Die Zukunft der Textlinguistik: Traditionen, Transformationen, Trends [Reprint 2011 ed.] 9783110940831, 9783484311886

The aim of the book is to offset certain static conservative tendencies observable in text-linguistics by advancing a co

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German Pages 240 Year 1997

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Die Zukunft der Textlinguistik: Traditionen, Transformationen, Trends [Reprint 2011 ed.]
 9783110940831, 9783484311886

Table of contents :
Einleitung: Quo vadis, Textlinguistik?
Textlinguistik: Zu neuen Ufern?
Text und Perspektive. Elemente einer konstruktivistischen Textauffassung
„Puzzle-Texte“ – Bemerkungen zum Textbegriff
Texte als Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik
Erarbeitung von Textstrukturen. Zu einigen Verbindungen zwischen Schreibforschung und kognitiver Textlinguistik
Text und Dynamik. Beobachtungen zur Textproduktion an einem technischen Arbeitsplatz
Kanon und Auflösung des Kanons. Typologische Intertextualität – ein „postmodernes“ Stilmittel? Eine thesenhafte Darstellung
Intertextualität. Linguistische Bemerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Textkonzept
Text und Ideologie. Beobachtungen zur NS-Presse im Besatzungskontext
Plagiate im Kontext elektronischer Medien
Zur Frage der Übersetzungsäquivalenz
Über einige Aspekte der Textualität in der Rezeptionsperspektive des Konsekutivdolmetschers
Text als Kodifizierungseinheit – eine Besonderheit der Norm im (Alt)Kirchenslawischen
Hörsaaltexte. Mündliche und schriftliche Formen von Selbstdarstellungen im Fremdsprachenunterricht
Die Zukunft der Textlinguistik. Zusammenfassende Bemerkungen zu einer Diskussion

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Reihe Germanistische Linguistik

188

Herausgegeben von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

Gerd Antos/Heike Tietz (Hgg.)

Die Zukunft der Textlinguistik Traditionen, Transformationen, Trends

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Wolfgang Heinemann zum 70. Geburtstag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Zukunft der Textlinguistik : Traditionen, Transformationen, Trends / Gerd Antos/ Heike Tietz (Hgg.)· - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Reihe Germanistische Linguistik ; 188) ISBN 3-484-31188-6

ISSN 0344-6778

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Gerd Antos / Heike Tietz (Halle) Einleitung: Quo vadis, Textlinguistik? Robert de Beaugrande (Wien) Textlinguistik: Zu neuen Ufern?

VII

1

Wolfdietrich Härtung (Berlin) Text und Perspektive. Elemente einer konstruktivistischen Textauffassung

13

Ulrich Püschel (Trier) „Puzzle-Texte" - Bemerkungen zum Textbegriff

27

Gerd Antos (Halle) Texte als Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik

43

Paul R. Portmann-Tselikas (Graz) Erarbeitung von Textstrukturen. Zu einigen Verbindungen zwischen Schreibforschung und kognitiver Textlinguistik

65

Karl-Heinz Pogner (Odense) Text und Dynamik. Beobachtungen zur Textproduktion an einem technischen Arbeitsplatz

81

Ulla Fix (Leipzig) Kanon und Auflösung des Kanons. Typologische Intertextualität - ein „postmodernes" Stilmittel? Eine thesenhafte Darstellung

97

Angelika Linke / Markus Nussbaumer (Zürich) Intertextualität. Linguistische Bemerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Textkonzept

109

VI

Inhaltsverzeichnis

Christoph Sauer (Groningen) Text und Ideologie. Beobachtungen zur NS-Presse im Besatzungskontext

127

Eva-Maria Jakobs (Saarbrücken) Plagiate im Kontext elektronischer Medien

157

Jozef Wiktorowicz (Warschau) Zur Frage der Übersetzungsäquivalenz

173

Jerzy Zmudzki (Lublin) Über einige Aspekte der Textualität in der Rezeptionsperspektive des Konsekutivdolmetschers

179

Swetlana Mengel (Halle) Text als Kodifizierungseinheit - eine Besonderheit der Norm im (Alt)Kirchenslawischen

193

Antonie Hornung (Trento) Hör saaltexte. Mündliche und schriftliche Formen von Selbstdarstellungen im Fremdsprachenunterricht

203

Heike Tietz (Halle) Die Zukunft der Textlinguistik. Zusammenfassende Bemerkungen zu einer Diskussion

223

Gerd Antos / Heike Tietz (Halle) Einleitung: Quo vadis, Textlinguistik?

„Quo vadis, Textlinguistik?" Mit dieser anspielungsreichen Frage verabschieden die Autoren Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger in ihrem inzwischen zum Standardwerk avancierten Buch „Textlinguistik" das einleitende Kapitel über „Was ist und was will Textlinguistik?". Die Frage „Quo vadis, Textlinguistik?" ist heute vielleicht noch aktueller als vor 10 Jahren, als das 1991 erschienene Buch im Manuskript bereits vorlag, aber aus DDR-spezifischen Gründen nicht erscheinen konnte. „Quo vadis, Textlinguistik?" heißt angesichts des sich neigenden Jahrhunderts nicht - noch nicht: „Was bleibt von der Textlinguistik?" - eine Frage, die im Kontext der allfalligen Rückblicke in den nächsten Jahren sicherlich häufiger gestellt werden wird. Vielmehr geht es - und das steht hinter dem Titel des Buches - um zwei unausgesprochene Fragen: ,Welche Zukunft hat die Textlinguistik?' Vielleicht schwingt aber auch die Frage mit: ,Hat die Textlinguistik - angesichts der Forschungsdynamik im konkurrierenden Umfeld - überhaupt (noch) eine Zukunft?' Um diese Fragen beantworten zu können, muß man zunächst einmal folgendes festhalten: Seit etwa 25 Jahren gehört die Textlinguistik zum Kanon der sprachwissenschaftlichen Subdisziplinen. In dieser Zeit hat sie in neuer Form alte Traditionen wiederaufgenommen und weitergeführt (z.B. Gattungstheorie, Rhetorik, Stilistik, Argumentation und Narration). Sie hat sich von einer zunächst grammatisch, dann pragmatisch (Brinker 1985) zu einer stark kognitionslinguistisch orientierten Disziplin transformiert. Heute stellt sich die Frage, wie die Textlinguistik auf neue Trends reagiert, d.h. wie sie sich zur Textproduktions- und Rezeptionsforschung (Antos/Krings 1989, Krings/Antos 1992, van Dijk/Kintsch 1983, Rickheit/Strohner 1993) und insbesondere zu den neuen Medien (z.B. Hypertext) positioniert: Welche Konsequenzen hat dies für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs? Welche methodischen Weiterentwicklungen sind zu registrieren? Welche Ansätze und Schwerpunkte dominieren heute die Textlinguistik (z.B. Nussbaumer 1991, Portmann 1991)? Und: Wie kann sie sich in Zukunft gegen neue Trends behaupten bzw. neue Trends mit ausbilden? Betrachten wir diese Fragen zur Zukunft der Textlinguistik etwas genauer: Hat die zur „Textwissenschaft" (van Dijk 1980) aufgestiegene Textlinguistik in den letzten drei Jahrzehnten in der Sprachwissenschaft nur ein Gastspiel gegeben oder sich - der Semiotik nicht unähnlich - zu einer „integrativen Wissenschaft" gemausert? Ist sie vielleicht trotz dieser langen Zeit letztlich doch nur eine Modeerscheinung geblieben? Oder gehört sie bereits zum etablierten Umfeld der Linguistik, womöglich schon zum Kern und Kanon sprachwissenschaftlicher Disziplinen? Und wenn ja, welche Prognosen über ihre Zukunft kann man machen? Oder stellen sich diese Fragen nur deshalb, weil die Textlinguistik in eine unspektakulä-

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Gerd Antos/Heike Tietz

re Konsolidierungsphase eingetreten ist, so daß sich Fragen nach ihr so deplaziert ausnehmen wie Fragen nach der Existenzberechtigung beispielsweise der Phonologie, der Semantik oder der Syntax-Forschung? Immerhin: Die maitres penseurs des neuen Faches haben sich als solche durchgesetzt und sind unbestritten etabliert. Die fur wissenschaftliche Disziplinen charakteristischen Einführungs- und Überblickswerke sind geschrieben (Gülich/Raible 1977, van Dijk 1980, Brinker 1988, Beaugrande/Dressler 1981, Sowinski 1983, Vater 1992, um nur einige zu nennen). Über fehlende Resonanz im akademischen Lehrbetrieb brauchte und braucht sich die Textlinguistik nicht zu beklagen. Das gilt auch für die Akzeptanz innerhalb des sich konsolidierenden Kanons der Sprachwissenschaft: Einfuhrungswerke in die Linguistik haben weitgehend die Textlinguistik als Teildisziplin integriert (Linke/Nussbaumer/Portmann 1991). Schließlich kann man der Textlinguistik sogar die Dignität interdisziplinärer Rezeption zusprechen. Und optimistisch mag auch stimmen, daß die Textlinguistik in der Reihe „Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft" vertreten sein wird, die den Stand der zumindest deutschsprachigen Linguistik des ausgehenden Jahrhunderts wie wohl kein anderes Nachschlagewerk repräsentieren wird. Andererseits ist aber auch unverkennbar: Die Textlinguistik hat sich - Gott sei Dank - aus ihrer zwischenzeitlich zugedachten Rolle als „Altemativ-Linguistik" (etwa gegenüber der Grammatik) weitgehend befreien können. Wieweit sie sich aber schon von dem damit verbundenen Image befreit hat, läßt sich nur schwer abschätzen. Trotz internationaler Verankerung scheint die Textlinguistik noch immer vorwiegend eine europäische Disziplin der Sprachwissenschaft zu sein. Schließlich: Die interdisziplinäre Ausweitung hin zu einer „Textwissenschaft", wenngleich mit linguistischem Vorzeichen, hat der eigenen Profilierung wohl nur bedingt genutzt. Wie sich spätestens seit den 80er Jahren gezeigt hat, ging der Textlinguistik mit dem Aufkommen der Gesprächs- bzw. Konversationsanalyse sozusagen ein legitim geglaubtes Kind verloren. Die Integration der Rhetorik, der Argumentationstheorie und der Stilistik in die Textlinguistik hat sie zwar um zentrale pragmatische Aspekte bereichert, aber auch spezifische Konturen abgeschliffen. Diese Ausdifferenzierung der Disziplin konnte durch die Rezeption der Textlinguistik - etwa in der Fachsprachenforschung oder in der diachronen Sprachwissenschaft - nicht vollständig kompensiert werden. Selbst ein Herzstück der Textlinguistik - nämlich die Textsorten- bzw. Textmusterproblematik (Kallmeyer 1986) - scheint heute eher auf der Stelle zu treten. Mit dem Einfluß der cognitive sciences und deren Paradigma gewann die Textlinguistik zwar Anschluß an neueste Entwicklungen und damit an Aktualität (Beaugrande/Dressler 1982). Gleichzeitig droht hier die vielleicht folgenreichste Erosion des eigenen Gegenstandes: Denn der Text als Produkt wird im Rahmen der cognitive sciences regelrecht zugunsten kognitiver Operationen und Prozesse aufgelöst. Ansätze zur Textrezeption und zur Textproduktion haben generell das Interesse weg von der sprachlichen Manifestation hin zu kognitiven Operationen und Strategien und damit weg vom Produkt hin zum Prozeß eher noch stärker verlagert. Diese Gegenüberstellung ist natürlich längst nicht so klar und eindeutig,

Einleitung: Quo vadis, Textlinguistik?

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wie sie jetzt erscheint: Denn vieles von dem, was hier bilanzierend aufgelistet wurde, zeigt in Wahrheit ambivalente Züge. Um es an einigen Beispielen zu verdeutlichen: Ist die - auch im vorliegenden Buch stark vertretene - Schreibforschung (Antos/Pogner 1995, Baurmann/Weingarten 1995) eine Spielart der Textlinguistik oder vielleicht eine Konkurrentin zu ihr? Wie ist das Verhältnis der Textlinguistik zu Anwendungsfeldern wie Fachsprachenforschung oder Übersetzung(swissenschaft)? Welche Konsequenzen haben die neuen Medien für den geläufigen Textbegriff (man denke etwa an das Phänomen des Hypertextes)? Oder: Welchen Einfluß haben Methoden aus den Bereichen der Ethnomethodologie, der Semantik und Semiotik oder der Kognitionspsychologie (z.B. Rezeptionsforschung) gehabt? Soweit einige der - wie uns scheint - aktuellen Fragen und Probleme. So verdienstvoll nun die Beantwortung von Fragen oder gar die Lösung von Problemen ist, so wichtig ist aber auch schon die Formulierung und Konkretisierung von Fragen und Problemen. Das hat sich das vorliegende Buch vor allem zur Aufgabe gemacht. Dabei zeigt sich ein - vielleicht überraschender - Tenor vieler Beiträge zur Frage nach der Zukunft der Textlinguistik: Sowohl im Hinblick auf die Textlinguistik als auch im Hinblick auf die genannten verwandten Ansätze werden keine claims abgesteckt, keine Reservate zugewiesen, auch keine Ausgrenzungen vorgenommen. Vielmehr scheint die Textlinguistik gleichsam ein Verkehrsknotenpunkt (geworden) zu sein, wo viele Wege zusammenlaufen, aber auch ihren Ausgangspunkt in verschiedene Richtungen nehmen. Wenn das Bild von der Textlinguistik als Ausgangs- und Durchgangsstation vieler (auch neuer) Entwicklungen zutreffen sollte, dann wäre die Frage nach der Zukunft der Textlinguistik zwar nicht beantwortet, aber die Richtung einer optimistisch stimmenden Antwort vorgezeichnet. Ziel des Buches ist es, den in den letzten Jahren mitunter zu beobachtenden konservierenden Tendenzen in der Textlinguistik mit einem Konzept entgegenzuwirken, das nicht abgrenzend-apologetisch ist, sondern neue Entwicklungen bewußt aufgreift, die Textlinguistik um bekannte Anwendungsfelder erweitert und zudem versucht, in Theorie und Praxis andere Akzente zu setzen. Daher greifen die Beiträge in ihrer Mehrzahl explizit oder implizit neuere Ansätze auf oder konturieren Perspektiven, die einer sich fortentwickelnden Textlinguistik neue Impulse verleihen könnten. Unter dieser Zielsetzung lassen sich die vorliegenden Beiträge grob in sieben aktuelle Schwerpunkte gliedern: 1. Textbegriff und Funktionen der Textlinguistik: Bestimmungsversuche (Härtung, Antos, Beaugrande, Püschel, Tietz) 2. Das Verhältnis von Text und „Inter-Text" (Fix, Linke/Nussbaumer) 3. Das Verhältnis von Textlinguistik und Schreibforschung (Portmann-Tselikas, Pogner) 4. Konsequenzen aus der Medialität des Textes (Sauer, Jakobs) 5. Textlinguistik und Übersetzen/Dolmetschen (Wiktorowicz, Zmudzki) 6. Textlinguistik in ihrer historischen Dimension (Mengel) 7. Textlinguistik und Didaktik (Hornung)

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Gerd Antos/Heike Tietz

Die in diesen Band aufgenommenen Beiträge wurden auf einem Internationalen Kolloquium vorgestellt, das zu Ehren des 70. Geburtstages von Wolfgang Heinemann vom 8. bis 10. März 1996 in Halle/Saale veranstaltet wurde.1 Neben den Referenten haben folgende Gäste zum Gelingen der Tagung wesentlich beigetragen: Klaus Brinker, Karl-Dieter Bünting, Konrad Ehlich, Wolfgang Heinemann, Horst Sitta, Bernhard Sowinski u.a.

Literatur Antos, Gerd/Krings, Hans P. (Hgg.) (1989): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. - Tübingen: Niemeyer. Antos, Gerd/Pogner, Karl Heinz (1995): Schreiben. Studienbibliographien Sprachwissenschaft 14. - Heidelberg: Julius Gross. Antos, Gerd/Brinker, Klaus/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven (Hrsg.) (in Vorbereitung): Textund Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft). - Berlin: de Gruyter. Baurmann, Jürgen/Weingarten, Rüdiger (Hrsg.) (1995): Schreiben. Prozesse, Prozeduren, Produkte. - Opladen: Westdeutscher Verlag. Beaugrande, Robert-Alain de/Dressler, Wolfgang (1981): Einfuhrung in die Textlinguistik. - Tübingen: Niemeyer. Gülich, Elisabeth/Raible, Wolfgang (1977): Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten. - München: Fink (UTB 130). Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. - Tübingen: Niemeyer. Kallmeyer, Werner (Hrsg.) (1986): Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. (Jahrbuch 1985 des IdS, Sprache der Gegenwart 67). - Düsseldorf: Schwann. Krings, Hans P./Antos Gerd (Hrsg.) (1992): Textproduktion. Neue Wege der Forschung. - Trier: Fokus. Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. (1991): Studienbuch Linguistik. - Tübingen: Niemeyer. Nussbaumer, Markus (1991): Was Texte sind und wie sie sein sollen. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlichen Begründung eines Kriterienrasters zur Beurteilung von schriftlichen Schülertexten. - Tübingen: Niemeyer (RGL 119). Portmann, Paul R. (1991): Schreiben und Lernen. Grundlagen der fremdsprachlichen Schreibdidaktik. - Tübingen: Niemeyer. Rickheit, Gert/Strohner Hans (1993): Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung. - Tübingen: Franke (UTB 1735). Sowinski, Bernhard (1983): Textlinguistik. Eine Einführung. - Stuttgart: Urban. Vater, Heinz (1992): Einführung in die Textlinguistik. Struktur, Thema und Referenz in Texten. München: Fink.

Der DFG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg möchten wir an dieser Stelle für ihre finanzielle Unterstützung danken.

Robert de Beaugrande (Wien) Textlinguistik: Zu neuen Ufern?*

In einigen Hinsichten sind meine Meinungen über die Entwicklung der Textlinguistik vielleicht nicht weit verbreitet und unterscheiden sich von den Ansichten Wolfgang Heinemanns,1 wie wir sie etwa in seinem gemeinsamen Buch mit dem allzu früh verstorbenen Dieter Viehweger aus dem Jahre 1991 finden. Aber mein Einstieg in die Textlinguistik erfolgte ja durch eine ganz andere Perspektive, die nicht primär auf die Linguistik ausgerichtet war, sondern auf die Übersetzung, die Literaturwissenschaft und die Rezeptionsästhetik (vgl. Beaugrande 1978); dabei erschien mir die Textlinguistik einfach viel ergiebiger als die formale Systemlinguistik verschiedener Prägungen, so wie sie uns z.B. in Catfords (1965) sprödem Ebenen-Modell des Übersetzens begegnet. Die Gegenüberstellung von Textlinguistik und Satzlinguistik, die von den 60er und 70er Jahren bis in die 80er Jahre hineingetragen wurde (z.B. Petöfi 1979), erscheint in einer historischen Perspektive unbefriedigend. Ich vertrete vielmehr die Meinung, daß die Textlinguistik ursprünglich entstand, um gewisse Probleme besser zu behandeln, die bereits in der sogenannten Satzlinguistik aufgetreten waren, und erst später als bewußtes Gegenprogramm interpretiert wurde. Als angemessenen Hintergrund, vor dem der Stellenwert der Textlinguistik einzuschätzen ist, schlage ich daher zwei andere grundsätzliche Gegenüberstellungen vor. Die erste Gegenüberstellung ist recht bekannt: deskriptive Linguistik und generative Linguistik. Die frühe Textlinguistik war in beiden Lagern vertreten; in der deskriptiven Linguistik wurde der Text als die ,nächste ranghöhere Einheit über dem Satz' eingeführt, und in der generativen Linguistik war der Text eine ,wohlgeformte Folge von wohlgeformten Sätzen'. Diese beiden Richtungen hatten bisher wenig mit dem Text zu tun gehabt, jeweils aus ihren eigenen Gründen: in der deskriptiven Linguistik war der Satz beispielsweise von Bloomfield (1933) ausdrücklich als die ,größte linguistische Einheit' definiert worden; und in der generativen Grammatik war der Satz axiomatisiert worden. Die dortige Definition etwa einer Sprache als ,eine unendliche Menge von Sätzen' (Chomsky 1957) ließ es unersprießlich erscheinen, größere Einheiten zu behandeln. Die zweite Gegenüberstellung, die wesentlich weniger betont worden ist, betrifft die Behandlung von sprachlichen Daten. Die frühen Phasen der Linguistik Dieser Beitrag entstand zuerst als Konferenzvideo, welches nicht gezeigt werden konnte, weil es in der Express-Post auf unerklärliche Weise verschwand; eine Kopie des Videos ist jedoch beim Autor noch erhältlich. Ich danke Andrea Heildborgh herzlich dafür, daß sie vom Soundtrack eine schriftliche Vorlage angefertigt hat, die als Grundlage für diese Endfassung gedient hat, und Prof. Dr. Barbara Seidlhofer für ihre genauen Kommentare und Vorschläge. Es ist fast genau zehn Jahre her, seit ich zum ersten Mal Gelegenheit hatte, an der Karl-MarxUniversität Leipzig vorzutragen und Wolfgang Heinemann persönlich zu begegnen sowie eine recht ergiebige Reihe von Diskussionen anzufangen, die ich später als Karl-BrugmanGastprofessor in Leipzig über ein ganzes Semester fortfuhren konnte.

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Robert de Beaugrande

wurden entscheidend von der sogenannten ßeldwork, der ,Feldforschung', geprägt, die meiner Meinung nach die wichtigsten und dauerhaftesten Ergebnisse der gesamten modernen Linguistik geliefert hat. In dieser Arbeit ist der Linguist in der schwierigen aber informativen Lage, mit der Sprache in der Praxis voll konfrontiert zu werden. So konnte es geschehen, daß selbst Linguisten, die eine abstrakte und formale Theorie von Sprache vertreten haben, wie wiederum Bloomfield (1933), sich in der Feldforschung genötigt sahen, eine dialektische Relation zwischen Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten. Überdies ist der ,feldforschende' Linguist stets gezwungen, seine Hypothesen zu überprüfen, indem er von der ,reinen' Theorie herabsteigt und sich an der kommunikativen Praxis in der Gemeinschaft beteiligt. Sind seine Hypothesen falsch, so stößt er bald auf Verwirrung, Unverständnis oder Heiterkeit. So sind die Ergebnisse der Feldforschung reichlich überprüft worden, bevor sie weiteren Kreisen mitgeteilt werden. Die andere Methode hat keinen offiziellen Namen und ich würde vorschlagen, sie als homework linguistics, also gewissermaßen als ,Heimwerklinguistik', zu bezeichnen. Wie der Name sagt, arbeiten die Linguisten zu Hause (oder im Büro) in einer von ihnen selbst zu bestimmenden Entfernung von der sprachlichen Praxis. Da entsteht bald die Gefahr, die kommunikative Praxis zu unterschätzen oder gar außer acht zu lassen, besonders dann, wenn die Linguisten auch die Rolle des ,ideal native speaker' und Sprecher-Hörer im Sinne von Chomsky (1965) einnehmen. Hier wird, wie wir es häufig in der formalen Linguistik erleben, die Theoriebildung leicht hypertroph, und pure Hypothesen werden ohne ausreichende Überprüfung in der Praxis unkritisch angenommen. Geschichtlich gesehen, wäre eine solche Linguistik eine programmatische Abkoppelung der Theorie von der Praxis (Beaugrande 1996a, im Erscheinen a). Das Vorbild dafür lieferte bereits die Saussure'sche Linguistik dadurch, daß sie ,langue' und ,parole', oder Sprache und Rede, strikt voneinander abgrenzen wollte, um die Sprache als ,abstraktes synchrones System' außerhalb von Zeit und Geschichte zu beschreiben (Beaugrande, im Erscheinen b). Die daraus erfolgende grundsätzliche Kluft zwischen Theorie und Praxis hat in den folgenden Jahrzehnten viele belastende Probleme aufgeworfen. Die Möglichkeit, diese abstrakte Sprache tatsächlich zu beschreiben, war lediglich angenommen. Es bestanden damals keine überzeugenden Beweise, daß dieses System in irgendeiner empirisch überprüfbaren Form existiert. Die Saussure'sche Linguistik hat sich daher unfreiwillig die Aufgabe gestellt, selbst die ,langue' zu konstruieren, und zwar durch rein theoretisches bootstrapping. Der Begriff der Sprache als System von Einheiten, die durch ihre Oppositionen zueinander im System genau dadurch eingeordnet sind, daß sie sich voneinander unterscheiden, hat in der Phonologie recht gute Erfolge gezeitigt. Dort gelang der Linguistik der große Durchbruch, ein abstraktes System aufzudecken, in dem die theoretischen Sprecheinheiten, die ,Phoneme', den praktischen Einheiten der Sprachlaute nachvollziehbar und überzeugend gegenüberstehen. Damit war die Relation von Theorie und Praxis zunächst befriedigend ausgeglichen. Die Phoneme jedoch waren insofern untypische Spracheinheiten, als sie außergewöhnlich leicht in der Theorie und Praxis zu verankern waren, nämlich indem sie aufgrund des beteiligten Sprechapparates und der artikulatorischen Vorkomm-

Textlinguistik: Zu neuen Ufern?

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nisse definiert wurden. Bereits in der Morphologie war der Erfolg wesentlich bescheidener. Die theoretische Einheit,Morphem' stand einer Mehrzahl von praktischen Einheiten gegenüber, zum Beispiel Präfix, Suffix, Endung, Wortstamm und Wort; und Morpheme im Sinne von ,kleinsten bedeutungstragenden Einheiten der Sprache' sind, im krassen Gegensatz zu den Phonemen, überaus zahlreich. So wurde der Kompromiß geschlossen, daß nicht der gesamte Wortschatz von der Morphologie erfaßt werden mußte; und die theoretischen Einheiten ,Morpheme' wurden in geschlossene oder zumindest kleine Klassen oder Kategorien eingewiesen. Der Wortschatz insgesamt wurde weitergereicht an die sogenannte Lexikologie, einen Bereich der Sprache, der in vielen linguistischen Programmen recht spärlich vertreten ist (vgl. Bolinger 1970), weil er sich mit den gängigen Methoden der Linguistik am wenigsten behandeln läßt. Bei der Syntax hingegen war die Lage grundsätzlich anders, denn dort war es gar nicht eindeutig einzusehen, welche theoretischen Einheiten die Hauptrollen bekommen sollten, und die praktischen Einheiten zeigten eine verwirrende Diversität. So wurden vielfach Einheiten wie Phrase, Nebensatz, Hauptsatz und Satz mal als theoretische, mal als praktische Einheiten behandelt, was zu erheblichen Verwirrungen fuhren konnte. War es in der Phonologie und der Morphologie grundsätzlich möglich, die Analyse dadurch zu vervollständigen, daß man die kleinsten systembedingten Einheiten durch Segmentierung isolierte, so war es in der Syntax keineswegs einsichtig, wie die Analyse ablaufen sollte, und wann sie als abgeschlossen zu betrachten sei. Die Relation zwischen theoretischen und praktischen Einheiten wird am allermeisten dadurch kompliziert, daß die Syntax durch die Beobachtung von Daten selbst lediglich die Muster feststellen kann - wie die verschiedenen Einheiten in der linearen Reihe eingeordnet sind; aber die Motivierung dieser Einordnung und die Prinzipien dieser Linearität sind nicht beobachtbar. So war es keineswegs überraschend, daß die Linguistik die Lösung gefunden hat, einen Bereich von ,zugrundeliegenden Strukturen' (,underlying structures') zu postulieren, die genau die Motivierung dieser linearen Anordnung erklärbar und unterscheidbar machen sollten. In dieser Phase war noch nicht klar, daß recht viele formale Systeme aufgestellt werden können, die einige lineare Anordnungen erfassen, daß aber kein einziges formales System alle ,wohlgeformten' linearen Anordnungen und nur diese erfassen kann. Außerdem drohte die Aussicht, daß es eine ungeheure Menge von ,rein formalen' Kriterien und ,Merkmalen' geben könnte, je nachdem, welche theoretischen und praktischen Einheiten postuliert wurden und wie ihre Beziehungen untereinander geregelt werden sollten. Sie werden sich hier an eine berühmte weitere Gegenüberstellung erinnern: Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur. Soweit ich sehe, ist keine Einigung darüber erzielt worden, wie die Tiefenstruktur tatsächlich auszusehen habe und wie sie mit der Oberflächenstruktur in irgendeiner einsichtigen oder konsequenten Weise zu verbinden sei. Die Phonologie und die Morphologie hatten die Linguistik früh dazu bewogen, die Sprache (,langue') als deterministisches System zu betrachten. Seitdem war die moderne Linguistik stets auf der Suche nach ,Einschränkungen' (.constraints'), die ein solches System entsprechend determinieren. Diese sollten - wiederum

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nach dem Vorbild der Phonologie und der Morphologie - außerdem ,rein linguistisch' sein. In der Phonologie sind die Einschränkungen durch das Differenzierungspotential der Phoneme und ihr artikulatorisches Definiertsein klar gegeben. In der Morphologie wurden die am besten einschränkbaren Gruppen von Morphemen auch am besten erfaßt und die großen offenen Gruppen, z.B. Wortstämme von Nomina und Verben, in die Lexikologie weiterverwiesen. Aber in der Syntax wurde die beharrliche Suche nach ,rein linguistischen' Einschränkungen zum schweren Verhängnis. Daher scheint dort der Streit um die Natur und das Potential von Einschränkungen prinzipiell inkonklusiv. Die verschiedenen linguistischen Theorien setzen riesige Apparate von hypothetischen Einschränkungen in die Welt, während die praktischen Einschränkungen der realen Kommunikation vernachlässigt werden in der (wohl richtigen) Vermutung, daß sie keinesfalls alle ,rein linguistisch' sind. Daher sind sie auch nicht alle ,rein syntaktisch', zumindest nicht so, wie der Terminus syntaktisch' in der formalen Linguistik offiziell aufgefaßt wurde. So gesehen, waren die Ansprüche an eine ,Theorie der Syntax' schlicht unerfüllbar, weil diese Syntax für sich allein nicht aufrecht stehen kann: die Einschränkungen, die nötig sind, um den Satzbau zu erklären, können von der ,Syntax' als alleinstehender formaler Ebene nicht geliefert werden. Die Syntax muß als Interaktion mehrerer Ebenen betrachtet werden, so wie in der funktionalen Linguistik und besonders in der Prager Schule (Beaugrande 1994, im Erscheinen b). Die formale Linguistik hat einen anderen Ausweg gesucht, indem sie sich der Semantik zuwandte, die bisher eher in der Philosophie beheimatet war, und ihr eine offizielle ,Komponente' zudachte. Ironischerweise wurde dieser Schritt mit einem unproduktiven Vorbehalt vollzogen: die Semantik sollte die bisherige Formalität' der Syntax vollends aufrechterhalten. Hatte man seit der Antike eingeräumt, daß Bedeutung und Form sich diametral gegenüberstehen, so galt es nun, Bedeutung als Form zu behandeln. Diese paradoxe Aufgabe mag teilweise erklären, warum die Semantik in der ,Standardtheorie' weitgehend von der Anordnungsarbeit ausgeschlossen und in eine passive ,interpretative' Rolle hineingedrängt wurde, als eine formale Operation, die an bereits angeordneten Sätzen und nach formalen .Regeln' und .Merkmalen' vollzogen wird. Ein wenig später ereilte die Pragmatik (mutatis mutandis) ein ähnliches Schicksal, indem auch ihr Einlaß in die offizielle Linguistik unter dem Vorbehalt der .Formalität' gewährt wurde. So entstand eine weitere Galerie von formalen »Regeln', die die pragmatische Interpretation' begleiten sollten. Außerdem wurden ,Sprechakte' als ideale Einheiten eingeführt, deren Relation mit den praktischen Einheiten der Kommunikation ungeklärt geblieben ist (Schegloff 1992). Die Öffnung der Linguistik gegenüber Semantik und Pragmatik kam ungefähr zur selben Zeit wie die ersten Bewegungen in Richtung ,Textlinguistik'; und ich vermute (ich war nicht dabei und war also kein Widerstandskämpfer der ersten Stunde'), daß man auch dort hauptsächlich bestrebt war, weitere Einschränkungen' innerhalb von Satzsequenzen aufzudecken. In dieser Phase wurde vielfach angenommen, die Textlinguistik - oft schlicht mit,Textgrammatik' gleichgesetzt - habe sich dadurch zu rechtfertigen, daß sie formale Einschränkungen nachweise, die nur innerhalb von Satzsequenzen und nicht innerhalb des einzelnen Satzes

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liegen. Diese spröde Aufgabe sollte wohl die Textlinguistik mit demselben Vorbehalt der ,Formalität' belegen wie die Semantik und die Pragmatik; dafür aber wurden die wirklich wesentlichen Einschränkungen der ,Textualität' im weitesten Sinne am Rande belassen. Die meisten frühen Textlinguisten dürften kaum geahnt haben können, wie weit die Beschäftigung mit Texten die theoretische und praktische Landschaft der Linguistik verändern würde. Am ehesten wird es Peter Hartmann verstanden haben. Es war kein Zufall, daß Hartmann kein .Linguist' in dem engen Sinne war, sondern ein .Sprachwissenschaftler' mit einer denkbar breiten Ausbildung, die er an der (für ihn vielsagend benamsten) Humboldt-Universität in Berlin begonnen hatte. So umschloß er in seinen grundsatzlegenden Betrachtungen nicht nur die verschiedensten Strömungen der Linguistik, sondern auch die Sprachphilosophie der Antike, des Mittelalters und der Moderne sowie die frühe Zeichenlehre, die eigentliche Semiotik und die Poetik. In seiner Studie über Syntax und Bedeutung (1964), deren Titel die meisten Linguisten etwas wesentlich Engeres erwarten ließe, behandelte er sogar die .Kombinatorik' der Mathematik, der Geometrie, der Musik und der Malerei. Ich sollte hier vielleicht nicht unerwähnt lassen, daß die tiefere Problematik einer Wissenschaft von der Sprache mir erst durch Hartmann verständlich wurde, und zwar aus den beiden Büchern Theorie der Grammatik (1963a) und Theorie der Sprachwissenschaft (1963b); und ich betrachte ihn auch als meinen eigentlichen Lehrer, obwohl ich ihn nur durch persönliche Kontakte gekannt habe. Es dürfte daher ebenfalls kein Zufall sein, daß die ersten großen Schritte in einer selbstbewußten ,Textlinguistik' im deutschen Sprachraum oft Dissertationen waren, die unter Hartmanns Leitung entstanden. Ich denke zum Beispiel an die Arbeiten von Roland Harweg (1968), Siegfried J. Schmidt (1968), Walter A. Koch (1971), und Götz Wienold (1971). Hartmann hatte sich jedenfalls meines Erachtens nicht angeschickt, eine Textlinguistik zu entwickeln, die die bisherige Linguistik lediglich fortführen oder ihr mit einigen ,Einschränkungen' innerhalb von ,Satzsequenzen' aushelfen sollte. Es ging ihm vielmehr darum, den Text als theoretische und praktische Einheit semiotisch, philosophisch, phänomenologisch, aber auch linguistisch zu ergründen; und er fügte dazu ein komplexes Theoriegebäude zusammen, in dem viele Aspekte von Texten untergebracht werden konnten, die bisher weder in der deskriptiven noch in der generativen Linguistik ein richtiges Zuhause gehabt hatten. Insgesamt würde ich die später ,flächendeckenden' Auswirkungen der Textlinguistik darauf zurückführen, daß sie ganz andere Klassen von Einschränkungen zur Verfügung stellte und damit eine willkommene Gelegenheit bot, die Kluft zwischen Theorie und Praxis, die in der generativen ,homework linguistics' einen Gipfel erreicht hatte, durch eine echte Dialektik zwischen virtuellem System und aktuellem System zu ersetzen, so wie ich sie zuerst bei Hartmann (1963a) vorfand (englische Zusammenfassung in Beaugrande 1991). Dieser Schritt hat viele Grundsatzprobleme neu aufgeworfen, die die frühere Linguistik durch ihre hypertrophe Theorienbildung vernachlässigt oder abgewiesen hatte. Die Textlinguistik befreite nun die Semantik und die Pragmatik aus ihrer formal-interpretativen Zwangsjacke und schickte sich an, die Ergebnisse ganz

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Robert de Beaugrande

verschiedener Forschungsrichtungen aufzunehmen, wie etwa die funktionale Satzperspektive der Prager Schule (z.B. Danes, Firbas), die sowjetische Handlungstheorie (z.B. Leon'tev, Lurija), die britische Systemtheorie (z.B. Halliday und Hasan), die kognitive Psychologie (z.B. Kintsch, Rumelhart) und die künstliche Intelligenz (z.B. Schänk, Woods). Diese breitgefächerte Situation versuchten Dressler und ich - soweit ich sehe, als die ersten - in der gemeinsamen Einfuhrung (1981) zu umfassen, die über die Jahre auf Englisch, Deutsch, Japanisch, Italienisch, Arabisch, Koreanisch, Slowenisch, Bulgarisch und Spanisch (in dieser Reihenfolge) erschienen ist. Eine ähnliche Breite begegnet uns wieder in der Einführung von Heinemann und Viehweger (1991), aber mit etwas anderen Konsequenzen. Zu Recht verweisen die Verfasser auf ein „beträchtliches Theoriedefizit" in der Textlinguistik und auf den Bedarf nach einem ,Fundament dieser Disziplin' (1991: 275). Ich habe nun ein potentielles Fundament vorgelegt (Beaugrande 1996a), aber nicht ein solches, wie den Verfassern vorzuschweben schien. Vor allem halte ich die Ansicht, wonach „die Grammatik relativ unabhängig von den anderen kognitiven Systemen zugänglich und modellierbar" sei (1991: 276), für einen unproduktiven Überrest des formalistischen Denkens, das die moderne Linguistik auf eine - insgesamt beurteilt - erfolglose Suche nach ,rein linguistischen' und ,formalen' Einschränkungen losgesandt hatte, die dann von Linguisten selber am grünen Tisch arbiträr erfunden werden müßten. Deswegen wurden die Versuche, eine formale Textgrammatik zu erstellen, weitgehend aufgegeben; man denke etwa an das ambitionierte Forschungsprojekt an der Universität Konstanz in den frühen 70er Jahren, welches so unbefriedigend ausfiel, daß man auf einen Abschlußbericht gänzlich verzichtete. Es gilt m.E. vielmehr, die Grammatik auf eine dreifache linguistische, kognitive und soziale Basis zu stellen und durch empirische Erhebungen an einem sehr großen Datenkorpus wie der ,Bank of English' an der Birmingham University festzustellen, wie formal oder funktional unsere nächste Generation von Theorien sein sollte (Beaugrande 1994, 1996a, 1996b), wobei meine Losung wäre: so funktional wie möglich und so formal wie nötig. Eine solche Grammatik nach dem funktionalen Modell von Halliday habe ich in meinem neuen Band über ,Fundamente' ebenfalls vorgelegt (Beaugrande 1996a). Wenn wir zurückblicken auf die Entwicklung der modernen Linguistik, so ist es ganz verständlich, daß sie eine Wissenschaft sein wollte, die nur ,Sprache an sich' ergründen sollte. In den frühen Jahren fürchtete sie mit Recht, von den Nachbarwissenschaften vereinnahmt zu werden, etwa von der Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Philosophie oder Literaturwissenschaft; und die begeisterte, aber leichtgläubige Akzeptanz der Saussure'schen Dichotomisierung ist am einfachsten durch den Wunsch der Linguisten zu erklären, sich in einer eigenständigen Wissenschaft zu behaupten. Meines Erachtens hat es sich aber inzwischen eindeutig gezeigt, daß eine Linguistik, die nur innerhalb der .Sprache' bleiben will und nur ,rein linguistische' Einschränkungen anerkennt, bezüglich ihrer eigentlichen Zwecke der Beschreibung und Erklärung früher oder später in eine Wechselbeziehung von Gewinn und Verlust gerät: je mehr die Linguistik die Sprache abtrennt vom Weltwissen der Sprecher und der Gesellschaft, in der sie leben, umso

Textlinguistik: Zu neuen Ufern?

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weniger sind signifikante und relevante Fortschritte in der Beschreibung und Erklärung zu erzielen - auch in der Beschreibung und Erklärung ,rein linguistischer' Tatsachen. Dieses Argument möchte ich anhand der Frage erläutern, was fur eine Einheit der Text sei und wo er in bezug auf die anderen sprachlichen Einheiten einzuordnen sei. In der Zeit der frühen Textlinguistik schuf sich die deskriptive Linguistik die kleinsten Probleme, indem sie (wie schon gesagt) den Text schlicht als eine weitere Ranghöhere Einheit' einführte, so zum Beispiel, als Klaus Heger ihn als vierte Einheit in eine Neuauflage seines Buches aufnahm: aus Monem, Wort und Satz (1971) wurde sodann Monem, Wort, Satz und Text (1976). Ich habe aber mehrmals die Ansicht vertreten, daß diese Theoriebildung, welche die Sprache als eine Reihe von ,levels' oder ,Sprachebenen' erfaßbar machen wollte, viel problematischer war und ist, als bisher allgemein anerkannt worden ist (Beaugrande 1994). Die Ebenen sind zumeist unabhängig voneinander behandelt worden - und um die Mitte dieses Jahrhunderts wurde die absolute Trennung der Ebenen von einigen amerikanischen Linguisten gefordert, ebenso der Ausschluß der Bedeutung. Beide Forderungen blieben unerfüllt, aber viele Linguisten haben es sich zur Gewohnheit gemacht, zwischen den Ebenen eine mentale .Gangschaltung' zu betreiben, etwa wenn sie von Phonologie auf Syntax umdenken, und damit der peinlichen Frage auszuweichen, wie denn diese ganzen Ebenen in der Produktion und Rezeption von authentischen Texten miteinander zusammenarbeiten. In dem formalen Modell seit Bloomfield (1933), das in Abbildung 1 gezeigt wird, sind die theoretischen Einheiten untereinander in einem Teil-GanzesVerhältnis angeordnet. Daher sind, laut Bloomfield, die Phoneme Teile der Morpheme, die Morpheme Teile der Lexeme, die Lexeme Teile der Syntagmeme. Teile Phoneme - Laute Morpheme - Wortteile Lexeme - Wörter Syntagmeme - Phrasen Ganzes Abb. 1

Diese theoretischen Einheiten stehen überdies in einer relativ einsichtigen Beziehung zu den praktischen Einheiten, die an der rechten Seite angeführt werden: Phonem Laut, Morphem Wortteil, Lexem Wort, und Syntagmem Phrase. Die Frage nach der Zusammenarbeit der Ebenen scheint einfach: wenn man ein Ganzes sucht, auswählt und verarbeitet, so werden die Teile automatisch miterfaßt. Aber das kann praktisch gar nicht funktionieren, insofern als die Einheiten jeweils nach ganz unterschiedlichen Kriterien definiert werden.

