt der zu Recht postulierten Schlußepisode in Betracht zieht, erscheint nur auf den ersten Blick als eine Möglichkeit ohne Alternative. Ist die Erzählung von den bösen Winzern, als Jesuswort verstanden, unausweichlich auf einen Schlußakt festgelegt, der die Szene zum Tribunal werden läßt? Bei der Erörterung dieser Frage empfiehlt es sich, einen Blick auf andere Jesus-Parabeln zu werfen. Denn aus der Art, wie sich das Verhältnis von Krise und Lösung in vergleichbaren Erzählungen Jesu darstellt, könnten sich Anhaltspunkte für die Klärung des anstehenden Problems ergeben. Durchmustert man nun das in Betracht kommende Material, so wird deutlich, daß die erzählerische Konfiguration jeweils einen Fall aus der vertrauten Alltagswelt aufgreift, um diesen alsbald im Gewand einer nicht alltäglichen Verwicklung begegnen zu lassen. Wie bei der Winzerparabel setzt die Handlung in der Regel beim Gewohnten ein, nimmt unversehens aber einen Verlauf, der vom Alltagsüblichen abweicht. An diesem Punkt einer dramatisch inszenierten Störung des Vertrauten sieht sich der Hörer veranlaßt, für das Erfahrungsgemäße Partei zu ergreifen. Unwillkürlich wünscht er sich ein Finale, das die Regel des Geläufigen sanktioniert. Dieser Wunsch wird durch das Szenar der Erzählung selbst stimuliert. Die verstiegene Welt der erzählerischen Fiktion trägt nämlich in einem solchen Maße dem Gehörigen alltäglicher Erfahrung Rechnung, daß sie zugleich die Erwartung auf einen Ausgang schürt, der sich dieser Norm fugt. So ist der Hörer der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,Iff) darauf gefaßt, daß beim Akt der Lohnauszahlung die erbrachte Leistung honoriert wird. Wie die an der Szene Beteiligten kann er sich nur eine Lösung des Falles vorstellen, die das Prinzip der Entsprechung von Leistung und Lohn, von Tat und Tatfolge berücksichtigt. Auf einen ähnlichen Fall treffen wir in der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,1 Iff). Der Umkehrentschluß des Sohnes, der in der Fremde seinen ihm vorzeitig zugefallenen Erbanteil verspielt und sich in eine ausweglose Lage gebracht hat, birgt keinerlei Aussicht auf ein erträgliches Dasein im Haus des Vaters. Nach der Abfindung ist jeder Anspruch verwirkt, und die Hoffnung auf ein väterliches Entgegenkommen erscheint als Illusion. Entsprechend sieht der Parabelhörer

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das kommende Ergehen des Reumütigen durch dessen Tun prädestiniert. Der Schlußakt kann nur auf der Linie der abfallenden Handlungsbewegung liegen. Er muß die Tragödie besiegeln. Schließlich könnte man auf die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30fï) verweisen. Dort ist eine tragische Lösung der Krise insofern vorgezeichnet, als die Charakteristik des dritten Passanten ein Happy-End ausschließt. Weil es sich um einen Mann samaritanischer Herkunft handelt, wird die schreiende Not des Überfallenen, den man sich als Juden vorzustellen hat, nun erst recht kein Gehör finden. Es zeigt sich also, daß den Parabeln Jesu daran liegt, den Hörer in bestimmter Weise zu beeinflussen. Sie regen ihn an, imaginativ eine Krisenlösung zu entwerfen, die sich dem suggestiv in Erinnerung gebrachten Konzept seiner Erfahrung einordnet. Nicht anders verhält es sich mit der Winzerparabel. Auch hier drängt sich dem Rezipienten eine Handlungslogik im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs auf. Die Erzählung selbst insinuiert durch die Art, wie sie den Fall eines gespannten Pachtverhältnisses in Szene setzt, die Erwartung einer Sühne des Frevels. Dies besagt: Was die Auskunft von Mk 12,9b geltend macht, liegt sachlich durchaus im Horizont der erzählten Welt. Eine Strafaktion, welche die Vernichtung der Rebellen herbeiführt, erscheint in der Tat die nächstliegende Lösung des dramatisch geschürzten Knotens (vgl. 1. Kön 21,19 im Kontext der Erzählung von Nabots Weinberg 1. Kön 21,1 ff). Nun läßt sich aber nicht übersehen, daß es den Parabeln Jesu gerade fernliegt, die Erwartung des Nächstliegenden zu bestätigen. Das von ihnen tatsächlich präsentierte Finale trägt vielmehr die Züge einer überraschenden dramatischen Kehre. So berichtet Mt 20,8ff von einer Entlohnung, die den Unterschied der Arbeitsleistung ignoriert. Am Ende erhalten alle das gleiche, ob sie nun schon in der Frühe oder erst am Abend eingestellt wurden. Damit hintergeht die Erzählung das dem Hörer zugetragene Projekt einer Handlungsentwicklung, das der Signatur alltäglicher Lebenspraxis entspricht. Ebenso unpassend im Sinne der Norm des Faktischen ist es, wenn dem verlorenen Sohn am Ende in der Heimat ein festlicher Empfang zuteil wird (Lk 15,20bff)). Und daß sich ausgerechnet einer von jenen samaritanischen Apostaten zur Rettung eines geschundenen Juden bewegen läßt (Lk 10,33ff), sprengt das Konzept einer erfahrungsgeleiteten Phantasie. Immer wieder begegnen wir einer Krisenlösung, die das Muster der geläufigen Orientierungsmaßstäbe zerbricht. In der dramatisch konzipierten Gleichniserzählung Jesu verschränken sich somit die Dimensionen des Gewöhnlichen und des Außergewöhnlichen, und zwar derart, daß der Hörer irritiert, ja seiner Fassung beraubt wird. Was die Konfiguration zur Sprache bringt, for-

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dert ihn heraus, sich von einer ungeahnten Möglichkeit einnehmen zu lassen, die den verschlossenen Raum der Welt des Alltags öffnen und das Zwanghafte gelebten Daseins lösen könnte. In Anbetracht dieser Sachlage bleibt zu fragen, ob nicht auch bei der Winzerparabel, wenn sie denn als Jesuswort zur Diskussion stehen soll, ein Schlußakt extravaganter Art vorausgesetzt werden müßte, der das von der Erzählung lancierte Modell der Phantasie durchkreuzt und alles Erwartbare überbietet. Eine derartige Erwägung anzustellen scheint müßig, läßt sich doch der Überlieferung selbst kein zwingendes Indiz fur einen alternativen Erzählschluß entnehmen. Das Ganze gerät somit von vornherein in den Ruch zweifelhafter Spekulation. Allein, es ist die Eigenart der Parabelrede Jesu selbst, die zu der genannten Frage Anlaß gibt. Darum sollte wenigstens der Versuch einer hypothetischen Antwort unternommen werden. Orientiert man sich am System des Gattungsmusters sowie am Gefalle der vorgestellten Handlung, darf man wohl mit Mk 12,9b unterstellen, daß die Erzählung auf einen abschließenden Auftritt des Pachtherrn hinauswill. Gälte dieser Auftritt einer Strafaktion, haftete ihm allerdings „etwas Ohnmächtiges, um nicht zu sagen Verzweifeltes" an2. Der Gläubiger verlöre, wenn er sein Handeln vom Motiv der Rache bestimmen ließe, die bislang bewiesene und seiner Rolle gemäße Souveränität. Was kommt dann als Ziel einer die Winzer betreffenden Aktion des Besitzers in Betracht? Es müßte eine Tat sein, die sich mit der unbeirrten Art seines bisherigen Verhaltens im Einklang befindet, zugleich aber etwas Unvorhersehbares demonstriert. Nun enthät die tradierte Auskunft von Mk 12,9b ein Moment, das den Horizont des Erwartbaren übersteigt. Daß der Herr den Weinberg nicht etwa neu verpachtet (so die Variante des Matthäus), sondern verschenkt (so übereinstimmend Mk 12,9b und Lk 20,16), liegt außerhalb des durch die Erzählung selbst evozierten Erwartungshorizonts. Nach dem Wortlaut von Mk 12,9b stellt diese Schenkung freilich nur die Kehrseite der Strafaktion dar: Der Weinberg bleibt den bösen Winzern entzogen und kommt einer bislang nicht erwähnten Gruppe zugute. Wie wäre es, wenn der Erzähler das Ereignis der Schenkung urspünglich mit ganz anderen Empfangern in Verbindung gebracht hätte? Ist es phantastisch, einen Erzählschluß zu postulieren, der berichtet, daß sich der Mann am Ende selbst auf den Weg machte, zu den Winzern ging und das Weingut - ihnen als Geschenk überließ? Sollte die Erzählung urspünglich die frevlerischen Pächter selbst als die Adressaten eines skurril anmutenden Aktes überschwenglicher Güte ins Auge gefaßt haben? Diese Fragen verstehen sich als reine Möglichkeitserwägung.

2

E. BISER, Die Gleichnisse Jesu, München 1965, 139.

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Was sie zu bedenken geben, behält den Charakter einer vagen Vermutung. Doch der Reiz dieser Vermutung beruht eben darauf, daß sie eine erzählerische Zuspitzung in Rechnung stellt, die der kafkaesken Art der Gleichnisrede Jesu entspricht.

VI. Die Provokation der Verfremdung

Die Winzerparabel erzählt die unwahrscheinliche Geschichte eines alltäglichen Konflikts. Was gibt sie zu verstehen? Wer meint, diese Frage mit Hilfe sozialgeschichtlicher Belege zum gespannten Charakter antiker Pachtverhältnisse und der dabei wirksamen Rechtsgrundlagen beantworten zu können, verkennt, daß eine Parabel zwar an die Erfahrungen des Alltags anknüpft, diese aber keineswegs einfach widerspiegelt. So kommt es nicht von ungefähr, daß im vorliegenden Fall gerade unausgesprochen bleibt, was aufgrund der nächstliegenden Sachparallen historischer Quellen unterstellt werden müßte: Von einer Ausbeutung der Pächter ist so wenig die Rede wie von der eingeschränkten Macht des Pachtherrn, seinen Anspruch oder die Bestrafimg der Opponenten rechtlich durchzusetzen. Dieser Ausfall wünschenswerter Informationen widerrät dem Versuch einer sozialgeschichtlichen Erklärung des außergewöhnlichen Handlungsverlaufs. Ausschlaggebend für die Interpretation ist jedenfalls nicht der Maßstab eines erhebbaren realen Hintergrundes, sondern die Wahrnehmung des fiktionalen Charakters der erzählten Welt. Fragen wir nach der Botschaft des Gesagten, ist vom Zug der Verfremdung auszugehen, wie er sich in der Parabel abzeichnet. Bedeutsam scheint zunächst die überzogene Entfaltung und Zuspitzung der Kontroverse. Daß sich der Widerstand der Pächter zur Rebellion steigert, die selbst den Mord des Erben ins Kalkül zieht, wirkt übertrieben. Aber gerade durch das Hochspielen der Anmaßung und des Grades der Rechtsverletzung demaskiert die Erzählung eine Spielart des Alltäglichen und läßt sie zugleich als etwas Abstoßendes begegnen: Habsucht geht, wenn es sein muß, über Leichen. Wer die eigene Wertschätzung aus dem ableiten muß, was er besitzt, ist zum Schlimmsten fähig: „In der Existenzweise des Habens findet der Mensch sein Glück in der Überlegenheit gegenüber anderen, in seinem Machtbewußtsein und in letzter Konsequenz in seiner Fähigkeit zu erobern, zu rauben und zu töten"3. Aber auch das Verhalten des Pachtherrn ist überzeich-

3

E. FROMM, Haben oder Sein (dtv 1490), Stuttgart 6 1980, 83.

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net. Provoziert durch eine flagrante Mißachtung seines Anspruchs, hält er konsequent an der Ausgangsbedingung der Rechtsbeziehung fest und handelt in rätselhafter Gelassenheit, ohne schärfere Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Spätestens bei der Sendung des Sohnes gerät sein Bemühen in die Nähe des Grotesken. Denn mag der dritte Bote kraft seiner Rechtsstellung auch besondere Achtung verdienen, ihn ohne das Aufgebot einer Eskorte auf den Weg zu schicken, erscheint nach dem Vorgefallenen absurd. „So weiß man schließlich nicht, worüber man sich mehr verwundern soll, über die Arglosigkeit, mit welcher der Herr sein Liebstes der bösen Gewalt ausliefert, oder über das Vertrauen, das er in seine Großmut setzt"4. Geht es ihm wirklich nur um das Eintreiben der Pachtabgabe? Hat der Einsatz für die eigene Rechtsposition nicht zugleich die Wahrung eines Miteinanders im Sinn, auf das alle rechtliche Regulierung menschlicher Verhältnisse abzielt? Dann wäre die wiederholte Aktion des Gläubigers Ausdruck einer Zuwendimg, die eine Beziehung erhalten und Entfremdung überwinden will. Und die ihm geltende Herausforderung tangierte nicht nur sein Recht, sondern auch seine Person. Betroffen von der Eskalation einer Gewalt, die das Interesse des Habens ohne Rücksicht auf den Anspruch des Lebens durchsetzt, sieht sich der Parabelhörer provoziert, für den unerhört Kompromittierten Partei zu ergreifen. Dabei wird er unwillkürlich zum Anwalt einer Handlungslösung, die selbst der Gewalt das Wort redet: Die Situation kann nur so bereinigt werden, daß der Pachtherr das Vergehen der Pächter ahndet und Gleiches mit Gleichem vergilt. Und eben gegen diese Lösung verwahrt sich die Parabel, wenn man den oben hypothetisch ins Spiel gebrachten Schlußakt zugrunde legt. Dann hat es die Erzählung mit ihrem kunstvoll inszenierten Widerspiel von versuchter und verweigerter Verständigung gerade darauf abgesehen, das Denkprojekt der Vergeltung zu überbieten. Im nachhinein erweist sich der Weinbergbesitzer als ein Mann, der Herrschaft ausübt, indem er sich ihrer entäußert. Hatte es zunächst den Anschein, als ließe er sich das Gesetz des Handelns von seine Gegenspielern aufzwingen, so zeigt sich nun, daß er vom Anfang bis zum Schluß die Initiative behält und de facto als ein Souverän agiert, der weiß, was er will: Er tut das Gute, wo er Böses mit Bösem vergelten müßte, und macht denen, die mit ihrer Untat nicht nur seine Gunst, sondern die Möglichkeit menschlicher Beziehung überhaupt verwirkt haben, das frevelhaft Angeeignete zum Geschenk. Mit dem Willen zur Guttat ist er den Anschlägen des Bösen immer schon voraus.

4

E . BISER, a a O . , 1 3 9 .

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Auf überaus extravagante Art in Szene gesetzt, dementiert der dramatische Schluß somit nicht nur das Konzept des Habens, sondern erst recht das der Vergeltung. Er mutet dem Hörer zu, sich von der bezwingenden Kraft einer Zuwendung einnehmen zu lassen, die in ihrer Unbeirrtheit maßlos wirkt und im Kontext der alltäglichen Verhältnisse auf verlorenem Posten steht. So gesehen, erwiese sich die Winzerparabel als eine Verwandte der anderen Gleichniserzählungen Jesu, die ein und dieselbe Botschaft modulieren. Ausnahmslos machen sie auf die unerhörte Macht einer Möglichkeit aufmerksam, die den Zwängen der Wirklichkeit gewachsen ist und die darum „Gott genannt zu werden verdient"5. Indem sie den Hörer mit dem Phänomen einer Liebe konfrontieren, die ,nicht das Ihre sucht, sich nicht erbittern läßt und das Böse nicht zurechnet' (1. Kor 13,5), geben sie ihm Gott zu verstehen. So öffnen sie den Blick für die Macht der Liebe und verweisen eben dadurch auf den Ort, an dem Gott wahrgenommen sein will: „Als Liebe ist er das Geheimnis der Welt. Und durch dieses Geheimnis der Liebe gelangt der Mensch aus der Fixiertheit auf das Haben-Wollen in die Freiheit des Sein-Könnens"6.

5

E. JÜNGEL, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 5 1986, XIII.

6

E. JÜNGEL, ebd.

SPRACHE DES MÖGLICHEN Die Gleichniserzählungen Jesu im Spannungsfeld von Rhetorik und Poetik*

I. Lessings , Gleichnis ' vom Fuhrmann In seiner Kontroverse mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze ruft Lessing seinen Widersacher gelegentlich zur Selbstbesinnung: „Sie haben mir Unrecht getan; und einem ehrlichen Manne ist nichts angelegener, als Unrecht, welches er nicht tun wollen und doch getan, wieder gutzumachen. Es besteht aber dieses mir zugefügte Unrecht darin, daß Sie eine von mir geschriebene Stelle ganz wider ihren Zusammenhang zu kommentieren das Unglück gehabt. Ihr Kopf war eben wärmer als helle. Ich erkläre mich an einem Gleichnisse: Wenn ein Fuhrmann, der in einem grundlosen Wege mit seinem schwerbeladenen Wagen festgefahren, nach mancherlei vergeblichen Versuchen, sich loszuarbeiten, endlich sagt: ,Wenn alle Stränge reißen, so muß ich abladen', wäre es billig, aus dieser seiner Rede zu schließen, daß er gerne abladen wollen, daß er mit Fleiß die schwächsten, miirbesten Stränge vorgebunden, um mit guter Art abladen zu dürfen [= um sich auf einfache Art der Fracht entledigen zu können]? Wäre der Befrachter nicht ungerecht, der aus diesem Grunde die Vergütung alles Schadens, selbst alles innern, von außen unmerklichen Schadens, an welchem ebensowohl der Einpacker schuld könnte gehabt haben, von dem Fuhrmanne verlangen wollte?"1 Was Lessing als ,Gleichnis' einführt, ist ein frei erfundener Fall aus einem anderen als dem zur Debatte stehenden Lebensbereich. Es handelt sich um ein Beispiel, das die Position des Angegriffenen ins rechte Licht setzen soll. * Vortrag, gehalten auf Einladung der Universität Hildesheim (05.11.1990), dann mehrfach wiederholt: Candler School of Theology an der Emory University, Atlanta, U.S.A. (25.03.1991), Ev. Akademie Bad Segeberg (05.06.1993), Freie Universität Berlin (17.06.1993) und Εν. Stadtakademie Düsseldorf (07.10.1993). 1 Eine Parabel, in: K. WÖLFEL (Hg.), Lessings Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1967, 412; zitiert bei A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu, I, Darmstadt 1963 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1910), 79.

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Niemand kann einem Fuhrmann, der in prekärer Lage die Preisgabe der Ladung in Betracht zieht, vorhalten, er habe von vornherein nichts anderes im Sinn gehabt, als sich der Fracht zu entledigen, und müsse für den Verlust haftbar gemacht werden. Ebensowenig kann man Lessing, dem Publizisten der Fragmente des Reimarus, nachsagen, er habe es darauf angelegt, das Fundament des christlichen Glaubens zur Disposition zu stellen, „damit ein schwacher, aber großsprecherischer Feind desto eher das Feld" zu behaupten vermag2. Wenn Lessing dem Druck einer auf die Vernunft bauenden Religionskritik nachgibt, so tut er es in der Erkenntnis, daß davon die ohnehin brüchigen Pfeiler des orthodoxen Lehrgebäudes betroffen sind. Der gelebte Glaube kann dieser Stützen entraten, weil er der Wahrheit der Religion innegeworden ist und fühlt, „was andere sich zu denken begnügen"3. Religionskritik ist also deshalb an der Zeit, weil sie das Interesse der Religion selbst verfolgt. Der Hamburger Hauptpastor muß sich vorhalten lassen, diesen konstruktiven Aspekt der Position Lessings unterschlagen zu haben. Und darum wird ihm die Episode vom , Fuhrmann' unter die Nase gerieben. Lessing läßt keinerlei Zweifel aufkommen, was er mit dem Ausflug in das Speditionswesen bezweckt. Dies zeigt sein applikativer Kommentar, eine Art sarkastischer Verstehenshilfe für den Adressaten der Kampfschrift: „Dieser Fuhrmann bin ich, dieser Befrachter sind Sie, ehrwürdiger Mann"4. Damit erscheint der Schreiber als jemand, der in bedrängter Lage das einzig Richtige in Erwägung zieht, während sich sein Widerpart in der Rolle dessen wiederfindet, der redliche Absichten verdreht und als ausgekochte Perfidie denunziert. Das Beispiel vom Fuhrmann übernimmt somit im gegebenen Kontext rhetorische Funktion. Es gibt ein Modell vor, das die Streitlage widerspiegelt und zugleich in einem Sinne beleuchtet, wie sie der parteiischen Sicht des Redenden entspricht. Dabei scheint Lessing freilich weniger darauf bedacht, seinen Gesprächspartner zu überzeugen, als ihn vor einer literarischen Öffentlichkeit zu überfuhren und bloßzustellen. Das Urteil kann getrost dem Publikum überlassen bleiben.

2

Ebd. G.E. LESSING, Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt, aaO., 432; vgl. aaO.,414. 4 AaO., 412. 3

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II Rhetorisch verwendete Bildrede Daß sich der Sprache der Analogie ein argumentatives Interesse zuschreiben läßt, bedarf kaum ausführlicher Begründung. So begegnen seit alters Bildworte, Vergleiche und Beispiele, aber auch Fabeln und Gleichnisse als Formen zweckgebundener Rede, die darauf abzielt, einen Lehrsatz zu verdeutlichen, ein Urteil zu provozieren oder disputativ einer Einsicht zum Sieg zu verhelfen. Zu den Grundbedingungen dieser Art von Rede gehört, daß sie einen Kontext voraussetzt, auf den ihre rhetorische Pointe gemünzt ist. Das heißt: Nur im Rahmen eines Aussagezusammenhangs oder einer bestimmten Gesprächssituation vermag das bildlich Gesagte argumentative Kraft zu gewinnen. Auf dieser situativen Rolle beruht der Augenblickscharakter rhetorisch eingesetzter Bildrede: Sobald sie ihren didaktischen, illustrativen oder persuasiven Zweck erfüllt hat, ist sie verbraucht und läßt sich erübrigen. Was dies konkret besagt, soll im folgenden an zwei aufschlußreichen Belegen aus jüdischer Überlieferung demonstriert werden. Das Motiv der Preisgabe einer Warenladung findet sich nicht erst bei Lessing, sondern begegnet als Topos schon in einem breit entfalteten Bildwort in TestHi 18,6f. Dort gibt der redende Hiob zu verstehen, mit ihm verhalte es sich wie mit einem Menschen, „der in eine Stadt fahren will, um ihren Reichtum zu besehen und einen Teil ihrer Herrlichkeit zu ererben, und der Ware in einem seetüchtigen Schiff mit sich fuhrt und mitten auf dem Meer - eine gewaltige Woge und widrige Winde vor Augen die Ladung über Bord wirft und spricht: ,Ich will alles verlieren, wenn ich nur in diese Stadt komme, um Besseres zu ererben als die Ladung und das Schiff" 5 .

Das Stück ist präsentisch formuliert, besitzt also nicht den Charakter einer Erzählung. Wie beim Lessing-Beispiel handelt es sich um einen gesetzten Fall, der im Blick auf die Aussageabsicht der Ich-Rede Hiobs demonstrative Funktion übernimmt. Die Pointe der knapp skizzierten Lagebeschreibung kommt im Monolog des Schiffers explizit zum Ausdruck: ,Ich will alles verlieren, wenn ich nur in diese Stadt komme, um Besseres zu ererben als die Ladung und das Schiff. Aus dieser Reflexion erhellt, daß der Seemann die ihm anvertraute Fracht nicht nur deshalb über Bord wirft, weil er das Schiff und damit das eigene Leben retten will. Was die Preisgabe der

5

Vgl. den griechischen Text in der Edition von S.P. BROCK, Testamentum lobi, in: PVTG, Bd. 2, 31 f.

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Warenladung motiviert, ist vielmehr der Mehrwert des Erbes der Stadt. Es hat den Anschein, als trage dieser Einzelzug der Aussage zugleich eine metaphorische Note. Denn mit der Rede von der ,Stadt' und ihrer ,Herrlichkeit' verbindet sich die Konnotation des himmlischen Zion. Wir haben es also mit einem Bildwort zu tun, dessen Szenar z.T. überdeterminiert und durch die verhandelte Sache selbst beeinflußt ist. Von daher erklärt sich, daß das Motiv der Stadt ebenfalls in der von Hiob selbst beigefügten Applikation der Bildrede auftaucht: ,So achtete auch ich das Meinige für nichts im Vergleich mit jener Stadt, von der der Engel zu mir geredet hatte' (TestHi 18,8). Dies besagt: Auch Hiob läßt fahren, was er besitzt, und willigt in den Entzug der Lebensgüter ein, weil dieser Verlust durch den Gewinn der verheißenen Gaben des Zion mehr als wettgemacht wird (vgl. TestHi 18,5: ,Ich erinnere mich genau daran, welcher Kampf mir vom Herrn durch seinen Engel vorausgesagt war und welche Verheißungen mir zugesprochen waren'). Somit illustriert das Bildwort vom Seemann „den für die theologische Konzeption von Test Hiob maßgeblichen Grundsatz, daß das Hiob zugestoßene Leiden belohnt wird, wenn es mit Geduld ertragen wurde"6 Argumentative Funktion nehmen Bildreden nicht selten in der prophetischen und apokalyptischen Gerichtsverkündigung wahr, so auch in der Weissagung 6. Esr 2,Iff (= 4. Esr 16,2ff), die - als Völkerorakel stilisiert eine mit dem Eschaton hereinbrechende Katastrophe in Aussicht stellt. Dem jüdischen Verfasser des Orakels7 liegt offenbar daran, das angesagte Unheil als unausweichlich, das Kommen der Enddrangsal als unabwendbar zu erweisen. Zu vermuten ist, daß er sich einer Front ausgesetzt weiß, die den Ernst der Lage nicht wahrhaben will und den prophetischen Spruch verlacht. Darum sieht er sich veranlaßt, das Moment der Unentrinnbarkeit durch eine Folge rhetorischer Fragen einzuschärfen, die in die Form der Bildrede gekleidet sind (6. Esr 2,6-8): Kann einer den hungrigen Löwen im Walde vertreiben oder das Feuer verlöschen, wenn Stroh angezündet worden ist? Kann einer den Pfeil zurückschlagen, der von einem starken Schützen geschossen ist?8

6 K . B E R G E R , Materialien zu Form und Überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Gleichnisse, NovTest 15,1973, 3. 7 Zum jüdischen Charakter des Dokuments vgl. W . H A R N I S C H , Eschatologische Existenz (FRLANT 110), Göttingen 1973, 72ff. 8 Vgl. den lateinischen Text in der Ausgabe von R.L. B E N S L Y , The Fourth Book of Ezra (TSt III, No. 2), Cambridge 1895,77f.

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Im vorliegenden Kontext suchen die Aussagen die Einsicht zu vermitteln, daß einer Illusion anheimfallt, wer das in Aussicht gestellte Gericht als abwendbar ausgibt oder gar als Fata Morgana abtut. Durch die Frageform in ihrer persuasiven Kraft gesteigert, beschwören die Bildworte den Gesichtspunkt des Unausweichlichen und fordern den Adressaten an, dies Moment auf die zur Diskussion stehende Sache zu beziehen. So macht die 6. Esr 2,16 angeschlossene Applikation im Grunde überflüssigerweise explizit, was sich der Hörer selbst sagen müßte: Wie der Pfeil nicht umkehrt, versandt von einem starken Schützen, so werden die Leiden nicht umkehren, die auf die Erde ausgesandt sind.

In allen angeführten Beispielen haben wir es mit einem Typus von Bildrede zu tun, der zweckgeleitet ist. Das bildlich Gesagte versteht sich - um eine Formulierung von Theo Elm aufzugreifen - als „redepraktische Argumentationshilfe"9 und ist in dieser Funktion stets der Interessenlage eines Kontextes verpflichtet, auf den es bezogen sein will. Bildrede der genannten Art spricht also nicht aus sich und für sich10, sondern nur im Zusammenhang mit einer vorausgesetzten Redesituation. Löst man sie aus diesem Rahmen heraus, büßt sie das schlagende Moment ihrer Aussagekraft ein. Lessings rhetorische Frage, ob nur gesund werden könne, „wer die Arzenei mitsamt der Schachtel verschlingt"", wirkt nichtssagend, solange sie auf sich selbst gestellt bleibt. Ihren Reiz gewinnt sie erst vor dem Hintergrund der zur Debatte stehenden Behauptung der Orthodoxie, daß das Evangelium an den Buchstaben der Schrift gebunden und nur in dieser , Verpackung' zu haben sei. Nicht anders verhält es sich bereits mit der Nathanparabel (2. Sam 12,lb-4), die erzählt, wie ein Reicher das einzige Schaf des armen Nachbarn raubt, um anläßlich eines Gastmahls nicht auf die eigenen Bestände zurückgreifen zu müssen. Für sich selbst genommen, belegt das Dokument eines himmelschreienden Unrechts lediglich die Erfahrung des Alltags, daß Reichtum zu skrupellosem Verhalten verfuhrt. Einzelfälle dieser Art zu berichten, ist kaum der Mühe wert, weil sie nur bestätigen, was 9

Th. ELM, Die Rhetorik der Parabel. Historische Modelle, in: TH. ELM und H.H. HIEBEL (Hg.), Die Parabel. Parabolische Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts (st 2 0 6 0 ) , Frankfurt a. M. 1 9 8 6 , 1 1 . 10

Wie z.B. im Fall der Fabel (vgl. K. DODERER, Fabeln [dtv WR 4276], München

1977, 2 4 ) . 11

Axiomata, aaO., 432.

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leider der Fall ist. Bezogen auf die Rahmenhandlung von Davids Ehebruch, gewinnt die Erzählung indessen provokativen Charakter. Im Kontext der gegebenen Situation zielt sie auf eine Entlarvung des Angeredeten: ,Du bist der Mann!' (2. Sam 12,7a).

III. Die Gleichnisreden Jesu als Beispielgeschichten

(A. Jülicher)

Es ist das Verdienst Adolf Jülichers, die neutestamentliche Gleichnishermeneutik der allegorischen Auslegungskonvention entwunden zu haben12. Darum gilt er bis heute zu Recht als der Begründer der modernen Gleichnisforschung. Nun beruht sein forschungsgeschichtlicher Rang aber keineswegs allein auf der begründeten Kritik des Allegorischen. Was die bleibende Bedeutung seines Entwurfs ausmacht, ist das mit der Kritik verbundene konstruktive Interesse, die Gleichnisse Jesu als rhetorisch bedingte Sprachformen wahrnehmen zu lassen. Die Destruktion der Allegorese erscheint somit als die Kehrseite einer hermeneutischen Neubesinnung, die auf die persuasive Eigenart analogischer Sprache im Munde Jesu abhebt. Wenn Jülicher ständig betont, Jesu Gleichnisse seien unbeschadet aller inneren Formdifferenzen im Gegensatz zur Allegorie nicht deutungsbedürftig, sondern unternähmen selber Deutefiinktion, so reklamiert er fur ihr Wesen eben jene argumentative Kraft, wie sie insonderheit am Bildwort zutage tritt: „Das Gleichnis appelliert zu Gunsten eines Neuen an das allgemein Bekannte und Anerkannte ähnlicher Art. Dunkelheit verträgt diese Redeform am wenigstens ... Illustrare ist die Tendenz des Gleichnisses, nur das Illustre, was wirklich in luce steht, kann durch den Verstand den widerstrebenden Verstand bezwingen. Was selber nicht völlig fest steht, kann nie helfen, einen Nachbarn fester zu stellen; was selber nicht augenblicklich einleuchtet, kann nicht über Andres Licht mit verbreiten. Ein undurchsichtiges Gleichnis ist schlechter als gar keins. Ein Gleichnis deuten - welch ein Gedanke! Als ob man einen Bohrer holte, um einen Bohrer aus der Flasche herauszuziehen !"13 Wie vielfach herausgestellt14, bekundet sich in diesem antiallegorischen Auslegungsansatz der Einfluß Lessings mit seinen ,Abhandlungen über die

12

Vgl. Die Gleichnisreden Jesu I/II. AaO., I, 73. 14 Vgl. z.B. H.G. KLEMM, Die Gleichnisauslegung Adolf Jülichers im Bannkreis der Fabeltheorie Lessings, in: W. HARNISCH (Hg.), Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte (WdF 366), Darmstadt 1982, 343ff. 13

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Fabel'15. Gleichwohl wäre es verfehlt, Jülichers Programm allzu einlinig aus Lessings Fabeltheorie abzuleiten. Denn daß sich Fabeln (und mit ihnen Gleichnisse) eo ipso als Formen argumentativer Rede darstellen, konnte Lessing gerade nicht zugeben. Und eben dieser Einsicht weiß sich Jülicher verpflichtet. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht hält er es darum mit Herder, der gegen Lessing geltend gemacht hatte, daß es sich bei der Fabel um eine zweckgebundene Redeform handelt: „Es giebt ... eigentlich keine einfache Fabel; jede ist zusammengesetzt aus dem wirklichen Fall, auf welchen sie angewendet werden soll[,] und aus dem erdichteten, den eben für ihn der Fabellehrer aussann"16. Mit Herder plädiert Jülicher entschieden für die damit herausgestellte Unselbständigkeit des bildlich Gesagten: „Man berichtet einen einfachen Sachverhalt, der den Anwesenden zu überraschend kommen möchte. Darum stellt man einen ähnlichen Fall daneben, wogegen kein Widerspruch zu erwarten ist - so merkt der Zweifler, daß, was ihm dort unerhört däuchte, ihm anderswo geläufig ist, und das Alltägliche hilft ihm das Ungewöhnliche erkennen und seinem Erkenntnisschatze zufügen"17. Dabei ist ein allgemeines Gesetz, das beide Fälle unter sich begreift und als tertium comparationis zusammenhält, zwar vorausgesetzt, bleibt aber verschwiegen, weil die genannte Analogie für sich selber spricht. Nach Jülicher tut der Redner gut daran, „ohne Rekurs auf das Allgemeine einige andre Spezialfälle jenes Gesetzes, über die niemand falsch urteilt, den Bethörten vorzulegen und sie still dem Drucke der sinnenfälligen Evidenz zu überlassen". Wer andere zu überzeugen sucht, vermeidet den Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, weil eine „streng logische Beweisführung ... auf die Mehrzahl der Menschen überhaupt wenig" wirkt. Volkstümliche „argumentado ist allein die demonstratio ad oculos. In konkreter Form ist die Wahrheit mächtiger als abstrakt: daher die Macht des Gleichnisses. Es ist ein Beweis vom Zugestandenen auf das noch nicht zugestandene Ähnliche"18. Das angeführte Zitat könnte ebensogut einem Handbuch über die antike Rhetorik entnommen sein. An diesem Umstand zeigt sich, wie sehr Jülicher daran liegt, die Rhetorik als die Mutter der Jesus-Gleichnisse zu beanspruchen19. De facto würdigt er die Gleichnisrede Jesu ganz im Sinne der rhetorischen Lehrtradition, und zwar als einen Fall des fingierten exemplum, das 15

Abhandlungen über die Fabel, in: K. WÖLFEL (Hg.), Lessings Werke, Bd. 3, 7 f f . . Über Bild, Dichtung und Fabel, in: B. SUPHAN (Hg.), Herders Sämmtliche Werke, Berlin 1877ff, Bd. 15, 550. 17 AaO., I., 73. 18 Ebd., 72. 19 Vgl. W. HARNISCH, Die Sprachkraft der Analogie. Zur These vom ,argumentativen Charakter' der Gleichnisse Jesu, StTh 28,1974, 9ff (vgl. in diesem Bd. 45ff). 16

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in der Ratsrede das sonst übliche und persuasiv wirksamere historische Beispiel vertreten kann20. Orientierungsmuster fur Jülichers Sicht ist das Beweisverfahren der rhetorischen Induktion: „Man geht über das implizite Glied eines Allgemeinen von einem Besonderen zu einem anderen Besonderen über"21. Statt den strittigen besonderen Fall aus dem Allgemeinen abzuleiten (Verfahren der Deduktion beim rhetorischen Syllogismus), stellt ihm der Redner einen verwandten anderen besonderen Fall (eben das exemplum) an die Seite, der eher auf das Einverständnis des Hörers rechnen kann. Das bildlich Gesagte übernimmt somit in bezug auf eine zweifelhafte, unklare oder erläuterungsbedürftige Sache (causa) die Funktion eines Beweismittels. Nach Jülicher ist eben dies persuasive Interesse auch der Gleichnisrede Jesu zu unterstellen. Hat man das erkannt, verlieren alle inneren Formdifferenzen im Korpus der synoptischen Gleichnisse an Gewicht. Zwar läßt sich zwischen erweiterten Bildworten (Gleichnissen im engeren Sinn), erzählerisch breit entfalteten Stücken (Parabeln) und Beispielgeschichten unterscheiden22. Doch worin sich alle drei Untergattungen berühren, ist das ausschlaggebende Moment einer paradigmatischen oder exemplarischen Funktion. Folgt man Jülicher, sind daher im Grunde alle JesusGleichnisse als ,Beipielgeschichten' zu behandeln.

IV. Der poetische Charakter der Parabeln Jesu Jülichers Gleichnistheorie hat in vielfacher Hinsicht Widerspruch erfahren. Schon bald monierte man, daß sie auf eine Textauslegung hinausläuft, die dem fragwürdigen Erbe liberaler Theologie verpflichtet bleibt, Jesus zum Weisheitslehrer degradiert und die eschatologische Pointe seiner Verkündigung verfehlt. Und man hielt Jülicher vor, die Formen semitischer Bildrede mit unsachgemäßen aristotelischen Kategorien schematisiert zu haben. Was aber die rhetorische Pointe seines Entwurfs betrifft, fand er weitgehend Zustimmung. So hat sich die These vom argumentativen Charakter der Gleichnisse Jesu bis heute behauptet. Sie bestimmt nicht nur die Sicht von J. Jeremias23, R. Bultmann24 und E. Linnemann25, sondern setzt sich auch in den 20

Vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik, München I960, § 413. R. BARTHES, Die alte Rhetorik, in: Das semiologische Abenteuer (es 1441), Frankfurt a. M. 1988, 58; vgl. A. HELLWIG, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Piaton und Aristoteles (Hypomnemata 38), Göttingen 1973, 160f; F.G. SLEVEKE (Hg.), Aristoteles, Rhetorik (UTB 159), München 1980,255 Anm. 84. 21

22

23

Vgl. A. JÜLICHER, aaO., I, 80.98.114.