Robert de Beaugrande

8 Mittel



Zweck

Mittel

Phoneme - Laute

Bedeutungen von Phonemen

Morpheme- Wortteile

Bedeutungen von Morphemen

Lexeme - Worte

Bedeutungen von Lexemen

Syntagmeme - Phrasen

Bedeutungen von Syntagmemen

Zweck

Abb. 2

Zweck

In einer funktionalen Einrahmung des Bloomfield'schen Schemas, die in Abbildung 2 gezeigt wird, ist die entscheidende Relation nicht mehr Teil zum Ganzen, sondern Mittel zum Zweck. Die Einheiten auf den Ebenen, auf denen sie normalerweise aber nicht obligatorisch kleiner sind, sind die Mittel, und die Einheiten auf den Ebenen, auf denen sie normalerweise aber nicht obligatorisch größer sind, sind der Zweck. Somit liefern die Phoneme die Mittel, damit wir Morpheme haben, die Morpheme liefern die Mittel, damit wir Lexeme haben, und die Lexeme liefern die Mittel, damit wir die Syntagmeme haben. Hier kann die Bedeutung auch explizit einbezogen werden: alle Formen sind gleichzeitig Mittel zum Zweck der jeweiligen Bedeutungen. Die Bedeutungen auf der rechten Seite sind der Zweck und die Formen auf der linken Seite sind die Mittel, also: die Phoneme sind die Mittel für die Bedeutungen der Phoneme, die Morpheme sind die Mittel für die Bedeutungen der Morpheme, die Lexeme sind die Mittel für die Bedeutungen der Lexeme, und schließlich sind Syntagmeme die Mittel für die Bedeutung der Syntagmeme. Auf der rechten Seite haben wir nochmals eine Mittel-Zweck-Relation. Die Bedeutungsdifferenzen der Phoneme sind ein Mittel (unter anderen) zum Zweck, daß die Morpheme Bedeutungen haben; die Bedeutungen der Morpheme sind ein Mittel (unter anderen) zum Zweck, daß die Lexeme Bedeutungen haben und so fort. In Abbildung 3 werden die verschiedenen Behandlungen der Bedeutungen operational präzisiert. Phoneme haben die Funktion im System, durch Laute Bedeutungen zu differenzieren. Morpheme haben die Funktion, durch Wortteile Bedeutungen zu grammatikalisieren. Lexeme haben die Funktion, durch Wörter Bedeutungen zu lexikalisieren. Syntagmeme haben die Funktion, durch Phrasen und Sätze Bedeutungen zu linearisieren. Texte haben die Funktion, durch Ko-Texte Bedeutungen zu integrieren. Textsorten schließlich haben die Funktion, durch Textmuster Bedeutungen zu schematisieren. In diesem Schema haben wir es nicht mehr primär mit formalen

Einheiten zu tun, sondern mit funktionalen

Verarbei-

tungsmodalitäten, die über eine evolutionäre Skala zwischen sparsameren' und ,reicheren' Bedeutungen (wie die Abbildung ebenfalls zeigt) verlaufen. So können wir nunmehr den Text und sogar die Textsorte einordnen, die keine etablierten Einheiten im konventionellen Ebenenschema waren. Das Schema reflektiert die neuen Ergebnisse in solchen Bereichen wie Kognitionswissenschaft, Komplexitätstheorie und künstliche Intelligenz, welche zeigen, daß Bedeutungen on-line produziert werden und eine ,Selbst-Organisation' erfahren und nicht einfach abgerufen werden wie Einträge aus einem Lexikon; für die Einzelheiten und Begründungen muß ich erneut auf mein gerade erscheinendes Buch verweisen.

Textlinguistik: Zu neuen Ufern?

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t

Bedeutungen TEXTSORTEN Textmuster Bedeutungen TEXTE Ko-Texte

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Bedeutungen linearisieren SYNTAGMEME Phrasen/Sätze Bedeutungen LEXEME Wörter Bedeutungen MORPHEME Wortteile

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Bedeutungen differenzieren PHONEME ^

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Laute Abb. 3

Allerdings hat mich diese Suche nach den ,Fundamenten' zu einer weiteren Konsequenz gebracht, die Heinemann und Viehweger (1991: 17) explizit mit folgender Feststellung ablehnen: „...die Textlinguistik kann nicht als Superwissenschaft verstanden werden, wohl auch nicht als Textwissenschaft"; „vielmehr muß sich die Textlinguistik auf die Erforschung von Textstrukturen und Textformulierungen beschränken, jeweils in ihrer Einbettung in kommunikative, allgemein soziologische, und psychologische Zusammenhänge". Ich bin hingegen der Überzeugung, daß der produktive Terminus nunmehr nicht »Textlinguistik' sondern ,Textwissenschaft' sein muß. Zu viele der wichtigsten Fragen - auch bezüglich der Textstrukturen und Textformulierungen - sind nicht nur linguistisch' in dem Sinne, wie dieser Terminus allgemein ausgelegt wird. Forscher mit einer Ausbildung in der Textlinguistik sollen sich in Zukunft prinzipiell eher als Textexperten und Mitarbeiter in einer breiten ,Transdisziplin' verstehen, wo solche Fragen mehrdimensional untersucht und beantwortet werden, und wo die Arbeitsteilung nicht von vornherein durch konventionelle Vorstellungen und Abgrenzungen des .Linguistischen' bestimmt wird. Stattdessen soll es hinfort eine empirisch zu entscheidende Angelegenheit sein, inwieweit eine bestimmte Frage oder ein Phänomen als linguistisch gelten soll oder kognitiv oder sozial in sachlich angemessenen Proportionen. In dieser Textwissenschaft werden in der Beschreibung und der Erklärung immer drei Faktoren aufscheinen müssen, d.h. eine linguistische Sichtweise, eine kognitive Sichtweise und eine soziale Sichtweise; und diese werden sich nicht

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unbedingt mit der etablierten Sichtweise der jeweiligen Linguistik, Psychologie und Soziologie decken, sondern auch eine ,Ko-Evolution' durchmachen, während die Textwissenschaft sich weiterentwickelt, vor allem durch die erneuerte Dialektik von Theorie und Praxis. So entsteht nicht nur eine Jnterdisziplinaritäf, zusammengetragen aus verschiedenen Disziplinen, sondern eine Transdisziplinarität, die grundsätzlich von Anfang an mit einer integrierten Sichtweise aus verschiedenen Wissenschaften konzipiert ist. Im November 1994 fand der erste Weltkongreß der Transdisziplinarität in Portugal statt, unter Beteiligung von vielen Wissenschaftlern und Künstlern, und ich war tief beeindruckt von der Bereitschaft der Menschen, sich in einem wahrhaft ökologischen Projekt zusammenzuschließen, wo sich die Wissenschaften und auch die Künste auf ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen und Möglichkeiten in einer schwierigen Zeit besinnen. Diese Aussichten bringen mich zurück zu meinem Titel mit dem Faust-Zitat. Die hier geschilderten Erwägungen lassen vermuten, daß die Textlinguistik nolens volens ,zu neuen Ufern' aufbricht, wo wir Landschaften betreten werden, für die wir noch keine genaueren Landkarten haben. Dabei ist es umso wichtiger, uns auch auf unsere eigene Herkunft zu besinnen, und Bahnbrechern wie Wolfgang Heinemann zu danken.

Literatur Beaugrande, Robert de (1978): Factors in a Theory of Poetic Translating. - Assen: van Gorcum, and Amsterdam: Rodopi. - (1991): Linguistic Theory. The Discourse of Fundamental Works. - London: Longman. - (1994): Function and form in language theory and research. The tide is turning. - In: Functions of Language 1/2, 163-200. - (1996a): New Foundations for a Science of Text and Discourse. - Norwood: Ablex. - (1996b): The ,pragmatics' of doing language science. The ,warrant' for large-corpus linguistics. - In: Journal of Pragmatics 25, 503-535. - (im Erscheinen a): Theory and practice in applied linguistics. Disconnection, conflict, or dialectic? - In: Applied Linguistics. - (im Erscheinen b): On history and historicity in modem linguistics. Formalism versus functionalism revisited. - In: Functions of Language. Beaugrande, Robert de/Dressler, Wolfgang (1981): Einführung in die Textlinguistik. - Tübingen: Niemeyer. Bloomfield, Leonard (1933): Language. - NY: Holt. Bolinger, Dwight (1970): Getting the words in. - In: American Speech 45, 78-84. Carter, Ronald (ed.) (1990): Knowledge about Language and the Curriculum. The Line Reader. London: Hoffer and Sloughton. Catford, John C. (1965): A Linguistic Theory of Translation. - Oxford: Oxford University Press. Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. - The Hague: Mouton. - (1965): Aspects of the Theory of Syntax. - Cambridge, MA: MIT Press. Hartmann, Peter (1963a): Theorie der Grammatik. - The Hague: Mouton. - (1963b): Theorie der Sprachwissenschaft. - Assen: van Gorcum. - (1964): Syntax und Bedeutung. - Assen: van Gorcum. Harweg, Roland (1968a): Pronomina und Textkonstitution. - München: Fink. Heger, Klaus (1971): Monem, Wort und Satz. - Tübingen: Niemeyer. - (1976): Monem, Wort, Satz und Text. - Tübingen: Niemeyer.

Textlinguistik: Zu neuen Ufern?

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Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. - Tübingen: Niemeyer. Koch, Walter (1971): Taxologie des Englischen. - München: Fink. Petöfi, Janos S. (Hg.) (1979): Text vs. Sentence. Basic Questions of Text Linguistics. - Hamburg: Buske. Schegloff, Emmanuel (1992): To Searle on conversation. A note in return. - In: Parrett, Hermann/Verschueren, Jef (eds.): On Searle on Conversation (Amsterdam: Benjamins) 113-128. Schmidt, Siegfried J. (1968): Bedeutung und Begriff. - Braunschweig: Vieweg. Wienold, Götz (1972): Formulierungstheorie. - Frankfurt: Athenäum.

Wolfdietrich Härtung (Berlin) Text und Perspektive Elemente einer konstruktivistischen Textauffassung

Weder kann ich hier einen Überblick über das wagen, was die Textlinguistik in den vergangenen Jahrzehnten geleistet hat, noch kann ich mir anmaßen, ihre Zukunft vorauszusehen oder noch zu Leistendes einzufordern. Das würde meine Kompetenz übersteigen. Denn obwohl ich im Laufe der Jahre einiges zum Thema „Text" geschrieben habe, habe ich mich doch nie als einen Textlinguisten bezeichnet oder mich als solcher gefühlt. Mein Interesse am Text entsprang und entspringt Perspektiven, die einerseits spezieller, andererseits aber auch allgemeiner sind. (Was ich mit „Perspektiven" meine, wird im Laufe meiner Ausführungen etwas deutlicher werden.) Allerdings kann ich davon ausgehen, daß sich eine gesprächsanalytische Perspektive, die mir etwas näher liegt, mit einer textlinguistischen wohl in der besonderen Aufmerksamkeit dafür berühren kann, wie ein Text Sinn bekommt und wodurch er ihn hat. Ich möchte mit meinen Ausführungen vor allem zum Nachdenken anregen. Dabei wird natürlich auch von Vergangenem, von Traditionen und von Denkmustern die Rede sein, mehr aber noch von Fragen, die bisher weniger im Mittelpunkt standen und die insofern auch einen Wunsch an die Zukunft der Textlinguistik zum Ausdruck bringen. Auch wenn ich hinterfrage, habe ich aber nicht vor, Grundsatzkritik an bisher Gewohntem zu üben oder gar einen Gegenentwurf zu skizzieren. Im Gegenteil, ich meine, daß manche Gedanken nebeneinander bestehen können, miteinander verträglich sind, sich gegenseitig ergänzen. Es ist ein oft folgenschwerer Irrtum, wenn Linguisten, und Menschen überhaupt, immer wieder glauben, daß ihre Ansichten die einzig möglichen oder wenigstens die überlegenen seien. Fragen einer konstruktivistischen Textauffassung bewegen mich seit mehr als zehn Jahren. Daß dies zu dem Teil in meinen Veröffentlichungen gehört, der faktisch keine Beachtung gefunden hat,1 liegt - neben dem Unvermögen des Autors, sich klarer und interessanter auszudrücken - sicher auch daran, daß besondere Voraussetzungen gegeben sein müssen, ehe Ideen wahrgenommen und rezipiert werden können, natürlich auch, ehe sie gedacht werden können. Oder spezieller: Die Perspektiven, die Menschen auf ihre Umgebung haben, auch auf ihre geistige Umgebung, müssen so sein, daß bestimmte Momente in dieser Umgebung erfahrbar, denkbar werden. Mich hat die Tatsache, daß ich mich in jüngerer Zeit mit Problemen einer sozial fundierten und kognitiv vermittelten Perspektivität beschäftigt habe, zu Gedanken zurückgeführt, die mir eigentlich schon recht weit in

1

Vgl. etwa Härtung (1985), (1988) und vor allem (1991) und darin meinen Teil über „Kommunikation und Text" und den von Michael Wache über „Methodologische Brennpunkte".

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der Vergangenheit zu liegen schienen. Aber ich will hier nicht über mich reden. Nur noch über ein Erlebnis, das ich als Einstieg in das Problem brauche. Vor wenigen Wochen habe ich einen Vortrag über ein literaturhistorisches Thema besucht. Der Leiter der Veranstaltung stellte, nachdem der Vortragende seine Ausführungen beendet hatte, fest, daß der Vortrag ein geistiger Genuß gewesen sei. Diese positive Einschätzung entsprach genau meinem Eindruck. Auch ich hatte den Vortrag so empfunden. Man kann sagen, daß der Veranstaltungsleiter und ich die gleichen oder mindestens in einem Punkt sehr ähnliche Perspektiven auf den eben gehörten Vortrag hatten. Wir waren beide mit ganz bestimmten Erwartungen/Perspektiven zu der Veranstaltung gekommen, an ihnen hatten wir den Vortrag gemessen, sie hatten uns geleitet, manches mit besonderer Aufmerksamkeit zu hören und anderes vielleicht auch zu überhören. Diese Erwartungen sahen wir jedenfalls erfüllt. Unsere Perspektiven hatten uns zu einem Genuß verholfen. Ich weiß nicht, ob alle Teilnehmer der Veranstaltung den Eindruck teilten, daß der Vortrag ein geistiger Genuß gewesen sei. Möglicherweise nicht. Ganz sicher aber bin ich: Wäre der Vortrag im gleichen Wort„laut" vor einem ganz anderen Publikum gehalten worden, wäre er auch anders wahrgenommen worden, und es hätte vielleicht Urteile gegeben, die ihn als Schönrednerei charakterisiert hätten, als an wichtigeren Fragen vorbeiredend oder als über die Köpfe hinwegredend u.ä. Solche Urteile wären anderen Perspektiven entsprungen, aber sie wären nicht „falsch" oder „ungerechtfertigt" gewesen. Für die so Urteilenden wäre nur der gleiche Text ein ganz anderer gewesen. Glücklicherweise werden mit bestimmten Organisationsformen des sozialen Zusammenlebens immer schon Vorentscheidungen darüber getroffen, welche Gruppen, welche Gliederungen von Gemeinschaften, mit welchen Texten in Berührung kommen, welche Arten von Texten sie demzufolge für sich überhaupt als relevant akzeptieren. Deshalb müssen Perspektiven nicht immer so extrem divergieren, wie sie es in diesem Beispiel könnten. Aber in der Regel divergieren sie natürlich wenigstens in bestimmten Punkten. Von Perspektiven wird selbstverständlich nicht erst die Rezeption eines Textes geleitet. Auch der Textproduzent, also der Literaturhistoriker auf jener Veranstaltung, hatte eine bestimmte Perspektive auf seinen Gegenstand und auf den Anlaß seiner Darbietung, also auf die Besonderheiten der aktuellen Kommunikationssituation. Seine Perspektive unterschied sich sicher beträchtlich von meiner spezifischen Rezipienten-Perspektive, vielleicht bis auf einen bestimmten Bereich, der meinen positiven Eindruck möglich machte. Aber selbst dies setzt PerspektivenKonvergenz nicht notwendig voraus. Die positiv-zustimmende Reaktion könnte ganz unabhängige Ursachen haben. Hätte ich dagegen mehr literaturhistorische Fachkenntnisse oder hätte ich wenigstens geglaubt, sie zu besitzen, dann hätte in meiner Perspektive der Gegenstand vermutlich eine größere Rolle gespielt. Jedenfalls hätte dies meinen Gesamteindruck verändern, zumindest Akzente verschieben können. Vielleicht zeichnet sich jene Perspektive, die zur Einschätzung „geistiger Genuß" kommt, gerade durch das Fehlen einer gewissen Professionalität aus, was andere auch veranlassen könnte, sie für leicht oberflächlich zu halten. Es ist also nicht so, daß mir und auch den anderen Perspektiven von der Situation gewissermaßen aufgezwungen werden oder wir auf einige wenige schon fertige Perspektiven zurückgreifen müßten. Wir können sie vielmehr - natürlich nur in

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einem bestimmten Umfang - frei wählen, sie entsprechend unseren Wünschen aufbauen und auch wieder verändern. Ebenso kann ich aber auch stur und vorurteilsvoll bei einer gewohnten, „bewährten" oder als bequem bevorzugten Perspektive bleiben, was mich dann beispielsweise davon abhalten könnte, literaturhistorische Vorträge überhaupt zu besuchen, sie als für mich relevante Texte zu akzeptieren. Das Problem, um das es mir geht, ist folgendes: Wir können nichts tun, ohne daß wir uns von Perspektiven leiten lassen. Wir nehmen in der Welt bestimmte Plätze, Standorte ein und „sehen" von ihnen aus die Welt, „unsere" Welt, die Welt „unserer" Umgebung. „Unsere" Welt ist es nicht nur in dem Sinn, daß wir uns etwas „aneignen"; in einem ganz bestimmten Verständnis „schaffen" wir uns diese Welt auch. Die von uns dabei eingenommenen Plätze können sich an unserer Befindlichkeit in Raum und Zeit orientieren oder an der Befindlichkeit in der Kommunikation oder Interaktion, bezogen also auf andere Individuen unserer Umgebung. Das sind die gewöhnlich als Deixis begriffenen Ver-Ortungen. Solche Plätze können sich aber auch an den geistigen Konstrukten über unsere Welt orientieren, jenen spezifischen Ausdehnungen unseres Lebensraumes, die kommunikative Interaktion erst möglich machen und die in ihr ausgebaut, verdichtet, interindividuell angeglichen und damit zu überindividuellen Tatbeständen werden. Auch die in diesem „kognitiven Bereich" (Maturana) eingenommenen Plätze determinieren Perspektiven. Individuen erleben eine kommunikative Situation aus der Perspektive ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, ihres SichVerpflichtet-Fühlens gegenüber einer augenblicklich verwirklichten Rolle oder Aufgabe, ihrer Zuordnung zu irgendeiner in der Gemeinschaft typisierten oder ad hoc typisierbaren Befindlichkeit in bezug auf andere Teilnehmer. Da zwei Individuen keine identischen Plätze in den verschiedenen Welten einnehmen, sind sie, sobald sie interagieren, notwendigerweise mit Perspektiven-Divergenzen konfrontiert, die gelegentlich erwünscht, häufig zu vernachlässigen, bisweilen aber auch unerwünscht sind und entsprechend „bearbeitet" werden müssen. - Dies ist mit der grundsätzlichen und unaufhebbaren Perspektivität unseres Bewegens in der Welt gemeint. Alles, was wir wahrnehmen und sagen (können), nehmen wir so wahr. Wenn sich Linguisten mit dem Text beschäftigen, lassen sie sich von bestimmten Denkmustern, bestimmten allgemeinen Konzeptskizzen in bezug auf das Phänomen Text und die angrenzenden Bereiche leiten. Solche Vorprägungen und Kanalisierungen des Denkens sind ein normales Verwenden tradierten Wissens oder notwendige Reaktionen auf das Vorgefundene: Auch Neues läßt sich zumindest zu großen Teilen nur in alten Begriffen denken. Auf diese Weise werden die disziplinaren Perspektiven auf einen Untersuchungsgegenstand konstituiert. Einige Punkte der dominierenden Perspektiven auf den Text - es gibt durchaus unterschiedliche Perspektiven nebeneinander - sollten auf die Reichweite ihrer Gültigkeit und auf ihre Ergänzbarkeit geprüft werden, wenn wir von einer grundsätzlichen und unaufhebbaren Perspektivität ausgehen. Ich meine insbesondere folgende Punkte:

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- Gewöhnlich wird der Text eher als das Ergebnis produktiver sprachlicher Tätigkeit gesehen, weniger als der Ausgangspunkt für eine im Prinzip ähnlich aktive und eigentlich auch „produktive" Rezeption. In der Literaturwissenschaft ist dies teilweise anders (vgl. die hier entstandene Rezeptionsforschung). In der Linguistik dominiert jedoch seit eh und je die Vorstellung, daß die Äußerungsproduktion der wichtigere oder der „eigentliche" Teil des Sprachgebrauchs ist. Die Rezeption erscheint dann allenfalls als eine Art Umkehrung der Produktion. - Dieses Denkmuster wird durch die Auffassung gestützt, daß das Herstellen eines Textes, also das Sprechen oder Schreiben, wesentlich darin besteht, Informationen in einen bestimmten Informationsträger, also sprachliche Zeichen in einer bestimmten Anordnung, hineinzupacken. Die Aufgabe des Rezipienten wird dann darin gesehen, möglichst viel von den verpackten Informationen wieder zu „entpacken". - Hinter diesem Behälter-Konzept des Textes steht die allgemeinere Auffassung, daß sprachliche Zeichen für Gegenstände einer als unabhängig vom Menschen gedachten Wirklichkeit stehen oder wenigstens für Bewußtseinsinhalte oder Begriffe, die solche „wirklichen" Gegenstände mehr oder weniger eindeutig und jedenfalls letztlich „objektiv" abbilden, so daß der sprachliche Prozeß im wesentlichen das Finden des „richtigen" Ausdrucks für einen in der Widerspiegelungstätigkeit erarbeiteten Inhalt bzw. des „richtigen" Inhalts für einen gegebenen Ausdruck ist. Als Zugeständnis wird dann neben einer „wörtlichen" auch eine übertragene, okkasionelle oder Äußerungsbedeutung eingeräumt, die aber als mehr oder weniger zweitrangig und jedenfalls schwer faßbar angesehen wird. - Wenn es eine so klare Beziehung zwischen Zeichen (oder Zeichenkörpern) und Bedeutungen gibt, dann muß - das ist ein weiteres, sich folgerichtig ergebendes Denkmuster - die Menge der zu gewinnenden Information in irgendeiner Weise durch das Vorkommen von Zeichen(-Körpern) bestimmt sein. Oder anders: Es liegt nicht mehr an Bedeutungen vor, als Zeichen vorkommen. Oder noch zugespitzter: Mehr Bedeutung als die, die an vorkommende Zeichen gebunden ist, ist linguistisch nicht interessant, ist nicht Gegenstand der Linguistik. Ich will versuchen anzudeuten, wo die Gültigkeit dieser gängigen Denkmuster (vgl. dazu auch die von Köck 1992: 355ff. zusammengefaßte Kritik am Transfer von Modellen aus der Nachrichtentechnik in die Sozial- und Geisteswissenschaften) eingeschränkt wird. Wenn wir uns den Kommunikationsprozeß als einen komplexen und ganzheitlichen Prozeß vorstellen, dann ist das Erscheinen des Textes (oder einer Äußerung) eine bestimmte wichtige Phase in ihm. Wichtig ist diese Phase vor allem dadurch, daß in ihr ein materielles Gebilde erscheint. Dennoch bleibt dies eine Phase in einem sehr viel komplexeren Geschehen. Ehe der Text zu einem wahrnehmbaren Ereignis in unserer sinnlichen Umgebung wird, müssen verschiedene psychische Prozesse ablaufen, die mit Planung, Kodierung oder auch Auswählen aus einem Pool von Wissenselementen nur sehr grob um2

Mir ist diese Sicht zuerst bei Kotov/Kurbakov (1983) deutlich geworden, es wären sicher auch andere Anstöße denkbar gewesen.

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schrieben sind. In diesen Prozessen werden vor allem gedankliche Gebilde konstruiert nnd auf vorangegangene oder tradierte, konventionalisierte Erfahrungen mit einer jeweiligen Umgebung bezogen. Insofern schaffe ich mir einen Kommunikationsgegenstand, wie er meinen Bedürfhissen und Wünschen entspricht oder dem, was ich als meine Bedürfnisse und Wünsche akzeptiert habe. Wir können es auch wieder anders ausdrücken: Der Sprecher läßt sich beim Herstellen eines Textes von einer Perspektive leiten. Auf der Seite des Rezipienten markiert das Erscheinen des Textes nur einen Anfang. Es werden ebenfalls psychische Prozesse ausgelöst, die mehr sind als ein Identifizieren und Dekodieren vorgefundener sprachlicher Zeichen. In der Verstehensforschung wird schon seit längerem betont, daß der Verstehensprozeß konstruktive Momente enthält, daß er nicht nur daten-, sondern auch konzeptgeleitet ist (vgl. etwa Hörmann 1977 oder Rickheit 1995). In der Linguistik ist die menschliche Fähigkeit zum Konstruieren vielleicht etwas zu schnell unter das Konzept der Wissenskomponenten subsumiert worden, unter das bloße GebrauchMachen von angehäuftem Wissen. Damit entsprach man zwar einem gewohnten Denkmuster, reduzierte aber auch die aktiv werdende Subjektivität auf Wissensunterschiede und Wissensdefizite. Die Vorstellung, daß sich Individuen auch bei der Textrezeption von Perspektiven leiten lassen, kann dieser Verkürzung entgegenwirken. Der Text ist jedenfalls mehr als ein „Informationsbehälter". Auf den Textproduzenten bezogen, repräsentiert er dessen innere Prozesse. Diese müssen dem Produzenten nicht bewußt sein, oft können sie aber bewußt gemacht werden. Ein Teil von ihnen ist zweifellos auch über den Willen steuerbar. Es ist also auch von Intentionen abhängig, was in den Text „hineinkommt". Dennoch ist der Textproduzent nicht frei. Er ist u. a. an perspektivische Beschränkungen und Festlegungen gebunden: Ich kann nicht „alles" sagen wollen, sondern immer nur das, worüber ich verfüge, was in meinem „kognitiven Bereich" liegt, was also ein Teil meiner Welt ist. Für den Rezipienten ist der Text vor allem eine Anregung, ein eigenes gedankliches Gebilde zu schaffen, das dem Text in der aktuellen Situation einen Sinn zuordnet, ihn also für den Rezipienten wichtig macht. Zu dieser Aktivität veranlaßt ihn seine Befindlichkeit in der Situation. Diese Sinnzuschreibung führt er teilweise bewußt und absichtsvoll aus, sich dabei aber auch festlegend oder von vornherein festgelegt durch seine Perspektive auf die Situation. Im günstigen Fall bemüht er sich, so viel wie möglich von der Perspektive des Textproduzenten zu verstehen. Oder anders: Der sinnlich wahrnehmbare Text regt nicht einfach nur dazu an, sich ein Bild von inneren Prozessen und Zuständen des Textproduzenten zu machen oder dessen Bewußtseinsinhalte zu rekonstruieren, wie üblicherweise verkürzend gemeint wird, vielmehr ist der Rezipient gehalten, solche Rekonstruktionen auf die interaktiven Bedingungen zu beziehen, unter denen der Text, also die spezifische Repräsentation, zustande kam. D. h., ein Text „transportiert" nicht Informationen über eine unabhängige äußere Welt und auch nicht nur über innere Welten der Produzenten, er ist vielmehr ein Produkt des perspektivengeleiteten Zurechtfindens in der Welt, und er dient als Mittel, ein kooperatives Zurechtfinden mehrerer Individuen zu orientieren. Er gibt dem Rezipienten eine Hilfestellung

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(und will ihn natürlich auch beeinflussen und lenken), aber der Rezipient muß selbst aktiv werden. S. J. Schmidt (ζ. B. 1992) unterscheidet zwischen Kommunikationsmitteln, zu denen er den Text rechnet - Bausteine oder Elemente eines Textes müßten wohl auch dazugehören und dem Kommunikat, das als kognitives Konstrukt einem Text vom Rezipienten zugeordnet wird und das sich folglich von jenen Kommunikaten unterscheidet, die andere Rezipienten dem gleichen Text zuordnen. So undifferenziert und damit unhandlich ein solcher Kommunikat-Begriff zunächst erscheinen mag, er weist uns auf ein fundamentales Problem hin: auf das Auseinanderfallen des Textinhalts auf dem Weg vom Produzenten zum Rezipienten. Oder schärfer: Der Textinhalt ist etwas Veränderliches, keine ein für allemal gegebene Konstante, die nur eine Art Abbild eines „objektiv" gegebenen Tatbestandes wäre. Verschiedene Rezipienten verstehen den gleichen Text unterschiedlich. Auch bei ein und demselben Rezipienten kann der gleiche Text höchst Unterschiedliches auslösen, wenn er etwa zu verschiedenen Zeiten oder mehrmals selektiv, also mit unterschiedlichen Perspektiven gelesen oder gehört wird. Auch strukturierende Gewichtungen des Inhalts wie das Thema, der Grundgedanke oder die Hauptinformation (vgl. Härtung 1988) werden vom Produzenten nur angeboten. Ob sie vollständig, partiell oder überhaupt akzeptiert werden, steht dem Rezipienten prinzipiell frei, wenngleich Konventionen ihn zu einer Akzeptanz drängen können, die nur durch Aushandeln oder totales Verweigern außer Kraft zu setzen ist. Doch selbst für den Produzenten muß der Textinhalt nichts Festes sein. Seine Perspektive kann sich während der Produktion verändern. Er „sieht" seinen Gegenstand dann anders. Oder wenn er sich auf bereits Gesagtes oder auf frühere Texte bezieht, dann bezieht er sich nicht mehr auf die ursprünglichen Produkte, sondern auf Erinnerungen an sie, die natürlich auch perspektivisch gebrochen werden. Das Auseinanderfallen des Textinhalts schließt freilich nicht aus, daß er von einer Reihe überindividuell gültiger Konventionen getragen wird, getragen werden muß. In jeder Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft gibt es konventionalisierte Zuordnungen von Zeichen(-Körpern) und Bedeutungen bzw. Inhalten, also jene Qualitäten eines Kommunikationsmittels, die in Grammatiken und Wörterbüchern beschrieben sind, die in der Sozialisation angeeignet werden und die einen Grundstock von Referenzherstellungen jedenfalls erleichtern. Hinzu kommen, gewissermaßen auf einer höheren Ebene, Konventionen darüber, wie man verschiedene Texte erzeugt, wozu man sie benutzt, welchen Sinn sie in einer Gemeinschaft haben können usw. Der Textproduzent bedient sich dieser Konventionen, und der Rezipient kann sie zunächst einmal voraussetzen. Insofern existieren weitreichende Verstehenshilfen. Der Rezipient konstruiert sein Kommunikat nicht für sich allein. Allerdings erscheint es mir fraglich, ob ein Konstrukt wie das der „wörtlichen Bedeutung" für den Text noch brauchbar ist. Eine Annahme, die für die Bausteine eines Textes und sicher auch noch für kurze oder stark konventionalisierte Äußerungen/Texte sinnvoll ist, kann ihren Sinn mit zunehmender Länge und Komplexität von Texten verlieren, mit dem dann immer deutlicher werdenden Auseinanderfallen der Textinhalte und dem Zunehmen der Zahl der möglichen Lesarten. Damit wächst auch die Einmaligkeit von Texten; Textäußerungen sind

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jedenfalls in einem höheren Maße als Satzäußerungen etwas Neues, zuvor noch nicht Geäußertes. Sie von „ihrer" Situation zu trennen, wird immer schwieriger. Etwas bildhaft ausgedrückt: Rezipienten- und Produzenten-Perspektive sind die Instanzen, die die auseinanderfallenden Komponenten des komplexen Kommunikationsprozesses immer wieder aufeinander beziehen. Wir sollten aber nicht denken, daß diese Abstriche an der Spezifik, mit der ein Text den Rezipienten zu eigenen Konstruktionen anregt, unbedingt ein Nachteil sind. Die relativ freie Deutbarkeit ermöglicht vielmehr ein hohes Maß an kognitiver Flexibilität und an Handlungsraum in der Interaktion. Die angedeuteten Einschränkungen in der Gültigkeit gängiger Denkmuster haben Konsequenzen für unsere Vorstellungen davon, was wir Texten zutrauen und was wir von ihnen erwarten können. Sie bestimmen letzten Endes auch meine Perspektive auf den Text. Es ist vorstellbar, daß jedem beliebigen Text irgendein Kommunikat und einem bestimmten Text auch beliebig viele Kommunikate zugeordnet werden können. Für den Zuordnenden brauchbar ist aber nur das Kommunikat, das sich in der Interaktion, in die er involviert ist, bewährt. Das setzt eine gewisse Übereinstimmung oder Gemeinsamkeit zwischen den Interagierenden voraus, auch eine zumindest in bestimmten Punkten konvergierende Sicht auf die kommunizierten Gegenstände. Das gilt auch für den Fall eines Streits - es sei denn, die Beteiligten wissen gar nicht, worüber sie sich streiten, was natürlich auch vorkommt. Wer entscheidet aber darüber, ob und ab wann eine solche Ubereinstimmung vorliegt? Gewisse fraglos hinzunehmende Voraussetzungen schafft zweifellos die Zugehörigkeit zur gleichen Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft. Eine Basis für Referenzherstellungen ist damit jedenfalls geschaffen. Für die Text-Ebene bringt dies aber, wie gesagt, noch nicht sehr viel. Denn weitergehende Entscheidungen darüber, was tatsächlich gemeint ist und ob etwas „richtig" verstanden wurde, können sich nicht auf „objektive" oder für die ganze Sprachgemeinschaft oder größere Teile von ihr gültige Kriterien stützen. Ob etwas richtig verstanden wurde, kann letztlich nur der Textproduzent, also der „Orientierende" im Sinne Maturanas, entscheiden. In der alltäglichen Kommunikationspraxis kann die Entscheidung unproblematisch sein, oder sie ist der Aushandlung, also dem „besseren" Argument, überlassen. Es gibt aber nicht wenige Fälle, in denen der Textproduzent kraft der sozialen Macht, über die er verfügt, seine Lesart verbindlich macht. Das trifft vor allem für hierarchisch organisierte Gemeinschaften zu und ist in einer Kommunikation, die größere Gemeinschaften und ganze Gesellschaften zusammenhält, nicht selten. Der Textrezipient, oder der „Orientierte", erlebt ein zugeordnetes Kommunikat als für die Interaktion günstig oder ungünstig. Will er vom Orientierenden als Verstehender, als einer, der dazugehört, akzeptiert werden, fügt er sich der Vorgabe; er versteht etwas dann, wenn er es so versteht, wie er es verstehen soll. Fügt er sich der Vorgabe nicht, dann muß er damit beginnen, sein Kommunikat zu explizieren oder auch die Vorgabe kritisch zu durchleuchten. Wenn wir diese Situation zu Ende denken, wird klar, daß Verstehen nicht nur eine bestimmte kognitive Leistung ist, sondern von der Bestätigung durch den Textproduzenten (oder die Instanzen, die ihn in einer Gemeinschaft vertreten, die beauftragt sind usw.) ab-

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hängt. In diesem Sinn kann es dann auch (mehr oder weniger) gleichgültig sein, wie Verstehen zustande kommt. Wichtig ist nur, ob und wie ein „verstandener" Text in der Interaktion orientiert (vgl. dazu ausführlicher Rusch 1992). Natürlich haben wir immer die Möglichkeit, ein derart verkürztes Verstehen nicht mehr als Verstehen zu bezeichnen. Aber abgesehen davon, daß theoretische Überlegungen die hier angedeutete Lesart durchaus nahelegen, trifft sie viele unserer Erfahrungen in der Kommunikation. Der kommunikativ Orientierte unterliegt selbstverständlich sozialen und sachlichen Zwängen, er ist gehalten, auf den Nutzen oder Erfolg einer Interaktion zu achten. In diesem Rahmen aber ist er frei: „Es ist dem Orientierten überlassen, wohin er durch selbständige interne Einwirkung auf seinen eigenen Zustand seinen kognitiven Bereich orientiert. Seine Wahl wird zwar durch die ,Botschaft' verursacht, die so erzeugte Orientierung ist jedoch unabhängig von dem, was diese .Botschaft' für den Orientierenden repräsentiert." (Maturana 1982: 57) Das entspricht unserer Erfahrung, daß wir uns bei unserem Verstehen oft keineswegs davon beeinflussen lassen, was der andere sagt. Wir haben ja unsere Lesart. Und natürlich gilt auch das Umgekehrte: Ich kann etwas sagen, das von dem, was ich meine oder was mich „eigentlich" bewegt, weit entfernt ist (vgl. dazu auch Köck 1992: 369). Aber, wie gesagt, Kriterium ist die Brauchbarkeit in der Interaktion, und wir würden mit einer solchen freien Orientierung nur in ganz bestimmten Fällen weiterkommen. Dennoch besteht die prinzipielle Möglichkeit. Wir können uns einem Text entziehen, was durchaus nicht selten ist. Etwa indem wir uns allen Assoziationen, zu denen er anregen könnte, verweigern, aber auch, indem wir sie in ganz andere Richtungen lenken. Wie weit uns das möglich ist, hängt freilich auch davon ab, in welchem Maße uns ein Text als Rezipienten in die Pflicht nimmt. Aber wir müssen einen Text ja nicht unbedingt zur Grundlage für den Aufbau oder die Ausgestaltung eines entfalteten Wissenssystems machen, so daß wir uns bemühen, so viel wie möglich an geordneten Wissensbeständen zu rekonstruieren. Vielleicht wollen wir durch den Text nur Bestätigung erfahren, Trost in ihm finden oder uns selbst wiedererkennen usw. Unsere rezeptiven Perspektiven werden also Richtung und Umfang der ausgelösten Assoziationen bestimmen, werden bestimmen, was uns ein Text „bedeutet", welchen Sinn er für uns hat und ob er überhaupt einen hat. Ich will meinen Kernpunkt noch einmal zusammenfassen: Perspektivität, als eine unaufhebbare Gegebenheit, bewirkt, daß das in Texten Repräsentierte einen bestimmten individuellen, persönlichen Zuschnitt hat. Das gleiche gilt für die in der Rezeption entstehenden gedanklichen Gebilde, die Kommunikate. Deren Zahl erhöht sich - abhängig von der Art des Textes, der Zahl der Rezipienten und der wiederholten Rezeptionen - unbegrenzt. Um eine gewisse Sicherheit des in der verbalen Interaktion ja schließlich doch stattfindenden gegenseitig orientierenden Austauschs zu gewährleisten, wird es notwendig, perspektivische Divergenzen zwischen den Kommunizierenden möglichst zu berücksichtigen. Dafür gibt es in der verbalen Interaktion verschiedene Möglichkeiten. Die einfachsten bestehen darin, die selbst eingenommene Perspektive anzuzeigen und bei anderen Teilnehmern vermutete Perspektiven anzusprechen, divergierende Perspektivität also in irgendeiner Weise metakommunikativ verfügbar zu machen. Je lockerer der inter-

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aktive Zusammenhang ist - und das ist vor allem bei schriftlichen Texten der Fall - , desto schwerer wird es fur die Teilnehmer an einer Kommunikation, Perspektivität interaktiv zu bearbeiten. Aber auch schriftliche Texte lassen der Interpretation unterschiedlich großen Raum. Literarische Texte sollen gerade variabel rezipiert werden. Sie leben in gewisser Weise von den Anpassungen an ganz persönliche Rezipienten-Welten. Instruktionstexte (z.B. Gebrauchsanweisungen) können die Zahl möglicher Lesarten durch Abbildungen oder detaillierte Gegenstandsbeschreibungen einschränken; trotzdem bleiben sie oft unklar, lassen also noch zu viele Lesarten zu. Gesetzestexte verlangen geradezu verbindliche Interpretationen, die notfalls durch Kommentare oder Musterurteile zugeordnet werden. Ähnliches gilt fur viele institutionelle Texte, auch für religiöse Texte. Hier gibt es am ehesten so etwas wie eine „richtige", eine kanonisierte Lesart. Jede andere wird dem Text nicht mehr gerecht. Das heißt aber nicht, daß wir ihn nicht auch „anders" lesen könnten. Ich kann jeden Text so lesen, wie es mir gefällt, vorausgesetzt, ich verstehe ihn wenigstens auf der Ebene, die mir ein Lesen erlaubt. Ob er dann noch die Funktion erfüllt oder auf die Klasse von interaktiven Rahmenbedingungen trifft, für die er einmal produziert wurde, ist eine andere Frage. In meiner Sinnzuschreibung bin ich zwar nicht eingeschränkt, aber sie kann unter Umständen sehr exotisch werden. Viele Texte sind von vornherein für einen anonymen Rezipientenkreis produziert. Dieser kann auch zeitlich sehr weit auseinanderliegen, unter Umständen viele Generationen umfassen. Je disparater der Rezipientenkreis ist, desto mehr muß der einzelne Rezipient oder eine bestimmte herausgehobene Rezipientengruppe ein neues Verhältnis zum Text schaffen, eine ihm immer noch oder wieder gerecht werdende Interaktionssituation, in der eine Sinnzuschreibung möglich wird. Was aber machen wir mit Texten, die gar nicht an uns adressiert sind oder die aus einer anderen Zeit, einer anderen Kultur oder einer anderen Gesellschaft stammen? Welche Perspektive auf sie können wir haben? Welche ist überhaupt sinnvoll? Wie weit können wir Texte „von außen" betrachten und auch verstehen? Tagebücher, soweit sie nicht von vornherein für andere geschrieben sind, müssen uns von einem bestimmten Punkt an unzugänglich bleiben. Dennoch können wir ihnen einen (anderen) Sinn, einen Sinn für uns geben, sie etwa als Dokumente der Zeitgeschichte lesen oder als Bezugspunkte für unsere eigenen Befindlichkeiten. Dann „verstehen" wir aber nur noch bedingt den Tagebuchschreiber. Wir benutzen seinen Text nur. Texte aus der DDR haben wichtige Teile des Umfeldes, in dem sie wirkten, verloren. Wenn wir sie heute erneut lesen, dann tun wir dies „mit anderen Augen", also mit anderen Perspektiven. Die können berechtigt, auf jeden Fall auch wieder verständlich sein. Es sind aber unsere heutigen Perspektiven. Haben wir es dann noch mit DDR-Texten zu tun? Natürlich bleiben es immer Texte, die zu einer bestimmten Zeit von bestimmten Individuen produziert wurden. Insofern bleiben die Texte mit der DDR verbunden. Aber Texte sind nichts ohne Rezipienten. Und die haben in diesem Beispiel bestenfalls Erinnerungen, aber nicht mehr die Perspektiven, die sie als Adressaten dieser Texte hatten oder haben könnten.

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Texte können Hinweise auf eine Kultur oder Gesellschaft geben. Damit sie das tun, müssen wir uns aber darum bemühen, die Perspektiven, die jene Menschen hatten, die mit den Texten in „echter" Interaktion verbunden waren, zu rekonstruieren oder wenigstens als mögliche Korrektive unserer eigenen Perspektiven in Rechnung zu stellen. Andernfalls verstehen wir nur uns selbst und nur in diesem Augenblick. Oder ist die historische Perspektive nichts anderes als unser Blick in die Vergangenheit? Ich würde diese Verkürzung nicht mitmachen wollen. Auch beim Übersetzen, jedenfalls beim guten Übersetzen, entsteht ein neuer Text. Es werden nicht einfach nur einzelsprachliche Ausdrücke durch Ausdrücke einer anderen Sprache ersetzt, vielmehr erfolgt eine Wirklichkeitskonstruktion mit Bezug auf einen neuen, einen veränderten Adressatenkreis. Aber auch der muß sich erst konstituieren, indem er die Wirklichkeitskonstruktion akzeptiert. Ich meine, daß Martin Luther in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen" diese Situation recht klar charakterisiert hat: ...das ich das Newe Testament verdeudscht habe / auff mein bestes vermögen vnd auff mein gewissen / habe damit niemand gezwungen / das er es lese / sondern frey gelassen / Vnd allein zu dienst gethan / denen / die es nicht besser machen können / Ist niemand verboten ein bessers zu machen / Wers nicht lesen wil / der lasse es ligen / Ich bitte vnd feyer niemand drumb / Es ist mein Testament vnd mein dolmetschung / vnd soll mein bleiben vnd sein... (1951: 9ff., Hervorhebungen von mir).

Der Zusammenhang von Perspektive und Text hat die Wissenschaft auch früher schon beschäftigt. Es ist an dieser Stelle leider nicht möglich, die Geschichte, die sich teilweise auch einer anderen Begrifflichkeit bedient hat, nachzuzeichnen. Ein paar Andeutungen müssen genügen. In der Literaturwissenschaft gibt es eine längere Tradition der Beschäftigung mit Perspektivität (vgl. die Zusammenfassung etwa in Stanzel 1991), aber die hier zentrale Frage ist, wie der Erzähler/Autor den Leser bei der Wahrnehmung der erzählten Wirklichkeit lenken kann. Auch richtet sich das Interesse des Literaturwissenschaftlers an der Steuerung der Wahrnehmung des Lesers von Darstellungen einer fiktionalen Welt nicht notwendig auf die gleichen sprachlichen Phänomene wie das Interesse des Gesprächsanalytikers an der Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen in einer realen Welt. Dennoch ist es bedauerlich, daß die literaturwissenschaftlichen Arbeiten in der Linguistik nur eine sehr geringe Beachtung gefunden haben. Ein besonderer Zugang zu unserer Problematik ergibt sich auch über die Genre-Forschung, wenn man davon ausgeht, daß Genres keine strukturellen Eigenschaften von Texten sind, sondern orientierende Netzwerke (orienting frameworks), interpretative Prozeduren und Erwartungen, derer sich Kommunizierende für die Produktion und Rezeption von Diskursen bedienen (Briggs/Baumann 1992). Ein besonderer Zugang ergibt sich auch aus Untersuchungen zur Intertextualität. Ein linguistisches Interesse an der Perspektivität hat sich in jüngerer Zeit insbesondere im Zusammenhang mit gesprächsanalytischen Untersuchungen entwickelt (vgl. etwa Kallmeyer 1996). Auch aus der Psychologie sind wichtige Beiträge vor allem von Graumann (etwa 1990) gekommen. Anregende Ideen wurden im Umkreis des Radikalen Konstruktivismus entwickelt (S. J. Schmidt 1992, Rusch 1992).

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In der früheren sowjetischen Psycholinguistik wurde ein Zugang zur Perspektivität über das Konzept des subjektiven oder persönlichen Sinns gesucht. Allerdings ist der subjektive Sinn nicht die Perspektive, vielmehr ist die Perspektive der Rahmen, in dem sich uns der subjektive Sinn erschließt. (Vgl. etwa Leontjew 1979: 144ff., Leont'ev 1982, Lurija 1982: 269ff.). Tarasov hat sich mit dem Problem beschäftigt, daß man, wenn man von einem bilateralen Zeichenbegriff ausgeht, dazu gezwungen ist, zwischen einem Produzenten- und unbegrenzt vielen Rezipienten-Texten zu unterscheiden (Tarasov/Sosnova 1985). Andere (Kotov/Kurbakov 1983 oder Zinkin 1982) haben sich mit holistischen Textmodellen beschäftigt. Die damals in der Linguistik dominierenden Perspektiven auf den Text waren jedoch eher modular, an Wissenskomponenten oder an der Textstruktur orientiert. Darüber hinaus gab es allenfalls bestimmte „Einstellungen" oder besondere „mentale Zustände", die aber nur so weit interessierten, wie es sprachliche Indikatoren für sie gab. Ich will nicht so verstanden werden, als müßten Gesprächsanalyse oder Perspektivitätsuntersuchungen einen zentralen Platz in der Textlinguistik einnehmen. Es gäbe aber ein paar Punkte, in denen eine Ergänzung möglich wäre. Die Fragen, die eine Brücke schlagen könnten - allgemein geht es dabei um die Suche nach Verfahren der Sinnkonstruktion - , lauten: Auf welche Weise, auf welchem Weg, mit welchen Verfahren wird einem Text von seinem Produzenten Sinn gegeben? Wie äußert sich diese Sinngebung? Wie ordnen die Rezipienten einem Text Sinn zu? Welche Divergenzen ergeben sich dabei? Welche Rolle spielt dabei das kommunikative Bearbeiten von Perspektivität? Die Beantwortung dieser Fragen ist selbstverständlich nur empirisch möglich. Gangbar sind dabei verschiedene Wege. Ich kann auch diesen Punkt hier nicht weiter ausführen, will aber abschließend einige der linguistischen Zugänge wenigstens nennen (etwas ausführlicher in Härtung 1996 und erscheint). - Die einfacheren Formen der Explizierimg von Perspektivität, das Anzeigen und Ansprechen des Vorhandenseins von Perspektiven, habe ich bereits erwähnt. - Ein anderer Bereich ist die charakterisierende Benennung von Perspektiven durch die Teilnehmer. Häufig drücken Teilnehmer nicht nur aus, daß sie oder der Partner eine Perspektive oder eine andere Perspektive haben, sie teilen auch mit, wodurch sich diese Perspektive auszeichnet. Dabei bedienen sie sich bestimmter Kategorisierungen (ich als Linguist, Laie, Unbeteiligter usw.), mit denen sie auf Befindlichkeiten in verschiedenartigen sozialen Systemen Bezug nehmen. Diese Kategorisierungen fungieren als in den Texten niedergelegte Hinweise auf selbst gewünschte oder beim andern ausgemachte oder vermutete Verständnishintergründe. Die Analyse solcher Benennungen zielt nicht auf eine Texttypologie, sondern auf Wege der Sinnkonstruktion oder der Sinnaushandlung. - Perspektiven einen Namen zu geben, ist eine ziemlich direkte Explizierung. Es ist aber auch möglich, daß der Sprecher/Schreiber/Erzähler die besondere Situation, in der er sich befindet, auf verschiedene Weise durch Darstellung entwickelt. Auch so können besondere Hintergründe für das Verständnis eines Textes geschaffen werden.

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- Perspektiven sind Filter, durch die wir die Welt um uns wahrnehmen, Grundhaltungen, von denen wir uns bei der Verarbeitung der Wahrnehmungen leiten lassen. Solche Grundhaltungen organisieren sich um bestimmte stereotypisierte Formeln, Überzeugungen, Glaubenssätze, Wissenselemente, die wir oft in Texten finden können, die die Argumentation strukturieren und die von den Teilnehmern immer wieder aufgegriffen werden. Auf diese Weise kann die perspektivische Dimension der thematischen Struktur von Texten aufgedeckt werden. Es ging mir um folgendes: Wenn der Text nur eine besondere Phase in einem komplexen Kommunikationsprozeß ist, dann ist er in einer sehr engen Weise mit den Menschen verbunden, die ihn produzieren und rezipieren. Diese Bindung können wir für die bessere Durchführung von Einzelanalysen lockern, aber wir sollten sie nicht aus dem Blick verlieren. Die Suche nach der Perspektivität und dem Umgang mit ihr kann uns dabei eine Orientierung sein. Die gelegentlich geäußerte Befürchtung, dies oder allein schon das Berücksichtigen des Rezipienten würde den Textbegriff auflösen, halte ich für unbegründet. Als materielles Gebilde bleibt der Text (im wesentlichen) unverändert. Die Fragen nach der ständigen Veränderung seiner ideellen Bezugspunkte aber, das Eingehen der Beteiligten auf diese Veränderungen, u.a. das Bearbeiten von Perspektivität, aber auch die Lenkung und Beschränkung der Veränderungen durch die in einer Gemeinschaft gültigen (sprachlichen) Konventionen konstituieren verschiedenartige Gegenstandsbereiche, die jeder für sich außerordentlich interessant, die aber auch aufeinander beziehbar sind. Übrigens gewährt ein Ausgehen von der Textproduktion nur scheinbar größere Sicherheit. Der Weg von den Intentionen zu dem, was dann schließlich gesagt wird, ist auch alles andere als kurz und gerade, ganz abgesehen davon, daß das begriffliche Instrument der Illokutionen für die Rekonstruktion eines hinreichend plausiblen Hintergrundes der Produktion noch viel zu grob ist. Gerade deshalb glaube ich auch nicht, daß es sinnvoll ist, die Mannigfaltigkeit der Zusammenhänge und der Erklärungsmöglichkeiten schon jetzt in einen einheitlichen Textbegriff zu pressen. Es gibt eben verschiedene Perspektiven auf den Text. Und weil das so ist, muß ich auch akzeptieren, daß meine nicht die einzige ist.

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Ulrich Püschel (Trier)

„Puzzle-Texte" - Bemerkungen zum Textbegriff

1. Probleme mit dem Textbegriff In Einführungen in die Textlinguistik wird gewöhnlich betont, daß mit dem Textbegriff vielfältige Probleme verbunden seien. So weisen Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger (1991: 16) unter anderem daraufhin, daß über das Verhältnis beispielsweise zwischen einer Bibelstelle und der Predigt darüber oder zwischen einem literarischen Text und dem Kommentar dazu unterschiedliche Meinungen herrschen. Nun könnte jemand sagen: Wieso gibt es da Probleme? Unbestreitbar ist die Bibelstelle Teil eines eigenständigen Textes; ebenso die Predigt, die auf dieser Stelle fußt, schließlich steht sie nicht in der Bibel, sondern wird von der Kanzel herabgehalten, und außerdem liegen zwischen der Entstehung des Bibeltextes und des Predigttextes viele Jahrhunderte. Auch zwischen der Entstehung des literarischen Textes und der Abfassung des Kommentars liegt ein zeitlicher Abstand, wie auch der literarische Text und der Kommentar räumlich mehr oder weniger voneinander getrennt sind. Zwar liegt auf der Hand - und das würde sicherlich auch der genannte Jemand einräumen daß die jeweiligen Texte miteinander in einem Zusammenhang stehen, betonen würde er aber auch, daß sie voneinander unabhängig seien. Das würde er auf jeden Fall von der Bibelstelle, der Predigt und dem literarischen Text behaupten, die alle für sich rezipiert werden können, vielleicht sogar für Kommentare wie beispielsweise Albrecht Schönes Kommentar zu Goethes „Faust", dessen Lektüre zweifelsohne ein Genuß ist und zumindest streckenweise ohne Kenntnis des Goethe-Textes möglich ist. Der von mir zitierte Jemand vertritt die im Alltag wie in der philologischgeisteswissenschaftlichen Tradition weit verbreitete Vorstellung, derzufolge ein Text ein klar abgegrenztes, ganzheitliches und autonomes Gebilde sei, das zudem normalerweise einen in sich geschlossenen Sinn habe. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß sich diese Vorstellung - das Pauschalurteil sei hier erlaubt - weithin unbefragt auch in Einführungen zur Textlinguistik findet. Dabei spricht die Idee der Abgegrenztheit und Ganzheitlichkeit beispielsweise aus der Überlegung Teun van Dijks, daß sich für einen Text mit Hilfe von „Makroregeln" ein Thema - van Dijk spricht auch von „Makrostruktur" - ableiten läßt (van Dijk 1980: 45). Die Idee der Autonomie steckt beispielsweise in der Textdefinition von Klaus Brinker, der vom Text sagt, daß er „als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert." (Brinker 1985: 17). Der in sich geschlossene Sinn schließlich wird aufgenommen in der Redeweise von Sinnkontinuität und Kohärenz der Texte, wie wir sie beispielsweise bei Robert-Alain de Beaugrande und Wolfgang Ulrich Dressler antreffen (1981: 88). Vor allem spiegelt sich diese Auffassung vom Text aber in den Beispielen wider, die in Einführungen gegeben werden. Denn unter diesen finden sich kaum Fälle, die den von Heinemann und Viehweger angeführ-

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ten vergleichbar sind. Treten aber Beispiele dieser Art auf, werden sie unter dem Zauberwort ,Intertextualität' abgehandelt. Damit wird jedoch - wenn auch auf indirekte Weise - nur die Auffassung unterstrichen, daß es sich bei ihnen um ganzheitliche und autonome Entitäten handelt.1 Ich möchte nun keineswegs bestreiten, daß wir in einer großen Zahl von Fällen, vielleicht sogar in der Mehrzahl, problemlos sagen können: Das ist ein Text, eine weitere Diskussion darüber ist überflüssig. Unstrittig sind diese Fälle, weil sich die Rezipienten mitsamt dem Produzenten in ihren Einschätzungen einig sind. Doch wie steht es beispielsweise mit Boccaccios „Decamerone"? Wir wissen natürlich, daß Boccaccio nicht einfach Novellen aneinandergereiht hat, sondern höchst sorgfältig einen umfangreichen und differenziert gebauten Text geschaffen hat. Doch Hand aufs Herz, wer von uns hat diesen Text von vorne bis hinten gelesen und sich bei seiner Lektüre nicht auf die eine oder andere Novelle beschränkt? Was ist dann aber der Text? Die gelesene Einzelnovelle oder das ungelesene Gesamt? Und nochmals zugespitzt und in der Zuspitzung gewiß etwas konstruiert: Für diejenigen, die die 9. Novelle vom 5. Tag kennen, die Geschichte vom Falken also, vom „Decamerone" insgesamt aber allenfalls eine nur sehr vage Ahnung haben, stellt sich die Frage, was denn nun eigentlich der Text sei, überhaupt nicht. Texte - so kann uns dieses Beispiel lehren - sind offenbar keine Gegenstände, die natürlich in der Welt vorkommen, vergleichbar den Steinen, Gräsern oder Fischen, sondern was ein Text ist, hängt davon ab, ob wir eine sprachliche Erscheinung als Text betrachten oder nicht. Etwas ist also nicht per se ein Text, sondern immer nur nach dem Verständnis von jemandem. Dabei kann es durchaus passieren, daß wie bei einem Kipp-Bild dieses Verständnis wechselt: In einer Perspektive kann uns die 9. Novelle des 5. Tages als autonomer Text erscheinen, in einer anderen als unselbständiger Teil eines umfassenderen Textes. Wir müssen also fragen, für wen etwas ein Text ist. Damit haben wir aber einen Punkt erreicht, der von uns den Abschied von einer weiteren lieben Vorstellung verlangt, daß nämlich zu einem Text neben dem Rezipienten notwendigerweise ein Produzent gehört. Jetzt sind nicht solche Fälle gemeint, in denen wir sehr wohl einen individuellen Textproduzenten unterstellen können, der sich jedoch aus welchen Gründen auch immer unserer Kenntnis entzieht, ebenfalls nicht gemeint sind die Fälle, in denen eine mehr oder weniger große Zahl von anonymen Produzenten an der Textherstellung beteiligt sind, so zum Beispiel bei „Ilias", „Odyssee" und beim „Alten Testament" oder bei den meisten der in den Massenmedien verbreiteten Texte. Stattdessen müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir als Rezipienten nicht mit einem Textangebot umgehen, das uns ein Produzent macht, sondern daß wir in der Rezeption zugleich selber Textproduzenten sind, die sich aus vorgebenem Material einen eigenen Text erzeugen. In gewisser Weise macht das schon der Leser des „Decamerone", wenn er sich bei seiner Lektüre auf eine oder mehrere Novellen beschränkt. In extremer Form geschieht dies beim Zappen, wenn wir mittels Fernbedienung durch die Kanäle schweifen und uns aus Wenn hier Intertextualität als Stütze für die textlinguistische Auffassung von der Autonomie des Textes benutzt wird, dann ist sofort präzisierend darauf hinzuweisen, daß damit an die „spezifische Intertextualität" im Sinne Manfred Pfisters (1985: 12) gedacht ist und nicht an den „universalen Intertext".

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dem Programmangebot einen eigenen „Fernsehtext" zusammenstellen (vgl. dazu ausfuhrlich Schmitz 1996). Sind wir erst einmal darauf aufmerksam geworden, daß die Frage, was denn im konkreten Fall genau der Text sei, unterschiedliche Antworten erfahren kann, dann fällt es uns nicht mehr schwer, weitere Beispiele aus der Weltliteratur zu sammeln, die von den „Erzählungen aus 1001 Nacht" über die „Canterbury Tales" zum „Westöstlichen Divan" und weiter reichen. Doch auch außerhalb der Literatur und da ganz besonders in den Massenmedien können wir gleichermaßen beobachten, daß die Frage, was genau der Text sei, keineswegs immer problemlos zu beantworten ist, beziehungsweise je nach Sichtweise unterschiedliche Antworten haben kann. Deshalb habe ich Texte dieser Art einfach „Puzzle-Texte" genannt, weniger weil sie wie ein Puzzle aus verschiedenartigen Teilen zusammengesetzt sind, sondern eher weil sie aus dem Alltagsverständnis von Text und traditioneller textlinguistischer Perspektive verwirrend wirken können. Für solche „PuzzleTexte" werde ich nun einige Beispiele vorstellen, die in der Hauptsache aus dem Printmedium ,Zeitung' stammen, in einem Fall aber auch aus dem audiovisuellen Medium ,Fernsehen'. Dabei werde ich bis zu den Anfangen der Zeitung zurückgehen, um so zeigen zu können, daß es sich bei diesen „Puzzle-Texten" nicht um zufallige Einzelerscheinungen handelt, sondern daß wir auf sie stoßen, wann immer wir in die Zeitung schauen, ja daß sie für das öffentliche Medium .Zeitung' charakteristisch sind. Außerdem möchte ich zeigen, daß sie im Laufe der Zeit ihre Erscheinungsformen ändern und daß diese Änderungen mit Veränderungen in der Zeitungskommunikation zusammenhängen.

2. Von der Korrespondenz zur Einzelmeldung Beginnen wir mit einem Beispiel aus dem Jahre 1609. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus einer der ersten Nummern des Wolfenbütteler „Aviso": Auß Wien von Primo Jenner [1] Die Mährischen Gesandten/ so diese Tag allhie gewesen/ haben die Österreicher ansehnlich Intercession bey dem Köng gethan/ sein aber so wol als andere/ Male content von hinnen/ [2] der König hat den Obristen von Hoffkirchen nach Horn geschickt/ jhme alles Mündtlich befohlen/ auff den verwart man mit verlangen. [3] Zu Horn wird diese Tag eine Generalberathschlagung gehalten/ alsdann wird man erfahren/ wo es hinauß wil/ [4] auff 14. diß/ sein alle Euangelische vnnd Catholische/ so gehuldiget/ allhero citirt/ da werden die Catholischen auch eine Versamblung im Landhauß halten/ allda man sie schetzen/ und neben einem Landtag Geld machen wird.

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Bei der Wahl dieser Bezeichnung hatte ich tatsächlich an das jigsaw puzzle gedacht, sehe jetzt aber, daß dieses Bild wenig zutreffend ist. Die Teile des Zusammensetzspiels sind ja so auseinander gesägt worden, daß keine „Inhalte" erkennbar sind. Die Teile, aus denen sich das „Decamerone" oder die weiter hinten in diesem Beitrag behandelten Medienbeispiele zusammengesetzt verstehen lassen, bilden jedoch sehr wohl sinnvolle Einheiten. Zitat nach Schröder 1995: 71. Zählung in eckigen Klammem U. P.

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Ulrich Püschel [5] Gleich jetzt hat man zu Hoff außgeben/ das die Euangelische Osterreichische Stendt/ vnd die Königischen zu Granuersdorfif in den Quardiern zusammen kommen/ vneins worden/ vnd die Königischen eingebüsset haben. [6] Vor 3. Tagen hat ein Curier auß dem Reich von 6. Chur und Fürsten an jhr K. Maytt. ein Intercession Schreiben für die Stend allhero gebracht/ ist aber alles vmbsonst/ das Schreiben ist 6. Wochen alt/ vnd an einem Ort verliegen blieben. [7] Der König ist ein zeithero sehr unlustig/ darumb er beyde Ertzhhertzog Maxim, vnd Leopold nicht hinweg lassen wollen. [8] Des Herrn von Heberstein Türg. Orators erwartet man teglich.

Wie die Überschrift ausweist, haben wir es hier mit einer Korrespondenz zu tun, die am ersten Januar von Wien abgegangen ist.4 Unter analytischen Gesichtspunkten erscheint diese Korrespondenz aus acht Meldungen zusammengesetzt. Das Einteilungskriterium ist zuerst einmal die Absatzbildung; zieht man weiterhin inhaltliche Kriterien heran, dann lassen sich einzelne Absätze weiter in Meldungen unterteilen, wie das in unserem Beispiel für den ersten und zweiten Absatz möglich ist. Ob das im konkreten Beispiel eine richtige Entscheidung ist, braucht jetzt nicht diskutiert zu werden, denn es kommt hier allein auf das dahinterstehende Problem an: Wir heutigen sind es nämlich gewohnt, daß Zeitungstexte klar und deutlich voneinander abgesetzt sind. In den Korrespondenzen des 17. und 18. Jahrhunderts ist es dagegen durchaus üblich, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Meldungen nicht konsequent markiert und vielfach sogar nicht klar zu ziehen sind. Wer also fragt, aus wieviel Einzeltexten eine Korrespondenz zusammengesetzt ist, kann keineswegs mit einer klaren Antwort rechnen. Möglicherweise ist sogar die Frage falsch, wir sollten vielleicht gar nicht davon ausgehen, daß eine Korrespondenz aus mehreren Texten zusammengesetzt ist, sondern daß die Korrespondenz selbst die Texteinheit darstellt, die aufgebaut ist aus einer Reihe von mehr oder weniger deutlich unterscheidbaren Teiltexten.5 So hat die Meldung [8] sicherlich nichts mit einem der zuvor thematisierten Ereignisse zu tun, steht also isoliert. Aber wie sieht es bei den Meldungen [2] und [3] oder [6] und [7] aus? Hat sie der anonyme Korrespondent, der das für ihn Beachtenswerte zusammengestellt hat, als zwei getrennte Texte oder als in einem engen Verhältnis stehend betrachtet? Auch das Layout führt hier zu keiner endgültigen Antwort, da wir nicht wissen, ob die Anordnung auf das Schreiben des Korrespondenten zurückgeht oder Werk des Druckers ist.6 Interessant ist auch die Überschrift der Korrespondenz, die der Standardform entsprechend eine Orts- und Datumsangabe enthält. Diese Überschrift hat zuerst einmal die Aufgabe, den Leser über die Herkunft und den Absendetag der Korrespondenz zu orientieren, dann leistet sie aber auch zumindest fur einige der Korrespondenzteile Verständnishilfe, steht mit diesen also in einer engeren Beziehung. So wissen wir beispielsweise nur Dank der Datumsangabe in der Überschrift, daß 4 5

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Zur Textstruktur in den ersten deutschen Zeitungen ausführlich Schröder 1995. Eine solche Überlegung ändert selbstverständlich nichts am Wert beispielsweise der Schröderschen Rekonstruktion von Beitragsgrenzen (Schröder 1995: 68ff.). Medientexte haben bekanntlich die Eigenschaft, daß an ihrer Herstellung eine Reihe von Handlungsbeteiligten mitwirken. Schon in den Anfängen der deutschen Zeitung setzen die Drucker nicht einfach Handgeschriebenes, sondern greifen „redaktionell" ein; vgl. Schröder 1995: 84.

„Puzzle-Texte'

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im 1. Satz diese Tag wohl soviel bedeutet wie Ende Dezember7 und allhie soviel wie Wien. Solche Bezüge zur Überschrift finden sich nicht nur zum 1. Satz sondern auch zum zweiten, da mit der König der in Wien residierende König gemeint ist, oder zum 5. Satz, wo die Quellenangabe zu Hoff als der Wiener Hof zu verstehen ist. Die Überschrift bietet dem Zeitungsleser nicht nur Verständnishilfe bei der Lektüre, sondern auch Hilfe bei deren Auswahl, wobei allerdings die Wahlmöglichkeiten stark begrenzt sind. Schlägt der Leser nämlich seinen „Aviso" auf, so kann er sich an den Ortsangaben orientieren, die über den Korrespondenzen stehen. Das heißt, er kann sich entscheiden, welche der Korrespondenzen er lesen will, ob die aus Prag, Wien, Venedig oder Köln, oder auch in welcher Reihenfolge er sie liest. Die einzelne Korrespondenz steht ihm jedoch als ein geschlossener Block gegenüber, der von vorne bis hinten durchgelesen sein will. Möchte der Leser nichts Wichtiges versäumen, so ist er zur Ganzlektüre genötigt, was nahelegt, daß er die Korrespondenz als Einheit wahrnimmt. Unterstützt wird der Eindruck des Blockhaften durch das äußere Erscheinungsbild, wie das Beispiel in Abbildung 1 verdeutlichen kann. In der linken Spalte findet sich ein Block, der mit London, den 23. Jan. überschrieben ist. Unten links findet sich dann eine zweite Überschrift Verona, den 24. Jan., die über einem Block steht, der noch etwa zwei Drittel der rechten Spalte umfaßt. Der erste Block ist eine Korrespondenz, die je nach Zählung aus sechs oder sieben Teilen besteht. Der zweite Block bildet einen zusammenhängenden Bericht über den Abzug der französischen Truppen aus Verona und den Einzug der österreichischen Truppen. Wer hier nicht scharf hinschaut, bemerkt auf den ersten Blick gar nicht, daß diese beiden Blöcke eine ganz unterschiedliche Struktur aufweisen. Erst die Lektüre zeigt, was Korrespondenz und was ganzheitlicher Text ist. Doch auch der zweite Block, der aus einem einzigen Text zu bestehen scheint, weist noch ein Problem auf. Denn an diesen Ereignisbericht, der chronologisch aufgebaut ist, schließt sich noch eine Beschreibung der Szenerie an: Wieviele Zuschauer da waren, was sie riefen, wie die Stadt geschmückt war. Gehört dieser Nachklapp, der mit einem Spiegelstrich abgetrennt ist, zum Ereignisbericht dazu, oder ist er ein eigener Text? Wollte der Korrespondent diese Informationen auf diese Weise hervorheben, war er nicht in der Lage, sie in den anderen Text einzuarbeiten? Wer die Korrespondenz als „Puzzle-Text" qualifizieren möchte, der kann argumentieren, daß dieser vom Produzenten nach dem Kriterium des Berichtenswerten zusammengestellt ist und vom Rezipienten als Lektüreeinheit wahrgenommen wird. Weiterhin ist diese Art Text aus Splittern zusammengesetzt, die teilweise sogar inhaltlich zueinander passen; zusammengehalten wird er zudem durch eine Überschrift, die Orientierung bei der Lektüreauswahl und Verständnishilfe leistet. Textgebilde dieser Art scheinen für die Zeitungskommunikation ausnehmend praktikabel gewesen zu sein, hält sich doch diese Form der Korrespondenz bis weit ins 19. Jahrhundert. Aber sie scheint auch einem gewissen Ent7

Daß die Annahme dieses Zeitpunktes ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit besitzt, läßt sich mit den Überlegungen Schröders zur Aktualität der Berichterstattung stützen (vgl. Schröder 1995: 222ff.).

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In diese Übersicht wurde als neues und bisher noch nicht besprochenes Element die Bestimmung der Textart aufgenommen. Zur vorausgesetzten Heterogenität der NS-Pressetexte, die in der Vielgestaltigkeit der propositionalen Mittel aufscheint, verhält sich die Textart wie ein Filter: Durch die Textart werden die konkreten Handlungsverkettungen der Zeitungsartikel auf Möglichkeiten und Rahmenbedingungen bezogen, auf Konstellationen des Schreibens, die mit den jeweiligen Strukturierungs- und Organisationsformen abgeglichen werden müssen (vgl. auch Bucher 1986). Die spezifische Inszenierungsqualität (= Produktion) und Erscheinungsform der Multiperspektivität (= Rezeption) bemessen sich an diesem Rahmen. Erst nach erfolgter plausibler Festlegung der Textart - und unter Berücksichtigung des historischen Standes der Entwicklung der Zeitungspräsentationen (also dessen, was äußerlich wie inhaltlich zu einem bestimmten Zeitpunkt üblich ist) - kann die eigentliche Textanalyse beginnen. Die Bestimmung der Textart sollte insbesondere deshalb nicht unterschätzt werden, weil sich mit ihr ein theoretisches und ein praktisches Analyseproblem verbinden. Nach wie vor ist nämlich die Frage einer Textartentypologie theoretisch unbefriedigend eingelöst (vgl. zum Beispiel auch Heinemann/Viehweger 1991: 143ff.), unter anderem wegen mangelnder Berücksichtigung komplexer Texte, die einen solchen Namen auch verdienen. Ebenfalls schwierig dabei ist die nähere Herausarbeitung der möglichen Kompatibilität von Themenentfaltung und Verkettungsform. Auch der hypothetische Zusammenhang zwischen Textarten und Formen sozialer Praxis, auf den oben mit der Unterscheidung von Zwecken und Zielen gewissermaßen ein Vorschuß genommen wurde, müßte texttypologisch fundiert werden. In der praktischen Analyse kommt man daher nicht umhin, eine Ad-hoc-Bestimmung vorzunehmen. Für die NS-Presse gilt dabei, daß auch einer eventuellen Hybridität der Textarten (einem innovativen Mix beispielsweise) Rechnung getragen werden muß.

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Christoph Sauer

3. Bedingungen journalistischer Arbeit im Nationalsozialismus und in der Besatzungssituation am Beispiel der DZN In Analogie zur empirischen Schreibforschung, die seit geraumer Zeit an Schreibprozesse im Problemlöseparadigma herangeht, soll hier das journalistische Schreiben als die Lösung spezifischer Probleme rekonstruiert werden. Das trifft fur heutige Journalisten zu, da sie in der Regel die redaktionelle Linie, den politischen Kontext, die vermuteten Reaktionen ihrer Informanten, die Interessen der Inserenten, die Erwartungen der Leser und sonstige Einflüsse in ihren Texten zur Deckung bringen müssen; es trifft jedoch noch viel stärker auf Journalisten in der NS-Zeit zu, die, ob sie nun selber Nazis waren oder nicht, vielen Herren gleichzeitig dienen mußten. Im Vordergrund meiner Beobachtungen stehen dabei nicht so sehr Überlegungen, ob die vielfaltigen Verstrickungen, die aufgezeigt worden sind (Boveri 1965, Sänger 1975, Frei/Schmitz 1989, Köhler 1989, 1995, Köpf 1995), sich - subjektiv gesprochen - hätten vermeiden lassen können, sondern vielmehr, in welcher systematischen Weise die Produktion von Pressetexten auf die institutionellen Bedingungen ihrer Entstehung zurückgeführt werden kann. Das mag im ersten Augenblick und aus heutiger Sicht apologetisch erscheinen, ist es allerdings nicht. Die NS-Propaganda funktionierte als System der repressiven Koordination: Es griff ältere Koordinationsformen (Pressestellen) und Routinen der Informationsbeschaffung (Konferenzen) auf, vereinheitlichte weitergehende Einflußnahmen, auch solche wirtschaftlicher Art (Aufkäufe und Fusionen), und vereinigte in sich gleichzeitig die Möglichkeiten staatlicher Informationspolitik und juristisch-korporativer Tätigkeitsbeschränkungen, und zwar durch Zwang (vgl. Toepser-Ziegert 1984, 1988, Bucher 1991). In einem solchen System waren viel mehr Rollen als nur die beiden extremen des willfährigen oder des feindseligen „Schriftleiters", wie man damals sagte, vorgesehen. Schon das mehr oder weniger systematische Durchblättern einer während des „Dritten Reichs" erschienenen Zeitung dürfte verdeutlichen, daß das Verhaltensspektrum für die Journalisten relativ groß war. Daher ist die unter anderem in der Memoirenliteratur vielgehörte nachträgliche Standardentschuldigung, man habe seinen Lesern „zwischen den Zeilen" Antinazistisches zu verstehen gegeben bzw. einem sei von den NS-Propagandisten in einen neutralen Text etwas Nazistisches „hineinredigiert" worden, nicht glaubwürdig, tut sie doch so, als habe es nur die Pro- oder Kontra-Position gegeben. Die ganze Grauzone würde in dieser Betrachtungsweise entfallen, wiewohl sie die Mehrheit der Fälle abdeckte. Die Steuerungsversuche durch das Propagandaministerium und die untergeordneten und anderen Dienststellen, auch in den jeweiligen besetzten Ländern, waren jedoch wesentlich „realistischer" angelegt und nahmen einen institutionellen Zynismus für sich in Anspruch, der von den apologetischen postfaschistischen Publikationen nicht zur Kenntnis genommen bzw. durch eine forcierte Binaritätsvorstellung überspielt wird. Das „Stinknormale" und die Banalität der alltäglichen journalistischen Arbeit werden nur dann nicht aus der Betrachtung ausgeklammert, wenn weder journalistische Höhepunkte noch Tiefpunkte - beide spielen in Erörterungen und Memoiren eine Hauptrolle - in den Vordergrund treten.

Text und Ideologie

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Generell hat man davon auszugehen, daß den NS-Propagandadienststellen das „Schreiben zwischen den Zeilen" eher willkommen war, da es eine individuelle Färbung der Artikel ermöglichte, die wiederum das gefürchtete Einerlei, das durch die zentral ausgerichtete Steuerung mit erzeugt wurde, zu durchbrechen vermochte, wenigstens ab und zu, in der Routine des Tages. Ironischerweise war, zumindest in den Zeitungen der besetzten Länder, auch die „Begeisterung" derjenigen Journalisten, die gleichzeitig Parteigenossen waren, unerwünscht: Sie untergrub nämlich das Image der Reputierlichkeit, das die Besatzungszeitungen für sich in Anspruch nahmen. Es macht von daher auch keinen Sinn, sich immer nur den „Stürmer" oder den „Völkischen Beobachter" vorzustellen, denn die Besatzungszeitungen versuchten eher, den bürgerlichen Blättern im „Reich" und den Qualitätszeitungen der Länder, in denen sie - als Konkurrenz - erschienen, nachzueifern. Schon der „Europa-Verlag" in Berlin, der als Herausgeber der meisten Besatzungszeitungen fungierte, befleißigte sich einer gewissen Zurückhaltung, da er am Abdruck von Artikeln und Artikelserien in möglichst vielen Besatzungszeitungen rein wirtschaftlich interessiert war. Dieser Umstand mag auch erklären, warum sehr verschiedene deutsche Publizisten aus unterschiedlichsten Anlässen Texte lieferten, die dann in mehreren Besatzungszeitungen abgedruckt wurden. (Leider gibt es immer noch keine publizistikwissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Besatzungspresse, so daß ich mich hier auf solche Charakterisierungen beschränken muß; aus Platzgründen verweise ich auf eigene Veröffentlichungen zur „Deutschen Zeitung in den Niederlanden": Sauer 1983, 1985, 1990, 1994a, 1994b). Die DZN war eine von 27 deutschsprachigen - oder überwiegend deutschsprachigen, weil manchmal auch Texte in der jeweiligen Landessprache abgedruckt wurden - Besatzungszeitungen, die in den besetzten Ländern wirtschaftlich erfolgreich operierten und dabei differenzierte Lesergruppen ansprachen. Ausgangspunkt war in der Regel eine Grundversorgung in deutscher Tageszeitungspublizistik, deren Grenzen einerseits vom Berliner „Europa"-Verlag, einem Ableger des zentralen nationalsozialistischen Eher-Verlags, andererseits von den verschiedenen NS-Propagandadienststellen (im „Reich" und in den besetzten Ländern) gezogen wurden. In den Niederlanden wohnten zum Zeitpunkt des militärischen Überfalls im Mai 1940 etwa 50 000 Deutsche, für die es bereits eine NS-Zeitung gab, die „Reichsdeutschen Nachrichten in den Niederlanden" (vom März 1939 bis Ende Mai 1940). Für diese Deutschen und die militärischen und zivilen Angehörigen der neuen Besatzungsverwaltung, die erst neuerdings in die Niederlande gekommen waren, sollte eine „eigene" deutsche Tageszeitung zur Verfugung stehen, die niederländisch orientiert war. Das zeigte sich unübersehbar, aber unaufdringlich vor allem im Wirtschaftsteil, den Anzeigen niederländischer und deutscher Betriebe, vor allem aber in den Sparten der Zeitung, die sich ausdrücklich dem niederländischen Kontext widmeten, etwa die vierte bzw. sechste Seite „Aus den Niederlanden". (Übrigens erschien die DZN unabhängig von der „Wehrmacht", die eigene Truppenzeitungen gründete bzw. schon besaß). Gleichzeitig richtete sich die DZN an niederländische Leser, und zwar nicht in erster Linie an schon überzeugte Nazis (die bereits organisiert waren und ihre eigene Presse hatten), sondern an die „allgemeinen" Niederländer, die noch gewonnen oder beeindruckt

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oder zumindest zum Stillehalten gebracht werden sollten. Auch besaß die DZN eine gewisse Vorbildfunktion für niederländische Journalisten, deren Zeitungen nach der anfänglichen Entlassung jüdischer Redakteure gerade einem Prozeß der Gleichschaltung unterworfen wurden und die noch daran gewöhnt werden mußten, wie unter den neuen Bedingungen zu schreiben sei. Schließlich war der DZN auch eine Rolle in der England-Propaganda zugedacht worden, galt es doch, einen „äußersten publizistischen Vorposten gegen England" (Leitartikel in der Erstausgabe vom 5.6.1940) zu besetzen und dabei zu berücksichtigen, daß gerade die alliierten Abwehrdienste die deutschen Besatzungszeitungen (eher als die Reichszeitungen) zu buchstabieren pflegten (Haie 1965: 281). Die DZN war eine Neugründung, bei der der „Europa"-Verlag nicht auf Erfahrungen in den Niederlanden selbst zurückgreifen konnte, sondern auf Erfahrungen mit einer Schwesterzeitung in Norwegen. Die Redakteure wurden gewissermaßen zuerst selber in die Niederlande importiert; sie kamen meist vom „Westdeutschen Beobachter" aus Köln und von anderen NS-Zeitungen und waren von der Verlagsspitze abkommandiert worden. Niederländische Sprachkenntnisse spielten keine erkennbare Rolle, sie waren weitgehend nicht vorhanden und wurden erst im Laufe der Zeit angeeignet; eine Flut von Artikeln begleitete diesen Prozeß, Artikel, in die niederländische Wörter und Floskeln hineingepackt wurden, die den Lesern gegenüber belegen sollten, daß man sich (inzwischen) tatsächlich mit Niederländischem auskannte. Die Mehrzahl aller Artikel jedoch war weder niederländisch orientiert noch entstammte sie der in Amsterdam ansässigen DZN-Redaktion oder der gleichgeschalteten niederländischen Presseagentur; vielmehr handelte es sich um Texte von Mitarbeitern des Verlags, auch von Freien Mitarbeitern, Korrespondenten und Korrespondentendiensten, Meldungen des „Deutschen Nachrichten-Büros" und des OKW, Artikel der „Propagandakompanien", kurz: um Texte, die nicht spezifisch für die DZN geschrieben wurden und die in verschiedenen anderen Besatzungszeitungen ebenfalls erschienen sind. Aus diese Sachlage ergibt sich, daß die Komplexität der DZN-Texte, von der ich hier ausgehe, zu einem Großteil aufgrund der Umstände der Produktion erklärt werden kann. Die Inszenierungsqualität ist daher das Ergebnis vielfaltiger organisatorischer und propagandistischer Einflußnahmen, für deren Systematik ein „Modell" noch gefunden werden muß. Die Schwierigkeit der Analyse besteht in folgendem: Sowohl die Erwartung, daß der Nazi-Charakter der Pressetexte jeweils eindeutig erwiesen werden kann, als auch die Vermutung, daß fur alle Erscheinungsformen der Komplexität eine historisch angemessene Erklärung gefunden werden kann, müssen wohl enttäuscht werden. Jedenfalls wäre es ein unrealistisches Ideal der Eindeutigkeit der Textkonstitution, das man nicht einmal heutzutage einzulösen imstande wäre, wenn man darauf bestünde, daß unter den Bedingungen der NS-Pressekoordination monolithische Texte erzeugt worden wären. Daraus ergibt sich der folgende Analyseansatz: Die Texte sind für gestaffelte Leser geschrieben/inszeniert worden, und man kann ihnen die Spuren solcher Staffelungen ansehen. Die Analyse besteht dann darin, diese Staffelungen herauszuarbeiten und zu rekonstruieren. Figur 3 bringt diesen Ansatz mit dem Problemlöseverhalten der DZN-Journalisten zusammen.

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Text und Ideologie Staffelung der DZN-Leser

Problemlösungen der DZN-Journalisten

(a) primäre Leser PropagandaDienststellen

-

Vermeidung des Aneckens Ausweichen Lavieren Bereitschaft zur Anpassung Anspielungen auf NS-Texte Berücksichtigung der Tagesparolen Kompromißbereitschaft

(b) sekundäre Leser Deutsche in den Niederlanden

-

Anbietung von „Lesestoffen" allgemeiner Service einer Tageszeitung Diversifizierung Leserbindung

(c) tertiäre Leser Niederländer

-

Anbietung von spezifischen „Lesestoffen" Aufzeigen des Niederländischen Nachweis einer besonderen niederländischen Kompetenz Diversifizierung

(d) quartäre Leser niederländische Journalisten

- Fortbildungsattitüde: wie „man" unter den neuen Umständen schreiben sollte - Kritik an und/oder Verweisungen auf niederländische(n) Zeitungen

(e) quintäre Leser Engländer, englische Dienste

- Erzeugung einer „Dauerreibfläche" für englische Fragen - Vermeidung offensichtlicher Lügen

Fig. 3: Leser und leserspezifische Problemlösungen der DZN Natürlich sind nicht alle DZN-Texte für eine Vielzahl von unterscheidbaren Lesergruppen gleichzeitig geschrieben worden, obwohl man diese Grundlinie nicht unterschätzen sollte; es gilt auch in diesen Fällen, daß die Sparten- und Rubrikenaufteilung dafür verantwortlich ist, welche Textarten welche Lesergruppen erreichen. Aber andererseits kann man für eine Reihe von Texten davon ausgehen, daß ihr Zweck gerade die Juxtaposition divergenter Leser ist. Dabei dürften sequentielle Mehrfachadressierungen zwar eine Rolle spielen, wie etwa in den auch in der DZN vollständig abgedruckten Reden der „Führer", aber in der Regel geht es doch um die gleichzeitige Ansprache und Information bzw. Koordination der diversen Leser. Einen Unterschied hat man noch zu berücksichtigen. Auch die DZN geht von der pressetypischen Gepflogenheit aus, daß bei Platzmangel eine Reihe von Artikeln von hinten gekürzt werden. Daher kann man zwei übergeordnete Gruppen von Textarten unterscheiden, die, die von hinten kürzbar sein müssen, und die, die als „Ganztexte" konzipiert und gedruckt werden. Nachrichten, Agenturberichte und ähnliche Artikel unterliegen meist dem Prinzip der Kürzbarkeit von hinten; man findet sie in der DZN vor allem auf den ersten beiden Seiten (wie in heutigen Zeitungen auch). Kommentare, Glossen, PK-Berichte (also Berichte der sogenannten „Propagandakompa-

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nien"), Interviews, feuilletonistische Texte und Literatur dagegen werden, wenn sie einer Bearbeitung unterzogen werden, jedenfalls nicht einfach von hinten gekürzt: Im Schlußteil der betreffenden Artikel kann somit etwas Wichtiges stehen, der jeweilige Artikel kann gerade auf eine Schlußpointe hin aufgebaut und formuliert sein. Das „Festhalten" der (verschiedenen) Leser und die Einladung an sie, den Text zu Ende zu lesen, sind somit Teil des journalistischen Problemlöseverhaltens. Da das Verfassen und Bearbeiten journalistischer Texte Kopfarbeit ist, läßt sich deren Steuerung nicht vollständig durchsetzen - wenn man einmal davon ausgeht, daß eine solche Vorstellung überhaupt von den Propagandisten getragen worden wäre. Das System kann nicht verhindern, daß der Einfluß journalistischer Köpfe auf die Texte auch kontraproduktiv (vom Standpunkt der NS-Propaganda) ausfallen kann. Die repressive Koordination erzeugt auf mehreren Ebenen Formen journalistischer Problemlösungen, deren gegenseitige Abstimmung nicht unbedingt in den Koordinaten des Systems verlaufen muß. Daher ist die Aufteilung in primäre bis quintäre Leser eine Modellierung, die dazu beiträgt, die mögliche Unausgegorenheit von Artikeln nicht ausschließlich als „schlechten Journalismus" wahrzunehmen - was sie natürlich schon auch sein kann - , sondern eben als Reflex auf die „Bedienung" mehrerer Leser. Den primären Leser, also die verschiedenen NS-Propagandadienststellen, berücksichtigt der durchschnittliche DZN-Journalist, indem er dafür sorgt, sich nicht bei einer „Sache" - einer Formulierung, einer Botschaft, einem Trend - ertappen zu lassen, die ihm Minuspunkte einbringen könnte; oder indem er seine Folgsamkeit unter Beweis stellt, indem er sprachliche Formen, die als „erwünscht" gelten können, direkt in seine Texte übernimmt. Dem sekundären Leser muß die D Z N in erster Linie Lesestoff bieten, der das allgemeine Interesse an zeitungsformiger Information verkörpert; dazu zählen auch das Aufgreifen von allgemeinen Themen und die ideologische Basisausstattung für Deutsche im besetzten Land im Nordwesten Europas („das Neue Europa"). Dies gilt auch für die tertiären, die niederländischen Leser der DZN, die es zumindest akzeptabel finden müssen, daß eine deutsche Zeitung über Niederländisches im allgemeinsten Sinne des Wortes berichtet. Die Konkurrenz zur bestehenden niederländischen Presse und der Nachweis der eigenen Kompetenz für die Region müssen dabei miteinander verknüpft werden, unter anderem durch die Einführung neuartiger Präsentationsformen oder Textarten. Hiermit hängt auch die Haltung gegenüber dem niederländischen Journalismus insgesamt zusammen: Die DZN versteht sich als „Erzieher" der niederländischen Presse, der quartären Leser, für die sie eine Fülle von „Anregungen" und ein breites Spektrum von Reaktionen in petto hat; immer mal wieder wird zitiert und hervorgehoben oder eben abgelehnt, immer mal wieder gibt man sich ungeduldig oder enttäuscht, immer mal wieder werden einzelne „Leistungen" der niederländischen Presse eigens erwähnt oder verurteilt. Das Interessante daran ist, daß die D Z N in dieser Hinsicht auch die Rolle des primären Lesers der niederländischen Zeitungen auf sich nimmt und dadurch selber aus der Perspektive der NSPropaganda kommentiert. Eine ähnliche Rolle spielt sie auch gegenüber dem mehr oder weniger fiktiven quintären englischen Leser, der in zahlreichen Kommentaren, Glossen und Leitartikeln, aber auch in Meldungen und Berichten explizit an-

Text und Ideologie

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gesprochen wird (zumeist in der Person Churchills) und dem man jedesmal aufs neue zu verstehen gibt, daß man auf „seine" Propaganda nicht hereinfalle. Das weniger „Lügenhafte" an den Besatzungszeitungen, auf das Haie (1965: 281) ausdrücklich hinweist, übersetzt sich im Falle der DZN in eine „indirekte Leseanweisung", da in den England betreffenden Artikeln vorgeführt wird, wie aus offiziell verlautbarten Informationen unter Kriegs - und Geheimhaltungsbedingungen doch realistische Einschätzungen der Lage herausgefiltert werden können. (Niemand kann die deutschen und niederländischen DZN-Leser daran hindern, die Informationen über die eigene Seite mit genau denselben Rückschlüssen zu versehen). Damit sind die Spielräume skizziert, mit denen die DZN-Journalisten zu arbeiten und zu rechnen hatten; sie hatten vielen Herren zu dienen. Auf diese Weise entstanden fast fünf Jahre lang Texte, deren Qualität gemischt und uneinheitlich war, aber getragen von dem Bemühen, es den vielen Lesern recht zu machen. Die Bedingungen, unter denen geschrieben werden mußte, trugen somit zur Komplexität der Texte bei, vor allem zu ihrer Multidimensionalität.