Vgl. Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984, 17f: „Jesu Gleichnisse sind nicht - jedenfalls nicht primär - Kunstwerke, sie wollen auch nicht allgemeine Grundsätze einprä-

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neueren Entwürfen von G. Sellin26, E. Arens27 und V. Fusco28 durch, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus ist sie in der Didaktik des Religionsunterrichts als hermeneutisches Modell der Gleichnisauslegung gang und gäbe (so z.B. bei I. Baldermann29). In den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist die Gleichnisforschung allerdings von Grund auf in Bewegung geraten. Es bahnt sich eine Wende an, die mit einer radikalen Abkehr von der Position Jülichers verbunden ist. Grundlegend fur diese Kehre ist die Erkenntnis, daß die ausgeprägt erzählenden Stücke der synoptischen Tradition (Parabeln) in der Tat von anderer Art sind als die rhetorisch instrumentalisierbaren Formen von Vergleich, Bildwort und Kurzgleichnis. Dies hätte eigentlich schon Jülicher wahrnehmen müssen. Zu Recht beurteilt er nämlich die neutestamentliche Parabel als eine Schwester der antiken Fabel30. Orientiert man aber die Charakteristik der Parabel am Musterfall der Fabel, hält es schwer, die Rhetorik als die authentische Ahne dieser Sprachform zu behaupten. Denn die Fabel gehört jedenfalls von Haus aus nicht in den Bereich der Gebrauchsrede, sondern in den der Poesie. Bezeichnenderweise versah bereits Phädrus seine lateinische Ausgabe des äsopischen Fabelgutes mit dem hermeneutischen Wink: ,Vergiß nicht: Fabeln sind der Dichtung Spiel'. Dem entspricht es, wenn Herder - selbst ein Befürworter des rhetorischen Zwecks der Fabel nachdrücklich bekennt: „Ich halte die Fabel fur einen Quell, für ein Migniaturstück der großen Dichtkunst, wo man die meisten Dichtungsregeln in ihrer ursprünglichen Einfalt und gewißermaßen in Originalgestalt findet. Aus meiner Poetik laße ich mir also die Äsopische Fabel ungern rauben"31. In der Tat präsentiert sich die Fabel als ein Stück fiktionaler Literatur, als ein

gen ..., sondern jedes von ihnen ist in einer konkreten Situation des Lebens Jesu gesprochen, in einer einmaligen, oft unvorhergesehenen Lage. Weithin, ja überwiegend handelt es sich dabei ... um Kampfsituationen, um Rechtfertigung, Verteidigung, Angriff, ja Herausforderung: die Gleichnisse sind nicht ausschließlich, aber zum großen Teil Streitwaffe". 24 Vgl. Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 9 1979, 208: „Ein Urteil überhaupt wird natürlich durch alle Gleichnisse herausgefordert, und der argumentative Charakter kommt in der Form ... oft zum Ausdruck". 25 Vgl. Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1978,25.30f.35f. 26 Vgl. Allegorie und „Gleichnis". Zur Formenlehre der synoptischen Gleichnisse, in: W. HARNISCH (Hg.), Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft (WdF 575), Darmstadt 1982, 404ff.417ff. 27 Vgl. Kommunikative Handlungen. Die paradigmatische Bedeutung der Gleichnisse Jesu für eine Handlungstheorie, Düsseldorf 1982, 329f.346f. 28 Vgl. Oltre la parabola, Rom 1983 (passim); vgl. W.G. KÜMMEL, ThR 56, 1991, 39f. 29 Vgl. Die Bibel - Buch des Lernens. Grundzüge biblischer Didaktik, Göttingen 1980, 170ff. 30 Vgl. aaO., I, 94ff. 31 Aesop und Leßing, aaO., Bd. 2, 197f.

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ästhetisches Objekt im kleinen. Dies tritt am Einsatz der Darstellungsmittel zutage, an der Lakonik des Stils und der Ökonomie der Gestaltung, an der dialogischen Zuspitzung und am offenen Schluß. Das poetische Moment bekundet sich aber auch in jenen Merkmalen, die das Gefuge der erzählten Welt als maniriert erscheinen lassen. Zu erwähnen sind die Begrenzung des Personals auf zwei oder drei Figuren, der Hang, die Charaktere zu typisieren oder zu polarisieren, das Schema des Kontraste sowie die merkwürdige Schwebelage von ,Abstraktion und Anschaulichkeit', die ein Ambiente des Irrealen erzeugt. Wie Klaus Doderer anmerkt, erinnert die Handlung der Fabel an das ,Milieu des Theaters'. Analog zum Drama baut sich im Medium narrativer Fiktion ein Bühnenraum auf, eine künstlerische Sphäre', „in der mit technischen Hilfsmitteln eine Welt errichtet wird: Kulissen, Requisiten, Akteure füllen die Bühne aus, auf der gehandelt wird, um den Zuschauer aus welchen Gründen auch immer - in den Bann zu ziehen"32. Diese Wesensbeschreibung der Fabel läßt sich ohne Vorbehalt auf die neutestamentliche Parabel übertragen. Auch sie kann „das , gemachte Dasein', das Schicksal, Artefakt zu sein,... nicht leugnen". Auch in ihr begegnet „ein Stück strukturierter, geworteter Welt, ein Figurieren von Verhältnissen und Verhaltensweisen"33. Was die narrativ entfaltete Gleichnisrede Jesu vorgibt, ist eine bewußt stilisierte Konfiguration, die sich den Erfordernissen einer dramaturgischen Regie fugt. Daher könnte man sie wie die Fabel als ein in einen erzählerischen Rahmen gefugtes Drama im Kleinstformat kennzeichnen34. Das damit beschworene ästhetische Moment gewinnt erst recht an Profil, wenn man sich klarmacht, daß jede Einzelerzählung den Regeln einer Matrix folgt, die als das Strukturprinzip der Gattung ansprechbar ist. So liegt allen neutestamentlichen Parabeln die Figurenkonstellation eines dramatischen Dreiecks zugrunde35: Ein Handlungssouverän (Vater, Gastgeber, Weinbergbesitzer usf.) agiert in bezug auf zwei weitere Partizipanten, die als dramatische Haupt- und Nebenfiguren fungieren und entweder die Rolle von antithetischen Zwillingen ausfüllen (älterer und jüngerer Sohn, geladene und nicht geladene Gäste, Arbeiter der ersten und der letzten Stunde usf.) oder jeweils einen abgestuften Rang einnehmen (Boten und Winzer, Knecht und Mitknecht usf.). Zu den narrativen Grundbedingungen, die jedem Exemplar der Gattung vorgezeichnet sind, gehört 32

AaO., 52.

33

K. DODERER, a a O . , 150.

34

Vgl. R. DITHMAR, Die Fabel (UTB 73), Paderborn 1971, 103. 35 Vgl. R.W. FUNK, Die Struktur der erzählenden Gleichnisse, in: W. HARNISCH (Hg.), Gleichnisforschung (s.o. Anm. 26), 224ff; G. SELLIN, Lukas als Gleichniserzähler: die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), ZNW 65, 1974, 166ff; 66, 1975, 19ff; W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (UTB 1343), Göttingen 3 1995, 7Iff.

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ferner ein dramatisch konzipiertes Erzählgerüst (plot) von drei szenisch angelegten Episoden, das analog zum Gefalle der Tragödie bzw. Komödie entweder fur eine abfallende oder für eine aufsteigende Handlungsbewegung Raum läßt36. Nach allem Gesagten kann kein Zweifel aufkommen: Auch die Jesus-Parabel besitzt Werkcharakter und ist insofern eo ipso durch die Signatur des Künstlerischen ausgezeichnet. Dies besagt: Sie gibt sich wie die Fabel als eine selbständige Redeform zu erkennen. Mag sie gelegentlich (wie z.B. Lk 15) in den literarischen Rahmen eines Streitgesprächs eingepaßt sein, so ist dieser Lokalisierung keine zwingende Angabe über ihr sprachliches Wesen zu entnehmen. Gisbert Ter-Nedden bemerkt zum Thema der Fabel: „Eben weil es sich hier - anders als im Fall des nicht gattungsgebundenen fingierten Beispiels - um eine eigenständige Rede-Gattung handelt, besteht zwischen der Fabel und deqenigen Beredsamkeit, die der Gegenstand der Rhetorik ist, keine notwendige, sondern nur eine historisch zufallige und transitorische Gebrauchsbeziehung"37. Nicht anders verhält es sich mit der neutestamentlichen Gleichniserzählung: Von Haus aus ein autonomes Kunstwerk, das für sich und aus sich selbst Aufmerksamkeit beansprucht, läßt sie sich nur um den Preis eines Verlustes an Sprachkraft rhetorisch instrumentalisieren und als Beweismittel einsetzen. V. Das metaphorische Gepräge der erzählten Welt Wie aus dem bisher Gesagten ersichtlich, kann Jülicher der neutestamentlichen Parabel keine Sonderstellung einräumen, weil sonst seine gesamte Theorie gefährdet wäre. So erklärt sich sein Bemühen, die Parabel analog zum erweiterten Bildwort (Gleichnis im engeren Sinn) zu definieren. Nach seinem Dafürhalten sind beide Sprachformen im , Element' des Rhetorischen beheimatet. Beide übernehmen in bezug auf eine vorgeordnete Sachgröße beglaubigende Funktion. In rhetorischer Hinsicht darf keine Redesorte der anderen gegenüber im Nachteil sein - so verlangt es der hermeneutische Ansatz: Was „das Gleichnis durch die Autorität des allgemein Bekannten und Anerkannten voraus hat", macht die auf den Einzelfall gemünzte Parabel durch „ihre Anschaulichkeit" wett38. Dem entspricht Jüli36

Vgl. D.O. VIA, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München 1970, 96f.l64ff (in Verbindung mit N. FRYE, Analyse der Literaturkritk [Sprache und Literatur 15], Stuttgart 1964, 164). 37 Das Ende der Lehrdichtung im Zeitalter der technischen Roproduzierbarkeit der Schrift, in: TH. ELM und H.H. HlEBEL (Hg.), Die Parabel (s.o. Anm. 9), 60. 38

A. JÜLICHER, aaO., I, 97.

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chers These von der Lebensechtheit und ,Naturwahrheit' der ausgeprägt erzählenden Gleichnisse: „Willkürliches und Gemachtes enthalten Jesu Parabeln im ganzen - ich mache mich anheischig, das zu beweisen - weniger als die berühmtesten Fabelsammlungen"39. Daß dieses Postulat durch den Zwang eines Systems bedingt ist, das sich den Belangen einer rhetorischen Gleichnishermeneutik verpflichtet weiß, läßt sich mit Händen greifen. Durchmustert man nämlich die neutestamentlichen Belege, wird man augenblicklich eines Besseren belehrt. Was die Parabeln Jesu von anderen Formen seiner Bildrede unterscheidet, ist offensichtlich gerade der unübersehbare Einschlag des Absonderlichen, Verschrobenen und Abwegigen in der erzählten Welt. Die Handlung entfaltet sich nicht in den Bahnen des Gewohnten und Vertrauten, sondern nimmt einen Verlauf, der den Anstrich des Außergewöhnlichen und Befremdlichen trägt. Dabei ist freilich das Alltagsübliche durchaus mit im Spiel. Der Hörer findet sich in Verhältnissen vor, die dem Muster seiner Erfahrung entsprechen. Durch Ausgangslage und Figurenbeziehung mit Umständen konfrontiert, die ihm vertraut sind, rechnet er mit einer in Grenzen kalkulierbaren Handlungsentwicklung. Die Erzählung schürt geradezu eine bestimmte Erwartung im Blick auf den Ausgang des Geschehens, indem sie beim Gehörigen alltäglicher Lebenseinstellung einsetzt. So hat es die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,Iff) förmlich darauf abgesehen, das von allen akzeptierte Prinzip der Entsprechung von Leistung und Lohn ins Bewußtsein zu rufen. Demgemäß ist der Rezipient des Erzählten auf eine Vergütung von sehen des Landbesitzers gefaßt, die der unterschiedlichen Arbeitszeit Rechnung trägt. Auch das Stück vom verlorenen Sohn (Lk 15,1 Iff) insinuiert die Norm des Tun-Ergehen-Zusammenhangs: Wer das Glück der Heimat selbstverschuldet verspielt, muß sehen, wo er bleibt; auf Wiederaufnahme in die alte Sohnesstellung darf der einmal Abgefundene jedenfalls nicht hoffen. Ahnlich verhält es sich mit der Erzählung vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,30ff). Dort ist die Aussicht auf eine Entspannung der Krise insofern verstellt, als man den Überfallenen am Ende auf die Hilfeleistung eines Mannes vom Garizim angewiesen sieht, und von dem kann ein Jude nichts Gutes erwarten. Es zeigt sich also, daß die Parabel den Hörer auf das ihm Selbstverständliche anspricht. Sie provoziert ihn, aufgrund der Vorgaben der Exposition imaginativ eine Geschichte zu entwerfen, die das Postulat seiner alltäglichen Lebensorientierung sanktioniert. Und dies Denkprojekt einer erfahrungsgeleiteten Phantasie wird nun von dem durchkreuzt, was die erzähleri39

AaO., 1,102.

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sehe Fiktion tatsächlich in Szene setzt. Weit davon entfernt, die Erwartung des Nächstliegenden zu bestätigen, gibt sie eine Krisenlösung vor, die, weil sie das Geläufige hintergeht, höchst seltsam anmutet: Arbeiter, die nur die Leistung einer Stunde vorzuweisen haben, erhalten den normalen Tageslohn, und den anderen bleibt eine in Anbetracht der Sachlage nicht unbillige Gratifikation vorenthalten (Mt 20,Iff); einem Sohn, der das Recht der Heimkehr eigensinnig verwirkt hat, wird im Vaterhaus ein festlicher Empfang zuteil (Lk 15,1 Iff); ein ausgeraubter und geschundener Jude erfahrt Rettung nicht von seinen Glaubensbrüdern, sondern ausgerechnet von einem jener verhaßten samaritanischen Apostaten, die im Sinne der faktischen Verhältnisse als Helferfiguren diskreditiert sind (Lk 10,30ff). Wie an diesen Beispielen ersichtlich, läßt sich die Parabel Jesu als eine Konfiguration kennzeichnen, in der zwei narrative Dimensionen miteinander konkurrieren40. Bei der einen handelt es sich um das in der erzählten Welt nur vorgezeichnete, dem Hörer aber suggestiv angetragene Episodenprojekt des Wirklichen, das sich dem Konzept alltäglicher Lebenseinstellung einfugt. Die andere begegnet in der Form der tatsächlich in Szene gesetzten Episodenreihung, und diese trägt die Züge einer unerhörten Möglichkeit, die das Wirkliche hintergeht und überbietet. Das Verhältnis zwischen den beiden Erzählsträngen, also zwischen der Geschichte des Wirklichen und der Geschichte des Möglichen, ist das einer gespannten Beziehung, wie es in vergleichbarer Weise bei der kühnen Metapher in Erscheinung tritt. Wenn der johanneische Jesus den Seinen zu verstehen gibt: ,Die Tür bin ich' (Joh 10,9a), so werden in dieser Aussage semantisch unverträgliche Größen aufeinander bezogen. Wir haben es mit einer widersinnigen Prädikation zu tun: Ein dingliches Subjekt (,Tür l ) soll einem persönlichen Prädikat (,Ich') zugeordnet werden. Doch eben darin liegt die Zumutung metaphorischer Sprache41. Der Hörer ist beansprucht, sich auf die ungehörige Verbindung einen Reim zu machen, der semantisch unstimmigen Aussage etwas Stimmiges abzugewinnen. Und an der Art seiner Reaktion entscheidet sich, ob er die Sprache nur Seiendes abbilden läßt oder ob er ihr die schöpferische Kraft zuschreibt, allererst ins Werk zu setzen, was ist. Dies besagt: In der Wahrnehmung metaphorischer Rede steht auf dem

40 Zu den folgenden hermeneutischen Erwägungen vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s.o. Anm. 35), 141ff.l51ff. 41 Vgl. W. KLAIBER, Die Aufgabe einer theologischen Interpretation des 4. Evangeliums, ZThK 82, 1985, 306 und ebd. Anm. 19; H. WEDER, Mythos und Metapher. Überlegungen zur Sachinterpretation mythischen Redens im Neuen Testament, in: B. JASPERT (Hg.), Bibel und Mythos. Fünfzig Jahre nach Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1560), Göttingen 1991, 50f, in Verbindung mit R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes (KEK 2 2 1 ), Göttingen 1986, 167 Anm. 2.

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Spiel, ob der Sprache nur mimetische Funktion zusteht oder ob sie zugleich poetische, und das heißt: kreative Potenz besitzt42. Dieselbe Alternative ist im Blick auf die neutestamentliche Parabel zu bedenken43. Es hat nämlich den Anschein, als stelle sie einen Parallelfall zur metaphorischen Aussage dar. Auch bei ihr handelt es sich um die eigenwillige und problematische Verschränkung von zwei unverträglichen Größen, nur daß sich diese nicht auf der Satzebene, sondern im Medium einer narrativen Fiktion vollzieht. Und auch bei ihr ist der Hörer angefordert, der Irritation der Spannung standzuhalten. Er hat das Widerspruchsverhältnis, mit dem er konfrontiert ist, zu .bearbeiten', und dies geschieht, sobald er den Zusammenprall der Geschichten des Wirklichen und des Möglichen in der eigenen Existenz zum Austrag kommen läßt.

VI. Die Botschaft der Extravaganz Nach dem bisher Gesagten bleibt festzuhalten, daß Jesu Parabel wie die Fabel als eine selbständige Redeform aufgefaßt sein will. Was sie zur Sprache bringt, steht nicht in einer Zweckbeziehung zu einer außerhalb ihrer selbst stehenden Größe, auch nicht zum Begriff der Basileia. Würdigt man die Parabel als Redeereignis der Verkündigung Jesu, ist von der ihr gelegentlich beigegebenen Einleitungswendung (,mit der Königsherrschaft Gottes verhält es sich wie mit...') abzusehen. Sie gehört einem sekundären Stadium der Überlieferung an44. Dann stellt sich aber um so drängender die Frage nach der Referenz des Erzählten. Was geben die Gleichniserzählungen im Munde Jesu zu verstehen, wenn sie als ,autonome Kunstwerke' (D.O. Via) zu beurteilen sind? Zunächst ist von der Einsicht auszugehen, daß die Jesus-Parabel, sofern sie ein ästhetisches Objekt darstellt, anziehend wirkt. Sie fesselt die Aufmerksamkeit des Hörers, indem sie ihn der fiktional entworfenen Welt eines Dramas aussetzt45. Allein, indem die Parabel alles Interesse auf sich selbst versammelt, weist sie auch schon über sich hinaus. Die zentripetale Bewegung ästhetischer Wahrnehmung schlägt selbst in eine Gegenbewegung 42

Zur Sache vgl. H. WEDER, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 157ff.l60ff. 43 Eine gegenläufige Auffassung vertreten H. WEDER (Die Gleichnisse Jesu als Metaphern [FRLANT 120], Göttingen 4 1990) und M.S. KJÄRGAARD (Metaphor and Parable [AThD 20], Leiden 1986), insofern sie den Sonderstatus der ausgeprägt erzählenden Gleichnisse von vornherein in Abrede stellen. 44 Vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s.o. Anm. 35), 174ff. 45 Vgl. D.O. VIA, aaO., 34.75ff.

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zentrifugaler Art um, und als der Hebel für diese hermeneutische Kehre erscheint das Moment der ,Extravaganz'46, das dem Erzählten innewohnt. Es ist die pointierte Verfremdung der alltäglichen Verhältnisse, die aufhorchen läßt. Aber welche Botschaft macht sich im Medium der Verfremdung vernehmbar? Die Antwort liegt auf der Linie des bisher Gesagten. Wir erinnern uns: Was die Parabel Jesu mit Hilfe einer verstiegenen Zuspitzung des Erzählverlaufs heraufbeschwört, ist ein Konflikt zwischen dem Erwartbaren und dem Außergewöhnlichen, zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen47. Dabei will nun aber beachtet sein, daß dieser Konflikt entbergende Kraft besitzt, und zwar im Blick auf beide polarisierten Größen. Einerseits vollzieht sich nämlich im Prozeß der Verfremdung eine Demaskierung des Alltagsbekannten. Indem das Wirkliche ins Licht des Möglichen gerät, enthüllt es sich als das Gefüge einer Werkwelt, in der sich der Mensch aus dem versteht, was er aus sich macht. Das Gewohnte entpuppt sich als der zwanghaft verschlossene Raum des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Andererseits gewinnt das Mögliche, das sich als das Movens oder Subjekt der Verfremdung ansprechen läßt, gerade im Widerspiel zum Wirklichen sein Profil: Es erscheint in den Konturen einer bestimmten Größe, nämlich als die aus der Sicht der Werkwelt ungeahnte Macht der Liebe, die vom Verhängnis des Wirklichen zu befreien vermag: ,Ist dein Auge etwa böse, weil ich gütig bin?'(Mt 20,15) Die Parabel Jesu läßt keinen Zweifel daran, daß sie den Konflikt zugunsten des Möglichen entschieden wissen will, ja, sie bekundet sich selbst als Sprache des jetzt Möglichen. Aber diese Sprache erschließt sich nur dem, der den in der Erzählung szenisch dargestellten Antagonismus von alt und neu als das Problem der eigenen Existenz entdeckt. Erst wenn das erzählte Drama als ein Drehbuch wahrgenommen wird, das eine ,Auffuhrung' in der Lebenswelt des Adressaten evoziert, macht sich die Botschaft der Parabel vernehmbar. Anders gesagt: Die in der erzählerischen Fiktion wirksame metaphorische Spannung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen drängt zu einer sie aufhebenden neuen Einsicht. Doch wird diese allererst dadurch entbunden, daß sich der Adressat vom Gefalle der szenischen Bewegung einnehmen und über das wirklich Vorstellbare hinaustragen läßt. Dann gewahrt er in der Liebe die Erscheinungsweise einer schöpferischen Macht des Möglichen, die eben aufgrund ihres unbedingt kreativen Charakters Gott zu verstehen gibt. Und in der Befindlichkeit des Betroffenen weiß er sich zu einem Glauben angestiftet, der dieser Macht zutraut, das als mög46 Vgl. P. RICŒUR, Biblische Hermeneutik, in: W. HARNISCH (Hg.), Gleichnisforschung (s.o. Anm. 26), 308f.324ff. 47 Vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s.o. Anm. 35), 15Iff.

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lieh Behauptete tatsächlich zu ermöglichen, nämlich den Alltag der Welt in einen Raum der Liebe zu verwandeln. So gesehen, läßt sich vielleicht doch von einer rhetorischen' Potenz der Parabel Jesu reden. Aber dabei handelt es sich eben um jene bezwingende Kraft, wie sie der Poesie selbst eigen ist48. Und diese Rhetorik der Poesie hat mit den persuasiven Interessen zweckgebundener Rede nichts zu tun. Die Parabel Jesu zeichnet sich vielmehr gerade dadurch aus, daß sie ihren Zweck in sich selber trägt. Anders gesagt: Sie stellt eine Konfiguration dar, bei der Sprachform und Sache konvergieren. Diese Einsicht zu beherzigen, scheint einer exegetischen Forschimg unerschwinglich, die sich bis heute am Denkmodell der Analogie orientiert und alle Formen der Bildrede Jesu im Horizont dieses Musterfalls zu deuten unternimmt. Doch fragt es sich eben, ob Metapher und Parabel überhaupt als Phänomene der Analogie gewürdigt sein wollen. Sollte der Theologie nicht zu denken geben, daß man sich z.B. von seiten der Literaturwissenschaft strikt weigert, die Sprachformen von Fabel und Parabel mit der Kategorie des ,Gleich-nisses' in Verbindung zu bringen49?

4 8 TH. ELM nimmt als Möglichkeit wahr, Jenseits der Opposition von Rhetorik und Poesie der Poesie selbst rhetorische Wirkkraft abzugewinnen" (aaO., 22). 49 Vgl. z.B. TH. ELM, aaO., 2 1 .

DIE BEFREIENDE ZUMUTUNG DES WIDERSINNIGEN Eine hermeneutische Skizze zu Matthäus 5,38-42

In Johann Peter Hebels , Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes' findet sich unter dem Titel ,Gutes Wort, böse Tat' die Erzählung1 von einem Bauern, der dem Schulmeister seines Dorfes, auf den er „schon lange einen Verdruß" hatte, nicht nur eine, sondern gleich zwei Ohrfeigen verpaßt, und dies mit Berufung auf das von jenem im Unterricht traktierte Wort der Bergpredigt „So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar" (Mt 5,39b). Der derart Attackierte revanchiert sich mit zwei Hieben der gleichen Art, ja, er gibt „ihm noch ein halbes Dutzend drein", weiß er doch ebenfalls die Schrift auf seiner Seite: „Mit welcherlei Maß Ihr messet, wird Euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in Euren Schoß geben" (Lk 6,38b.c)2. Auf den Vorfall aus einiger Entfernung aufmerksam geworden, sendet ein Edelmann den ihn begleitenden Jäger um Aufklärung. Der berichtet ihm: „Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die Heilige Schrift aus". Daß diese exegetische Praxis auf Taschenspielertricks beruht und die Schrift vergewaltigt, sollte selbst einem theologischen Laien unmittelbar einleuchten, und er kann des beigegebenen Epimythions im Grunde entraten: „Merke: man muß die Heilige Schrift nicht auslegen, wenn man's nicht versteht, am allerwenigsten so"3. Weder läßt sich Mt 5,39b als Freibrief für handgreifliche Aggression beanspruchen noch Lk 6,38b.c als Legitimation fur eine entsprechende Gegenhandlung. Was die erzählte Episode kolportiert, ist eine ironische Parodie auf den sachgemäßen Umgang mit der Schrift. Aber auch wenn man sich Eskapaden der gekennzeichneten Art verboten sein läßt und die Grenzen des ex-

1

J.P. HEBEL, Werke, München 1954,104. Das Wort findet sich (freilich mit vertauschter Satzfolge!) im Anschluß an die lukanische Perikope vom Gebot der Feindesliebe, in der auch die Sachparallele zu Mt 5,39b begegnet (vgl. Lk 6,29a). 3 Das Nachwort des Erzählers, nach dem der Abusus am Ende mit Sanktionen belegt wird (der Bauer muß sich für sechs Tage in Haft nehmen lassen, und der Schulmeister hat seinen Abschied zu nehmen), strapaziert den Merksatz in kaum erträglicher Weise. 2

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egetisch Zulässigen einhält, bleibt strittig, worauf es die anstößige Logienreihe Mt 5,39b-41 im Rahmen der fünften Antithese (Mt 5,38-42) eigentlich abgesehen hat. Wie weit reicht der Spielraum des hermeneutisch mehr oder weniger Diskutablen? Inwiefern gibt sich die skurril anmutende Spruchfolge als ein , gutes Wort' zu verstehen, das den zwanghaft verfaßten Regelkreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen vermag? Die folgende Studie ist durch Fragen dieser Art provoziert. In einem ersten Durchgang sollen Eigenart, Gefalle und Zielsetzung der Aussagesequenz von 5,38-42 unter Rückgriff auf exegetisch Bewährtes vorläufig profiliert werden. Der zweite konzentriert sich auf das hermeneutische Problem der Referenz des in 5,39b—41 Gesagten. In Rücksicht auf diese begrenzte Aufgabenstellung bleiben Erwägungen zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Stückes, die auf einen umfassenden Vergleich zwischen Mt 5,3848 und Lk 6,27-36 angewiesen wären, weitgehend außer Betracht.

Der Wortlaut der fünften Antithese der Bergpredigt (5,38^42) läßt sich im Deutschen folgendermaßen wiedergeben: (38)

(39)

(40)

(41) (42)

Ihr habt gehört, daß gesagt wurde: ,Auge um Auge und Zahn um Zahn'. Ich aber sage euch: Leistet dem Bösen keinen Widerstand! Sondern: Wer dich auf deine rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin! Und dem, der sich mit dir gerichtlich auseinandersetzen und [als Pfand] dein Untergewand nehmen will, dem laß auch den Mantel! Und wer dich zu einer Meile [Weggeleit] zwingt, mit dem geh zwei! Dem, der dich bittet, gib, und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab!

Die eigentliche Antithese (5,38.39a) ist mit dem Kontext insofern verzahnt, als sie mit der vorausgehenden vierten die Formulierung des Verbots Jesu durch μή mit Infinitiv (vgl. 5,34) und mit der folgenden sechsten die ver-

98

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kürzte Einführungswendung (ήκούσατε ότι έρρή-θη [vgl. 5,43]) teilt. Vier Einzelweisungen (5,39b-42), in der Form einer correctio (μή ... άλλά) an den Prohibitiv von 5,39a angeschlossen, gegenüber dem pluralisch gefaßten Vortext indessen auffällig in der 2. Person Singular gehalten, wollen anscheinend als Konkretionen des Verbots 5,39a verstanden sein. Sieht man von 5,42b ab, weist die Reihe eine kunstvoll stilisierte Anordnung auf: In der Gestaltung entsprechen sich das erste und das dritte sowie das zweite und das vierte Glied. Im ersten Fall ist die Protasis als Relativsatz (δστις), im zweiten als Partizip im Dativ (τω Φέλοντι, τφ αντούντι) formuliert. In der Apodosis findet sich jeweils ein Imperativ, und zwar bis auf eine Ausnahme (5,41b4) im Aorist. Anders steht es mit der strukturell überschießenden Phrase 5,42b: Das Partizip begegnet an dieser Stelle im Akkusativ, und der Imperativ ist negativ gefaßt. Dennoch soll das Doppelwort 5,42 wohl als Einheit wahrgenommen werden5. Die antithetische Fassung des Stückes dürfte im Gefolge der insonderheit auf R. Bultmann zurückgehenden ,Normalhypothese'6 als redaktionelle Angleichung an das Antithesenschema der Tradition in 5,21.22a; 5,27f und 5,33.34a zu beurteilen sein: „Wie der Vergleich mit Lk 6,27-36 verdeutlichen kann, geht die Substanz der fünften und sechsten Antithese auf die QÜberlieferung zurück, in der diese Tradition jedoch nicht antithetisch geformt war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Redaktor Matthäus die antithetische Formung (v. 38-39a und v. 43-44) geschaffen. Von ihm stammt auch die Gliederung des ursprünglich einheitlichen Stoffes in zwei Abschnitte: in die Antithese von der Wiedervergeltung und die von der Feindesliebe; denn in der Q-Quelle ist zwischen beidem nicht unterschieden worden"7. Was die Spruchreihe 5,39b-42 angeht, sind verschiedene Differenzen gegenüber der lukanischen Version (Lk 6,29f) zu notieren: Nur Matthäus redet von der rechten Backe (5,39b). Beim Wort von der Preisgabe eines Gewandes ist im Sinne der Matthäus-Variante (5,40) an eine Prozeßsituation gedacht, während die lukanische Fassung (Lk 6,29b) einen Raubüberfall voraussetzt (daher die Abfolge: Mantel - Untergewand). Der Fall der Nötigung zum Mitgehen begegnet nur in der matthäischen Reihe

4 Zur Verwendung des präsentischen Imperativs ΰπαγε „für bestimmte einmalige Handlungen" vgl. Bl-Debr (Rehkopf), § 336,3. 5 Dafür spricht auch das 5,42b eröffnende kopulative καν, das zu Beginn von 5,42a im Unterschied zum Auftakt von 5,40 und 5,41 ausgelassen ist. 6 Vgl. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995, 143f; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1/1), Neukirchen-Vluyn / Zürich 1985, 345f. 7

G . STRECKER, D i e B e r g p r e d i g t , G ö t t i n g e n 2 1 9 8 5 , 8 5 .

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(5,41). Wie bei der vom Gewandmotiv bestimmten Weisung bietet Lukas auch im letzten Glied der Serie (Lk 6,30b) die radikaler gedachte Version: Wieder ist der Umstand eines Raubes insinuiert. Welche traditionsgeschichtlichen Konsequenzen sich aus dieser Sachlage ergeben, muß hier offenbleiben. Nicht abwegig scheint die Vermutung, daß alle vier in der Matthäus-Fassung belegten Weisungen für die Logienquelle zu reklamieren sind, wenn auch möglicherweise in einer vom vorliegenden Text z.T. abweichenden Formulierung8. Was macht den befremdlichen Charakter der fünften Antithese aus? Worin liegt das hermeneutische Problem einer sachgemäßen Rezeption des dort Gesagten? Derartige Fragen einer Klärung näherzubringen, dient die Erinnerung an einige exegetisch relevante Gesichtspunkte zum Verständnis von 5,38.39a (1.) und 5,39b-42 (2.). 1. Grundlegend für den Aussagezusammenhang ist der schroffe Antagonismus von 5,38 und 5,39a. Wie ein Vergleich mit Ex 21,24; Lev 24,20 und Dtn 19,21 zeigt, rekapituliert die These (5,38) das alttestamentliche ius talionis, und zwar in einer abgekürzten Form, die das Prinzipielle der Rechtsregel rhetorisch intensiviert. Der Gesichtsspunkt der talio, der archaische Züge trägt und auch in anderen Rechtskodizes der Antike (z.B. im Kodex Hammurapi) verankert ist, zielt von Haus aus wohl auf eine Abwehr überzogener Sanktionen, die blinder Rachsucht entspringen (vgl. Gen 4,23f) und den Täter der Willkür des Geschädigten oder der seine Interessen wahrnehmenden gesellschaftlichen Instanz ausliefern. Wie H. Weder anmerkt, ist die „eigentliche Intention dieses Rechtsgrundsatzes ... nicht etwa die Legalisierung der Vergeltung, sondern vielmehr die Reduktion der Vergeltung auf das gerechte Maß. Für ein Auge nicht mehr als ein Auge, das ist der Tenor dieses Prinzips. Es dokumentiert daher den Versuch, die Eskalation des Bösen zu verhindern"9. Orientiert man sich am jeweiligen Kontext der drei alttestamentlichen Belege (Ex 21,22-25; Lev 24,17-21; Dtn 19,1621), reguliert die Formel im Rahmen von Vorschriften für die forensische Handhabung eines bestimmten casus die Äquivalenz der Beziehung zwischen Tat und Tatfolge: „Im Gesetz bezüglich des Schutzes einer schwangeren Frau, in Ex 21,22-25, fordert sie die Angemessenheit der Wiedergutmachung im Falle fahrlässig verursachter Körperverletzung, in Lev 8

Zur Sache vgl. A. VÖGTLE, Ein „unablässiger Stachel" (Mt 5,3[9]b-42 par Lk 6,2930), in: H. MERKLEIN (Hg.), Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg / Basel / Wien 1989, 53-70, bes. 63. 9 H. WEDER, Die „Rede der Reden", Zürich 3 1994, 133; vgl. CHR. DIETZFELBINGER, Die Antithesen der Bergpredigt (ThEx 186), München 1975, 39f; M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition (MThSt 37), Marburg 1993, 199f.

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24,18 in Verbindung mit dem Element,Leben' fordert sie die Angemessenheit der Schadensersatzleistung im Falle der Sachbeschädigung, in Lev 24,20 die Angemessenheit der Wiedergutmachung im Falle vorsätzlicher Körperverletzung, und in Dtn 19,21 fordert sie eine Entsprechung in der Strafzumessung von Meineid und dem vom Meineidigen beeidigten Verbrechen"10. Überall geht es um maßvolle, auf die Korrespondenz zwischen Delikt und Sanktion abhebende rechtliche Vorgaben fur die Urteilsfindung. Der provokative Reiz der Gegenbehauptung Jesu (5,39a) liegt darin, daß sie dem Prinzip des ius talionis apodiktisch den Abschied gibt. Sie markiert nicht besondere Umstände, die ein Abweichen von der Regel gestatten, sondern setzt die Regel selbst außer Kraft, sofern aus ihr ein Anspruch auf Kompensation ableitbar ist11. Jesus gebietet, dem Bösen überhaupt keinen Widerstand entgegenzusetzen. Es ist müßig, die Frage zu diskutieren, ob πονηρός an der vorliegenden Stelle neutrische oder maskulinische Valenz besitzt; denn „wenn ich dem bösen Menschen keinen Widerstand leiste, wenn ich sein Tun an mir geschehen lasse, dann leiste ich einer Erscheinungsform des Bösen (neutrisch) keinen Widerstand"12. Nun könnte man darauf verweisen, daß sich auch jüdische Tradition am Gesichtspunkt der Selbstpreisgabe zu orientieren vermag, wie ihr denn eine auf Racheverzicht und Leidensbejahung bezogene Haltung keineswegs fremd ist13. Doch versteht sich der Gedanke einer Einwilligung in das Widerfahrnis des Bösen als ein Theologumenon, das die Geltung der überkommenen Rechtsordnung und damit auch die des ius talionis nicht tangiert. Demgegenüber zielt die Weisung Jesu auf eine Suspendierung eben dieser Rechtsordnung, die eine

10

L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Zu einem antijüdischen Klischee, BiLi 63, 1990, 163-175, 171 (ausführlich begründet in: DERS., Das Bundesbuch [Ex 20,22-23,33], Studien zu seiner Entstehung und Theologie [BZAW 188], Berlin / New York 1990, 79-128). F. CRÜSEMANN (vgl. Die Tora, München 1992, 175ff. 188ff) bezweifelt, daß die talio im Bundesbuch von vornherein auf finanzielle Ausgleichszahlungen gemünzt war, und hält Ex 21,24f für einen sekundären Einschub, der nicht „nur gegen die Klassenjustiz mit ihrer Differenz zwischen Freien und Sklaven, auch gegen die finanzielle Regelung der körperlichen Schäden" protestiert (191). 11 Daß dies der ursprünglichen Funktion der Regel zuwiderläuft, pointiert L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, „Auge um Auge, Zahn um Zahn" (s. Anm. 10), 166: „Mit der Talionsformel ist derjenige angeredet, der den Schaden verursacht hat, und nicht derjenige bzw. diejenige, dem bzw. der der Schaden zugefügt wurde". 12

13

CHR. DIETZFELBINGER (s. A n m . 9), 4 0 f .

Vgl. W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Matthäus (ThHK I), Berlin 1968, 171f; A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum (WUNT 15), Tübingen 1974, 304ff; D. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern (FzB 17), Würzburg 1977, 57f; I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes (SBS 98), Stuttgart 1980, 89f.

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Entschädigung nach dem Talionsprinzip vorsieht. Indem sie die Hinnahme des Bösen verlangt, setzt sie den Grundsatz der talio, soweit er als Hebel der Selbstbehauptung zu fungieren vermag, außer Kraft. 2. Wie angedeutet, erscheinen die vier folgenden, mit der Konjunktion αλλά angeschlossenen Mahnungen (5,39b-42) als konkrete Entfaltungen des in 5,39a gebotenen Restitutionsverzichts. Sieht man näher zu, erweist sich dieser Eindruck indessen als irreführend. Denn was die Weisungen nahelegen, ist weit mehr als das in der Antithese Formulierte, und wie es möglich sein soll, ihrer Anforderung im Lebensvollzug zu entsprechen, scheint zumindest im Blick auf die ersten drei Sprüche rätselhaft. Das Eingangslogion (5,39b) faßt die Situation einer handgreiflichen Auseinandersetzung ins Auge. Der Angeredete wird mit dem Fall konfrontiert, daß er von einem anderen einen Backenstreich erhält. Dabei fallt nicht der erlittene Schmerz, sondern die erfahrene Demütigung ins Gewicht. Möglicherweise ist daran gedacht, daß der Schlag auf die rechte Wange eine besondere Schmähung darstellt, kann er doch normalerweise nur mit dem Handrücken ausgeführt werden14. Deutet man das Attribut δεξιός in diesem Sinn, nimmt man freilich eine ,mißliche Antiklimax' in Kauf: „Nachdem du das größere Unrecht (= den Schlag auf die rechte Backe) erlitten hast, sollst du auch das kleinere auf dich nehmen"15. So empfiehlt es sich wohl eher, aus dem präzisierenden δεξιά ν keine tiefsinnigen Schlußfolgerungen auf den besonders beleidigenden Charakter des Delikts abzuleiten. Entscheidend ist, daß der Adressat der Weisung dazu angehalten wird, nicht nur nicht zurückzuschlagen, sondern dem Angreifer auch noch die andere Backe anzubieten. Daß dieser Ratschlag allen Regeln der Klugheit hohnspricht, liegt offen zutage. Die Empfehlung ist jedenfalls kaum durch das Kalkül motiviert, der Schlagende könne auf diese Weise bloßgestellt und „zur Besinnung auf das Unrecht seines Tuns" bewogen werden16. Sie dürfte darum auch nicht für das Anliegen einer ,Entfeindungsliebe'17 zu reklamieren sein. Denn daß der Angreifer seiner Aggression nun erst recht freien Lauf läßt und einen zweiten Schlag austeilt, läßt sich ja nicht ausschließen. Was die Mahnung auszeichnet, ist gerade das Moment fehlender

3

14 Vgl. J. GNILKA, Das Matthäusevangelium (HThK 1/1), Freiburg / Basel / Wien 1993, 182. 15 U. LUZ (s. Anm. 6), 292 Anm. 15. 16

CHR. DIETZFELBINGER (S. A n m . 9 ) , 6 2 ; v g l . E. LOHMEYER, D a s E v a n g e l i u m d e s

Matthäus ( K E K I / 2 1 7 ) , Göttingen 1 9 6 7 , 1 3 9 (vgl. 141). 17 Vgl. P. LAPIDE, Die Bergpredigt - Utopie oder Programm?, Mainz 8 1992, lOOff.; dazu kritisch U. Luz (s. Anm. 6), 294.

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Berechnung. Ihr signifikantes Merkmal besteht darin, daß sie jeder zweckrationalen Plausibilität entbehrt. Beim zweiten Fall (5,40) ist an die Situation eines Pfandungsprozesses gedacht. Die Weisung versetzt den Adressaten in die Rolle eines Armen, der damit rechnen muß, von einem anderen belangt und gerichtlich zur Hinterlegung seines Untergewandes verpflichtet zu werden. Ihm wird bedeutet, gleich auch noch den Mantel als zusätzliches Pfand auszuhändigen, ohne daß eine entsprechende Anforderung ergangen wäre. Bedenkt man, daß der Wert des Mantels den des Untergewandes bei weitem übertrifft, und stellt man sich vor Augen, daß der Betreffende dann völlig unbekleidet wäre, wird deutlich, daß hier etwas verlangt wird, das als undurchführbar erscheint. Es handelt sich um eine Mahnung, die in ihrer Zuspitzung außerordentlich befremdlich wirkt, zumal sie einer Schutzvorschrift wie Ex 22,26f (vgl. Dtn 24,12f) hohnspricht: ,Falls du wirklich den Mantel deines Nächsten als Pfand nimmst, so sollst du ihn bis Sonnenuntergang ihm zurückgeben. Denn er ist seine einzige Decke, er ist seine Umhüllung fur seine Haut. Worin soll er sonst schlafen?'18 So bleibt festzustellen, daß in 5,40 ein Akt von Selbstpreisgabe angeraten wird, der das Maß des Zumutbaren übersteigt. Denn wer ist auf eine Verzichtleistung ansprechbar, die auf die eigene Entblößung hinausläuft? Das Empfohlene steht im Widerspruch zu dem, was sinnvollerweise empfohlen werden kann. Es unterminiert den Sinn einer Weisung und verkehrt ihn ins Absurde. Im dritten Fall (5,41) geht es um eine ,„autoritätsmäßige' Nötigung"19: Man „wird an den Zwang zu denken haben, den Militärpersonen auf Zivilpersonen ausüben und mit dem sie diese zur Dienstleistung, etwa zur Führung durch unbekanntes Gelände veranlassen. Solcher Frondienst wird mit einem aus dem Persischen stammenden Lehnwort (άγγαρεύειν) beschrieben, das die Bedeutung ,zur Fronleistung nötigen' hat. Verständlicherweise war derartiger Frondienst den Juden verhaßt. Das Logion 5,41 aber empfiehlt, den verhaßten Frondienst nicht nur willig zu leisten, sondern die Leistung aus freien Stücken zu verdoppeln: verlangt der fremde und feindlich gesonnene Partner, ich solle eine Meile mit ihm gehen, dann soll ich seiner Forderung nicht nur nachkommen; ich soll sie noch weit übertreffen"20. Erwartbar wäre an dieser Stelle allenfalls das Erdulden der oktroyierten Maßnahme, eine Reaktion, die bereits über die nächstliegende Möglichkeit des aktiven oder passiven Widerstandes hinausginge. Daß der Requirierte aber

18 19 2 0

Übersetzung nach J. GNILKA (S. Anm. 1 4 ) , 1 8 3 . E. KLOSTERMANN, Das Matthäusevangelium (HNT 4), Tübingen 4 1971, 48. C H R . DIETZFELBINGER ( s . A n m . 9 ) , 4 4 f .

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das erzwungene Weggeleit auf das Doppelte ausdehnen soll, erscheint als eine völlig abstruse Anweisung. Die Zumutung des dritten Spruches überschreitet noch drastischer als die der zuvor genannten die Grenzen des Vorstellbaren. Insofern erheben sich Zweifel gegenüber der verbreiteten exegetischen Annahme, die Reihe von 5,39b-42 sei antiklimaktisch gestaltet21. Man gewinnt vielmehr den Eindruck einer von Fall zu Fall gesteigerten Absurdität des Gebotenen. Dem entspricht die Skala der thematisierten Umstände und der darauf bezogenen Einbußen: „Jesus gave a set of three cases extremely parallel in form and expanding in content from one's person (cheek) to one's possessions (coat) to one's time and labor (miles)"22. Auf der Folie dieser in sich einheitlichen und vom rhetorischen Mittel der amplificatio bestimmten Trilogie wirkt die Doppelmahnung des vierten Spruchs (5,42) deplaziert. Sie ordnet sich der Reihe nur gekünstelt ein, zumal sie kaum eine Zwangslage voraussetzt, die unwillkürlich zum Widerstand reizt, sondern den Normalfall eines vergleichsweise eher unproblematischen Hilfeersuchens anspricht: Der Adressat findet sich in der Rolle eines Gebetenen und nicht in der eines Geschädigten, Belangten oder unter Druck Geratenen vor23. Wie U. Luz herausstellt, entspricht die Anforderung, zu geben und zu leihen, traditionell jüdischen Empfehlungen der Wohltätigkeit und läßt die „charakteristische Überspanntheit" der vorausgehenden Weisungen vermissen24. Sie entschärft die Provokation des dort Gesagten und unterliegt auch insofern sachkritischen Bedenken, als sie der kompositioneilen Strategie des ganzen Stückes zuwiderläuft. Denn die Kombination von 5,39a und 5,39b-41 ist doch unverkennbar durch den Gesichtspunkt einer Überbietung des einen durch das andere dirigiert. Was in der Spruchreihe geltend gemacht wird, radikalisiert das Vergeltungsverbot. Jesu Weisung begnügt sich nicht mit der Forderung des einseitigen Widerstandsverzichts25. Sie empfiehlt mehr als Passivität, nämlich eine im Kontext des Gewohnten grotesk erscheinende Aktivität. In dieser Steigerung deutet sich ein .qualitativer Sprung' (H. Weder26) an: Es gilt, noch mehr aufzubringen als den Verzicht auf Vergeltung. Was auch 21

S o z . B . CHR. DIETZFELBINGER (S. A n m . 9 ) , 4 5 A n m . 1 3 7 ; G . STRECKER (S. A n m . 7 ) ,

87. 22

J.D. CROSSAN, Raid on the Articulate, New York / Hagerstown / San Francisco / London 1976,65. 23 Zur Sache vgl. Α . VÖGTLE (S. Anm. 8), 54FF. 24 U. LUZ (s. Anm. 6), 296. 25 Vgl. G. THEISSEN, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38^8/Lk 6,27-38) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: DERS., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989,160-197, 168.177. 26

H . WEDER (S. A n m . 9 ) , 131, v g l . 1 3 3 f .

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immer den Evangelisten zur Anfìigung (oder wohl eher Übernahme) der doppelten Schlußmahnung in 5,42 veranlaßt haben mag, festzuhalten bleibt, daß sie dem Sachinteresse der Aussagefolge von 5,38-41 Abbruch tut und, weil sie der Note des Skandalösen entbehrt, die rhetorische Kraft des Ganzen schwächt.

II. Wenn es zutrifft, daß der sachliche Schwerpunkt der fünften Antithese auf der Spruchreihe in 5,39b-41(42) liegt, stellt sich um so dringlicher die Aufgabe, der Provokation des Textes auf den Grund zu gehen und zu präzisieren, was es mit dem ,Stachel' 27 der Zumutungen Jesu auf sich hat. Worauf wollen die merkwürdigen Mahnungen hinaus? Worin besteht das durch sie aufgeworfene hermeneutische Problem? Um Anhaltspunkte fur eine Beantwortung dieser Fragen zu gewinnen, empfiehlt sich zunächst eine Klärung der formkritischen Eigenart der Logien. In der Regel werden sie als Beispiele für die in 5,39a angeführte Gegenbehauptung Jesu beansprucht28. Doch kollidiert diese Zuordnung mit der Einsicht, daß die Spruchfolge das in 5,39a Gesagte transzendiert und keine Illustration des Vergeltungsverzichts darstellt29. Nun wird der Beispielcharakter der Mahnungen auch ohne Bezug auf den gegebenen rückwärtigen Kontext unterstellt. Dann scheint als Bezugsgröße allgemein der Bereich menschlichen Handelns vorausgesetzt, und die Mahnungen verstehen sich als Modellfälle ethischer Orientierung. So bestimmt R.C. Tannehill die Textsorte der Logien in 5,39b-42 als ,focal instance'30. Es soll sich um den Typ einer Weisung handeln, die wie in einem Brennpunkt ein gebotenes Verhalten vorgibt, freilich im Medium einer indirekten Vorschrift. Denn was die Sprüche auszeichnet, ist s.E. die Korrelation einer spezifischen Ausgangslage (,specificness') und eines überzogen wirkenden Anspruchs 27

Vgl. den Titel des o. g. Beitrags von A. Vögtle (s. Anm. 8), der auf eine entsprechende Formulierung R. Schnackenburgs anspielt. 28

V g l . n u r E. LOHMEYER (s. A n m . 16), 1 3 8 ; CHR. DIETZFELBINGER (S. A n m . 9 ) , 4 3 ;

G. STRECKER (S, Anm. 7), 87; I. BROER, Friede durch Gewaltverzicht? (KRB 25), Stuttgart 1984, 30. 29 Wäre dies der Fall, müßte es, wie P. HOFFMANN (Die bessere Gerechtigkeit, BiLe 10, 1969, 264-275, 266) zutreffend konstatiert, ,ja in der zweiten Spruchhälfte jeweils heißen: .Halte ihm die Wange hin', ,Laß ihm das Gewand', ,Geh mit ihm den Weg' und ähnlich". 30 Zum Folgenden vgl. R.C. TANNEHILL, The „Focal Instance" as a Form of New Testament Speech: A Study of Matthew 5,39b-^2, JR 50, 1970, 372-385, bes. 376ff.

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(,extremeness'). Infolge der Spannung zwischen der Extravaganz der Forderung und der Normalität des Lebens sei eine wörtliche Befolgung des Gebotenen verlegt. Daher sehe sich der Rezipient des Gesagten gehalten, den Schock der Provokation imaginativ zu bearbeiten, nämlich das entdeckte Gesetz der Serie (,pattern') kreativ auf analoge Situationen zu beziehen und für derartige Fälle eine prinzipiell offene Reihe von Verhaltensanweisungen zu entwerfen, die durch das Modell suggeriert werden. Bezeichnenderweise insistiert Tannehill darauf, daß das Modell und seine Referenz ein und derselben Sachebene angehören: „The focal instance is not taken from a different realm of discourse; it is an instance of the field of meaning to which the saying refers"31. Freilich stelle es ein extrem überspanntes Beispiel dar, das im Unterschied zu den sonst üblichen exempla in der Lage sei, gewohnte Maßstäbe des Denkens und Handelns in Frage zu stellen. U. Luz macht sich dies hermeneutische Konzept weitgehend zu eigen, nur daß er anders als Tannehill ein in der Spruchfolge inhärentes Moment des Fiktionalen wahrnimmt. So stellt er fest, „daß Jesu Forderungen mehr wollen, als sie konkret verlangen: Die drei Beispiele verdeutlichen ,brennpunktartig', was Jesus für einen viel weiteren Bereich des Lebens meint. Sie sind gleichsam verdichtete Bilder für ein Verhalten, das es in allen Bereichen des Lebens zu entdecken und zu verwirklichen gilt. Insofern wollen diese Gebote zwar befolgt werden, aber nicht einfach wörtlich, sondern so, daß in neuen Situationen das, was sie fordern, in Freiheit, aber in ähnlicher Radikalität immer wieder neu zu ,erfinden' ist"32. Die Charakteristik sucht der Komplexität des zur Debatte stehenden Phänomens Rechnung zu tragen, indem sie die formkritischen Kategorien von ,Beispiel' und ,Gebot' mit dem Moment des Bildhaften in Verbindung bringt, aber sie schillert insofern, als sie von diesen Kriterien Gebrauch macht, ohne die zwischen ihnen waltende Beziehung aufzuklären. Differenzierter urteilt Chr. Dietzfelbinger,

31 R.C. TANNEHILL (S. Anm. 30), 384. Mit diesem Dekret bemüht sich Tannehill, den kreierten Formtyp des ,focal instance' vom sprachlichen Phänomen der Metapher abzusetzen (vgl. 384f), wie er ihn andererseits auch von der Figur der Hyperbel abhebt: „... hyperbole refers to things which are obviously impossible: a log in the eye or a camel passing through the eye of a needle. The focal instance stands at the edge of the impossible" (384); anders H. WEINACHT (Gleich noch eine, in: U. SCHOENBORN / ST. PFÜRTNER [Hg.], Der bezwingende Vorsprung des Guten [FS W. Harnisch], Münster / Hamburg 1994, lOf), der sich im Blick auf das Ausmaß des Widersinnigen in 5,39b-41 m.E. zu Recht veranlaßt sieht, von ,,hyperbolische[r] Paradoxie" (11) zu reden (vgl. E. FUCHS, Hermeneutik, Tübingen 4 1970,231). 32 U. L u z (s. Anm. 6), 295 (Ην. von mir); in der Tendenz ähnlich G. LOHFINK, Wem gilt die Bergpredigt?, Freiburg / Basel / Wien 1988,45.

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wenn er die Sprüche als ,bildwortartige Anweisungen'33 kennzeichnet. Diese Etikettierung hat den Vorzug, daß sie den Mahncharakter der Sprüche als dominantes formkritisches Merkmal beansprucht, während die Nähe zum Bildwort als ein zusätzliches Kriterium ins Spiel gebracht wird. Allein, auch hier bleibt in der Schwebe, was diese Qualifizierung eigentlich besagt. Alle drei genannten Positionen suchen auf ihre Weise dem Umstand Rechnung zu tragen, daß den betreffenden Mahnungen ein über sie hinausweisender Zug innewohnt: Als Anweisungen für ein konkretes Verhalten sind sie zu befolgen, aber eben ,nicht einfach wörtlich'. Es hat den Anschein, als sei das durch diesen Vorbehalt signalisierte hermeneutische Problem im Rahmen der angesprochenen Interpretationsentwürfe zwar in Sicht genommen, aber kaum zureichend reflektiert, geschweige denn gelöst. Wie soll einer Handlungsanweisung entsprochen werden, die nicht beim Wort genommen sein will? Welche Chance hat die Verwirklichung' einer auf Praxis drängenden Anforderung, die es auf eine in Wirklichkeit absurde Aktion abgesehen hat? Was ist von einer ethischen Zumutung zu halten, die, weil sie ethisch Unzumutbares nahelegt, mit sich selbst im Streit liegt? Weiterführend könnte in diesem Zusammenhang der Versuch sein, das Gepräge der Sprüche in 5,39b-41 vor dem Hintergrund eines bestimmten sprachlichen Repertoires zu beleuchten. So hat J.D. Crossan vermutet, daß die Jesus-Logien im Sinne der alttestamentlichen Sätze des kasuistischen Rechts entworfen sind, die darin wirksame Logik indessen in charakteristischer Weise verdrehen34. Denn was als Rechtsfolge in der Apodosis geltend gemacht wird, steht zu dem in der Protasis angesprochenen Rechtsfall in einer höchst gespannten Beziehung. Die Kopie der Struktur verbindet sich mit dem Moment einer sachlichen Dissonanz, so daß die Logien den Charakter von Parodien des alttestamentlichen Vorbilds annehmen35. Nun er-

33 34

V g l . CHR. DIETZFELBINGER (S. A n m . 9), 61. V g l . J.D. CROSSAN (s. A n m . 22), 6 3 f f .

35 Vgl. J.D. CROSSAN (s. Anm. 22), 67: „My own theory is that Jesus' set of three situations represents case parody, a deliberate and comic subversion of the wise and prudent necessity of case law. It is clear that they have the standard format of case law ... : opening in a hypothetical situation; protasis of offender to offended; and apodosis of offended to offender. But the parody appears in the content within this set format, and most especially in the ridiculous discrepancy of the usual measured harmony and appropriate balance between protasis and apodosis". Mit Berufung auf M. HEIDEGGERSS Satz „Wesentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, daß der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet" (Über den „Humanismus", in: DERS., Piatons Lehre von der Wahrheit, Bern 2 1954, 115) gibt Crossan zu bedenken, die auf subversiver Verdrehung des Sprachmusters beruhende Parodie „does ... turn case and law and rule backwards towards their source and, by blocking any literal interpretation of its own dictum as ridiculous, remind us over

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scheint die von Crossan vorgenommene formkritische Zuordnung als zweifelhaft. Obwohl die Sprüche z.T. rechtliche Konnotationen besitzen, zielen sie nicht auf die Regelung eines Rechtsverfahrens, sondern, wie der Anredestil und insonderheit die sachliche Ausrichtung der Instruktionen (um es vorsichtig zu sagen) jedenfalls insinuieren, auf eine Orientierungshilfe im konkreten Verhalten. Als Genre-Paradigma ist daher ein anderes Vorbild, nämlich das der Mahnung weisheitlicher Rede, in Rechnung zu stellen, die sich an den typischen Gesetzesstil36 anlehnen kann, aber nicht die Beziehung von Rechtsfall und Rechtsfolge im Blick hat37. Gleichwohl behält der Wink Crossans auch unter dieser veränderten Prämisse in hermeneutischer Hinsicht Bedeutimg. So entsprechen die Vordersätze der Jesus-Logien denen der weisheitlichen Sprüche, die eine Kondition vorgeben38: ,Wenn dich einer auf die Backe schlägt ... (a), dein Hemd pfändet ... (b), von dir eine Dienstleistung erpreßt,... (c)'. Die Setzung des Falls evoziert die Erwartung einer im Nachsatz gegebenen Hilfestellung weisheitlicher Prägung: (Wenn dir jemand derartiges antut,) dann ,(a) warte auf eine günstige Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen, (b) kehre deine unglückliche Lage heraus, (c) passe dich der Situation an, bis du fliehen kannst'. Ratschläge dieser Art in der Apodosis stünden insofern in Kontinuität mit den Fallangaben der Protasis, als sie das im Rahmen der Logik weisheitlicher Rede Erwartbare erfüllten. Nichts dergleichen findet sich in den Nachsätzen der Weisungen Jesu. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, daß sie die von den Vordersätzen geschürte Erwartung einer Handlungsorientierung, wie sie sich im Horizont weisheitlicher Reflexion aufdrängt39, hintergehen, und zwar in einer selbst

and over again that to abide with the Holy is more fundamental than any case law and is itself original ethics and fundamental morality" (69). 3 6

V g l . R . B U L T M A N N (S. A n m . 6 ) , 1 3 9 u n d e b d . A n m . 1; E . LOHMEYER (S. A n m .

16),

138. 37 So zu Recht I. BROER (S. Anm. 28), 30f und bes. D . ZELLER (s. Anm. 13), 56, der allerdings verkennt, daß im Fall von 5,39b-41 die Absurdität des Geforderten die Konsistenz des verwendeten Sprachmusters unterminiert. Auch bei R. B U L T M A N N (S. Anm. 6) begegnet das Stück unter den weisheitlich geprägten Mahnworten (vgl. 82 in Verbindung mit den Angaben 73.80 und ebd. Anm. 1) mit prophetischer Akzentuierung (vgl. 126), andererseits aber irreführenderweise zugleich unter der Rubrik .Gesetzesworte und Gemeinderegeln' (vgl. 143 in Verbindung mit 138). 38 Vgl. D. ZELLER (s. Anm. 1 3 ) , 5 6 : „Die einleitende [Partizipialkonstruktion] entspricht dem sonst bei weisheitlichen Mahnungen üblichen [Konditionalsatz], der die Umstände beschreibt". 39 Etwa in Form einer Klugheitsregel, mit der sich auch ein Schwacher zu wappnen vermöchte, oder in der einer List, durch die der Schwache den Starken zu Fall bringen könnte.

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die Zumutung des Vergeltungsverzichts von Spr 24,2940 qualitativ übertreffenden Radikalität. Empfohlen wird das ganz und gar Unerwartbare: ,halte auch die andere Backe hin, laß auch den Mantel als Pfand zurück, biete die Doppelung der erzwungenen Dienstleistung an'. Was folgt aus diesen Beobachtungen für die Bestimmung der Referenz des in 5,39b-41 geltend Gemachten? Zunächst ist festzuhalten, daß die Logien zwar vom vorgegebenen Sprachmuster weisheitlicher Handlungsanweisung Gebrauch machen, dies zugleich aber hintergehen, indem sie widersinnige Handlungen nahelegen. Anders gesagt: Das in der Apodosis tatsächlich Empfohlene steht in einer extremen Spannung zu dem, was das verwendete Sprachmuster insinuiert. Von daher gesehen, scheint es geraten, die Instruktionen als metaphorische Äußerungen zu charakterisieren. Die metaphorische Qualität des Gesagten beruht eben auf der Spannung zwischen dem Genre einer bestimmten weisheitlichen Rede und der dieses Genre de facto unterminierenden Art der Anweisung, und es ist dieser Widerspruch, der den Rezipienten dazu veranlaßt, die Referenz der Zumutung auf einer anderen Ebene als der wörtlichen, und das wäre die einer zugemuteten Handlung, zu suchen41. Es geht also nicht darum, daß dem Gebotenen wenn auch nicht wörtlich, so doch in jedem Fall durch konkrete Aktionen nachzukommen wäre. Vielmehr scheinen die Logien, sofern sie sich als metaphorische Äußerungen ansprechen lassen, eine zwar ethisch belangvolle, das Feld des Ethischen selbst aber transzendierende Pointe zu besitzen. Was das sich als Handlungsempfehlung gerierende Wort auf metaphorische Weise zu verstehen gibt, läßt sich am ehesten als ein Denkanstoß

40 ,Sage nicht·. ' - eine Weisung, die freilich durch die Hoffnung auf Jahwes Einschreiten geleitet ist (vgl. Spr 20,22). 41 Wie bei denjenigen Weisheitsworten der Jesus-Überlieferung, die, wie P. RICOEUR im Anschluß an W.A. BEARDSLEE (vgl. Uses of the Proverb in the Synoptic Gospels, Interp. 24, 1970, 61-73) notiert, eine vorgetäuschte Lebensorientierung durch das Mittel paradoxer oder hyperbolischer Zuspitzung zu vereiteln suchen, wird die weisheitliche Redeform in 5,39b-41 „gleichzeitig rezipiert, überschritten und zerbrochen" (Biblische Hermeneutik, in: W. HARNISCH [Hg.], Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft [WdF 575], Darmstadt 1982, 248-339, 322). Aber was durch diesen Vorgang entbunden wird, ist im vorliegenden Fall eine metaphorische Referenz, die sich aus der Spannung zwischen dem Genre weisheitlicher Instruktion und der Extravaganz des tatsächlich Gebotenen herleitet. Es handelt sich um einen metaphorischen Prozeß, der mit dem der Parabeln sehr enge Berührungen aufweist (zur Sache vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu [UTB 1343], Göttingen 3 1995, 151fï).

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begreifen42, und dieser kommt dann ans Ziel, wenn der Adressat der Impertinenz des Gesagten etwas Einleuchtendes abzugewinnen vermag. Sowenig nämlich die Zumutung des Widersinnigen in einem zweckrationalen Sinn als plausibel erscheint, sosehr beansprucht sie eine eigene Evidenz anderer Art. Diese beruht darauf, daß die nahegelegte absurde Selbstbeteiligung am Widerfahrnis einer Beraubung das Moment des Gegensätzlichen in der Beziehung selbst außer Kraft zu setzen und aufzuheben vermag43. Ja, als Metaphern betrachtet, suchen die Logien die Augen dafür zu öffnen, daß Oppression nicht nur überwunden wird (vgl. Rom 12,21), sondern gar kein Objekt besitzt, sofern die radikale Hingabe an das Gute in Erscheinung tritt44. So stimulieren die seltsamen Sprüche die Phantasie, machen die Adressaten auf ein mögliches Sein in der Liebe aufmerksam, von dem Feindschaft im vorhinein ausgeschlossen ist, und indem sie diese Wahrnehmung zumuten, räumen sie zugleich den Glauben an die Möglichkeit dieses Seins ein. Auf diese Weise ruft die Provokation des Widersinnigen ins Zentrum der konkret erfahrenen Lebenswelt zurück, und ihre bezwingende Kraft, die jeder Begründung entraten kann, besteht darin, daß sie die Liebe am Ort der alltäglichen Verhältnisse als eine befreiende und weltbewegende Macht zu erhellen versteht, die auf Glauben wartet.

42 Vgl. E. FUCHS (S. Anm. 31), 231, der zu Mt 5,39b-41 bemerkt: „Diese Formulierungen sind ... nicht... direkte Zumutungen, sondern sie wollen zur Besinnung anregen". 43 Vgl. J.D. CROSSAN (s. Anm. 22), 66f. 44 Etwas Ähnliches hat W. HUBER (Feindschaft und Feindesliebe, ZEE 26, 1982, 128158, 140) im Blick, wenn er z. St. das vertrackte Ineinander von Regelform sowie Hyperbolik des Geforderten bedenkt und feststellt: „Um Übertreibungen handelt es sich darum, weil sie in der Form einer allgemeinen Regel formulieren, was allgemein als undurchführbar erscheinen muß. Sinnvoll aber sind sie gerade darin, daß sie das Prinzip der Gegenseitigkeit relativieren und die Einsicht im Hörer zu wecken vermögen, daß einseitiges, in diesem präzisen Sinn ,zuvorkommendes' Handeln möglich ist und Veränderungen zu bewirken vermag" (Hv. von mir). Sosehr diese Äußerung beachtet, daß den befremdlichen Sprüchen eine disclosure-Funktion zukommt, die der Einsicht in das Mögliche verpflichtet ist, sowenig vermag sie sich vom Gedanken der Praktikabilität des Zugemuteten zu lösen. Unmißverständlich heißt es denn auch im selben Zusammenhang: „Die Allgemeinheit der Form mutet uns zu, in jeweils besonderen Situationen nach Chancen einseitigen, zuvorkommenden Handelns zu suchen, durch welches Feindschaft durchbrochen und Gewalt beendet werden kann" (ebd.). Hier wie auch anderswo (vgl. nur A. VÖGTLE [s. Anm. 8], 68) ist m.E. grundlegend verkannt, daß sich die Provokation des Widersinnigen jeder ethischen Realisierung, und sei sie noch so radikal und revolutionär, entzieht. Dabei handelt es sich um ein Urteil, das durch den Text selbst autorisiert und nicht etwa durch die Trivialität vorliegender Applikationsversuche (vgl. z.B. R.C. TANNEHILL [s. Anm. 30], 383) belegbar ist.

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Zumutung des Widersinnigen

In Franz Werfeis Roman ,Der Abituriententag'45 meint der Protagonist, ein Untersuchungsrichter, in dem von ihm befragten und des Prostituiertenmordes beschuldigten Mann einen Klassenkameraden vor sich zu haben, den er selbst in früher Jugend aus abgründigem Neid hintergangen, verraten, verbrecherisch um alle Chancen gebracht und fast in den Tod getrieben hat. Das Geschick dieses ehemals verhaßten Konkurrenten ist noch einmal in seine Hand gegeben. Doch in Wahrheit sind die Rollen vertauscht: Im Bewußtsein der eigenen Schuld weiß sich der Richter dem nunmehr gerichtlich Beklagten ausgeliefert, und jener hat für den Fall des beiderseitigen Wiedererkennens die Macht, sein schuldhaft verwirktes Leben definitiv zu zerstören. Verzweifelt klammert sich der Schädiger an die Hoffnung auf ein Wort, auf ein einziges Wort des Geschädigten: „Ich weiß, daß es Vergeltung gibt, aber keine Verzeihung. Denn Vergeltung ist Gesetz, Verzeihung nicht ... Es ist Wahnsinn, aber ich bitte dich um das, was es nicht gibt". Auf eine Konstellation dieser Art bezogen, fugt sich auch eine Weisung wie die von 5,42a in die anstößige Reihe einer Zumutung des Widersinnigen ein46. Denn wenn es sich bei dem Gebetenen um einen handelt, dem durch die Tat des Bittenden himmelschreiendes Unrecht widerfuhr, gewinnt das Verlangte die Züge einer unerhörten Provokation: Der Geschädigte soll etwas weltlich Unmögliches aufbringen, nämlich das unerschwinglich scheinende Entgegenkommen des Verzeihens. In der Szene des Romans bleibt dieser Akt der Liebe aus, weil die Annahme des Untersuchungsrichters auf einem Irrtum beruht: Der Beklagte ist nicht die Person, an der er sich verschuldet hat. Und doch verweist gerade die Aporie der erzählerischen Fiktion auf die Notwendigkeit einer Zumutung, die der Liebe das Wort redet und sie in den wirklichen Umständen der Lebensbezüge möglich sein läßt.

45 F. WERFEL, Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld (Fischer TB 9455), Frankfurt a. M. 1966. 46 Nach F. NEUGEBAUER (Die dargebotene Wange und Jesu Gebot der Feindesliebe, ThLZ 110, 1985, 865-876, 869), will das Wort vom Bittenden und Leihenden (5,42) auf der Textebene, also bereits im Sinne des Matthäus, „auf den Feind als Person" bezogen sein, „dem man im Normalfall jede Bitte abschlagen würde". Doch wird auf diesen Umstand im Unterschied zu 5,39b-41 Jedenfalls nicht ausdrücklich abgehoben" (so zu Recht

A . VÖGTLE [s. A n m . 8 ] , 5 5 ) .

DIE BERUFUNG DES REICHEN Zur Analyse von Markus 10,17-27

/. In Synopsen und Kommentaren begegnet der Abschnitt Mk 10,17-31 häufig unter dem Titel ,Von der Gefahr des Reichtums'. Damit ist ein Gesichtspunkt pointiert, der das gängige Verständnis des Textes kennzeichnet. Von der Vita Antonii bis zur parodistischen Verwendimg des KamelNadelöhr-Wortes bei Christian Morgenstern entnimmt man der Perikope die Warnung, daß irdischer Reichtum das Heil des Menschen gefährdet. Wie die Wirkungsgeschichte des Textes in kirchlicher und exegetischer Tradition zeigt, gilt Mk 10,17ff als Hauptbeleg für die christliche These der Unvereinbarkeit von Reichtum und Gottesdienst, Besitz und Heil. Auch in exegetischen Versuchen neueren Datums wird der Gesamtzusammenhang der Perikope als ein Zeugnis beansprucht, das Jesu Stellung zum Besitz dokumentiert. Man beruft sich insonderheit auf die Logien Mk 10,23b.25 und gelangt wie H. Braun zu der Feststellung: „Jesus meint ganz einfach: Besitz und Teilnahme am Endheil schließen sich so gut wie immer aus. Reichtum ist geistlich gefahrlich"1. Braun gibt zwar zu bedenken, daß Jesus „die Forderung des Besitzverzichtes nicht generell, nicht starr, nicht abgesehen von einer individuellen Situation erhoben hat"2. Wie ein synoptischer Vergleich der Evangelien insgesamt erkennen läßt, geht die „verschärfte Verneinung des Besitzes nicht auf den historischen Jesus" zurück, sondern ist „speziell von dem dritten Evangelisten eingebracht"3. Dieser Sachverhalt kann nach Braun jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hochschätzung der Armut und „Verdächtigung des Reichtums"4 als typische Merkmale von Jesu Praxis anzusehen sind. S. E. ist nicht zu verkennen, „daß der historische Jesus wie die verschieden akzentuierenden Strömungen der Gemeinde1

Jesus (Themen der Theologie Bd. 1), Stuttgart/Berlin 1969,106. Ebd., 108 3 Ebd., 111; zur Sache vgl. H.-J. DEGENHARDT, Lukas - Evangelist der Armen, Stuttgart 1965. 4 AaO., 106. 2

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tradition einig sind in der Überzeugung: der Besitz ist eine geistlich gefahrliche Sache; die materielle Armut ist nicht etwas Schlimmes, sondern etwas Begrüßenswertes"5. Ob dieses Urteil generell zutrifft, kann hier nicht entschieden werden. Eine umfassende Kritik der Sicht Brauns ist im folgenden nicht beabsichtigt. Meine Überlegungen orientieren sich vielmehr ausschließlich an der Frage, ob als der eigentliche Gegenstand des Textes Mk 10,17-31 tatsächlich das Problem des Besitzverzichtes zu betrachten ist. Es gilt also zu prüfen, mit welchem sachlichen Recht der Abschnitt immer wieder thematisch auf den Gesichtspunkt der Gefahr des Reichtums bezogen wird. Im Vordergrund des Interesses steht dabei die Frage, welche Tendenz der vormarkinischen Überlieferung eigentümlich ist, die der Evangelist in Mk 10,17-31 verarbeitet hat. II.

Ich beginne mit einigen literar- und formkritischen Erwägungen zum Gesamtkomplex Mk 10,17-31. Untersucht man den Text auf Nahtstellen und Brüche, so ist zunächst eine Zäsur zwischen den w . 22 und 23 festzustellen. Als erster in sich geschlossener Abschnitt wird somit Mk 10,17-22 erkennbar. Es handelt sich dabei um ein Traditionsstück, das R. Bultmann der Gattung der Schulgespräche zuweist6. Markus hat wohl nur die Einleitung (vgl. v. 17a) redaktionell bearbeitet7. Aufs Ganze gesehen, ist das Apophthegma „korrekt gebaut und einheitlich konzipiert: Jesu Worte haben nur Sinn in bezug auf die Fragen"8. Man kann allerdings schwanken, ob der Schluß der Erzählung v. 22 bereits dem ursprünglichen Bestand der Überlieferungseinheit angehörte; denn in der Regel findet sich das entscheidende Wort Jesu am Schluß eines Apophthegmas. Im übrigen erweist sich zumindest v. 22b als überflüssig, ist doch der Hörer schon durch das zuvor Gesagte darüber orientiert, daß es sich bei dem Dialogpartner Jesu um einen vermögenden Mann handelt (vgl. v. 21). Obwohl die Erzählung einen Einzelfall vor Augen führt, dürfte die Idealität der dargestellten Szene kaum zu 5

AaO., l l l f . Vgl. Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 3 1957, 20. 7 Vgl. R. BULTMANN, ebd.; DERS., Die Frage nach dem messianischen Bewußtsein Jesu und das Petrus-Bekenntnis, in: E. DINKLER (Hg.), Exegetica, Tübingen 1967, 5; K.L. SCHMIDT, Der Rahmen der Geschichte Jesu, Nachdruck Darmstadt 1964, 24If; E. LOHMEYER, Das Evangelium des Markus (KEK I/2 15 ), Göttingen 1959, 207 Anm. 1; R. PESCH, Naherwartungen, Düsseldorf 1968, 84. 8 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 20. 6

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bezweifeln sein9. Der Einzelfall ist nur insoweit von Interesse, als sich an ihm eine alle angehende Wahrheit beispielhaft abzeichnet. Als abwegig erscheint somit die gelegentlich10 geäußerte Vermutung, daß hinter dem Bericht die Reminiszenz an eine konkrete historische Begebenheit stehen könnte. Sosehr nun die w . 17-21(22) zunächst für sich zu betrachten sind, sowenig kann bei der Interpretation des Abschnitts von den folgenden Aussagen gänzlich abgesehen werden11. Die Einsicht in diesen Sachverhalt erschließt sich allerdings erst aus einer literarkritischen Analyse von Mk 10,23-31. Auch dieser Aussagenkomplex ist in sich nicht einheitlich. Ein markanter Einschnitt ist zwischen den vv. 27 und 28 wahrnehmbar. Die Petrusbemerkung v. 28 zeigt einen Neueinsatz des Gesprächs an. Sie leitet einen weiteren Abschnitt ein, der die w . 28-31 umfaßt. Diesem Komplex liegt ein wohl ursprünglich selbständiges Logion vom königlichen Lohn v. 29.30a zugrunde. Der Evangelist hat das Wort um die w . 28.30b.c sowie den traditionellen Spruch v. 31 erweitert und redaktionell mit der Perikope vom Reichen verklammert12. Ich beschränke mich im folgenden auf eine Erörterung des Zwischenstücks v. 23-27, das enger mit dem Apophthegma verbunden ist als der sich mit dem Lohn der Entsagung befassende Nachtrag v. 28-31. Der Abschnitt v. 23-27 enthält eine Reihe schwerwiegender Probleme. Anstößig ist der zweimalige Ansatz der Rede Jesu: και περιβλεψάμενον ò ' Ιησούς λέγει τοις μαΰηταις αύτού (v. 23a) - ό δε Ιησούς πάλιν αποκριθείς λέγει αύτοις (ν. 24b). Merkwürdig berührt das Nebeneinander speziell an die Reichen gerichteter und allgemein gehaltener Logien. Einerseits heißt es: πώς δυσκόλως οί τα χρήματα εχοντες εις τήν βασιλείαν τού ϋεού είσελεύσονται (ν. 23b). Dem entspricht das paradoxe Wort v. 25: εύκοπώτερόν έστιν κάμηλον δια της τρυμαλιας της ραφίδος διελϋειν ή πλούσιον εις τήν βασιλείαν τού Φεού είσελϋείν. Andererseits wird generell behauptet: τέκνα, πως δύσκολόν έστιν εις τήν βασιλείαν τού ϋεού 9

Mit R. BULTMANN, ebd., 57; vgl. M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 5 1966,48. 10 Ζ. B. bei W. ZLMMERLI, Die Frage des Reichen nach dem Leben, EvTh 19, 1959, 97; K.-G. REPLOH, Markus - Lehrer der Gemeinde, Stuttgart 1969,200. 11 Dies erhellt insonderheit aus dem Aufsatz N. WALTERS, Zur Analyse von Mc 10,1731, ZNW 53, 1962, 206ff (dazu s. u.). Die Einbeziehung von Mk 10,23ff ist schon aus dem Grunde unerläßlich, weil die These, Mk 10,17-22 sei Illustration der Gnome 10,25 (s. u.), auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden muß. 12 Vgl. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 115; N. WALTER, aaO.,216f.