4. „Ein Niederländer in der Waffen-SS schreibt uns" Die Lese- und Schreibverhältnisse der DZN sollen nun an einem Beispiel verdeutlicht werden. Notwendige Informationen werden nachgeliefert, hier reicht zur Angabe des allgemeinen Rahmens aus, daß nach dem Beginn des „Rußlandfeldzugs" unter den „germanischen" besetzten Völkern ein Werben um Freiwillige für die „Waffen-SS" einsetzte. Gleichzeitig wurden verstärkt PKBerichte aufgenommen, die die „Front" hautnah präsentierten sollten. Für die Analyse ist es völlig gleichgültig, ob es diesen Kriegsberichter tatsächlich gegeben und ob es sich um einen Niederländer gehandelt hat. Auch die möglichen Bearbeitungen durch die Amsterdamer Redaktion brauchen nicht berücksichtigt zu werden: Der Text ist als Resultat der spezifischen Schreibverhältnisse der DZN zu betrachten. Die Inszenierung des Textes entspricht jedenfalls einer für alle möglichen Leser erkennbaren Situation, bei der niederländische Soldaten im Osten über die Verhältnisse in ihrem eigenen Land nachdenken, sich als Vertreter der neuen Generation fühlen und diejenigen kritisieren, die sie als „gewisse Kreise von gestern" (E) bezeichnen. (Alle Verweise auf den Beispieltext ab hier unter Angabe des Buchstabens des jeweiligen Abschnitts). Es gibt mithin einen textkonstitutiven Gegensatz zwischen „Gestern" und „Heute", der sich durch die gesamten Formulierungen zieht und weitere Trennungslinien erwarten läßt. Diese Trennungen beziehen sich auf die besetzten Niederlande und nicht auf die Lage der SS-Soldaten im Osten. Die Textinszenierung ist so angelegt, daß aus dem Osten heraus auf die Niederlande Einfluß genommen wird, und zwar in Form eines „Gesprächs" oder einer „Diskussion", deren einzelne (Gesprächs-)Züge vorgeführt werden.

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Christoph

Deutsche Zeitung in den Niederlanden (DZNj Nr. 121 / 3. Oktober 1941: 3

Mit der SS-Division Wiking Gedanken eines niederländischen Freiwilligen Ο s t f r ο η t, im September [A] P.K. En Niederländer in der WaffenSS schreibt uns: Es ist ein weiter Weg von der Steppe der Sowjetunion nach Deutschland und darüber hinaus bis nach den Niederlanden. Je mehr wir den Bolschewisten auf den Leib rücken, desto schwieriger wird auch die Verbindung mit der Heimat, und oft haben wir einander abends, wenn wir in unseren Schützenlöchern lagen, die Frage gestellt: Wie mag es nun zu Hause aussehen? [B] Im Laufe der letzten Kriegsmonate mag die Verbindung etwas locker geworden sein, aber abgerissen ist sie nicht. Denn einmal wird ja der Tag kommen, an dem wir wieder durch Amsterdam und Den Haag marschieren werden; dann werden wir erzählen von den Erlebnissen und von den Kameraden, die im Kampf gegen den bolschewistischen Erbfeind den Heldentod starben, während wir mit brennendem Interesse den Berichten über die Lage an der inneren Front lauschen werden. [C] Noch ist es nicht so weit; aber schon jetzt soll die Welt wissen, daß in den Reihen der SS-Division Wiking zusammen mit den Söhnen der anderen germanischen Stämme Tausende von Niederländern kämpfen als politische Soldaten, bei denen das Militärische zwar zur Zeit im Vordergrund steht, die darüber hinaus aber Träger einer scharf umrissenen Idee sind, die eben in unserer Division zum ersten Male Fleisch und Blut geworden ist. Es leuchtet ein, daß von dem SS-Gedanken an erster Stelle diejenigen Teile unseres Landes ergriffen wurden, die durch Lage und Überlieferung die Verbindung mit dem Reich nie in dem Maße verloren haben, wie das etwa bei den beiden holländischen Pro-

Sauer

„Die Seite aus den Niederlanden"

vinzen der Fall war, wo unter dem Bnfluß der Juden eine starke Verfilzung mit liberalist isch-marxistischem Denken stattgefu nden hatte. [D] Weitaus die meisten Freiwilligen kamen aus den Reihen der NSB, daneben gab es auch eine Anzahl Einzelgänger und solche, die kleineren nationalsozialistischen Gruppen entstammten. Alle Unterschiede, die anfänglich etwa vorhanden gewesen sein mochten, verschwanden im Laufe der gemeinsamen Ausbildung, und der gemeinsame Einsatz gegen den Bolschewismus führte schließlich zu einer Frontgemeinschaft, wie unser Volk sie nach dem spanischen Freiheitskrieg wohl niemals mehr gekannt hat. [E] Wir verstehen nun ohne weiteres, daß gewissen Kreisen von gestern, die hoffen, daß die Geschichte noch einmal den ganzen Weg bis zum alten ParteienStaat zurücklaufen wird, eine Tatsache wie die SS-Division Wiking etwas unbequem ist; denn hier liegt ja der lebendige Beweis für die Kraft unserer Idee vor, da wohl niemand im Ernst behaupten kann, daß unsere Toten und Verwundeten aus Opportunismus heraus ihr Blut gaben. Vielleicht wird man es nun auf eine andere Tour versuchen und sagen: Die da draußen mögen zwar ganz tapfere Leute sein, die es ehrlich meinen, aber sie kämpfen eben für Deutschland, sind Deutsche geworden, und gehören demnach dem niederländischen Volk nicht mehr an. Aber auch diese Rechnung ist falsch. Die Wahrheit ist vielmehr, daß in den Kasernen und auf dem Truppenübungsplatz ein neuer niederländischer Typus geprägt worden ist, der sich vor Swerdlikowo, am Ross und bei Dnjepropetrowsk in schwersten Kämpfen, als es um das Letzte ging, hervorragend bewährt hat. Dieser soldatische Niederländer hat nur allerdings mit dem satten Spießer, der so lange als der typische Vertreter des niederländischen Volkes galt, herzlich wenig mehr zu tun. Gesund an Leib und Seele ist er vom Ei-

Text und Ideologie genbrödler zum guten Kameraden geworden, der einen gesunden Individualismus beibehalten hat und sich angesichts der Gefahr durch eigene Initiative, Kaltblütigkeit und absolute Zuverlässigkeit auszeichnet; hinzu kommt eine ausgesprochene technische Begabung und die lebensnotwendige Härte, die unserem Volk bisher fehlte. So hat sich hier ein neuer soldatischer Typ herausgebildet, der erwartungsgemäß den Niederdeutschen recht nahe kommt, der aber dennoch seine besonderen eigenen Merkmale aufweist. Deutsche Offiziere waren immer wieder erstaunt über den köstlichen, trockenen Humor und eine oft geradezu zur Kampfeswut gesteigerte Freude am Kampf, die unsere Jungens auch in der heikelsten Lage nicht im Stich ließ. [F] Dabei darf nicht vergessen werden, daß der niederländische Freiwillige unter ganz anderen Umständen als der deutsche kämpft; während dieser die Heimat geschlossen hinter sich weiß, kämpft jener, ähnlich wie der deutsche Soldat im Weltkrieg, mit der Gewißheit, daß zu Hause irgendetwas nicht stimmt und er sich dort nur auf eine verhältnismäßig noch geringe Anzahl von Getreuen verlassen kann. Würde uns jedoch daraufhin jemand fragen: „Ja, seht Ihr, die Ihr doch eine Minderheit darstellt, unter diesen Umständen denn nicht die Aussichtslosigkeit Eures Kampfes für das niederländische Volk ein?" So würden wir etwa folgendes an tworten. [G] Erstens. Ähnlich wie der Nationalsozialismus gerade in Niederdeutschland verhältnismäßig spät Allgemeingut geworden ist, so braucht auch unser Volk Zeit, um sich umzustellen. Sicher ist es aber auch, daß, wenn dieses Volk einmal die Richtigkeit unserer Idee erkannt hat, es sich voll und ganz mit der gleichen Zähigkeit für sie einsetzen wird,wie das schon jetzt bei den niederländischen Freiwilligen der Waffen-SS der Fall ist.

141 Schon jetzt können wir jedoch sagen: es fängt an zu dämmern! Mit Freuden haben wir vernommen, daß seit dem Beginn des Feldzuges gegen den Bolschewismus auch bei uns zu Hause immer weitere Kreise einsehen, daß dieser Krieg kein deutscher Krieg im engeren Sinne ist, sondern einer, an dessen Ende die europäische Enheit steht. Seinen sichtbaren Ausdruck findet dieser Umschwung in der niederländischen antibolschewistischen Legion, und wir zweifeln nicht daran, daß die Freiwilligen dieser Legion nicht nur im Kampf gegen Stalin, sondern im Laufe der Zeit auch bei der Vernichtung der Londoner Plutokraten an unserer Seite stehen werden. [H] Zweitens. Entscheidend war in der Geschichte niemals die Zahl, sondern immer die Einsatzbereitschaft, und gerade diese, der Wille, für ihre Idee das Leben einzusetzen, fehlt unserem innenpolitischen Gegnern; sie hoffen vielmehr auf andere und warten ab, und bis jetzt noch mit ihnen, stumpfsinnig und bokkig, die breiten Massen. Aber mit der Kraft unserer Idee werden wir auch diese überzeugen, und es wird daraus wieder ein gesundes Volk entstehen, genau so wie das bei den marxistisch verhetzten Massen Deutschlands möglich war. Und mit uns werden sich die deutschen Kameraden, an die uns hier in der Sowjetunion das unzertrennliche Band der Frontgemeinschaft bindet, dafür einsetzen, daß unser Volk in dem werdenden Europa wieder den Ratz erhält, der ihm kraft seines Könnens und kraft seiner Leistungen zusteht. [I] Oder aber glaubt man im Ernst, und jetzt fragen wir unsere Parteipolitiker von gestern, daß die Männer, die bei Swerdlikowo zu siegen wußten, vor ihnen und ihren bereits schwankenden Anhängern zurüc kweichen werden? Kriegsberichter Dr. D. Tappenbeck

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Für die (für alle?) Leser ergibt sich daraus eine Multiperspektivität, da zumindest bereits Überzeugte und Nicht-Überzeugte - hinsichtlich der „europäischen Einheit" (G) - angesprochen werden und Diskussionen mit und unter Niederländern erwähnt bzw. stimuliert werden. Für niederländische Leser kommt dadurch die wichtige Frage nach der Zukunft des eigenen besetzten Landes zum Tragen, fur die deutschen Leser wird aufgezeigt, daß die Niederländer in Bewegung kommen und daß möglicherweise so etwas wie eine „Kampfzeit"-Atmosphäre (mit welchem Begriff die Nazis die politisch-paramilitärischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik bis zur Machtübergabe bezeichneten) am Entstehen ist. Die Textart PK-Bericht ist den Lesern der DZN vertraut, erschienen doch von Anfang an - seit Juni 1940 - immer wieder solche Artikel und Serien. Allerdings ist der ausgewählte Text eher untypisch zu nennen. Normalerweise werden nämlich Kampfeinsätze geschildert, in der Regel mit siegreichem Ausgang, die fast immer damit enden, daß die kampferprobten Soldaten oder die Panzer in die aufgehende Sonne weiter zu neuen Zielen vorstoßen. Sie dienen dazu, Stimmungsbilder von Kampfhandlungen zu vermitteln, die sie in die Heimat - oder die besetzten Gebiete - hineintragen, um eine „innere Front" (B) zu errichten. Im Gegensatz zum Namen „Bericht" handelt es sich sehr oft um Meinungsmacherei und Appelle (vgl. dazu Koszyk 1972: 432—434), also persuasive Formen, die Bestandteil der großen Propagandalinie sind. Auch der vorliegende Text beugt sich einer solchen Linie. Er klinkt sich in die vorauszusetzende Frage der Niederländer nach der Zukunft ihres Landes ein und vermittelt Standpunktbestimmungen, die als Ergebnis eigener niederländischer innenpolitischer Veränderungen dargestellt werden. Es bleibt jedoch nicht bei einer Darstellung - der Text versucht den Eingriff in bestehende politische und gesellschaftliche Erfahrungen der Niederländer. Zu seinem Inszenierungsmanagement zählt auch die Tatsache, daß der Artikel als „Gedanken eines niederländischen Freiwilligen" aufgemacht ist, die von der DZN lediglich wiedergegeben werden. Jedes „wir" im Text ist dadurch eindeutig auf den Verfasser und die Niederländer beziehbar, ohne daß der Besatzer darin eigens vorzukommen braucht. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der die Besatzungssituation und die Freiwilligenwerbung unter Niederländern umgeben wird, ist ein strategisches Verfahren, das den niederländischen Lesern demonstriert, daß in der DZN ihre Themen behandelt werden.

5. „Problemlösende" Inszenierungsformen Dem Artikel wurde der Untertitel „Gedanken eines niederländischen Freiwilligen" mitgegeben. Das ist eine recht vage Umschreibung, jedenfalls eine, die keine genaue Festlegung der Textart erlaubt. Man kann erwarten, daß gewisse argumentative Züge eine Rolle spielen, wahrscheinlich auch emotionale Bedeutungskonstellationen. Hinzu kommen die politisch-gesellschaftlichen Bedingungen, die überhaupt das Verfassen von DZN-Texten prägen. Auch diese haben als Parameter zu gelten: zur genaueren Einordnung oder Kennzeichnung des in Frage stehen-

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den Textes. Diese Bedingungen erzeugten hier eine Mischform, eine „Integration": Nicht nur geht es um einen wie auch immer „verwässerten" PK-Bericht, sondern um eine argumentative und emotionale Hinwendung zu Niederländern, für die stellvertretend eine laufende oder zum Laufen zu bringende Auseinandersetzung um den künftigen Kurs des Landes ausgetragen wird. Dies hätte auch in Textarten stattfinden können, die weniger „integrativ" vorgegangen wären. Hier ist ganz offensichtlich eine komplexe Form der Vertextung gewählt worden, wahrscheinlich wegen der undeutlichen Entwicklung, angesichts deren die DZN eine Festlegung vermeiden wollte oder sollte. Der Artikel selber verkörpert daher nicht eine Stimme, sondern ein Stimmengewirr. Darin kommt nicht nur zum Ausdruck, daß die Verschachtelungen des journalistischen Problemlöseverhaltens eine solche multidimensionale Schreibweise gewissermaßen erzwingen, sondern auch, daß die Situation der Niederlande im künftigen NS-dominierten „Neuen Europa" noch nicht in die Textur eingegangen ist: Im Grunde haben die Niederlande noch keinen Platz in diesem Europa. Sie haben daher auch noch keine einheitliche „Stimme"; wenigstens zeigt der Text, daß eine Eindeutigkeit und Einheitlichkeit noch nicht gegeben sind. Er zeigt auch, daß es eine Entwicklung gibt, eine Art Avantgarde bestimmter Niederländer, die sich als Vorreiter dieses Europas verstehen, eines Europas unter SSVorzeichen, und ihre Landsleute mitreißen möchten. Diese Textur ermöglicht sowohl Werbung (für dieses „Neue Europa") als auch Drohung (an die Adresse der „Parteipolitiker von gestern", I). Darin kommt auch ein innerniederländischer nationalsozialistischer Gegensatz zum Ausdruck. In dieser Hinsicht ist der Artikel durchaus realistisch: Es gibt nämlich - gerade zum Zeitpunkt seines Erscheinens - Pläne der niederländischen Nazis der NSB (= Nationaal-Socialistische Beweging), die für die Niederlande einen eigenständigen Status im „Neuen Europa" propagieren, und es gibt SSAnhänger innerhalb der NSB, deren Vorstellung auf einen „Gau Westland" gerichtet ist, als einen Teil des „Großgermanischen Reichs", in das die Niederlande auf die Dauer überführt werden sollen. Zwischen beiden Strömungen kommt es zu wachsenden Spannungen und einer sich immer deutlicher manifestierenden Gegnerschaft. Der Besatzer mischte sich insofern ein, als er die NSB immer weiter von ihren ursprünglichen Zielen abzudrängen und die Vertreter der SSVorstellung zu unterstützen versuchte. (Jedes Zugeständnis der Besatzungsverwaltung an die NSB-Führung hinsichtlich der Errichtung von bestimmten Verwaltungseinheiten als Vorläufer einer zukünftigen eigenen Regierung wird mit deren Ver-SS-ung erkauft, also der Aufgabe der eigentlichen Langzeitziele). Der Text nimmt dies auf subtile Weise schon vorweg. Er macht nämlich einen Unterschied zwischen der „SS-Division Wiking", aus deren Sicht der PK-Bericht geschrieben wurde und die schon im ersten Jahr der Besatzung gegründet worden war, und der „niederländischen antibolschewistischen Legion" (G). Die „antibolschewistische Legion" ist eine der NSB aufgedrängte Initiative, die sie erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion auf „Anregung" des Reichskommissariats ergriffen hatte. Im Text wird von einer Konkurrenz zwischen der SS-Division Wiking und der Legion ausgegangen, wo memoriert wird, daß ursprünglich viele NSB-Freiwillige sich für die Waffen-SS gemeldet hatten (D), bevor sich dann der

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„SS-Gedanke" (C), der übrigens nirgendwo näher erläutert wird, durchgesetzt hätte. Diese Art des Aufgreifens der Gegensätze unter den niederländischen Nazis einerseits der NSB, andererseits der SS innerhalb der NSB - könnte die Erfüllung eines spezifischen Propagandaauftrages darstellen; damit wäre den Wünschen der primären Leser Folge geleistet. Zugleich ist dies die Skizzierung einer Entwicklung, die auch für deutsche Leser, die sekundären, von Interesse sein könnte, weil diese sich in den zunehmend unübersichtlich werdenden niederländischen Verhältnissen besser auskennen wollen. (Übrigens hat auch der Vergleich zwischen der Entwicklung in den Niederlanden und „Niederdeutschland" (E), auf den ich unten noch einmal zu sprechen komme, die Funktion einer Wiedererkennung für deutsche Leser). Die eigentlichen Leser, für die der Text geschrieben wurde, sind die tertiären, die Niederländer. Um Themen, die sie bewegen, geht es, die Lage an der „inneren Front" (B) steht im Mittelpunkt. Der tatsächlichen Entwicklung entsprechend geschildert ist das Widerstreben breiter Kreise, die sich mit einem nationalsozialistischen „Neuen Europa" nicht anfreunden wollen: das „liberalistisch-marxistische Denken" (C), „gewisse Kreise von gestern" (E), der „alte Parteienstaat" (E), die „satten Spießer" (E), die „innenpolitischen Gegner" (H) sowie „stumpfsinnig und bockig, die breiten Massen" (H) und „unsere Parteipolitiker von gestern" (I). Das sind somit die Positionen, die angegriffen bzw. im Kontext als überholt und überholbar bezeichnet werden. Unübersehbar ist die Bedrängung der Niederländer, die dazu gebracht werden sollen, die neuen Lebens- und politischen Umstände zumindest zu akzeptieren, wenn nicht gar aktiv zu unterstützen. Alle aktuellen niederländischen Themen, also die Sorge um die Zukunft, kommen vor, aber sie werden mit weiteren Themen verknüpft: mit dem ideologischen Antibolschewismus, der sich traditionell auf eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft in den Niederlanden stützen kann (erst die Exilregierung in London hat die Sowjetunion diplomatisch anerkannt!), mit dem „Neuen Europa", dessen Werden als selbstverständlich erscheint, und mit dem „neuen niederländischen Typ" (E), aus dem die zukünftigen Politiker sich rekrutieren sollen. Ausgeklammert bleibt eine andere traditionelle Frage, die nach den Kolonien, für die das „Neue Europa" zwar Interesse zeigt (in anderen DZN-Artikeln), die aber zum aktuellen Zeitpunkt nicht erreichbar sind, weil die Verbindungen unterbrochen waren. Für die quartären Leser, die niederländischen Journalisten, ist der Artikel höchstens am Rande interessant; er gibt ihnen zwar kein Modell vor, dem sie nacheifern könnten, aber er thematisiert die Erwartung innerniederländischer Auseinandersetzungen, die im Laufe der Zeit die Aufmerksamkeit der Presse finden werden oder müssen. Ganz allgemein kann natürlich durch einen solchen Text die Übernahme von weiteren PK-Berichten auch in der niederländischen Presse propagiert werden. Aber es gibt auch einen inhaltlichen Gesichtspunkt, der nicht ganz unerheblich ist: Die „gewissen Kreise von gestern" und der „alte Parteienstaat" (beide E) gerinnen zum Feindbild hier nur kraft der Tatsache, daß sie eine Presse damals - gehabt haben. Insofern ergibt sich hier eine Warnung, wenn nicht gar Drohung gegenüber den niederländischen Journalisten, sich nicht diesen „alten" Verhältnissen schreibend zuzuwenden. Der quintäre Leser kommt nur einmal kurz

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vor, da die Einbeziehung der Niederländer in den Kampf gegen die „Londoner Plutokraten" (G) erwähnt wird, erst gegen Moskau, dann gegen London - hierbei handelt es sich eher um eine Referenzerweisung an die primären Leser, denen dies als Nachweis der Kompetenz der DZN für die Spezifik der niederländischen Region dienen kann. Die Textart ΡK-Bericht erweist ihre journalistische Stärke in der Wahl von gewissen Freiheitsgraden. Verfasser und/oder Bearbeiter inszenieren einen gesellschaftlichen Prozeß, der die Niederlande erschüttern soll; sie tun es aus der Perspektive solcher Niederländer, die den „SS-Gedanken" und das „Neue Europa" miteinander verknüpfen. Da kommt vieles in Bewegung.

6. Rätsel für Niederländer oder Über die Erzeugung von Lesweisen Man könnte zu diesem PK-Bericht jetzt mechanisch je nach adressiertem Leser eine spezifische Lesweise entwickeln, d.h. eine zusammenhängende Bedeutungszuschreibung, deren Kohärenz sich aus dem Abgleich mit den jeweiligen journalistischen Problemlösungen ergibt. Dies wurde in verkürzter Form gerade vorgeführt. Spiegelbildlich zu den gestaffelten Lesern hätte man damit „gestaffelte Interpretationen" konstruiert, die sich unter günstigen Umständen eventuell auch empirisch nachweisen ließen. Der Ansatz der Staffelung wäre damit plausibilisiert. Auf diese Art und Weise hätte man jedoch nur einen einzigen Aspekt der rezipientenseitigen Multiperspektivität verwirklicht (siehe oben Fig. 1); denn sie bezieht sich namentlich auf verschiedene Handlungsverkettungen für die gleichen Adressaten. Der Text ist heterogen, nicht nur weil er mehrfachadressiert ist, sondern auch, insofern er die (tertiären) niederländischen Leser mit Widersprüchen konfrontiert, die für sie nicht ohne weiteres auflösbar sind. Dieses Schwanken in der Festlegung dessen, was gemeint sein könnte, erzeugt für die niederländischen Leser eine eigentümliche Ambivalenz: Sie wirkt wie eine Verrätselung, angesichts deren es besonderer (interpretatorischer) Anstrengungen bedarf, zu einer zum aktuellen Zeitpunkt sinnvollen und realistischen Bedeutungszuschreibung zu gelangen. Derartige Verrätselungen auferlegen den (tertiären) Lesern bestimmte Leseattitüden, die dem Raten oder Puzzeln gleichkommen. (Für beide Attitüden finden sich übrigens in der Memoirenliteratur - Beispiel Klemperer aus der Sicht der Opfer, Boveri aus der der Journalisten - genügend Belege). Somit kann das „Rätsel-Angebot" der DZN im allgemeinen und dieses PK-Berichts im besonderen an die Niederländer als eine grundlegende Perspektivierung betrachtet werden. In einer solchen „Rahmung", mit Goffman zu sprechen, spielen Erwartungen eine Rolle, die, da sie verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen angehören, für die Lektüre unterschiedliche Phantasien mobilisieren. Die Leser müssen auf soziale „Erfahrungen" zurückgreifen und diese gleichzeitig modifizieren, wenn sie an den Text herangehen. Dadurch ist ihre Involviertheit in die eigentliche Lektüre ungleich größer als zu Zeiten „unproblematischer" Informationsangebote. Befürch-

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tungen, die die Niederländer haben, „beflügeln" nun einmal die Ratetätigkeit. Auf diese Weise steckt die Perspektivierung den aktuellen Rahmen des Textes ab, sie betont die Relevanz des Geschriebenen und legt die Akzente fest, auf die die Leser hauptsächlich achten sollten. Schließlich geht es um Themen, für die bei den Niederländern im Herbst 1941 vehementes Interesse vorausgesetzt werden kann; teils handelt es sich um Befürchtungen über die Zukunft eines eigenständigen Staates der Niederlande, teils um Hoffungen auf innerniederländische Veränderungen, teils um Einschätzungen, wie weit die faktische Zusammenarbeit mit dem Besatzer reichen darf und ab wann sie in Kollaboration umschlägt. Alle diese thematischen Fragmente bilden den „Hintergrund" des PK-Berichts und bewirken, daß der Text, wie rudimentär auch immer, einen gewissen argumentativen Charakter erhält: Er läßt sich argumentativ auf die Niederländer ein, und er bildet eine Argumentation oder Diskussion mit „gewissen Kreisen" ab, bis hin zur Numerierung der Argumente mit „erstens" (G) und „zweitens" (H). Die Enträtselung, zu der die Leser stimuliert werden, spitzt sich gegen Ende des Textes auf den Nachvollzug der Argumente zu. Diejenigen, die ihnen zustimmen können, werden zugleich vom „SSGedanken" (C) vereinnahmt, und die ihnen nicht zustimmen können, müssen sich genau überlegen, ob sie den „alten Parteienstaat" (E) zurückhaben oder doch mit einem „neuen niederländischen Typ" (E) als Eintrittskarte zur „europäischen Einheit" (G) vorliebnehmen wollen. Dem Text wohnt daher eine gewisse Unsicherheit inne, wie man das nennen könnte, hinsichtlich seiner Überzeugungskraft. Daher greift er auch ständig zum Mittel der Vergewisserung, indem er dasjenige, das „gesagt, erzählt, behauptet" werden kann, auch explizit formuliert und zu einer Art metakommunikativen Schreibens umfunktioniert, die ganz untypisch für die Textart ist. (Siehe unten den folgenden Abschnitt zu dieser Eigentümlichkeit der Schreibweise). Über die Themen-Bewegungen tauchen in dem PK-Bericht verschiedene niederländische Diskurse auf. So findet man an zentraler Stelle den Hinweis auf den Freiheitskampf der Niederlande im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, den „spanischen Freiheitskrieg" (D). Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Niederländern werden ebenfalls mehrfach angeschnitten (E,F,G,H). Auch wird das Image der Niederländer bemüht: hier der „satte Spießer" (E), der „Eigenbrödler" (E), dort die „Zähigkeit" (G) und die „Einsatzbereitschaft" (H). Die Gemeinsamkeit der Niederländer, ihre niederländische Identität, wie man diesen übergeordneten Diskurs bezeichnen könnte, wird in verschiedenen Sub-Diskursen angesprochen, die alle als Thematisierungsquellen evoziert werden. Dies zeigt die folgende Übersicht:

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- die „Verbindung mit dem Reich" (C) vor 1648 unter bewußter Verwendung der Ambivalenz des Terminus „Reich", - der „spanische Freiheitskrieg" (D), mit dem der „gemeinsame Einsatz gegen den Bolschewismus" verglichen wird, - der „Parteienstaat" (E,I), dem die niederländische Demokratie pauschal gleichgesetzt wird, - der niederländische Antikommunismus (B,C,D,G,H), der hier freilich konsequent als „Bolschewismus" bzw. „Antibolschewismus" erscheint, - der Gegensatz zwischen der SS-„Minderheit" (F) und der Mehrheit der „Abwartenden" (H), - schließlich die Einbeziehung der Niederlande in das „Neue Europa" (G,H). Fig. 4: Niederländischer Identitätsdiskurs als Themenlieferant

Der Text erweist sich damit als Kenner der niederländischen Szene. Indem praktisch alle damals „gesellschaftsfähigen" Themen aufgegriffen werden, kann er auch einen möglichen Vorwurf parieren, die DZN wisse in niederländischen Angelegenheiten nicht genau Bescheid. Diese Betrachtungsweise führt dann zu einer Lesweise, die als Einladung - oder besser noch: Aufforderung - an niederländische Leser gestaltet ist: Unter den obwaltenden Umständen der Besatzung und der Ausweitung des Krieges nach dem Osten haben sich die Niederländer auf Dauer mit einem vom „Reich" dominierten Europa auszusöhnen; wie es früher war, werde es nicht mehr sein, daher müsse der niederländische Einfluß auf dieses „werdende Europa" (H) von der „Einsatzbereitschaft" (H) abhängen, und in dieser Hinsicht sei es allemal besser, sich auf die Seite des „gesunden Volks" (H) zu schlagen. In diese Lesweise eingelagert sind allerdings vielfältige Anspielungen auf nationalsozialistische Texte und Vorstellungen, die vor allem in der Wortwahl realisiert werden. Die Niederländer sollen gewissermaßen die erste Lesweise nicht nachvollziehen können, ohne weiterreichenden Einflüssen ausgesetzt zu sein. Solche Einflüsse gehen in erster Linie von den Ideologemen aus. So müssen die Leser daran gewöhnt werden, einen „bolschewistischen Erbfeind" (B) wahrzunehmen, wo sie früher an die Sowjetunion gedacht haben. In die gleiche Kerbe schlagen die Hinweise auf „liberalistisch-marxistisches Denken" (C) und die „marxistisch verhetzten Massen" (H); die Niederlande selber werden dadurch in die Auseinandersetzungen einbezogen. Es entsteht das Bild einer politischen „Minderheit" (F), die sich, angespornt von den Erfolgen der Nazis in Deutschland und vor allem in Niederdeutschland, auf einem Siegeszug befindet, an dessen Ende, das allerdings offenbleibt, jedenfalls der „alte Parteienstaat" (E) und die „Parteipolitiker von gestern" (I) hinweggefegt sind. Die mitlaufende Abrechnung mit dem „Einfluß der Juden" (C), dem „Opportunismus" (E), den „satten Spießern" (E) und den „Eigenbrödlern" (E) beschwört antibürgerliche Ressentiments herauf und gibt sich antikapitalistisch. Der angepeilte „Umschwung" (G) vertraut ganz auf ein Politmodell, das man einen „umgedrehten Marxismus" nennen könnte: Eine Avantgarde, genannt „politische Soldaten" (C), sorgt dafür, daß „Unterschiede" (D) und politische Gegensätze allmählich verschwinden, bringt einen „neuen soldatischen Typ" (D) zur Geltung, bildet auf diese Weise eine Gemeinschaft von „Getreuen",

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die sich klar werden darüber, „daß zu Hause irgendetwas nicht stimmt" (F), und führt auf die Dauer zur „Überzeugung der Massen" (H), während die „Anhänger" (I) der bürgerlichen Parteien geringer werden. In dieser ideologischen Auswahl der propositionalen Mittel, die in jedem Einzelfall auch anders hätte getroffen werden können (das ist das Kriterium, das man zur Analyse benötigt), erscheint ein Niederland, das dem größeren Deutschland in vielem nacheifert, vor allem in der politischen Entwicklung, das aber zugleich gewisse Chancen hat, einen „Platz im werdenden Europa" (H) zu erhalten. Diese zweite Lesweise verbindet das Zuckerbrot des „Neuen Europa" mit der Peitsche der Nazifizierung, dem Ticket zur möglichen Teilhabe (als Juniorpartner Deutschlands). Das dürfte für die meisten niederländischen Leser keine wirkliche Überraschung mehr sein, nach mehr als eineinhalb Jahren Besatzungserfahrung. Dennoch handelt es sich nicht einfach um eine Wiederholung des Bekannten. Sondern der PK-Bericht ist durchzogen von einem militaristischen Grundzug; die Zeiten werden härter. So erscheint der Zustand der Niederlande folgerichtig als „innere Front" (B), die wenigstens teilweise einer „Frontgemeinschaft" (D,H) entspricht. Die Handelnden sind Soldaten: „politische Soldaten" (C), „soldatische Niederländer" (E), „gute Kameraden" (E), voll „Härte" (E) und „Freude am Kampf (E), die den „Heldentod" (B) sterben oder jedenfalls über „Tote und Verwundete" (E) berichten. Der „neue soldatische Typ" (E) gewöhnt die „Heimat" (A,F) daran, daß er Forderungen anmeldet: Die Entscheidung wird dabei zwischen der SS-Division, dem „SS-Gedanken" (C), und der „niederländischen antibolschewistischen Legion" (G) fallen, die, das sagt die DZN, noch dazu gebracht werden muß, die „Vernichtung der Londoner Plutokraten" (G) ebenfalls auf ihre Fahnen zu schreiben. Diese dritte Lesweise trägt das Kriegerische wieder in die Niederlande hinein, die zwar im Mai 1940 eine Niederlage erlitten hatten und anschließend besetzt worden waren, danach aber das Gefühl entwickeln konnten, mit den eigentlichen Kriegshandlungen wenig zu tun zu haben. Die militaristischen Ideologeme ziehen die Schlinge enger. An diesem Text wird der Werkzeugcharakter des Ideologischen sichtbar. Im Gegensatz nämlich zu Vorstellungen, daß ideologische Texte in erster Hinsicht irgendwie manipulativ seien, geht es hier eher um propositionale Mittel. Sie werden recht sparsam eingesetzt. Der Verfasser zieht an einigen Stellen, die sich offentlichtlich dafür eignen, typische Ideologeme heran. Er tut es aber nicht überall. Er ist sich offensichtlich einer gewissen „Schmerzgrenze" bewußt, er scheint genau zu wissen, daß es nichts nutzt, in dieser Hinsicht zu übertreiben. Er schreibt sich - oder die Redaktion in Amsterdam arbeitet sich - an diese Schmerzgrenze heran. Würde man keine Ideologeme verwenden, wären die Propagandadienststellen unzufrieden und vielleicht auch die deutschen Leser, würde man zu viele Ideologeme verwenden, hätte man die niederländischen Leser und die Abwartenden vergrault und sich selbst unglaubwürdig gemacht. Der PK-Bericht greift insgesamt zu einem metonymischen Verfahren, da er alle niederländischen Entwicklungen als „pars pro toto" ordnet: Alles, was geschieht, erscheint als Wegmarke zum „Neuen Europa". Die drei herausgearbeiteten Lesweisen tragen jede auf ihre Art dazu bei, bei den niederländischen Lesern diesen Entwicklungsgedanken als

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Wahrnehmungsprinzip zu verankern, hinsichtlich der niederländischen Identität, hinsichtlich des Prinzips von Zuckerbrot und Peitsche, hinsichtlich der militaristischen Verschärfung.

7. Wer schreibt? Eine Eigenart des Textes ist die Tatsache, daß er an vielen Stellen das Sprechen, Fragen, Sagen, Erzählen, Berichten, Kommentieren, Vermuten, Argumentieren usw. nicht lediglich vollzieht, sondern expliziert und somit metakommunikativ markiert. Es geht dabei um folgende Formulierungen: (A) (B) (C) (C) (E) (E) (E) (E) (E) (F) (F) (G) (G) (G) (G) (H) (I)

„haben wir ... die Frage gestellt: Wie mag es nun zu Hause aussehen?" „dann werden wir erzählen von den Erlebnissen und ..." „aber schon jetzt soll die Welt wissen, daß ..." „es leuchtet ein, daß ..." „wir verstehen nun ohne weiteres, daß ..." „da wohl niemand im Ernst behaupten kann, daß ..." „vielleicht wird man es auf eine andere Tour versuchen und sagen: ..." „der satte Spießer, der so lange als der typische Vertreter des niederländischen Volkes galt" „deutsche Offiziere waren immer wieder erstaunt über ..." „würde uns jedoch daraufhin jemand fragen: ..." „so würden wir etwa folgendes antworten." „erstens: ..." „schon jetzt können wir jedoch sagen: ..." „mit Freuden haben wir vernommen, daß ..." „und wir zweifeln nicht daran, daß ..." „zweitens." „oder aber glaubt man im Ernst, und jetzt fragen wir unsere Parteipolitiker von gestern, daß..." Fig. 5: Metakommunikative Gliederungssignale

An den meisten Stellen könnte man die Phrasen weglassen, ohne daß der Sinn der Satzgefüge entstellt wäre. Ändern würde sich allerdings der Charakter des Textes: vom indirekteren zum direkteren Stil, von einer gewissen Geschwätzigkeit zur Straffung, von der Vorführung sprachlicher Handlungen zum Handlungsvollzug und zur Leseransprache selber. Die umständliche Formulierungsweise wirkt wie eine Glaswand, die sich zwischen Text und Leser schiebt. Die eigentlichen Aussagen werden syntaktisch in die Nebensatzstruktur gepackt, wodurch sie ihres Handlungscharakters entkleidet werden. Es macht nämlich einen Unterschied, ob man sagt: „Es fängt an zu dämmern" (dann übernimmt man selber die Verantwortung für diese - metaphorische - Aussage), oder ob man schreibt: „Schon jetzt können wir jedoch sagen: es fangt an zu dämmern" (G) (dann gibt man etwas wieder, das man selbst - in der Form des „wir" - zwar sagen kann, das man aber auch anders hätte sagen können). Das Sagen wird wichtiger

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gemacht als das Meinen. Wer schriebe: „Noch ist es nicht so weit, aber schon jetzt kämpfen Tausende von Niederländern in den Reihen der SS-Division Wiking zusammen mit den Söhnen der anderen germanischen Stämme", würde seinen Lesern eine Aussage anbieten, mit der diese einverstanden sein können oder nicht; wer aber schreibt: „Noch ist es nicht so weit; aber schon jetzt soll die Welt wissen, daß in den Reihen der SS-Division Wiking ..." (C), der verläßt sich nicht auf die inhaltliche Kraft des Vorgebrachten, sondern benötigt eine übergeordnete Instanz, die er gewissermaßen zum Sprechen bringt und zu deren Sprachrohr er sich macht. Und wenn eine solche Instanz nicht erreichbar ist, dann müssen es gar abstrakte logische Entitäten sein, auf die man sich beruft: „es leuchtet ein" (C) oder „der Spießer, der so lange als der typische Vertreter des niederländischen Volkes galt" (E). Der Text wird zur Bühne, auf der ein Stück gezeigt wird: Das Stück selber - ein „Stück" für Leser - tritt zugunsten der Choreographie, der Äußerlichkeiten und des Brimboriums zurück. (Auf die unfreiwillige Komik, daß nämlich die Gedanken eines niederländischen Freiwilligen dargelegt werden, und zwar aus dem „Schützenloch" (A) im Osten, als ob er den Text seinen Kameraden zurufe, gehe ich nicht weiter ein). Das Verfahren der Bevorzugung des Sprechens vor dem Meinen betrifft die Mehrzahl der hier aufgelisteten Erscheinungen. Es verleiht dem Text das (nicht gerade journalistische) Fluidum einer Politikerrede, in der solche metakommunikativen Formeln als Gliederungssignale fungieren. Dadurch sitzt der Artikel der Vorstellung, die er dem Leser vermitteln will, selber auf: Er konzentriert sich auf die Inszenierung des Eindrucks einer Diskussion oder eines Gesprächs und der Nachahmung einer Argumentation. Er gleicht einem Politiker, der Passanten anspricht und ihre Aufmerksamkeit wenigstens eine Weile festhalten will. Dabei schlingt er sich von einer Behauptung zur nächsten, verbrämt aber durch die vielen metakommunikativen Formeln, wie die Verbindung von Aussage zu Aussage hergestellt wird oder welche verbalen Handlungen vollzogen werden. Das bewirkt eine Aufplusterung des PK-Berichts mit „Bedeutsamkeit". Die Akzentuierung, die der Text damit erhält und die ihn stark von anderen PK-Berichten unterscheidet, sorgt fur einen Anspielungsschub auf die Sprachgewalt und die Sprachgewohnheiten der faschistischen „Führer". Der Text ist durchaus großmäulig·, er überspielt auf diese Art und Weise die Undeutlichkeiten, die mit der niederländischen Entwicklung und dem Fortgang des Krieges zusammenhängen. Er verlagert die Großmäuligkeit in die besetzten Niederlande. Noch im Gestus des Auftrumpfens über die „Parteipolitiker von gestern" (I) verwirklicht er die Textur der „Kampfzeit", mit der die Niederlande offensichtlich überzogen werden sollen. Nur an einer Stelle (E) wird eine sprechende Instanz auch beim Namen genannt: „Deutsche Offiziere waren immer wieder erstaunt über den ... Humor und eine ... Freude am Kampf, die unsere Jungens auch in der heikelsten Lage nicht im Stich ließ". Deutsche Offiziere also, bei denen aber nicht erkennbar ist, ob es deren Worte sind, die der Bericht überliefert. Ihnen wird eine Begutachtungsrolle zuerkannt wie keiner anderen Instanz. Vor allem das Hierarchiegefalle zwischen den häufiger auftauchenden „Soldaten" und diesen Offizieren ist bemerkenswert; es läßt wenig Platz für Differenzierungen. Die Bezeichnungen über Qualifizierung der niederländischen Freiwilligen, von denen es im Abschnitt (E) nur so wimmelt,

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könnten ohne weiteres aus dem Offizierskasino stammen. Die Beurteilung erfolgt nämlich im forschen Kasino-Ton, der in einer Art von „erlebter Rede" wiedergegeben wird. Daß die propositionalen Mittel hier aus dem Offizierskasino importiert wurden, unterstreicht nur die Abhängigkeit, in die sich der Verfasser (oder die DZN) begibt: Einerseits wendet er sich seinen Vorgesetzten zu und kolportiert damit Landserverhalten sowie PK-Übliches, andererseits wird die Unterordnung der (niederländischen) Soldaten unter (deutsche) Offiziere zum Sinnbild für das zukünftige Schicksal der Niederländer. Als Germanen „zweiter Klasse" dürfen sie mittun, als „Kanonenfutter" werden sie gebraucht, eine „Kampfzeit" wird ihnen allerdings abverlangt, und mit den „alten" niederländischen Politikern müssen sie abrechnen. Alles, was die Niederlande im NS-Europa bedeuten könnten - und die Phantasielosigkeit des Textes in dieser Hinsichtläßt tief blicken - , hängt total von der beständigen Thematisierung des Sprechens und des metakommunikativen Markierens ab. Dies muß den niederländischen Lesern vor allem verdeutlichen, in welchen sprachlichen Formen sich die Zukunft des Landes spiegeln soll (vgl. Sauer 1989). Auf seine Art repräsentiert der DZN-Artikel die Maulhurerei, die im Nationalsozialismus stimuliert und von den NS-Propagandisten umgesetzt wurde: plattmachen durch Wortschwall, schwächen durch Wiederholung oder Paraphrase, in die Länge ziehen durch Metakommunikation, undurchsichtig schreiben aufgrund taktischer Überlegungen und aufdrängen durch Reizvokabular.