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είσελΦειν (ν. 24c). Dieser Aussage korrespondiert sachlich die Frage v. 26b im Schlußteil des Dialogs: και τίς δύναται σωι3ηναι;. Unmotiviert scheint schließlich der wiederholte Schrecken der Jünger (vgl. v. 24a.26a). Das Stück enthält offenbar Dubletten und widersprüchlich klingende Aussagen. Wie stark man sich der Unebenheiten der markinischen Überlieferung bewußt war, zeigt sich einerseits an der Wiedergabe des Textes bei Matthäus und Lukas. Beide Seitenreferenten sahen sich zu Glättungen veranlaßt: „gleichermaßen elegant" haben sie die Schwierigkeiten der Vorlage beseitigt, „indem sie den doppelten Ansatz und die szenische Unterbrechung (v. 24) einfach übergangen und so das Kamel-Nadelöhr-Wort unmittelbar an die Geschichte [sc. vom Reichen] angeschlossen haben"13. Zum anderen beweist die Textgeschichte der Markuspassage selbst, daß der Zusammenhang als inkonsequent und insofern als revisionsbedürftig erschien. So suchten die Texttradenten schon bald die Fragestellung auch in v. 24 auf den Besitzenden zu beschränken, um eine in sich geschlossene Gedankenfolge zu erzielen. Zu diesem Zweck wurde in einigen Handschriften am Ende von v. 24 entweder πλούσιον oder die gefülltere Wendung τους πεπονόότας έπί (τοις) χρήμασιν eingefügt und vereinzelt auch noch eine Umstellung der w . 24 und 25 vorgenommen14. Wie läßt sich die Uneinheitlichkeit des ursprünglichen Markustextes erklären? In der exegetischen Literatur finden sich höchst disparate Interpretationsansätze. Man versucht, „das Entstehen der Unebenheiten auf redaktionelle Einschaltung einzelner Verse in einen gegebenen Zusammenhang zurückzuführen"15. Doch ist die Beantwortung der Frage, wie zwischen Tradition und Redaktion zu scheiden ist, bislang kontrovers. Ich skizziere zunächst die Haupttypen bisheriger Lösungsversuche: These I (sie geht auf J. Wellhausen'6 zurück und wurde mit Vorbehalt von E. Klostermann17 übernommen): Der gesteigerte Schrecken der Jünger (vgl. v. 26a) ist nur dann sinnvoll, wenn das zunächst auf die Reichen bezogene Logion v. 23 im folgenden (v. 24f) verallgemeinert und auf alle Menschen bezogen wird. Der ursprüngliche Text zielte also auf einen Gedankenfortschritt vom Speziellen zum Allgemeinen. V. 25b ist dann zu eliminieren. - Im Blick auf das einhellige Zeugnis der Textüberlieferung

13

N . WALTER, aaO., 2 0 6 .

14

Zur Diskussion der Varianten vgl. N. WALTER, aaO., 212 und 208 Anm. 12.

15

N . WALTER, aaO., 2 0 7 .

16 Vgl. Das Evangelium Marci, 2. Ausg. Berlin 1909, 81; vgl. dagegen die Ausführungen der 1. Aufl. Berlin 1903, 86f, z. St. sowie die Berichtigung ebd., 146. 17 Vgl. Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 3 1936,103.

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läßt sich dieser Erklärungsversuch jedoch nicht halten. Immerhin kommt Wellhausen das Verdienst zu, die Integrität des Textes als erster auf Grund sachkritischer Erwägungen in Frage gestellt zu haben. These II (sie wurde von R. Bultmann18 erwogen und findet sich neuerdings u. a. auch bei H. Braun19): Dem Abschnitt Mk 10,23-27 liegt ein altes, die w . 23 und 25 umfassendes Apophthegma zugrunde, das wohl schon in der vormarkinischen Traditionsstufe mit den w . 17-22 verbunden war. Die w . 24 und 26f sind als sekundär zu beurteilen20. Sie gehen möglicherweise auf die Redaktion des Evangelisten zurück. Aus text- und literarkritischen Gründen ist die von Wellhausen vorgeschlagene Ausscheidung des Satzteiles ή πλούσιον εις τήν βασιλείαν του ϋεοϋ είσελΦειν ν. 25b zu verwerfen. - Bultmanns Lösung erscheint diskutabel. Sie läßt allerdings das kompositorische Interesse des Evangelisten unberücksichtigt und erklärt nicht, was diesen zur Einschaltung der w . 24 und 26f. veranlaßte. These III (sie wurde zuerst von M. Dibelius21 vertreten und begegnet später auch bei E. Percy22): Nach dieser These hatte die Geschichte Mk 10,17ff ursprünglich den Zweck, das Logion Mk 10,25 zu illustrieren. Sie wurde von vornherein nur um dieses Wortes willen erzählt, das - wie Dibelius anmerkt - „bei Markus freilich samt seiner ermäßigenden Deutung 10,27 zu einem kleinen Dialog verarbeitet ist"23. Die w . 23f sind also ebenso wie der Schluß (v. 26f) der Hand des Evangelisten zuzuweisen. - Auch diese Erklärung vermag nicht plausibel zu machen, warum Markus dann einen zusammenhängenden Dialog (v. 17-22.25) durch eine 'szenische Fuge' (N. Walter) - nämlich v. 2 3 f - unterbrach. These IV (sie wird ausführlich begründet in einem Aufsatz von N. Walter, Zur Analyse von Mc 10,17—3124): Nach Walter reichte die Erzählung Mk 10,17ff ursprünglich bis v. 22a. Sie diente „nicht als Beispiel einer erfolglosen Jüngerberufung", sondern sollte „die Nachfolge Jesu als den eigentlichen Weg zum Leben ... bezeugen"25. Die w . 22b.23 und 24a stellen

18

Vgl. Die Geschichte der synoptischen Tradition, 20f; vgl. ebd., 20 Anm. 2. Vgl. Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus (BHTh 24), Bd. II, Tübingen 1957, 75 Anm. 1. 20 Nach E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus (NTD 11 ), Göttingen 1967, 119, ist neben den vv. 23b.25 auch 27 (ohne Einleitung) der älteren Tradition zuzuweisen; vgl. auch E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971, 14. 21 Vgl. aaO., 47f. 22 Die Botschaft Jesu (LUA N.F. 1, Bd. 49/5), Lund 1953, 92 Anm. 1. 23 AaO., 48. 24 ZNW 53,1962,206-218; vgl auch S. LÉGASSE, L'appel du riche, Paris 1966,66ff. 25 AaO., 213. 19

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den ersten Kommentar zu Mk 10,17-22a dar. Sie sind der Anfangstradition bereits vor Markus hinzugewachsen, als „sich das Interesse auf die negative Entscheidung des Fragestellers [verlagerte]"26 und das Problem des Reichtums in den Vordergrund trat. Markus hat an das ihm vorgegebene Apophthegma v. 17-24a mit Hilfe der redaktionellen Überleitung v. 24b ein weiteres Traditionsstück, nämlich v. 24c-27, angeschlossen. Dieses Stück war allerdings ursprünglich nicht exklusiv auf den Reichen gemünzt, sondern - wie Walter in Übereinstimmung mit E. Jüngel27 vermutet - prinzipiell gemeint. Die Spezialisierung des Kamel-Nadelöhr-Wortes auf den Reichen verdankt sich der evangelistischen Redaktion. Markus gab, indem er in v. 25 ein ursprüngliches άνΟρωπον durch πλούσιον ersetzte, der Tendenz der Tradition nach (vgl. v. 23) und stellte die Geschichte damit noch stärker unter einen ihr an sich sachfremden Gesichtspunkt. Erst bei ihm wird die prohibitive Bedeutung des Reichtums zur Pointe der Erzählung28. Aus der Reihe der vorgeführten Lösungsversuche verdient vor allem die scharfsinnige Traditionsanalyse N. Walters Beachtung. Sie begründet nicht nur sehr einleuchtend den uneinheitlichen Charakter des ersten Anhangs v. 23-27, sondern verhilft auch zu einer neuen Sicht der Erzählung Mk 10,17ff selbst, sofern man die von Walter herausgestellte ältere Fassung zugrunde legt. Es bleibt allerdings zu fragen, ob Walter die redaktionelle Arbeit des Evangelisten nicht zu gering veranschlagt. Wie E. Schweizer nachgewiesen hat, gehören die Verben ΰαμβεϊσόαι und έκπλήσσεσθαι zur redaktionellen Terminologie des Evangeliums29. Insofern erheben sich Zweifel, ob man die w . 24a und 26a der vormarkinischen Tradition zurechnen darf. Aber auch v. 26b ist im Stil markinischer Sprache geprägt30. Nimmt man hinzu, daß es sich bei v. 23a ebenfalls um eine bei Markus beliebte Wendung handelt31 - eine Beobachtung, die dann wohl auch v. 27a als redaktionell erscheinen läßt, und stellt man ferner in Rechnung, daß v. 27c eine markinischer Diktion entsprechende Aussage darstellt32, ist Walters Charakteristik der Überlieferungsgeschichte des Textes kaum naheliegend. Bedenkenswert scheint andererseits jedoch seine Erwägung, daß die 26

Ebd. Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 3 1967, 183. 28 Vgl. aaO., 209-214. Die Analyse Walters erweist die Fragwürdigkeit der unter I—III genannten exegetischen Hypothesen. 29 Vgl. Die theologische Leistung des Markus, in: DERS., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970,25. 30 Vgl. R. PESCH, aaO., 137 (zum Stichwort σωϋηναι), 117 (zu δύναμαι). 31 Vgl. E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus, 119. 32 Vgl. R. PESCH, aaO., 117 (zu δύνατος), 156 (zu πάντα). 27

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Aussagen der w . 24c und 25 ursprünglich prinzipiellen Charakter trugen: Von sich aus vermag niemand in die Basileia zu gelangen33. Wenn diese Vermutung tatsächlich zutreffen sollte, erwiesen sich die w . 24c.25 und 27b34 als zusammengehörig. Sie könnten eine ältere Tradition repräsentieren, die vielleicht bereits vor Markus mit der Geschichte v. 17fF verbunden war. Dann drängt sich die Annahme auf, daß der Evangelist die w . 23-24b ad hoc bildete und sie den Logien v. 24c.25 vorschaltete, um das dort Gesagte nun eindeutig zu spezialisieren und (bei gleichzeitiger Einfügung von πλούσιον in v. 25) den Gesichtspunkt des Reichtums zur Dominante des Ganzen zu machen. Die Hypothese, daß Markus v. 23b (πως δυσκόλως usf.) analog zu v. 24c (πως δύσκολον usf.) bildete35, dürfte jedenfalls ebenso erwägenswert sein wie die andere, er habe zwei ähnlich lautende Traditionselemente sekundär verknüpft36. Entspricht also die Vorschaltung der im Sinne eines retardierenden Moments wirkenden w . 23-24b einem sachlichen Interesse des Evangelisten, so die redaktionelle Erweiterung in v. 26f seiner Absicht, die Tradition christologisch (v. 26a; vgl. v. 24a) und soteriologisch (v. 26b.27c) zu präzisieren. Damit erhebt sich freilich die Frage nach der inneren Sachbeziehung zwischen den w . 17-21(22) und den Logien v. 24c.25 sowie 27b in einem möglichen vormarkinischen Traditionsstadium. Inwiefern lassen sich die ursprünglich prinzipiell geprägten Sprüche vom Eingehen in die Gottesherrschaft, zumal das paradoxe Kamel-Nadelöhr-Wort, als der sachgerechte Kommentar zur Geschichte Mk 10,17-21(22) verstehen? In der Absicht, diese Frage zu klären, wenden wir uns nun dem Apophthegma selbst zu.

33

Die Möglichkeit, daß das Kamel-Nadelöhr-Wort erst sekundär auf den Reichen spezialisiert wurde, zieht auch E. FUCHS in Betracht; vgl. Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, in der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen, in: DERS., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie (GA I), Tübingen 1959, 288; DERS., Jesus und der Glaube, in: DERS., Zur Frage nach dem historischen Jesus (GA II), Tübingen 1960, 252; DERS., Das Zeitverständnis Jesu, ebd., 364. 34 Die Aussage Mk 10,27b entspricht einem alttestamentlichen Theologumenon (vgl. Sach 8,6LXX; Gen 18,14; Hi 10,13LXX; 42,2), wie E. SCHWEIZER (Das Evangelium nach Markus, 122) bemerkt. 35 Auch N . WALTER konzediert die Möglichkeit zumindest einer redaktionellen Bearbeitung von v. 23b (vgl. aaO., 213 Anm. 34). 36

S o N . WALTER, a a O . , 2 1 0 .

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III Ich lege zunächst eine eigene Übersetzung des Textes Mk 10,17-21 vor: (17) Und als er sich auf den Weg machte, lief einer herzu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: ,Guter Meister, was muß ich tun, damit ich das ewige Leben [als Erbteil] erhalte?' (18) Jesus aber sprach zu ihm: ,Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. (19) Die Gebote kennst du [doch]: du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht Falsches bezeugen, du sollst nichts vorenthalten, ehre deinen Vater und [die] Mutter.' (20) Da sagte er zu ihm: ,Meister, dies alles habe ich gehalten von meiner Jugend an.' (21) Jesus aber sah ihn an, gewann ihn lieb und sprach zu ihm: ,Nur eins fehlt dir! Geh, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und auf! folge mir nach!' Der Text läßt folgende Disposition erkennen: a) die Anfrage (v. 17); b) die Zurückweisung der Frage durch Jesus (v. 18f); c) der Einwand (v. 20); d) der Ruf Jesu (v. 21). Wir durchmustern die Erzählung zunächst auf diejenigen Einzelzüge, die für das Verständnis der Pointe wichtig sind. Dabei benutzen wir die Feststellungen zur Disposition als Leitfaden der Exegese. a) Die Anfrage (v. 17): Die Art, wie der absichtlich noch nicht näher gekennzeichnete Mann37 sein Anliegen vorbringt, entspricht nicht der Konvention. Kniefall und Anrede (διδάσκαλε ά γ α ύ έ ) sind gleicherweise unüblich38. Die Erzählung scheint die Begegnung von vornherein dramatisieren und ihr den Anstrich des Außergewöhnlichen geben zu wollen. Die Eingangsfrage τί ποιήσω Ίνα ζωήν αίώνιον κληρονομήσω (v. 17b) ist wohl aus szenischen Gründen persönlich formuliert (vgl. Lk 10,25). Sachlich besagt sie nichts anderes als die allgemein gehaltene Frage v. 26b: κ α ι τις δύναται σωθηναι;. Beide Fragen variieren das im nachexilischen Judentum viel verhandelte Problem, wer als der Adressat des künftigen Äons anzusprechen, wer zum Antritt des eschatologischen Heils berufen sei. Indem v. 17b die Bedingung erfragt, von deren Erfüllung das Eingehen in den kommenden Äon39 und damit der Gewinn des unzerstörbaren

37

Vgl. dagegen die Kennzeichnung des Mannes bei den Seitenreferenten. Vgl. E. LOHMEYER, aaO., 207f; E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus, 119f. 39 Vgl. Mk 10,23-25. „Wenn Jesus ... vom .Eingehen in die Gottesherrschaft' redet (Mk 9,47; 10,23ff. u. ö.) ..., so verwendet er eine Terminologie, die in seiner jüdischen Umwelt nicht mit dem Begriff der Gottesherrschaft, sondern mit dem des neuen Äons, des olam ha-ba verbunden war. Er verknüpft also den Begriff der Gottesherrschaft mit dem des künftigen Äons, der zu seiner Zeit mit der Messiaszeit identifiziert wurde, und zwar in der Weise, daß er von der Gottesherrschaft in der olam-Terminologie spricht, aber den kommenden olam durch die Gottesherrschaft ersetzt" (PH. VIELHAUER, Gottesreich und 38

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Lebens40 abhängt, wird sachlich die Frage nach dem Kreis der Heilsempfanger aufgeworfen. Besondere Beachtung verdient der Sachverhalt, daß in v. 17b auf ein ποιειν abgehoben ist: ,Was muß ich tun, damit ich das ewige Leben als Erbteil erhalte?' Auf diese Beobachtung wird bei der Auslegung der w . 20f zurückzukommen sein. Sie ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Erhellung des Aussagewillens von v. 17-21(22) insgesamt. b) Die Zurückweisung der Frage durch Jesus (v. 18f): Die Antwort Jesu enthält zunächst eine im Ton brüsk klingende Zurechtweisung des Fragers: τί με λέγεις αγαθόν;. Man wird dem Sinn dieser Gegenfrage kaum gerecht, wenn man sie als ein literarisches Kunstmittel interpretiert, dessen sich der Erzähler aus Gründen der dialogischen Kontinuität bedient. Die Gegenfrage hat also nicht nur die Funktion, das theologische Anliegen des folgenden Logions zu unterstreichen. Sie ist nicht - wie ζ. B. H.J. Degenhardt annimmt41 - „einzig von der folgenden Antwort bestimmt": ουδείς αγαθός εί μή είς ό θεός. Vielmehr haben beide Teile der Aussage gleichermaßen sachliches Gewicht. Wenn Jesus das ihm zuerkannte Prädikat αγαθός mit der Begründung ablehnt, daß es allein Gott vorbehalten sei, so weist er von sich weg auf den, der sein Wort und sein Verhalten autorisiert. Treffend bemerkt F. Gogarten z. St.: „Wenn Jesus sich seinen Hörern zur Entscheidung macht, so tut er es nicht auf Grund irgendwelcher moralischen Qualitäten, die er sich durch eigene Leistungen erworben hätte, sondern er tut es lediglich auf Grund der göttlichen Güte, aus der er lebt. Gott selbst also in seiner Güte ist es, der sich in Jesus und in seinem Wort, das von Gottes Güte zeugt, den Menschen, zu denen er spricht, zur Entscheidung macht"42. Der zweite Teil der Antwort (v. 19) erinnert den Fragenden an seine Gebotskenntnis. Bemerkenswert ist, daß Jesus „nicht generell auf die Tora, auch nicht auf das Gebot der kombinierten Liebe zu Gott und dem Nächsten" verweist. Er nennt vielmehr „sechs größtenteils dem Dekalog entnommene Gebote der zweiten Tafel, also ... sechs konkrete Verhaltensweisen gegenüber dem Nächsten"43. Andererseits gilt zu beachten, daß die Gebote der zweiten Tafel nur zitiert, nicht aber ausgelegt werden44. Dem Frager wird also die praktische Entscheidung im Einzelfall selbst zugemutet. Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: DERS., Aufsätze zum Neuen Testament [ThB 31], München 1965, 88). 40 Vgl. R. BULTMANN, ThW II, 864f; E. BRANDENBURGER, Adam und Christus (WMANT 7), Neukirchen-Vluyn 1962, 15-67. 41 AaO., 138; ähnlich R. PESCH, aaO., 86f. 42 Die Verkündigung Jesu Christi, Heidelberg 1948,131. 43 44

H . BRAUN, a a O . , 6 0 A n m . 3. V g l . E . LOHMEYER, a a O . , 2 1 0 .

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Möglicherweise hat die Antwort Jesu aber nur vordergründig den Sinn einer echten Weisung. Wenn nicht alles täuscht, soll der Frager mit ihr auf das zurückgeworfen werden, was er sich selber hätte sagen können. Nach E. Lohmeyer gibt der Satz τάς έντολάς οίδας „die Antwort gleichsam an das , Wissen' des Fragestellers zurück": Wer wie Jesus an dieser Stelle „nur auf diese zweite Gesetzestafel hindeutet, weist den Fragesteller in Wirklichkeit ab"45. Von daher gesehen ist ernstlich zu erwägen, ob nicht die ganze Antwort Jesu v. 18f den Charakter einer Abweisung trägt, und zwar „nicht nur der Anrede, sondern auch der Frage selbst"46. Lohmeyer dürfte die literarische Funktion von v. 18f im Rahmen des Dialogs zutreffend erfaßt haben, wenn er z. St. bemerkt: „In jedem Falle ist durch die Antwort Jesu die Lage des Gespräches gespannt, und aus solcher Spannung heraus ist die Entgegnung des Reichen zu begreifen"47. c) Der Einwand (v. 20): Die Worte des Fragers in v. 20 sind nicht als Ausdruck der Enttäuschung, sondern im Sinne einer Selbstrechtfertigung zu verstehen. Dies gilt vor allem dann, wenn die w . 18f als ,verkappte Abweisung'48 gemeint sein sollten. Auffällig ist der Wortlaut des Bekenntnisses: ταύτα πάντα έφυλαξάμην έκ νεότητός μου. Eine derartige Beteuerung entspricht zwar dem Selbstbewußtsein des Gerechten, gehört aber - wie W. Zimmerli gezeigt hat49 - eher in die Exhomologese, das heißt in die Sprache des Kultes, und wirkt daher im Zusammenhang überraschend. Im Sinne der Regie des Erzählers hat die ungewöhnlich wirkende Aussage zweifellos die Funktion, noch einmal das ποιειν von v. 17b zu pointieren; denn die Wendung ταύτα πάντα έφυλαξάμψ korrespondiert sachlich der Frage τί ποιήσω. Was im Bereich des Tuns erschwinglich ist, hat der Fragesteller geleistet. Auf diesen Sachverhalt hebt der Erzähler ab, wenn er dem Fragenden die Beteuerung in den Mund legt: ,Das alles habe ich gehalten von meiner Jugend an.' Für den jüdischen Hörer der Geschichte muß der Mann als ein paradigmatischer Gerechter erscheinen. Denn auf ihn trifft zu, was der apokalyptische Makarismus 4. Esr 7,45 zum Ausdruck bringt: Beati (qui) praesentes et observantes, quae a te constituía sunt. d) Der Ruf Jesu (v. 21): Das Schlußwort Jesu, durch v. 21a vorbereitet und motiviert, will vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Selbstauslegung jüdischer Existenz verstanden sein. Die Aussage v. 21b beginnt mit

45

Ebd. E. LOHMEYER, ebd. Gegen diese Auffassung hat W. ZIMMERLI, aaO., 96 (vgl. 92) Einspruch erhoben, kaum zu Recht! 4 ' AaO., 210. 48 Formulierung W. ZIMMERLIS, aaO., 96. 49 Vgl. aaO., 95f. 46

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der lapidaren Feststellung: ëv σε υστερεί (man beachte die Korrespondenz von εν, v. 21b, und πάντα, ν. 20). Sie mündet in einen Imperativisch gefaßten Ruf, der sachlich in zwei Teile zerfallt: 1. Aufforderung (a) zum Verkauf des Besitzes und (b) zur Beschenkung der Armen, verbunden mit einem Verheißungssatz; 2. Aufforderung zur Nachfolge. Um die Pointe des entscheidenden Wortes Jesu und damit die des ganzen Apophthegmas zu ermitteln, haben wir zwei eng miteinander zusammenhängende Fragen zu erörtern: 1. In welchem Verhältnis steht das εν (v. 21) zu πάντα (ν. 20) einerseits und zu den Imperativen v. 21b andererseits? 2. Inwiefern stellt v. 21b eine Antwort auf die Eingangsfrage v. 17b dar? Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei dem εν keineswegs um etwas handelt, das dem πάντα noch hinzugefugt werden müßte. Der Satz ,Nur eins fehlt dir' besagt also nicht, daß das nachfolgend anbefohlene Verhalten „zu der in Ordnung gehenden Beobachtung der Gebote nur noch hinzuzukommen braucht, damit die erfragte ζωή αιώνιος gesichert sei"50. Der Imperativ Jesu fixiert also kein elftes Gebot. Vielmehr qualifiziert „das eine Fehlende ... das ganze wirklich Geleistete negativ", wie H. Braun zu Recht feststellt51. Worin liegt dann aber der Mangel des Reichen? Bezieht sich das ύστερεΐν darauf, daß er seinen Gehorsam nur äußerlich vollzog, ohne sich selbst von der göttlichen Forderung tangieren zu lassen? Dann handelte es sich bei dem einen Fehlenden um das von allen Geboten Geforderte: nämlich um die Ganzheit des Gehorsams, die Selbstpreisgabe bedeutet und im vorliegenden Fall gerade den Besitzverzicht einschließt. So versteht z.B. F. Gogarten den Text, wenn er z. St. bemerkt: „Daß das ,ewige Leben' den Einsatz des ganzen Menschen fordert, das hat er [sc. der Reiche] noch nicht begriffen. Und eben das will Jesus ihm zum Bewußtsein bringen, indem er von ihm das Opfer des Reichtums fordert, in dem sein Herz gefangen ist ,.."52. Ganz ähnlich interpretiert R. Bultmann den Abschnitt: „Zweierlei zeigt die Geschichte: einmal, daß man Gottes Interessen nicht bis zu einem gewissen Grade bejahen kann, soweit sie einen nicht stören; daß vielmehr 50

51

H. BRAUN, aaO., 75 Anm. 1.

Ebd. Der Satz gilt nach Braun allerdings nur im Blick auf die hypothetisch zu erschließende Situation des historischen Jesus, nicht aber für den Markustext, in dem das εν doch wohl als quantitative Ergänzung des πάντα gemeint sei (vgl. ebd). 52 AaO., 47 (Hv. von mir). Gogarten macht allerdings im selben Zusammenhang ausdrücklich auf die Unbedingtheit der göttlichen Wirklichkeit (d. h. des 'Lebens') aufmerksam: „Darum kann auch die radikalste Absage an die irdische Welt jene andere Wirklichkeit nicht in die Gewalt des Menschen bringen; sie ist kein Mittel, das Leben aus jener Wirklichkeit zu gewinnen" (aaO., 48).

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Gottes Wille den Menschen ganz beansprucht ... Das andere ist dies, daß Jesus dem Reichen zum Bewußtsein bringt, daß seine formale Korrektheit ihm gar nichts hilft. Gewiß, wer nach dem Weg zum Leben fragt, dem ist gar nichts Besonderes zu sagen; er soll tun, was recht ist, was jedermann weiß. Aber wenn dann eine besondere Forderung an den Menschen herantritt, dann kommt es zum Vorschein, ob in jenem korrekten Verhalten wirklich der ganze Mensch steckte, ob jenes Tun dessen, was recht ist, wirklich auf der Entscheidung fìir das Gute beruhte; sonst hat es keinen Wert. In der Sprache des Orientalen gesprochen: Es kommt darauf an, wo das Herz ist, bei Gott oder bei der Welt"53. Gegen diese Auslegung der Stelle ist zweierlei einzuwenden: 1. Sie orientiert sich zu einseitig an den zuerst genannten Imperativen von v. 21b, nämlich: ,Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen!' Auf diese Weise erhebt sie das Problem des Besitzverzichtes zur eigentlichen Pointe der Erzählung, ohne die zwischen den w . 21b und 17b waltende Sachbeziehung wirklich aufzuhellen. 2. Sie bleibt letztlich doch wieder der durch das εν σε υστερεί gerade disqualifizierten Ebene des ποιειν verhaftet, indem sie den Menschen wesentlich als Handelnden auslegt, der einer radikalen Forderung durch ebenso radikalen Gehorsam zu entsprechen hat. Demgegenüber erhebt sich die Frage, ob die Antwort Jesu nicht vielmehr die „Grenze unsres Könnens"54 einschärfen und den auf Werke bauenden, gleichwohl ratlosen Menschen an eine Hilfe verweisen will, die ihm nur von außerhalb seiner selbst zukommen kann. Was fehlt also dem Reichen? Etwa die Einsicht, daß sich der Gewinn der ζωή nicht durch ein wie auch immer geartetes ποιειν bewerkstelligen läßt? Scheitert er etwa daran, daß er das Leben noch auf dem Weg des ποιειν zu erlangen sucht, während es sich ihm in der Begegnung mit Jesus gerade anbietet und von ihm nur noch empfangen sein will? Diese Fragen sind dann zu bejahen, wenn nicht die Forderung des Besitzverzichtes, sondern der Ruf in die Nachfolge als das eigentliche Ziel des Logions v. 21b zu betrachten ist. In der Tat spricht alles dafür, daß der Akzent auf jenem Wort liegt, in welchem der Ruf Jesu gipfelt: και δεύρο ακολουθεί μοι. Die vorhergehenden Imperative haben demgegenüber eine untergeordnete, lediglich explizierende Bedeutung.

53

Jesus, Tübingen 1951, 85f. E. FUCHS, Das Zeitverständnis Jesu, in: GA II, 323; vgl. DERS., Jesus und der Glaube, ebd., 253: „Jesus blieb vorbehalten, daß er die Empfänger, diejenigen, denen Gottes Kommen zugute kommen sollte, nicht nur radikal als die Bußfertigen ansprach, sondern sie, im Unterschied z. B. von der Qumransekte, zugleich als diejenigen bestimmte und behandelte, die sich nicht selber helfen konnten". 54

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Man hat sogar die Vermutung geäußert, daß der Text nachträglich aufgefüllt worden sein könnte55. Ein derartiger Verdacht scheint naheliegend, konkurriert doch der Ruf in die Nachfolge in gewisser Weise mit der selbst schon himmlischen Lohn verheißenden Forderung des Besitzverzichtes. Doch auch wenn man die Integrität des vorliegenden Textes voraussetzt, ändert sich nichts an der Feststellung, daß nicht das verlangte Opfer, sondern vielmehr die angebotene Nachfolge im Vordergrund des Interesses steht. Jesu Ruf,Folge mir nach!' impliziert die eigentliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der ζωή αιώνιος. Zutreffend bemerkt HJ. Degenhardt z. St.: „Das eine, das fehlt, ist das Entscheidende, nämlich der Anschluß an Jesus"56. Ahnlich urteilt auch W. Zimmerli: „Die tiefste Antwort auf die Frage nach dem ,Leben' liegt... nicht in dem Hinweis auf den ,Schatz im Himmel', den das Verkaufen der Habe ihm [sc. dem Begüterten] einbringt, sondern in dem Angebot der Nachfolge"57. Diese Beobachtungen bestätigen die Auffassung N. Walters, nach der das Apophthegma ursprünglich nicht als Beispiel einer fehlgeschlagenen Jüngerberufung tradiert wurde. Seine Absicht liegt vielmehr darin zu zeigen, daß Jesu Ruf in die Nachfolge nichts anderes darstellt als Einladung zum Empfang der ζωή. Der Imperativ άκολού-όει μοι setzt keine Vorleistung voraus, sondern er überantwortet dem Hörer die Frage, ob er sich um eine Formulierung E. Schweizers aufzugreifen - „das künftige Leben nicht schon hier in einer Ganzheit, die alles in sich schließt, schenken [sc. geschenkt sein lassen] will"58. Wenn damit der ursprüngliche Sinn der Erzählung zutreffend gekennzeichnet ist, verlieren die zuerst genannten Imperative ebenso an Gewicht wie die Zusage des Himmelsschatzes. Die Forderung des Besitzverzichtes ist jedenfalls nicht im Sinne einer zu erfüllenden Vorbedingung gemeint, die erst zur Nachfolge instandsetzt. Sie stellt vielmehr nur die Konsequenz vor Augen, die der Nachfolger Jesu natürlicherweise auf sich nimmt59. Begegnet ihm im Wort Jesu die Fülle der ζωή

So K.-G. REPLOH, aaO., 200. Sekundär, möglicherweise sogar redaktioneller Zusatz könnte der Satzteil sein κ α ι δός τοις πτωχοϊς, κ α ι ε ξ ε ι ς ·βησαυρόν έν ούρανώ. 56 ÀaO., 140. 57 AaO., 97. 58 Das Evangelium nach Markus, 121; vgl. DERS., Erhöhung und Erniedrigung bei Jesus und seinen Nachfolgern (AThANT 28), Zürich 1955, 10; DERS., Jüngerschaft und Kirche, in: Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970,220. 59 Vgl. N. WALTER, aaO., 213. Vgl. die Wendung κ α ι ά π ό της χ α ρ ά ς α ύ τ ο ύ υ π ά γ ε ι κ α ι πωλεί οσα ε χ ε ι Mt 13,44c - eine Aussage, die allerdings der Gleichniserzählung Mt 13,44 angehört, zunächst also als Bestandteil der Bildhälfte gewürdigt sein will. 55

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αιώνιος selbst, so wird er selbstverständlich bereit sein, für dieses Wort alles einzutauschen, was er besitzt60. Damit gewinnt die Aussage von v. 21b allerdings zugleich einen eminent kritischen Sinn. Hieß es bisher, das Leben sei zu erlangen in der Befolgung der Gesetzesweisungen, so gilt nun, daß die Lebenszusage im Wort Jesu gegeben ist. Von daher gesehen ist H. Brauns These zu korrigieren, nach der die Aussage έν σε υστερεί lediglich aufdecken soll, „wie es in Wirklichkeit steht um die von dem Frager behauptete Gebotsbeobachtung"61. Das eine Fehlende disqualifiziert nämlich nicht nur das ganze wirklich Geleistete, wie H. Braun annimmt, sondern es disqualifiziert darüber hinaus den Weg der Leistung selbst. Berücksichtigt man, daß in v. 21b der Ruf in die Nachfolge alles Gewicht trägt, so steht die Aussage in Antithese zu jenem Denken jüdischer Provenienz, das den Erwerb der ζωή αιώνιος menschlicher Tat anheimstellt. Sie kritisiert und überbietet ein Selbstverständnis, dem das eschatologische Heil als Auszeichnung gilt, die sich der Mensch durch genaue Gebotsbefolgung selbst anzueignen vermag. Im Blick auf diesen Sachverhalt erscheint zweifelhaft, ob man das Apophthegma Mk 10,17-21(22) in die Reihe der Schulgespräche einordnen sollte. Das Stück erinnert eher an Streitgesprächs, wie auch E. Fuchs bemerkt62. Somit wird man vielleicht Gesetzesdebatten der Gemeinde als ,Sitz im Leben' der Überlieferung vermuten dürfen. IV. Zusammenfassend läßt sich der Aussagewille des Textes Mk 10,17-21(22) folgendermaßen charakterisieren: Jesus beantwortet die Frage des Reichen nach dem ewigen Leben mit dem Ruf in die Nachfolge, der gerade als Ruf in das ,Leben' vernommen sein will. Das Apophthegma interpretiert also die eschatologische ζωή als eine Gabe, die sich im konkreten Wort Jesu selbst mitteilt und der auf der Seite des Menschen nur die Einstellung des Hörens und Empfangens entspricht. „Gemeint ist", - wie E. Fuchs formuliert - „daß einer sich selbst ergreifen lassen muß. Und das kann auf keine andere Weise geschehen als so, daß sich der angeredete Mensch neu versteht, indem er sich von Gott als einen neuen Menschen empfangt"63.

60

Vgl. E. FUCHS, Jesus. Wort und Tat, 19. AaO., 75 Anm. 1. 62 Vgl. Jesus. Wort und Tat, 17f. 63 Das Wesen des Sprachgeschehens und die Christologie, in: DERS., Glaube und Erfahrung (GA III), Tübingen 1965, 239. 61

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Wenn diese Interpretation des Textes zutrifft, erweisen sich die Aussagen der Verse Mk 10,24c.25 und 27b (in der eingangs rekonstruierten unspezifizierten Fassung) tatsächlich als ein sachgerechter Kommentar zu unserer Erzählung, wie diese umgekehrt eine gelungene Illustration der genannten Logien darstellt. Auf den ersten Blick scheinen beide Partien freilich unvereinbar, steht doch im Zentrum der Berufungsgeschichte die Frage nach der ζωή αιώνιος, während die Logien vom Eingehen in die βασιλεία τοϋ ι3εού reden. Doch ist diese terminologische Differenz sachlich unerheblich, wie W. G. Kümmel gezeigt hat64. In der synoptischen Tradition begegnet der Ausdruck εΐσελϋειν εις την βασιλείαν wechselweise mit der Wendung είσελ^ειν εις τήν ζωήν (vgl. Mk 9,43 fï). Insofern handelt es sich bei den in Frage stehenden Stücken aus Mk 10 auch in terminologischer Hinsicht um sachverwandte Aussagen. Man wird die Logien v. 24c und 25 wohl am ehesten als Kampfworte bezeichnen können. Sie stellen jeden Heilsoptimismus, auch den gemäßigten pharisäischer Herkunft, von Grund auf in Frage. Sowenig ein Kamel ein Nadelöhr passieren kann, sowenig vermag der Mensch von sich aus in die Gottesherrschaft zu gelangen. Die Radikalität dieser Behauptung wird durch das Hyperbolische der Redeform eindrücklich vor Augen geführt. Man wird an Worte wie Mt 7,13f Par. (die enge Pforte) und Mk 10,15 erinnert, die das Eingehen in das Leben bzw. in die Gottesherrschaft ebenfalls als eine sub specie hominis unmögliche Möglichkeit deklarieren. Freilich verweisen alle diese Sprüche hintergründig auf das dem Menschen entzogene Vermögen Gottes. E. Fuchs bemerkt zu Mk 10,25: „Wo ein Mensch so wenig durchkommt, wie das Kamel durchs Nadelöhr, da kommt Gott herein, wenn er will"65. Diesen Sachverhalt macht die Aussage Mk 10,27b ausdrücklich. Was vom Menschen her gesehen als unmöglich erscheint, ist Gott möglich. Derjenige, der die Basileia durch Jesu Wort inszeniert, gibt allen die Möglichkeit, hineinzugelangen - aber er behält sich selbst vor, diese Möglichkeit zu gewähren. Daß die genannten Worte vom Eingehen in die Gottesherrschaft übereinstimmend ein ,extra nos' pointieren, hat E. Jüngel treffend dargelegt: „Das Logion Mk 10,15 Parr. zeigt, wie schwierig es fur jedermann ist, in die Gottesherrschaft einzugehen: άμήν λέγω ύμιν, ος άν μή δέξηται τήν βασιλείαν του Φεού ώς παιδίον, ού μή είσέλϋτι είς αύτήν ... Das ώς παιδίον meint keine kindliche Gesinnung, die als Bedingung für den Eintritt in die Basileia gefordert wird, sondern dies, daß es keine andere Bedingung für den Eintritt in die Basileia gibt als einen neuen Anfang ώς παιδίον. Diesen Anfang gibt die Basileia selbst. Von 64 65

Vgl. Verheißung und Erfüllung (AThANT 6), Zürich 3 1956,46. Jesus und der Glauben, in: GA II, 252.

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sich aus kommt der Mensch nicht in die Basileia, ebensowenig wie ein Kamel durch ein Nadelöhr (cf. Mk 10,25). Aber ,das Gottesreich kommt zu uns, und das ohne uns, ohne unser Zutun'. Deshalb interpretiert Markus richtig: παρά άνόρωποις αδύνατον (Mk 10,27 par. Mt 19,26 par. Lk 18,27). Jesus hat also formal wie seine Umwelt vom ,Eingehen' in die Basileia geredet. Aber während nach den Rabbinen und Apokalyptikern der Mensch bestimmte Bedingungen zur Erlangung der eschatologischen Herrlichkeit erfüllen muß, zeigt Jesus gerade, wie δυσκόλως es mit allen menschlichen Bedingungen für den Zugang zur Gottesherrschaft ist. Sie gehören sämtlich zu den αδύνατα παρά άνϋρώποις (Lk 18,27). Die Gottesherrschaft kommt wunderbar von selbst, wie es uns das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat erzählte. Das heißt aber: Der Mensch kann die Gottesherrschaft nur empfangen als den neuen Anfang ... Wer die Basileia nicht als ein durch ihre Macht neu Geborener empfangt, der kommt nicht hinein. Wer sie aber so empfangen hat, der steht bereits in der neuen Geschichte, die das Wort Jesu eröffnet"66. Soweit die Erwägungen Jüngels. Sie bestätigen, daß die Logien vom Eingehen in die Gottesherrschaft Mk 10,24c und 25 (vgl. v. 27b) als Sachparallelen zur Geschichte von der Berufung des Reichen Mk 10,17-21(22) anzusprechen sind. Denn daß die Fülle des Heils, die alles andere an Wert übertrifft, dem Menschen sola gratia zuteil wird, ist die Pointe beider Stücke, die aus diesem Grund wohl bereits in vormarkinischer Überlieferung kombiniert wurden.

66

AaO., 183f. Das Zitat im Zitat stammt aus K.L. SCHMIDT, ThW I, 586.

DER LEBENSWEG ALS KREUZESWEG Zur hermeneutischen Funktion des Doppeldialogs in Johannes 11,7-16

Schon dem ersten Wort Jesu in der johanneischen Perikope von der Auferweckung des Lazarus (vgl. Joh 11,4 im Rahmen von 10,40-11,54') kommt die Bedeutung einer das Ganze erschließenden Verstehensanleitung zu, welche zugleich den transparenten Charakter des Erzählten ahnen läßt. So nimmt nicht wunder, daß die merkwürdige Äußerung Joh 11,4 eine entsprechend intensive exegetische Aufmerksamkeit erfahrt2. Nun wird aber das dort Gesagte im anschließenden Gespräch Jesu mit den Jüngern (11,7-16) eigentümlich variiert und vertieft. Und dieser Sachverhalt scheint in der neueren Auslegung des Kapitels zu wenig bedacht. Die Interdependenz beider Textelemente bewußt zu machen, ist das Interesse der folgenden Überlegungen. Wir fragen also, was der Dialog in 11,7-16 zu verstehen gibt, wenn man ihn im Horizont der Schlüsselaussage von 11,4 wahrzunehmen versucht.

/. Bei der Partie 11,7-16 handelt es sich um eine in sich geschlossene Texteinheit. Dies zeigt sich an einer Reihe szenischer und formaler Indizien. So fungieren in der betreffenden Passage nicht mehr die in der Exposition (11,1-6) eingeführten Schwestern Maria und Martha, sondern - im Erzählzusammenhang überraschend - vorübergehend die Jünger als Gesprächspartner Jesu. Der Szenenaufiakt, in 11,7 deutlich durch επειτα μετά τούτο markiert3, eröffnet eine kommunikative Handlung, die durch das Zentral1

Innerhalb der Erzähleinheit 10,40-11,54 fungieren die Abschnitte 10,40-42 und 11,54 als Rahmenstücke (vgl. R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes [KEK II 13 ], Göttingen 21 1986,299). 2 Vgl. z.B. J. BECKER, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/2 [GTB 506]), Gütersloh 3 1991,417f. 3 Eine Zäsur ist nicht zwischen 11,5 und 11,6 sondern zwischen 11,6 und 11,7 vorauszusetzen (so u.a. mit R.E. BROWN, The Gospel According to John [The Anchor Bible 29],

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motiv des ,Gehens' ausgezeichnet und zusammengehalten wird4. Der Eindruck einer literarischen Abrundung des Ganzen ergibt sich im übrigen aus dem Umstand, daß der am Anfang (11,7b) und am Schluß (11,15b. 16b) pointierte Kohortativ άγωμεν die Funktion einer Inklusion übernimmt5. Besondere Beachtung verdient der Neueinsatz des Dialogs in 11,11. Die Pause innerhalb eines Redebeitrags Jesu wird an dieser Stelle narrativ durch das auf 1 l,9f zurückblickende ταύτα είπεν sowie durch die Setzung der aus 11,7a wiederholten Redeeröffnungsfloskel ([καί] μετά τούτο λέγει [αύτοις]) signalisiert. Berücksichtigt man die auffallige Zäsur zwischen 11,10 und 11,11 sowie die Parallelität der narrativen Gesprächseröffnung in 11,7a und 11,11a, wird deutlich, daß wir es bei der Gesamtsequenz mit einem Doppeldialog zu tun haben. Das erste Stück (11,7-10) ist dreigliedrig, das zweite (11,11-16) viergliedrig angelegt. Im ersten hat Jesus, im zweiten der Jünger Thomas das letzte Wort. Wie sich noch zeigen wird, gelten beide Dialoge unterschiedlichen Themen, und auf den ersten Blick scheinen diese kaum miteinander vereinbar. Man hat die gestörte Kohärenz des Textes literarkritisch zu erklären versucht. Die Spannungen seien das Resultat der Einfügung eines evangelistischen Zusatzes (11,7b—1 la) in einen rezipierten Quellentext6. Nun hat die Annahme einer Schichtung des vorliegenden Aussagezusammenhangs einiges für sich. Gleichwohl sollte man die Auslegung nicht in einer literarkritischen Erläuterung der Genese des Textes aufgehen lassen. Denn diese methodisch begründete Einsicht dispensiert ja nicht von der Aufgabe, der Eigenart der gegebenen Doppelung des Gesprächsganges und der damit verquickten dialogischen Diskontinuität Rechnung zu tragen. Auch wenn die nachträgliche Auffüllung einer Traditionsvorgabe plausibel erscheint, bleibt die Frage, was den Evangelisten zu der nun disparat wirkenden Kombination von zwei unterschiedlich angelegten

Bd. I, London / Dublin / Melbourne 1971, 430ff; U. BUSSE [Hg.], E. HAENCHEN, Das Johannesevangelium, Tübingen 1980, 399f; J. BLANK, Das Evangelium nach Johannes [Geistliche Schriftlesung 4/lb], Düsseldorf 1981, 260ff). 11,6 beschließt die Exposition, die von Jesu erster Reaktion auf die Nachricht aus Bethanien handelt (vgl. die auf die Redeeröffnung von 11,4 zurücklenkende Formulierung von 11,6a). 4 Vgl. άγωμεν (11,7), υπάγεις (11,8), πορεύομαι (11,11), άγωμεν ( l l , 1 5 f ) sowie περιπατή im Bildwort 11,9f; zur Sache vgl. A.R. SCOGNAMIGLIO, La resurrezione di Lazzaro: un „segno" tra passato e presente, Nicolaus 5, 1977, 40f; J. KREMER, Lazarus. Die Geschichte einer Auferstehung, Stuttgart 1985, 59 Anm. 61. 5

V g l . A . R . SCOGNAMIGLIO (s. A n m . 4 ) , e b d .

6

V g l . R. BULTMANN (S. A n m . 1), 3 0 1 A n m . 4 , 3 0 3 A n m . 6 s o w i e 3 0 3 f ; J. BECKER (s.

Anm. 2), 408f.418f; J. WAGNER, Auferstehung und Leben. Joh 11,1-12,19 als Spiegel johanneischer Redaktions- und Theologiegeschichte (BU 19), Regensburg 1988, 183ff.; ähnlich E. HAENCHEN (S. Anm. 3), 400f, der allerdings offenläßt, ob der Einschub dem Evangelisten oder einem sekundären Redaktor zuzuschreiben ist.

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Gesprächsfolgen motiviert hat und was die faktisch realisierte Komposition zu verstehen gibt. Um den befremdlichen Charakter des Jüngergesprächs augenfällig werden zu lassen, zeichnen wir im folgenden zunächst das Gefalle der dialogischen Bewegung in einer auf das Wesentliche konzentrierten Skizze nach. Dabei ist ein kurzer Blick auf den rückwärtigen Kontext erforderlich. II. Die Exposition (11,1-6) hatte knapp von der Erkrankung des in Bethanien ansässigen Lazarus und von einer diesbezüglichen Benachrichtigung Jesu durch das Schwesternpaar berichtet (11,1.37). Die sich in der Botschaft implizit artikulierende Bitte um Hilfe wird ausdrücklich damit motiviert, daß der Erkrankte Jesus besonders nahesteht (vgl. 11,3 und den narrativen Kommentar 11,5). Allein, die vom Erzähler geschürte Erwartung einer spontanen, die Not wendenden Aktion des Offenbarers wird im folgenden gleich mehrfach enttäuscht. So bedenkt Jesu erstes Wort den von Sorge diktierten Hilferuf nicht mit einer 4,50 vergleichbaren Weisung, sondern mit der befremdlich klingenden Feststellung: ,Diese Krankheit führt nicht zum Tod, sondern sie ist um des Glanzes Gottes willen da, damit der Sohn Gottes durch sie zu Glanz gebracht wird' (11,4). Diese an 9,3 erinnernde Erwägung ist wie die dortige Aussage in die Form einer correctio (ούκ ... άλλα) gefaßt. Aber der thematisierte Gegensatz wirkt nicht stimmig. Statt der erwartbaren Gegenüberstellung von ύάνατος und ζωή findet sich die von •θάνατος und δόξα, und das Ganze mündet in einen Finalsatz, welcher die Erkrankung des Lazarus zum himmlisch verfugten Instrument eines dem Gottessohn geltenden δοξασόηναι erhebt. Es liegt nahe, diese Ansage ausschließlich auf das Ereignis der Erweckung des toten Lazarus zu beziehen, also auf das folgende Wunder, an dem sich die dem Wundertäter beigelegte Gotteskraft glanzvoll bekundet. Doch damit wäre die gewollte Doppeldeutigkeit des Gesagten verkannt. Zwar hat die Krankheit des Lazarus zunächst durchaus insofern als der Zweck göttlicher Verherrlichung zu gelten, als sie, wie auch R. Bultmann konzediert, „der Anlaß zu Jesu Wundertat sein wird". Doch damit ist nur die erste Referenz des Gesagten bezeichnet, und diese gibt hintergründig zugleich eine zweite zu verstehen: „Jesu Wundertat wird ihn ans Kreuz bringen, d.h. aber, sie wird zu seiner endgültigen Ver-

7

11,2 ist wohl als sekundäre Glosse zu beurteilen (vgl. R. BULTMANN [S. Anm. 1], 302 Anm. 1).

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herrlichung fuhren. Das zeigt die Stellung der Geschichte ..., und in solchem Sinne ist fortan von Jesu δοξασΰηνοα die Rede: 12i6.23.28 1 33if. 17l.4f."8.

Auf den Hörer bzw. die Hörerin muß die Äußerung von 11,4 desillusionierend wirken, steht sie doch in einer befremdlichen Ferne zum konkreten Anliegen der Hilfesuchenden und befördert insofern den Eindruck, der um Hilfe Gebetene verweigere sich der Not. Dieser pragmatische Effekt wird durch die narrative Notiz in 11,6 verstärkt. Statt sich sofort auf den Weg zu machen, beantwortet Jesus die ihm überbrachte Nachricht damit, daß er (wie es heißt) ,zwei Tage an dem Ort [blieb], wo er sich [gerade] befand'. Im Sinne der Topik einer Wundergeschichte dient dieser Erzählzug häufig dazu, den Wundertäter als fremd und menschlicher Kalkulation entzogen zu charakterisieren9. Im vorliegenden Fall liegt das Aufhaltmotiv freilich ebensosehr im Interesse einer narrativen Strategie, die es auf den Tod des Erkrankten abgesehen hat, um dem schon hier ins Auge gefaßten späteren Wundergeschehen die Dimension des Extraordinären zu geben. Orientiert man sich am christologischen Konzept des Evangelisten, besitzt die eigenwillige Zurückhaltung Jesu indessen noch eine tiefere Bedeutung: Der Offenbarer läßt sich Zeit, weil seine Stunde noch nicht gekommen ist (vgl. 2,4; 7,30; 8,20 mit 13,1; 17,110). Wie Bultmann zu recht herausstellt, hat das Motiv des aufgehaltenen Eingreifens „gerade hier seinen besonderen Sinn, wo die Wahl der rechten Stunde für das Wunder zugleich der erste Schritt in das δοξασΰηναι der Passion ist"11. Mit der soeben beschriebenen dilatorischen Tendenz des Handlungsverlaufs stimmt zusammen, daß in dem sich anschließenden Gespräch die Erinnerung an Lazarus zunächst völlig ausgeblendet scheint. Jesus fordert die Jünger zu Beginn des ersten Dialogteils (11,7-10) nämlich unvermittelt auf, mit ihm zusammen erneut nach Judäa aufzubrechen (11,7). Die im Kontext irritierende Zielangabe (Judäa statt Bethanien) soll zwar den Widerspruch der Jünger herausfordern (,Rabbi, eben erst suchten dich die Juden zu steinigen, und wieder willst du dorthin gehen?' [11,8]), ist insofern also auch literarisch motiviert12. Doch es fragt sich ja eben, was der Erzähler mit einer 8

R. BULTMANN ( s . A n m . 1), 3 0 3 .

9

Zur Sache vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 1990, 69f. 10 Nach einer Reihe anderer Aussagen fällt die Stunde der δόξα Jesu mit seinem Wirken als Offenbarer zusammen (vgl. 4,21.23; 5,25). Ausschlaggebend ist jedoch der Passionsbezug der eschatologischen Stunde, und die davon abweichende Akzentsetzung will im Lichte dieses Aspekts wahrgenommen sein. 6

11

R. BULTMANN (s. A n m . 1), 3 0 3 .

12

V g l . R. BULTMANN (S. A n m . 1), 3 0 3 A n m . 6.

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131

Debatte verfolgt, die von dem in der Exposition angeschlagenen Thema auffällig abweicht. Warum wird im Rahmen eines Erzählzusammenhangs, der den Weg zu Lazarus nach Bethanien suggeriert, der Weg nach Judäa erörtert? Wie an der Einrede der Jünger, die auf die eben erst berichtete Steinigungsabsicht der Juden zurückverweist (vgl. 8,59 und besonders 10,31.3913), sichtbar wird, verbindet sich mit dem Reizwort, Judäa' der Gedanke an Jerusalem14. Es handelt sich also offensichtlich um eine synekdochische Ausdrucksweise, bei der de toto pars, d.h. unter dem Ganzen (Judäa) ein Teil (Jerusalem) begriffen wird15. Um so irritierender wirkt die Vernachlässigung von Bethanien als dem eigentlich erwartbaren Reiseziel. Man kann sich m.E. nicht mit der geographischen Auskunft zufriedenstellen, Bethanien befinde sich schließlich nur ca. drei Kilometer östlich von Jerusalem (vgl. 11,18), und Judäa verstehe sich als „das Gebiet, in dem Jerusalem, aber auch Betanien liegen"16. Weil die Erwähnung Judäas die Assoziation an eine Gefahr weckt, die Jesus von seiten der Juden zumal in Jerusalem droht (vgl. 10,31.39 mit 10,22), verweist der Terminus de facto ausschließlich auf diese Stadt, und zwischen Judäa (= Jerusalem) und Bethanien ist sachlich zu differenzieren, sosehr beide in geographischer Hinsicht benachbart sind. Jesu Entgegnung auf die verständliche Besorgnis der Jünger scheint sich der gegebenen Gesprächslage kaum einzufügen: (11.9)

(11.10)

,Hat der Tag nicht z w ö l f Stunden? Wenn einer zur Tageszeit umhergeht, so stößt er nicht an, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wenn aber einer zur Nachtzeit umhergeht, so stößt er an, denn in sich selbst hat er ja kein Licht.'

Es fallt schwer, die Aussageabsicht dieses Wortes im vorliegenden Kontext zu eruieren. In der Regel rechnet man damit, daß dem Spruch eine weisheit13

Zum Konflikt mit den Juden und zu deren Tötungsabsicht vgl. auch 5,18; 6,41;

7 , 1 . 1 9 . 4 4 ; 8 , 3 7 (zur S a c h e v g l . J. WAGNER [S. A n m . 6 ] , 186FF). 14 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium, II (HThK IV), Freiburg / Basel / Wien 5 1990,407: „,Judäa' steht in der Intention des Evangelisten für Jerusalem, wo sich das Todesgeschick Jesu erfüllen soll". 15 Zur Sache vgl. J. MARTIN, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, 270; M. FUHRMANN, Die antike Rhetorik, München / Zürich 3 1990, 127. 16 J. KREMER (s. Anm. 4), 59; entsprechend heißt es dann zu 11,11, die Äußerung lasse unmißverständlich erkennen, „daß das vorher in Aussicht genommene Gehen nach Judäa (V. 7) konkret ein Gehen nach Betanien ist" (61).

Lebensweg als Kreuzesweg

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liehe Sentenz vorausliegt, die nun ins Metaphorische gewendet wird. Die Rede vom ,Anstoßen' oder ,Fallen' sei auf den ,Heilsverlust' übertragen. Die metaphorische oder symbolische Lesart des Ganzen werde durch den Schlußsatz evoziert; denn die Wendung vom , inneren Licht' breche aus dem konkreten Vorstellungszusammenhang aus17. Aber ist diese Konsequenz exegetisch wirklich unausweichlich? Hält man Assoziationen an die sonstige johanneische Diktion fern, läßt sich das Logion durchaus als ein reines Bildwort verstehen18. Zunächst wird in der Form einer rhetorischen Frage daran erinnert, daß die Tageszeit die geraume Weile von zwölf Stunden umfaßt19. Die folgende Doppelstrophe konfrontiert sodann im antithetischen parallelismus membrorum den Wandel im Tageslicht mit dem im Dunkel der Nacht: Wer in der Helligkeit umhergeht, stößt nirgendwo an. In der Nacht hingegen gerät man leicht ins Stolpern, weil das Sonnenlicht fehlt. Die Begründung in 11,10 verweist in diesem Zusammenhang nur auf das fehlende Sonnenlicht in der Nacht: Niemand hat in seinem Inneren eine eigene Sonne, die den Weg beleuchten könnte. Auf den Einwand der Jünger bezogen, läßt sich dem Bildwort mit J. Blank dann vielleicht folgende situationsbezogene Botschaft abgewinnen: „Es geht darum, die noch vorhandene Zeit voll auszunutzen. Die Frage: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? ist als ein Hinweis zu verstehen, daß noch genügend Zeit zur Verfügung steht, noch ist der ,Tag des Wirkens' Jesu nicht zu Ende. Auch kann niemand diese Zeit beliebig verkürzen. Erst in der ,Unzeit' der Nacht wird die Sache gefahrlich, wegen des fehlenden Lichts, also wegen mangelnder Orientierungsmöglichkeit ... Auch hier ist der tragende Gedanke, daß die ,Zeit Jesu' nicht durch menschliche Verhältnisse und Gefahren bestimmt wird, sondern durch den Willen Gottes. Solange aber Gott die ,Zeit Jesu' bestimmt, können auch die Menschen ihre finsteren Anschläge nicht durchführen; auch sie bleiben dieser ,Zeit' unterworfen; also ist die Angst der Jünger völlig unbegründet"20. So verstanden, pointiert das Logion den verdeckt schon in 11,5 anklingenden Gedanken einer dem Offenbarer zugemessenen Zeit, die allererst durch die Ankunft seiner Stunde nicht nur begrenzt, sondern zugleich auch erfüllt wird (vgl. 19,30). Erst im zweiten Dialogteil (11,11-16), der von dem ersten deutlich abgesetzt ist, wird der in der Exposition geknüpfte Erzählfaden unverkennbar 17

S o z . B . R . SCHNACKENBURG (S. A n m . 14), 4 0 7 f ; J. BECKER (s. A n m . 2 ) , 4 1 8 f .

18

S o J. B L A N K (S. A n m . 3 ) , 2 6 3 .

19

„Der jüdische Tag begann mit Sonnenaufgang u. endete mit Sonnenuntergang u. wurde ohne Rücksicht auf seine jeweilige Länge immer in 12 Stunden ... eingeteilt" (Bill. II, 543). 20

J. B L A N K (S. A n m . 3 ) , 2 6 4 .

Lebensweg als Kreuzesweg

133

wieder aufgenommen. Im Gegenzug zu 11,7, aber ebenso unvermittelt kommt Jesus nun doch auf das ihm angetragene Anliegen zurück, freilich in einer die Ausgangslage überholenden Weise (11,11b). Mit einer euphemistischen Wendung informiert er in der Rolle des allwissenden Offenbarers die Jünger, daß der Kranke mittlerweile gestorben ist (,Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen [= entschlafen]'), und kündigt als den Zweck des Aufbruchs seine Auferweckungstat an (,aber ich gehe hin, ihn zu [er]wecken'). Allein, den Jüngern entgeht die Metapher vom ,Todesschlaf. Sie nehmen den Ausdruck wörtlich: ,Herr, wenn er schläft, wird er gesund' (11,12) - ein Schluß, welcher der alltäglichen Erfahrung entspricht, gilt doch der Tiefschlaf eines Schwerkranken als Zeichen der beginnenden Genesung. Das narrativ inszenierte Mißverständnis bezieht sich lediglich darauf, daß die Wahrnehmung einer eingeschliffenen Metapher verfehlt wird21. Es ist als literarisches Kunstmittel eingesetzt und zielt darauf ab, der überraschenden Information Nachdruck zu verleihen. Denn indem der Erzähler die Fehlrezeption der Nachricht von 11,11b im Nachgang aufdeckt (11,13) und Jesus die Botschaft in unzweideutiger Rede wiederholen läßt (11,14b), intensiviert er den Eindruck einer jähen Wende des Handlungszusammenhangs. Für die unmittelbar Beteiligten wie auch für die Adressaten der Erzählung bekundet sich in der Mitteilung vom Tod des Lazarus somit um so bestürzender das Verhängnis eines ,Zu spät'. Vor diesem Hintergrund wirkt die Fortsetzung des Wortes Jesu absolut rätselhaft und irritierend: ,und euretwegen, damit ihr zum Glauben kommt, bin ich froh, daß ich nicht dort war' (11,15a). Daß Jesus dem Umstand des ,Zu spät' etwas Erfreuliches abgewinnt, das sogar den Glauben der Jünger zu eröffnen vermag, bleibt undurchsichtig. Läßt sich der Sinn der Äußerung mit Bultmann dahingehend festlegen, daß die Jünger eben „das Wunder der Totenerweckung erleben" und unter dem faszinierenden Eindruck dieser Erfahrung „Glauben fassen [sollen]"22 (vgl. 2,11)? Dann wäre Jesu Zögern (vgl. 11,6) nur darauf angelegt, es zum Schlimmsten kommen zu lassen, damit die δόξα des Wundertäters eine unüberbietbare Steigerung erfahrt. In ähnliche Richtung weist der Kommentar J. Beckers. Jedenfalls auf der Ebene der Semeia-Quelle besagt 11,15a nach seinem Dafürhalten, daß „Jesus 21 Zu Recht verwahrt sich R. BULTMANN (s. Anm. 1) gegen den Versuch, die Stelle unter die typisch johanneischen Mißverständnisse zu subsumieren, weil es ,Ja nicht um die Verwechslung des Himmlischen und Irdischen" geht (304 Anm. 6). Doch sollte man die Fehlreaktion der Jünger in 1 1 , 1 2 , auch wenn sie ,plump' anmutet (vgl. BULTMANN, 3 0 4 ) , in literarischer Hinsicht nicht als ein .primitives Kunstmittel' kennzeichnen (gegen

BULTMANN, 3 0 4 A n m . 6). 22

R. BULTMANN (S. A n m . 1), 3 0 5 .

Lebensweg als Kreuzesweg

134

nicht aus Mitleid hilft, ja Mitleid gar nicht kennt, sondern Situationen nur ausnützt, um sich selbst als Wundertäter höchster Qualität zu offenbaren. Vorherwissen und planerische Eigeninitiative sind eingesetzt, um durch Wunder Glauben zu wecken (vgl. 20,30f. und die Planung in 6,5f.)"23. Dann ginge es darum, daß die Jünger „das gewaltige Zeichen der Auferweckung des Lazarus sehen" und sich durch diese Wahrnehmung zum Glauben bewegen lassen sollen24. Wie verträgt sich eine derartige Erwägimg aber mit den johanneischen Vorbehalten gegenüber einem Glauben, der durch pure Sensation geweckt wird (vgl. 2,23; 4,45.48; 6,2.14; 20,29)? Von daher gesehen, ist für die Bemerkung von 11,15a über die genannte erste Referenz hinaus zugleich eine zweite, hintergründige zu vermuten, in der die Totenerweckung nur mittelbar den Anstoß zum Glauben gewährt. Wie bei dem Offenbarungswort von 11,4 dürfte daran gedacht sein, daß die überragende Wimdertat den Wundertäter selbst ans Kreuz bringt. Dann bezöge sich die Rede von der ,Freude' Jesu auf ein Ereignis, das durch die Erweckung des Lazarus zwar herbeigeführt wird, mit dieser aber nicht zusammenfallt. Sie gälte dem Widerfahrnis seiner Erhöhung, die sich am Kreuz vollzieht (vgl. 3,14 im Zusammenhang von 3,13-16; 8,28; 12,32.34 mit 12,23; 13,31)25. Dies besagt: Der durch das Lazarus-Geschehen ausgelöste Prozeß erfüllt sich im Tod Jesu, nämlich im Weggang des Offenbarers, und dieser Weggang eröffnet allererst die Möglichkeit des Glaubens. So verstanden, weist das Wort Jesu in 11,15a auf das Thema der Abschiedsreden voraus (vgl. bes. 16,5ff. 17.28, aber auch schon 14,4f.28 im Anschluß an 13,3.33.36). Wenn es dann (11,15b) in deutlicher Anspielung auf das (mit Judäa als Zielangabe verbundene!) άγωμεν heißt: άλλα άγωμεν προς αύτόν, so verschleiert diese Aufforderung den Sachverhalt, daß der gemeinsame Weg zu Lazarus in einen Weg mündet, den zu gehen allein dem Offenbarer vorbehalten bleibt. Weil Thomas diesen Zusammenhang von Grund auf verkennt, kann er den Mitjüngern empfehlen: ,Auch wir wollen gehen (άγωμεν), damit wir mit ihm [sc. mit Jesus] sterben' (11,16)26. Thomas erweist sich somit nicht erst in 14,5 oder später in 20,24ff als ein Reprä-

23 24

J. BECKER (S. A n m . 2 ) , 4 1 4 . J. BLANK (S. A n m . 3 ) , 2 6 5 .

25 Vgl. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetisch-hermeneutischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie (AThANT 72), Zürich 1987, 201: „Die Einzigartigkeit Jesu besteht darin, daß der Höhepunkt seines Lebens sich paradoxerweise in der Bewegung nach unten vollzieht, daß er in seiner Todesstunde die Würdigung vom Vater erhält". 26 Der grammatisch mögliche Bezug von μετ' αύτοϋ auf Lazarus kommt hier nicht in Betracht (vgl. R. BULTMANN [s. Anm. 1], 305 Anm. 4); zu vergleichen ist das Petruswort in der Szene von der Ankündigung der Verleugnung Mk 14,31 Parr.; Joh 13,37.

Lebensweg als Kreuzesweg

135

sentant des Unglaubens, der blind ist für den Weg des OfFenbarers. Wäre ihm nämlich der Glaube erschwinglich, dann ließe er sich nicht nur die Ankunft Jesu in der Welt gefallen, sondern er ließe den in die Welt Gesandten auch gehen, und zwar allein ans Kreuz und in den Tod gehen.

III.

Besonders im Hinblick auf das zuletzt Gesagte erschließt sich retrospektiv der innere Sachbezug, der beide Dialogteile zusammenhält. Denn was im Nacheinander der zwei Gesprächsgänge (11,7-10.11-16) zur Sprache kommt, ist der Aufbruch nach Judäa (= Jerusalem) und (zu Lazarus) nach Bethanien, und die mit diesem zwiefachen Aufbruch ins Auge gefaßten Wege sind aufs engste ineinander verschlungen. Einerseits erweist sich nämlich gerade der Weg zu Lazarus, wie der Fortgang der Handlung zeigt (vgl. schon 11,46-53), als der Weg, der Jesus ans Kreuz bringt. Andererseits ist der als Kreuzesweg verstandene Weg nach Judäa de facto die sachliche Prämisse dafür, daß der Lebensweg zu Lazarus nach Bethanien überhaupt gegangen werden kann. Anders gesagt: Auf dem Weg zu Lazarus offenbart sich Jesus als das Wort des Lebens, das den verschlossenen Raum des Todes zu öffnen vermag (vgl. 1 l,25f mit 11,43b)27. Und eben dies Er-

27

Man kann J. BECKER (S. Anm. 2) nur zustimmen, wenn er herausstellt, daß die Selbstprädikation des OfFenbarers in ll,25f im Brennpunkt der Erzählung steht: „Das Wunder ist... nicht mehr in seiner hinführenden und dienenden Funktion verstanden, das das Offenbarungswort vorbereitet, sondern von Anfang an dem Offenbarungswort durch Nachordnung untergeordnet. So hat E [sc. der Evangelist] ganz in seinem Sinn den Rang zwischen Wort und Wunder szenisch eingefangen. Er hat dabei in Kauf genommen, daß nun das Wunder selbst dem Glaubenden nichts Uber 1 l,25f. hinaus Neues für sein Todesverständnis sagen kann". Im selben Zusammenhang konstatiert Becker zu Recht die theologische Irrelevanz des Mirakels: „In der Tat: von ll,25f. her muß das Bestaunen des Wunders und das Hoffen auf wunderbare Vorgänge wie in 11,Iff. als theologisch überflüssig und ohne Sinn gelten" (425). Dies besagt in hermeneutischer Hinsicht: Das Gewicht des Erzählzusammenhangs muß von der Sensation auf das Wort Jesu zurückverlegt werden. Alles hängt an dem Ruf von 11,43b, der sich wie ein Widerhall der Selbstzusage des Lebens in 1 l,25f zu verstehen gibt. Im Sinne des Evangelisten könnte man somit das einmalige Wunder der Erweckung eines Toten als eine ironische Konzession an den Unglauben bezeichnen. Die Konzession liegt darin, daß Jesus dem Verlangen der jüdischen Gefolgschaft (vgl. 11,3Iff und insonderheit 11,37) nachkommt und seine Wundermacht tatsächlich demonstriert. Und doch trägt diese Konzession insofern zugleich ironischen Charakter, als sie von der Erwartung begleitet ist, gegen den Unglauben nichts ausrichten zu können. Diese illusionslose Einstellung wird durch den Fortgang der Handlung unverzüglich bestätigt. Denn der Effekt der Wundertat ist entweder ein fragwürdiger Mirakel-

136

Lebensweg als Kreuzesweg

eignis löst widersinnigerweise den Todesbeschluß der Behörde aus und veranlaßt den Kreuzesweg Jesu. Aber der Umstand, daß Jesus diesen Weg ans Kreuz geht, ermöglicht in Wahrheit erst den Weg zu Lazarus. Auf dem Lazarus-Weg kann nur deshalb der Glanz des Lebens aufstrahlen, weil sich dieser Glanz proleptisch als die Frucht des Kreuzesweges zu verstehen gibt. Die Dialektik dieser Interdependenz der beiden Wege Jesu artikuliert sich in 11,7-16 als Doppeldialog. Wie sehr dem Erzähler an dem sachlichen Ineinander der beiden Wege liegt, zeigt sich am Schlußvotum des Thomas 11,16b, das die Verschränkung der beiden Wegmotive ausdrücklich vollzieht, freilich auf eine der in Frage stehenden Sache nicht angemessene Weise. So wird deutlich: Der Abschnitt 11,7-16 expliziert die bereits in 11,4 geltend gemachte Zumutung in der Weise des Dialogs. Und zwar ist hier in das Nacheinander von zwei Gesprächsgängen transformiert, was sich in 11,4 in der Überlagerung der Perspektiven des Vordergründigen und des Hintergründigen darstellt: Der Glanz des Lebens, der im Wunder der Erweckung des Lazarus aufstrahlt, will als der göttliche Glanz dessen wahrgenommen sein, der seine Sendung in der Selbsthingabe am Kreuz vollendet.

glaube (11,45) oder feindselige Ablehnung (1 l,46ff). Das Außergewöhnliche erscheint als ein skandalöser Sachverhalt, der die Gegenaktion des Kosmos heraufbeschwört.

DER GLAUBE ALS SEHEN DES HERZENS Zur Interpretation von Johannes 9*

Vorausgeschickt seien vier Vorbemerkungen zur literarischen Eigenart und zum narrativen Charakter des Textes: 1. Die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen präsentiert sich als ein kunstvoll aufgebautes Ganzes. Wohl hat der Evangelist Tradition verwendet, die wahrscheinlich nur noch in 9,1.6f, also im Auftreten des Wundertäters und in der Therapie1, greifbar wird2. Aber dieses Material fügt sich glatt in die vorliegende Episodenfolge. Erkennbar wird eine Abfolge von sieben Szenen, die dialogisch geprägt sind3. Diese Gespräche sind zwar durch die Therapie ausgelöst, gelten in Wahrheit aber einem Thema, das die Episode der Heilung transzendiert. 2. Charakteristisch fur die erzählte Welt ist der szenische Aufriß der dialogischen Bewegung. Daran wird eine dramaturgische Regie bemerkbar, welche die einzelnen Auftritte lenkt und dramatisch zuspitzt. Das Ganze trägt das Gepräge eines Bühnenstücks, in dem unterschiedliche Personen auftreten und miteinander kommunizieren. Es ist diese Figurenkonstellati* Abschiedsvorlesung, die am 22.12.1998 in der Aula der Alten Universität in Marburg gehalten wurde. 1 O. SCHWANKL, Die Metaphorik von Licht und Finsternis im johanneischen Schrifttum, in: K. KERTELGE (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament (QD 126), Freiburg usw. 1990, 135-167, 153ff, vermutet, daß die „usprüngliche kleine Einheit" im wesentlichen in 9,1.6f enthalten ist (153). 2 J. PAINTER, John 9 and the Interpretation of the Fourth Gospel, JSNT 28, 1986, 3166, hält 9,l-3.6f (Heilung) und 9,8-11 (Zeugenmotiv) für Tradition, 9,4f. 13-41 dagegen mehr oder weniger für evangelistischen Kommentar (33f); nach M. REIN, Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Tradition und Redaktion (WUNT 73), Tübingen 1995, 293.358, lassen sich 9,l-3a.6-7a.8-12.35-38 als Basisgeschichte, 9,13-17 als spätere Ergänzung und 9,3b—5.18—34.39—41 als redaktionelle Erweiterungen unterscheiden (wo wird 9,7b zugeordnet?). Zurückhaltend gegenüber derartigen Schichtenanalysen äußert sich CHR. WELCK, Erzählte Zeichen. Die Wundergeschichten des Johannesevangeliums literarisch untersucht. Mit einem Ausblick auf Joh 21 (WUNT 69), Tübingen 1994, 175f.l91 Anm. 170. 3 Im einzelnen lassen sich folgende Abschnitte voneinander abgrenzen: 9,1-7 die Blindenheilung; 9,8-12 der Zweifel der Leute; 9,13-17 das erste Verhör des Geheilten durch die Pharisäer; 9,18-23 die Vernehmung der Eltern durch die Juden; 9,24-34 das zweite Verhör des Geheilten und sein Synagogenausschluß; 9,35-38 der Dialog Jesu mit dem Geheilten; 9,39-41 die Kontroverse Jesu mit den Pharisäern (so u.a. mit J.W. HOLLERAN, Seeing the Light. A Narrative Reading of John 9, EThL 698, 1993, 5-26.354-382, 14f).

138

Glaube als Sehen des Herzens

on, die Aufmerksamkeit beansprucht. Als Partizipanten fungieren nämlich auf der einen Seite Jesus und seine Jünger, der Geheilte und seine Eltern, auf der anderen Seite die Pharisäer und allgemein die Juden. Die soziale Instanz der Nachbarn nimmt eine Zwischenstellung ein. Die Figuren bilden also zwei große Blöcke, die verschieden beleuchtet sind: Im hellen Glanz stehen Jesus, seine Jünger, der Geheilte und die Eltern, während die Pharisäer und die Juden im Schatten agieren. Hier wie auch sonst im Johannesevangelium repräsentieren die Juden die Welt. Sie sind von dem Drang beseelt, sich aus dem Eigenen zu begründen, und insofern sind sie unsere Stellvertreter. 3. Die dritte Bemerkung betrifft die Art der Dialoge. Orientiert man sich an der Tendenz des Gesprächsverlaufs, wird deutlich, daß im Mittelteil ein forensisches Ineresse leitend ist. Die drei Dialoge der Partie 9,13-34 besitzen jeweils den Charakter einer gerichtlichen Vernehmung. Das Ganze erinnert unterschwellig an die Prozedur einer Gerichtsverhandlung, die sich (und das ist das Auffallende) zwar vordergründig mit dem Geheilten befaßt, in Wahrheit aber den Therapeuten im Blick hat. Wie der Wunderbericht lediglich die Folie fur eine Reihe von Debatten abgibt, die sich von Szene zu Szene mehr zuspitzen, so stellt der Fall des Geheilten nur das Medium eines Prozeßdramas dar, als dessen causa in Wahrheit die Person Jesu zur Verhandlung ansteht. Hintergründig gilt das Interesse der Verhörinstanz dem Versuch, den Therapeuten einer gesetzwidrigen Tat zu überfuhren und zu verurteilen. Nun zeigt sich aber im Verlauf der Zeugenvernehmung, daß die Vertreter der Anklagebehörde ihre Absicht nicht durchsetzen können. Sie verfugen zwar den Ausschluß des Geheilten aus der religiösen Gemeinschaft, doch der eigentlich Angeklagte, d.h. Jesus, bleibt vorerst ihrem Griff entzogen. Am Ende findet vielmehr ein Rollentausch statt: Der Angeklagte erscheint in der Rolle des Richters, der die Repräsentanten der Anklageinstanz zur Rechenschaft zieht. 4. Die vierte Bemerkung gilt einer Eigenart johanneischer Komposition. Wie häufig im Johannesevangelium ist der diaologisch erweiterte Wunderbericht auch im vorliegenden Fall einem Offenbarungswort zugeordnet und als σημείον zu 8,12 konzipiert (,Ich bin das Licht der Welt'; vgl. 9,5). Im Blick auf dieses Wort gewinnt die Heilungsgeschichte ihre typisch johanneische Transparenz. Besonders der doppelt angelegte Schlußteil läßt an der symbolischen Referenz des Erzählten keinen Zweifel (vgl. 9,35-38.39-41). So gibt die Erzählung zugleich zu verstehen, was es mit der Aussage des Prologs in 1,5 auf sich hat: ,Und das Licht scheint in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht erfaßt'.

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139

I. Die Blindenheilung (9,1-7) Die szenische Exposition (9,1) hat den Charakter der Einleitung einer ursprünglich selbständigen Einzelgeschichte (και παράγων εί,δεν wie Mk 2,14; vgl. 1,16; 2,23; Mt 9,27). Die Rede vom ,Vorübergehen' signalisiert den Akt einer Epiphanie (vgl. z.B. Ex 34,5-7). Daß Jesus den Blinden wahrnimmt, weckt die Erwartung, daß er alsbald die Initiative ergreifen und sich dem Mann zuwenden wird. Stilgemäß wird die Schwere der Krankheit genannt: Der Betreffende ist von Geburt an blind. Auch die in 9,6f geschilderte Manipulation entspricht dem narrativen Muster der Gattung. Erst in 9,7 wird der Blinde von Jesus angeredet. Die Waschung im Teich Siloam soll die Heilung komplettieren. Daß der Mann der Weisung folgt und die gebotene Waschung vollzieht, versteht sich als Ausdruck seines Vertrauens, und seine Rückkehr demonstriert die Macht des Therapeuten. Nun ist der Akt der Heilung (9,6f) im Ablauf der erzählten Handlung durch den eingeschobenen Dialog der Verse 9,2-5 retardiert. Die Jünger fragen im Sinne des alttestamentlich-jüdischen Vergeltungsglaubens nach der Tat, der das widrige Schicksal der Blinddheit zugeschlagen werden muß (9,2). Nach dem Theologumenon des Tun-Ergehen-Zusammenhangs hat ein dem Gebot Gottes entsprechendes Verhalten notwendigerweise gute Folgen, umgekehrt ein böses Verhalten böse Folgen. Allein, bei einem Menschen, der von Geburt an mit Blindheit geschlagen ist, scheint das Ergehen kaum auf die eigene Tat rückfuhrbar. Also kommt ggf. ein Frevel der Eltern oder eine pränatale Verfehlung als Ursache in Betracht. Bezeichnend ist, daß die Jünger die Lage des Bemitleidenswerten nur in den Kategorien überkommener Dogmatik bedenken und nicht entfernt die Möglichkeit erwägen, daß in Jesu Gegenwart dem Widrigen selbst der Boden entzogen wird. Jesu Antwort (9,3) läßt die ins Spiel gebrachte Alternative nicht gelten, weist also die Diskussion der Frage ab. Im vorliegenden Fall handelt es sich vielmehr darum, daß (wie R. Bultmann feststellt) „an diesem Blinden Gottes Werke offenbar werden sollen. Damit ist auf das Heilungswunder vorausgewiesen; denn der, welcher ,Gottes Werke' wirkt, ist ja Jesus, dem der Vater gegeben hat, sie zu wirken (5,36). Das Leiden des Blinden dient also dem gleichen Zweck wie die Krankheit des Lazarus: 'ίνα δοξασ-ό-η ò υιός τού ϋεού δ ι ' αύτης (11,4), wie es der Sinn des Kana-Wunders war: έφανέρωσεν τήν δόξα ν αύτού (2,11)"4. Im zweiten Teil seiner Antwort (9,4f) pointiert Jesus die Notwendigkeit seines Tuns und stellt unter Verwendung einer allgemeinen Sentenz heraus, daß die Zeit der Offen4

R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes (KEK II 13 ), Göttingen

21

1986,251.