8. Erforschung des historischen Leseverhaltens? Der hier vorgeführte Ansatz eines journalistische Vertextungsmodells als Problemlösemodell unter den Bedingungen einer repressiven staatlichen Pressekoordination - „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda" in Berlin bzw. „Presseabteilung" im „Generalkommissariat zur besonderen Verwendung" und niederländisches „Departement voor Volksvoorlichting en Künsten" in Den Haag - hat einen vorläufigen und hypothetischen Status. Daß die Hypothese begründet werden kann, wurde oben verdeutlicht, daß sie jedoch auch empirisch erhärtet werden kann, bleibt die Herausforderung. Zwar können Indikatoren gefunden werden, die ihre Plausibilität gewährleisten. Diese Indikatoren bedeuten zugleich die Bestätigung der textlinguistischen Herangehensweise an multidimensionale Texte, die als „Inszenierung" und „Multiperspektivität" abgeleitet wurde. Aber aufgrund des historischen Abstandes und der wachsenden Unmöglichkeit, damals lebende Menschen noch anzusprechen und ihre Zeugnisse mit Methoden der „Oral history" festzuhalten, ist man auf indirekte Beweise angewiesen und muß überdies kreativ mit den vorhandenen historischen Quellen umgehen. Wenn man historisches Leseverhalten rekonstruieren will, muß man Leser finden, die, aus welchen Gründen auch immer und in welchen Kontexten auch immer, über ihre Formen des Lesens und ihre Lektüren berichten. Dies ist keine einfache Aufgabe, setzt sie doch die Sichtung gigantischen Materials voraus: veröffentlichte und unveröffentlichte, in Archiven liegende Memoi-

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ren, in denen natürlich nur partiell auf die individuellen Lesebiographien und die Rolle der Zeitungen darin eingegangen wird (hierfür steht beispielhaft die Arbeit von Bauer 1988, der sich an einigen Stellen auch mit den Reaktionen auf die „Reichs"-Presse auseinandersetzt); in den ehemals besetzten Ländern gibt es keine mir bekannten systematischen Veröffentlichungen zu diesem Thema, während man in den Memoiren, die natürlich ähnlich zahlreich wie die der Deutschen sind, überwiegend Bezugnahmen auf die Zeitungen der jeweiligen Länder und die Registrierung ihrer Gleichschaltung findet, kaum jedoch Erwähnungen der Besatzungszeitungen oder einzelner Artikel. Eine derartige Arbeit, die man nur in einem umfassenderen Projekt unternehmen könnte, bleibt ein Desiderat; wahrscheinlich müßte man zunächst eine Reihe von empirischen Lesebiographien erarbeiten, bevor man mit umfassenderen Fragestellungen anfangen könnte. Alles dies bezieht sich auf die rezeptive Seite, also vor allem auf die sekundären und tertiären Leser. Die primären Leser, die Berufsleser und Kontrolleure in den diversen Propagandadienststellen, haben ihre Leseergebnisse in verschiedener Form niedergelegt: Neben den „Presseanweisungen" und „Tagesparolen" (Sänger 1975, ToepserZiegert 1984) gibt es zusätzlich die Berichte des SD über die „Stimmung" in der Bevölkerung, im Prinzip auch in den besetzten Ländern; Memoiren von Journalisten (vgl. etwa Boveri 1965) oder Monographien von Zeitungen (vgl. etwa Gilessen 1986) berichten regelmäßig aus der Sicht der Produzenten über Ein- und Übergriffe von NS-Propagandisten, allerdings ohne eine umfassende Übersicht zu bieten. Archivarbeit ist notwendig, wenn man die quartären Leser, die Journalisten im besetzten Land, und ihre Lektüre erfassen will. Manchmal (vgl. u.a. Sauer 1990) wird in den täglichen Pressekonferenzen auf die Besatzungszeitungen hingewiesen und einzelne Artikel der übrigen Presse ausdrücklich zur Nachahmung empfohlen; und regelmäßig zitiert beispielsweise die DZN Sätze aus niederländischen Zeitungen, die ihr gefallen oder mißfallen. Ebenfalls der Archivarbeit bedürfte eine nähere Rekonstruktion der quintären Leser, der alliierten Geheimdienste (vgl. Haie 1965), zumal diese Archive noch gar nicht generell zugänglich sind. Jedoch gibt es noch andere Möglichkeiten, den gewählten Ansatz empirisch zu untermauern. Unter der Voraussetzung, daß sich die journalistische Arbeit sowohl im „Dritten Reich" als auch in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten zwar im Ausmaß eventueller repressiver Folgen, nicht aber von den Grundprinzipien einer Verwertung von divergierenden Quellen (Agenturberichten, Pressekonferenzen, anderen Medien u.a.) her geändert hat, können auch aktuellere Phänomene zur Bestätigung historischer Gegebenheiten herangezogen werden (vgl. zu diesem Gedankengang u.a. Sauer 1994b). So nutzt Bucher (1986) die schriftlichen Reaktionen von Lesern in einer Leser(brief)debatte zur Bestätigimg vorausgesetzter Komplexitätskonzepte, da die Leser, wenn die Debatte nur etwas dauert, auf praktisch alle Aspekte der vorausgehenden Artikel reagieren. Daran kann nicht nur das Problemlöseverhalten der journalistischen Autoren abgelesen werden, sondern auch das Modell der gestaffelten Leseradressierung. Eine weitere Möglichkeit hat Klein (1981) erprobt, als er mißverständliche Äußerungen von Politikern in Fernsehgesprächen nicht als Unfähigkeit oder Entgleisung, sondern als wohlkalkulier-

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tes Risiko einschätzte und sich diese Einschätzung durch Abspielen des entsprechenden Videos vor anderen Politikern und Konfrontierung der Kollegen mit sogenannten „Partnerhypothesen" bestätigen ließ: Hierbei ist nicht nur von „Mehrfachadressierung" (vgl. auch Kühn 1995 zum parlamentarischen Sprechen) die Rede, sondern vor allem vom Aushaltenkönnen semantisch-argumentativer Spannungen, die zur bewußten Ambivalenz führten. Ähnliche Ambivalenzen können daher auch Journalisten produzieren oder aufgreifen, wenn sie sich nicht festlegen wollen oder können. Auch diese Rekonstruktionsmethode erhellt den institutionellen Hintergrund journalistischer Arbeit und liefert Teilerklärungen zur Komplexität der Texte. Das Reagieren auf Vorgaben und institutionelle Randbedingungen beim Herstellen von Zeitungsartikeln, wodurch die Handlungsverkettungen auf multidimensionale Art und Weise Zustandekommen, und die Modellierung der Textkonstitution im Sinne des (journalistischen) Problemlösens und des Ansprechens der gestaffelten Leserschaft können somit als angemessene Bestimmung des textlinguistischen Problems der textuellen Komplexität betrachtet werden. Als ebenfalls brauchbar hat sich erwiesen, daß ideologische und diskursive Elemente in Texten als Importe in die sprachlichen Realisierungsmittel, die ihrerseits vielfaltige „Herkünfte" zeigen, analysiert werden können. Der Beispieltext war möglicherweise in dieser Hinsicht besonders reichhaltig. Das braucht die Textlinguistik jedoch nicht davon abzuhalten, ähnliche realistische und anspruchsvolle Beispiele zu rekonstruieren, um das Repertoire der Textarten und Erscheinungsformen zu erweitern.

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Eva-Maria Jakobs (Saarbrücken) Plagiate im Kontext elektronischer Medien1

Der folgende Beitrag basiert auf der These, daß sich die aktuellen medialen Veränderungen in der wissenschaftlichen Arbeitswelt auf die Formen der Fachkommunikation auswirken. Die These wird am Beispiel des Plagiats diskutiert, das eine spezifische Form des fachlichen Handelns mit Texten und einen strikten Verstoß gegen (westliche) Normen des wissenschaftlichen Arbeitens und Publizierens darstellt. Wie wir aus der Wissenschaftsgeschichte wissen, erweist sich gerade die τ

Auseinandersetzung mit Abweichungen als produktiv für die Klärung von Phänomenen, in diesem Fall dem Einfluß elektronischer Medien auf Formen der textuellen Kommunikation. Mein Beitrag nähert sich dem Gegenstand aus (text-)linguistischer Sicht und geht auf kognitionspsychologische Aspekte der Problematik ein. Nach Bemerkungen zur Brisanz der Thematik wird der Begriff des Plagiats selbst diskutiert und werden Gründe für Plagiatvorkommen genannt. Der letzte Teil meines Beitrages widmet sich der Frage, inwiefern elektronische Medien bewußte und unbewußte Plagiatbildungen fordern bzw. unterstützen können und leitet daraus Konsequenzen ab. Die Diskussion beschränkt sich auf den Bereich der Produktion und Rezeption wissenschaftlicher Fachliteratur ohne Einschränkung auf eine bestimmte Disziplin.

1. Zur Brisanz des Gegenstandes Wer heute eine wissenschaftliche Arbeit zur Publikation einreicht und dabei auf die Berücksichtigung der einschlägigen Fachliteratur verzichtet, weil ihm gleichgültig ist, was andere vor ihm gedacht haben, wird in den meisten Fällen, vor allem als Vertreter einer nicht-geisteswissenschaftlichen Disziplin, mit der Ablehnung seines Beitrages rechnen müssen. Die Ansprüche moderner Wissenschaft schließen die Forderung ein, explizit auf andere Fachtexte einzugehen und die eigene Arbeit über ausgewiesene Bezugnahmen auf die einschlägige Literatur im Kontinuum der bisher geführten Fachdiskussion zu „verorten".3 Als wichtigste Mittel der Vernetzung gelten Zitate, Verweise und referierende Inhaltsangaben. 1

2

3

Das Manuskript stützt sich auf einen Vortrag auf dem IX. Weltkongreß der IVG, August 1995 in Vancouver (Kanada). Ich danke Barbara Sandig in diesem Zusammenhang für kritische Durchsicht und Kommentar. Man denke hier an die Aphasieuntersuchungen von Jakobson oder Freuds Studien zum Versprechen, Verlesen und Verschreiben. Obwohl als bekannt voraussetzbar, sehen sich die Zeitschriften z.T. genötigt, die Autoren explizit auf die Notwendigkeit umfassender und aktueller Literaturkenntnis hinzuweisen wie auch

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Eva-Maria Jakobs

Die Forderung an den Autor, explizit anzuzeigen, auf welchen Wissenshintergrund er sich stützt, wurde bereits in der Antike formuliert. Ihr obligatorischer Charakter wie auch die heutigen Formen und Funktionen von Bezugnahmen sind dagegen ein Ergebnis der modernen Wissenschaft (vgl. Bazerman 1988), die auf die Originalität des Gedankens und rasche Wissensentwicklung setzt.4 Je größer der Konsolidierungsgrad in einer Disziplin ist, d.h. je mehr Einigkeit über ihre Gegenstände, Methoden und Konzepte besteht (den „tool-of-the-trade" einer Disziplin), um so genauer wachen ihre Vertreter und Fachorgane über die Einhaltung der oben genannten Forderung. Qualitätsansprüche dieser Art gehören zu den obligatorischen Bestandteilen von Peer Reviews in den Natur- und Humanwissenschaften. Um so mehr überrascht, daß sich nicht nur in der Praxis der vergleichsweise großzügigen Geisteswissenschaften, sondern auch in den Natur- und Humanwissenschaften Plagiatvorwürfe häufen. Die Dunkelziffer für Plagiatvorfälle wird höher angesetzt, als sich mancher Wissenschaftler und manche Fakultät eingestehen mag. Dies zeigen neuere Studien, wie z.B. die Umfrage der American Association for the Advancement of Science (AAAS), deren Ergebnisse im März 1992 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurden (vgl. Hamilton 1992). In dieser Studie wurden 1500 Personen zu Betrugs- und Plagiatvorfällen in der Wissenschaft befragt. 31% der Angeschriebenen reagierten. Mehr als ein Viertel davon (27%) gibt an, daß ihnen in den letzten zehn Jahren nachweisbare Fälle von Datenmanipulation und Plagiaten in der Forschung begegnet seien. Danach befragt, wie sie auf diese Fälle von Betrug reagiert hätten, antwortet wiederum über ein Viertel (27%), sie hätten überhaupt nicht reagiert. Mehr als ein Drittel (37%) wandte sich persönlich an die Autoren, die des Betrugs bezichtigt wurden. Ein Fünftel wandte sich an offizielle Vertreter innerhalb ihrer Einrichtung, 13% an Vertreter außerhalb ihrer Institution. Lediglich 2% brachten den Vorfall an die Öffentlichkeit. Der Mehrzahl aller Befragten (54%) zufolge werden in den institutionellen Einrichtungen Plagiatvorfälle lax gehandhabt bzw. nicht weiter verfolgt. Sie gelten nach wie vor als Tabuthema, dessen öffentliche Austragung dem Ansehen der Fakultät schadet.

4

auf die Konsequenzen der Nichtbeachtung dieser Forderung: "A second substantive shortcoming of less favorably received submitted manuscripts is the autor's failure to display an awareness and integration of recent developments bearing on the selected research topic. For research to make a substantial contribution, it must be based on adequate knowledge of the field, and the study's introduction must reflect this knowledge. The literature leading up to the reported study, should be current and should be derived from both the narrowly defined topical area [...]. Unfortunately, we sometimes receive manuscripts from investigators who base their research on early work that is now dated or from researcher who ignore current related work. Reviewers may then be left questioning why the study was conducted, which usually leads to a recommandation of rejection" (Lewin/Marshall 1993: 3). Unzureichende Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes wird von den Herausgebern der Zeitschrift als wichtiges Ablehnungskriterium für eingereichte Beiträge genannt (vgl. ebd.). Die Bewertung des wissenschaftlichen Plagiats als unethisches Verhalten gründet explizit auf der funktionalen Bestimmung wissenschaftlicher Beiträge als Mittel des Wissenstransfers und der Wissensdarstellung. Plagiate ignorieren nicht nur den intellektuellen Aufwand anderer Autoren und ihrer Reviewer, sie unterlaufen auch die Forderung nach fortschreitender Erkenntnis, weil sie bereits Bestehendes wiederholen.

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Die beobachteten Tendenzen decken sich mit anderen Erhebungen, z.B. der Studie der amerikanischen National Academy of Science (Swazey et al. 1993), bei der 2000 Promovenden und 2000 Wissenschaftler aus vier Fächergruppen (Hochund Tiefbau, Soziologie, Chemie, Mikrobiologie) befragt wurden. 72% der angeschriebenen Promovenden und 59% der Wissenschaftler antworteten. Zwischen 6 und 9% der Befragten berichten von Plagiatvorfällen. Ein Drittel der Wissenschaftler wurde mit Plagiaten bei Studenten konfrontiert. Zwischen den Disziplinen zeichnen sich signifikante Unterschiede ab. Am häufigsten nannten die befragten Wissenschaftler aus dem Hoch- und Tiefbau sowie aus der Soziologie Plagiatvorfälle bei Studenten (40%) und Kollegen (18%). 20% der befragten Doktoranden aus der Chemie berichteten von Plagiatvorfallen bei ihren Betreuern. Als Grund für die zunehmende Anzahl bekanntwerdender oder auftretender Plagiatvorfälle wird unter anderem der enorme Publikationsdruck genannt, unter dem viele Wissenschaftler stehen und der zu dem Slogan „Publish or Perish" geführt hat. Er besteht vor allem dort, wo sich die Mittelvergabe an Publikationslisten und Zitationsindizes bemißt. In den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung um Plagiatvorfälle zugenommen. Sie wurde von einer Reihe von Buchpublikationen befördert, die sich anhand konkreter Beispiele mit Formen des wissenschaftlichen Betrugs auseinandersetzen (z.B. Broad/Wade 1982, Kohn 1986, Soreth 1991, LaFollette 1992, Kolfschooten 1993). Die öffentlich geführte Auseinandersetzung hat vor allem in den USA Diskussionen in der Regierung und in wissenschaftlichen Institutionen ausgelöst. Zu ihren zentralen Themen gehört unter anderem die Frage, wann man von Plagiat, von Datenverfalschung oder von anderen Formen des unethischen wissenschaftlichen Handelns sprechen muß, wie ihnen vorgebeugt werden kann und was zu tun ist, wenn Fälle des wissenschaftlichen Betruges bekannt werden.5 Die Lösung des Problems wird vor allem darin gesehen, den Gegenstand beim Namen zu nennen, gegen das Schweigen der Fakultäten und Kollegen anzugehen und das Bewußtsein der Studenten als zukünftige Kollegen für moralische Aspekte des Umgangs mit der Fachliteratur zu wecken. Die Praxis zeigt jedoch, daß Sensibilisierung allein nicht weiterhilft. Will man gegen Plagiate vorgehen, muß auch klar sein, was als Plagiat gilt und was nicht. Spätestens hier beginnen jedoch die Probleme.

5

Sie führten u.a. zur Gründung der US Commission on Research Integrity, die sich in einer großangelegten Studie mit Formen des wissenschaftlichen GmisconductD auseinandersetzen will (vgl. Gavaghan 1994).

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2. Was ist ein Plagiat?6 Zu den Defiziten in der Diskussion um Plagiate gehört die Klärung der Frage, wann man von einem Plagiat sprechen kann (Definitionsproblem) und wie es sich ermitteln läßt (Anwendungsproblem).

2.1. Definitionsprobleme Plagiate werden je nach Quelle unterschiedlich definiert. Die Definitionen zeichnen sich sämtlich durch intensionale wie extensionale Vagheit aus (vgl. dazu auch Jakobs 1993: 378f.). Dies soll kurz anhand dreier unterschiedlicher Quellen (Lexika, Bürgerliches Gesetzbuch, Handbuch der Modern Language Association) verdeutlicht werden. LEXIKA Die meisten Lexika definieren Plagiate sehr allgemein als „widerrechtliche Aneignung und Verbreitung von fremdem geistigen Eigentum unter Behauptung der eigenen Urheberschaft" und/oder „Beanspruchung der Priorität eines Gedankens".7 GESETZBUCH (BGB; Gesetz über Urheberrecht und anverwandte Schutzrechte) Das deutsche bürgerliche Gesetzbuch spricht präziser von dem Vorwurf „einer identischen oder fast identischen Vervielfältigung des fremden Werks unter Anmaßung der Urheberschaft" (BGB GRUR 60, 500/502). Nachgewiesener Betrug räumt dem „Beraubten" Schadenersatzrechte ein. Der Begriff der Vervielfältigung bezieht sich auf die wörtliche oder sinngemäße Wiedergabe von Textteilen. Geschützt sind die Teile eines Textes, die sich durch eine gewisse Originalität auszeichnen. Wie diese zu bestimmen ist, wird nicht angegeben.

6

7

Das Lexem Plagiat (franz. aus lat. plagium ,Menschenraub') wurde im 1. Jhd. von Martial, einem römischen Epigrammdichter, geprägt. Er bezeichnete seine veröffentlichten Werke als freigelassene Sklaven und Fidentius, der sich als Urheber seiner Epigramme ausgab, als „Menschenräuber" (vgl. Gamm 1968). In der jüngeren Geschichte ist der Begriff des Plagiats u.a. eng an die Herausbildung des Copyright gebunden, die nach Patterson (1968) in England im 16. Jahrhundert beginnt. Am 4. Mai 1557 wurde die Stationer's Company gegründet, die aus Druckern, Bindern und Verkäufern bestand. Sie erhielt das Recht, die profitabelsten Bücher zu drucken und entwickelte sich zu einem Druck-Monopol in England. Der Ausdruck plagiarism findet sich zum ersten Mal 1701 in den Registern der Stationer-Company. Das damit verbundene Konzept diente der Wettbewerbsregelung zwischen den Mitgliedern der Company und hatte zunächst nichts mit dem Schutz von Autorrechten zu tun. Den Autoren wurde erst 1709 das Copyright zugestanden (vgl. Scollon 1995: 24, der sich auf Patterson 1968 bezieht). Vgl. Brockhaus Enzyklopädie 1972, Bd. 14 und 1992, Bd. 17 sowie Der grosse Brockhaus 1956, Bd. 9 und 1980, Bd. 9.

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HANDBUCH DER MODERN LANGUAGE ASSOCIATION Unter dem Druck der sich häufenden Plagiatvorfälle nahm das Handbuch der Modern Language Association (MLA) 1975 einen dementsprechenden Passus auf.8 Das Plagiat wird auch hier auf die sprachliche Wiedergabe von Textpassagen bezogen, letztere jedoch inhaltlich genauer bestimmt. Als Plagiat gelten alle Formen der nichtautorisierten Übernahme von Ideen und Inhalten bis hin zum argumentativen Aufbau von Texten: Plagiarism may take the form of repeating another's sentences as your own, adopting a particularly apt phrase as your own, paraphrasing someone else's argument as your own or even presenting someone else's line of thinking in the development of a thesis though it were your own. In short, to plagiarize is to give the impression that you have written or thought something that you have in fact borrowed from another. Although a writer may use other persons' words and thoughts, they must be acknowledged as such {MLA Handbook 1975 (zitiert nach Onge 1988: 53)).

1985 wird der Passus überarbeitet und inhaltlich generalisierend erweitert. Nachzuweisen ist jetzt „[...] everything derived from an outside source requires documentation - not only direkt quotations and paraphrases, but also information and ideas" (zitiert nach Onge 1988: 55).9 In der MLA-Ausgabe von 1995 wird der Sachverhalt noch schärfer formuliert; dort heißt es: A writer who fails to give appropriate acknowledgement when repeating another's wording or particularly apt term, paraphrasing another's argument, or presenting another's line of thinking is guilty of plagiarism (Gibaldi 1995: 26).

In keiner der Definitionen finden sich Hinweise darauf, daß der Plagiatbegriff relativ zu einer Reihe von Faktoren zu bestimmen ist. Dazu gehört die Kulturspezifik des Raums, in dem bzw. fur den ein Text produziert wird, sowie das dazugehörige Bildungssystem, die jeweilige historische Epoche, Fächerunterschiede, die Aufgabenstellung und Textsorte (z.B. fachlicher Zeitschriftenbeitrag vs. Essay) sowie der Umfang und Stellenwert10 des Plagiats im jeweiligen Textexemplar. Plagiatvorkommen werden in der Regel im Kontext westlicher Konzepte von Autorschaft, Eigentum und Copyright diskutiert. Andere Kulturbereiche, wie etwa der chinesische, operieren mit anderen Wertesystemen, die sich als differierende 8

9

10

Ahnlich die Zeitschrift Journal of Educational Psychology, die sich 1993 genötigt sah, energischer als noch vor ein paar Jahren (vgl. Calfee/Valencia 1989) potentielle Autoren vor Formen des wissenschaftlichen Betrugs oder des unwissenschaftlichen Handelns zu warnen. Während der Zeitschrift 1989 keine dieser Formen in eingereichten Beiträgen begegneten, war die Situation 1993 schon eine gänzlich andere (vgl. Levin/Marshall 1993: 5). Ähnlich Ludbrook (1986: 741) für den Bereich biomedizinischer Forschung in einem Editorial Comment des Australian and New Zealand Journal of Surgery·. „It is not only words that are subject to plagiarism in science, but also ideas. It is a proper part of the ethos of science to incorporate the ideas of others, appropriately acknowledged, into one's own scientific enquiries. It is a another matter to use privileged information that has been acquired by refereeing a manuscript, assessing a grant application, or examining a thesis, in order to gain scientific advantage for oneself. Ahnliches gilt für die widerrechtliche Übernahme wissenschaftlicher Illustrationen, Tabellen und anderer Formen der Visualisierung wissenschaftlicher Inhalte. Vgl. dazu auch Sadler 1977.

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Bildungsinhalte und -methoden niederschlagen (vgl. Deckert 1993, Pennycook 1993, 1994). Ähnliches gilt für die Fachdisziplinen und ihre Vorgehensweisen. Dazu gehören unter anderem unterschiedliche Präferenzen für Kommunikationsformen und die Handhabung von Zitations- und Verweisverfahren bzw. -formen (vgl. Dubois 1988, Swazey et al. 1993, Jakobs 1995).

2.2. Anwendungsprobleme Versucht man, die Begriffsbestimmungen für Plagiate auf reale Textvorkommen zu beziehen, ergeben sich vielfältige Schwierigkeiten. Dazu gehören Abgrenzungsprobleme·. - i n bezug auf die Urheberschaft: Nichtmarkierte Selbstzitate gelten nicht als sanktionsfähig. Mehrfachpublikationen ein und desselben Beitrages (ohne Einverständnis des Erst-Verlegers und Hinweis auf weitere Publikationsorte), sogenannte Salamipublikationen, wie auch die Mehrfachverwendung von Daten gehören dagegen bereits in den Bereich des Nichterlaubten.11 Übernimmt einer der Autoren einer Gemeinschaftspublikation von ihm verfaßte, aber als solche nicht ausgewiesene Teile aus dieser und publiziert er sie ohne Bezugnahme auf die zugrundeliegende Gemeinschaftsarbeit, handelt es sich nicht mehr um ein sanktionsfreies Selbstzitat.12 Er kann dafür rechtlich belangt werden. Erscheinungen dieser Art werden disziplinenspezifisch unterschiedlich strikt bewertet und geahndet. -Abgrenzungsprobleme bei der Markierung und dem Nachweis von eigenem und fremdem Gedankengut: Das Gros der Definitionen stützt sich auf die Charakterisierung des Plagiats als nicht ausgewiesenes wörtliches oder sinngemäßes Zitat. Abgesehen davon, daß der Zitatbegriff selbst der genaueren Klärung bedürfte (vgl. Neumann 1990, Jakobs 1993), ergeben sich bereits im Bereich des erlaubten Zitierens Phänomene, die eine diffizile Grauzone zwischen konventionell vereinbartem Muster und sanktionsfähiger Abweichung schaffen. Dazu gehört die Kombination sinngemäßer Wiedergabe fremder Gedanken und ihre Kommentierung durch den Wiedergebenden. Der weit verbreitete Verzicht 11

12

Viele Zeitschriften lassen sich deshalb vom Autor schriftlich quittieren, daß der Beitrag bzw. die verwendeten Daten nicht bereits an anderer Stelle publiziert wurden. Schwieriger liegt der Fall, wenn es sich um eine Passage handelt, die der Autor in einer früheren Schrift formuliert und dann als eine Art Selbstplagiat in die Gemeinschaftsarbeit eingebracht hat, und der Autor später auf die Variante der Passage aus der Gemeinschaftsarbeit zurückgreifen will. Hier stellt sich u.a. die Frage nach dem Zusammenhang, in den die Passage eingeflossen ist, die Frage nach ihrer inhaltlichen Weiterentwicklung, ihrer Paraphrasierung, ihrem Stellenwert in der Gesamtargumentation etc. Der konstruierte Fall deutet den Stellenwert an, der der Entstehungsgeschichte eines Textes zukommen kann. Sie ist im Ernstfall mit Belegen zu dokumentieren (vgl. dazu Sadler 1977).

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auf den Konjunktiv als Zitationsmarker erschwert dem Rezipienten, zwischen der gedanklichen Leistung des referierten Autors und der des referierenden Autors zu unterscheiden. 13 Eine andere Problemzone ergibt sich aus der lokalen Zuordnung von Zitatkörper und Quellennachweis. Problematisch ist weniger die Option, daß die Quellenangabe dem wörtlichen oder sinngemäßen Zitat vor- oder nachgelagert erscheinen kann, als vielmehr die Frage, in welchem Abstand dies zu erfolgen hat. Autoren, die Anleihen bei einem anderen Autor treffen, ohne diese als solche zu kennzeichnen, und die Quelle erst ein paar Seiten weiter - ohne Bezug zur eher getroffenen Anleihe - erwähnen, sind schwer belangbar. Schwierigkeiten bereitet auch das Ermitteln und Erkennen von Plagiaten. Das Erkennen von Plagiaten ist nach wie vor wissensgebunden. Textbrüche, z.B. in Form von Integrationsfehlern auf inhaltlicher oder sprachlich-stilistischer Ebene, können ebenfalls als Indizien wirken, treten auf professioneller Ebene aber eher selten auf. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Unterscheidung intendierter vs. nicht beabsichtigter bzw. unbewußter Plagiatbildung.

2.3. Bewußte vs. unbewußte Plagiatbildung und deren Ursachen Für bewußtes wie unbewußtes Plagiieren lassen sich eine Reihe von Gründen anführen. Unabhängig von diesen kann der Autor in beiden Fällen für sein Tun verantwortlich gemacht werden. Als häufigster Grund für bewußtes Plagiieren wird - wie eingangs erwähnt der enorme Leistungs- und Konkurrenzdruck genannt, unter dem Wissenschaftler heute produzieren müssen. Andere Motive, wie Gewissenlosigkeit und/oder eigene Unfähigkeit, mögen auch eine Rolle spielen, sollen hier aber nicht weiter diskutiert werden. Interessanter scheint mir die Frage nach den Gründen für unbewußte bzw. nicht beabsichtigte Plagiatbildungen. Sie können das Ergebnis des Wirkens gänzlich unterschiedlicher Phänomene wie auch ihres Zusammenwirkens sein. Zu diesen Phänomenen gehören unter anderem: - d a s Nichtwissen, daß die eigene Idee schon beschrieben vorliegt: Vielfach wird auf den Vorwurf, eine Idee unberechtigterweise für sich zu beanspruchen, eingeräumt, man habe von der Existenz des anderen Textes nicht gewußt: (a) weil der betreffende Text übersehen wurde oder (b) weil der Beitrag zeitgleich mit der eigenen Arbeit erschienen sei und man ihn deshalb nicht zur

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Das Editorial (Levin/Marshall 1993: 5) der Zeitschrift Journal of Educational Psychology nennt in diesem Zusammenhang eine andere Form, die unerwünscht ist und die Grenzen des Erlaubten tangiert, sogenannte paraphragiarism. Gemeint ist die extensive sinngemäße Wiedergabe anderer Arbeiten, 1:1 -Ideen und strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Werken (die zwei letztgenannten Formen fallen z.B. imMLA-Manual unter die Rubrik Plagiat).

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Kenntnis habe nehmen können.14 Beide Situationen bedürfen häufig im nachherein klärender Worte, um Kritik aus dem Weg zu räumen.15 - Informationsabwehrstrategien: Der Betreffende will nicht zur Kenntnis nehmen, daß andere schneller waren und verdrängt diese Einsicht. -mangelnde Normbeherrschung: Häufig lassen sich Plagiate auf Normübertretung aufgrund (sozialisations- und/ oder kulturbedingt) fehlenden Normbewußtseins und/oder ungenügender Normund Sprachbeherrschung zurückführen. Dieser Aspekt wurde bereits oben im Zusammenhang mit kulturell divergierenden Wertesystemen und Diskursmustern angesprochen. -mentale Überlastung: Schwierige Textvorhaben (Inhalte) können zur mentalen Überlastung des Schreibers fuhren. Um die Schreibaufgabe bewältigen zu können, konzentriert sich der Autor auf das Lösen inhaltlicher Probleme. Der rhetorische Aspekt, wozu auch die Einhaltung sprachlicher Normen des Bezugnehmens (auf andere Texte) gehört, wird vernachlässigt (zur Unterscheidung von inhaltlichen und rhetorischen Problemräumen beim Textproduzieren vgl. Scardamalia/Bereiter 1987). -Formen des Vergessens: Häufig werden unmarkierte Übernahmen mit Vergessensphänomenen begründet. Wir lesen Texte, verarbeiten sie und vergessen das Gelesene scheinbar wieder. Tatsächlich ist es jedoch mehr oder weniger in unser Wissen integriert oder isoliert in unserem mentalen Speicher abgelegt worden. Bei entsprechenden Reizkonstellationen, z.B. bei der Auseinandersetzung mit einem Thema, kann es assoziativ wieder reaktiviert und abgerufen werden, ohne daß uns seine „fremde Herkunft" noch bewußt ist. Eine extreme Form bildet die sogenannte Cryptomnesia. Als Cryptomnesia wird das Phänomen bezeichnet, daß gelesene oder gehörte Sachverhalte als Eigenes empfunden und (wortwörtlich) wiedergegeben werden.16 Taylor (1965)

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Die teilweise sehr langen Zeiträume zwischen dem Einreichen von Beiträgen beim Herausgeber und der tatsächlichen Drucklegung tragen das ihrige dazu bei. Nachträgliche Eingriffe des Autors in das Manuskript sind nur bedingt möglich und oft mit Kosten verbunden, weil die Verlage den eigenen drucktechnischen Aufwand so gering wie möglich halten wollen und deshalb nichteingeforderte Manuskriptveränderungen finanziell sanktionieren. In diesem Zusammenhang begegnen uns typischerweise Textsorten wie Erklärung, Stellungnahme und Richtigstellung. „It [...] denotes the presence of phenomena in normal consciousness which objectively are memories, but subjectively are not recognized as such" (Taylor 1965: 1111). „When an event consists of information about some original creation in the world of art, literature and thought, and the logical memory of the event has deteriorated to the point at which the information is no

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berichtet von Fällen, in denen Personen seitenweise Texte „aus dem Gedächtnis" abgeschrieben und als eigene Leistung behauptet haben. Solche Fälle seien jedoch sehr selten, da sie ein exzellentes Textgedächtnis voraussetzen würden, über das nur wenige verfugen. In der einschlägigen Fachliteratur werden verschiedene Formen der Cryptomnesia unterschieden. Dazu gehört die Differenzierung zwischen generating error (Gehörtes oder Gelesenes wird als Eigenes erfahren und aufgegriffen: „Das ist meine Idee.") und recognition error (Gehörtes oder Gelesenes wird als Eigenes erinnert: „Das war meine Idee."; vgl. dazu Brown/Halliday 1991: 476).17 Eine andere Variante des fehlerhaften Erinnerns bildet das sogenannte source forgetting (vgl. Schacter et al. 1984). Der Person ist bewußt, daß eine Idee schon zu einem früheren Zeitpunkt geäußert wurde, sie kann sich jedoch nicht mehr erinnern von wem (Wurde die Idee selbst entwickelt oder von jemandem übernommen, wenn letzteres zutrifft, von wem?). Fehlerhafte Leistungen des source memory (Wer sagte was?) werden unter anderem auf Probleme beim Auseinanderhalten von Quellen (multiple sources of information) zurückgeführt. Das Phänomen sich überlagernder, ergänzender oder interagierender Informationsquellen scheint mir gerade für den Bereich der „scientific community" charakteristisch. Wissenserwerb und Weiterentwicklung von Wissen stützen sich auf das Miteinander unterschiedlicher Quellen. Dazu gehört Gelesenes (im Original, in der Sekundärliteratur), Gehörtes (Vorträge, Diskussionen, Kollegenaustausch), Erfahrenes, Beobachtetes, eigene Untersuchungsergebnisse und Annahmen etc. Fehlerhafte Erinnerungen führen mitunter zu paradoxen Situationen, wie der folgenden, von Jacoby et al. (1989: 41) beschriebenen: Many of us have had the experience of presenting an idea to a colleague only to have the colleague thoroughly reject the idea. In a later conversation, however, the colleague reintroduces the earlier rejected idea as an insight that he or she just had. ... Nature may be so perverse as to make it likely that we will present a stolen idea as being our own to the very person from whom we stole it. The cues offered by his or her appearance and the content of a current conversation may be similar to those present during the prior conversation and serve as excellent cues for unconscious retrieval of the idea.

Jacoby et al. (1989) gehen davon aus, daß der Prozeß des Informationsretrievals von physikalischen und sozialen Kontextgrößen beeinflußt wird. Ähnlichkeiten der Situationen (des Hörens/Lesens einerseits und des Reaktivierens/Anwendens andererseits) können Überlagerungseffekte unterstützen. Vergessensphänomene können dadurch unterstützt werden, daß Inhalte ohne Quellenangabe notiert werden. Greift der Autor später auf seine Aufzeichnungen zurück, kann es geschehen, daß diese aus Mangel an Hinweisen auf die Quelle

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longer recognized as a memory, cryptomnesia may give rise to unintended plagiarism" (ebd.:l 112/1113). Zwischen dem Hören/Lesen und dem Erinnern als Eigenes können längere Zeiträume liegen. Brown und Halliday (1991: 476) berichten über verschiedene Fälle. Freud (1901/1960) hörte z.B. seinen Freund Fleiß über natürliche Bisexualität sprechen. Zwei Jahre später entwickelte er diesen Ansatz als seinen eigenen.

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1Ä · als eigene Ideen identifiziert werden. Situationen wie die beschriebene dürften eher auf ungeübte Schreiber zutreffen, entstehen jedoch auch im professionellen Bereich. Erscheinungen dieser Art werden im folgenden unter der Kategorie -Defizite und Fehlleistungen bei Handlungen im textproduktiven Umgang mit anderen Texten zusammengefaßt und als mögliche Quelle für ungewollte Plagiatbildungen berücksichtigt. Zum Teil werden solche Defizite bei der Aufdeckung von Plagiaten als Erklärung vorgeschoben: Ein Autor, dem vorgeworfen wurde, den Aufsatz eines anderen Autors kopiert und nach Auswechslung der Beispiele als eigenen Beitrag veröffentlicht zu haben, teilte dem Verleger auf dessen Nachfrage hin mit, er habe wohl seine Zettel vertauscht. Der Name des Autors, dessen Beitrag „gestohlen" wurde, stand offenbar auf keinem dieser Zettel. Er erschien auch nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis des Plagiators.

3. Plagiatbildungen im Kontext elektronischer Medien Mit dem Stichwort der Produktionsbedingungen komme ich auf meine ursprüngliche Fragestellung zurück: In welcher Weise können die neuen elektronischen Arbeitsmedien in der Wissenschaft bewußte wie unbewußte Plagiatbildungen fordern und/oder unterstützen und welche Implikationen hat dies für unser Handeln? -Informationsretrieval und -Verarbeitung: In fast allen Bereichen des wissenschaftlichen Agierens haben elektronische Medien Einzug gehalten. Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich der Kommunikation, z.B. der Kommunikation über Fachtexte. Recherchen in Literaturdatenbanken oder im World Wide Web eröffnen gänzlich neue Möglichkeiten, sich über den aktuellen internationalen Diskussionsstand ein Bild zu verschaffen. Das Ergebnis der Recherche ist oft eher deprimierend. Vor allem in gut etablierten Forschungsbereichen steigt der weltweite Wissensausstoß in Form von Publikationen oder anderen Formen der Veröffentlichung disproportional zum Verarbeitungsvermögen des einzelnen. Fachliche Rezeptionsprozesse erfolgen zunehmend unter Zeitdruck. Dies fuhrt zu einem veränderten Lektüreverhalten. An die Stelle der intensiven, langsamen, wiederholenden Lektüre tritt die Form der extensiven, kursorischen, schnellen Lektüre (vgl. auch Cahn 1994: 67 mit Bezug auf Engelsing 1974). Extensive Leseprozesse unter Zeitdruck wirken sich auf die Verarbeitungstiefe und Qualität der Textrepräsentation aus. Sie können mentale Überlagerungseffekte zwischen eigenem und angeeignetem Wissen wie auch zwischen Inhalten 18

Notizen entsprechen dann nur mangelhaft ihrem Zweck: der Fixierung von Inhalten für Wiederverwendungssituationen mit dem Ziel der mentalen Entlastung des Notierenden. Notizen können dazu beitragen, daß man sich die Umstände oder den Sachverhalt weniger genau einprägt (man hat es ja schwarz auf weiß).

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verschiedener Textinhalte begünstigen. Man weiß nicht mehr genau, woher man die eine oder andere Einsicht hat. -Bildschirmtexte lesen und erinnern: Auf die Qualität der Wahrnehmung und Verarbeitung von Texten wirkt sich unter anderem auch die Beschaffenheit des Trägermediums aus, z.B. ob Texte als Ausdruck oder als elektronische Variante vorliegen. Leseprozesse in der Wissenschaft erfolgen zunehmend am Bildschirm. Dies gilt vor allem für Leseprozesse im Rahmen von Literaturrecherchen, die vielfach das Überfliegen von Abstracts einschließen. Mit der Zunahme von Volltextdatenbanken, elektronischen Zeitschriften und der Verlagerung der Fachkommunikation in Diskussionslisten des Internet oder World Wide Web ist zu erwarten, daß am Bildschirm zunehmend auch Volltexte gelesen werden. Verschiedene Studien gehen davon aus, daß den meisten Rezipienten das Lesen am Bildschirm schwerer fällt als das Lesen von Printtexten. Leseprozesse verlaufen dort langsamer (vgl. Haas/Hayes 1985) und scheinen weniger genau (vgl. Dillon et al. 1988). Leseprobleme entstehen vor allem bei anspruchsvollen Texten und Leseaufgaben, wie dem kritisch sinnverstehenden Lesen als anspruchsvollste und wichtigste Lektüreform in der Wissenschaft (zum sinnerschließenden Lesen vgl. Haas 1987). Eine andere These ist, daß am Bildschirm gelesene Texte ungenauer erinnert werden als Printtexte.19 Dies belegen unter anderem Spatial-Recall-Experimente, in denen die Versuchspersonen nach der Lektüre angeben sollten, wo eine bestimmte Information im Text geboten wurde. Die räumliche Erinnerung fiel bei Printtexten besser aus als bei elektronisch dargebotenen Texten (vgl. Haas/Hayes 1986). Erinnerungen an räumliche Orientierungspunkte wie auch an andere Eigenschaften des Trägermediums spielen beim Informationsretrieval eine Rolle. Informationen dieser Art können neben vielen anderen Erinnerungsspuren zur Rekonstruktion genutzt werden, woher wir eine Information haben, bzw. deren Rekonstruktion unterstützen. In unsere Erinnerung an Texte gehen neben Informationen zum Inhalt, Autor, Verlag etc. und ihrer Bewertung auch andere Arten von Informationen ein. Dazu gehören unter anderem visuelle und habituelle Erinnerungen an physische Attribute des Trägermediums (Papierqualität, Aussehen, Farbe, Gewicht, Flecken etc.). Mit anderen Worten: Texte werden multimodal repräsentiert (zu multimodalen Repräsentationen vgl. Engelkamp 1990: 39ff., Zimmer 1993, Herrmann et al. 1995). Die verschiedenen Arten von Informationen zum Textträger, der Textrezeptionssituation oder der Kommunikationsgeschichte, die eine Textquelle erfahren hat, können genutzt werden, um über Inferenzbildungen und Elaborationen assoziativ Erinnerungsbestände zum Textinhalt zu reaktivieren. Häufig werden nur Bruchstücke erinnert, die eine Art Suchhilfe bilden, z.B.: „Die These X habe ich irgendwo gelesen, ich weiß nicht mehr genau wo, nur soviel, daß sie irgendwo 19

Vgl. Hansen und Haas 1988, Riehm et al. 1992, einen Überblick zur Thematik bieten u.a. Reinking und Bridwell-Bowles 1991.