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barung begrenzt ist (vgl. 7,33; 8,21; 12,35). Der Schlußsatz ,Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt' (9,5) verbindet die Erzählung mit der Lichtrede (vgl. 8,12) und erschließt damit zugleich die Transparenz des Erzählten5. Auch am Gesichtspunkt der Sendimg zeigt sich die johanneische Zuspitzung des tradierten Wortlauts der Wundergeschichte (vgl. 9,4 sowie die volkstümliche Deutung des Namens Siloam in 9,7).

II Die Skepsis der Leute (9,8-12)

Jesus fehlt in dieser wie auch in den folgenden drei Szenen. Gleichwohl ist in allen Dialogen ständig von ihm die Rede. Daß nun Leute auftreten und das Wunderereignis erörtern, erinnert an das gattungstypische Zeugenmotiv derartiger Berichte (Admiration, Akklamation). Doch die Rolle der Menge ist gegenüber dem Muster der Gattung verändert. Sie geht gerade nicht in der Zeugenfunktion auf. Die Nachbarn und Bekannten übernehmen vielmehr die Rolle distanzierter Beobachter. Man ist sich jedenfalls über die Identität des Mannes, der angeblich die Sehkraft wiedererlangt hat, nicht einig. Die einen meinen, in ihm den bekannten Bettler wiederzuerkennen, die andern äußern Vorbehalte. So sieht sich der Geheilte provoziert, die Zweifel an seiner Identität mit dem vormals Blinden zu beseitigen (9,8f). Aber die Skepsis läßt sich durch die Richtigstellung des Betroffenen noch keineswegs beruhigen. Nun fragt man, wie das denn zugegangen sein kann: ,Wie sind denn deine Augen geöffnet worden?' (9,10) Die Antwort ist eine detaillierte Wiederholung der eingangs geschilderten Handlung im Munde des Geheilten (9,11). Was der Mann geltend macht, ist selbst eine auf die Szene der Heilung reduzierte Wundererzählung in Ich-Form. Literarisch gesehen, handelt es sich um die autobiographische Dublette der Aretalogie von 9,6f. So übernimmt der Geheilte selbst die Rolle des Wunderzeugen. Doch die Skepsis läßt sich auch durch die Stellungnahme des Betroffenen nicht beruhigen. Nun fragt man nach dem Verbleib des Wundertäters (9,12a). Diese Erkundigung klingt verräterisch. Agieren bereits die Nachbarn als Handlanger jener Prozeßinstanz, die sich des Therapeuten zu bemächtigen sucht? Das Gespräch endet damit, daß der Geheilte sein Nicht-

5

Vgl. J. BLANK, Das Evangelium nach Johannes (Geistliche Schriftlesung 4/lb), Düsseldorf 1981, 195; vgl. auch U. BUSSE, Metaphorik in neutestamentlichen Wundergeschichten?, in: K. KERTELGE (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament (QD 126), Freiburg usw. 1990,110-134,129ff.

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wissen bekundet (9,12b). Wiewenig dieser Ausgang den Interessen der Fragesteller entspricht, zeigt der Fortgang der Handlung.

III. Das erste Verhör des Geheilten durch die Pharisäer (9,13-17) 9,13 signalisiert einen Szenenwechsel. Man läßt den ehemals Blinden nicht in Ruhe, sondern fuhrt ihn wie einen Menschen, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen, vor die Pharisäer. Stillschweigend scheint vorausgesetzt, daß dieses Forum eine in religiösen Dingen kompetente Instanz darstellt. An der Aktion der Auslieferung zeigt sich im nachhinein, wiewenig den Nachbarn an einer objektiven Klärung des Sachverhalts liegt. De facto erweisen sie sich als verkappte Parteigänger der Gegner Jesu. Mit dem Szenenwechsel verbindet sich das Moment gesteigerter Spannung. Ist schon aus dem Umstand, daß nun die Pharisäer ins Spiel gebracht werden, eine verhängnisvolle Zuspitzung der Handlung ableitbar, so erst recht aus dem Erzählerkommentar von 9,14. Nachträglich wird festgestellt: ,Es war Sabbat an dem Tag, als Jesus den Schlamm gemacht und seine Augen geöffnet hatte'. So gerät die Heilung unversehens in den Ruch eines Sakrilegs; denn das Anrühren von Teig wird ausdrücklich unter den Arbeiten erwähnt, die auszufuhren am Sabbat untersagt sind6. Wieder wird der Mann zur Rede gestellt, aber die pharisäische Befragung nimmt nun unverkennbar die Züge eines Polizeiverhörs an. Man hat kein Interesse am Faktum der Heilung, sondern will wissen, wie sie geschah, um die Manipulation der Therapie dann gegen den Therapeuten als Sabbatvergehen ausspielen zu können (9,15a). Und wieder übernimmt der Befragte selbst die Rolle eines Wunderzeugen, indem er einen aretalogischen Bericht im Stenogrammstil abgibt (9,15b). In diesem fehlt bezeichnenderweise ein Hinweis auf die Anfertigung der heilenden Masse7. Doch auch diese Kautel kann die absehbare Reaktion der Pharisäer nicht verhindern. Man hat das Urteil längst gefällt: ,Diese Person [da] ist bestimmt nicht von Gott, denn sie hält den Sabbat nicht' (9,16a). So äußert sich, johanneisch gedacht, der Haß der Welt, der in der unterstellten Sabbatverletzung eine Handhabe zu besitzen meint, den Wundertäter zu diskreditieren. Auch durch eine kritische Rückfrage aus den eigenen Reihen (9,16b) lassen sich die Pharisäer in der Verfolgung dieses Interesses nicht verunsichern. Immerhin entsteht ein Schisma im Kreis der Hüter der Thora (9,16c). Dar-

6

Vgl. Bill. 1,615f.

7

S o u.a. M . REIN, aaO., 134f.

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aufhin sucht man den Geheilten zu einer Solidaritätserklärung zu verleiten, die ihn selbst dem Verdacht aussetzen müßte, die Thoraverletzung zu billigen: ,Was sagst du über ihn, daß er dir die Augen geöffnet hat?' (9,17a) Doch der Verhörte durchschaut die Perfidie der Frage und gibt sich keine Blöße. Er hintergeht den Anschlag, indem er den Wundertäter auf möglichst unverfängliche Weise charakterisiert, ohne sich selbst von ihm zu distanzieren: ,Ein Prophet ist er [wohl]' (9,17b). So endet das Verhör mit einer Äußerung, die das Interesse der Befragungsinstanz unterläuft. Der Verhörte zeigt sich der Vernehmungsbehörde überlegen.

IV. Die Vernehmung der Eltern durch die Juden (9,18-23) Als Repräsentanten der Rechtsinstanz fungieren nun die ,Juden'. Damit soll wohl kein Wechsel der Personen, sondern nur der offizielle Charakter des Verfahrens gekennzeichnet werden. Nach dem Mißerfolg der Befragung des Geheilten unternimmt die Behörde den Versuch, das Faktum der Heilung auf andere Weise in Mißkredit zu bringen. Man läßt die Eltern kommen und unterzieht diese nun einem Verhör. Wurde anfangs bestritten, „daß der Blinde sehend geworden sei", so wird jetzt „bezweifelt, daß der Sehende [sc. überhaupt] blind war"8 (9,18f). Die Eltern ziehen sich geschickt aus der Affaire. Sie identifizieren den Geheilten - er ist ihr Sohn - und bestätigen: Er war blind von Geburt (9,20). Auf die Fragen nach dem Wie und Wer verweigern sie indessen die Auskunft (9,21a). Diese Reaktion ist nicht von Häme (J. Becker9) oder Schadenfreude (R. Bultmann10), sondern einfach von der Klugheit der Bedrängten geleitet11. Derselben subversiven Strategie entspringt der Hinweis auf die Mündigkeit des Sohnes: Befragt ihn doch selber. Er ist alt genug, in eigener Sache für sich selbst auszusagen (9,21b). So stehen die Eltern zwar Rede und Antwort, geben aber nicht die von der Behörde intendierte Auskunft. Sie passen sich der Situation an, ohne der Macht zu weichen. Der narrative Kommentar sieht dies listige Verhalten in der Furcht vor den Juden motiviert (9,22). Man riskiert den Synagogenausschluß, wenn man Jesus als den Messias bekennt (9,22f). Ob sich in dieser

8

G. BORNKAMM, Die Heilung des Blindgeborenen. Johannes 9, in: DERS., Geschichte und Glaube. 2. Teil (BEvTh 53), GA IV, Müchen 1971, 65-72, 70. 9 J. BECKER, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/1), Gütersloh 2 1985, 319: „versteckt hämisch". 10 R. BULTMANN, aaO., 254: ,,schadenfrohe[r] Vorsicht". 11 Richtig CHR. WELCK, aaO., 178 Anm. 143: ,,kluge[r] Taktik".

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Erläuterung die Lage der johanneischen Gemeinde spiegelt12, ist insofern zweifelhaft, als die erzählte Welt kein Abbild historischer Verhältnisse darstellen will und alle ihre Elemente eine Funktion innerhalb des Rahmens der narrativen Funktion, nicht aber in Relation zur realen Welt übernehmen (zum Motiv der Furcht vor den Juden vgl. 12,42; 19,38; 20,19; auch 12,42; 16,20.

V. Das zweite Verhör des Geheilten und sein Synagogenausschluß (9,24-34) Die Behörde läßt den Mann ein zweites Mal vorführen und erweckt den Anschein, als sei ihr an einer Wahrheitsfindung gelegen (9,24a). De facto geht es ihr nur darum, die eingenommene Position durchzusetzen und das kolportierte Ereignis mit Hilfe der Aussagen des angeblich Geheilten ins Zwielicht zu bringen. Dann hätte man eine Handhabe gegen den Therapeuten und sein Gefolge. Daß die Behörde nur ihre eigenen Interessen verfolgt und den Mann in die Enge treiben will, zeigt die Eröffnung des Verhörs. Man fordert den Vorgeladenen auf, Gott die Ehre zu geben. Was mit dieser Weisung gemeint ist, ergibt sich aus der Selbsteinschätzung derer, die sie erteilen: ,Wir wissen [nämlich], daß dieser Mensch [da] ein Sünder ist' (9,24b). Der Mann wird also provoziert, das feststehende Urteil der Behörde zu sanktionieren. Damit er nicht selbst als ein Frevler dasteht, wird ihm nahegelegt, sich von dem Sünder Jesus loszusagen. So setzt man den Verhörten unter Druck, indem man auf die eigene religiöse Autorität pocht. Dies zeigt sich an „dem wiederholten οίδαμεν (v.24.29), unterstrichen durch betontes ήμεις (v.24.28.29)", weiter an „der Berufung auf Moses (v.28f)" sowie an „der Beschimpfung des ihnen nicht willfahrigen Mannes (v.28.34)"13. Der Geheilte läßt sich durch die Suggestionsversuche der Gegenseite nicht beirren. Er reagiert souverän, indem er ein Urteil über die Sünde des Therapeuten verweigert, um desto entschiedener sein Zeugnis zu wiederholen. Er bleibt bei dem, was er weiß: daß er nämlich blind war und jetzt sieht (9,25). Die Verlegenheit der Behörde zeigt sich an der wiederholten Frage nach dem Was und Wie der Heilung (9,26), als könnte „doch noch etwas für Jesus entscheidend Belastendes herausgebracht werden", „etwa durch einen 12 Wie K. WENGST annimmt (vgl. Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Der historische Ort des Johannesevangeliums als Schlüssel zu seiner Interpretation [BThSt 5], Neukirchen-Vluyn 981,49ff.52ff). 13 R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium, II. Teil (HThK IV), Freiburg usw. 2 1977, 318.

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Selbstwiderspruch des Verhörten"14. Und wieder zeigt sich der Befragte den Repräsentanten der Anklage überlegen. Es zeugt nicht nur von Zivilcourage, sondern von großer innerer Freiheit, wenn er nun auf stur schaltet und sich weigert, das schon einmal Gesagte zu wiederholen. Er nimmt die Frage vielmehr zum Anlaß, nun seinerseits diejenigen zu provozieren, die ihn in die Enge zu treiben suchen: ,Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden?' (9,27) Die unüberhörbare Ironie dieser Unterstellung bringt die derart Bloßgestellten aus der Fassung. Man weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als den Geheilten zu schmähen und ihn der Nachfolge einer anrüchigen Person zu bezichtigen. Demgegenüber betont man den eigenen Status. Die Repräsentanten der Rechtsinstanz verstehen sich als die Hüter der religiösen Norm. Sie sind die Jünger des Mose und wissen um dessen Legitimation; von einer Legitimation Jesu wissen sie nichts (9,28f). In seinem Schlußwort (9,30-33) geht der Verhörte nun ganz offen zum Gegenangriff über und geißelt sarkastisch den Widerspruch zwischen den ihm widerfahrenen Wunder und der Ignoranz jener, die sich diesem Ereignis unter Berufung auf die Tradition verschließen. Hintergründig thematisiert das Votum von 9,30 den Gegensatz von Unglauben und Glauben. Denn in der Ignoranz der Juden manifestiert sich die Blindheit der Welt: „Im Besitz ihrer Tradition, aus der sie ihre Sicherheit gewinnen, sind sie blind für die ihnen begegnende Offenbarung"15. Andererseits erscheint der Geheilte insofern als ein Repräsentant des Glaubens, als er zu erkennen gibt, daß ihm die Augen für die Wahrnehmung des Woher Jesu aufgetan wurden: Ohne sich dessen schon klar bewußt zu sein, bekennt er sich vor dem Forum der Anklage de facto zu Jesus als dem Gesandten der Liebe, und er scheut sich nicht, die argumentative Strategie der Juden zu imitieren und gegen diese selbst ins Feld zu fuhren. So beruft er sich in 9,31 in subversiver Absicht nun seinerseits auf ein Wissen, das ihn mit den Hütern der Thora zusammenschließt: Wir sind uns doch darin einig, daß Gott nur den erhört, der seinen Willen tut (vgl. Jes 1,1 Off; Ps 66,16ff; 109,7). Bezogen auf das Ereignis der Blindenheilung und den Status dessen, der sie ins Werk setzte, fuhrt dies Urteil unweigerlich zu dem Schluß: , Wäre dieser nicht von Gott, dann könnte er nichts tun' (9,32f)16. Dieser theologischen Argumentation haben die Vertreter der Behörde nichts mehr entgegenzusetzen. Sie können den Geheilten nur noch verunglimpfen: ,Du bist ganz und gar in Sünden geboren, und uns willst du belehren?' (9,34). Das ist die Antwort 14 15

16

R. BULTMANN, aaO., 2 5 5 . R. BULTMANN, aaO., 2 5 6 .

Wie M. REIN (vgl. aaO., 235) notiert, ist ein Syllogismus verwendet: Obersatz (9,31), Untersatz (9,32), Schlußfolgerung (9,33).

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derer, denen die Argumente ausgehen. So äußert sich der aggressive Unglaube. „Will man sich der Evidenz einer Sache entziehen, ficht man die persönliche Kompetenz des Gegners an" 17 . Versuchte man zunächst, die Tat Jesu als Sabbatvergehen und den Täter als Frevler zu denunzieren, so stellt man es nun darauf ab, den Geheilten als Sündenprodukt in Mißkredit zu bringen. Dabei ist dasselbe Theologumenon im Spiel, das eingangs von den Jüngern in Betracht gezogen wurde: Der leibliche Defekt eines Blindgeborenen hat als die Folge eines Vergehens der Eltern zu gelten. „So lehnen die Juden es ab, sich von diesem in Sünden Geborenen belehren zu lassen. Auf einmal nehmen sie nicht mehr die Tatsache seiner Heilung zum Ausgang, sondern werfen im Sinne des Vergeltungsdogmas, von dem im Anfang der ganzen Erzählung die Rede war, die Tatsache seiner Blindheit in die Waagschale, die sie früher, als es ihnen paßte, gerade in Zweifel gezogen hatten (9,18f). Nun wird der Geheilte aus der Synagogengemeinschaft ausgestoßen" 18 .

VI. Der Dialog Jesu mit dem Geheilten (9,35-38) Die gesamten vorangehenden Dialogszenen spielten sich ohne die persönliche Präsenz Jesu ab. Seine direkte Beteiligung an dem Geschehen bleibt auf Eingang und Schluß des Dramas beschränkt. Nach der Exkommunikation des Geheilten betritt er nun zum zweiten Mal die Bühne. Wie der Erzähler anmerkt, hat Jesus von diesem Ereignis erfahren, nimmt sich des davon Betroffenen an und konfrontiert ihn unvermittelt mit der Frage: .Glaubst du an den Menschensohn?' (9,35) R. Bultmann stellt beiläufig fest: „Offenbar ist vorausgesetzt, daß der Geheilte Jesus bei der Begegnung erkennt. Wie das möglich ist, da er ihn doch vor der Heilung nicht hatte sehen können, darf man natürlich nicht fragen" 19 . Doch diese Bemerkung verkennt m.E. die Ausgangslage des Dialogs. Der Auftakt der Szene wie auch der Verlauf des folgenden Gesprächs suggerieren vielmehr den Eindruck, daß der Geheilte nicht weiß, mit wem er es zu tun hat. Nur so erklärt sich die Rückfrage in

17

G . BORNKAMM, a a O . , 7 1 .

18

G. BORNKAMM, ebd. Daß dieser Ausschluß symbolische Dimensionen besitzt, pointiert zu Recht J.W. HOLLERAN, Seeing the Light, EThL 698, 1993, 21: „Jesus is absent from the central scenes (vv. 8-34) of the narrative, outside the space they occupy. And only when the man born blind is expelled from that space and is ,outside' (εξω) like Jesus, does their final climactic encounter take place ... insiders must become outsiders to becom e true insiders (9,22; 12,42; 16,2)". 19

AaO., 2 5 6 Anm. 8 .

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9,36: ,Und wer ist es, Herr, damit ich an ihn glauben kann?' „Die Umständlichkeit des Dialogs - hervorgerufen dadurch, daß Jesus nicht einfach fragt: glaubst du an mich? - hat" dann keineswegs „den Sinn, den Abstand zu betonen, der zwischen der bisherigen Anerkennung Jesu durch den Geheilten und dem geforderten Bekenntnis besteht", wie Bultmann unterstellt20. Der gewundene Auftakt des Dialogs ist vielmehr darauf angelegt, die Selbstaussage Jesu in 9,37 als ein Wort erscheinen zu lassen, das den Geheilten überraschend trifft. Aufschlußreich ist die Diktion der Äußerung Jesu: ,Du hast ihn gesehen, und der mit dir spricht, der ist es'. Zunächst will die auffallige Differenz in der Wahl der Tempora beachtet sein (Perf. έωρακας neben Präs. λαλών). Das Ereignis des Sehens, auf das der Geheilte angesprochen wird, geht somit offenbar in der gegenwärtigen Begegnung nicht auf, wie Bultmann21 annimmt (,den du jetzt siehst und der hier mit dir spricht'). Vielmehr scheint vorausgesetzt, daß der Angeredete seinen Gesprächspartner nicht erst jetzt im Augenblick der Unterredung wahrnimmt, sondern daß er ihn auch schon vorher ,gesehen' hat. Beachtung verdient zum anderen, daß an dieser Stelle ein Verb (òpàv) Verwendung findet, das in der Erzählung bisher vermieden war. Durchgängig wird der Vorgang der Wiedergewinnung des Augenlichts mit den Verben βλέπειν und άναβλέπειν bezeichnet (vgl. 9,7.11.15.18-20.25). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der Mann seinen Therapeuten bis zur Schlußszene noch gar nicht mit eigenen Augen wahrgenommen hat. Bei der Erstbegegnung war er noch blind und mußte sich die Augen mit Schlamm bestreichen lassen, und während der folgenden Szenen hatte er es nur mit den Nachbarn und den Vertretern der Behörde zu tun22. Gleichwohl unterstellt Jesu Wort, daß der Geheilte ihn .gesehen' hat. Offensichtlich ist an eine Wahrnehmung gedacht, die das physische Sehen transzendiert. Der Geheilte hat Jesus als das ,Licht der Welt' erfaßt; er hat ihn als den Gesandten der Liebe wahrgenommen. Als Beleg dafür kann sein Verhalten in den Verhören gelten; denn dort hat er von dieser Wahrnehmung unwillkürlich Zeugnis abgelegt, freilich noch ohne klare Einsicht in die Konsequenz des Geschauten. Nun wird 20

AaO., 257; ebenso J.W. HOLLERAN, aaO., 378f. AaO., 257 Anm. 6. 22 Treffend M. MÜLLER, vgl. .Have You Faith in the Son of Man' (John 9.35), NTS 37, 1991, 291-294, 292f (der Menschensohn ist dann nicht als christologischer Titel gebraucht, sondern versteht sich als äquivok bleibende Umschreibung Jesu [vgl. 294]; unklar R. RHEA, The Johannine Son of Man [AThANT 76], Zürich 1990,43fi). Daß der Blindgebomene Jesus vorher noch gar nicht wahrgenommen hat, pointiert auch G. VOIGT, Licht Liebe - Leben. Das Evangelium nach Johannes (BTSP 6), Göttingen 1991,158; anders M. REIN, der unterstellt, der Zusammenhang von 9,37 verweise auf 9,7 (vgl. aaO., 41f), von dieser Position aber später abrückt (vgl. 201). 21

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er von Jesus auf sein Bekenntnis angesprochen und bei dem behaftet, was ihm de facto schon vorher aufgegangen war. Seine abschließende Reaktion erscheint wie das Innewerden dieses Zusammenhangs. Überwältigt von der Relevanz des Wahrgenommenen, bekennt der Geheilte: ,Ich glaube, Herr' (9,38; vgl. das Thomasbekenntnis in 20,28: 'mein Herr und mein Gott'). Zugleich fallt er vor Jesus nieder. Wie Maria in 11,32 vollzieht er die Proskynese, und das bedeutet, daß „er in Jesus den Ort der Gegenwart Gottes anerkennt"23.

VII. Die Kontroverse Jesu mit den Pharisäern (9,39-41) Zwischen den Versen 9,38 und 9,39 ist eine Zäsur vorauszusetzen24. Die Abschlußszene spielt in jenem forensischen Milieu, das bereits den Hintergrund der Verhörszenen ausmachte. Vor der Öffentlichkeit der Welt ergreift Jesus noch einmal das Wort und macht geltend, daß er ,zum Gericht in diese Welt gekommen' ist (zur Form des Logions vgl. z.B. Mt 5,17; 10,34f). Das Gericht vollzieht sich in der Scheidung zwischen Sehenden und Blinden, und zwar dergestalt, daß eine Umkehrung der gegebenen Verhältnisse Platz greift: Blinde werden sehend und Sehende blind. Dabei ist natürlich auf die vorangehende Blindenheilung angespielt, und zwar auch in bezug auf die darin wirksam werdende Äquivokation der Sprache. Es geht nicht nur um den Gegensatz zwischen leiblicher Blindheit und dem physischen Sehvermögen, sondern zugleich um die Differenz von Unglauben und Glauben. Der Krisenspruch verwendet also die Ausdrücke , Sehende' und ,Blinde' im doppelten Sinn. Sowohl die reale als auch die metaphorische Ebene der Wortverwendung sind im Blick. Um es mit A. de Saint-Exupéry zu sagen: Intendiert ist ein Gefälle vom Sehen der Augen zum Sehen des Herzens: „man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar" (Der kleine Prinz)25. So gibt die Erzählung zu verstehen, daß der Blindgeborene nicht nur mit den Augen, sondern auch und vor allem mit dem Herzen zu sehen beginnt. Andererseits macht sie deutlich, daß

23

J. BLANK, aaO., 207. Sachlich richtig stellt J. ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970, heraus, daß der geheilte Blinde zwar das hat, „was die synoptische Tradition πίστις nennt, ... aber noch kein Glaubender im johanneischen Sinne" ist; dazu bedarf es „eines besonderen Offenbarungshandelns" (138f). Kritisch bleibt allerdings anzumerken, daß die eigenwillige Initiative Jesu (9,35ff) selbst nicht ausdrücklich erläutert wird. 2 * So jetzt auch NESTLE / ALAND, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 27 1993. 25 A. de SAINT-EXUPÉRY, Der kleine Prinz, Düsseldorf o. J., 52.

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bei anderen die Sehkraft der Augen mit der Blindheit des Herzens gepaart ist26. Im Offenbarungswort von 9,39 steht dieser zweite Fall gemäß dem Stilgesetz vom Achtergewicht im Vordergrund des Interesses. Provoziert durch die Äußerung Jesu, fragen die Pharisäer, die sich in der Nähe befinden: ,Sind etwa auch wir Blinde?' (9,40) Damit sprechen sie ungewollt aus, was sie im Sinne des Evangelisten in Wahrheit sind. Aber die Intention der Frage läuft ja eben nicht auf das Eingeständnis der eigenen Blindheit hinaus. Im Gegenteil, den Fragestellern kommt nicht von fern in den Sinn zuzugeben, daß sie blind sein könnten (,wir sind doch nicht etwa blind?'). Deshalb antwortet Jesus: ,Wenn ihr [wirklich] blind wäret, hättet ihr keine Sünde' (9,41a). Wenn „sie eingestehen würden, daß sie auf die Offenbarung des Lichtes angewiesen sind"27, wäre ihnen keine Verfehlung anzulasten. Sie wären dann nämlich in derselben Lage wie der Blindgeborene, der darauf angewiesen war, daß ihm die Augen geöffnet wurden. Faktisch behaupten sie aber gerade, Sehende zu sein. Sie wissen sich auf der Seite der mosaischen Überlieferung, aus der sie ihre Sehfähigkeit, nämlich die Einsicht in das Wesen Gottes ableiten. Und damit „bestreiten sie, des Lichtes bedürftig zu sein[,] und versündigen sich so an der Gegenwart Gottes in Jesus"28. Darum gilt: ,So bleibt eure Sünde' (9,41b). Treffend stellt J. Heise fest: „Sie bleiben, was sie sind, während die Glaubenden nicht blieben, was sie waren. Die Sünde der Juden besteht darin, daß sie dem Blindgeborenen vorwerfen, daß er ,ganz in Sünden geboren' ist, und nicht erkennen, daß dies doch in Wahrheit auch für sie zutrifft; vor der Offenbarung gab es für alle Menschen nur ein Sein in der Finsternis der Sünde. Würden sie dies angesichts der Worte und Werke Jesu erkennen (vgl. 15,22.24), so gehörten sie schon zu den μή βλέποντες, denen das Sehen zugesprochen wird. So aber behaupten sie einen Unterschied zwischen sich und dem Blindgeborenen (vgl. 9,28)"29. Daher bleibt auch ihre Schuld bestehen (vgl. 20,23), und zwar so lange, wie ihr Unglaube bleibt30.

26 Vgl. H.H. MALMEDE, Die Lichtsymbolik im Neuen Testament (StOR 15), Wiesbaden 1986, 96: Jesus „schafft die Möglichkeit der Erkenntnis dem, der sie nicht hat. Der gegenläufige Akt ist diesem nur scheinbar voll analog: er nimmt sie dem, der sie besitzt". 27 J. HEISE, Bleiben. Menein in den johanneischen Schriften (HUTh 8), Tübingen 1967, 56. 28 29 30

J. HEISE, ebd. J. HEISE, aaO., 5 6 f . V g l . J. BLANK, aaO., 2 0 9 .

EINÜBUNG DES NEUEN SEINS Paulinische Paränese am Beispiel des Galaterbriefs1

/. Das Anliegen des Galaterbriefs im Spiegel des Postskripts

Unser Interesse gilt der Eigenart paulinischer Paränese im Kontext des Galaterbriefs. Soll dies Thema erörtert werden, scheint eine summarische Einführung in das Gesamtanliegen des Schreibens geraten. Für eine derartige Orientierung empfiehlt sich der Einsatz beim Postskript (6,11-18), und zwar aus folgendem Grund. Wie H.D. Betz wahrscheinlich gemacht hat, besitzt der Brief an die Galater rhetorisches Profil. Er gehört in eine forensisch geprägte Redesituation, in der Paulus die Rolle eines Angeklagten einnimmt. Als Instanz der Anklage erscheint die antipaulinische Agitation in Galatien, während die galatische Gemeinde die Jury darstellt, die das Urteil zu fallen hat2. Deutlich spiegelt sich der rhetorische Charakter des Schreibens im Aufriß wider, der weitgehend dem Gattungsmuster der antiken Gerichtsrede entspricht3. In diesem Rahmen übernimmt das Postskript die Funktion der peroratio, die formelhaft wiederholt, was die Argumentation bezweckt (recapitulatio), wobei zugleich die Absicht mitschwingen kann, die Jury emotional gegen die Partei des Prozeßgegners einzunehmen (indignatio)4. Wenn der Galaterbrief tatsächlich rhetorisch konzipiert ist, darf man also vom Postskript wesentlich Informationen über die Art des Konflikts und die Zielsetzung der paulinischen Stellungnahme erwarten. 1 Vortrag, der am 7. September 1986 auf den Jahreskongreß der Académie Internationale des Sciences Religieuses in Venedig gehalten wurde. 2 Vgl. H.D. BETZ, Galatians (Hermeneia), Philadelphia 1979, 14ff. Nach Betz gehört der Galaterbrief zum Genre des „apologetischen Briefs" (14). Die Grundlinien der Position des Kommentars hatte BETZ bereits in seinem Aufsatz The Literary Composition and Function of Paul's Letter to the Galatians (NTS 21,1975, 353-379) vorgestellt. 3 Erkennbar sind die Redeteile: exordium (1,6-10), narratio (1,11-2,14), propositio

(2,15-21), probatio (3,1^1,31) und peroratio (6,11-18). Zum Ganzen vgl. BETZ (S. Anm.

2), 16ff, der allerdings die narratio erst mit 1,12 beginnen läßt und im übrigen den paränetischen Abschnitt (5,1-6,10) rhetorisch als exhortatio würdigt (zur Problematik dieser Charakteristik in Hinsicht auf die Disposition der Gerichtsrede s.u.). 4 Zur Sache vgl. jetzt M. FUHRMANN, Die antike Rhetorik (Artemis Einführungen Bd. 10), München / Zürich 1984,97f.

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Einübung des neuen Seins

Wie sehr der Briefschluß dem rhetorischen Desiderat einer recapitulatio gerecht wird, zeigt sich an den Ausführungen von 6,12-16. Paulus konzentriert den Blick noch einmal auf den Brennpunkt der Kontroverse, und zwar zunächst (6,12f) polemisch in Hinsicht auf das Programm der Gegner: Alle, die im Fleisch ,eine ansehnliche Rolle spielen' wollen, die nötigen euch zur Beschneidung, nur damit ihnen durch das Kreuz Christi nicht Verfolgung widerfahrt. Auch sie nämlich, die Beschneidung exerzieren, halten selbst das Gesetz nicht, sondern wollen, daß ihr euch beschneiden laßt, damit sie mit eurem Fleisch Ruhm gewinnen.

Diese Schlußattacke ruft noch einmal die Streitsache in Erinnerung, die den Galaterbrief veranlaßt. Paulus sieht die Gemeinde und implizit die eigene apostolische Autorität durch die Einflußnahme einer Theologie judenchristlicher Prägung bedroht, die das Evangelium von Christus mit einer Verpflichtung auf die Observanz des jüdischen Gesetzes verquickt. Man redet den Galatern ein, erst der Akt der Beschneidung, also die Eingliederung in das erwählte Volk, verbürge die eschatologische Rettung. Wer Christ sein wolle, müsse auch am Abrahambund teilhaben und insofern Jude werden. Aufschlußreich ist die Art, in der das Postskript die Agenten des ^ d e ren Evangeliums' namhaft macht. Sie ist von dem theologischen Urteil diktiert, das der Brief insgesamt zu Gehör bringt. Um die Gegner zu entlarven, zeichnet der Apostel zunächst ein Bild des alltagsüblichen Verhaltens. Er stellt Menschen vor Augen, die in der Sphäre des Fleisches eine dominierende Rolle spielen wollen. Dabei ist der Gesichtspunkt leitend, daß man anderen etwas vormacht und für das vorgegaukelte Schaustück auch noch mit Beifall bedacht wird. Die Welt erscheint als Schauplatz für eine Maskerade der Ruhmsüchtigen. Wenn Paulus nun seine Kontrahenten im Nachgang als Leute dieses Schlags ausgibt, so charakterisiert er sie damit als typische Repräsentanten der Welt5. Nur auf das eigene Ansehen bedacht, bedienen sie sich sogar des Ritus der Beschneidung als Mittel der Selbstdarstellung. Die paulinische Diskreditierung der Gegner gipfelt in dem Vorwurf der Heuchelei und des Selbstwiderspruchs. So müssen sich die Funktionäre der Beschneidung nachsagen lassen, insgeheim nichts anderes im Sinn zu ha5

Wie H. W E D E R ZU recht hervorhebt, geht es Paulus darum, seine Widersacher „in die allgemeine Denkweise des .Fleisches'" einzureihen. „Die Gegner tun in ihrer Verkündigung ja nur, was alle Welt schon tut: sie sind darauf aus, ein gutes Ansehen zu haben" (Das Kreuz Jesu bei Paulus [FRLANT 125], Göttingen 1981,202).

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ben, als einer vom Bekenntnis zum Kreuz Christi provozierten Verfolgung zu entgehen. Über den realen Hintergrund dieser Behauptung schweigt sich Paulus aus. Möglicherweise konnten die Judaisten Sanktionen seitens der jüdischen Behörde in Judäa oder Konflikte mit der römischen Staatsgewalt in Kleinasien vermeiden, wenn sie den Nachweis erbrachten, daß die ihnen zugefallenen Heidenchristen beschnitten und somit in die Rechtsstellung von Proselyten eingerückt waren6. Noch schwerer wiegt die Beschuldigung, die Propagandisten des Gesetzes mißachteten selbst das Gesetz. Dieser Vorwurf wirkt überzogen. Greift Paulus nun seinerseits zum Mittel der Denunziation, indem er sich einen Topos aus dem Arsenal der Ketzerpolemik zunutzte macht? Dann wäre er selbst auf das Niveau einer sophistischen Rhetorik abgesunken, die er bei den Opponenten bloßstellt und kritisiert (vgl. 1,10; 5,7F). Näherliegend ist daher eine andere Erwägung. Es empfiehlt sich, die paulinische Begründung des Urteils aus dem engeren Kontext abzuleiten. Wie Paulus hervorhebt, dient die Aktion der Beschneidung in Wahrheit nur dem Renommee derer, die sie ins Werk setzen. Und eben dies Geltungsstreben steht de facto im Widerspruch zur gebietenden Weisung der Schrift, die das prophetische Wort Jer 9,22f bezeugt: ,Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn'8. Wie ersichtlich, kümmert sich Paulus nicht um die Argumente der Gegenseite. Er operiert offensichtlich mit Unterstellungen und sucht die Ge-

6 Zur Sache vgl. J. BECKER, Der Brief an die Galater (NTD 8 14 ), Göttingen 1976, 81; D. LÜHRMANN, Der Brief an die Galater (ZBK NT 7), Zürich 1978, 101. 7 An beiden Stellen distanziert sich Paulus vom Wortgeklingel religiöser Gaukler und Scharlatane, die in der Rolle von Rattenfängern auftreten. Während diese die Kunst der Rede dazu mißbrauchen, Menschen oder Gott für ihre Interessen einzuspannen, weiß sich der Apostel einer Rhetorik verpflichtet, die nur als Plädoyer für den Gekreuzigten zu verantworten ist. In den rhetorischen Fragen von 1,10 dürfte somit das Ich des Redenden betont sei: „Will ich denn jetzt Menschen bereden oder gar Gott. Oder trachte ich danach, Menschen zu gefallen?" (Vgl. BETZ [s. Anm. 2], 54ff; G. EßELING, Die Wahrheit des Evangeliums, Tübingen 1981, 85ff). 8 So kann Paulus die Quintessenz des Prophetenwortes formelhaft zusammenfassen, wie sich an 1. Kor 1,31 und 2. Kor 10,17 zeigt (vgl. Phil 3,3). Daß in 6,13 tatsächlich der Gedanke an Jer 9,22f vorschwebt, beweist die sich anschließende Formulierung von 6,14 (dazu s.u.). Paulus mißt die Prediger der Gesetzes somit nicht an seiner neuen Sicht des Gesetzes (gegen BECKER [S. Anm. 6], 82; WEDER [S. Anm. 5], 204 und ebd. Anm. 319), sondern am Wortlaut der Schrift. - Wie W. SCHMITHALS rundweg in Abrede stellen kann, daß Paulus „den Anspruch der galatischen Gegner, gesetzesstreng zu sein", voraussetzt (Judaisten in Galatien? [ZNW 74, 1983, 27-58], 55), bleibt im Blick auf den Duktus des Textes unerfindlich. Wenn der Apostel den Propagandisten der Beschneidung Mißachtung des Gesetzes nachsagt, so läßt sich dies nur im Sinne einer Vorhaltung begreifen, die einen offenkundigen Selbstwiderspruch anprangert. Dann liegt es nahe anzunehmen, daß der Nachsatz in 6,13 die Begründung des Vorwurfs liefert.

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meinde gegen die als selbstsüchtig ausgegebenen Machenschaften seiner Widersacher aufzubringen. Insofern macht er an dieser Stelle des Resümees zugleich vom rhetorischen Instrument der indignatio Gebrauch, das darauf abzielt, durch Verunglimpfung der Gegenpartei auf Seiten des Publikums Unmut zu schüren9. Nun gilt es aber zu sehen, daß Paulus das Bestreben der anderen so beschreibt, wie es sich im Licht des paulinisch verantworteten Evangeliums notwendigerweise darstellt10. Als Kriterium fungiert das in 6,14f geltend gemachte christologische Argument: Mir aber geschehe es nicht, daß ich mich rühme, außer des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den [das] mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Denn weder Beschneidung gilt etwas noch Unbeschnittensein, sondern [allein] neue Schöpfung.