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links unter einer farbigen Graphik stand und daß es sich um ein dickes Buch mit einem grünen Einband handelt, das ich mir damals von X geliehen habe." -Doppelte Dekontextualisierung: Bei der Verarbeitung elektronisch repräsentierter Texte entfällt ein Teil der genannten Zusatzinformation, insbesondere Erinnerungen an habituelle oder haptisch wahrnehmbare Eigenschaften des Textträgers sowie spatiale Rahmeninformation (auf der linken oder rechten Seite oben, unten, in der Mitte). Durch ihre Trennung von einem physischen Trägerobjekt werden elektronisch repräsentierte Texte zweifach dekontextualisiert. Zur Auseinanderdehnung bzw. Trennung von Produktions- und Rezeptionssituation (vgl. Ehlich 1983) kommt die Lösung des Textes von einem physischen Trägerobjekt. Dies hat eine größere Distanz zum Text zur Folge. Er wird anonymer. Dies kann wiederum dazu beitragen, daß nicht nur die Erinnerung an die Textquelle, sondern auch die Hemmschwelle, den Text zu manipulieren oder Teile unautorisiert zu übernehmen, abnimmt. Letzteres gilt vor allem fur Texte auf elektronischen Datenträgern, die dem Nutzer Zugriff auf den Text selbst ermöglichen. 1994 führte der Springer-Verlag eine breit angelegte Befragung bei Lesern der Fachzeitschrift Informatik - Forschung und Entwicklung (IFE) durch. Sie erhob, welche Erwartungen und Befürchtungen die Befragten in ihrer Eigenschaft als Leser und Autor mit elektronischen Zeitschriften verbinden.20 Neben einer Reihe verbesserter Nutzungseigenschaften, wie z.B. besseren Suchmöglichkeiten nach Detailinformation, problemlosem „Import" von Texten in die eigene Datenbank und mehr bzw. schnelleren Reaktionen auf Beiträge, werden eine Reihe negativer Eigenschaften genannt. Dazu gehört eine geringere Lesequalität, weniger Information „auf einen Blick" und die Gefahr der Verletzung des Copyright. 61% der Befragten (n = 129) befurchten unautorisierte Veränderungen des Originaltextes, 47% die Gefahr, falsch zitiert oder plagiarisiert zu werden. - Copy-and-Paste-Funktion: Die Copy-und-Paste-Option von Textverarbeitungsprogrammen erlaubt, in beliebigem Umfang Textteile aus anderen Texten zu kopieren und in andere Do•y ι

kumente einzufügen. In einer 1993/1994 von mir durchgeführten Befragung unter deutschen Wissenschaftlern aus natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen gibt ein Fünftel der Befragten (21,3%) an, in ihre Literaturdatenbank Zitate aufzunehmen und bei Bedarf von dort in ihre Texte zu übernehmen. 20

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Leserbefragung zur elektronischen Ausgabe von Informatik - Forschung und Entwicklung. Springer Verlag. Informatik - Forschung und Entwicklung. Corporate Development ju 11/94. Die Möglichkeit, frei auf Textpassagen zuzugreifen und sie beliebig weiterzuverwenden, wird bei der Zusammenarbeit in Gemeinschaftsprojekten der computergestützten Kommunikation (CMC) in Lernumgebungen intensiv genutzt. In diesem Kontext mehren sich allerdings auch die Diskussionen um Plagiatvorfalle und die Forderung, bei Schülern und Studenten ein Bewußtsein für ethische Fragen der Kommunikation in elektronischen Netzen zu entwickeln, wie etwa die Wahrung intellektuellen Eigentums. Andererseits wird eingeräumt, daß in komplexen Interaktionsbeziehungen oft schwer feststellbar ist, von wem die eine oder andere Äußerung stammt. Vgl. dazu Resta 1994.

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Fehler bei der elektronischen Archivierung von Textausschnitten wie auch bei der Übernahme von Textteilen aus früher verfaßten Beiträgen können dazu beitragen, daß Quellenangaben verändert werden oder verlorengehen. Dies gilt auch für das Umschreiben von Texten bei sich ändernden Konventionen, etwa, wenn Fußnoten in den Text integriert werden müssen. -Anpassung des Autorbegriffs und Copyright an elektronische Kommunikationsformen: Neuere Diskussionen zu Hypertext und verteilten Hypertextmengen, das heißt Textsammlungen oder Texte, die an verschiedenen Orten der Welt auf verschiedenen Servern liegen, aber zusammengehören, gehen davon aus, daß mit der Möglichkeit der unbegrenzten Kommentierung und des endlosen Fortschreibens von Texten Begriffe wie Autorschaft, Text, Dokument oder Copyright gegenstandslos werden oder zumindest neu zu bestimmen sind. Hier finden sich deutliche Anklänge an poststrukturalistische Konzepte, etwa wie sie im Kontext der Intertextualitätsdebatte zu finden sind. Andere Stimmen, etwa aus Benutzerkreisen, betrachten diese Position als eine Art Übergangserscheinung. Die Praxis zeigt, daß freie Kommunikation ohne Vorgaben und Moderation schnell ausufert und dann letztendlich funktionslos wird. Größen wie Autor und Erscheinungsort sind wichtige Orientierungspunkte im Kontinuum der Textkommunikation und als solche schwer ersetzbar. ΛΛ

4. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Das bisher Gesagte zusammenfassend, ergeben sich verschiedene Schlußfolgerungen. Zum einen macht die Auseinandersetzung mit Plagiaten deutlich, daß hier sowohl für die Forschung als auch für die Lehre Handlungsbedarf besteht. Wissenschaftliches Schreiben will gelernt sein und sollte gelehrt werden. Zum Vermittlungsstoff sollte dabei auch gehören, welchen Sinn Formen der fachlichen Kommunikation, wie z.B. Bezugnahmen auf andere Texte, besitzen, und erst aus der Einsicht in ihre Funktionalität sollten formale Fragen abgehandelt werden. Voraussetzung fur die Lehre ist, daß sich die Linguistik und andere mit dem Gegenstand befaßte Disziplinen mehr als bisher mit Formen der Textvernetzung durch Bezugnahme auf andere Texte auseinandersetzen. Dazu gehört die Untersuchung von Formen der Aneignung von Texten, ihrer Verwertung und Integration in eigene Überlegungen und Darstellungen wie auch kultur-, domänen- und epochenspezifische Ausprägungen dieser Prozesse aus linguistischer, psychologischer und medialer Perspektive. 22

Bei wissenschaftlichen Beiträgen in der Netzkommunikation tritt an die Stelle des Verlags die Adresse des Servers bzw. die e-Mail-Adresse des Texterzeugers. Die Textkommunikation wird damit noch anonymer. Während Verlage und Zeitschriften sich dadurch auszeichnen, daß sie ein bestimmtes Renommee bzw. Geschichte haben, trifft dies fur technische „Maschinenadressen" nicht zu. Auch dies gehört zu den Verlusten der textuellen Kommunikation auf elektronischen Trägermedien.

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Eine andere Konsequenz ist, kritisch die Möglichkeiten und Auswirkungen elektronischer Medien als Arbeitsinstrumente in der Wissenschaft zu überdenken. Der Einzug neuer Medien bedeutet nicht nur veränderte, vielfach erleichterte Arbeitsbedingungen. Er konfrontiert uns als Nutzer und Wissenschaftler auch mit neuen Herausforderungen, Problemen und Gefahren, die an ihre Nutzung gebunden sind und denen wir uns stellen müssen. Dazu gehört unter anderem die Diskussion, inwieweit die neuen Medien die Formen und Inhalte unserer Kommunikationskultur beeinflussen und verändern. Elektronische Kommunikationsmedien und -netze ermöglichen nicht nur verbesserte Kommunikationsbedingungen über Zeit und Raum hinweg. Sie erfordern auch, traditionelle Kategorien wie ,Text' und .Autorschaft' zu überdenken. In diesem Sinne ist Mediengeschichte mit Cahn (1994: 67) als „eine Perspektive auf die Beziehung zwischen den Gegenständen und den ihnen zugehörigen Handlungsweisen und Wissensformen" zu verstehen. In dieser Perspektive „erscheinen Texte [...] nicht nur als Bedeutungsträger, sondern auch als Kristallisationspunkte einer bestimmten kommunikativen und kognitiven Praxis". Es liegt in unserer Hand, ob wir Einfluß darauf nehmen, wie diese Praxis aussehen soll.

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Jözef Wiktorowicz (Warschau) Zur Frage der Übersetzungsäquivalenz

In der übersetzungswissenschaftlichen Literatur wird seit Jahren über den Äquivalenzbegriff diskutiert.1 Von Seiten der Linguisten und Übersetzungstheoretiker wurden verschiedene Vorschläge zur Bestimmung des Äquivalenzbegriffs unterbreitet. Wenn man verschiedene Definitionsvorschläge der Äquivalenz einer näheren Analyse unterzieht, stellt man fest, daß das terminologische Chaos daraus resultiert, daß die Übersetzungstheoretiker unterschiedliche Kriterien zur Bestimmung der Äquivalenz zugrundelegen. Unter dem Begriff der Äquivalenz wird entweder die Herstellung von Gleichwertigkeit zwischen dem ausgangssprachlichen (AS) und dem zielsprachlichen (ZS) Text oder die Wahrung der Invarianz auf der Inhaltsebene oder aber die Herstellung der Wirkungsgleichheit verstanden.2 Es wird in der Übersetzungswissenschaft kritisiert, daß es ihr nicht gelungen ist, einen exakten Merkmalskatalog für die Meßbarkeit der Äquivalenz von ausgangs· und zielsprachlichem Text zu entwickeln.3 Gelegentlich werden pessimistische Stimmen laut, daß der interlinguale Übersetzungsgrad von Übersetzungen nicht objektivierbar sei, weil es schwierig oder gar unmöglich ist, explizite Äquivalenzkriterien von Übersetzungen mit übereinzelsprachlichem Geltungsbereich zu ermitteln. Bei der Ausarbeitung des Äquivalenzbegriffs versuchte man meist, alle objektiv faßbaren Merkmale eines ASTextes und ZS-Textes unter dem Gesichtspunkt der Übersetzungsäquivalenz zu erfassen. Dieser Versuch mußte scheitern, weil eine interlinguale Äquivalenz nicht auf dem Wege einer syntaktischen, lexikalisch-semantischen und stilistischen Äquivalenz zu erreichen ist. Die Äquivalenz eines AS- und ZS-Textes ist nicht durch eine syntaktische und inhaltliche Äquivalenz zu erreichen. Eine weitere Schwierigkeit bei der Bestimmung der Übersetzungsäquivalenz beruht darauf, daß sich die Übersetzungstheoretiker nicht darüber einig sind, was sie als zugrundeliegendes Vergleichskriterium bei den AS- und ZS-Texten nehmen sollen. Die Feststellung, daß die Übersetzungsäquivalenz als Vergleichsgrundlage von AS- und ZS-Texten fungieren soll, ist nicht ausreichend, solange nicht geklärt wird, ob sich die Übersetzungsäquivalenz auf den AS- und ZS-Text als Ganzes beziehen soll oder aber einzelne Textfiragmente oder einzelne Sätze oder gar einzelne lexikalische Einheiten unter dem Gesichtspunkt der Übersetzungsäquivalenz betrachtet werden. Die Unzulänglichkeiten der bisherigen Diskussion über den Äquivalenzbegriff resultieren aus der Tatsache, daß die Äquivalenz eines AS- und ZS-Textes als Summe der inhaltlichen, syntaktischen und stilistischen Äquivalenz verstanden wird. Solche Auffassungen über den Äquivalenzbegriff sind m.E. das Ergebnis 1

2 3

Vgl. u.a. Jäger 1975, Koller 1979, Reiß/Vermeer 1984, Stolze 1985, Wilss 1977, 2mudzki 1991. Wilss 1977: 157. Wilss 1977: 157.

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einer unreflektierten Übernahme eines textlinguistisch falschen Textbegriffs; bei der Bestimmung des Äquivalenzbegriffs, bei dem syntaktische, lexikalische und stilistische Faktoren maßgebend sind, geht man stillschweigend davon aus, daß sich der Text aus der Summe von Sätzen konstituiere. Dabei wird als Übersetzungseinheit nicht der Satz, sondern eine noch kleinere Einheit angesehen, die äquivalent übersetzt werden soll. Nach Kade4 ist die Übersetzungseinheit „das jeweils kleinste Segment des AS-Textes, für das ... ein Segment im ZS-Text gesetzt werden kann, das die Bedingungen der Invarianz auf der Inhaltsebene erfüllt." Jäger5 betrachtet die Übersetzungseinheit als eine Einheit des Sprachsystems: „eine Übersetzungseinheit (ist) ein Bedeutungskomplex in einer Sprache Li, für den ein kommunikativ äquivalenter Bedeutungskomplex in einer Sprache L2 besteht, ja bestehen muß." Aus diesen Bestimmungen geht hervor, daß eine äquivalente Übersetzung aus der Summe der äquivalenten lexikalischen Einheiten der Zielsprache bestehen solle. Die Äquivalenz der Übersetzung darf jedoch nicht auf die Summe der äquivalenten lexikalischen Einheiten reduziert werden, weil sich ein Text nicht als Summe von Lexemen oder als Summe von Sätzen reduzieren läßt. Der Text als Ganzes muß als Übersetzungseinheit betrachtet werden. Das Übersetzen muß daher als eine Zuordnungsoperation von Texten zweier Sprachen betrachtet werden. Das Kriterium der Übersetzungsäquivalenz ist deshalb die Gleichwertigkeit des AS-Textes und des ZS-Textes. Das übergeordnete Ziel des Übersetzers ist es, einem AS-Text einen gleichwertigen ZS-Text zuzuordnen. Der Prozeß des Übersetzens beruht auf der Umsetzung des AS-Textsinns in einen gleichwertigen ZS-Textsinn. Diesem Ziel müssen andere Arten von Äquivalenz untergeordnet werden; auch die Feststellung, daß die Äquivalenz auf der unteren, lexikalischen Ebene nicht erreicht wurde, bedeutet nicht, daß die Äquivalenz auf der Sinnebene ebenfalls fehlt. Das Ziel des Übersetzens beruht nicht auf dem Streben, syntaktische oder inhaltliche Äquivalenz zwischen dem AS-Text und dem ZS-Text zu erreichen. Im Prozeß des Übersetzens segmentiert der Übersetzer zwar den AS-Text in kleinere Einheiten, für die er dann nach äquivalenten ZS-Einheiten sucht; aber der Übersetzungsprozeß ist ständig dem globalen Ziel untergeordnet, die Gleichwertigkeit von AS- und ZS-Text zu erzielen. Entscheidend für die Übersetzungsäquivalenz ist nicht die Äquivalenz von Einzelelementen, sondern die Wirkung der Gesamtkomposition. Die Äquivalenzleistung einzelner Textkonstituenten wird daher erst im Rahmen des Textganzen richtig gesehen. Aus diesen Ausführungen geht hervor, daß die Suche nach der systemhaften Äquivalenz lexikalischer Einheiten im Übersetzungsprozeß in vielen Fällen nicht möglich ist, denn es werden nicht die Wörter übersetzt, bzw. Bedeutungskomplexe der Ausgangssprache in die Bedeutungskomplexe der Zielsprache umgesetzt, sondern es muß der Sinn eines Textes in der Zielsprache vermittelt werden. Da es zwischen den Sprachen nicht nur direkte Korrespondenzen, sondern auch Divergenzen gibt, ist es oft nicht möglich, alle festgestellten Werte in der Übersetzung invariant zu erhalten. Manchmal kann es in der Tat direkte Äquivalente geben, 4 5

Kade 1968: 90 (zitiert nach Stolze 1985: 168). Jäger 1977: 11 (zitiert nach Stolze 1985: 172).

Zur Frage der Übersetzungsäquivalenz

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aber vielfach kommt es zu Verschiebungen der Bedeutung im Satzzusammenhang des AS-Textes, und auch im ZS-Text treten solche Verschiebungen auf, die zur Folge haben können, daß systemhafte Bedeutungen nicht durch direkte Äquivalente übermittelt werden können, sondern durch andere lexikalische Einheiten. Der ZS-Text läßt sich nicht als ein Text beschreiben, der aus der Addition kleinerer Formen und Elemente entstanden ist. Entscheidend ist deshalb nicht die Äquivalenz der Einzelelemente, sondern die Vermittlung der Komposition des Ganzen. Das Übersetzen ist daher eine Tätigkeit der Vermittlung, bei der der Aspekt der Gleichwertigkeit den Vorrang vor dem Aspekt der lexikalisch-inhaltlichen Genauigkeit hat. Diese Ausführungen möchte ich nun anhand einiger Beispiele aus einem literarischen Werk und seiner Übersetzung ins Polnische exemplifizieren. Ich konzentriere mich dabei auf temporale Partikeln, mit denen sich Wolfgang Heinemann und ich vor einiger Zeit befaßten. Im Aufsatz „Temporale Partikeln und Erwartungshaltungen im Deutschen und Polnischen"6 versuchten wir - ausgehend von der Feststellung von Korrespondenzen und Divergenzen zwischen den deutschen und polnischen Partikeln - festzustellen, welche Translationsregeln sich innerhalb der behandelten Partikeln aufstellen lassen. Im Bereich des temporalen Gebrauchs konnten zwischen dem Deutschen und Polnischen weitgehende Korrespondenzen festgestellt werden; es konnten daher anhand von isolierten Beispielsätzen einfache Translationsregeln formuliert werden: z.B. hat die Partikel schon eine direkte Entsprechung juz im Polnischen, wenn sie in bezug auf temporale Sachverhalte verwendet wird. Diese Regel findet auch ihre Bestätigung anhand von Belegen aus einem literarischen Text und seiner polnischen Übersetzung7 sowie in den individuellen Entscheidungen eines Übersetzers. Krollmann hat es schon gesagt. (136) Krollmann juz to powiedzial. (124) Wenn Sie weiter einen Lastzug fahren, ... dann sind Sie vielleicht schon mit fünfzig Invalide. (19) JeSli bqdzie pan dalej jetdzii ci^zarowkq , ... moze juz przed pi$cdziesia}k E: profilierte intertextuelle Kohärenz2—> F: profilierte intertextuelle Kohärenz3. Wie daraus ersichtlich ist, beinhaltet dieser Mechanismus drei implikative Stufen der profilierten intertextuellen Kohärenz. Die obigen Ausführungen abschließend, möchte ich folgendes festhalten: in der KSD-Rezeptionsperspektive erweist sich die aufgabenbezogene Profilierung für die Wahrnehmung selbst sowie auch für ihre KSD-typischen Folgeoperationen als ausschlaggebend. Intertextuelle Kohärenzen bleiben daher in einem jeden KSDVollzug profildeterminiert. Ihre Erforschung stellt ein sehr attraktives Forschungsdesiderat sowohl für die allgemeine Textlinguistik als auch umso mehr für die Translatorik dar.

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22

Der 4. Punkt stammt von Pöchhacker (1994: 141) und ist als eine berechtigte Erweiterung dieser Konhärenzstadien gedacht.

192

Jerzy

Zmudzki

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Swetlana Menge I (Berlin/Halle) Text als Kodifizierungseinheit — eine Besonderheit der Norm im (Alt)Kirchenslawischen

Das in der Überschrift angekündigte, möglicherweise ungewöhnlich erscheinende Herangehen an die Textproblematik wird vertrauter, wenn wir uns an folgende Fakten erinnern: In ihren Bestrebungen, die Normen des Lateinischen wiederzubeleben, wenden sich z.B. die Neolatinisten in Westeuropa Ciceros Texten zu und appellieren daran, in bezug auf die Norm seinem „Wortgebrauch" aus der Sicht des Autoritätsprinzips zu folgen (vgl. Paul 1920). Ein ähnlicher Prozeß vollzieht sich in der Moskauer Rus' des 17. Jh., wo eine „Verbesserung der Bücher" unter dem Patriarchen Nikon vorgenommen wird (3. Südslawischer Einfluß). Sie äußert sich in der Anlehnung an die älteren kanonischen Texte und dient der Bewahrung des Archetypus (vgl. Tolstoj 1963). Auch im Neurussischen scheint die Kodifizierung sich noch zu Beginn des 19. Jh. teilweise auf die Texte der schönen Literatur zu richten. So analysiert Kozin (1979) die Präpositiv-Formen auf -e und -u bei A.S. Puskin und stellt fest, daß ihre Variabilität die vorgeschriebenen Normen in der Grammatik Vostokovs (1831) beeinflußt. Untersuchungen zu lexikalischen Normen der Schriftsprache der Kiever Rus' (11.-14. Jh.) zeigen, daß dort nicht das Wort einen Kontext konstituiert, sondern der Kontext die Wahl von bestimmten Lexemen verlangt. Wird ζ. B. eine Person durch die Attribute KpombKb, cbMbpenh, Mwiocmueb yöoebiMb charakterisiert, bezeichnet man sie mit dem Wort Myxcb und niemals mit nenoebicb. Von den Verben dicendi verwendet man in direkter Rede MOAeumu. In Kontexten, die sich auf biblische Quellen beziehen, werden dagegen znazoAamu, ebinamu, peuimu gebraucht (vgl. Michajlovskaja 1980: 245ff.). Letztlich ist das Phänomen der russischen Chroniken zu erwähnen, welche für den Wechsel ihres „sprachlichen Codes" bekannt sind (vgl. Hüttl-Folter 1983). Die von mir gewählten Beispiele aus dem Codex Laurentianus von 1377 zeigen, daß der Gebrauch lautlicher (Vollaut und Metathese) und grammatischer (verschiedene Tempora des Präteritums) Formen wie auch bestimmter Lexeme in ähnlichen Kontexten durch die Wahl der Sprache eines bestimmten Texttyps bedingt ist, abhängig davon, ob es sich um ein „alltägliches Ereignis" (1) oder die „göttliche Wahrheit" (2) handelt: ( 1 ) . . . &>Λ6Γ Ht6 BNHA6 Β ΓΟρΟΑΤ* Μ ΠβΚΙ&ϋΙΛ Η Γθρ««ΛΝ6 H3ACA4ΒΑ w e Β3Λ\Ι1Ι6 ΠΟΛΟΪΚΜΙΙΙΛ Μ Β MANACThipM CTTO GnCA II WTO^M nepeNecouu Μ ΝοβογΓορο^ογ Η ΠΟΛΟΗΪΜΙΙΙΛ Η «γ m a t G o « H T ΝΛ λ ^ β ^ μ CTCpON'b... (,... Oleg traf in der Stadt ein und die Städter nahmen ihn auf. Sie empfingen den Leichnam Izjaslavs und brachten ihn in das Kloster des Heiligen Erlösers (zur Bestattung). Von dort trugen sie ihn nach Novgorod in die Kirche der Heiligen Sophie, die sich am linken Ufer (des Flusses) befindet...') Blatt 85b.

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Swetlana Mengel

Merkmale des Texttyps der Kanzleisprache: phonetische: Vollaut - r o p ^ A V r»po»KAN6, nepeNeewiu, Ηοβ«γΓοροΑ«γ, CTOßON'fc moφhologische: Präteritaliormen - Aorist (als Erzähltempus) (2) . . . CMAA

fit

ΑΑΛΤν

Et

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ÄJieKCaHJipa) HACTh

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npHCTOy KO

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ΚΦ ΓβΑΑΝΈΙΜ... (,... seine Kraft [des Fürsten Alexander] war ein Teil von Samsons Kraft. Gott hatte ihm die Weisheit Salomons gegeben und die Tapferkeit, wie beim Römischen Kaiser Vespasian, der sich das ganze Land Judäa unterworfen hatte und der sich eines Tages samt seinen Kriegern auf den W e g machte, um die Stadt Atarot zu erstürmen. Die Städter traten ihm entgegen ... er drängte [aber] ihre Armee zum Stadttor zurück ...') - Blatt 168b. Merkmale des Texttyps der Kultursprache: phonetische: Metathese -

xpAEphCTBO,

πλΪημλτ»,

r p M o y , rfWKANe, Βΐ*3κρΑ

TM, BpATOM, ΓρΑΑΝΈΙΛ\ morphologische: Präteritalformen - Plusquamperfekt und Aorist

(ααλί* etl.

(ηοιολίιι,

E t

πλ^νηλή)

KT»3KpATM);

Adjektivendungen - PHMbCKATC lexikalische: Konjunktion iKTii A l l e hier genannten Fakten zeugen m.E. von der Existenz einer textgebundenen Norm, die in bestimmten Entwicklungsperioden für unterschiedliche Schriftsprachen relevant sein konnte. Für das Altkirchenslawische - die erste Schriftsprache der Slawen - ist jedoch die textgebundene Norm ausschlaggebend und durch die Besonderheit der Entstehung, die Existenz und die Verbreitung dieser Sprache bedingt. Das Altkirchenslawische entsteht als eine „künstliche" Sprache religiöser Texte, die aus dem Griechischen ins Slawische von slawischen Missionaren, den Gebrüdern Konstantin-Kyrill und Method, wie auch ihren Schülern im Zeitraum vom 9. bis I I . Jh. übersetzt wurden. Halten wir uns an die geniale Hypothese von Georg Tschernochvostoff (dem begabten Schüler des finnischen Slawisten Valentin Kiparsky), die er in seiner zu Unrecht vergessenen Magisterarbeit 1947 aufstellte (vgl. Kiparsky 1958, 1964, 1966, 1968, Tschernochvostoff ( t ) 1995), müssen wir schlußfolgern, daß auch die Erstellung des ersten slawischen Alphabets - Glagolica - (von Konstantin für die Übersetzungen geschaffen) sich an den Text anlehnte. Ich beschränke mich hier nur auf ein Beispiel. Der Hypothese Tschernochvostoffs zufolge liegen allen glagolitischen Buchstaben drei heilige Symbole zugrunde: Kreuz - als Kreuz Christi, Kreis - als Allmächtigkeit, Unendlichkeit und Vollständigkeit Gottes und Dreieck - als heilige Dreieinigkeit. Dabei stellen u.a. die Buchstaben „ I " und „ S " eine auffällige Symmetrie dar, die in keinem uns bekannten Alphabet eine Entsprechung findet:

Textals Kodifizierungseinheit

im

(Alt)Kirchenslawischen

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Die Pannonischen Legenden besagen jedoch, daß die erste Übersetzung aus dem Griechischen ins Slawische das Aprakosevangelium war, welches mit den Worten aus dem 1. Kapitel des Johannesevangeliums beginnt: kv άρχη ,am Anfang (war das Wort)', aksl. HCKONI (FIT CAOEO), vgl. aus Vita Konstantini: Η ΛΕΜΚ CHAWKII ΠΜα>Μ6ΝΛ Η HAHA E t t 6 A »

flbCATH

KBANrCAbCKKHK·

HCKONI

Et

(ΛΟΒΟ...

Also beginnt das erste slawische Wort, das niedergeschrieben wurde, mit den Buchstaben „I" und „S": Ö P I ' ^ J g . Dieselben Buchstaben (was durchaus noch wichtiger erscheint) verwendet man in den biblischen Texten für die Abkürzung des Namens Jesu: ΙΣ = flfö (Hcoifrb). Die Existenz und Verbreitung des Altkirchenslawischen (so dient z.B. das Kirchenslawische bis in das 17. Jh. als Kultursprache Rußlands) war nicht zuletzt von den mehrmaligen Abschriften der Repräsentativtexte abhängig. Es wird verständlich, daß der Text (in seinen verschiedenen Erscheinungsformen) als Kodifizierungseinheit eine Besonderheit des Altkirchenslawischen darstellt. Meine Untersuchungen auf der Wortbildungsebene haben ermöglicht, folgende vier Erscheinungsformen der textgebundenen Norm herauszugliedern: kontextgebundene Norm, mustertext gebundene Norm, texttypgebundene Norm und schriftdenkmalgebundene Norm (vgl. Mengel 1993). Diese Erscheinungsformen der textgebundenen Norm umfassen nicht nur die Wortbildungseinheiten und können durchaus in verschiedenen Entwicklungsperioden für andere Schriftsprachen charakteristisch sein. Wenn wir uns den Fakten, die ich am Anfang meines Beitrags genannt habe, zuwenden, wird ersichtlich, daß die Bestrebungen von Neolatinisten, die „Bucherverbesserung" in der Moskauer Rus' und die erwähnten Kodifizierungserscheinungen im Neurussischen zu Beginn des 19. Jh. einen Versuch darstellen, die mustertextgebundene Norm anzuwenden. Die lexikalischen Nonnen in Texten aus der Kiever Rus' des 11.-14. Jh. sind kontextgebunden. Und der sog. Wechsel des „sprachlichen Codes" in russischen Chroniken bezieht sich ferner auf eine texttypgebundene Norm. Dennoch beherrscht das Normierungsprinzip auf der Textebene das Altkirchenslawische im ganzen. Im folgenden möchte ich die Wirkung der textgebundenen Norm in ihren verschiedenen Erscheinungsformen im Altkirchenslawischen anhand von Wortbildungseinheiten demonstrieren. Für diese Zwecke eignen sich besonders die wurzelgleichen Wortbildungssynonyme, die von Forschern der aksl. Texte auch „Variante" oder „Dublette" genannt werden. (Bedenken wir, daß die Aufgabe der Norm darin besteht, unter vorhandenen Varianten zu wählen.) Die größte Vielfalt an wurzelgleichen Wortbildungssynonymen bietet unter aksl. Schriftdenkmälern der Codex Suprasliensis\ wo allein bei den Personenbezeichnungen 24 Gruppen wurzelgleicher Wortbildungssynonyme vorhanden sind. Aber

Eine kurze Charakteristik der im Beitrag erwähnten Schriftdenkmäler: Evangelien: Codex Mari amis - Tctraevangelium, 11. Jh., mit Glagolica geschrieben; Codex Zographiensis -Tetraevangelium, 11. Jh., mit Glagolica geschrieben; Assemanievangelium - Aprakosevangelium, 10. Jh., mit Glagolica geschrieben; Ostromirevangelium - Aprakosevangelium, 1 0 5 6 - 1 0 5 7 , mit Kyrillica geschrieben, Abschrift aus Rußland; Tetraevangelium 1144 - Telraevangelium, 1144, mit Kyrillica geschrieben, Abschrift aus Rußland; „Nichtevangclische" Texte (= Sammelbände): Codex Suprasliensis - Menäum (eine Sammlung von Heiligenleben und Homilien - religiösen Erbauungsschriften), 11. Jh., mit Kyrillica geschrieben; Simeonov sbornik -ein Sammelband von Übersetzungen aus dem Griechischen, eine Art „wissenschaftliches" Lexikon, überliefert als Abschrift aus Rußland von 1073 (= lzborttik Svjaloslava 1073 goda), mit Kyrillica geschrieben.

196

Swetlana Mengel

auch die Aprakos- und Tetraevangelien (als „Repräsentativtexte") beinhalten dieses Phänomen. So im Codex Marianus: Tope β λ μ έ κ ι ν η γ ι η η μ η φΛρΗ(^Η. λη U&WfepM - Mt 23,23; rope BMVh I f h N t l W h N H i J H Η φΛρΗ06Η νΠΟ" ΚΟΗΤΗ - Mt 23,25 (,Weh euch, S c h r i f t g e l e h r t e und Pharisäer und Heuchler'). Bei Jo 4,37 lesen wir im Codex Marianus, Codex Zographiensis, Assemanievangelium: "fen© h n i k t t » rfchMi Η μ ν τ * « τ ι » H t k H A H (,[Denn hier ist der Spruch wahr:] D i e s e r sät, der andere s c h n e i d e t ' ) ; bei Mt 13,39 dagegen im Codex Marianus, Codex Zographiensis: & ηϊατβλ ecT"k KONhMANHC B"kκογ. Λ ?κ Α τ e Λ e t s n » aRah (,Die Ernte ist das Ende der Welt. Die S c h n i t t e r sind die Engel'); die korrespondierende Stelle in Assemanievangelium ergibt: fl h m a t b a k o n h a n i c i t K A e t T i . (I > κ » Α Τ 6 Λ Ϊ Ν 6 ΛΝ^ΛΙ CÄTk. Bei Lk 5 , 2 . . . ι BMA'bB'b A r n KopAGHiu c t o h m i i t a πρκ e3epfc. p v E i i T i u

me

θιικαιιικ

ότι

νθηκ

ΠΛΔΚΛΛχκ

M p t i K A (,... und

sah zwei Schiffe am See liegen; die F i s c h e r aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze') aus Codex Marianus finden wir an den korrespondierenden Stellen im Codex Zographiensis - ρυΕΔβΗ, im Assemanievangelium - p u s i T Bl. Charakteristisch sind korrespondierende Stellen der aus Rußland stammenden Abschriften: Ostromirevangelium - phiEdßH, Tetraevangelium 1144 - puEMTBl. Die genannten Varianten verweisen auf eine textgebundene Norm. In bezug auf die Verwendung wurzelgleicher Wortbildungssynonyme lassen sich folgende Erscheinungsformen (vgl. op. cit.) der textgebundenen Norm unterscheiden: 1. Bei den Beispielen K'hNiir'hHHH - K'MiittKKNMK'h, tthNAH - JKATeAh handelt es sich um eine kontextgebundene Norm. Dabei ist die Wahl zwischen letzteren Varianten offensichtlich durch die verschiedenen Inhalte der zwei unterschiedlichen Kontexte bedingt 2 (vgl. Michajlovskaja 1980). Die Dublette ΚΈΝΗΓνίΗΗ - K*hNiVKkNHirtk verwendet man in ein und demselben Kontext. Man muß m. E. hier die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Variabilität der sprachlichen Ausdrucksmittel eines der Hauptprinzipien der Übersetzungstechnik Kyrills und Methods war (vgl. VereScagin 1972, Brock 1979, Cernyseva 1994). So wäre der Gebrauch in einem Kontext zweier von ein und demselben Ableitungsstamm nach verschiedenen Wortbildungstypen einer Wortbildungskategorie gebildeten Derivate vorstellbar und logisch: Es geschah, um die Wiederholung desselben Lexems (derselben „Wortform") zu vermeiden. (Vgl. auch in diesem Kontext den parallelen Gebrauch von lexikalischen Synonymen: die slawische Lehnübersetzung ahu6m1>pu und die griechische Entlehnung νποκρκτΗ - »Heuchler'.) 2. Bei ffUElpk — pUGHTBT» (besonders in den russischen Abschriften) ist offenbar eine „Stabilisierung der sprachlichen Norm" durch die Anlehnung an Mustertexte (Alekseev 1987 : 34ff.) zu beobachten (mustertextgebundene Norm). 2

In Jo 4,37 tritt das substantivierte Partizip ttfbNAH als Prädikatsnomen (vgl. die deutsche Übersetzung) auf. Dagegen fungiert die durch den produktiven Wortbildungstyp „Infinitivstamm + -Τ6ΛΚ" gebildete wurzelgleiche Personenbezeichnung HtATefth (im Assemanievangelium mit dem sekundären Suffix des Singulativums jkatcammti) in Mt 13,39 als Satzsubjekt.

Textals Kodifizierungseinheit

im

(Alt)Kirchenslawischen

197

3. Weiterhin kann man eine texttypgebundene Norm erkennen. So wird ζ. B. mit der Bedeutung „Gott" das Lexem aiACh in Evangelien und nichtevangelischen Texten geführt, das Wort cnACHTSAM dagegen - nur in nichtevangelischen Texten. 4. Die aksl. Texte unterliegen einer schriftdenkmalgebundenen Norm. Die letztere bedeutet, daß wurzelgleiche Wortbildungssynonyme nur sehr selten innerhalb eines Schriftdenkmals als absolute Synonyme auftreten (vgl. ΚΊΙΝΗΓΊΙΗΗΗ - Κ Ή HWKUWKK, HTHNAH - }KAT6AH), ihr Gebrauch wird auf eine bestimmte Bedeutung spezialisiert und die Auswahl bestimmter Einheiten motiviert. Dennoch wird dieser Prozeß von anderen Normierungstendenzen auf der Textebene (so auch außerhalb dieser) gesteuert. Zur Demonstration habe ich einige Beispiele aus dem Simeonov sbornik gewählt (vgl. Mengel 1995), der uns in seiner ältesten Abschrift aus Rußland als Izbornik Svjatoslava 1073 goda überliefert wurde (weitere 27 Abschriften folgten im Zeitraum vom 11. bis 19. Jh.). Die Normuntersuchungen innerhalb dieses Schriftdenkmals zeigen, daß bei der Übersetzung des griechischen Originals die kyrillo-methodianische Tradition fortgesetzt wird (vgl. Gorskij/Nevostruev 1859-1869, Lunt 1984). Dies betrifft insbesondere die morphologischen und syntaktischen (vgl. Minceva 1991) wie auch die orthographischen Normen. Letztere weisen unmittelbare Parallelen zum Codex Zographiensis (glagolitischer Archetypus) und zum Codex Suprasliensis auf (vgl. Velceva 1991). Die Merkmale der Preslaver Schule, der die Übersetzung zugeordnet wird, kommen auf der lexikalischen Ebene deutlich zum Ausdruck. Betrachten wir also folgende Beispiele. (1) Die Wortbildungssynonyme treten nur in einem Kontext auf: ΚΑΚΌ

ce

ΚΓΑΑ

ΜΜΛ · H M K H T E NPABOY

HIE

PEM&WH ΜΜΛ

ΙΑΚΟΊΚΕ

ΚΊ&ΝΙΙΓ*Ι*ΜΗΗ - ICBHLVKKNHK'K - ,ΓΡΑΜΜΑΤΕΥΒ 1

A^THUIT»

FLOKOULINOK ΚΓΑΑ

CHAMK

IAKWK6

Ρ€Μ6Λ\Τ*

ΚΉΗΗ»ΚΚΝΗΚΙ

EU Τ Η

Κ *H Ν ϊ Χ Μ Μ Μ ·

ΜΛΊΙ4ΛΩΤΧ0ΓΜ0Γ

EWH Π

Ο

ΚΊΙΝΜΓ"Κ-

Η Μ HÄ - 232B (,SO zwingen wir [manchmal] das Kind mit Gewalt: es muß s c h r i f t k u n d i g sein. Es muß jedoch eine B e g a b u n g b e s i t z e n , um S c h r i f t g e l e h r t e r zu werden. Uns gefällt es aber, wenn d e r L e r n e n d e unseren Worten nicht widerspricht'). Eine kontextgebundene Norm für die Verwendung dieser Varianten ist für Evangelien-Texte bekannt (vgl. op. cit.). Dabei überwiegt im allgemeinen das Lexem ΚΊΙΝΗ}ΚΙ»ΝΗΚΊΙ (150 : 7 nach Cejtlin 1986 : 170), da der Wortbildungstyp „Substantivstamm + -HNMKII" als produktiv gilt. In unserem Schriftdenkmal ist ΚΊ^ΝΜJKbJJMKik dagegen nur einmal fixiert. Wie auch in Evangelien-Texten kommen die beiden Varianten IRUIIIHFHNHKII. - ΚΉΝΜΓΚΗΗΗ in ein und demselben Kontext vor. Von besonderem Interesse sind m.E. die zwei verschiedenen, in einem Kontext vertretenen, lautlichen Erscheinungen eines Wortes KT&M'^MIIT/ΚΉΝΜΓΊΛΗΜ . Die Form KNM^MMH ist dabei bekanntlich nur für den Codex Suprasliensis charakteristisch, wo sie die „lebendige Aussprache" widerspiegelt (vgl. Cejtlin 1986 : 169) und nur einmal, wie auch in der vorliegenden Schrift (vgl. ΚΊ*ΝΗΓΊ»ΜΙΙΙΙ - 9), verwendet wurde. Die folgende Vermutung läge nahe: Dem Variabilitätsprinzip folgend benutzt der Übersetzer in ein und demselben Kontext zwei verschiedene wurzelgleiche Wortbil-

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Swetlana

Mengel

dungssynonyme (κΊιΝίΒΚΚΝΜΚΉ - Κ'ΚΗΜΓ'ΗΗΜΜ), deren Gebrauch in dieser „kontextgebundenen" Funktion ihm aus repräsentativen Evangelien-Texten bekannt ist. Da jedoch der gleiche Begriff im vorliegenden Kontext noch einmal vorkommt, sieht der Übersetzer sich möglicherweise gezwungen, nach einer dritten wurzelgleichen Variante zu suchen. Diese kennt er aus einem der Mustertexte gleichen Texttyps (nichtevangelische Texte) - aus Codex Suprasliensis. Die Variante ΚΝΗχMHH stellt dabei keine neue Wortbildungseinheit dar, sondern eine von ΚΊΙΝΜΓΊ>ΜΗΙΙ (Wortbildungstyp „Substantivstamm + - v n w " ) abweichende dialektale lautliche Form. Durch ihre Benutzung im o.g. Kontext wird der Gebrauch dieser Form zusammen mit zwei bereits bekannten Wortbildungssynonymen (phonetische Variante und „Wortbildungsvarianten") als kontextgebundene Norm innerhalb nur eines Schriftdenkmals - des Simeonov sbornik - kodifiziert. Es handelt sich hier sicher nicht um die Wortbildungsnorm, sondern um einen „normativen Wortgebrauch". Weitere Beispiele sollen die Rolle des Textes für die Kodifizierung auf der Wortbildungsebene zeigen. Abschließend möchte ich nur zu dem Beispiel (1) hinzufügen: Es Hegt die Schlußfolgerung nahe, den Gebrauch der o.g. Varianten im Simeonov sbornik als kontextgebundene Norm innerhalb eines Schriftdenkmals zu betrachten. Dabei könnte er einerseits durch kontextgebundene Norm der Verwendung entsprechender Wortbildungssynonyme in Evangelien-Texten (vgl. die Normierungsparallelen zum Codex Zographiensis ) beeinflußt werden, anderseits ist der Gebrauch der entsprechenden Varianten durch einen der Mustertexte, in diesem Falle durch Codex Suprasliensis geprägt. (2) G T U I A C K - , 1) Gott der Erlöser, 2) Rettung' - C'hfMChNHK'k - ,Retter'. Mit der Bedeutung ,Gott der Erlöser' wird in unserer Schrift die „ältere Bildung" (vgl. Cejtlin 1986: 288) ΓΜΙΛΓΚ verwendet, die mit beiden o.g. Bedeutungen aus Evangelien und nichtevangelischen aksl. Mustertexten (vgl. op. cit.) bekannt ist: . . . o G o ^ t Mte Η © c k n i c t NAUiCMb 1c j f k · . . . - 244a (,... über Gott, unseren Ε r 1 ö s e r , Jesus Christus ...'); ΝΕΕΟΝΊΙ ΗΛΒΚΊ» UMOBAACTbN-h KCTh · o CBO€A\h c π" c "fe Η ό fierhlE'bAH · . . . - 165a (,Weil der Mensch über seine R e t t u n g und sein Verderben Macht besitzt...'). Um ein Nomen agentis vom gleichen Verb (CUIACTH) zu bilden, bedient man sich des Wortbildungstyps „Verbalstamm + -ktnnfk". Das entsprechende Derivat mit dem produktiven Suffix -T6AU ist nämlich in Mustertexten des nichtevangelischen Typs (darunter Codex Suprasliensis) durch die parallele „Neubildung" zu c u u c h besetzt. Dabei wird das Wort (ΉπιοιΤ6ΛΚ - ,Gott der Erlöser' ausschließlich auf die „personifizierende" Teilwortbildungsbedeutung spezialisiert, vgl. KphCTHTGAk - Johannes der Täufer', HCKOYCHTE/VH - ,Satan' (dagegen 11 CKOYCLHMKT» - .Prüfer'). So entsteht im Simeonov sbornik ein Okkasionalismus cuiACkHHKik ,Retter', der in altkirchenslawischen Kanontexten und in Schriften aus dem Rußland des 11. Jh. nicht belegt ist: A& CH1|6 OyEO CT MM Α^ρΉΜΜΊλ ΗΛΚΟΜΊν Μ EATB'fcphN'hlHM'h ζΒ^ζΑΉ C$TK Μ C l f t h N H l l M lAKMtte ß6U6 ΓΚ ΚΈ NMM'L· . KU KCT6 CB'kT'k ΛλΜβΔ cero Μ COAK ^eMALNAlA · - 1896-B (,Da Heilige für gutmütige und fromme Menschen [wie] Sterne und R e t t e r sind, so spricht Gott zu ihnen: Ihr seid das Licht der Welt und das Salz der Erde').

Text als Kodifizierungseinheit

im

(AltKirchenslawischen

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Diese Erscheinung kann man als schriftdenkmalgebundene Norm definieren, die durch texttypgebundene Norm bedingt ist. (3) In der Reihe von Parallelbildungen •MfWA'bH - , έ π α ο ι δ ό δ ' - MApOA'bHUh - , γ ό η β ' AtOEOA'feH - ,τιόρι/os' - AlOEOA^HUk - , μ ο ι χ ό δ ' scheint die pejorative Schattierung bei den Bildungen auf -ttljh verstärkt zu sein. Das Wortpaar HApoA^H - , έ π α ο ι δ ό β ' - MApOA^HljA - , γ ό η β ' ist nur im Codex Suprasliensis fixiert, wo das Derivat H A O O A ' ^ M U A durch die spezialisierte pejorative Teilwortbildungsbedeutung des Wortbildungsyps „Infinitivstamm + -HU&" eine negative Schattierung erhält 3 . Nach dem Vorbild des Mustertextes wird die besagte Distribution vermutlich auch auf die Wortbildungssynonyme HapoA'feH - HApOA'twiiK übertragen ( Μ Λ Ρ Ο Α ' ^ Η Ψ * kommt in den aksl. Kanontexten nicht vor, erst in späteren Texten aus Rußland): . . . N6

BAIk^ECy-M'

N6

HAPOA'kH

N6

ΟΤρΛΒΛΑΜ ·

HA|)0A{ t ) Η

GO

NC HtHBCTh · - 94a (,... du sollst nicht hexen, nicht zaubern, nicht vergiften, da der Z a u b e r e r zum Sterben verdammt ist'); . . . Ν*Κ ότΐ^ΚΛΑΝΑΤΗ CA ΤΛIVFCJRH

Ζ ΐ ^ Λ Ί Ι ΐ Η Χ Ί » BPDH6BIK Μ Η Α ρ Ο Α "FC Μ I| B · - 1306 (,... aber hütet euch vor oösen Übeltätern, Schamanen und H e x e r n ').

Die o.g. Distribution weitet sich allem Anschein nach im Simeonov sbornik auch auf die Parallelbildungen AlOEOA'bH - AweoA"tHl|ik. Die negative Wertung ist hier schon in der lexikalischen Bedeutung des Ableitungsstammes verankert, dennoch wird A L O E O A ' K M L I K mit der Bedeutung .Ehebrecher' verwendet, Λ Ι Ο Ε Φ Α Ί Ϊ Μ bezeichnet den ,Buhler': Als „Hauptschuldige" erscheint im vorhandenen Kontext die Frau: Η TO KCTh TUAYhlH

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NeKpO AUA~

Β0Λ6·

. . . - 174Β-Γ (,Was ist das Weib: ein irdischer Gedanke, ... dem Manne eine Sintflut, ein unbezähmbares Tier, den B u h l e r n eine Zuflucht, die W a f f e des Teufels ...'); vgl. . . . η

•κγϊΚΗΐΚ'κ

ΜίβΛΛΛίιιΤΗ»^·

Η ΐ| L · ΓΗΟΓΑΙΊΓΜ EO CXTK TP^ETD jenigen, die Fremde begehren, die E h e b r e c h e r und niederträchtig').

ίι

Aw'soAt"

· - 8 2 B (.Bedürfnisse dersind, sind dem Gott zuwider

E ^

Wenn wir jeden Text als eine sinnvolle Verkettung von Zeichen betrachten und von der zweifachen Natur des Zeichens (Form und Bedeutung) ausgehen, setzt sich m.E. der Kodifizierungsmechanismus auf der Textebene in bezug auf die Verwendung der o.g. Parallelenreihe im Simeonov sbornik aus folgenden Assoziationen zusammen. Die Zeichen Mdf^OA'bH - H i p A t H l t k in dem vorliegenden Text werden durch die Ähnlichkeit ihrer lautlichen Form mit den Zeichen HApOA'feH - HApOA'bMUA im Mustertext (Codex Suprasliensis) auf der lexikalischen Ebene assoziert. Die gleiche Distribution der lexikalischen Bedeutung stellt sich in beiden Wortpaaren ein. So 3

Vgl.:

ΠΗΙΑΝΗΙΙΔ

Codex Suprasliensis;

- ,μ^τθύων',

ΒΓΈ9Ηΐ|Α

- ,ovcuV, CTSBUD - ,στί€κουλατωρ' - aus

IMhUd - ,φαγοβ' - aus Codex Marianus, Codex Zographiensis

u.a.

200

Swetlana Mengel

erhält das Wort HdpOA'kHUk eine negative Schattierung ,γόηδ'. Diese war jedoch beim Derivat des Mustertextes HApOA'^HUd durch die spezialisierte pejorative Teilwortbildungsbedeutung des Wortbildungstyps „Infinitivstamm + -MU&" (vgl. op. cit.) bedingt. Dem Wortbildungstyp „Infinitivstamm + -üUh/hJjh" ist dagegen diese Teilwortbildungsbedeutung fremd (vgl. cbnu^A- ,Henker' - ffcHUjh - ,Krieger'). Dennoch erfolgen innerhalb des vorliegenden Textes (des Schriftdenkmals) weitere Assoziationen von Zeichen auf der Wortbildungsebene. Die Gegenüberstellung der formalen Wortbildungsstruktur der Wortbildungstypen im besagten Wortpaar „Infinitivstamm + - 0 " (Ηψ>Α"^Η): „Infinitivstamm + (HapOA'kMUk) wird mit der Gegenüberstellung der Teilwortbildungsbedeutungen dieser Wortbildungstypen als „nomen agentis" : „pejorativ" assoziert. So entstehen im Simeonov sbornik analoge Parallelbildungen λιοβοα'^μ - AtOGOA'bHilb, die außerhalb dieser Schrift durchaus mit gleicher lexikalischer Bedeutung (und gleicher Teilwortbildungsbedeutung) vorkommen können. In späteren Texten aus Rußland treten die beiden Wortbildungssynonyme sogar als Zeichen unterschiedlicher Texttypen (vgl. cuiack - cuiACHT6Ab, op. cit.) auf (vgl. Uspenskij 1984). So unterliegt der Gebrauch der o.g. Parallelenreihe im Simeonov sbornik m.E. einer schriftdenkmalgebundenen Norm, die sich unter der Einwirkung des Mustertextes entwickelt. Anhand von wenigen Beispielen habe ich in diesem Beitrag versucht, die Kodifizierungsansätze („naivtextologische Regel", vgl. Janakieva 1991) innerhalb des Textes (in seinen verschiedenen Erscheinungsformen: Kontext, Texttyp, Mustertext und Schriftdenkmal in seinen einzelnen Abschriften) im Altkirchenslawischen zu zeigen. Die textgebundene Norm stellt eine Besonderheit des Altkirchenslawischen dar, welches bereits nach seiner Herkunft als die Sprache der Texte definiert werden muß. Dennoch ist dieser Normierungsprozeß nicht nur dem Altkirchenslawischen zuzuschreiben. Andererseits weist auch die erste Schriftsprache der Slawen außer der oben genannten anderweitige Normierungstendenzen auf. Literatur 4 Alcksccv, A.A. (1987): Puti stabilizacii jazykovoj normy ν Rossii XI-XVI vv. - In: Voprosy jazykoznanija 1987/2, 34-46. Brock, S. (1979): Aspects of Translation Technique in Antiquity. - In: Greek, Roman and Byzantine Studies V, 1979/20, 6 9 - 8 7 . Cejtlin^ R.M. (1986): Leksika drevnebolgarskich rukopisej IX-X vekov. - Sofia. fernyscva, M I. (1994): Κ voprosu ob istokach leksiceskoj variativnosti ν rannich slavjanskich perevodach s greccskogo jazyka: perevodieskij priem „dvujazycnye dubiety". - In: Voprosy jazykoznanija 1994/2, 97-107. Gorskij, A.V./Nevostruev, K.I. (1859-1869): Opisanie slavjanskich rukopisej Moskovskoj Sinodal'noj (patriarsej) biblioteki, T. 3 - 5. - Moskva. Htittl-Folter, G. (1983): Die trat/torot-Lcxeme in den altrussischen Chroniken. - Wien. Janakieva, C. (1991): Giperkorrekcija kak simptom ν vostocnoslavjanskoj pis'mennosti. - In: Palaeobulgarica 1991/15, 23-31. Kiparsky, V. (1958): Diskussionsbeitrag. - In: Sbornik otvetov na voprosy po jazykoznaniju (k IV Mezdunarodnomu s"ezdu slavistov). Moskva. - Moskva, 315-316.

4

Literaturangaben erfolgen nach der in der Slawistik üblichen Tradition.

Text als Kociifizierungseinheit

im

(AltKirchenslawischen

201

— (1964): Tschernochvostoffs Theorie Uber den Ursprung des glagolitischen Alphabets. - In: Cyrillo-Methodiana: Zur Frühgeschichte des Christentums bei den Slaven 863-1963. Hrsg. von M. Helmann/R. Olesch/B. Stasiewski/F. Zagiba. - Köln, Graz (= Slavistische Forschungen, 6), 393-400. — (1966): Diskussionsbeitrag. - In: Spomenica Kliment Ochridski 916-1966. - Ochrid, 83-85. ~ . τ,, jaii za negovoto ürestvuvai. - In: Nadawki a hranicy re?neje kodifikaeije. - Budysin, 31-37. Lunt, H. (1984): On the Izbornik of 1073. - In: Harvard Ukrainian Studies 7, 359-379. Mengel, S. (1993): Kontinuität und Entwicklung der altkirchenslawischen Wortbildungsnorm in der sprachlichen Situation des alten Rußland (11.-17. Jh.). - In: Zeitschrift für Slawistik 1993/38, 333-345. — (1995): Normierungsprozesse auf der Wortbildungsebene in kyrillo-methodianischen Übersetzungen (anhand des Simeonov sbomik po Svetoslavovija prepis ot 1073 g.). - In: Das Russische in seiner Geschichte, Gegenwart und Literatur. Festschrift für Erika Günter. Hrsg. von W. Gladrow. - München (= Specimina philologiae slavicae, Bd. 105), 10-23. Michajlovskaja, N.G. (1980): Sistemnye svjazi ν leksike drevnerusskogo knizno-pis'mennogo jazyka XI-XIV vv. Normativnyj aspekt. - Moskva. Min?eva, A. (1991): Starobälgarskijat knizoven ezik ν Simeonovija sbornik po prepisa ot 1073g. - In: Simeonov sbornik (po Svetoslavovija prepis ot 1073 g.), Τ. 1. - Sofia, 162-181. Paul, H. (1920): Prinzipien der Sprachgeschichte. - Halle. Tolstoj, N.I. (1963): Vzaimootnosenija lokal'nych tipov drevneslavjanskogo literaturnogo jazyka pozdnego perioda (vtoraja polovina XVI-XVII vv.). - In: Slavjanskoe jazykoznanie. Doklady sovetskoj delegacii. V Mezdunarodnyj s"ezd slavistov. Sofia, sentjabr', 1963. - Moskva. Tschemochvostoff, G. ( f ) (1995): Zum Ursprung der Glagolica. - In: Studia slavica linlandensia, Τ. XII, 141-151. Uspenskij, B.A. (1984): Staroslavjanskij i cerkovnoslavjanskij. - In: Aktual'nye problemy izuJenija i prepodavanija staroslavjanskogo jazyka. - Moskva, 43-53. Velceva, B. (1991): Pravopisät na Svetoslavovija izbomik ot 1073 g. i negovite starobälgarski usporedici. - In: Simeonov sbornik (po Svetoslavovija prepis ot 1073 g ), Τ. 1. - Sofia, 130147. Vereliagin, E.M. (1972): Iz istorii vozniknovenija pervogo literaturnogo jazyka slavjan. Doklad na VII Meidunarodnom s"czde slavistov. - Moskva. Vostokov, A.Ch. (1831): Russkaja grammatika. - St.-Petersburg.

Antonie Hornung

(Trento)

Hörsaaltexte Mündliche und schriftliche Formen von Selbstdarstellungen im Fremdsprachenunterricht

Sprechen heißt, sich einen der Sprachstile anzueignen, die es bereits im Gebrauch und durch den Gebrauch gibt und die objektiv von ihrer Position in der Hierarchie der Sprachstile geprägt sind, deren Ordnung ein Abbild der Hierarchie der entsprechenden sozialen Gruppen ist.1

Sprechen und Schreiben im Unterricht ist Reflex der gesellschaftlichen Produktion von Texten; die Vermittlung diesbezüglicher Inhalte (Textarten, Kohärenz- und Stilvorgaben, Korrektheitsnorm, usw.) sowie die Art und Weise dieser Vermittlung hat ihrerseits teil an der gesellschaftlichen Konstruktion des Begriffs vom Text.2 Im Fremdsprachenunterricht überkreuzen sich die wie auch immer vorselektierten Inhalte der Zielsprachenkultur3 mit den in der Muttersprache vorgeprägten Textmodellen sowie mit den Vermittlungsmustern der Lehrenden und den Lernstilen der Lernenden. Die Gefahr, daß sich dabei ein Textbegriff entwickelt, der beim kleinsten gemeinsamen Nenner Richtigkeit bzw. Fehler los igkeit stehenbleibt, ist groß.

1. Textproduktion im Kontext von „Deutsch - Fachsprache der Wirtschaft" Das Textmaterial, auf das ich mich im folgenden beziehen werde, stammt aus dem ersten Teil von zwei Seminaren zur mündlichen und schriftlichen Textproduktion (vgl. Abb. 1), die im Rahmen einer neuen Studienordnung an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Trient im akademischen Jahr 1995/96 zum erstenmal in dieser Form abgehalten werden. Ziel der beiden Lehrveranstaltungen ist, einerseits Einblick zu gewinnen in die Realität der mündlichen und schriftlichen Textproduktion fortgeschrittener Lernender (durchschnitt-lich mind. 8-10 Jahre Deutschunterricht) in der sprachdidaktisch hochinteres-santen Situation eines Gebietes der direkten Sprachberührung, wo neben der geographischen Nähe des mehrsprachigen Südtirols auch die eigene historische Verbindung des Trentino mit dem deutschsprachigen Norden eine äußerst positive Grundeinstellung gegenüber der deutschen Sprache und Kultur bewirkt; andererseits geht es darum, Material zu gewinnen im Hinblick auf die Entwicklung eines modularen Modells für die mündliche und schriftliche Textproduktion im Bereich der Fach1 2 3

Bourdieu (1990: 31). Vgl. den Beitrag von G. Antos in diesem Band. U. Püschels Kritik an der „Häppchen-Unkultui" (in d. Band) gilt auch für viele Lehrbücher.

204

Antonie Hornung

spräche Wirtschaft, das die spezielle Situation der Studierenden in Trento berücksichtigt.

Universitä di Trento · Facoltä di Economia e Commercio · Anno accademico 1995/96 DEUTSCH - FACHSPRACHE DER WIRTSCHAFT Seminario A: La produzione del testo orale • Sich und andere vorstellen > Über sich selbst sprechen (kultur- und geschlechtsspezifische Redeweisen) • Mit anderen sprechen: überreden vs. überzeugen

Seminario B: Analisi e produzione di testi specialistici • Die Bewerbung - Riflessioni interculturali • Der Lebenslauf • Das Bewerbungsschreiben • Riflessione sui problemi di produzione

> Verkaufsgespräche führen • Übungen • Analyse der Übungen 1 Entwicklung von Strategien

• Ein Produkt beschreiben • Den Gebrauch eines Produktes beschreiben • Riflessione sulla produzione del testo descrittivo

> Verhandlungen fuhren • Übungen • Analyse der Übungen/Entwicklung von Strategien

• Die Sprache der Werbung • Für ein Produkt werben • Informieren/Argumentieren vs. Unterlassen von Information/Verfuhren

• Einfuhrung: Argumentieren • Sprechen und zuhören - der amerikanische Dialog • Widersprechen - zustimmen - schweigen • Einen Sachverhalt beschreiben

• Deutsche Bundesbank und Banca d'Italia (Informationspolitik und Vermittlungsstil) • Einen Sachverhalt darlegen • Sachverhalte beurteilen • Urteile begründen

1

• Ökonomie und Ökologie4

Ein Problem vortragen und zur Diskussion stellen 1 Kurzreferate zum Themenkreis „Europäische Union" 1 Analyse der fachlichen und sprachlichen Schwierigkeiten ' Ideen und Visionen

• Einen Text zusammenfassen und Thesen formulieren • Analyse der Schwierigkeiten • Ideen und Visionen Abb. 1

1.1. Lernstil: Auswendiglernen Auch wenn die Bedingungen ideal erscheinen - lange Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, Zweisprachigkeitskontext und aus beruflichen Gründen starke Lernmotivation - , ist die Unterrichtssituation nicht einfach. Herkunftsprovinzen der Studentinnen und Studenten sind neben dem Südtirol und dem Trentino das Veneto und die Lombardei, d.h. das Publikum ist sowohl im Hinblick auf die 4

Arbeitsbücher: Glauber/Pfriem (1992) und Altvater (1992).

Hörsaaltexte

205

sprachlichen wie auch auf die kulturellen Voraussetzungen heterogen. Mehr oder weniger homogen scheinen jedoch die Lernerfahrungen zu sein. Der Lernstil Memorisieren dominiert, was bedeutet, daß Sprachenlernen als Auswendiglernen von Regeln und Wortschatzbüffeln imaginiert wird, Grund genug für den problematischen Filter, Deutsch sei eine schwer zu lernende Sprache. Da (demzufolge?) die Fertigkeiten des Sprechens und Schreibens wenig ausgebildet sind, gibt es viele Hemmungen, die „fremdsprachliche Regression"5 ist entsprechend stark.

1.2. Die Fokussierung der informativen Funktion von Fachtexten Genauere Aussagen darüber, welche Maturandinnen und Maturanden mit welchen Leistungsvoraussetzungen und Motivationen sich für das neuerdings nicht nur in Italien zum Modefach gewordene Studium der Wirtschaftswissenschaften einschreiben, sind mir nicht bekannt. Die Teilnehmerinnen der Seminare kommen vorwiegend aus „Wirtschafts"- bzw. naturwissenschaftlichen Gymnasien, ihre beruflichen Pläne gehen in Richtung Buchhaltung, Übernahme des elterlichen Betriebs, Steuerberatung, höhere Beamtenlaufbahn, Banken. Ihr Interesse an Sprache, insbesondere an den beiden Fremdsprachen, in denen sie Fachsprachenkenntnisse nachweisen müssen, ist also weniger ein linguistisches denn ein instrumentelles. Sie rezipieren Fachtexte vorwiegend auf deren informative Funktion hin und glauben, der Problematik fachsprachlicher Textproduktion in Wort und Schrift sei vor allem durch den Erwerb von Fachwortschatz beizukommen. Gerade letzterer spielt aber im abendländischen Kontext der graeco-lateinisch orientierten Produktion von Terminologie nicht unbedingt die Hauptrolle, was fachlich fortgeschrittene Studierende im Verlaufe der Auseinandersetzung mit deutschen Wirtschaftsfachtexten z.B. der Makroökonomie oder des Bankwesens relativ schnell erkennen. Bereits im Besitz der Terminologie in Li, können sie sich wesentlich besser auf die mit den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen korrelierenden diversen Textproduktionsmuster, Formulierungsgewohnheiten und Eigenheiten der Wortbildung konzentrieren als die Studienanfangerlnnen - um solche handelt es sich bei der neuen Studienordnung im Gegensatz zur alten vor allem die mit dem Fachtext außer der für sie fremden Sprache auch erst die Sache kennenlernen. Konkret: Wer nicht weiß, was ein Bruttoinlandsprodukt ist und wie Lebenshaltungskosten berechnet werden, kommt mit dem zweisprachigen Wörterbuch nicht weiter. Diese Art der Wissensproduktion im Fremdsprachenunterricht, ein Fall von Immersion, setzte allerdings Ökolinguistlnnen bzw. Linguistikoökonomlnnen als Lehrkräfte voraus.

1.3. „Differenza" und „Partire da se"6 Im Gegensatz zum häufig praktizierten Vorgehen, das die Textproduktion im Fremdsprachenunterricht von Anfang an an vorgegebene Texte anlehnt,7 folgt das 5 6

Börner (1989: 351). Muraro (1992); mit Bibliographie deutscher bzw. übersetzter Arbeiten: Kahlert (1993).

206

Antonie Hornung

Programm der beiden Seminare dem Grundgedanken der Differenz und des „Partire da se". Dieser Ansatz wird seit über zehn Jahren, aufbauend auf Positionen von Lacan, Kristeva, Irigaray u.a. für die Situation in Italien theoretisch entwickelt von „Diotima", einer Gruppe von Philosophinnen und Linguistinnen der Universität Verona. Eine der zentralen Figuren unter ihnen ist Luisa Muraro, die Lacans Positionen aus feministisch-philosophischer Sicht fortgedacht hat. Es geht hierbei (stark verkürzt dargestellt) darum, eben nicht in Analogie zum üblichen männlichen Wissenschaftsdiskurs8 zu verfahren, mittels dessen eine symbolische Ordnung ausgebreitet wird, in die die Lernenden sich einzupassen haben, die ihnen aber aus verschiedensten Gründen schwer zugänglich oder überhaupt unzugänglich bleiben mag, sondern es geht darum, die eigene Differenz sich bewußt und, von sich selbst den Ausgang nehmend, sich auf den Weg zum anderen (Menschen, Wissenskorpus, Sprachgebrauch, zu einem anderen Verhalten) zu machen. Mit dieser philosophischen Grundposition lassen sich folgende sprachdidaktische Annahmen verknüpfen: 1. Sprechen über sich selbst fällt zumindest vordergründig einfacher als Sprechen über ein Fachgebiet, weil die Wissensgenerierung wegfällt. (Bedeutsamkeit der kulturell unterschiedlichen Praktiken) 2. Sprechen über sich selbst setzt den notwendigen Reflexionsprozeß über die eigenen sprachlichen Fähigkeiten in Gang bzw. treibt ihn voran. (Zielrichtung: Lernstilerkenntnis und -Veränderung) 3. Mehr Klarheit über die eigenen (fremd)sprachlichen Fähigkeiten erleichtert den Zugang zur Fremdheit der fremden Fachsprache. Es geht also darum, den einzelnen Lernenden die Möglichkeit zu geben, sich zunächst an sich selbst zu messen und nicht an einer für alle gleichen Barriere, wie sie ein wie auch immer gearteter fachwissenschaftlicher Einstiegstext darstellt. Der Prozeß hin zur Fachtextproduktion ist in der Folge Schritt für Schritt zu begleiten.

2. Selbstdarstellung und ihr Reflex im mündlichen bzw. schriftlichen Text 2.1. Mündliche Vorstellungen Von den verschiedenen im Hörsaal produzierten Texten möchte ich im folgenden auf die audioaufgezeichneten Selbstpräsentationen von 36 Studierenden und auf einzelne Beispiele schriftlicher Textproduktion näher eingehen. Die mündlichen Beiträge, in denen sich die Studierenden der Gruppe und der Lehrperson kurz vorstellten, wurden frei gesprochen. Eisbrecher war ein Student deutscher Mutter7 8

Börner (1989). Hierzu z.B. Widmer (1990: 142ff.: „Der Diskurs der Universität").

Hörsaaltexte

207

spräche, von ihm aus ging das Mikrofon von Hand zu Hand weiter; alle haben gesprochen. Der Beitrag von S 6 als ein Beispiel für viele:9

1 6

. Ich heiße Manuela,. ich komme auss

6

Meran,. äähm, ich habe Deutsch nurr ääh . an der Schule gelernt. äh für dreizehn

6

Jahre,. dreißig Jahren ((lacht)) ääh undäh . mm . ((lacht)) . ich bin aucha wiie äh

6

Veronica undäh Elena ann denn ersten Jahr außer Pflicht. unnd . äh . . ((lacht))

2

3

4

Die mündlichen Kurzbeiträge (vgl. Abb. 2) sind wie folgt verteilt: Name (36), Herkunft (30), Wohnort (12), Schulbildung (24), Studiensituation (21), Beziehung zur deutschen Sprache (11), Fähigkeiten in dieser (26), Aufenthalt im deutschsprachigen Ausland (14), das Motiv für die Teilnahme am Deutsch-Seminar (12) und andere Aussagen wie Gründe für das Studium an der Universität Trient (alle drei Muttersprachigen begründen es mit dem Wunsch, besser Italienisch lernen zu wollen), Angaben über Wohnsituation (2), Berufserfahrungen und Berufswünsche (3), Alter (2) und das Verkehrsmittel, mit dem die Studentin täglich nach Trient fährt. Im Verlaufe der Vorstellungsrunde hat sich relativ schnell ein bestimmtes Schema herausgebildet, das mit der Namensnennung beginnt, dann folgt ein Hinweis auf die Herkunft oder den Wohnort, für die restlichen Aussagen variiert die Reihenfolge. Die relativ große Beliebigkeit dieser Reihenfolge kann als ein Zeichen für die Abwesenheit einer kohärenten Textstruktur in den einzelnen Gesprächsbeiträgen verstanden werden: Die Einzelaussagen sind Bausteine, aus denen mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wird und die dann aneinander gehängt werden, wie es der Moment, in dem gesprochen wird, zuläßt.

9

Die Transkriptionen wurden mit Anpassungen an die technischen Möglichkeiten nach dem Transkriptionssystem HIAT 1 erstellt. Hierzu Redder/Ehlich (1994). Der Akzent über den Schlußsilben markiert eine nach oben gehende Betonung, die mit den Ausspracheschwierigkeiten italienischer Deutschlemerlnnen zu tun hat.

Antonie Hornung

208 Überblick *

D=L]

über die Hauptaussagen 2) Herkunft

1) Name

Ο Lad./ Dt./It. 1 m* 2 w 3 w* 4w 5w 6w 7w 8w 9 m° 10 m° 11 m 12 w 13 w 14 m 15 m 16 m 17m 18m 19 m 20 m 21 w 22 w 23 w 24 w 25 w 26 m* 27 w 28 w 29 w 30 m 31 m 32 m 33 w 34 w 35 w 36 m

4) Studium Uni

3) Schulbildung

2 1/ 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2

3

3 5

2 3 2 2 4 3 3 2

a) Beziehung 5

6 4 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3

2 6

2

2 3 2 2

im Text:

5) Deutsch

b) Wohnort

•) Geb.ort 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

und ihre Reihenfolge

5 4 3 5 4 4 4

6 6 5 6 4 4 5 6

b) Fähigkeit

4 4

7) Anderes

c) Ausland

3 6

3

6

3 3 3

4

5 7 4 3 4 4 5 4 7

4

4 7

8 4

3 6 5 4

6

3 5 6 5 5 5

6

7

5

4

5 6

7

2; 6 5 7

4 4 5 4

3 3 3 5 4 4 3

6) Motiv für die Teiln.

3 4 4

5

4 4

5 4

3 6 6 2 5 5

3 4

3 5 3

4 6 7 4 3; 5 3 3

2 2

5

2 6

8 4

5 6 4 4

Abb. 2

2.2. Intertextualität im Klassenzimmer - Auslöschung der Differenz? Liest man diese Präsentationen als einen Gruppentext, d.h. die entsprechenden Aussagen nicht als ganze und nacheinander, also horizontal, sondern vertikal (vgl. Abb. 3 und 4), so fallt auf, daß sich ihre Unterschiedlichkeit im wesentlichen auf die Differenz der Reihenfolge beschränkt. Die Parallelität der einzelnen Aussagen ist enorm groß, vor allem die Namensnennungen, Herkunftsbezeichnungen (Abb.

Hörsaaltexte

209

3), Auskünfte über die Schullaufbahn und die Studiensituation laufen nach dem gleichen Schema ab: Subjekt, Prädikat, Ergänzung, eingeleitet durch Ja", „also", Verlegenheitsfloskeln, aneinandergehängt durch „und". Additive Alltagsnarration; der verfügbare Wortschatz scheint gering. Geringfügig mehr sprachliche Individualität findet sich, wo über die Fähigkeit im Deutschen gesprochen wird.

komme aus Südtirol,

1 m* 2 3 4 5

w w* w w

6w 7w

Ja, ich ich ich ich ich ich

also genaugenommen . aus Bruneck . . und . ah das ist sehr nah . an Österreich

komm/. Also, ich ah . komme aus Innichen; komme aus Bozen . komme auchäh . äh aus/ komme auss Meran, komme auss. Mogliano/Veneto,

8w ich komme aus Male. Ich komme auss . Wolkenstein . 9 m° 10 ra° ich kommee ah aus Sankt Ulrich. Ich kommee . ääh von Bozen, äh 11 m 12 w ich komme aus Bozenn, 13 w undäh. ich komme aus Bozen . Ich komme aus Bozen . 14 m ich komme aus Leifers, 15 m ich äh bin/ ich komme aus äh Leifers. 16 m Ahh, ich komme aus Bozen, ääh, 17m Ich komme aus Bozen.. 18 m 19m Ich bin auch au/aus Bozen, äh 20 m 21 w 22 w ich komme von Bozen, ääh, 23 w komme aus Bozen, 24 w 25 w ich komme aus Kortatsch. 26 m* 27 28 29 30 31 32 33 34 35

w w w m m m w w w

36 m

Ich komme aus Cloz. ahm ich binn in der Schweiz geboren, Ich komme aus Bozen, ich bin in Sterzing geboren. bin imm Salerno geboren..

Innichen ist gleich an der Grenze von Österreich,. ich bin von . aus Bozen, ähh . äähm, einem . ramm . . /come si dice vico?/ comune. m äh ((Hilfe der Lehrerin)) ja, äh si, no, un comune in Provincia di Treviso, ma no, quindi, okay. in Groden, Südtirol.

dort

das ist ein Dorf äh 10 km südlich von Bozen,

wo

Das ist ein Dorf, ah ein kleines Dorf auf halb Weg zwischen Trient und Bozen gu,. auf der Strecke . . Cloz ist äh ein kleines Dorf Nonnstal.. aberr ((lacht)) . wo

Ich bin in Trient geboren,. ich komme aus Bozen, Abb. 3

Antonie Hornung

210 1 m* 2w 3 w* 4w 5w

undah ähh aberr

6w 7w 8w 9 m° 10m° 11 m

Ahh. Ahm Ja. und

12 w 13 w 14 m

undäh undäh undäh

15 m

und

16 m 17 m 18 m 19 m 20 m 21 w

22 w 23 w 24 25 26 27 28

w w m* w w

29 w 30 m 31 32 33 34

m m w w

35 w 36 m

undäh

ich hab' auchah einah deutschah aah Studiumah ahm . ah gemacht, ja, sicher und meine Schwierigkeit ist das Italienisch, nicht das Deutsch ((lacht)). ich habe Deutsch nur in der Schule gelernt. Meine Eltern sind italienisch . undahh . soi/m . meine. Möglichkeit, lern/ Deutsch zu lernen war nur in der Schule. ichäh habe viele Schwierigkeitenn . äh im Deutschen . . Ahh ((lacht)) und ähh . . so . äh muß ich ((lacht)) noch äh lernen, ((lacht)) viel lernen.. ich habe Deutsch nurr ääh . an der Schule äh gelernt. äh für dreizehn Jahre,. dreißig Jahren ((lacht)) und ich abe sehr viell Schwierigkeiten mit Deutsch ((lacht)) ja. ich habe Deutsch . m in der Schule gelernt. Aber Deutsch . kann ich nicht so gut. Hab' ich schon auch Schwierigkeiten. habe dort die Möglichkeit gehabt, dreizehn Jahre äh Deutsch zu studieren, und ichh ich habee . Deutsch in der Schule gelernt, äh . dreizehn Jahre lang, aberr ich äh sprechee nicht so gut Deutsch, und ich habe Deutsch nur in der Schule. gelerntt, dreizehn Jahre lang,. und äh . ich habe Deutsch in der Schule . ahm studiert ähm gelernt, und ich habe auch Deutsch in der Schule gelernt unnd wie/ ((lacht)) wie allee in Südtirol. und an . nichts ((lacht)).. ich habe in der Volksschule und in der Mittelschule habe ich Deutsch äh . Deutsch Schule besucht, und deshalb kann ich äh ziemlich Deutsch . und äähm . . mei/ziemlich schlecht Deutsch ((lacht)) statt meine Omaa aus äh Oschtreich ist, äh ich bin äh, ich kann nicht sehr gut äh deutsch . äh reden. Ich habee nach der Maturaa die B-Prüfung bestanden.. Und jetzt. ((P fragt nach)) Diie Zweisprachigkeitsprüfung, die gleich nach nach Matura macht. . ich habe auch die Zweisprachigkeitsprüfung Typo Β bestanden . und Ich habe Deutsch in der Schule gelerntt.. Ah . in diesem Jahre habe ich äh nicht mehr Deutsch gehört äh und gesprochen, und so e ich äh einige Schwierigkeiten zu sprechen und zu verstehen..

undäh

ich lerne äh Deutsch seitäh . dreizehn Jahren, aberr . es sieht man nicht, ((lacht)) leider, äh (dacht)) Äh, ich lemee Deutschäh seitäh . dreizehn Jahren.

Ich habe nur in der Schule . gelernt. Ich habe nur in der Schule gelernt. aberr ((lacht)) ich kenne ((lacht)) ich spreche nicht so gut deutsch. Ich bin nur/ nur äh zwei Jahre inn der Schwei/ in der Schweiz geblieben. und . obwohl ich ((schmunzelt)) zehn Jahre . Deutsch gelernt habe, muß ich noch viel lernen. ((Räuspern)) so äh Deutsch habe ich nur mit Freunden . oderr. in der Schule gelernt. Aäh. ahm.

. ich habe nur. äh in der Schule Deutsch gelernt.. ich habe v/viele Jahre. äh Deutsch gelernt, als ich äh mm k/klei/ ei/ein/einen Kind ware, ähäh in Grundschule . äh ich Deutsch gelernt. äh und . auch . inn mm . der . mm .. m m . Wirtschaftswissenschaft/ nein ((P hilft)) Ja. Undäh ich habe auch . diie . Prüfung . äh . um . Deutsch zu er/. erkennen . äh in der Universität.. äh aber ich erinneree . nicht viele Wörter auf deutsch, äh besonders äh die . ökonomi. sehe Wörter. Äh und ich . äh muße studieren . sie. ((lächelt)) und ich studiere seit sechzehn Jahre äh Deutsch.. ich habee Deutsch äh . in der Schule gelernt und äh . ich bin da ((lacht)) Abb. 4

Hörsaaltexte

211

Polyfunktionalität und Verhaltensmuster beim Sprechen Sich selbst vorstellen in einer neuen Umgebung ist ein durchaus authentischer Sprechanlaß und für vorgerückte Studierende einer Fremdsprache auch nicht gerade eine Zumutung. Was die vorliegende Situation erschwert hat, war das Mikrofon, durch welches die Angst vor dem Sprechen und vor dem Fehler wohl verstärkt wurde. Ich glaube aber nicht, daß die Aussagen, wenn nicht sichtbar aufgezeichnet worden wäre, wesentlich anders aussähen. Vielmehr scheint einerseits die Polyfunktionalität dieses Sprechens, das die unterschiedlichen Illokutionstypen10 ineinander verschachtelt, bei der Mehrheit der Sprechenden eine kohärente Textbildung zu behindern: 1. Eigentlich wollen sie nicht sprechen"; ihr Sprechen ist reaktiv, denn sie gehorchen der Aufforderungshandlung der Lehrperson, womit sie gleichzeitig den institutionellen Rahmen und seine Spielregeln anerkennen. 2. Sie wollen aber doch sprechen, weil sie mit der Motivation, eine Prüfung bestehen zu wollen, in das Seminar gekommen sind und wissen, daß ihnen eben die Geläufigkeit im Gedanken-und-Zusammenhänge-Formulieren fehlt. 3. Sie thematisieren mit ihrem Sprechen diesen Mangel als eine Art captatio benevolentiae für die Lehrperson. Zum anderen sind es die kulturell vermittelten Lern- und Verhaltensmuster,12 die den Zugriff auf die Fix-fertig-Formulierungen der ersten Phase des Fremdsprachenunterrichts ebenso steuern wie die Versuche, sie zu überwinden.13 Vermutlich war es den einzelnen Sprechenden sehr wohl bewußt, daß sie sich sowohl durch die Inhalte ihrer Beiträge als auch durch die Art ihres Sprechens vorstellten. Die Tendenz der Sprechenden, sich dem Raster der Gruppe anzupassen, verweist auf ihre Unsicherheit. Differenz braucht Mut. Kinder sprechen und schreiben gerne von sich, Erwachsene haben das bis zu einem großen Teil schon verlernt. Den Prozeß des Verlernens lenkt die Kultur, der wir angehören. Fremdsein heißt unter anderem auch, darüber nicht Bescheid zu wissen.14

10 11

12 13 14

Heinemann/Viehweger (1991: 97ff.). S6 z.B. schreibt im Anschluß an die Vorstellungsrunde: „Ich bin immer nervös, wenn ich vor viele Leute sprechen muß, weil ich sehr emotiv bin. Ich erinnere mich nicht so viele Wörter, wie einmals, als ich in der Schule war. Für diese Grunde mag ich nicht an der Microfon sprechen." Ehlich/Rehbein (1983, 1986), Feidenkrais (1989), Bourdieu (1990). Vgl. Abb. 3: S l , 3, 7, 15, 26, 27, 28 und Abb. 4: S4, 14, 15, 16, 18, 21, 23, 28, 30, 34. Kristeva (1988).

Antonie Hornung

212 Lachen15 ρ

Sie können schon. Ich heißee Romano.. Ich komme aus Bozen . undäh habe

15

15

15

15

das Realgymnasium besucht, unnd das ist meinn . er. stes Jahr in der Universität

, undäh ich habe auch Deutsch in der Schule gelernt unnd wie/ ((lacht)) wie allee

in Südtirol. und an . nichts ((lacht)).. Ich heiße Marignano, ich komme aus

16 Leifers, das ist ein Dorf äh zehn Kilometer südlich von Bozen,. .und ääh ich 16 habe die Handelsoberschule besucht, und ich habe in der Volksschule und in der 16 Mittelschule habe ich Deutsch äh . Deutsch Schule besucht, und deshalb kann 16 ich äh ziemlich Deutsch . und äähm . . mei/

/ziemlich schlecht

16 / (( Gelächter

))

S Ρ 16

(Das glaubt man) Ihnen, wenn manJ, das glaubt man Ihnen, Deutsch ((lacht)) ((großes Gelächter))

Ss 10 Ρ

wenn man Sie hört, überhaupt nicht.

16

Ja, ich hoff es. . Und äh . ich bin froh, hier

11 16

zu sein, und es freut mich, wenn ich äh,. eines Tages. äh Manager werde.

Ss

((Kichern ))

((Lachsalve))

mit viel Heiterk.

Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang einen Blick auf die interaktionale Rolle des Lachens in dieser Lektion zu verweisen, weil Lachen in der italienischen Gesellschaft traditionsgemäß bedeutsam ist. La figura, das gesellschaftliche Ansehen, das eine/einer wie auch die ganze Gesellschaft bei den anderen hat, spielt eine wichtige Rolle für ihr Selbstbild.16 Die Angst vor der vergogna, vor dem fare 15 16

Kotthoff (1988) und Groth (1989). Castelfranchi (1988).

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brutta figura, d.h. davor, das Gesicht zu verlieren, ist groß. Das Lachen, das sich in Lachsalven der Gruppe (9, 11), in vereinzeltem Gekichere (11), in selbstkommentierendem Lachen (3, 4, 9), Schmunzeln und fragendem Lächeln manifestiert, begleitet in den meisten Fällen Verlegenheit oder Aussagen über Schwächen und Schwierigkeiten mit dem Deutschen, wie es auch auf jede noch so kleine technische Panne oder Variation in der Kommunikationssituation reagiert. Es wird zum Kohäsionsmittel der Einzelbeiträge, und als Kohärenzmittel des Gruppentexts baut es im Verlauf der Lektion eine Art Gruppenkonsens der Selbstironie auf, der wie ein Seismograph auf Differenzbemühungen reagiert (8, 11).

2.3. Mut zur Differenz oder: Gehversuche auf dem Weg vom Sätze-Stottern zum Texte-Weben Sprechen im Hörsaal, organisiert wie in der oben beschriebenen Lektion und begleitet von der Angst vor dem Fehler, fuhrt zwangsläufig zu Regressionen im Sprachgebrauch.17 Verläßt man die Einbahnstraße des frontalen Unterrichts, verändern sich auch die Texte. Beispiel 1: Sich gegenseitig vorstellen Der Sprechanlaß (3. Semesterwoche) wurde von den Studierenden autonom durch ein Partnerinterview (2. SW), für das ein Fragebogen18 zur Verfügung stand, auf deutsch, aber unter Zuhilfenahme des Italienischen und des Wörterbuchs vorbereitet. Sie haben unter Benützung ihrer Notizen frei gesprochen. Abgesehen davon, daß die Beiträge umfangmäßig und inhaltlich wesentlich reicher19 ausgefallen sind als die Selbstpräsentationen der ersten Lektion, vermitteln sie den Eindruck

17 18

19

Sinclair/Coulthard (1975), Carli (1996). Aufgabe: Sie interviewen Ihre Kommilitonin oder Ihren Kommilitonen. Sie benützen das Material, das Sie mittels des Interviews erhalten haben, um sie bzw. ihn dann den anderen vorzustellen. Die Fragen sind großenteils offene Fragen, d.h. sie lassen den Interviewten viel Freiheit bei der Beantwortung. Es sind Leitfragen, das bedeutet, daß Sie während des Interviews auch selbst Fragen hinzufügen können. Während des Gesprächs machen Sie sich Notizen, die Sie anschließend verwerten. 1. Wo bist du geboren, und wo wohnst du heute? 2. Was weißt du über deinen Geburtsort? (Größe, Einwohnerzahl, Altersstruktur, hauptsächlich vorkommende Berufe, Einkommenssituation, Situation von Frauen und Männern usw.) 3. a) Falls der Wohnort noch immer der Geburtsort ist: Was gefällt dir an deinem Geburtsort? b) Falls der Wohnort nicht mehr der Geburtsort ist: Warum bist du von deinem Geburtsort weggezogen? 4. Wo möchtest du leben? 5. Hast du Hobbies, welche? 6. Du studierst Wirtschaftswissenschaften. Welches ist dein Studienschwerpunkt? 7. Warum hast du dich für dieses Studium entschieden? 8. Was möchtest du einmal werden? 9. Hast du bereits Vorstellungen davon, wie du einmal leben möchtest, und welche? Der vorliegende Ausschnitt entspricht der Hälfte eines durchschnittlichen Gesprächsbeitrags.

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von mehr sprachlichem und Textstrukturenwissen,20 was sich am Einsatz bestimmter Kohäsionsmittel und an einer gewissen Kohärenz des Gesagten ablesen läßt.21 Über die durch „undäh" verbundenen Satzreihen (2, 5, 8, 13, 15) hinaus finden sich einfache Hypotaxen: Relativsätze (1, 4, 6, 16), Kausalsätze (3, 4, 10, 12, 13, 14), ein Beispiel für indirekte Rede (1 Ii). Es gibt Rekurrenz (Trient; Stadt; Berufe; Australien; leben; Klima), Substitution (Trient - Stadt; Australien - Land) und Pro-Formen (dort). Gedanklichen Zusammenhang schaffen auch Parallelismen (3f. „weil...ist") sowie Präzisierungen (4f., wo erklärt wird, weshalb Trient „eine ruhige Stadt ist", oder 6f.). Die Rekurrenzen (S18 hat mit Sicherheit gelernt, daß „variatio delectat"; vgl. Substitutionen und 15f.) und die Parallelismen (anaphorisch in 3f.) sind hier, abgesehen von ihrem stilistischen Wert, Hinweise auf die Wortschatzprobleme und die Grenzen der Satzbildungsfähigkeiten von S18. Darüber hinaus verweisen die Verstöße gegen die Normen des deutschen Sprachgebrauchs auf seine grammatikalischen Schwierigkeiten: ι

s 18

. Ich stellee Giovanni vor,. der aberr . heute nicht da ist.. . Ääh . er . ist in

Trient geboren . undääh . (j/) heute . lebt er noch . in Trient.. äähm .. ihm

gefalltäh . Trientäh sär,. weil Trientt einee ziemlich klei/ äh kleine Stadt ist.