Was diese Aussagereihe rekapituliert, ist nichts anderes als die zentrale These der paulinischen Argumentation im Galaterbrief. Unter deutlicher Anspielung auf Jer 9,22f verwahrt sich der Apostel gegen jede Form des Selbstruhms. Konzediert wird ausschließlich ein καυχάσΌαι des gekreuzigten Herrn, und diese Ausnahme bestätigt nur die Regel, nach der das Selbstlob für den Glauben keine menschliche Möglichkeit mehr darstellt. Ist nämlich der Gekreuzigte Gegenstand des Rühmens, so kommt der Ruhm ja gerade nicht dem Ich zugute, das rühmt. Er läßt sich nicht mehr dem Leistungskonto eines Selbst zuschreiben. Das καυχάσόαι έν τω σταυρω setzt also die Eigenbewegung des καυχάσόαι außer Kurs. Es drängt in die Sprachformen von Doxologie oder Hymnus und realisiert sich im Akt des Dankens11. Warum der Glaubende den Selbstruhm hinter sich läßt, signalisiert Paulus mit einer soteriologischen Kurzformel. Sie gibt zu verstehen, daß Christi Kreuz den Konnex zwischen dem Ich und der Welt unterbricht (H. We-

9

Vgl. BETZ (s. Anm. 2), 314ff. Treffend urteilt W E D E R (S. Anm. 5 ) , 202f: „Die Frage, ob Paulus mit dieser Einschätzung dem subjektiven Wollen der Gegner gerecht wird, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Mit dem .Wollen' stellt Paulus heraus, was sie unabhängig von ihren vielleicht ganz anders auszudrückenden Absichten und Intentionen faktisch, objektiv gesehen, erstreben". 10

11

Vgl. BETZ (S. Anm. 2), 3 1 8 ; R. BULTMANN, ThW III, 651 (allerdings mit

ger Berufung auf Gal 6,4).

fragwürdi-

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der12): Um seinetwillen ,ist mir die Welt gekreuzigt und ich der Welt' (6,14c). Der damit ausgesprochene Gedanke eines wechselseitigen Entzugs von Ich und Welt kennzeichnet das neue Sein, wie es vom Evangelium ermöglicht wird. Er bildet zugleich die Grundlage der paulinischen Paränese. Aber in welchem Sinn? Redet Paulus einer Ethik der ,Entweltlichung' das Wort13? Diese Frage läßt sich kaum vorbehaltlos bejahen. Denn es will beachtet sein, daß der doppelte Tod von Ich und Welt in ganz bestimmer Weise behauptet wird. ,Gekreuzigt' ist die Welt, sofern sie durch die Signatur der Polarisierung, nämlich durch die Spannung zwischen Beschneidung und Unbeschnittensein definiert wird. Es handelt sich um ein negativ qualifiziertes Phänomen: die Welt als Domäne von Privilegien, die sich kraft der Abgrenzung von Juden und Heiden aufbaut und auf diese Weise das Material des Selbstruhms abgibt. Entsprechend ist das Ich .gekreuzigt', sofern es sich durch das Streben nach Geltung konstituiert, angewiesen auf ein Forum, das den eigenen Leistungen Tribut zollt. Was es mit dem Gekreuzigtsein von Ich und Welt auf sich hat, erschließt sich also erst aus dem angefugten paulinischen Kommentar: ,denn weder Beschneidung gilt etwas noch Unbeschnittensein, sondern neue Schöpfung' (6,15). Paulus erinnert an die Zumutung des Evangeliums, das alle Menschen, auch die Juden, als Sünder entlarvt (vgl. 2,15fP4) und die derart Überführten in den Raum einer ,neuen Schöpfung' beruft. Nach seinem Urteil eröffnet das Evangelium den Zusammenhang einer καινή κτίσις, in der Ich und Welt als verwandelte Größen neu aufeinander bezogen sein wollen (vgl. Rom 12,2).

II. Der Kanon des paulinischen Evangeliums als Kriterium der Paränese Die paulinische peroratio gipfelt somit in der Behauptung einer christologisch begründeten Kehre, die die Welt, verstanden als Sphäre der Abgrenzung und des Geltungsstrebens, aus den Angeln hebt. Das Gewicht dieser

12

Vgl. den Titel des Gal 6,14 gewidmeten Kapitels in der (Anm. 5) genannten Untersuchung, 205. 13 Vgl. R. BULTMANNS Ausführungen in: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich / Stuttgart (1949) 41976, 225ff, sowie seine Feststellung, in der christlichen Gemeinde könne kein „soziales Programm ... entwickelt werden, sondern nur eine der Welt gegenüber negative Ethik der Heiligung, das heißt wesentlich der Enthaltsamkeit" (Geschichte und Eschatologie, Tübingen 3 1979,42). 14 Vgl. die ausgezeichnete Interpretation der Passage bei G. KLEIN, Individualgeschichte und Weltgeschichte bei Paulus (in: DERS., Rekonstruktion und Interpretation [BEvTh 50], München 1969, 180-224), 181ff.

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Aussage erhellt aus dem Sachverhalt, daß sie im nachhinein (6,16) als ,Kanon' bezeichnet wird. Wie ein Blick auf augenfällige Sachparallelen im Galaterbrief bestätigt, handelt es sich beim Spitzensatz des Postskripts tatsächlich um die Magna Charta des paulinischen Kerygmas. Der Apostel ruft genau jenen Kerngedanken ins Gedächtnis, der als Cantus firmus die gesamte Erörterung durchzieht. So finden sich wörtliche Entsprechungen von 6,15 im Zentrum der theologischen Beweisführung wie auch im Auftakt des paränetischen Teils. In der Absicht, das Interesse der paulinischen Paränese zu profilieren, folgen wir zunächst den Spuren des genannten ,Kanons' im Korpus des Briefes. Als das eigentliche Herzstück der probatio (3,1-4,31) kann der Abschnitt 3,26-28 gelten15. Paulus konfrontiert die Galater an dieser Stelle in der Form der Anrede mit einem Stück Taufliturgie, um sie des ihnen widerfahrenen Seinswechsels zu vergewissern. Sie sollten sich daran erinnern, daß sie als Getaufte schon längst eschatologische Personen sind, Adressaten einer neuen Situation, die den Glaubenden ohne jeden Vorbehalt eingeräumt ist. Wie sich die veränderte Lage im Rahmen der konkreten Lebensbedingungen darstellt, machen die Worte geltend (3,28): Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Männliches und Weibliches.

Die Aussage gibt zu verstehen, daß das Sein der Getauften aller Abgrenzungen entkleidet ist, deren die Welt als Domäne von Privilegien zu ihrer Selbsterhaltung bedarf. Wie H.D. Betz urteilt, wird diese Aufhebung der Spannungen keineswegs als „utopisches Ideal", auch nicht als Inhalt einer „ethischen Forderung", sondern vielmehr als „erfülltes Ereignis" behauptet16. Darin liegt die befremdliche Pointe der paulinischen Anrede. Linguistisch betrachtet, läßt sich die sprachliche Zumutung als ein ,performativer Ausdruck' kennzeichnen, der das, was er geltend macht/ zugleich in Kraft setzt17. 15

So urteilt auch BETZ (S. Anm. 2), 181.

16

V g l . BETZ, 189.

17 Vgl. BETZ, 189f (mit Verweis auf W. MEEKS, The Image of the Androgyne [HR 13, 1973/74, 165-208], 182); EßELING (s. Anm. 7), 287. Man könnte versucht sein, die Reihe der genannten Oppositionspaare mit Luther wie folgt zu ergänzen: „Non est magistratus ñeque subditas, non est doctor ñeque auditor, Non est paedagogus ñeque discipulus, non est Hera ñeque anelila etc. ..." (WA 40/1, 542, 16f)· Doch so illustrativ derartige Weiterfllhrungen auch sind (vgl. die Fortsetzung der Reihe bei EßELING, 291), sie verstellen den Blick für den repräsentativen Charakter der von Paulus angeführten Paradigmen, und sie

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Man kann den unerhörten Anspruch der paulinischen Taufadresse im Brennpunkt der probatio nicht emphatisch genug hervorheben. Denn die Differenzen der Welt werden ja bezeichnenderweise nicht durch den Rückzug in eine Provinz der Innerlichkeit kompensiert. Paulus redet nicht der stoischen Maxime das Wort, die dem Menschen empfiehlt, „sich in das Eigene zurückzunehmen"18 und die faktischen Lebensbedingungen als Adiaphora zu überspielen. Er wählt auch nicht den gnostischen Weg einer Selbstunterscheidung des pneumatischen Ich von der Sphäre des Kosmos. Sein Interesse gilt vielmehr der Wahrnehmung eines neuen Lebensraumes am Ort der alltäglichen Verhältnisse. Nach seinem Urteil ist den Adressaten des Evangeliums eine Bleibe gewährt, die sich im Alltag der Welt dem Einflußbereich der Macht des Trennenden entzieht. Dem entspricht die Zusage des Tauflieds: ,denn alle seid ihr einer in Christus Jesus' (3,28fin.). Weil das hier behauptete Einssein personalen Charakter besitzt, vermeidet der Text eine neutrische Formulierung. Im Blick ist die Einheit einer Gemeinschaft, die sich der Person des Gekreuzigten verdankt und der sich die Person des Gekreuzigten verpflichtet weiß. Sie kommt den Getauften in der Weise eines Seins έν Χριστώ ' Ιησού zugute. Nun darf man wohl mit E. Fuchs unterstellen, „daß Paulus jedesmal dort, wo er ,in Christus Jesus' sagt, tatsächlich soviel wie ,in der Liebe' sagen will"19. Dann verweist die unerhörte Zusage der Taufadresse hintergründig auf die am Kreuz manifest gewordene α γ ά π η (vgl. 2,20). Und es ist die αγάπη, die als die einheitsstiftende Kraft des neuen Seinszusammenhangs wahrgenommen sein will. Die Gegensätze der Welt sind also einzig und allein da überwunden, wo es Menschen ermöglicht ist, ,einträchtig füreinander Sorge zu tragen': im Raum der Liebe (vgl. 1. Kor 12,25).

verzeichnen deren Radikalität. Denn soweit in den paulinischen Beispielen die Bereiche des Religiösen, des Sozialen und des Geschlechtlichen angesprochen werden, sind die Umstände des menschlichen Daseins umfassend berücksichtigt. Insofern besitzt der Katalog universale Tragweite. Es läge freilich im Horizont paulinischen Denkens, wenn man die thematisierten Syzygien (vgl. 1. Kor 7,19 im Kontext von 1. Kor 7,17-24) um ein Paar erweiterte, das auch in Luthers Kommentar unerwähnt bleibt. ,In Christus' ist für Paulus nämlich auch die Differenz zwischen den Lebenden und den Toten überholt. Freilich tritt das Ereignis dieser klassenlosen Gesellschaft, in der selbst das Privileg der Lebenden beseitigt ist, erst in der eschatologischen Zukunft eines Seins συν κυρίφ zutage (vgl. 1. Thess 5,9f). 18 G. SCHUNACK, Das hermeneutische Problem des Todes (HUTh 7), Tübingen 1967, 95. 19 Marburger Hermeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968, 199.

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Das bisher Gesagte läßt sich erhärten, wenn man den paränetischen Teil des Briefs (5,1—6,10)20 in die Überlegung einbezieht. Auch in dieser Partie ist dem Apostel primär daran gelegen, die Galater an den Seinsgewinn zu erinnern, den sie der Christusbotschaft verdanken. So klingt bezeichnenderweise schon im Vorwort der Paränese (5,1-6) das Thema von 3,28 wieder an: In Christus Jesus nämlich gilt weder Beschneidung etwas noch Unbeschnittensein, sondern [allein] der Glaube, der durch Liebe aktiv wird (5,6).

Wie auf den ersten Blick ersichtlich, variiert auch diese antithetisch gefaßte Aussage den ,Kanon' des paulinischen Evangeliums. Sie stellt fest, daß ,in Christus' das System der Abgrenzungen, das auf die Sicherung religiöser Privilegien bedacht ist, vom Lebensprinzip des Glaubens abgelöst wird, eines Glaubens freilich, der in die Praxis der Liebe drängt und im Medium dieser Praxis sein Wesen hat. In diesen Sachzusammenhang fugen sich nun aber auch jene Wendungen der Paränese, die den eschatologischen Indikativ ohne die Folie der überholten Polarisierungen einschärfen. An jeweils exponierter Stelle21 hebt Paulus hervor, was den Briefadressaten widerfahren ist: Zur Freiheit berufen (5,la.l3a), leben sie aus der Kraft des Geistes (5,25a) und haben wunderbarerweise Zeit gewonnen (6,10a). Das Interesse der in Frage stehenden Aussagereihe ist deutlich: Für Paulus überholt das Evangelium die alten Verhältnisse, indem es das Wirkliche in die Dimension des Möglichen transformiert. Sein Ruf schenkt Zeit, gewährt Freiheit, spendet den Geist und erlaubt einen Glauben, der am Ort der Liebe zu Hause ist. Dabei will beachtet sein, daß sich die genannten Gaben des Evangeliums als Charaktere eines einheitlich verfaßten Zusammenhangs zu verstehen geben, den Paulus unter dem Titel der καινή κτίσις zur Sprache

20

In der Regel betrachtet man die Partie 5,1-12 als Schlußstück des argumentativen Briefteils und setzt eine Zäsur erst nach 5,12 voraus (so O. MERK, Der Beginn der Paränese im Galaterbrief [ZNW 60, 1969, 83-104], 104 sowie die dort 84 Anm. 7 Genannten; neuerdings BECKER [s. Anm. 6], 66f; LÜHRMANN [S. Anm. 6], 85f). Demgegenüber beruft sich BETZ (S. Anm. 2), 254f m.E. zu Recht auf den analogen Auftakt der drei Abschnitte 5,1-12.13-24 und 5,25-6,10. Alle drei Sequenzen beginnen mit Formulierungen, die an den eschatologischen Indikativ erinnern (vgl. 5,la.l3a.25a). Aufgrund dieses Sachverhalts und mit Rücksicht auf das charakteristische ούν in 5,1b (vgl. W. NAUCK, Das ούνparaeneticum [ZNW 49, 1958, 134f]) empfiehlt sich die Annahme, daß 5,1 und nicht erst 5,13 den Einsatzpunkt der exhortatio bildet (so die bei MERK, ebd. Anm. 4 Genannten und jetzt außer Betz auch EßELING [s. Anm. 7], 32Iff). 21 S.o. Anm. 20. Die Pointierung von 6,10 ergibt sich aus der Schlußstellung der Aussage.

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bringt. Die Galater im Widerspruch zur Propaganda eines nomistischen Aktivismus in den Raum dieser neuen Schöpfung einzuweisen, ist das zentralen Anliegen der paulinischen Paränese.

III. Die paulirtische Paränese als Einübung des neuen Seins I. Das Entweder-Oder Folgt man dem Ansatz einer rhetorischen Formbestimmung des Galaterbriefs, erscheint der paränetische Teil als Fremdkörper. Wie auch H.D. Betz in Betracht ziehen muß, findet sich für die paulinische exhortado kein passendes Äquivalent im System forensischer Rede, und sein Verweis auf gewisse Analogien in der antiken Tradition des philosophischen Briefs ist kaum dazu angetan, das angezeigte Defizit zu kompensieren22. Nun erhebt sich freilich die Frage, ob das Problem nicht auf einer restriktiven Wahrnehmung des rhetorischen Feldes beruhen könnte. Betz scheint die rhetorische Eigenart der paulinischen Paränese zu verkennen, weil er das Gattungsmuster der Gerichtsrede hermeneutisch privilegiert. Gibt man diese Engführung preis, stellt sich der Sachverhalt anders dar. Die Redeakte von .Empfehlung' und ,Warnung', welche die paränetische Diktion im Galaterbrief auszeichnen, erinnern in augenfälliger Weise an das rhetorische Gegenüber von ,Zuraten' und ,Abraten'. Und dabei handelt es sich um Redehandlungen, die nicht der Gerichtsrede, sondern der Ratsrede eigentümlich sind23. Aufgrund dieser schlagenden Korrespondenz ist wohl der Schluß unausweichlich, daß sich beim Übergang von Gal 4 zur Gal 5 eine Metabasis εις άλλο γένος vollzieht: Das genus iudiciale wird durch das genus deliberativum abgelöst24. 22 Vgl. BETZ (S. Anm. 2), 253f, mit besonderer Berufung auf H. CANCIK, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales (Spudasmata 18), Hildesheim 1967. Vgl. Aristoteles, Rhetorik I 3,3 (1358b 8-10): „Die Gattung der beratenden Rede hat Zuraten und Abraten zur Aufgabe; denn eines von beiden tun die immer, die entweder privat Rat erteilen oder die vor der Vollversammlung als Redner auftreten" (Übersetzung hier und im folgenden nach F.G. SIEVEKE [Hg.], Aristoteles, Rhetorik [UTB 159], München 1980); zur Sache vgl. FUHRMANN (S. Anm. 4), 8Iff. BETZ (S. Anm. 2) erwähnt das aristotelische Gegenüber der beiden symbouleutischen Redehandlungen am Rande (vgl. 254 Anm. 12), ohne diesem Sachverhalt irgendeine Bedeutung für die rhetorische Analyse paränetischer Sprache beizumessen. 24 Dieser Verschränkung unterschiedlicher Redegattungen trägt die peroratio insofern Rechnung, als sie das Resümee (6,12-16) in eine Mahnung (6,17) auslaufen läßt: ,In Zukunft soll mich keiner mehr plagen, denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe'. BETZ (s. Anm. 2), 323f deutet diese Aussage im Sinn der conquestio, deren rhetorische

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Auf der Folie dieses rhetorischen Hintergrundes tritt nun gerade das Eigenständige der paulinischen exhortatio um so heller zutage. Man muß sich nämlich vor Augen halten, daß die Ratsrede von Haus aus einem Zweck gewidmet ist, der als mehr oder weniger geraten erscheint: „der zuredet, rät etwas als etwas Besseres an, der aber abredet, rät von etwas als etwas Schlechterem ab" - so lautet die Devise des Aristoteles25. Ebendieser für die rhetorische Funktionsbestimmung grundlegende Komparativ ist der paulinischen Paränese fremd. Sie weiß sich vielmehr einem Zweck verpflichtet, der entweder als geraten oder nicht als geraten erscheint. Für die paulinischen Redeakte von Warnung und Empfehlung oder Abraten und Zuraten ist somit gerade nicht die Dimension eines ethischen Komparativs, sondern die einer eschatologischen Alternative charakteristisch. Die Galater werden bei einem Phänomen behaftet, das sich der Auslegung in der Relation eines Mehr oder Weniger entzieht. Was auf dem Spiel steht, ist ja nichts anderes als das vom Evangelium eröffnete neue Sein. Und das läßt sich nach paulinischem Urteil nicht als ein „größeres oder geringeres Gut"26 betrachten. Die Grenzwerte von Gewinn oder Verlust sind in diesem Fall durch keine Staffelung von Zwischenstufen vermittelt. Maßgebend ist vielmehr die radikale Alternative einer Entweder-Oder. Die damit angesprochene Kompromißlosigkeit paulinischer Rede bekundet sich auf exemplarische Weise bereits im Eingangsstück des paränetischen Briefteils (5,1-6). Paulus erinnert die Adressaten zunächst emphatisch an das Widerfahrnis der christologisch begründeten Emanzipation: ,Für die Freiheit hat uns Christus befreit' (5,1a). Die Pointe der Formulierung liegt darin, daß sie als das Worum-willen des Befreiungsaktes wiederum nichts anderes als die Freiheit selbst vor Augen stellt. Befreit wurden die Glaubenden zugunsten eines Seins in der Freiheit (dat. comm.), das aktiv in Anspruch genommen sein will. Damit klingt schon in der Zusage des

Funktion es ist, auf Seiten der Richter oder des Publikums Mitleid für die eigene Person zu wecken (vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 439). Indessen handelt es sich bei der Begründung des Satzes keineswegs um ein Mitleid heischendes Motiv. Indem sich Paulus den Adressaten abschließend als persönliche Metapher des Gekreuzigten präsentiert, verweist er vielmehr „auf seine Würde ..., die es ihm eigentlich ersparen sollte, sich weiterhin Schwierigkeiten bereiten zu lassen" (E. GÜTTGEMANNS, Der leidende Apostel und sein Herr [FRLANT 90], Göttingen 1966, 132f). Er macht den Anspruch seiner apostolischen Autorität geltend. Rhetorisch gesehen, steht die Mahnung von 6,17 somit im Dienst einer ,,bestimmte[n] Selbststilisierung des Redners, die ... das Publikum positiv zu beeinflussen" sucht (FUHRMANN [S. Anm. 4], 98). Sie nimmt ein Moment des Ethos wahr. 25 Rhetorik I 3,5 (1358b 22-24); vgl. I 3,9 (1359a 22-26). 26 Aristoteles, Rhetorik 13,9 (1359a 24f).

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Indikativs das Interesse des Imperativs an, und es ist deutlich, daß beide Redemodi ein und derselben Sache verpflichtet sind27. Explizit kommt der Imperativ in der unmittelbar angeschlossenen Wendung zum Ausdruck: , Steht also fest und laßt euch nicht wieder mit dem Joch der Sklaverei belasten' (5,1b). Bezeichnenderweise wird die positive Mahnung unverzüglich in die Form eines negierten Imperativs umgesetzt und prohibitiv entfaltet. Daran zeigt sich, daß der Weisung nicht an der Vollendung eines Unvollkommenen, sondern an der Verhütung eines Verlusts gelegen ist28. Beschworen wird die Gefahr einer unwiderruflichen Einbuße der Freiheit. Diese träte ein, wenn sich die Galater auf die Beschneidungsforderung der Judaisten einließen. Dann fanden sie sich in einer Lage vor, die sie zu Schuldnern des Gesetzes macht. Sie wären in radikaler Weise zum Tun des Gebotenen verpflichtet29. Und damit hätten sie das Geschenk der Freiheit verspielt. Denn wer meint, das dem Glauben gewährte Plus durch den Eifer der Tat bewähren oder gar ins Recht setzen zu sollen, läßt Gnade nicht mehr Gnade sein. Er bestreitet de facto die Erfahrung des Beschenktseins, und die Kehrseite dieses Verrats ist der Entzug der Gabe (vgl. 5,2-4). Dieser Sachzusammenhang macht deutlich, daß die paulinische Paränese ein hermeneutisches Interesse verfolgt. Sie schärft den Blick für die Alternative von Christus und Gesetz. Auf diese Weise läßt sie erkennen, was dem Glauben mit der Gabe der Freiheit zugeeignet ist. Von daher gesehen, verweist der Imperativ auf die Sache des Indikativs. Um es zugespitzt zu formulieren: Wenn Paulus die Galater dazu anhält, vor dem Rückfall unter das Joch der Knechtschaft auf der Hut zu sein, so meldet sich in dieser Warnung zugleich die Bitte, die Gabe der Freiheit in die Hut zu nehmen. Und diese Bitte fände Gehör, sofern festgehalten bliebe, „daß der Glaubende auch in seinem Tun alles von Gott, daß der zwar mit allen seinen Kräften geforderte Christ doch nichts von sich selbst erwartet"30.

27

Vgl. BETZ (s. Anm. 2), 255f. So zu Recht BETZ, 257f. 29 Vgl. 5,3 mit 3,10.12. 30 E. JÜNGEL, Erwägungen zur Grundlegung evangelischer Ethik im Anschluß an die Theologie des Paulus (in: DERS., Unterwegs zur Sache [BEvTh 61], München 1972, 234245), 243; vgl. E. FUCHS, RGG 3 II, 1103: „Nicht ein neues Mittel zur vorher mißlungenen Selbstbestimmung, sondern eine neue Bestimmtheit des Selbst macht sich geltend. F[reiheit] heißt jetzt nicht mehr nur, daß ich tue, was ich will, sondern daß ich will, was Gott tut". 28

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2. Das Vermögen der Liebe Der Abschnitt 5,13-24 kann als das eigentliche Hauptstück der exhortatio des Galaterbriefs gelten. Nach einem Intermezzo, das darauf abzielt, einen Keil zwischen die galatische Gemeinde und die judaistischen Eindringlinge zu treiben (5,7-12), kommt Paulus auf den Ausgangspunkt der Erörterung zurück. Das Wesen der christlichen Freiheit wird nun mit Hilfe des Gegensatzes von σάρξ und πνεύμα entfaltet. Darin liegt der gedankliche Fortschritt der Aussagereihe. Freilich ist die Logik des Zusammenhangs insofern kompliziert, als die Orientierung am Thema des Gesetzes aufrechterhalten bleibt (vgl. 5,14.18b.23b). Es wird zu klären sein, wie sich beide Motivkreise zueinander verhalten. Analog zu 5,1a vergewissert Paulus die Adressaten zunächst der Gabe des Evangeliums: ,Ihr seid nämlich zur Freiheit berufen, Brüder' (5,13a). Daß die Wahrnehmung der Freiheit Probleme aufwirft, erhellt aus der folgenden Antithese: ,Nur [laßt] die[se] Freiheit [bloß] nicht zur Gelegenheit für das Fleisch [werden], sondern mit Hilfe der Liebe seid einander Sklaven' (5,13b.c). Der Nachsatz überrascht. Erwartbar wäre eine Aussage wie »sondern laßt sie [sc. die Freiheit] zur Gelegenheit für den Geist werden'. Paulus hat die damit angesprochene Sache offenbar durchaus im Blick, wie das Folgende bestätigt. Warum redet er dann aber an der Stelle des Geistes vom Dienst der Liebe? Was veranlaßt ihn dazu, ausdrücklich die Liebe als „Kriterium für Freiheit" (D. Lührmann31) in Anspruch zu nehmen? Eine Antwort auf diese Frage könnte sich aus dem Vordersatz der Antithese ergeben. Dieser verwirft mit Nachdruck die Möglichkeit, daß die Freiheit zur Operationsbasis für das Fleisch wird. Man hat aus der paulinischen Formulierung auf libertinistische Tendenzen in Galatien geschlossen32. Paulus spiele auf den Sachverhalt an, daß man den Galatern das Evangelium von Christus als einen Freibrief für einen Wandel ohne Bindung verdreht. Aber wie soll sich diese Vermutung mit der Annahme einer judaistischen Front in Galatien zusammenreimen? Inwiefern können sich die Briefadressaten der Gefahr des Libertinismus ausgesetzt sehen, wenn sie in die Hand von No-

31

AaO. (s. Anm. 6), 86. Vgl. z.B. W. SCHMITHALS, Die Häretiker in Galatien (in: DERS., Paulus und die Gnostiker [ThF 35], Hamburg-Bergstedt 1965, 9-46), 36 (vgl. 36fi); ähnlich W. MARXSEN, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 1963, 54 (revidiert in 4 1978, 66fï). Schon W. LÜTGERT (Gesetz und Geist [BFChTh 22,6], Gütersloh 1919) sah sich durch Stellen wie 5,13.15.18.21.23; 6,1 zur Annahme einer Doppelfront veranlaßt: Paulus kämpft nicht nur gegen Judaisten, sondern auch gegen libertinistische Pneumatiker (vgl. bes. 9ff.92f.l02ff). 32

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misten gefallen sind33? Näherliegend scheint daher eine andere Erwägung. Bei dem von Paulus ins Auge gefaßten sarkischen Mißbrauch der Freiheit handelt es sich möglicherweise noch gar nicht um den Dissenspunkt, sondern allererst um das thema probandum der Kontroverse. Dann macht die Aussage einen Vorbehalt geltend, der von allen Parteien bejaht wird: Der Raum der Freiheit darf nicht von den Interessen der σαρξ usurpiert werden. Strittig ist demgegenüber, wie dem Angriff der σάρξ zu begegnen sei. In dieser Sache hat die Sektion der Paulusgegner eine klare Lösung parat. Sie empfiehlt denen, die von der σάρξ versucht werden, die Orientierung am Gesetz. Man propagiert also die Thora als verläßliches Bollwerk gegen die Machenschaften des Fleisches34. Paulus kann einer Rhetorik dieser Art nur entschieden widersprechen. Denn wenn die zur Freiheit Berufenen auf die Erfüllung gesetzlicher Satzungen verpflichtet würden, wäre aus seiner Sicht dem Wesen der Freiheit Abbruch getan. Es wäre verkannt, daß es sich bei der Freiheit um das Moment eines Lebenszusammenhangs handelt, der von der Macht des πνεύμα erfüllt ist. Wer diesem Zusammenhang angehört, partizipiert an einem Seinkönnen, das sich in der Krafi zur Liebe auswirkt. Freiheit versteht sich für Paulus somit als die Begabung der Glaubenden, infolge der Präsenz des Geistes über sich verfugt sein zu lassen. Sie will als das Vermögen der Liebe wahrgenommen sein. Wo dies tatsächlich geschieht, erweist sich das Problem der σάρξ als überholt. Denn die Liebe kommt den Anfechtungen von seiten der σάρξ zuvor. 33 Für SCHMITHALS (s. Anm. 8.32) beweisen derartige Fragen nur den aporetischen Ansatz der Judaisten-Hypothese. Doch hält seine eigene Vermutung, bei den Gegnern des Paulus in Galatien handle es sich um judenchristliche Gnostiker, einer kritischen Prüfung noch viel weniger stand; zur Debatte vgl. Ph. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin / New York (1975) 1978, 120ff; DERS., Gesetzesdienst und Stoicheiadienst im Galaterbrief (in: DERS., Oikodome. Aufsätze zum Neuen Testament II [ThB 65], München 1979,183-195, sowie die Replik von SCHMITHALS [S. Anm. 8]). 34 In diese Richtung weisen die sachlich weiterführenden Überlegungen von BETZ (s. Anm. 2), 8f.273; vgl. DERS., Geist, Freiheit und Gesetz (ZThK 71, 1974, 78-93), 87. Nun unterstellt BETZ im selben Zusammenhang mit Berufung auf 6,1, die Galater seien insofern für die Gesetzespredigt der Antipauliner anfällig gewesen, als sie selbst „Probleme mit der σ ά ρ ξ " hatten (ebd.). Der Überschwang der Geisterfahrung habe sich im Kontext alltäglicher Wirklichkeit nicht als tragfähig erwiesen. Aber läßt sich eine derartige Konfliktlage in der galatischen Gemeinde tatsächlich voraussetzen (vgl. MARXSEN [s. Anm. 32], 4 1978, 68)? Ist es nicht näherliegend zu vermuten, daß die Problematik den Galatem erst von anderer Seite aufgedrängt wurde? Dann beruht der Gedanke einer möglichen Gefährdung durch die σ ά ρ ξ auf Insinuation (vgl. 5,8). Er stellt ein Argument im Überredungsversuch der Gegner dar, das dem Interesse dient, die pneumatische Selbstgewißheit der Galater zu irritieren (vgl. 4,17). Mit SCHMITHALS (s. Anm. 8) ist BETZ vorzuhalten, daß er „den Ursprung des galatischen Konflikts vom Auftreten der Irrlehrer, wo Paulus ihn sucht, durch eine kühne Hypothese in eine innere Krise der galatischen Gemeinde verlegt, wo Paulus ihn mit Sicherheit nicht sucht (vgl. 5,7ff; l,6f; 3 , I f f ) " (35 Anm. 26).

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Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, warum Paulus unvermittelt zur Liebe übergeht, obgleich der Duktus der Rede eigentlich den Gedanken an den Geist insinuiert. Ihm liegt offenbar daran, das pneumatische Wesen der Freiheit einem Zusammenhang vorzubehalten, in dem sich jeder unwillkürlich von der Not des Nächsten beansprucht weiß. Während man den Galatem seitens der judaistischen Opposition suggeriert, nur die Thora sei der Macht des Fleisches gewachsen, empfiehlt der Apostel eine Rückbesinnung auf das Wesen der evangelischen Freiheit selbst, die eben pneumatische Qualität besitzt und sich insofern als die Kraft zur Liebe versteht. So mutet der Imperativ: ,Mit Hilfe der Liebe seid einander Sklaven!' den Angeredeten nichts anderes zu, als das ihnen vom Indikativ ermöglichte Sein in Brauch zu nehmen. Es liegt im Interesse dieser paränetischen Pointe, wenn Paulus im selben Zusammenhang nun seinerseits die Schrift zitiert und behauptet, in der Sache des Liebesgebots von Lev 19,18 sei ,das ganze Gesetz' erfüllt (5,14). Das provokativ gemeinte Urteil gibt einer Plausibilität Ausdruck, die sich allererst im Rückblick erschließt. Paulus macht geltend: Wo immer die Liebe als ein der Sphäre der Freiheit innewohnendes Moment, nämlich als die Frucht des Geistes entdeckt und wahrgenommen wird, hat sich längst ereignet, was das Gesetz verlangt. Noch bevor es als gebietende Weisung laut wird, ist seinem Interesse Genüge getan35. Wo hingegen die Freiheit nicht mehr selbst als das Widerfahmis eines Vermögens begegnet, das zur Liebe befähigt, behauptet die σάρξ ihre Macht, so daß einer dem anderen zum Wolf wird (vgl. 5,15). Und für diesen Fall vom Gesetz Hilfe zu erwarten, wäre eine verhängnisvolle Selbsttäuschung. Denn am Ort sarkischen Gebarens tritt das Gesetz nur noch in der Rolle eines Anklägers auf den Plan (vgl. 5,21). Der Text mündet in einen Zusammenhang, der das Gesagte in doppelter Hinsicht bekräftigt. Zunächst wird der Blick auf das Geschick der Selbstentfremdung gelenkt, das dem Menschen daraus erwächst, daß er sich als Spielball eines Widerstreits der Mächte von Fleisch und Geist erfahrt (5,17). Bezeichnenderweise ist diese Feststellung von zwei Zusagen eingeklammert, die der Vorherrschaft des πνεύμα das Wort reden (5,16.18). Paulus behaftet die Galater bei der Lebensbewegung des Geistes, um ihnen zu versichern, daß sie kraft dieser Bewegung sowohl der Verführungskunst der σάρξ als auch dem Anspruch des νόμος entzogen sind. In einem zweiten Durchgang (5,19-24) konfrontiert er die Produkte von Fleisch und Geist. Aufschlußreich sind die Wendungen, mit denen die beiden Kataloge 35 Vgl. die treffenden Bemerkungen z. St. bei BETZ (s. Anm. 2), 275f sowie J ü n g e l (s. Anm. 30), 244: „Weil die wahre Liebe dem Nächsten nichts Böses tun kann, ist sie aller Gebote, ist sie des Gesetzes Erfüllung (Röm 13,9f)".

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eröffnet werden. Ist auf der einen Seite von , Werken des Fleisches' die Rede (5,19a), so auf der anderen von der ,Frucht des Geistes' (5,22a)36. Der Wechsel vom Singular zum Plural dürfte ebenso absichtsvoll erfolgen wie der Übergang von den ,Werken' zur ,Frucht'. Für die verwirrende Vielzahl der sarkischen Produkte ist charakteristisch, daß sie der Mensch aktiv ins Werk setzt. Der von der σάρξ Beherrschte agiert als Handlanger der σάρξ. Demgegenüber ist auf der Seite der pneumatischen Phänomene bewußt ein Wort gewählt, das den Gedanken unterbindet, als handle es sich dabei um menschliche Errungenschaften. Was im Bereich des Geistes zutage tritt, bleibt seiner Aktivität vorbehalten. Und weil die pneumatischen Wirkungen im Brennpunkt der α γ ά π η versammelt sind, kann singularisch von der einen ,Frucht' des Geistes die Rede sein37. So gipfelt der paränetische Diskurs in einer Gegenüberstellung, in der sich die Seinsdifferenz von alt und neu spiegelt. Und wieder ist das Interesse leitend, die Adressaten der durch das Evangelium geschaffenen neuen Situation zu vergewissern. Dies zeigt sich am Schlußsatz des Aussagezusammenhangs (5,24). Dort legt Paulus den Galatern nahe, sich mit solchen zu identifizieren, ,die Christus Jesus angehören', und er provoziert ihren Glauben, der sich darin bekundet, daß er das Fleisch in der Vergangenheit des Todes Jesu gekreuzigt sein läßt.

3. Das überholte

Geltungsstreben

Ist dieselbe Konsequenz in der Sache auch für das Schlußstück der exhortatio in 5,25-6,10 erhebbar? H.D. Betz beurteilt die Partie als Sammlung gnomisch geprägter Sentenzen, die weitgehend konventionellen Charakter tragen38. Bei näherem Zusehen erweist sich das Ganze freilich keineswegs als willkürlich assortiertes Konglomerat gängiger Anweisungen aus der Ethik des Alltags. Die Abfolge der Einzelaussagen ist vielmehr an Leitgesichtspunkten orientiert, die ein bestimmtes Sachinteresse zu erkennen geben. Dies gilt jedenfalls, wenn man voraussetzen darf, daß der Text zwei analog eröffnete Aussagefolgen (5,26-6,6; 6,7-9) enthält, die in die Klammer eines durch Präambel und Klausel gebildeten Rahmens (5,25; 6,10) 36

Zur Sache vgl. EBELING (S. Anm. 7), 342ff. Mit Recht bemerkt E . SCHWEIZER, Paulus komme es darauf an, „daß zwar vom Fleisch gesagt werden kann, es rufe .Werke' (im Plural) hervor, die erst noch ,offenbar', demonstrierbar sind, während der Geist ,Frucht' (im Singular) schafft, die nicht mehr einfach vorzeigbar ist, so konkret und praktisch sie sich darstellen soll" (Gottesgerechtigkeit und Lasterkataloge bei Paulus, in: J. FRIEDRICH u.a. [Hg.], Rechtfertigung [FS E. Käsemann], Tübingen 1976, 461-477, 467). 37 Zutreffend urteilt EBELING (s. Anm. 7), 344: „Alles ist nur Explikation der Liebe". 38 Vgl. BETZ (s. Anm. 2), 291ff.

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eingefügt sind39. Wir konzentrieren uns im folgenden auf die erste Sequenz (5,26-6,6). In der Form eines prohibitiv gefaßten Appells verwahrt sich Paulus eingangs gegen ein Verhalten, das den Verrat der pneumatischen Seinsweise bedeuten müßte (5,26). Gegenstand der Kritik ist die Ruhmsucht, jene Haltung also, in der sich das Ich durch den Vergleich mit den Leistungen anderer profiliert. Es ist äußerst naheliegend zu vermuten, daß die Warnung auf die Vermessenheit derjenigen anspielt, die mit den Werken des Gesetzes renommieren. Auf den ersten Blick scheint der Appell isoliert und fur das Folgende ohne Belang. Denn die nächste Empfehlung (6,1) betrifft den ganz anderen Fall, daß einer bei einem ,Fehltritt' ertappt und zur Rechenschaft gezogen wird. Das Wort παράπτωμα meint wohl eine Handlung, die den vorher aufgezählten Machenschaften der σαρξ entspricht. Als Vergehen im paulinischen Sinn ist ansprechbar, was konkret auf eine „Verletzung der αγάπη" 4 0 hinausläuft. Der Ratschlag des Paulus kollidiert mit dem Erwartbaren und hat irritierende Kraft. Er behaftet diejenigen, die sich mit einem derartigen Fall zu befassen haben, bei ihrer pneumatischen Begabung und redet ihnen überraschenderweise zu, den Gestrauchelten , zurechtzubringen'. Die paulinische Verfahrensregel empfiehlt also keine Sanktion, sondern im Gegenteil ein Verhalten der Fürsorge, das den Verräter der Liebe aufbaut und in die Gemeinschaft reintegriert. Sie bittet, dem Defizit im Geist der Sanftmut (vgl. 5,23) zu begegnen, die Mißachtung des Gegegeben also mit der Gabe selbst zu beantworten. Unversehens hat sich damit das Interesse von der Lage des Beklagten auf die Kläger verschoben, die gewohnt sind, andere zu verurteilen. Als Problemfall erscheint weniger das

39 Man kann fragen, ob bei der Weisung von 6,6 und dann vielleicht auch bei der befremdlichen Zuspitzung von 6,10fin. nicht mit der Möglichkeit einer nachpaulinischen Glossierung des Textes zu rechnen ist (6,6 wirkt jedenfalls im Umfeld der vorausgehenden Mahnungen als abrupt angeschlossene und sachlich unpassende Konkretion, und die Steigerung von 6,10fin. verträgt sich schlecht mit der unmittelbar zuvor beanspruchten grenzenlosen Weite des Appells). Doch soll diese vage Vermutung dahingestellt bleiben. Sie wäre kaum einer Erwähnung wert, gäbe nicht auch die Stellung von 6,18 dem Verdacht einer sekundären Glossierung des Textes zusätzlich Nahrung. Beachtet man nämlich den geschlossenen Charakter der Partie 6,11-17 (6,11 und 6,17 fungieren als Inklusion der recapitulatio 6,12-16), erscheint die Segensformel von 6,18 als Überhang. Sie stellt eine Dublette zu 6,16 dar und könnte (wie das die Antwort der Gemeinde vorwegnehmende άμήν) erst im Zuge einer gottesdienstlichen Verwendung der Paulusbriefe angefügt worden sein. Dann hätte der Brief ursprünglich nicht mit dem üblichen Segenswunsch, sondern mit einer persönlich gehaltenen Mahnung des Apostels (6,17) geschlossen, und die gespannte Kommunikationssituation spiegelte sich in einer doppelten Abwandlung der Rahmenstücke des Briefformulars (Verschweigen von Danksagung und Fürbitte zu Beginn sowie Ausfall der gewohnten Segensformel am Schluß des Briefes). 40

BETZ (S. A n m . 3 4 ) , 90.

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Vergehen selbst als der Umgang mit dem Vergehen41. Daß die Gewichte so und nicht anders zu setzen sind, beweist der paulinische Zusatz: ,Achte [freilich] auf dich selbst, daß nicht auch du versucht wirst' (6,1c). Damit gerät die Gefahr einer Überheblichkeit in den Blick, die das Pendant zum Vertrauen in die eigene Leistung darstellt, und es zeigt sich, daß der angesprochene Fall im Licht des vorher inkriminierten Geltungsstrebens gewürdigt sein will. Die Eingangsmahnung bleibt keine isolierte Sentenz, sondern gewinnt die Bedeutung eines die Paränese beherrschenden Leitmotivs42. Dann dürfte auch die positive Weisung , Tragt einander die Lasten' (6,2a) in erster Linie an die Adresse derjenigen gerichtet sein, die mit eigenen Leistungen auftrumpfen und ständig um sich selbst kreisen. Ihnen hält Paulus vor, daß der Glaubende keine Nabelschau betreibt, sondern sich von der Not des Nächsten in Anspruch genommen weiß. So variiert die Mahnung nichts anderes als die Einladung zum Dienst der Liebe (vgl. 5,13), nun freilich in Abgrenzung gegen die Introversion der Selbstgefälligen. Und die Verheißung ,so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen (= erfüllt haben)' (6,2b) wiederholt den Gedanken, daß die Liebe längst tut, was das Gesetz will, nur daß Paulus jetzt in Anlehnung an die Sprache der Gegner formuliert. Denn mit der Rede vom ,Gesetz Christi' übernimmt er allem Anschein nach ein Reizwort judaistischer Rhetorik, um dieses sogleich im Sinn der Äußerung von 5,14 zu vereinnahmen und zu domestizieren43. Daß die Wei41

V g l . BETZ (S. A n m . 2), 2 9 6 ; EßELING (s. A n m . 7), 3 4 9 .

42

Dieser Sachverhalt wird zu Recht von F. MUSSNER hervorgehoben (vgl. Der Galaterbrief [HThK 9], Freiburg / Basel / Wien 1974, 402). Anders als in 5,26-6,5(6) ist im Aussagezusammenhang von 6,7-9 das Bildfeld von ,Saat' und .Ernte' bestimmend. 43 So im Anschluß an BETZ (S. Anm. 2), 300f mit Verweis auf D. GEORGI, Exegetische Anmerkungen zu: Theologische Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Thesen der Bruderschaften (in: E. WOLF [Hg.], Christusbekenntnis im Atomzeitalter [ThEx NF 70], München 1959, 109-138), 110 Anm. 2 (dort charakterisiert GEORGI die Wortverbindung ,Gesetz Christi' als einen „überraschend und wohl polemisch aufgegriffenen Begriff'. Handelte es sich bei dem Ausdruck ό νόμος του Χριστού um eine vox theologica paulinischer Prägung, wäre wohl zu erwarten, daß diese besonders herausgestellt und explizit entfaltet wird. Da dies nicht der Fall ist, muß man mit einer Anspielung auf die judaistische Theologie der paulinischer Gegner rechnen. Dort scheint der Terminus viel eher am Platz, sind doch die Judaisten daran interessiert, den Gehorsam gegenüber der Thora in bestimmter Weise mit dem Gehorsam gegenüber Christus zusammenzurücken. 1. Kor 9,21 kann kaum als Gegeninstanz zum Ansatz dieser Auslegung von Gal 6,2 geltend gemacht werden; denn bei der an dieser Stelle begegnenden Wendung έννομος Χρίστου handelt es sich um eine ad hoc entworfene Kontrastbildung zu άνομος -όεοϋ, die nicht sachlich befrachtet werden sollte, zumal das Wort έννομος unterschiedliche Konnotationen zuläßt (vgl. Bauer, WB, s.v. - mit W.G. KÜMMEL (Hg.), H. LIETZMANN, An die Korinther I/II [HNT 9], Tübingen 51969, 180 z.St.; H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther [KEK V 12 ], Göttingen 1981, 190 und ebd. Anm. 27; gegen W. GRUNDMANN, T h W I X , 538).

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sung, einander die Lasten zu tragen, tatsächlich kritischen Akzent trägt, erhellt aus der angeschlossenen Begründung: ,Denn wenn sich jemand einbildet, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, betrügt er sich selbst' (6,3). Immer noch sind dieselben Adressaten im Blick, nämlich Leute, die sich selbst bespiegeln und die Errungenschaften des Ich feiern. Paulus beurteilt diese Haltung als Selbsttäuschung, weil sie sich das vom Evangelium aufgedeckte Nichts verschleiert und an der Illusion festhält, als bestimme sich das Sein der Person aus dem, was sie aus sich macht44. In diesen Zusammhang fugt sich schließlich auch die paulinische Empfehlung einer Prüfung des eigenen Werks (6,4). Der Ratschlag befürwortet eine Würdigung des Geleisteten im Innenraum der Person, also im inneren Dialog. Wie Paulus erklärt, wird der Betreffende dann ,Ruhm haben im Hinblick auf sich selbst und nicht im Hinblick auf den anderen'. Mit dieser Feststellung gewinnt die Weisung nun freilich einen unverkennbar ironischen Klang. Sie hintergeht ja gerade das Interesse des Ich, Ruhm aus dem Vergleich mit anderen abzuleiten und im Horizont öffentlicher Anerkennung zu behaupten. Indem sie jede Bezugnahme auf ein Publikum abschneidet, entzieht sie dem Ich de facto die Möglichkeit des Ruhms. Denn das Ansehen der Person, das im Ruhm zutage tritt, ist immer auf ein Forum angewiesen, das der Person die Geltung zuspricht. Ruhm wird einem nur im Urteil anderer zuteil. Die paulinische Konzession eines Ruhmbesitzes εις εαυτόν ist somit ein Widerspruch in sich. Mit dem Mittel der Ironie betreibt sie nichts anderes als eine Destruktion des Ruhmgebarens überhaupt45. Dem gleichen Interesse gilt dann womöglich auch die Schlußbemerkung: ,Denn jeder wird seine eigene Last tragen' (6,5). In Verbindung mit dem zuvor Gesagten muß sich die Rede von der ,eigenen Last' auf das 44 Vgl. Aristoteles, Rhetorik I 9,35 (1368a 5-7): „Stolz war er nicht auf das, was durch das Glück ihm erwachsen war, sondern nur auf das, was er durch sich selbst besaß". 45 Mit Ironie rechnet auch MUSSNER (s. Anm. 42), allerdings im Rahmen einer Deutung, die 6,4f auf den Akt des Endgerichts bezieht: „Bei dieser ,eschatologischen' Interpretation muß ... die Aussage in der Tat ironisch verstanden werden. Eine ehrliche Selbstprüfung ergibt, daß kein Gegenstand des Sichrühmens für das kommende Gericht bleibt!" (401) MUSSNERS Erwägung ist insofern fragwürdig, als sie verkennt, daß das ironische Moment auf der Fiktion eines angenommenen Ruhms ohne öffentlichen Widerhall beruht. Sie übersieht, daß es sich bei der Verbindung von τό καύχημα und εις έαυτόν um eine contradictio in adiecto handelt (zu dieser Figur vgl. H. WERNRLCH Semantik der kühnen Metapher [in: DERS., Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 295-316], 306ff). Berücksichtigt man diesen Sachverhalt, kann das doppelte Futur in 6,4f nur gnomischen Charakter tragen. - Wie ich jetzt sehe, gelangt G. KLEIN in seinem kürzlich erschienenen Beitrag über: Werkruhm und Christusruhm im Galaterbrief und die Frage nach einer Entwicklung des Paulus (in: W. SCHRÄGE [Hg.], Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments [FS H. Greeven][BZNW 47], Berlin 1986, 196-211) zu einer Sicht von 6,4f, die sich in der Sache mit meiner Interpretation d. St. weitgehend deckt (vgl. 209 und ebd. Anm. 75).

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ruhmreiche Werk beziehen, das dem Ich in der Prozedur einer illusorischen Leistungsbilanz verbleibt. Dann verstärkt die Maxime den ironischen Charakter des empfohlenen Verfahrens: , Jeder hat an der Bürde des Ruhms vor sich selbst genug zu tragen'46. Was Paulus geltend macht, läuft auf die aberwitzige Feststellung hinaus, daß jeder hinreichend damit beschäftigt ist, vor seiner eigenen ,guten Tür' zu kehren. Im Rückblick betrachtet, erweist sich der Abschnitt als kohärent und einer einheitlichen Zielsetzung verpflichtet. Kennzeichnend für das Ganze ist, daß eine kritische Sicht das Feld beherrscht. Die positiv geprägten Weisungen gehören einem Zusammenhang an, der primär prohibitive Züge trägt und die Adressaten zur Selbstprüfung anhält. Diese Tendenz bleibt auch im folgenden (vgl. 6,7-9) bestimmend47. Im Brennpunkt des Interesses steht die Gefahr einer Korruption des Neuen durch das Alte, und die Warnung hat den Sinn, die Gemeinde vor dem Verhängnis des Rückfalls abzuschirmen. Nun läßt sich freilich nicht übersehen, daß der genannten Sentenzenreihe eine Präambel vorgeschaltet ist, die den Appell in positiver Weise geltend macht: ,Wenn wir kraft des Geistes leben, so laßt uns auch dem Geist folgen' (5,25). Aber diese Formulierung belegt gerade die Eigenart paulinischer Paränese. An ihr wird nämlich deutlich, daß der Imperativ der sprachlichen Nähe des Indikativs bedarf, wenn er in positiver Weise geltend gemacht werden soll. Will Paulus sagen, wozu die Glaubenden vorgerufen sind, so kann er nur daran erinnern, wovon sie in Wahrheit leben: „Da der Geist das Mittel gewesen ist, durch das die Galater des Heils teilhaftig geworden sind, so wird er auch das einzige Mittel bleiben, durch das sie Teilhaber des Heils bleiben können"48. So stellt ihnen der Adhortativ πνεύματι και στοιχώμεν nichts anderes anheim, „als die ,Frucht des Geistes' ... geschehen zu lassen"49. Entsprechend heißt es in der Klausel der Partie:

46

Die Ironie lebt von der Widerspruchsspannung zwischen res (,Ruhm einbringendes Werk') und verbum (,Last'). 47 Vgl. die prohibitiv gefaßten Appelle in 6,7a und 6,9a.b. Die Ausführungen von 6,79 geben freilich zu sachkritischen Erwägungen Anlaß. So formuliert die das Bildwort (6,7b) metaphorisch weiterführende Sentenz von 6,8 einen Satz Heiligen Rechts, der sich dem Duktus der paulinischen exhortado nur gezwungen einfügt. Denn der Gleichklang von Tun und Ergehen auf der Seite von σαρξ und πνεύμα nivelliert nicht nur die vorher geltend gemachte Differenz beider Sphären, sondern leistet auch dem Gedanken Vorschub, als werde die Frucht des Geistes erst am Ende der Tage zugänglich (vgl. auch 6,9b). Die gebotene Orientierung am πνεύμα scheint nicht durch die Predigt des Evangeliums, sondern vielmehr durch den Blick auf das Endgericht motiviert. Man gewinnt den Eindruck, daß sich Paulus der Sprache apokalyptischen Denkens bedient, ohne die sachlichen Implikationen dieser Anleihe zureichend bedacht zu haben. 48

BETZ (S. A n m . 34), 9 1 .

49

Ebd.

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.Folglich, da wir Zeit haben, laßt uns allen Gutes tun' (6,10). Die Wendung ώς καιρόν έχομεν stimuliert nicht privativ den Gedanken einer beschränkten, sondern positiv den einer eröffneten Zeit. Nicht ein quantitativ, sondern ein qualitativ begriffenes Gut ist im Blick: ebenjene vom Evangelium mitgeteilte Zeit der Freiheit, die als die Zeit des Geistes und insofern als die Zeit der Liebe wahrgenommen sein will. Der Appell, allen Gutes zu tun, nämlich Liebe zu erweisen, gründet in dieser Vorgabe und weist in sie ein. Paulus bittet die Galater, vom Geschenk der Zeit im Interesse dieses Geschenks Gebrauch zu machen, die Zeit der Liebe als eine Zeit fiir die Liebe in Anspruch zu nehmen. So gibt seine Paränese zu verstehen, was der Glaube vermag, wenn er des ihm Gewährten ansichtig bleibt.

FREIHEIT ALS SELBSTENTZUG Zur Begründung der Ethik im Denken des Paulus (1. Korinther 6,12-20) Was es mit dem paulinischen Verständnis der Freiheit1 auf sich hat, zeigt sich immer wieder auch in Texten, die terminologisch kaum eine Affinität zu diesem Thema erkennen lassen. Das gilt z.B. für 1. Kor 6,12-202. Vordergründig auf das Problem des Dirnenverkehrs bezogen, scheint diese Briefpassage einen Spezialfall der Ethik zu traktieren, der schon insofern kein allgemeines Interesse zu beanspruchen vermag, als er ausschließlich das männliche Sexualverhalten betrifft. Sieht man näher zu, erscheint das Gesagte indessen als ein Paradigma paulinischer Anthropologie. In Wahrheit handelt sich um den Entwurf einer Grundlegung christlicher Ethik, und dieser Entwurf gibt sich zugleich als eine Auslegung der Freiheit des Glaubens zu verstehen. Die paulinische Lösung des angesprochenen Falls will also synekdochisch beurteilt, d.h. als eine Stellungnahme gewürdigt sein, die repräsentativen Charakter besitzt und insofern fundamentalethische Einsichten erschließt. Wer 1. Kor 6,12ff zu interpretieren sucht, sieht sich einem doppelten hermeneutischen Problem konfrontiert. Das eine erwächst aus dem Umstand, daß sich die paulinische Gedankenbewegung als ein Dialog mit den Briefadressaten vollzieht, der ständig auf die Beweisführung bestimmter Kreise der korinthischen Gemeinde anspielt, ohne dies ausdrücklich zu signalisieren. Soll das argumentative Interesse des Textes deutlich werden, stellt sich die Aufgabe, aus der paulinischen Diktion exegetisch zu rekonstruieren, was sich als Bezugnahme auf die Position der korinthischen Front zu erkennen gibt und was nicht. Die zweite hermeneutische Schwierigkeit hängt mit dem Verständnis von σώμα [,Leib'] zusammen, das explizit achtmal begegnet und als textbeherrschendes Leitwort anzusehen ist. Was nun aber σώμα an unserer Stelle und in paulinischer Rede überhaupt besagt, ist in der neueren Exegese überaus strittig. In Anbetracht der skiz1 Zur Sache vgl. K. NIEDERWIMMER, Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament (TBT 11), Berlin 1966, 168FF; F. ST. JONES, „Freiheit" in den Briefen des Apostels Paulus (GTA 34), Göttingen 1987; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989. 2 In den Anm. 1 genannten Monographien wird dieser Text nur beiläufig berührt.

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zierten zwiefaltigen hermeneutischen Hürde, die einen ungehinderten Zugang zum Text verstellt, empfiehlt sich zunächst eine kurze Vorbesinnung über die Bedeutung des Wortes σώμα bei Paulus sowie über die Eigenart des Denkens der korinthischen Pneumatiker, mit denen sich der Apostel auseinandersetzt.

I. Zum paulinischen Verständnis von σώμα Die neuere Diskussion ist wesentlich durch R. Bultmanns Charakteristik des paulinischen Begriffs σώμα als einer anthropologischen Kategorie beeinflußt worden. Bultmann geht in dem betreffenden Abschnitt seiner ,Theologie des Neuen Testaments' (§ 17) zunächst von der Bedeutung ,Körper' aus, erklärt dann aber, nicht selten könne „man σώμα einfach durch ,ich' (bzw. ein dem Zusammenhang entsprechendes Personalpronomen) übersetzen"3. So gelangt er zu der Basisdefinition: Der Mensch ,Jieißt σώμα, sofern er sich selbst zum Objekt seines Tuns machen kann oder sich selbst als Subjekt eines Geschehens, eines Erleidens erfährt. Er kann also σώμα genannt werden, sofern er ein Verhältnis zu sich selbst hat, sich in gewisser Weise von sich selbst distanzieren kann; genauer: als der, gegen den er sich in seinem Subjektsein distanziert, mit dem er als dem Objekt seines eigenen Verhaltens umgehen und den er wiederum auch als einem fremden, nicht dem eigenen Wollen entsprungenen Geschehen unterworfen erfahren kann - als solcher heißt er σώμα. Gehört solches ,ein Verhältnis zu sich selbst Haben' zum Sein des Menschen, so liegt darin das Doppelte: die Möglichkeit, mit sich selbst einig zu sein oder sich selbst entfremdet, mit sich selbst zwiespältig zu sein; die Möglichkeit, über sich zu verfugen, oder diese Verfugungskraft zu verlieren und fremder Macht preisgegeben zu sein, gehört zum menschlichen Sein als solchem"4. Was das paulinisch begriffene σώμα signalisiert, versteht sich somit als eine anthropologische Struktur. Dies ist die Pointe der Charakteristik Bultmanns. Nun hat man in Zweifel gezogen, daß der Mensch - paulinisch geurteilt - in erster Linie als Handelnder, nämlich als das Subjekt eines Verhaltens, in Betracht zu ziehen sei, wenn seine somatische Befindlichkeit zur Debatte steht5. Und man hat gefragt, ob Bultmann nicht letztlich doch einer idealistischen Anthropologie verpflichtet bleibt, wenn er das Bezeichnende am 3

Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), Tübingen 9 1984, 195 (vgl. 194). AaO., 196f. 5 Vgl. G. SCHUNACK, Das hermeneutische Problem des Todes (HUTh 7), Tübingen 1967, 24f. 4

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Begriff σώμα darin erblickt, daß der Mensch ein Verhältnis zu sich selbst hat. Tritt die idealistische Befangenheit der Deutung Bultmanns nicht insofern zutage, als „das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, eben doch Geist ist und darum das Selbst - trotz aller Entfremdimg - in einem letzten Sinne ,sich hat', ,bei sich' ist? Dann bliebe die Idee der Subjektivität trotz allem Voraussetzung auch der theologischen Anthropologie"6. In dieselbe Richtung weisen die Vorbehalte E. Käsemanns. Entschieden verwahrt er sich gegen Bultmanns Auskunft, σώμα sei der Mensch, „sofern er sich selbst als Objekt seines Verhaltens gegenständlich ist, sofern er sich von sich selbst distanzieren und unter die Herrschaft fremder Mächte geraten kann"7, und stellt kritisch fest: „Es dürfte kaum zufallig sein, daß Bultmann hier in die Terminologie des sonst von ihm perhorreszierten SubjektObjekt-Gegensatzes zurückfallt. Wird der Leib als Instrument unseres Handelns oder zumeist als Gegenstand unseres Tuns und Erleidens bestimmt, ist offensichtlich gegen die Intention, welche sonst die Interpretation der paulinischen Anthropologie leitet, darunter nicht mehr der ganze Mensch verstanden, und die eigentliche Person wird nicht grundlos davon abgehoben ... Verräterisch ist die Ausdrucksweise, die davon spricht, daß das Ich wenigstens potentialiter mit sich selbst eins, sich zu eigen sein, über sich selbst verfugen kann. Gerade das kommt der Kreatur niemals zu und wird auch dem Glaubenden nicht gewährt, der seinem Herrn lebt und stirbt und sich selbst nicht weniger als der Sünder unter der Herrschaft der Mächte entzogen bleibt"8. Im Gegensatz zu Bultmann bestimmt Käsemann die paulinisch verstandene Leiblichkeit als „das Wesen des Menschen in seiner Notwendigkeit, am Kreatürlichen zu partizipieren, und in seiner Fähigkeit zur Kommunikation im weitesten Sinne, nämlich seiner Bezogenheit auf eine ihm jeweils vorgegebene Welt"9. Dies besagt: Σώμα ist der Mensch nicht, sofern er sich zu sich selbst, sondern sofern er sich zu anderen oder zu anderem verhält. Für den Apostel bedeutet σώμα also gerade nicht, „was für den modernen Person- oder gar Persönlichkeitsbegriff charakteristisch gilt, Individualität", sondern im Gegenzug auch zum klassischen Griechentum „Möglichkeit der Kommunikation. Als Leib steht man in der Ausrichtung auf andere, in der Gebundenheit durch die Welt, im Anspruch des Schöpfers, in der Erwartung der Auferstehung, in der Möglichkeit konkreten Gehorsams und der Selbsthingabe ... Weil Existenz durch meinen je6

G. SCHUNACK, aaO., 25 Anm. 117.

7

R.BULTMANN, aaO., 203.

8 E. KÄSEMANN, Zur paulinischen Anthropologie, in: DERS., Paulinische Perspektiven, Tübingen 3 1 9 9 2 , 4 1 f. 9 AaO., 43.

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weiligen Herrn, durch meine jeweilige Eingliederung qualifiziert wird und die Kraft des Kosmos in der σάρξ [im Fleisch] ebenso nach mir greift wie die Kraft des Christus im πνεύμα [Geist], gibt es die doppelte Möglichkeit, εν σώμα [ein Leib] mit der Hure oder mit Christus zu sein und Glied der einen oder des andern zu werden"10. Nun weiß freilich auch Bultmann, daß der Mensch als σώμα zum Platzhalter ihm feindlich oder freundlich gesonnener Mächte werden kann. Der Begriff enthält Merkmale, „die sein Ausgeliefertsein an fremde Gewalten zum Ausdruck bringen - sei es zerstörender Gewalt, sei es befreiender und beglückender Macht"11. Allein, Bultmann scheint dies , Ausgeliefertsein' wie E. Güttgemanns zu Recht vermutet - primär negativ „als ,Verfallenheit' oder ,Entfremdung' zu empfinden"12: Die Mächte wollen den Menschen „seiner eigenen Verfugung entreißen" oder haben dies schon getan13. Unberücksichtigt bleibt dabei, daß nach Paulus auch der Glaubende „nicht seiner eigenen Verfugung anheimgestellt ist, ja daß ... die ,Sünde' nach Paulus gerade darin besteht, über sich selbst verfugen zu wollen"14, wie Bultmann selbst in anderen Zusammenhängen unermüdlich betont. Konsequenter als Bultmann haben wir somit von der Einsicht auszugehen, daß der Mensch für Paulus nicht ein σώμα hat, sondern daß er σώμα ist15. Doch was dies konkret besagt, muß anders bestimmt werden, als dies bei Bultmann der Fall ist. Leitend scheint für Paulus die Vorstellung von σώμα als einem ,Gefäß'16: In seiner leiblichen Befindlichkeit ist der Mensch stets von ,etwas' ausgefüllt, aber so, daß das als Gefäß vorgestellte σώμα von der Füllung affiziert, ja absorbiert wird. Von verderblichen Mächten (σάρξ) oder von der Macht des Lebens (πνεύμα) eingenommen, erfahrt sich der Mensch eben in seiner Leiblichkeit als ein solcher, der nicht über sich verfügt, sondern sich selbst entzogen ist. Für Paulus versteht sich der Terminus ,Leib' somit als ein Indikator für die totale Abhängigkeit unseres Daseins. Offen bleibt, in welcher Weise wir diese Abhängigkeit ausstehen, d.h. existieren: wovon wir faktisch eingenommen und woraufhin wir ansprechbar sind. In Frage steht, ob wir die Leiblichkeit unseres Daseins als einen Vorbehalt erfahren, der zu unserem Unheil oder zu unserem Heil ausschlägt -

10

E. KÄSEMANN, Anliegen und Eigenart der paulinischen Abendmahlslehre, in: DERS., ExVuB I, Göttingen 6 1970, 32. 11 AaO., 198. 12 Der leidende Apostel und sein Herr (FRLANT 90), Göttingen 1966, 209. 13 14 15

16

R. BULTMANN, aaO., 2 0 0 . E. GÜTTGEMANNS, aaO., 2 0 9 f . V g l . R. BULTMANN, aaO., 195.

Zu diesem Interpretament und zu den folgenden Ausführungen vgl. G. SCHUNACK, aaO., 2 6 .

Freiheit als Selbstentzug

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als einen Selbstentzug, in dem sich die Möglichkeit geschöpflicher Existenz als verwirkte oder als wirklich gelebte, als der verschlossene Raum der Unfreiheit oder als der geöffnete Raum der Freiheit darstellt.

II Die Autarkie des Selbst im Denken der korinthischen Pneumatiker Auch wenn es methodisch ein riskantes Unternehmen bleibt, kann sich die Exegese der Aufgabe nicht entschlagen, die paulinischen Anspielungen auf Parolen der Briefpartner zu identifizieren und aus ihnen Anhaltspunkte fur deren Denkweise zu gewinnen, weil sonst die Pointe der paulinischen Argumentation undurchsichtig bliebe. Was also läßt sich aus 1. Kor 6,12ff für eine Rekonstruktion der Verhältnisse auf Seiten der korinthischen Gemeinde entnehmen? Es hat den Anschein, als habe man in Korinth die Devise ausgegeben, daß Speisen das Bedürfnis des Bauches zufriedenstellen und der Bauch als leibliches Organ allein für die Zufuhr der Speisen bestimmt ist (vgl. v. 13a). Mit dieser wechselseitigen Zweckbestimmung soll die Bedeutungslosigkeit des einen wie des anderen für die Förderung und Erhaltung des Lebens im eigentlichen Sinn erwiesen werden, denn beides fallt der Vergänglichkeit anheim (vgl. v. 13b). Möglicherweise zielt ein derartiges Argument darauf ab, das Essen von Götzenopferfleisch (vgl. 1. Kor 8,13ff; 10,14ff.23ff) als imbedenklich und heilsirrelevant herauszustellen. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um eine Einsicht weisheitlicher Prägung, die als Modellfall für die Evidenz einer ganz anderen These herhalten muß, und diese These lautet: ,Der Leib ist für den Verkehr mit der Dirne und dieser für jenen da' (vgl. v. 13c). Was Paulus in Form einer antithetischen Aussage (correctio) entrüstet in Abrede stellt (,der Leib indessen ist keineswegs für die Unzucht da, sondern für den Herrn'), könnte gerade Ausdruck einer Grandeinstellung bestimmter Gruppen in Korinth gewesen sein: , Wie die Speisen für den Bauch und der Bauch für die Speisen, ebenso ist der Leib für die Unzucht und die Unzucht für den Leib bestimmt!' Auch im zweiten Glied dieses Vergleichs ist dann der Gesichtspunkt maßgebend, daß es sich bei Leib und Unzucht um Phänomene der Vergänglichkeit handelt (vgl. wieder v. 13b). Was Leben im eigentlichen Sinn garantiert und die eigene Identität verbürgt, ist jedenfalls anderer Art als Bauch und Leib, Speisen und Dirnenverkehr. Durchsichtig wird ein derartiger Analogieschluß freilich nicht aus sich selbst, sondern allererst im Zusammenhang eines Denkens, das die Autarkie eines geistigen Selbst behauptet. Dieses Selbst, substantiell als πνεύμα ge-

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faßt, gewinnt seine Identität gerade aufgrund seiner Abgrenzung gegenüber der Kondition des Leiblichen. Zwar hat der Mensch ein σώμα, aber als pneumatisch qualifiziertes Ich ist er an dieses σώμα nicht gebunden, im Gegenteil: Die somatische Befindlichkeit gehört einer ihm wesensfremden Sphäre an. Sie ist mit der σάρξ identisch. Um zu demonstrieren, daß das pneumatische Ich durch somatische Handlungen nicht tangiert wird, erklärt man in Korinth das Essen jedweder Nahrung, z.B. auch des kultisch geweihten Fleisches, für ein Adiaphoron und selbst sittlich zweifelhafte Taten wie den Gang zur Dirne fur unerheblich und gleichgültig. Ja, man zollt derartigen Aktionen Beifall, weil sie eben dazu geeignet sind, die Unabhängigkeit des unweltlichen Selbst von weltlichen Zusammenhängen zur Schau zu stellen. So versteht sich die Parole πάντα εξεστιν [,alles steht zu Gebote'] als Ausdruck eines radikalen Freiheitsbewußtseins, das in Wahrheit eine Form der Selbstbehauptung oder Selbstverfügung darstellt. Der Pneumatiker ist seiner selbst mächtig, und er dokumentiert dies gerade dadurch, daß er sich als πνεΰμα von seinem Leib zu distanzieren, das eigene σώμα zu objektivieren vermag. Weil sich das Ich der Person jeder Verantwortung für das Subjekt des Handelns entschlägt, kann ihm nichts, was sich auf dem Feld des Handelns abspielt, zum Bösen ausschlagen. Darum gesellt sich zu der These πάντα εξεστιν [,alles steht zu Gebote'] die andere: πάντα συμφέρει [,alles ist förderlich']; denn die Akte des σώμα, auch der Gang zur Dirne, erweisen sich als Material und Indiz für die weltlose Autarkie des Selbst.

III. Die paulinische Behauptung der ethischen Relevanz des Leiblichen Orientiert man sich an dieser Rekonstruktion der Lage in Korinth, tritt der implizit polemische Charakter der paulinischen Äußerung von 1. Kor 6,12ff unverkennbar zutage. Was der Apostel geltend macht, präsentiert sich als Angriff auf eine pneumatische Position der Entweltlichung, die einer dualistischen Anthropologie das Wort redet und auf dieser Grundlage die ethische Relevanz des Somatischen rundweg bestreitet. Dies wird noch deutlicher, wenn man den Versuch macht, die paulinische Argumentation im einzelnen nachzuzeichnen. Auffälligstes Textmerkmal ist das dreimalige (ή) ούκ ο'ίδατε [,(oder) wißt ihr nicht'] (v. 15.16.19). Diese Diatribenformel, die das Mitdenken der Adressaten provoziert und das Werben um Einverständnis argumentativ verstärkt, dient offensichtlich als Dispositionssignal. Stellt man in Rechnung, daß v. 12 eine Art Grundsatzerklärung darstellt, haben wir es dem-

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nach mit einer fünfteiligen Aussagefolge zu tun (v. 12.13f.l5.16-18.19f). Problematisch sind allerdings Stellung und Aussagegehalt von v. 18 (,Flieht die Unzucht! Jede Versündigung, die ein Mensch [anderen an]tut, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich an seinem eigenen Leib'). Das dort Gesagte wirkt sowohl in formaler als auch in sachlicher Hinsicht als sperrig. So unterbricht der Imperativ φεύγετε [,flieht (die Unzucht)!'] die in sich geschlossene Reihe der mit ,wißt ihr nicht' eröffneten Fragen (vgl. v. 15a.b.l6a.l9). Der direkte Appell fugt sich (anders als die Schlußmahnung v. 20b) dem Gesamtzusammenhang nur äußerst gezwungen ein. Andererseits bezieht sich v. 19 sachlich auf v. 17 zurück. Was es mit der pneumatischen Qualität der Verbindung mit dem Kyrios auf sich hat (v. 17), wird in v. 19 näher begründet17. Aber auch in sachlicher Hinsicht ist v. 18 bedenklich. Die an dieser Stelle behauptete Differenz zwischen somatisch relevanten und somatisch nicht relevanten Verfehlungen hintergeht die paulinische Aussageabsicht der gesamten Passage und läßt sich vor dem Hintergrund paulinischen Denkens kaum rechtfertigen. Verdächtig ist im übrigen die Rede vom 'ίδιον σώμα [,eigenen Leib'], wird sie doch durch v. 19c de facto widerrufen. Von daher gesehen, ist an der fraglichen Stelle ernstlich mit der Möglichkeit einer sekundären Glossierung des Textes zu rechnen.

1. Die Grundsatzerklärung (v. 12) Unvermittelt greift Paulus gleich zu Beginn der Passage zweimal einen brisanten Programmsatz der Korinther auf, freilich in persönlicher Zuspitzung: ,alles steht mir frei' (v. 12a.b; vgl. 1. Kor 10,23). Das Doppelzitat erweckt den Eindruck, als mache er sich die Freiheitsparole zu eigen. Aber die jeweils mit ,aber nicht' angeschlossene Hinzufugung zeigt, daß dies keineswegs der Fall ist. Die Devise gerät in den Kontext einer Begrenzung, der ihre Geltung zwar nicht aufhebt, aber doch grundlegend modifiziert: ,Alles steht mir frei', [mag sein] aber nicht [gilt]: .alles ist [für mich und andere] förderlich'; ,alles steht mir frei' [nun gut] aber nicht werde ich mich [als Ich] von etwas bezwingen lassen.

2

17 Vgl. H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther (KEK V 11 ), Göttingen 1981, 142 Anm. 31.

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Dies besagt: Alles ist mir nur unter dem Vorbehalt verfügbar, daß durch das Ausleben meiner Freiheit nicht die Belange anderer verletzt werden (v. 12a). Möglicherweise verdreht Paulus den Anspruch der Gegenseite, indem er zwei Parolen gegeneinander ausspielt und den Gesichtspunkt des συμφέρον [,Förderlichen'] gerade als kritischen Maßstab des π ά ν τ α μοι εξεστιν [,alles steht mir frei'] ins Feld fuhrt: „Es ist mir zwar alles erlaubt, aber es dient nicht alles zum Aufbau der Gemeinde (vgl. 10,23). Die echte Freiheit darf nicht auf Kosten des anderen gehen"18. Der zweite Vorbehalt (,aber nicht werde ich mich von etwas bezwingen lassen' [v. 12b]) bedenkt die Möglichkeit, daß ich dem, worüber ich zu verfügen meine, unmerklich anheimfalle, so daß sich die Freiheit selbst als das Instrument einer Fremdherrschaft darstellt, die mich bezwingt. Auch Paulus behauptet also, daß dem Christenmenschen alles zu Gebote steht. Doch gilt dies s.E. nur, wenn zugleich beachtet bleibt, daß der an Christus Glaubende über sich selbst nicht verfügt. Alle Handlungen haben sich also, paulinisch geurteilt, nach Maßgabe der Einsicht zu vollziehen, daß der Glaubende sich nicht selbst zu eigen ist. Sie haben dem zu entsprechen, daß er sich nicht selbst gehört (vgl. 1. Kor 3,2Iff). Er macht von seiner Freiheit also unter dem Vorbehalt eines Verdanktseins des eigenen Daseins Gebrauch. Um es mit H. Conzelmann zu sagen: „Ansatz ist die Freiheit, die im Dienst Christi der Welt gegenüber gewonnen wird, also nicht eine ,innere' Freiheit, die man im Rückzug von der Welt gewinnt, um sie dann nach außen zu demonstrieren"19. Als Angriffspunkt der Grundsatzerklärung von v. 12 erscheint somit die Selbstsicherheit des Pneumatikers korinthischer Prägung, der sich libertinistische Aktionen gerade mit der Begründung gestattet, über ein authentisches Selbst zu verfugen, das von den Weltbezügen unberührt bleibt.

2. Die Bestreitung der Analogie von , Bauch ' und, Leib ' (v. 13ß Was die paulinische Grundsatzerklärung von v. 12 konkret im Blick hat, wird v. 13f aufgedeckt. Wieder bezieht sich Paulus auf einen ihm lancierten Slogan der Korinther, und wieder sucht er die Sympathie der Adressaten dadurch zu gewinnen, daß er sich ihrer Sprache anpaßt und den ersten Teil der korinthischen Doppelparole akzeptiert (v. 13a.b):

18 19

F. LANG, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 1986, 82. AaO., 139f.

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,Die Speisen für den Bauch, und der Bauch für die Speisen' [d'accord] - Gott wird [in der Tat] beide vernichten. Speisen und Bauch dienen nur der Erhaltung der biologischen Lebensfunktionen und sind insofern anthropologisch irrelevant, als sie im Eschaton keinen Bestand haben. Um so entschiedener verwahrt sich der Apostel gegen den zweiten Teil der Devise und die in ihr vorausgesetzte Analogie von ,Bauch' und ,Leib' (v. 13c)20: Der Leib indessen ist keineswegs für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib. Paulus vermeidet eine stilistisch glatte Aussage, indem er den ersten Halbsatz als Antithese (correctio) formuliert. Dadurch zieht die Negation alle Aufmerksamkeit auf sich. So wird die Differenz zwischen korinthischer Position und paulinischer Gegenposition unübersehbar. Der Apostel widersetzt sich der Korrespondenz zwischen ,Leib' und ,Unzucht', weil er deren Prämisse, die Analogie zwischen ,Bauch' und ,Leib', nicht zu teilen vermag: Die Leiblichkeit läßt sich nicht verdinglichen, sondern ist Wesensmoment der Ganzheit der Person. Darum ersetzt er die von der Gegenseite süffisant kolportierte Behauptung einer wechselseitigen Zugehörigkeit von ,Leib' und ,Unzucht' durch die der grundlegenden Relation von ,Leib' und ,Kyrios'. Als Begründung dient eine Bekennntnisaussage (v. 14): Gott hat [nämlich] den Herrn [leiblich] auferweckt, und [darum] wird er auch uns [leiblich] auferwecken durch seine Macht. Schlüssig ist diese Begründung nur dann, wenn man in ήμάς [,uns'] den Begriff σώμα von v. 13c aufgenommen sieht und entsprechend auch bei der christologischen Auferweckungsaussage das Moment des Somatischen voraussetzt21: Die Leiblichkeit gewinnt ihre besondere Würde gerade daraus, daß Gott den Kyrios leiblich auferweckt hat und ,uns' ebenfalls leiblich auferwecken wird. In unüberhörbarer Antithese zu v. 13b stellt Paulus also fest, daß das σώμα im Unterschied zur κοιλία [,Bauch'] im Eschaton

20

Zur Sache vgl. G.D. FEE, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids (1987) 1988,253ff, sowie die dort vorgelegte Strukturanalyse von v. 13f. 21 Vgl. E. GÜTTGEMANNS, aaO., 229.

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Bestand haben wird. Es besitzt eschatologische Relevanz. Dies gilt freilich nur insofern, als es zum Gegenstand göttlichen Schaffens ([έξ]εγείρειν [,auferwecken']) erhoben wird. Σώμ