ääh .. weil Trient äh . eine ruhige Stadt ist, woo . . äh eine Stadt, woo . die ' ' ((viel leiser)) Kriminalität n/ äh nicht sich äh . äh . entwickelt hat. fast nicht. ((3s)) undäh .

, in . diee . die meisten Berufen in Trient. sindäh Berufe, diee ääh . . äh mit dem

Dienstt zu tun haben, mit dem Tourismus undäh mit dem Landwirtschaft .

äähm . . undäh ((3s)) Giovanni äh . liebt äh in dieser Stadt zu leben,. aberr

äh . sein Traum. ist äh in Australien zu leben, äh . er istt dort. schon gewesen 10 . äh . weil er hat dort äh äh die vierte . äh . das vierte, das vierte Jahr . äh . des

20 21

Brinker (1988), Heinemann (1991: 93ff.). Eine wie oben beschrieben organisierte Präsentation anderer ist im Unterschied zum Gespräch eine Mischfom von mündlicher und schriftlicher Textproduktion; Elemente letzterer sind z.B. die Vorbereitungs- und Planungsphase, in der Sachwissen gesammelt und geordnet wird, wie auch die eigenverantwortliche Formulierung eines zusammenhängenden Redebeitrags durch die sprechende Person.

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11 Realgymnasiums . äh . verbracht .. undäh er sagt, daß Australien eine/ein ((fragend)) wunderschönes Land . istt. äh . . weil. dort. die Leute . sär r.. offen . sind .

12

13

Ρ offen S

18

offen, ja . undäh . . er will dort auch leben, weil dort viele Freunde hat.

14 undäh ein gutes Klima . Μ äh dort gibt, weil in Australien . fastäh alle Klima 15 . äh . geben . . undäh . seine Hobbies sindäh Gitarre spi/ Gitarre spielen undäh 16 äh . . er besucht auch . äh das Konser . vatorium, wo er aberr äh Klavier. 17 studiert, ja.

Pluralbildung (6: die Berufen mit Sofortverbesserung); die Notwendigkeit des Subjektpronomens, das in der italienischen Verbform enthalten ist (8: „liebt" : ama = er/sie/es liebt; 9; 14); Wortstellungsunsicherheit bei Verneinung (5). Auf die Ausspracheprobleme, die die Transkription nach HLAT 1 deutlich macht und die in der realen Sprechsituation das Verständnis ziemlich erschweren können, kann in diesem Kontext nicht weiter eingegangen werden. Ich denke aber, es ist klar geworden, daß eine so organisierte Form des Sprechens im Hörsaal im Vergleich zur kleinteilig angelegten Selbstpräsentation der ersten Lektion den Lernenden wesentlich mehr Möglichkeiten offenläßt, ihre sprachlichen Fähigkeiten auszutesten und an die Grenzen eben dieser Fähigkeiten (14: es gelingt ihm hier nicht, verständlich auszudrücken, was er eigentlich sagen will, daß es nämlich in Australien unterschiedliche Klimazonen gibt) zu stoßen. Beispiel 2: Über Schreiben schreiben - Ecriture automatique

,22

Zehn Minuten freies Schreiben, ohne Angst vor dem Fehlermachen und dem Nichtwissen von Wörtern, weil alle Gedanken in allen verfugbaren Sprachen und Varietäten niedergeschrieben werden dürfen, bringen oft erstaunliche Textproduktionsfahigkeiten und -mängel aufs Papier. Schriftliches Nachdenken über die eigenen Schreiblernerfahrungen in der vierten Lektion des Schreibseminars: Wie ich zu schreiben gelernt habe, erinnere ich mich nicht. Ich glaube, daß meine Mutter mir zuerst gelehrt hat, wie die ,lettere delPalfabeto' zu schreiben sind und dann auf der Schule habe ich richtig gelernt. Man endet mal nicht zu lernen. Auch jetzt, mit diesen Lehrmethoden, bin ich .piacevolmente erstaunt (sorpresa)' - anche se ti mettono in crisi: odio scrivere!! I don't like writing. Ich liebe lesen. Faccio fatica a esprimere cid che provo, ciö

22

Zur didaktischen Umsetzung der „ecriture automatique" Andre Bretons vgl. Homung (1994, 1995 und 1996).

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che ritengo di essere, mi diverte sapere come mi vedono gli altri. ,Uno, nessuno, centomila' (Pirandello) = wir sind so: rien, si parson nous voix, uno, quello che noi crediamo di essere, 100.000 quello che gli altri ci vedono. (S 6)

Wer Erfahrung mit Schreibdidaktik hat, wird sich über den zentralen Ausruf: „odio scrivere" - ich hasse Schreiben - , auf englisch abgeschwächt, aber doch auch gedoppelt, kaum wundern.23 Trotzdem gelingt es der Studentin, ihre Schreiblernerfahrung treffend zu skizzieren: Für sie gibt es offensichtlich zweierlei Formen des Lernens, diejenige, die von der Mutter beeinflußt wurde; sie war anscheinend nicht „richtig": „Richtig" gelernt wird in der Schule. Was ist wohl damit gemeint, und was ist gemeint, wenn sie schreibt „Man endet mal nicht zu lernen"? Mit Peter Bichsei24 ist zu vermuten, daß „richtiges Lernen" auch fur S6 mit Arbeit, im ursprünglichen Wortsinn der Mühsal,25 verbunden ist: „Man lernt in der Schule das Arbeiten. Man lernt, daß Arbeit unangenehm ist, im Schweiße unserer Angesichter stattzufinden hat, und deshalb, nur deshalb, Gott wohlgefällig ist."26 Wie könnte bzw. dürfte Schreiben Spaß machen? Mehr als der Blick auf die Normverstöße kann hier derjenige auf die Stellen des „Code switching" Aufschluß über die sprachlichen Fähigkeiten der Schreibenden geben: Sie schwenkt ins Italienische, wo es um einen für sie zum Eigennamen gewordenen Ausdruck27 bzw. um Redewendungen geht.28 Zweimal, hier scheint es schon zum Spiel geworden zu sein, springt sie mit Feststellungen in der Form einfacher Aussagesätze ins Deutsche zurück: „Ich liebe lesen" in Opposition zur Ablehnung des Schreibens. Darauf folgt eine Erklärung der Schwierigkeiten beim Schreiben, mit der S6 auf die Fragebögen29 anspielt, die im Vorfeld eines zu verfassenden Bewerbungsschreibens als Hilfsmittel für die Generierung von sachlichem und sprachlichem Wissen verwendet wurden, was sie an ein Zitat Pirandellos erinnert, das sie wiederum zu einer Behauptung auf deutsch veranlaßt: „wir sind so". Über einen mißglückten Versuch im Französischen kehrt sie endgültig zurück ins Italienische. Beispiel 3: Bewerbungsschreiben Als Beispiel für ein Bewerbungsschreiben,30 das in seiner Kombination aus Informationen und Wünschen bzw. indirekten Bitten an den Empfanger eine beabsich23 24 25

26 27 28

29 30

Baurmann (1992). Bichsei (1980/hg. 1984: 131-142). Kluge (211975: 28): germ. *arbejo = ,bin ein verwaistes (und darum zu harter Arbeit verdingtes) Kind'. Bichsei (1980: 134). Das Anfuhrungszeichen macht es deutlich: ,lettere dell'alfabeto' - das Alphabet. „piacevolmente sorpresa" - angenehm überrascht; S6 setzt das viel seltener verwendete „erstaunt" dazwischen; es wäre im Italienischen „stupita, meravigliata, stupefatta"; „sorpresa" ohne „piacevolmente" hätte die Bedeutung von „befremdet". „Ti mettono in crisi" - durch diese Methoden gerätst du in eine Krise. Macchi/Sansoni (1992: 816). Reichel (1995: 10f.). Text der Annonce (ohne graphische Gestaltung): „Sie wollen in die Informatik einsteigen und suchen eine gute Ausbildungsmöglichkeit. Sie sind zwischen 22 und 32 Jahre alt, haben eine kaufmännische resp. technische Ausbildung oder die Matura abgeschlossen und können Be-

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tigt-unbeabsichtigte Selbstdarstellung mit Aufforderungscharakter darstellt und als solche nicht nur L2-Schreiberlnnen Kopfzerbrechen bereitet, sei hier ein Text der gleichen Studentin angeführt: IHRE ANZEIGE VOM 09.11.95 IM DER TAGES ANZEIGER-ZEITUNG SEHR GEEHRTE FRAU KNÖPFEL, [I] ich bin 25 Jahre alt, [2] habe die Fremdsprachenmatura abgeschlossen und [3] studiere an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Trient. [4] Ich arbeite part-time im Büro einer Handelsvertreterin mit. [5] Ich habe schon PCErfahrung, aber [6] ich möchte sie weiter entwickeln und [7] lerne gern Neues dazu, weil [8] Informatik gibt die Möglichkeit, [9] dynamischer zu sein, [10] schneller und besser einen Auftrag zu fertigen. [II] Ich finde mich schnell in unterschiedlichen Situationen zurecht, so [12] habe ich kein Problem fur das Ort und die Dauer der Ausbildung. [13] Ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten, da [14] ich mit ganz unterschiedlichen Menschen zurechtkomme. [15] Für den späteren Einsatz in kleinen Projektteams hätte ich gem, wenn dieser [[mir]]31 [16] die Möglichkeit gäbe, Kontakte mit Italien zu behalten. [17] In der Hoffnung einer Einladung zum Vorstellungsgespräch sende ich Ihnen freundlichen Grüße32 Welches Textproduktionswissen aktiviert S6 mit diesem Text? V o n den verschiedenen Wissensarten, die in der vorliegenden Aufgabe alle gefordert sind, möchte ich hier nur auf das bei einem Bewerbungsbrief besonders wichtige Interaktionswissen eingehen, weil die Textproduktionsschwierigkeiten vor allem aus dem Wissen darüber, daß man sich mit seinem Text der Adressatin zeigt, und aus der Unsicherheit über die Wertungskriterien eben dieser Adressatin stammen. Die Form der Bewerbung mit Lebenslauf und Bewerbungs- oder Anschreiben, wie sie am deutschen Arbeitsmarkt üblich ist, ist in Italien praktisch unbekannt. Hier wird ein großer Teil der Stellen (alle staatlichen Posten) über nationale oder regionale Wettbewerbe vergeben, für die es genau vorgeschriebene Modalitäten und Formulare gibt. Das Curriculum vitae wird leicht anders verfaßt als das deutsche,33 und das Anschreiben, das bei einer schriftlichen Bewerbung in Deutschland für die Beurteilung der sich Bewerbenden von Bedeutung ist, existiert in dieser Form nicht. Für die äußere Form des Anschreibens benötigten die Studentinnen also ein Vorbild; 34 zusätzlich bekamen sie „Ratschläge für das Anschreiben". 35

rufserfahrung vorweisen oder haben ein HWV-, HTL- oder Hochschulstudium absolviert. Sie interessieren sich für uns. Wir interessieren uns für Sie. Wir starten am 2. Mai 1996 mit einer Informatik-Ausbildung für angehende System-Entwicklerinnen und suchen interessierte Damen und Herren. Wir bieten Ihnen einen kostenlosen, einjährigen Lehrgang, eine Entwicklungsumgebung mit modernsten Methoden und CASE-Tools, den späteren Einsatz in kleinen Projektteams sowie einen attraktiven Lohn und gute Sozialleistungen." (Tages-Anzeiger vom 9.11. 1995). 31 32 33 34 35

[[···]] = Der Text in den Doppelklammem ist eine Korrektur durch Einfügung. Die Zahlen in eckigen Klammem wurden von mir hinzugefiigt. Zu kulturellen Unterschieden von Lebensläufen: Mißler/Servi/Wolff (1995). Reichel (1995: 39). Reichel (1995: 35).

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Man sieht es bereits an der Grußformel [17], daß S6 das Vorbild nicht einfach übernommen hat, sie wäre sonst fehlerfrei. Die Studentin hat vielmehr versucht, einen eigenen Text zu bauen; sie hält sich ans „Baukastenprinzip": 1. Aus der Annonce greift sie (gedanklich bzw. durch (teilweise) Übernahme der Formulierung) auf: • • • • •

„Informatik": [5] und [8-10] „Ausbildungsmöglichkeit": [6-7] persönliche Angaben über Alter: [1]; Schulbildung: [2]; Studium: [3]; Berufserfahrung: [4]; Ort und Dauer der Ausbildung: [12] „Einsatz in kleinen Projektteams": [15]

2. Aus dem „Zettelkasten" des Fragebogens stammen mit Ausnahme von [14], wo sie aus dem gegebenen Aussagesatz einen Kausalsatz gebildet hat, in identischer Formulierung: [7], [11], [13J, [14]. 3. Folgende Stich- bzw. Reizwörter aus der Annonce werden beiseitegelassen: • • • •

„interessieren" „System-Entwicklerinnen" „Entwicklungsumgebung mit modernsten Methoden und CASE-Tools" attraktiver Lohn und gute Sozialleistungen

4. Die Stichworte und sprachlichen Bausteine, die sie aus der Annonce bzw. dem Fragebogen gezogen hat, verbindet sie durch eigene Formulierungen: • [3]:... und studiere an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Trient. • [4-6]: Ich arbeite part-time im Büro einer Handelsvertreterin mit. Ich habe schon PCErfahrung, aber ich möchte sie weiter entwickeln. • [8-10]: weil Informatik gibt die Möglichkeit, dynamischer zu sein, schneller und besser einen Auftrag zu fertigen. • [12]: so habe ich kein Problem fur das Ort und die Dauer der Ausbildung. • [16-17]: wenn dieser mir die Möglichkeit gäbe, Kontakte mit Italien zu behalten. In der Hoffnung einer Einladung....

Der Text läßt sein Bauprinzip voll erkennen: Obwohl von den sieben Sätzen des Vorbilds ein einziger (der vierte) mit „ich", beginnt, startet S6 alle ersten fünf [114] mit dem Personalpronomen der ersten Person. Das äußere Textbauschema entspricht also auch im geschriebenen Text dem der Vorstellungsrunde der ersten Lektion.36 Immerhin sind die Sätze selbst komplexer geworden: z.B.: Zusammenziehung [1-3]; dreigliedrige Parataxe (Aussage, Gegensatz, Addition [5-7]) plus Hypotaxe durch Kausal- [8] und parallelen Konsekutivsatz [9-10], womit auch die sprachlichen Schwierigkeiten zum Vorschein kommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der sprachliche Kitt, mit dem S6 die vorgefundenen Bausteine zusammenfugt, denn hier kommt sie als Person sowohl inhaltlich - sie ist Werkstudentin (3; 4), mobil (12), möchte aber den Kontakt mit dem Heimatland beruflich fruchtbar machen - wie auch sprachlich profilierter zu Wort: Abgesehen

36

Über die Bedeutung von Satzverknüpfung: Sitta (1986).

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von [3] und [4, 5] sind es Satzerweiterungen; Begründungsversuche, in denen ihr Weltwissen und ihre Sicht der Dinge aufscheinen. Während das oben zitierte Zehnminutentextlein auch in seinem ersten, deutschen Teil kohärent und gewandt geschrieben ist, fuhrt die kompliziertere Aufgabe zu den Wurzeln des Fremdsprachenerwerbs zurück.37 Weil sie gelernt hat, auf Nummer Sicher zu gehen, zieht die Verfasserin in den meisten Fällen das Abschreiben richtiger Sätze dem eigenen Formulieren vor. Mit dieser Addition von Ich-Aussagen bringt sie der Empfängerin zwar Wichtiges zur Kenntnis, aber sie geht über Informationshandeln nicht hinaus; die Brücke zur Adressatin bleibt im Rohbau stecken. Das Beispiel macht die Problematik der gewählten Vorgehensweise deutlich: Vorbild und vor allem der Fragebogen zur Selbsterkundung bieten gedankliche Modelle und Satzbaumuster an, die in der gegebenen Situation der Verflechtung von sprachlicher, inhaltlicher und kulturspezifischer Unsicherheit ein willkommenes Hilfsmittel darstellen, einen einigermaßen korrekten Text zu produzieren.38 Gleichzeitig schränken solcherart Fertigprodukte auch ein. Dies gilt für die zahlreichen Muttersprachigen, die sich Hilfe aus den Anleitungen der Laiendidaktik39 versprechen, ebenso wie für die Fremdsprachigen. Umso problematischer erscheinen in diesem Zusammenhang Computerprogramme, die Textmodelle vorgeben, auf daß niemand selbst mehr schreiben, d.h. auch denken möge. Die trügerische Richtigkeit von fremdproduzierten Texten kann keine Personalchefin über die wahren Fähigkeiten derjenigen, die sie abgeschickt haben, wirklich ins Bild setzen. Vielleicht könnten in einem Europa der Mehrsprachigen bestimmte, auch formale Texte eben auch mehrsprachig geschrieben sein, Texte, die zu produzieren über einen Weg gelernt wird, den Beispiel 2 andeutet?

3. Folgerungen Es hieße, die Charakteristika von mündlichen und schriftlichen Texten und die Unterschiede ihrer Produktion völlig negieren, wenn ich die verschiedenen Beispiele miteinander vergleichen wollte. Der Variablen sind zu viele. Aus dem Vorgeführten dürfte klargeworden sein, daß der Weg des Partire da se, verglichen mit herkömmlichen didaktischen Ansätzen im fremdsprachlichen Fachsprachenunterricht, einen Umweg darstellt. Steht es dafür? Ich komme zu meinem Ausgangspunkt zurück und fasse thesenartig zusammen: 37

38

39

Zur traditionellen Reduktion des L2-Schreibunterrichts auf die Satzproduktionsfähigkeiten vgl. Pery-Woodley (1991: 69f.). Um nicht mißverstanden zu werden: Ich halte diese Muster nicht per se fur schlecht; ich brauche sie selbst auch in den Sprachen, die nicht meine eigene sind. Es ist aber in der Sprachendidaktik darauf zu achten, daß nicht beim bloßen Memorisieren und Repetieren derartiger Muster stehengeblieben wird, denn die (sprachlichen) Muster standardisieren uns selbst und unseren Blick auf die anderen. Antos (1996).

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1. Formen der Selbstdarstellung zum Unterrichtsgegenstand zu machen, bedeutet, die Textproduktionsfähigkeiten der einzelnen Lernenden im Kontext ihrer individuellen und gesellschaftlich geprägten Lernmuster anzugehen. 2. In der relativ beschränkten Fähigkeit der Studentinnen der Wirtschaftswissenschaften, ihr umfangreiches sprachliches Wissen im institutionellen Kontext zu aktivieren, spiegelt sich ein autoritäres Lehrsystem wieder, das zwar nicht über seine Inhalte, wohl aber über sein „hidden curriculum" die Emanzipation der Lernenden verhindert. 3. Die transaktionale Vermittlung sogenannter kommunikativer Sprachinhalte tendiert dazu, ein Kommunikationsverhalten zu prägen, das vom indirekten Fragehandeln nicht loskommt. Mit anderen Worten: Der Versuch der Textproduktion in der fremden Sprache stößt nicht primär an seine Grenzen wegen fehlender Terminologie, mangelnden Wissens über Kohäsionsmittel, begrenzter Formulierungskompetenzen usw. - ohne daß diese Schwierigkeiten hier unterschätzt werden sollen - ; er scheitert vielmehr an der Abhängigkeit der Lernenden von der permanenten Bestätigung, daß, was sie sagen oder schreiben, richtig ist, bzw. wie es richtig ist. 4. Antizyklisch40 mit diesem Lernverhalten umgehen, heißt, das vorhandene Wissen durch Li- Methoden zu stimulieren, um den Lernenden zu Strategien zu verhelfen, die sie in ihrer Autonomie stärken. Zunächst einmal mit dem Sprechen und Schreiben über sich selbst anzufangen, scheint mir ein gangbarer Weg. P.S. Ich danke allen Studentinnen und Studenten für die Bereitschaft, ihre Texte zur Verfugung zu stellen.

Literatur Altvater, Elmar (1992): Der Preis des Wohlstands oder Umweltplünderung und neue Welt(un)ordnung. - Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot. Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. - Tübingen: Niemeyer. Antos, Gerd/Krings, Hans P. (Hgg.) (1989): Textproduktion. - Tübingen: Niemeyer. - (Hgg.) (1992): Textproduktion. Neue Wege der Forschung. - Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Baurmann, Jürgen (1992): Schreibforschung und aufsatzunterricht: ein nichtVerhältnis oder ...? In: Antos/Krings (Hgg.): 111-125.

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„Antizyklisches Verhalten" bedeutet in der Makroökonomie, entgegen den in der jeweiligen Phase des Wirtschaftszyklus (Rezession bzw. Hochkonjunktur) opportun scheinenden Verhaltensweisen zu handeln, d.h. grosso modo in Zeiten der Hochkonjunktur sparen und in Zeiten der Rezession investieren (Recktenwald 1981: 31 und 642f.). Die ökonomische Theorie nimmt hier den staatlichen Auftraggeber in die Pflicht, der seine diesbezügliche Verantwortung aber offensichtlich längst an die zentralen Notenbanken abgegeben hat. ,Antizyklisches Verhalten", auf die Sprachendidaktik übertragen, meint: In Lernsituationen, in denen die Lernenden durch die Fixierung auf grammatikalisches Wissen über eine Sprache und auf die totale Richtigkeit dessen, was sie produzieren, am weiteren Lernen gehindert werden, muß mit Methoden gearbeitet werden, die sie lockern und befreien, während es in Lernsituationen, in denen allzu viele Fehler automatisiert werden, darum geht, diese ausfindig zu machen und zu überwinden.

Hörsaaltexte

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Heike Tietz (Halle) Die Zukunft der Textlinguistik Zusammenfassende Bemerkungen zu einer Diskussion

Am Ende der dreitägigen Tagung zur „Zukunft der Textlinguistik" fand eine Diskussion statt, die auf dem Podium (mit Klaus Brinker, Karl-Dieter Bünting, Konrad Ehlich, Wolfgang Heinemann, Horst Sitta und Bernhard Sowinski) seinen Ausgang nahm, sehr bald aber auch das Plenum mit einbezog. Hier soll der Versuch unternommen werden, einige Aspekte der thematisch verzweigten Diskussion aufzugreifen und im Hinblick auf die Positionierung und die perspektivische Ausrichtung der Textlinguistik zu diskutieren.

1. Einige allgemeine Charakteristika der modernen Textlinguistik Bei der Textlinguistik scheint es sich im Selbstverständnis der Linguistinnen und Linguisten um ein mehr oder weniger klar abgestecktes Gebiet mit fest umrissenen Grenzen zu benachbarten Bereichen zu handeln. Tatsächlich ist die thematische Vielfalt der Aufsätze und die Unterschiedlichkeit ihrer methodologischen Ansätze jedoch ein Anhaltspunkt dafür, daß interdisziplinäre Fragestellungen und Formen der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Text einen wachsenden Zuspruch erfahren. Die Partizipation an außerlinguistischen wissenschaftlichen Diskursen über textbezogene Themen erweist sich als außerordentlich fruchtbar und anregend und gehört mittlerweile zu den Selbstverständlichkeiten wissenschaftlicher Auseinandersetzung, wie in einigen Beiträgen überzeugend nachgewiesen wurde. Darüber hinaus bewegt sich die Textlinguistik heute keineswegs in einem engen paradigmatischen Kontext, sondern ist gekennzeichnet durch innerlinguistische Integrationsbemühungen und disziplinübergreifende Anwendung. Gibt es aber in diesem offenen und weitgesteckten Rahmen noch das genuin Eigenständige der Textlinguistik? Es ist nicht verwunderlich, wenn bisher als selbstverständlich geltende Haltungen gegenüber der Textlinguistik und Annahmen über ihre Entwicklung als Disziplin provokant in Frage gestellt werden, um in Folge neue Akzente für die Gegenstandsbestimmung, die Theoriebildung und die Methodologie dieser Disziplin setzen zu können. Bedeutet etwa die Tatsache, daß es in Deutschland keinen einzigen Lehrstuhl speziell für Textlinguistik gibt und daß in der Fachliteratur zwar von einer pragmatischen und einer kognitiven Wende, nicht aber von einer textlinguistischen Wende die Rede ist, daß die Textlinguistik heute oder überhaupt nur so etwas wie eine Durchgangsphase in der Entwicklung der Linguistik ist, die notwendig war, um das Phänomen Text über die Schwelle des Bewußtseins der Linguisten zu heben? Haben wir es mit einem

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tun, das heute in anderen Strömungen aufgeht, oder aber ist die Textlinguistik doch eine eigene Disziplin mit spezifischen Forschungsaufgaben, die unverzichtbar ist für die weitere Entwicklung der Linguistik und entsprechende Perspektiven innerhalb dieser Wissenschaft hat (Wolfgang Heinemann)1? Eine Antwort auf diese Fragen findet man, wenn man sich ein Charakteristikum, das die Textlinguistik gegenüber anderen Disziplinen auszeichnet, bewußtmacht: Die Lebendigkeit der Textlinguistik erwächst nicht aus Abschottung und Starrheit, sondern aus ihrer Offenheit gegenüber anderen wissenschaftlichen Arbeitsgebieten. Im Gegensatz zu anderen Bereichen (wie bspw. der Phonetik) versteht sich die Textlinguistik - ähnlich wie die Stilistik - als nichtinstitutionelle Disziplin, die ihre Fragestellungen aufgrund der Ubiquität ihrer Gegenstände aus allen erdenklichen Bereichen bezieht. Damit folgt die Textlinguistik einer Entwicklung, die die paradigmenstiftenden Fachabgrenzungen ä la Saussure überflüssig macht - eine Entwicklung, die nicht nur die Geistes-, sondern auch die Naturwissenschaften betrifft. Es sind andere, nämlich praktische Zwecke, die dazu führen, daß viel stärker dynamische und sehr viel stärker veränderbare Disziplinzusammenführungen stattfinden, die nur bestimmte Zeit existieren. Ob sich das als Textlinguistik oder als Textwissenschaft definiert, ist nicht das Primäre. Die Frage ist, ob sich solche Arbeitzusammenhänge finden und sich konkret im Wissenschaftsgeschehen umsetzen lassen (Konrad Ehlich). Ausgehend von einem ehemals textgrammatischen Impetus definiert sich die Textlinguistik - wie bspw. auch die Schreibforschung oder die Diskursanalyse - zunehmend über Fragestellungen, die sich aus Erfordernissen und Bedürfnissen vielfaltiger Bereiche, auch der Praxis ergeben, und nicht aus der Zugehörigkeit zu fest abgesteckten „Claims". „Auslaufmodell" zu

2. Überlegungen zu einem Textbegriff Eine der Konsequenzen der sehr unterschiedlichen Themenfokussierungen und der jeweils spezifischen methodischen Herangehensweisen, die sich insbesondere in der die Grenzen der Einzelbeiträge überschreitenden Diskussion abzuzeichnen schien, manifestiert sich im Ringen um einen adäquaten Textbegriff, der dem komplexen Gegenstand sowie den jeweiligen Forschungsinteressen angemessen ist. Dieses Ziel zeigt ein Dilemma der Textlinguistik: Im Sinne einer paradigmenübergreifenden Verständigung empfiehlt sich wohl eine einheitliche und mindestens in Ansätzen verbindliche begriffliche Basis. In der konkreten Forschungsarbeit erweisen sich jedoch spezifische Textbegriffe (-definitionen?), die bestimmte Komponenten des Gegenstandes Text hervorheben bzw. teilweise isolieren, dafür andere aber vernachlässigen, als weitaus sinnvoller. Besonders dieser letzte Aspekt sorgte für eine umfangreiche und teilweise recht kontroverse Diskussion, die bis zur Verunsicherung des Vorverständnisses führte,

Die Namensnennungen beziehen sich auf Diskussionsbeiträge während des Round-table Gesprächs.

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im Vergleich zur Stilistik erscheine die Textlinguistik mit ihrer scheinbar konstanten Begrifflichkeit und ihrem relativ fixierbaren Instrumentarium wesentlich sicherer in ihren Analysen, Feststellungen und Ergebnissen. (Bernhard Sowinski) Bisher ist die Textlinguistik weitgehend abhängig von der Metaphorik des Textes als des Zusammenhängenden. Dieser ursprüngliche Textbegriff hat eine breite Rezeption erfahren und verdeutlicht, wie hilfreich und leistungsfähig Metaphern für die Entwicklung einer Disziplin sein können. Das darf aber nicht heißen, Metaphorisierungen und Analogien an die Stelle präziser Sachkenntnis zu setzen und das dann bereits als Sachkenntnis auszugeben (Konrad Ehlich). An anderer Stelle wird der Textbegriff generell in Frage gestellt, wenn im Hinblick auf den Rezipienten darauf hingewiesen wird, daß ein Text quasi bei jedem Lesen neu entsteht. Dieses Problem relativiert sich aber mit der Umkehrung dieser Feststellung, wenn man nämlich nach den Ursachen dafür fragt, warum trotzdem alle oder sehr viele Rezipienten den gleichen Text ähnlich verstehen, von einer Auflösung des Textes (und damit des Textbegriffs) also nicht die Rede sein kann (Wolfdietrich Härtung). Diese Fragen müssen jedoch einhergehen mit grundsätzlichen Neuüberlegungen zur Beschaffenheit eines den jeweiligen Bedürfhissen angemessenen Textbegriffs. In der Linguistik- und Textlinguistikgeschichte hat es zahlreiche derartige Versuche und intensive Bemühungen gegeben. Will man sich aber dem Vorwurf reduktionistischer Setzungen nicht aussetzen, muß es zu einer Form von Vorverständigung kommen, indem die bisherigen Verfahren zur Begründung eines Textbegriffs kritisch überprüft werden, sinnvollerweise in der konkreten Arbeit an und mit Texten und nicht durch erneute Setzungen (Konrad Ehlich). Abhängig vom jeweiligen Forschungsinteresse und -gegenständ wird dabei der Textbegriff unter verschiedenen Vorzeichen erfaßt. In der Diskussion lassen sich einige dieser Aspekte und Perspektiven auf den Text nach vollziehen: 1. Der Aspekt der Tradierung von Wissen. Mit dem Anspruch, textgebundene Prozesse erklärungsadäquat - und nicht nur beschreibungsadäquat - darzustellen, rücken Aspekte der Aneignung und Weitergabe von Wissen, des Spracherwerbs auf der zweiten und dritten Stufe sowie der Textproduktion und -rezeption in den Mittelpunkt. Ziel ist ein Konzept, das in der Lage ist, diese Prozesse zu rekonstruieren und sie in Verbindung mit einer Texttheorie darzustellen (Gisbert Keseling). 2. Der Formaspekt. Texte in ihrer „Widerborstigkeit" lassen sich methodisch nicht in ihrer vollen Komplexität erfassen, wenn man sie auf sattsam bekannte Einzelaspekte reduziert. Will man ihnen genügen, muß man bspw. möglichst viele verschiedene Aspekte ihrer Form wahrnehmen, sich mit dem Formbegriff und dem Begriff der Materie des Textes auseinandersetzen. Die formale Perspektive darf nicht länger auf bekannte sprachliche, syntaktisch-semantische Analysen begrenzt werden, sondern muß von intonatorischen Phänomenen über bestimmte Formen des Handelns bis zu bspw. Organisationsformen des Wissens in Texten erweitert werden. Visuelle Formen, die bei Texten eine große Rolle spielen, die Frage, was das Medium des Textes ist, und der Einfluß neuer Medien auf die Pro-

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duktion und Rezeption von Texten müssen durch die Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit erfahren. Darauf aufbauend, kann man sich dann unter Einbeziehung der Didaktikdiskussion Fragen der Gestaltung, der Weitergabe, der Aneignung und Wiederverwendung dieser Formen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen zuwenden (Gerd Antos, Christoph Sauer). Unter dem Stichwort „Mnemotechnik und kulturelles Gedächtnis" werden Texte in der modernen Literaturwissenschaft letztlich als Orte des kulturellen Gedächtnisses gefaßt. Anknüpfend daran, lassen sich aus linguistischer Perspektive Texte als Orte einer spezifischen Repräsentation ganz spezifischer Wissensinhalte betrachten (Angelika Linke). 3. Textbereich und Textkonstitution. Ausgehend von einer klaren pragmatischen Einbettung von Texten in bestimmte Anwendungsbereiche, werden Texte über Handlungszusammenhänge, Funktionszuweisungen und Wirkungsabsichten verstanden und angeeignet. Uber den Einzeltext hinaus werden Verallgemeinerungen zu prototypischen Kennzeichen von Text und Textualität aufgezeigt und für den Prozeß des Lehrens und Lernens nachvollziehbar gemacht. In der Begegnung mit konkreten Texten in ihren jeweiligen Textbereichen werden u.a. solche Probleme wie Zentrum und Peripherie, Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie Angemessenheit thematisiert (Karl-Dieter Bünting, Horst Sitta). Nachdem der Begriff der Textkonstitution anfanglich als grammatische, semantische oder didaktische Angelegenheit expliziert wurde, spielten zunehmend pragmatische, vor allem handlungstheoretische Aspekte der Textproduktion und -rezeption eine Rolle. Hinsichtlich der Textrezeption ergab sich die Frage, durch welche Faktoren funktionales Textverständnis, Sinnverstehen gesteuert wird. Der klassische Verweis der Linguistik auf Illokutionsindikatoren im Anschluß an die Sprechakttheorie scheint diesem Erklärungsanspruch nicht hinreichend gerecht zu werden. Durch Verstehensanalysen läßt sich zeigen, daß sich das Textverstehen in der Regel nicht punktuell an bestimmten sprachlichen Phänomenen, eben an Indikatoren, ausrichtet, sondern ganzheitlich strukturiert und organisiert ist. Im Verstehensprozeß wird für den Text eine globale Sinnstruktur entworfen, auf die die sprachlichen Einzelphänomene als Indikatoren bezogen werden. Kommunikativfunktionales Textverständnis orientiert sich letztlich an einer Einordnung des Textes in einen übergeordneten Handlungs- und Situationszusammenhang, für dessen Beschreibung die Begriffe Textbereich und Textsorte grundlegend sind. Der Terminus Textbereich bezieht sich auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche und Institutionen, für die jeweils spezifische Handlungs- und Bewertungsnormen grundlegend sind. Textbereiche als Bezugsrahmen für das Textverstehen können als sozial definierte Ensembles von Textsorten beschrieben werden, die sich wiederum als komplexe Muster sprachlicher Kommunikation mit konventioneller Geltung auffassen und primär kommunikativ-funktional abgrenzen lassen. Damit wären linguistisch bestimmbare Größen vorhanden, an denen sich eine spezifisch textlinguistische Beschreibung - von zentralen Textbereichen mit ihren konstitutiven Textsorten unter handlungstheoretischer Perspektive - orientieren kann (Klaus Brinker).

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4. Der Aspekt der Textproduktion. Ausgehend von Handlungsmodellen werden Texte als Handlungen begriffen, deren Intentionen ein Maß - wenn auch nicht das ausschließliche - für die Bestimmung des Textbegriffs sind. Daraus ergeben sich andere Charakteristika: Die thematische Textbasis, der Kommunikationsbereich, die Präferenz bestimmter Textsorten und damit die Aktivierung bestimmter Textmuster, Verfahrensmodelle und Formulierungsmuster sind an die Intention gebunden. Mit Hilfe dieser Ansatzpunkte kann die Begrifflichkeit des Textes genauer gefaßt werden (Wolfgang Heinemann). Die teilweise recht unterschiedlichen Ansätze verdeutlichen, daß der Ruf nach einem Textbegriff nicht als Ruf nach einer einheitlichen Definition in Form von mehreren Paraphrasen mißverstanden werden darf. Ziel könnte es sein, sich über eine gemeinsame Basis, von der aus sich unterschiedliche perspektivische Textauffassungen handhaben ließen, zu verständigen. Ein einheitlicher Textbegriff müßte also in der Lage sein, den theoretischen Rahmen zu bilden sowohl für Analysen im Sinne der Materialität des Textes als auch für die Rekonstruktion materiell nicht greifbarer Charakteristika von Texten wie ihrer spezifischen Formiertheit, pragmatischen Einbettung und Organisiertheit. Damit wird - jenseits von einzelnen Textdefinitionen - das gemeinsame Bemühen um eine neue Theorie des Textes mehr als notwendig (Konrad Ehlich).

3. Die Einbettung der Textlinguistik in übergeordnete Zusammenhänge Mit Reflexionen über das Selbstbild und die Verortung der Textlinguistik verbunden ist eine starke Rückbesinnung auf praktische sowie den unmittelbaren Wirkungskreis der Textlinguistik überschreitende, gesellschaftliche Zwecksetzungen in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit textlinguistischen Problemstellungen. Schwerpunkte bilden dabei die Hinwendung zu Fragen des Spracherwerbs auf der Stufe des differenzierten Umgangs mit Texten, der damit verbundene Anspruch auf Didaktisierbarkeit (text)linguistischer Erkenntnisse und nicht zuletzt Bemühungen, Studierende im Rahmen einer Modifizierung der Hochschuldidaktik zum wissenschaftlichen Schreiben zu befähigen. So werden zunehmend Stimmen laut, die für eine stärkere Wahrnehmung gesellschaftlicher Fragestellungen und praktischer Normierungsbedürfnisse plädieren und didaktisierbare Erkenntnisse über mentale Prozesse der Textproduktion und -rezeption einfordern.Wissenschaft ist nicht zuletzt so etwas wie ein Komplex von Antworten auf Fragen und Bedürfnisse von Menschen, die sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Entscheidend ist weniger, ob sich die Textlinguistik selbst entwickelt oder nicht, sondern, ob die Wissenschaft auch auf gesellschaftliche und öffentliche Interessen reagieren kann. Ein dementsprechender, wichtiger Akzent einiger Beiträge liegt auf der Didaktik, u.a. mit dem positiven Effekt, daß sich die Textlinguistik nicht länger scheut,

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neben ausgesprochen deskriptiven auch normative Aussagen zu treffen und Empfehlungen auszusprechen (Horst Sitta). Im Hinblick auf die Hochschuldidaktik wird die Einbindung einer (noch umfassenderen) Vermittlung wissenschaftlichen Schreibens in moderne Textproduktionsbedingungen angemahnt. Studentinnen und Studenten müssen durch ihre Ausbildung auch dazu befähigt werden, in einer endlichen Zeit, unter den heutigen Studienbedingungen (mit schwierigen Bibliothekssituationen und umfangreichem Literaturkanon) und unter möglichst effektiver Ausnutzung der neuen Kommunikationsangebote (Computer, Internet, Datenbanken) wissenschaftlich zu schreiben (Karl-Dieter Bünting). Die Textlinguistik hat eine Zukunft, wenn ihre Erkenntnisobjekte, nämlich die Texte, eine gesellschaftliche Reflexion und Bearbeitung finden. Hier hat die Textlinguistik ihre gesellschaftliche Relevanz. Sie kann diese Aufgabe jedoch nur erfüllen, wenn sie u.a. ihre sachlichen Analysen besser fundiert, d.h. ihre Empirizität kräftig verstärkt, wenn es ihr gelingt, die verschiedenen textbezogenen Wissenschaften miteinander ins Gespräch zu bringen, und wenn sie die mediale Fragestellung, für die der Text zwar ein prototypisches Phänomen, aber eben nicht das einzige ist, stärker thematisiert. Texte wollen hergestellt werden, und das Texteherstellen will gelernt sein. Die Konsequenzen einer Unterbewertung dieser Problematik erleben wir gegenwärtig an den Universitäten. Hier hat die Textlinguistik eine sehr unmittelbare Aufgabe sowohl in der Forschung als auch in der Hochschuldidaktisierung, die wahrscheinlich auch, bezogen auf die deutsche Situation, bildungspolitische Implikationen umfaßt. Damit verbunden sollten bspw. Bestrebungen sein, zu neuen Kooperationsformen zwischen Schule und Universität zu kommen. Hier gibt es eine gesellschaftliche Aufgabe von erheblicher und sogar zunehmender Brisanz, gerade auch im Sinne einer demokratischen Befähigung der Partizipation von möglichst vielen an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. Diese Fragestellungen mit ihren weitreichenden Konsequenzen sind bisher kaum oder nur in anderen Zusammenhängen in der Didaktik aufgegriffen worden (Konrad Ehlich).

4. Zusammenfassung Abschließend soll der Versuch unternommen werden, gleichsam schlagwortartig mögliche Wege, sich abzeichnende Tendenzen und noch auszuschöpfende Potenzen in der Beschäftigung mit dem Gegenstand ,Text' aufzuzeigen: * Forcierung der textlinguistischen Grundlagenforschung und Entwicklung einer Texttheorie - Einbeziehung übergreifender pragmatischer und kognitiver Aspekte - handlungsanalytische Aufarbeitung der Zeichentheorie mit der Perspektive einer Texttheorie - der Zusammenhang von Texttheorie und einer Theorie (der Repräsentation und Tradierung) des Wissens

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Schaffung eines Rahmenmodells unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen des Textes und der Textualität - das Verhältnis zwischen der Materialität des Textes und kognitiven Prozessen der Textproduktion/-rezeption - Bemühungen um die funktional-ganzheitliche Rekonstruktion der Textkonstitution im Verstehensprozeß - Rekonstruktion des Spracherwerbs auf der Stufe des Umgangs mit Texten * neue Impulse in der Diskussion um einen Textbegriff - kritische Auseinandersetzung mit traditionellen und alltagssprachlich motivierten Textbegriffen - Vermeidung reduktionistischer Definitions versuche, die dem Phänomen Text nicht gerecht werden - langfristige Orientierung auf das Spezifische der Textlinguistik mit kritischem Blick auf Schwerpunkte der Entwicklung dieser Disziplin (Textgrammatik, Pragmatik) - der Text in seiner Formiertheit auf den unterschiedlichen Ebenen und die Organisation dieser Formen - Erarbeitung perspektivischer Textdefmitionen in Abhängigkeit vom jeweiligen Forschungsgegenstand und den konkreten Zwecksetzungen (Produktions-, Rezeptions-, Verstehensaspekte; Probleme der .Auflösung' des Textes usw.) - induktive Wege der Erschließung prototypischer Textmerkmale auf der Basis funktionaler Textanalysen - Einbettung der Textproduktion in Handlungszusammenhänge (Rolle von Intentionen, Kommunikationsbereichen, Textsorten/Textmustern, Strategien und Formulierungsmustern) * Textsortenproblematik - Untersuchungen zum Verhältnis von Textsorten und Textmustern - Beschreibung zentraler Textbereiche und ihrer konstitutiven Textsorten unter handlungstheoretischer Perspektive - verstärkte Bemühungen um empirische Unterlegung von TextsortenGesamtentwürfen * gesellschaftliche Relevanz der Textlinguistik - Ermitteln von und verstärktes Reagieren auf praktische(n) und gesellschaftliche^) Bedürfnisse(n) im Umgang mit Texten - Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen der Aneignung und Anwendung von Fähigkeiten und Wissen zur Textproduktion und -rezeption - Verbindung von textlinguistischer Forschung mit Prozessen des Lehrens und Lernens - Diskussion normativer Aspekte der Textlinguistik - Einbeziehung didaktischer und hochschuldidaktischer Überlegungen in Konzeptionen (Probleme der Befähigung zum (wissenschaftlichen) Schreiben in Schule und Hochschule)

Heike Tietz Einbeziehung moderner Produktionsbedingungen und neuer Medien in Lehre und Forschung Suche nach neuen Kooperationsformen zwischen Schule und Hochschule